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German Pages 208 [209] Year 2017
Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Band 213
Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Heft 13 der elften Folge
Berend Meyer
Das Apodiktische Recht
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2017 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Reproduktionsvorlage: Andrea Töcker, Neuendettelsau Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-031129-9 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-031130-5 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine 2011 angefertigte Dissertation, die von Prof. Dr. Friedemann Golka, Universität Oldenburg, betreut wurde. Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet. Er hat meine Arbeit „an langer Leine“, aber stets hilfsbereit und aufmerksam begleitet. Er verstarb bereits 2011. Zweitgutachter war Prof. Dr. Wolfgang Weiß, ebenfalls Universität Oldenburg, der in gewohnt kluger und sachlicher Weise die Dissertation beurteilt hat. Als Neutestamentler konnte er etliche zusätzliche Akzente einbringen. Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Walter Dietrich, Wabern/Schweiz, der dem Kohlhammer-Verlag meine Arbeit zum Druck vorgeschlagen hat. Seine positive gutachterliche Stellungnahme hat mich sehr gefreut. Er hat mir gleichzeitig einige Kürzungsvorschläge gemacht, die ich gerne übernommen habe. Im Übrigen konnte die Arbeit ohne wesentliche Änderungen übernommen werden. Seit 2011 neu erschienene Literatur wurde eingearbeitet. Zu dem sehr speziellen Thema einer rechtsgeschichtlichen und verfassungsrechtlichen Einordnung des Dekalogs und des apodiktischen Rechts sind allerdings keine neueren Untersuchungen erschienen. Dieses Thema wird in der theologischen Literatur kaum erörtert. Einen kurzen Überblick gibt allerdings Dominik Markl in „Der Dekalog als Verfassung des Gottesvolkes“, Freiburg 2007, S. 24ff., mit einer sehr guten theoretischen Einführung. Der zuverlässige Einsatz meiner langjährigen Mitarbeiterin Waltraud Oldenkamp, Westerstede, hat mir die Arbeit wesentlich erleichtert. Von ihr wurden sämtliche Schreibarbeiten exzellent erledigt, wofür ich herzlich danke. Ein weiterer Dank gilt Friede Hopf, Hamburg, der ich manche Anregung verdanke, und meinem verstorbenen Freund Gert Steinbeck, Oldenburg, der ebenfalls kritisch Korrektur gelesen hat. Meinem Schwager, Dr. Wilm Hack, Petersfehn, danke ich für viele anregende Gespräche. Ohne meine Ehefrau Hanna wäre diese Arbeit nicht entstanden. Sie hat mir stets den Rücken frei gehalten und mich zur Weiterarbeit ermuntert. Sie starb viel zu früh im Dezember 2014. Berend Meyer
Inhalt Vorwort ...............................................................................................
5
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts ......................
11
I. Einleitung .......................................................................................
11
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts ..................
17
1. Kasuistisches und Apodiktisches Recht .............................................. 2. A. Alt und die heutige Forschung ........................................................
17 26
III. Weitere Forschung ...........................................................................
29
1. 2. 3. 4. 5.
Sprachliche Untersuchungen ............................................................... Altorientalischer Rechtskreis, Hethitische Staatsverträge ................ Amphiktyonie ......................................................................................... E. Gerstenberger: „Sippenethos“ ........................................................... G. Fohrer: „Lebens- und Verhaltensregeln“ .......................................
29 32 33 38 41
IV. Heutiger Forschungsstand .............................................................
43
1. 2. 3. 4. 5.
Fr. Crüsemann: „Bewahrung der Freiheit“ ......................................... Fr. Crüsemann: „Die Tora“ ................................................................... E. Otto: „Ausdifferenzierung“ .............................................................. B. S. Jackson: „Semiotik“ ....................................................................... Eun-Ae Lee: „Grundnormen“ ...............................................................
43 48 52 55 57
V. Zusammenfassung .............................................................................
61
8
Inhalt
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft ..........................
71
I. Problem und These ..............................................................................
71
1. Historische Gründe ................................................................................ 2. Sprachhistorische Gründe .................................................................... 3. Rechtsgeschichtliche Gründe ...............................................................
74 75 75
II. Das geschichtliche Problem .............................................................
77
1. Bibel und Archäologie ........................................................................... 2. Die Geschichte Israels im 12. und 11. Jahrhundert ...........................
77 80
Exkurs 1:
Die Patriarchen ................................................................ 1. Die Suche nach den historischen Patriarchen ...... 2. J. Assmann und die Patriarchen ............................. 3. Ergebnis ................................................................................................... Exkurs 2: Exkurs 3:
81 81 83 100
Die Historizität des Exodus? .......................................... Bauern, Hirten und Nomaden .......................................
104 106
III. Das sprachhistorische Problem (Quadratschrift, Dialekt, Textgeschichte) .................................
115
IV. Das rechtshistorische Problem .....................................................
117
1. Die komparative Methode .................................................................... 2. Recht in segmentären Gesellschaften .................................................. a) Reziprozität ......................................................................................... b) Konfliktbeilegung durch Schlichtung ........................................... c) Die „faktische Kraft des Normativen“ ........................................... d) Relativität des Rechts ....................................................................... 3. Ergebnis ...................................................................................................
117 120 122 123 124 124 125
Inhalt
9
V. Zusammenfassung und Ergebnis (Späte Entstehung des apodiktischen Rechts) ..........................
129
1. 2. 3. 4.
Historische Gründe ................................................................................ Sprachliche Gründe ............................................................................... Rechtsgeschichtliche Gründe ............................................................... Ergebnis ...................................................................................................
129 131 131 132
Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung .........................................
135
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee ...................................
137
Exkurs 4: Exkurs 5:
Die Menschenrechte als Individualrechte .................... Amos ................................................................................. 1. Amos und die Menschenrechte .............................. 2. Amos und das apodiktische Recht .........................
148 150 150 152
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens .............................
157
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts .....................
171
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Entstehungszeiten .................................................................................. Legitimation ............................................................................................ Gottesbezug ............................................................................................ Vertragscharakter / Bund ...................................................................... Grundrechtskatalog ............................................................................... Hierarchie der Rechtsnormen .............................................................. Rechtswirklichkeit .................................................................................. Geltendes Recht ......................................................................................
172 176 179 184 185 192 194 195
IV. Ergebnis ...............................................................................................
197
Literaturverzeichnis ...................................................................................
201
Register .......................................................................................................... Namen- und Sachregister .................................................................... Bibelstellen in Auswahl ........................................................................
207 207 208
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
I. Einleitung I. Einleitung Als Albrecht Alt im Jahre 1934 seine berühmte Studie „Die Ursprünge des israelitischen Rechts“ veröffentlichte1, war ihm sicher nicht bewusst, dass er damit eine Lawine lostreten würde, die bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist. Sie hat sich zwar breit ausgefächert und gleichzeitig verlangsamt, aber in Bewegung ist sie immer noch. Die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen und hat vor allem noch kein allgemein akzeptiertes Ergebnis erbracht. Die von A. Alt vorgeschlagene Einteilung der biblischen Rechtsvorschriften in zwei große Gattungen, nämlich „Kasuistisches Recht“ und „Apodiktisches Recht“, lag voll im Trend der von H. Gunkel (1862–1932) angestoßenen neuen „Form- und Gattungsgeschichte“, zu dessen Schülern A. Alt gehörte.2 Insbesondere seine Einordnung bestimmter Rechtssätze unter den von ihm eingeführten Begriff „Apodiktisches Recht“ fand von Beginn an größtes Interesse, war zugleich aber auch Nährboden für fundamentalistische Spekulationen3, glaubten doch viele, hier einen zwingenden Beleg für die besondere Stellung des israelitischen Rechts gefunden zu haben. Während das kasuistische Recht der langen Tradition des allgemeinen altorientalischen Rechtssystems und den kanaanäischen Stadtstaaten zugeordnet werden konnte, schien das apodiktische Recht eine Größe zu sein, die nur im israelitischen
1
2 3
A. Alt, Die Ursprünge des israelitischen Rechts, Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, Band I, 278–332. W. Härle u. H. Wagner, Theologenlexikon, 122. Vgl. H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 167; G. Fohrer, Das sogenannte apodiktisch formulierte Recht, 50.
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1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Rechtskreis anzutreffen war und Israels Einzigartigkeit belegen konnte. Reichte dieses Recht nicht weit in die Frühgeschichte Israels zurück, in eine – postulierte – Amphiktyonie oder gar in die Wüste? Hatte sich hier etwa direkt offenbartes „Gottesrecht“ erhalten? Diese Diskussion hatte A. Alt insbesondere mit folgender Feststellung provoziert: „Auf kanaanäische Herkunft deutet ja auch nicht das Mindeste in den apodiktischen Satzreihen hin, weder die Anschauungen, die aus ihnen sprechen, noch auch nur die allgemeinen Kulturverhältnisse, die sie voraussetzen. Alles in ihnen ist vielmehr volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch, auch wo das in dem knappen Wortlaut keinen unmittelbaren Ausdruck findet.“ (I, 323)
Also „volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch“ sollte das apodiktische Recht sein. War es das wirklich? Immerhin war diese Feststellung der vielleicht meistzitierte Satz A. Alts und schien bezüglich des apodiktischen Rechts auf einen „Edelstein der Einmaligkeit“ mit „direkter Offenbarungsqualität“ hinzudeuten.4 Wer nun auf die Idee kommen sollte, sich zunächst einmal einen allgemeinen Überblick über das israelitische Recht zu verschaffen, und glaubt, er könne dies in einer allgemeinen Rechtsgeschichte Israels tun, wird enttäuscht. Es gibt keine umfassende, durchgehende Darstellung des israelitischen Rechts im Sinne einer allgemein anerkannten Rechtsgeschichte als einem Standardwerk, wie dies für andere Rechtsbereiche, z. B. das Römische Recht, selbstverständlich ist. Der Rechtshistoriker U. Wesel vermerkt hierzu:5 „So wissen wir nicht, ob alle im Alten Testament beschriebenen Regeln in der Rechtswirksamkeit tatsächlich gegolten haben. Schließlich kommen die bisherigen Rekonstruierungsversuche zum größten Teil aus der – jüdischen oder christlichen – Bibelexegese, die in erster Linie nicht rechtshistorisch interessiert war, sondern der Bestätigung theologischer Lehrmeinungen dienten. So erklärt sich, dass es bis heute keine einzige umfassende Darstellung des alten hebräischen Rechts gibt, die rechtshistorischen Ansprüchen gerecht wird.“
Ein hartes, aber wohl zutreffendes Urteil. Etwas versöhnlicher ergänzt U. Wesel:
4 5
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 167. U. Wesel, Geschichte des Rechts, 104.
I. Einleitung
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„Erst in letzter Zeit sind jüngere Theologen im deutschen Sprachbereich – angeregt durch Vorarbeiten von Albrecht Alt, Friedrich Horn und Reuven Yaron – dazu übergegangen, das ungeheure Material des Alten Testaments für eine moderne Sozial- und Rechtsgeschichte auszuwerten.“
Wenn U.Wesel dabei auf die nicht rechtshistorisch interessierten Bibelexegeten verweist, erwähnt er zugleich aber auch die „Rechtswirklichkeit“. Und dies ist m. E. der entscheidende Punkt. Was wissen wir eigentlich über die – tatsächliche – und historisch zuverlässige Geschichte des Rechts in Israel? Insbesondere über die Frühzeit liegen nur sehr wenige Informationen vor. Als Quellen haben wir nur die – historisch problematische – Bibel und die Archäologie. Beides reicht – bisher – nicht aus, ein geschlossenes, für einen Rechtshistoriker ausreichendes Bild zu entwerfen. Die biblischen Texte sind, historisch gesehen, „Tendenzschriften“, die erst entschlüsselt werden müssen. So betitelt E. Otto seine „Gesammelten Studien“ zu rechtshistorischen Themen denn auch korrekterweise mit „Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte“6 und nicht etwa mit dem Begriff „Israelitische Rechtsgeschichte“. Wer sollte eine solche auch schreiben? Dabei ist dies aber nicht ein spezielles Problem der Rechtsgeschichte, sondern primär der Geschichte Israels überhaupt. Wie soll sich ein Rechtshistoriker zurechtfinden, wenn ihm die Allgemein-Historiker keinen gesicherten Rahmen für sein Spezialgebiet, die Rechtsgeschichte, bieten? Die „Geschichte Israels“ ist eines der umstrittensten Themen im vorliegenden Bereich. E. Otto führt hierzu aus: „Wer vor der Aufgabe steht, eine Geschichte Israels zu schreiben, der hat gegenwärtig den Eindruck, er könne nur Hypothesengebäude auf Flugsand bauen.“7
Es wird sogar die Auffassung vertreten, dass man auf eine Geschichtsschreibung Israels, nur basierend auf den vorliegenden biblischen Texten, ganz verzichten und sich auf eine „textlinguistische, oftmals strukturalistisch orientierte Analyse der Endgestalt“ der Bibel beschränken müsse. Für die Historiker sei dann die Archäologie und die historische Geographie die letzte Rettung.8
6 7 8
E. Otto, Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. E. Otto, Interdependenzen, 75. Ebd., 75.
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1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Archäologie in der Tat nicht nur destruktiv arbeitet und die biblisch fixierte Geschichte Israels demontiert, sondern gerade für die vorstaatliche Zeit im 12. und 11. Jahrhundert viele brauchbare Ansätze bietet, die sich insbesondere mit der Siedlungsgeschichte befassen. Es sind aus dieser Zeit Strukturen erkennbar, die darauf schließen lassen, dass gerade in diesem Zeitraum viele nichtsesshafte Gruppen sesshaft wurden und damit einen Hintergrund für die biblischen Berichte von der Landnahme und für die Richterzeit bilden können.9 Die Sachlage ist also nicht aussichtslos. Für einen Rechtshistoriker ist diese Situation natürlich wenig ermutigend. Wenn er sich z. B. mit der Frage beschäftigen soll, ob hinter dem sog. apodiktischen Recht spezielle Trägerkreise stehen und eine eigene Herkunft anzunehmen ist, müsste er wissen, welche Gruppierungen überhaupt in Frage kommen und welche Bevölkerungsschichten im jeweiligen Zeitraum existiert haben. Oder wenn von einer „Übernahme“ kasuistischen Rechts gesprochen wird, setzt dies einen „Übernehmer“ voraus, der dieses Recht ursprünglich nicht kannte. Dabei wird dann auf eingewanderte „Stämme“ oder „(Halb)Nomaden“ verwiesen, die sich bei ihrem Zuzug plötzlich mit ausgebildetem Stadtrecht konfrontiert sahen. Wenn aber die Besiedelung des Landes ohne größere Einwanderungen erfolgt ist und man mehr von einem „Evolutionsmodell“10 ausgehen müsste, wird eine solche Annahme schon wieder problematisch. Gab es in vorstaatlicher Zeit wirklich die von M. Noth11 vorgeschlagene „Amphiktyonie“, die in irgendeiner Form Träger von gemeinsamem Bundesrecht gewesen sein könnte? Für viele Forscher war dieser sakrale Stämmeverband eine „sichere Bank“, die Anknüpfungspunkte für viele Vorstellungen der historischen und auch rechtlichen Entwicklung Israels bot. Ist dieses Konstrukt aber nach heute wohl herrschender Meinung hinfällig12 oder nur eingeschränkt denkbar, was bleibt dann für den Rechtshistoriker? Dieser hat – für die Frühzeit – keinen festen historischen Rahmen, in dem er sich bewegen könnte. Mit den neuen Arbeiten von I. Finkelstein und N. A. Silberman kann man keine echte Rechtsgeschichte schreiben.13 9
10 11 12 13
Die heutige Palästina-Archäologie ergibt ein sehr gutes Bild der Siedlungsgeschichte und Hinweise auf die ersten Siedler (vgl. 2. Teil, Kap. II.2.). M. Albani, M. Rösel, Altes Testament, 31. M. Noth, Das System der zwölf Stämme Israels. Z. B. R. de Vaux, The Early History of Israel, 700. I. Finkelstein, N. A. Silberman, Keine Posaunen vor Jericho, und: David und Salomo.
I. Einleitung
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Dabei ist der Rechtshistoriker gerade an der zeitlichen Rückverfolgung von Rechtsentwicklungen interessiert. Jedes Recht hat eine Vor- und eine Nachgeschichte. Recht hat keinen Anfang. Es basiert immer auf der Entwicklung vorangegangener Generationen, wobei davon auszugehen ist, dass jede menschliche Gesellschaft Rechtsnormen entwickelt und diese weitergibt – und seien sie noch so archaisch. Deshalb kann sich ein Rechtshistoriker, wenn er nicht zugleich Theologe ist, auch nicht an einer Diskussion über „gestiftetes“ oder „offenbartes“ Recht beteiligen. So etwas gibt es für ihn nicht. Eine „creatio ex nihilo“ existiert im Rechtsleben nicht. Recht steht immer in einem längeren Zusammenhang. Auch wenn man punktuell eine Fixierung von Recht ermitteln kann, z. B. den „Codex Hammurapi“ aus der Zeit um 1700 v. Chr.14, so handelt es sich auch hier nur um eine Rechtssammlung, die auf bereits vorhandenen Rechtstraditionen aufbaut, diese fortführt oder abändert, aber nicht losgelöst davon völlig neues Recht schafft. Hammurapi ist deshalb nicht der „Stifter“ dieser unter seinem Namen auf der Stele veröffentlichten Sammlung, sondern nur die Autorität, unter deren Ägide diese Texte erstellt und für ein bestimmtes Territorium verbindlich gemacht wurden. Mehr nicht. Auch der CH hat eine Tradition hinter sich, die ihn beeinflusst hat. Ein Rechtshistoriker muss deshalb immer möglichst weit zurück in die Entstehung einer Gesellschaft, um die großen Linien der Rechtsentwicklung darstellen zu können. Und wenn dann, wie bei Israel, der nötige historische Rahmen fehlt, ist eine umfassende Rechtsgeschichte nicht möglich. Deshalb fehlt bis heute eine zusammenfassende Darstellung. Auch hier gilt der Grundsatz: „rem tene, verba sequuntur.“ Man kann deshalb nur auf Einzeldarstellungen zurückgreifen, die es dann aber auch in Hülle und Fülle gibt. Für den Dekalog z. B. existiert eine Unmenge an Material. J. J. Stamm hat allein für diesen Teilbereich einen eigenen Beitrag unter dem Titel „30 Jahre Dekalogforschung“ erstellt.15 Die Menge der darin zusammengestellten Literatur ist überwältigend. Nicht ganz so erdrückend, aber noch umfangreich genug, ist die Forschung zum vorliegenden Thema: „Apodiktisches Recht“. Ausgehend von A. Alt hat sich eine breit gefächerte Literatur entwickelt, die z. T. sehr konträre Auffassungen wiedergibt. Hinzu kommt, dass dieses Thema, wie alle anderen auch,
14 15
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 57. J. J. Stamm, Dekalogforschung, 189–239, 281–305.
16
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
nicht isoliert dasteht, sondern immer im Zusammenhang mit dem allgemeinen Recht und der Geschichte Israels steht. Neuere Erkenntnisse in der Geschichtsforschung ergeben deshalb auch immer wieder neue Überlegungen zum apodiktischen Recht, die dann zu weiterer Literatur führen.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts
1.
Kasuistisches und Apodiktisches Recht
A. Alt war nicht der erste, der sich um die Frage einer Einteilung der Rechtsnormen nach formalen oder inhaltlichen Gesichtspunkten bemüht hat. Erst ihm gelang es aber, eine Unterteilung vorzulegen, die trotz aller Kritik – im Grundsatz – bis heute Bestand hat. Die Bezeichnungen „kasuistisches Recht“ und „apodiktisches Recht“ haben sich durchgesetzt und werden auch von denjenigen Forschern benutzt, die die Bezeichnung „apodiktisches Recht“ ablehnen oder nur eingeschränkt anwenden wollen und eigentlich andere Formulierungen benutzen möchten.1 Wenn diese Begriffe genannt werden, weiß jeder, worum es geht. Jeder Theologe kennt den Aufsatz „Die Ursprünge des israelitischen Rechts“ von 1934. H. J.Boecker schlägt deshalb ausdrücklich vor, diesen Begriff trotz aller Kritik beizubehalten.2 Dabei ist es schon erstaunlich, wie A. Alt auf wenigen Seiten eine derart wichtige Materie bewältigt und einen solch zwingenden Vorschlag machen kann3. Hinzu kommt, dass seine Art zu schreiben den Leser mitnimmt und überzeugt. Man spürt seine Sachkenntnis und Souveränität, so dass das Lesen seiner Texte, obwohl sie sehr spezielle Themen behandeln, schon fast eine Freude ist. Der Leser begleitet den Autor auf seiner Entdeckungsreise durch das Recht und hat das Gefühl, unmittelbar dabei zu sein, wenn dieser am biblischen Text arbeitet und seine Gedankengänge entwickelt. Seine Art zu schreiben ist pädagogisch zwingend aufgebaut. Sein grundlegender Aufsatz soll im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden, weil er die Grundlage für die weiteren Diskussionen darstellt. Dies gibt gleichzeitig auch Gelegenheit, bereits hier schon einige weiterführende Überlegungen anzustellen. A. Alt beginnt mit dem Hinweis auf die frühere traditionelle Auffassung, wonach alle Rechtsordnungen direkt „dem göttlichen Willen Jahwes“ entstammten und durch Mose beim Bundesschluss übermittelt worden seien. Die dann aber immer bewusster wahrgenommenen Widersprüche und Un1 2 3
W. Schottroff, Der altisraelitische Fluchspruch, 95 (mit weiteren Nachweisen). H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 171. A. Alt, Ursprünge, 278–332.
18
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
gereimtheiten seien von der „konsequenten Literarkritik“ durch die Feststellung verschiedener durchlaufender Schichten erklärt worden, denen die verschiedenen Rechtskorpora hätten zugeordnet werden können.4 Aus dem traditionellen Nebeneinander der Korpora, aus einem gemeinsamen mosaischen Ursprung sei ein Nacheinander einzelner verschiedener Stadien und Tendenzen der israelitischen Rechtsentwicklung geworden.5 Die Literarkritik sei dann aber bei einer rein literarischen Betrachtung stehen geblieben. Die Ermittlung der mündlichen Vorstufen sei demgegenüber wichtig. Die vorliegenden Korpora (hauptsächlich das Bundesbuch, das Heiligkeitsgesetz und der Dekalog) seien in ihren immer wieder überarbeiteten heutigen Formen nur „Werke von Epigonen“, so dass „infolgedessen die Ursprünge des israelitischen Rechts jenseits von ihnen gesucht werden müssen.“ 6 Auch die weit ältesten – schriftlichen – Fassungen seien immer noch sekundär. Man müsse zurück zu den vorliterarischen Stufen. „Rechtswerdung ist ja grundsätzlich ein Vorgang nicht des literarischen Schaffens, sondern des gelebten Lebens.“ 7 Hierfür sei nun die „gattungs- oder formgeschichtliche Forschung“ die geeignete Methode.8 (A. Alt erwähnt in diesem Zusammenhang H.Gunkel nur in einer Fußnote; J.Wellhausen wird überhaupt nicht genannt!) Mit ihr könne man die „Frühzeit volksmäßiger mündlicher Gestaltung und Überlieferung vor aller Literatur“9 sicher ermitteln, wobei bestimmte Inhalte immer mit bestimmten Ausdrucksformen verbunden seien. Form und Inhalt gehörten immer eng zusammen. Die Formen seien nicht erst von Schriftstellern geschaffen worden, sondern von jeher den verschiedenen Gattungen von Texten und Überlieferungen aufgeprägt gewesen. Mit dieser Erkenntnis beginnt A. Alt dann die einzelnen Rechtsnormen des Hexateuch zu untersuchen und beginnt mit den kasuistischen Rechtssätzen. Es sind dies für ihn die שׁ ָפּטִים ְ ִמaus der Überschrift von Ex 21,1. Diese sind über den ganzen Hexateuch verteilt. A. Alt geht dabei von einem „ursprüng-
4 5 6 7
8 9
A. Alt, Ursprünge, 279. Ebd., 280. Ebd., 282. Ebd., 284; Auf diesen von A. Alt mehr nebenbei geschriebenen Satz kann man m. E. gar nicht eindringlich genug hinweisen. Bei allen Erörterungen über die Entstehung von Recht wird dieser Umstand meistens nicht ausreichend beachtet. Rechtsnormen sind immer nur Glieder in einer langen schriftlichen oder mündlichen Traditionskette. Keine Gesellschaft kommt ohne Recht aus. Es gibt deshalb immer Rechtsvorgänger. Ebd., 284. Ebd., 284.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts
19
lichen Corpus der kasuistisch formulierten Rechtssätze“ aus,10 der sich dann über den gesamten Text in unterschiedlicher Ausprägung verteilt habe. Anmerkung: Eine solche ursprüngliche Sammlung kasuistischen Rechts, in Form eines geschlossenen Textes, der sich dann aufgesplittert habe, wird es aber mit größter Wahrscheinlichkeit nicht gegeben haben. Wer sollte ihn verfasst und für welchen Bereich sollte er gegolten haben? Palästina war im 12. und 11. Jh. ethnisch und territorial stark zergliedert und hatte keine geschlossene Gestalt. Die kanaanäischen Stadtstaaten bildeten kein einheitliches System. Wenn das kasuistische Recht also von diesen Kleinstaaten „übernommen“ worden sein sollte, was m. E. in dieser Form überhaupt nicht eindeutig ist, dann können es auch nur regional unterschiedliche Rechtssysteme gewesen sein, die verschieden ausgeprägt waren. Was sich dagegen im kasuistischen Recht des Alten Testaments wiederfindet, ist das allgemeine altorientalische System des „case law“, das überall Anwendung fand und deshalb auch im israelitischen Rahmen auftaucht, weil es bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse (geschlossene Siedlungen, Grundbesitz, Handelsverkehr usw.) zu regeln hatte. Recht folgt dem tatsächlichen Leben und entwickelt sich immer dann, wenn es benötigt wird. Wenn z. B. heute Aktiengesellschaften mit ihrer komplizierten finanziellen Beteiligung vieler Anleger wirtschaftlich erforderlich werden, dann muss ein Aktiengesetz geschaffen werden – und nicht umgekehrt. Oder noch deutlicher: ‚Weltraumrecht‘ entwickelt sich erst dann, wenn der Mensch in der Lage ist, die Erde zu verlassen. Vorher braucht man sich damit nicht zu beschäftigen. Das kasuistische Recht des Alten Testaments kann deshalb – bei Bedarf – direkt ‚übernommen‘ worden sein, kann aber auch selbständig innerhalb israelitischer Gemeinschaften entstanden sein und sich dort fortentwickelt haben. Bei A. Alt stand sicher – unausgesprochen – der Wunsch dahinter, eine geschlossene, einheitliche ‚Gattung‘ durch die Zeitläufe zurückverfolgen zu können. Das kasuistische Recht zeichnet sich nach A. Alt zunächst durch seinen „objektiven Wenn-Stil“ aus. Die konditionalen Vordersätze werden mit dem ִ ִ stärkeren „( כּיgesetzt dass“) und dem schwächeren „( אםwenn“) eingeleitet. Die Nachsätze bringen dann die Rechtsfolge. Diese Satzkonstruktionen wi10
A. Alt, Ursprünge, 286.
20
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
dersprechen eigentlich dem hebräischen Sprachgefühl, das keine langen verschachtelten Sätze liebt. Hier sind sie aber der Sache wegen erforderlich. Als Musterbeispiel bringt A. Alt Ex 21, 18–19:11 שׁים ְו ִה ָכּה־ ִאישׁ ֶאת־ ֵר ֵעהוּ ִ ְָו ִכי־י ְ ִרי ֻבן ֲאנ שׁכָּב׃ ְ ְבּ ֶאבֶן א ֹו ְב ֶאגְר ֹף וְֹלא י ָמוּת ְונָפַל ְל ִמ שׁ ַענְתּ ֹו ְ ִאם־י ָקוּם ְו ִהתְ ַה ֵלְּך ַבּחוּץ ַעל־ ִמ שׁבְתּ ֹו י ִתֵּ ן ו ְַרפּ ֹא י ְַרפֵּא׃ ִ ְונִקָּה ַה ַמּכֶּה ַרק „Wenn Männer streiten und einer verwundet seinen Nächsten mit einem Stein oder der Faust, dieser stirbt aber nicht, sondern wird bettlägerig, wenn er aufstehen und im Freien an seiner Krücke umhergehen kann, dann soll der Schläger straflos bleiben, soll aber den Unterhalt und die Heilkosten (des Verletzten) erbringen.“
Hier haben wir einen langen Vordersatz mit Hauptfall ( )כִּיund Unterfall ()אִם, der den speziellen, zu entscheidenden Sachverhalt (Tatbestand) bringt, und dann die daran anschließende „Entscheidung“, die Rechtsfolge. Genau genommen sind es sechs Vordersätze und drei Nachsätze. Viele andere kasuistische Rechtssätze sind einfacher und kürzer; aber „das grundsätzliche Anliegen der kasuistischen Formulierung bleibt überall das gleiche.“12 Diese Rechtsform hat nach A. Alt ihren Sitz in der normalen Gerichtsbarkeit der einzelnen selbständigen Ortschaften. Es ist die örtliche Laiengerichtsbarkeit der Ältesten als Repräsentanten der „im Tor versammelten Rechtsgemeinde.“13 Dieser konkrete ‚Sitz im Leben‘ besage aber noch nichts über die Herkunft, über die „letzten Ursprünge dieses Rechts“. Dies müsse gesondert ermittelt werden. Hierfür seien die aufgefundenen Rechtsbücher des alten Orients, der Babylonier, Assyrer und Hethiter vergleichend heranzuziehen. Hierzu gehöre insbesondere der ‚Codex Hammurapi‘. Derartige Vergleiche seien möglich, weil das kasuistische Recht im Hexateuch, ebenso wie das orientalische, völlig neutral, ohne Bezug auf Volk und Religion, abgefasst sei. Es würden nur die Verhältnisse von Mensch zu Mensch geregelt. Es sei keine Gebundenheit an Jahwe erkennbar.14
11 12 13 14
A. Alt, Ursprünge, 287. Ebd., 288. Ebd., 287. Ebd., 294.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts
21
Es sei deshalb zulässig, diese Rechtsform auf die „Vorbewohner des Kulturlandes von Palästina“15, die Kanaanäer, zu beziehen, die allgemein orientalisches Recht benutzt hätten. Als die „israelitischen Stämme im Lauf der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. in deren Kreis eintraten“, sei eine Erweiterung der Rechtsformen erforderlich geworden, was dann zu einer „Übernahme … der Kanaanäischen Rechtsordnungen“ geführt habe.16 Es lägen zwar keine Originalquellen des kanaanäischen Rechts vor, auch der Vorgang der Übernahme durch die einwandernden Israeliten sei unbekannt, von einer Herkunft aus diesen Stadtstaaten könne aber ausgegangen werden. Als Träger und Wahrer dieses Rechts kann A. Alt sich die sog. ‚kleinen Richter‘ aus dem Richterbuch 10,1–5 vorstellen, wobei Josua aus Jos 24 eventuell hinzuzurechnen sei.17 A. Alt kommt sodann zum „Apodiktischen Recht“, seiner eigenen – sprachlichen – Schöpfung. Diesem widmet er den größten Teil seiner Arbeit. Er geht dabei davon aus, dass die „israelitischen Stämme natürlich schon in der Wüste“ (!) Rechtsordnungen gehabt hätten. Beide Rechtsordnungen (Israel und Kanaan) seien dann aufeinander geprallt. Dies sei heute noch in den Texten erkennbar. Es gebe viele Stellen, besonders im Bundesbuch, „an denen der gewaltsame Einbruch eines nach Form und Inhalt anderen Rechts, also doch wohl des israelitischen, in das kasuistische noch im heutigen Text offen zutage liegt.“18 A. Alt erwähnt als erstes das Talionsrecht aus Ex 21,23–25. Hier erscheint das dem kasuistischen Recht fremde „Du“ der direkten Anrede. Auch bestehe eine inhaltliche Diskrepanz. Die Talionsformel wolle einer zu milden Ersatzleistung bei Körperverletzungen durch das kasuistische Recht entgegenwirken. Die Talionsformel sei daher ein israelitischer Eintrag in das vorgefundene kanaanäische, kasuistische Recht. Auch in Ex 21,12–14 seien zwei Rechtsformen aufeinander gestoßen und hätten zu einer Kompromisslösung geführt. Die kasuistische Differenzierung zwischen Mord und Totschlag habe mit der unbedingten Folge von Blutrache oder „Hinrichtung“ bei Tötung eines Menschen kollidiert. Das Eingreifen Gottes durch Zuweisung eines Asylplatzes gleiche letzteres wieder 15 16 17
18
A. Alt, Ursprünge, 295. Ebd., 296. Ebd., 300: A. Alt geht dabei, ganz selbstverständlich, noch von einer sakralen Amphiktyonie aus – unter Verweis auf Noth (s. 300, Fußnote 1). Ebd., 302.
22
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
aus.19 Im Übrigen sei das ganze Kapitel Ex 21 ab Vers 12 eindeutig nicht mehr kasuistisches Recht. A. Alt kommt damit zu der sog. Todesrechtsreihe, den מוֹת יוּמָת-Sätzen. Die Sätze dieser Reihe haben eine vom kasuistischen Recht völlig abweichende sprachliche Struktur. ַמכֵּה אִישׁ ָומֵת מוֹת יוּמָת (Ex 21,12)
(„Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, muss sterben“)
Dieser Satz ist nicht direkt ins Deutsche zu übersetzen. Er kann nur sinngemäß wiedergegeben werden. Das einleitende Partizip ַמכֵּהist Substantiv und Objekt zugleich und ist nur relativisch aufzulösen: „Wer einen Menschen schlägt …“ Das abschließende מות יוּמָתist eine typisch hebräische Sprachform und ebenfalls kaum zu übersetzen. Man kann es mit „… muss unbedingt getötet werden!“ inhaltlich wiedergeben. Es handelt sich bei diesem Satz nach A. Alt um einen „hebräischen Fünfer“, der langsam und nachdrücklich gesprochen werden muss, um die ganze „Wucht des Ausdrucks“ zur Geltung zu bringen. Dieser Stil ist ein anderer als der der kasuistischen Sätze. „Wir wollen ihn den apodiktischen Stil nennen.“20 Dies war die Geburtsstunde bzw. der Namenstag des apodiktischen Rechts. Zum inhaltlichen Unterschied weist A. Alt auf die Unbedingtheit der Aussage und die dahinter stehende Autorität hin: „Es ist Jahwe, der für jedes vergossene Blut strenge Sühne verlangt!“ Es gibt keinen Unterschied zwischen Mord und Totschlag, keine Möglichkeit von Ersatzzahlungen, kein Asyl. Hier spricht der strenge Wille des Volksgottes.21 Die Sätze von Ex 21,12–17 bilden eine Reihe gleichmäßig aufgebauter Sätze, wobei die vorliegende Aufzählung nicht vollständig überliefert ist. Diese Reihenbildung ist für A. Alt ein typisches Merkmal, das auch bei anderen Gruppen auftauche. Durch die Verlesung solcher Reihen werde eine „besonders gesteigerte Wirkung“ erzielt, die sich dem Hörer „förmlich einhämmert.“22
19 20 21 22
A. Alt, Ursprünge, 306. Ebd., 308. Ebd., 309. Ebd., 311.
23
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts
Die nächste von A. Alt vorgestellte Reihe apodiktischer Normen ist die Sammlung der alten אָרוּר-Sätze, die sog. Fluchreihe aus Dtn 27,15–16, die verschiedene „heimliche“ Vergehen zum Inhalt hat.23 Ein Beispiel: אָביו ְוא ִ֑מּ ֹו וְאָמַ ֥ר כָּל־ה ָ ָ֖עם אָמֵ ֽן׃ ֖ ִ אָרוּר ַמקְלֶ ֥ה ֣ (Dtn 27,16) („Verflucht, wer seinen Vater und seine Mutter schmäht, und das ganze Volk spreche: Amen.“)
Auch diese Sätze sind schwer zu übersetzen. Die hier ebenfalls verwendeten Partizipien, z. B. ַמ ְקלֶה, müssen wieder relativisch aufgelöst werden: „Wer seinen Vater und (oder) seine Mutter schmäht, …“ Diese Sätze sind noch prägnanter und kürzer. Sie bestehen – ohne den Zusatz über die Bestätigung durch das Volk – aus nur vier Worten. Sie beschäftigen sich mit der Schmähung der Eltern, Grenzsteinverrückung, Irreführung eines Blinden, Rechtsbeugung gegen Fremde, Waisen und Witwen, Blutschande, Sodomie, mit heimlichem Totschlag und Auftragsmord. Diese Delikte werden, wie alle Forscher erkannt haben, im Geheimen begangen und entziehen sich meist der menschlichen Gerichtsbarkeit. Die Aufklärungsquote ist gering. Deshalb sind sie dem Fluch, אָרוּר, unterstellt. Die Täter werden der Strafe Gottes anheimgegeben. Gleichzeitig sagt sich das Volk als Gemeinschaft von diesen Straftätern und derartigen Straftaten unwiderruflich los.24 Diese Reihe hat ebenso wie die מוֹת יוּ ָמת-Reihe nach Form und Inhalt keinerlei Ähnlichkeit mit dem kasuistischen Recht.25 Eine dritte vergleichbare Reihe hat A. Alt dann im Heiligkeitsgesetz, in Lev 18,7–17, entdeckt, die sich mit Unzucht unter Verwandten befasst („Schamreihe“). Ein Beispiel: ָתהּ׃ ֽ ָ אָב֛יָך ְוע ְֶרוַ ֥ת ִאמְּ ָך֖ ֹל֣ א תְ ג ֵַלּ֑ה אִ ְמָּך֣ ִ֔הוא ֹל֥ א תְ ג ֶַלּ֖ה ע ְֶרו ִ ע ְֶרוַ ֥ת
(Lev 18,7) („Die Scham deines Vaters, die Scham deiner Mutter, darfst du nicht entblößen. Sie ist deine Mutter, du darfst ihre Scham nicht entblößen.“)
23 24 25
A. Alt, Ursprünge, 313. Vgl. insgesamt W. Schottroff, Fluchspruch, 231. Ironischerweise sind es gerade diese beiden Partizipialreihen, an denen sich später die Kritik entzündet. Es wird die Auffassung vertreten, dass es sich wegen der sprachlichen Form doch um kasuistisches Recht handelt, eine m. E. aber unzutreffende Ansicht.
24
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Hier ändert sich allerdings der Sprachstil. Aus der objektiven Feststellung wird eine direkte Anrede. Dies erfolgt im Hebräischen hier nicht durch das schwächere אַלmit Jussiv, sondern durch das stärkere ֹלאmit Indikativ Imperfekt, also ֹלא תְ גַלֵה. „Das gibt ihnen den gleichen Ton kategorischer Unbedingtheit.“26 Das Verbot ist dermaßen autoritativ gedacht, dass es nicht mehr im Jussiv, sondern als Feststellung ausdrückt werden kann. Für diese Sprachform hat sich inzwischen allgemein der Begriff „Prohibitive“ durchgesetzt (E. Gerstenberger).27 Inhaltlich geht es um die Verhinderung von Blutschande und Verwandtenehe. Es soll dem „Durcheinander der Geschlechtsgemeinschaft“28 innerhalb von Großfamilien, bei denen mehrere Generationen eng beieinander wohnen, vorgebeugt werden. Dafür müssen die Verwandtschaftsgrade, die die entsprechenden Verbote ergeben, genau angegeben werden. Nach Erörterung einiger weiterer kleinerer Reihen aus Ex 23 kommt A. Alt dann zum zentralen Thema, dem Dekalog aus Ex 20. Dessen apodiktische Grundstruktur könne man aber erst nach Entfernung der verschiedenen, nachträglichen Zusätze, insbesondere im ersten Teil, erkennen. A. Alt geht von einer geschlossenen und vollständigen „Urform“ des Dekalogs aus.29 Die Sätze sind als Prohibitive in knappster Form gestaltet. Insbesondere das 6., 7. und 8. Gebot sind an Präzision nicht zu übertreffen. Sie bestehen im Hebräischen nur aus zwei Worten, nämlich wieder לאmit Imperfekt: ֹלא תִּ ְרצָח ֹלא תִּ נְאָף ֹלא תִּ גְנ ֹו
„Du sollst nicht morden“ „Du sollst nicht ehebrechen“ „Du sollst nicht stehlen“
Auch hier ist im Deutschen wieder nur eine inhaltliche Wiedergabe möglich. Schwierigkeiten bereiten A. Alt deshalb dann die Gebote der Sabbatheiligung und der Elternehrung, die positiv abgefasst sind. Er vermutet eine ursprünglich negative Formulierung. Dahinter steht bei ihm der Wunsch nach einer ursprünglichen einheitlich formulierten Sammlung, die erst im Laufe der Tradition verändert wurde, was zu den erörterten Schwierigkeiten führte. Andererseits will er einräumen, dass der jeweilige Inhalt eine besondere
26 27 28 29
A. Alt, Ursprünge, 315. H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 177. Ebd., 176. A. Alt., Ursprünge, 317.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts
25
Form erfordert habe, so dass es sich dann vielleicht doch wieder um ursprüngliche Formulierungen gehandelt haben könnte.30 Weil der Dekalog „offensichtlich das Ganze umfassen“ wolle, sei dann der „Verzicht auf Ebenmäßigkeit der Satzgestaltung“ erforderlich geworden.31 Die für A. Alt wichtigste Frage ist aber die Suche nach den Ursprüngen, der Herkunft des apodiktischen Rechts und seinem „Sitz im Leben“. Er kommt wegen der Andersartigkeit von Form und Inhalt im Vergleich zum kasuistischen Recht zu dem für ihn eindeutigen Ergebnis: „Alles in ihnen ist vielmehr volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch.“32
Innerhalb Israels sieht er die Wurzeln dieses Rechts nicht in der – kasuistischen – Gerichtsbarkeit, sondern in der ganzen Volksgemeinschaft, die von außen, von Gott, angesprochen wird. Der Vortrag dieses Rechts ist das „Kernstück eines sakralen Akts.“33 Der Rahmen hierfür ergibt sich für ihn aus Dtn 27 und Dtn 31,9–13, dem sog. Bundeserneuerungsfest, mit der alle sieben Jahre erfolgenden Verlesung von Gottes Geboten. Das apodiktische Recht gehört damit für A. Alt in den Bundesschluss. Der Dekalog lässt diesen Bundesschluss zwischen Jahwe und Israel besonders deutlich erkennen. Für ihn ist sicher, „dass die Voraussetzungen für das Aufkommen dieser Gattung sofort gegeben waren, als die Bindung an Jahwe und in ihrer Folge die Institution der Bundesschließung und Bundeserneuerung zwischen ihm und Israel ins Leben trat.“34 Letztlich gingen die Ursprünge in die Wüste (Sinai) zurück. Bei dem Zusammenprall dieses Rechts mit den vorgefundenen kanaanäischen Rechten habe sich dann die Lebensfähigkeit Israels bewiesen. Der „Kampf beider Rechte“ fülle die israelitische Rechtsgeschichte bis zu ihrem Abschluss.35
30 31 32 33 34 35
A. Alt, Ursprünge, 319. Ebd., 321. Ebd., 323. Ebd., 324. Ebd., 330. Ebd., 332.
26
2.
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
A. Alt und die heutige Forschung
Wenn man diese grundlegenden Angaben von A. Alt betrachtet, kann man sich einer gewissen Melancholie nicht erwehren. Was hätte er wohl gesagt, wenn er mit den heutigen Forschungsergebnissen, insbesondere zur Geschichte Israels konfrontiert würde? Er hätte seinen Aufsatz so nicht schreiben können, zumindest nicht zur Herkunft des apodiktischen Rechts. Er ging von vielen falschen historischen Voraussetzungen aus, die sich aus den damaligen Vorstellungen über die Entstehung des Volkes Israel ergaben. Israel war aber nicht in der Wüste. Es gab keine Gesetzesoffenbarung am Sinai, keine Amphiktyonie und erst recht kein Bundeserneuerungsfest. Auch die „kleinen Richter“ waren nicht „bundesweit“ tätig. Die Frage nach der Herkunft und dem ‚Sitz im Leben‘ hätte A. Alt deshalb anders beantworten müssen. Trotzdem bleibt es sein unbestreitbares Verdienst, eine allgemein akzeptierte gattungsgeschichtliche Einteilung der vielen alttestamentlichen Rechtsnormen vorgeschlagen zu haben. Auf dieser Grundlage bauen alle weiteren Untersuchungen auf. Die grundsätzliche Einteilung in kasuistisches und apodiktisches Recht hat bis heute Bestand und wird auch weiterhin bei Untersuchungen des israelitischen Rechts benutzt werden. Dabei ist allerdings sein Grundsatz, dass es zwischen den beiden Rechtsgattungen mit der unterschiedlichen Trägerschaft einen „Kampf beider Rechte“36 gegeben habe, nicht zwingend. Er verkennt dabei die große Variationsbreite von Rechtsentwicklungen. Unterschiedliche Rechtstypen müssen nicht zwangsläufig in Konkurrenz zueinander stehen. Sie können sich durchaus auf gleichem Boden gleichberechtigt nebeneinander entwickeln. Recht hat immer die Aufgabe, bestimmte Sachgebiete zu regeln. Und wenn es unterschiedliche Lebensbereiche gibt, haben wir auch unterschiedliches Recht, und zwar nicht nur vom Inhalt, sondern auch vom formalen Aufbau her. Daß diese Rechte unterschiedlicher Herkunft sein können, ist dabei außer Frage. Es kommt aber immer auf den letztmalig tätigen Gesetzgeber, vergleichbar dem Endredaktor, an. Dieser entscheidet, was geregelt werden soll und wie, und zwar aktuell und unabhängig von irgendwelchen zurückliegenden Entwicklungen. Bei Neufassungen von Gesetzen gibt es nie einen Kampf zwischen verschiedenen Rechtssystemen, sondern immer nur einen Kampf von Interessen36
A. Alt, Ursprünge, 322.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts
27
gruppen, die einen für sie möglichst günstigen Anteil am Gesetzesvolumen sicherstellen möchten. Unterschiedliche Rechtstypen haben je ihre Aufgabe. Im heutigen Rechtsstaat sind z. B. das Verfassungsrecht und das positive, kodifizierte Recht zwei grundverschiedene ‚Gattungen‘. Beide stehen aber in einer bestimmten Funktion neben- bzw. übereinander, so wie es vom Gesetzgeber beabsichtigt ist. Kasuistisches und apodiktisches Recht müssen daher primär auf ihre in der Endfassung vorliegende Struktur und auf ihre Beziehung zueinander untersucht werden. Herkunft und frühere Trägerschaften sind dabei nur von rechtshistorischem Interesse. Es muss sogar offen bleiben, ob wir vor den biblischen Endtexten überhaupt schon von einem apodiktischen Recht sprechen können. Im 2. Teil dieser Arbeit soll dargelegt werden, dass das apodiktische Recht nicht in der Frühzeit Israels entstanden ist, sondern erst eine späte Entwicklung darstellt. Selbstverständlich gab es, wie überall, apodiktische Redeweise, allgemeine Hinweise und Ermahnungen weisheitlicher Art; die Frage ist aber, inwieweit derartigen Aussprüchen bereits ein verbindlicher Rechtscharakter zukam und welche Stellung sie innerhalb der frühen israelitischen Rechtsordnung hatten. Die präzise Zusammenstellung und Zuordnung von apodiktischem und kasuistischem Recht finden wir erst in den biblischen Texten, die alle nicht in die Frühzeit Israels gehören.
III. Weitere Forschung III. Weitere Forschung
1.
Sprachliche Untersuchungen
Die zahllosen Untersuchungen nach der Veröffentlichung des Aufsatzes von 1934 beschäftigten sich bezeichnenderweise weniger mit dem kasuistischen Recht, sondern fast ausschließlich mit denjenigen Texten, die A. Alt unter dem Begriff „apodiktisches Recht“ zusammengefasst hatte. Letzteres war der Stoff, an dem sich die ganze Diskussion entzündete. Für viele Autoren konnte das, was A. Alt vorgetragen hatte, einfach nicht richtig sein. Es passte „hinten und vorne“ nicht zusammen. Die Texte waren in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht viel zu unterschiedlich. Beim kasuistischen Recht war man sich dagegen weitgehend einig. Dieses hatte eine klare Struktur und konnte auch seiner Herkunft nach ziemlich unstreitig in den allgemeinen altorientalischen Rechtskreis eingeordnet werden. Es bestand in Palästina bereits in vorisraelitischer Zeit und ließ sich rechtsvergleichend und rechtshistorisch zureichend mit anderen Rechtskreisen vergleichen. Man hatte sich sogar auf eine feste Regel, ein Schema geeinigt, nach dem alle kasuistischen Rechtssätze – im Prinzip – aufgebaut sind, die sog. „lex Rössler“1. Dieses Schema entspricht der Bestimmung des kasuistischen Rechtssatzes durch A. Alt. Dessen Definition hat sich allgemein durchgesetzt.2 Es gilt der objektive „Wenn-Stil“, der im Hebräischen mit כִּיoder ְוכִּיeingeleitet wird und dem weitere Unterfälle mit אִמoder ְואִמangefügt werden können. Dem folgt dann der Rechtsfolgesatz, sozusagen als „Antwort“ auf den vorangegangenen Problemfall. Wir haben es mit einer Protasis und der folgenden Apodosis zu tun. Im Zusammenhang mit A. Alt war bereits ein Musterbeispiel, Ex 21,18–19 (S. 15), vorgestellt worden. Allerdings wird die Frage nach der Herkunft dieser kasuistischen Rechtsnormen sehr intensiv diskutiert. Eine direkte, literarische Abhängigkeit vom orientalischen Recht, z. B. dem Codex Hammurapi, wird dabei allgemein
1 2
G. Liedke, Gestalt, 36. H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 129f.
30
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
nicht mehr angenommen. Wieweit demgegenüber eine „Übernahme“ von den kanaanäischen Stadtstaaten erfolgt sein könnte, ist ebenfalls problematisch. Es gibt keine direkten schriftlichen Zeugnisse kanaanäischen Stadtrechts.3 Hinzu kommt aus rechtshistorischer Sicht, dass Rechtsformen nicht immer „übernommen“ werden müssen. Sie entstehen da, wo sie sachlich benötigt werden. Kasuistisches Recht kann überall entstehen, z. B. in England, wo das „case law“ den klassischen Kern des angelsächsischen Rechts darstellt. Das „case law“ stammt auch nicht aus Mesopotamien. Die Frage der Herkunft und einer „Übernahme“ ist also streitig. Ansonsten besteht aber über Umfang und Charakter des kasuistischen Rechts allgemeiner Konsens. Diese weitgehende Einigkeit hört aber beim apodiktischen Recht auf. Nur die direkten Prohibitive, mit ֹלאImpf. (ֹלא תִּ ְרצַח, Ex 20,13) oder mit אַלJussiv in der 2. Pers. Sg. oder Pl., werden von allen Autoren als „sauberes“ apodiktisches Recht angesehen.4 Alle anderen Formen, insbesondere die אָרוּר- und die מוֹת יוּמַת-Reihen werden diskutiert. Hier wird darauf hingewiesen, dass diese Sätze in der Partizipial- oder Relativform abgefasst sind und dass sie sehr wohl eine „Rechtsfolge“ enthalten, nämlich Fluch oder Tod. Auch wenn es sich nur um einen geschlossenen hebräischen Satz handele und das einleitende Partizip zugleich das Subjekt und das Objekt darstelle, müsse man diese Sätze „kasuistisch“ mit Tatbestand und Rechtsfolge auflösen. Sie gehörten deshalb nicht zum apodiktischen Recht. G. Liedke hat in seiner Untersuchung die umfangreiche Diskussion hierzu ausführlich vorgestellt.5 Genannt werden die Autoren Heinemann, Reventlow, Feucht, Kilian, Fohrer, Gese, Gerstenberger, Jepsen, Caspari, Morgenstern, Cazelles, Sauber, Noth, Westermann, Horst und Hentschke – eine stattliche Reihe von Forschern, die sich alle kritisch mit der Einordnung der Partizipial- und Relativformen in das apodiktische Recht auseinandersetzen. Der Anzahl der Autoren entspricht dann auch die Anzahl der Lösungsvorschläge. Die meisten wollen sie als kasuistisches Recht oder als Rechtssätze sui generis verstanden wissen. A. Alt hatte für dieses Problem einen anderen Ansatz. Ausgangspunkt war zunächst die Definition des kasuistischen Rechts als einer festen unstreitigen
3 4
5
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 134. E. Gerstenberger beschäftigt sich dann auch im Wesentlichen nur mit den Prohibitiven (Wesen und Herkunft). G. Liedke, Gestalt, 101.
III. Weitere Forschung
31
Größe. Dieses Recht war für ihn kanaanäischen und nicht israelitischen Ursprungs. Alle anderen Rechtsformen, die demgegenüber „volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch“ waren, gehörten dann für ihn zum apodiktischen Recht. Deshalb konnte er die durchaus unterschiedlichen Reihen und Einzelbestimmungen unter diesen einen Sammelbegriff stellen. A. Alt hat m. E. im Ergebnis recht. Die Partizipial- und Relativsätze sind zumindest kein kasuistisches Recht. Wer die אָרוּר- und die מוֹת יוּמַת-Bestimmungen, rein sprachlich, als Rechtsfolge im kasuistischen Sinne versteht, verkennt den Grundcharakter des kasuistischen Rechts. Dieses stellt eine Sammlung von Einzelfällen dar, die auf tatsächliche oder fiktive Fallentscheidungen, also Urteile von Gerichten oder anderen Autoritäten (König, Priester, Älteste) zurückgehen und deswegen auch nicht vollständig und keineswegs systematisch geordnet sein müssen. Sie zeigen, wie ein eingetretener Rechtsfall entschieden werden sollte oder könnte, und haben eher Beispielcharakter. Ein neuer Fall kann in Einzelheiten anders gelagert sein und muß dann eventuell auch anders entschieden werden.6 Dies wird auch beim Codex Hammurapi sehr deutlich. Dieser erscheint, nach heutigen Gesichtspunkten, weitgehend ungeordnet und ziemlich systemlos. Eine gewisse Logik ergibt sich erst, wenn man ihn als eine erzählende Fallsammlung versteht, mit der ein Überblick über entschiedene Verfahren für ein rechtsuchendes Publikum und für spätere Entscheidungen gegeben werden soll.7 Diese damit, im Grundsatz, gegebene Variationsmöglichkeit hat das apodiktische Recht, so wie A. Alt es zusammengestellt hat, nicht. Es gilt absolut und soll nicht diskutiert oder relativiert werden. Tod und Fluch sind keine von einem Gericht festzusetzende Rechtsfolge, sondern die selbstverständliche, unbedingte Antwort auf das angesprochene Vergehen. אָרוּרund מוֹת יוּמַת sind nur formelhafte Wendungen, die zur einheitlichen Reihenbildung gehören und keine Entscheidungsvorschläge darstellen sollen. Eine solche unbedingte Sanktion haben die reinen Prohibitive – unausgesprochen – auch hinter sich stehen. Auch bei ihnen muß derjenige, der dagegen verstößt, natürlich mit einer schwerwiegenden Sanktion, eben auch mit Tod oder Fluch, rechnen. Diese Folge ist aber so selbstverständlich, dass sie nicht einmal mehr ausgesprochen zu werden braucht. Bei den Partizipialreihen wird diese Sanktion dann doch ausgesprochen, bleibt aber nur eine Formel und
6 7
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 129. Ebd., 63.
32
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
bedeutet deshalb nicht, dass diese Normen zum kasuistischen Recht gehören. Sie verbleiben unbedingtes, nicht zu diskutierendes apodiktisches Recht. Hinzu kommt, dass die Autoren, die die Zugehörigkeiten zum apodiktischen Recht aus sprachlichen Gründen diskutieren, oft auch gar nicht angeben, warum sie dies eigentlich erörtern. Welche Konsequenzen sollen sich hieraus ergeben? Man hat oft den Verdacht, dass es nur darum geht, einzelne Bestimmungen der „besseren“ oder „schlechteren“ Abteilung zuzuschlagen, wobei das apodiktische Recht als die edlere Rechtsform angesehen wird, weil dieses irgendwie doch „israelitisch“ sei.
2.
Altorientalischer Rechtskreis, Hethitische Staatsverträge
Die Auffindung altorientalischer Rechtstexte, insbesondere des ‚Codex Hammurapi‘ aus der Zeit zwischen 1728–16868 v. Chr. und der Staatsverträge des Hattireiches aus der Zeit von 1395–12309 v. Chr. brachten neuen Schwung in die rechts- und religionsgeschichtliche Betrachtungsweise des gesamten Alten Testaments. Die Zusammengehörigkeit aller Kultur- und Religionskreise und eine gemeinsame Herkunft aus dem mesopotamischen Raum wurde vermutet und ist mit dem Schlagwort „Pan-Babylonismus“ verbunden.10 Dies führte zu dem berühmten „Babel-Bibel-Streit“. Die gefundenen Rechtstexte, insbesondere der CH, enthalten fast ausschließlich kasuistisches Recht in typischer Ausgestaltung. Es lag deshalb nahe, die entsprechenden biblischen Texte auf das altorientalische Recht zurückzuführen – vermittelt vielleicht über die kanaanäischen Stadtstaaten. Die Vasallenverträge waren dagegen anders aufgebaut. Sie sind nicht kasuistisch, sondern apodiktisch gestaltet. Es spricht der Großkönig und diktiert zwingende Vertragsbestimmungen. Hier ergab sich ein direkter Vergleich zum Bundesschluß, zum Bundesbuch, zum Dekalog und damit zum apodiktischen Recht. Die 1907 von H. Winckler in Boghazköi (145 km östlich von Ankara) entdeckten und ausgegrabenen 17 Verträge sind in akkadischer und hethitischer Sprache (Keilschrifttexte) abgefasst. Ihr Vergleich mit dem Bundesschluss des Alten Testaments wurde viel diskutiert. G. Heinemann vertrat in einer 8 9 10
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 57. G. Heinemann, Untersuchungen, 27. Vgl. A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients.
III. Weitere Forschung
33
Arbeit von 1958 die Auffassung, dass der Dekalog bzw. seine Vorformen wegen der teilweise frappierenden Ähnlichkeit mit den Vasallenverträgen direkt aus dem orientalischen Rechtskreis stammen müssten.11 Auch A. Phillips geht in einer älteren Untersuchung von 1970 von einem entsprechenden Ursprung aus12 und M. Weinfeld sah 1973 Ähnlichkeiten mit „Hethitischen Dienstanweisungen“.13 Die Vasallenverträge werden heute aber kaum noch erörtert. Mögliche Verbindungen hängen historisch gesehen auch im luftleeren Raum. Ähnlichkeiten können sich völlig unabhängig voneinander aus der Thematik heraus ergeben. Auch moderne notarielle Kaufverträge zeigen im Prinzip den gleichen Aufbau. So werden die Vasallenverträge im Dekalogbuch von Fr. Crüsemann14 auch überhaupt nicht mehr erörtert und M. Köckert erwähnt sie in seinem neuen Buch „Die Zehn Gebote“ 15 nur ganz am Rande, im Zusammenhang mit der Erörterung der Präambel des Dekalogs, ohne eine direkte Verbindung herstellen zu wollen. Dies ist auch zutreffend. Es ist ein falscher Ansatz, für den Dekalog frühe, geheimnisvolle Vorformen zu suchen. Dieser ist aus sich selbst heraus, in seiner jetzigen Gestalt und Stellung im biblischen Endtext zu interpretieren und zu verstehen.
3.
Amphiktyonie
Mit unserem Thema aufs engste verknüpft ist die Frage nach einem Stammesverband in der Zeit vor der Staatenbildung im 10. Jahrhundert. Diese Zeit war ja nach A. Alt primärer „Sitz im Leben“ des apodiktischen Rechts mit seiner Verlesung am Bundeserneuerungsfest und seiner Bewahrung durch die „kleinen Richter“. Die Amphiktyonie-Hypothese sollte helfen, den an sich geschichtslosen und historisch kaum greifbaren Zeitraum zwischen der sog. Landnahme und der Entstehung der Königreiche zu füllen. In der Bibel (Richterbuch) sind zwar Berichte aus dieser Zeit vorhanden; der historische Wert dieser Angaben ist aber gleich Null. Man kann nur indirekte Informationen entnehmen, die zur Frage der Amphiktyonie aber belegen, 11 12 13 14 15
G. Heinemann, Untersuchungen. A. Phillips, Ancient Israel’s Criminal Law. M. Weinfeld, Origin, 63–75. Fr. Crüsemann, Bewahrung. M. Köckert, Zehn Gebote.
34
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
wie es gerade nicht gewesen ist. Ein sakraler Stämmeverband, der sich um ein Zentralheiligtum schart, Träger gemeinsamen Rechts ist und geschlossen heilige Kriege gegen äußere Feinde oder abtrünnige Mitglieder führt, ist aus diesen Texten nicht zu ermitteln. Bei dem Feldzug gegen die Benjaminiten (Ri 19–21) und beim Deboralied (Ri 5) handelt es sich um keine gemeinsamen Aktionen eines Zwölfstämmeverbandes, ganz abgesehen von der Frage nach dem historischen Wert dieser Berichte überhaupt.16 Im Gegenteil: „Aus solchen Erzählungen wird erkennbar, dass die Phase des Zusammenwachsens der einzelnen Stämme nicht ohne Rückschläge und schwere Auseinandersetzungen vor sich ging. Ohne straffe, gewaltreiche, einigende Hand war das Konglomerat der einzelnen Stämme nicht zusammenzuhalten. Die partikularistischen Tendenzen waren zu stark.“ 17 Dabei hatte die von M. Noth entwickelte Amphiktyonie-Hypothese18 viele Vorteile. Die biblische Tradition wurde bestätigt. Eine unbekannte Epoche wurde ausgefüllt. Man hatte einen Ursprung für die biblischen Texte, für die Religion Israels, für den Monotheismus und, wichtig für das vorliegende Thema, für die Gesetzgebung.19 M. Noth hat seine These deshalb auch bis zu seinem Tode 1968 verteidigt.20 Diese Theorie lässt sich aber nicht aufrechterhalten. Es spricht zu viel dagegen. Eine Übertragung der griechischen Amphiktyonie nach Palästina ist nicht möglich. R. d. Vaux hat sich mit diesem Problem ausführlich beschäftigt.21 Er lehnt die Annahme eines Stämmeverbands in der von Noth vorgeschlagenen Form rundherum ab: „Many different kinds of political institutions existed in the great semitic world, but there was never anything resembling a greek amphictyony.“ 22 Im Einzelnen führt er aus,23 dass die Zwölfzahl für eine Amphiktyonie nicht konstitutiv sei. Nur der Delphische Verband hatte zwölf Mitglieder. Die Zahl 12 gebe vielmehr eine – scheinbare – Vollständigkeit, entsprechend dem Jahresrhytmus, wieder. Ein historisch belegter Pakt der Stämme, wie im Josuabuch suggeriert, wurde nicht geschlossen. Es gab kein gemeinsames Zentralheiligtum. Vielmehr tauchten 16 17 18 19 20 21 22 23
G. Fohrer, Altes Testament, 80. D. Kinet, Geschichte Israels, 2001, 55. Ebd., 58. Ebd., 58. M. Noth, System. J. A. Soggin, Einführung, 125. R. d. Vaux, The Early History of Israel, 695. Ebd., 700. Ebd., 702.
III. Weitere Forschung
35
mehrere Heiligtümer in unterschiedlichen Zusammenhängen auf. Tabor, Schilo, Bet-El, Mizpa, Gilgal oder Beerscheba erlangten nie eine zentrale Bedeutung. Ein amphiktyonisches Gremium, eine Versammlung von Abgeordneten oder Ältesten, ist nicht belegt, ebenfalls nicht gemeinsames, für alle geltendes Bundesrecht. Und schließlich fehlen, wie schon erwähnt, gemeinsame Aktionen aller Mitglieder. R. d. Vaux kommt zu dem Ergebnis: „The use of the word ‚amphiktyonie‘ in connection with Israel can only cause confusion and give a wrong impression of the mutual relationships between the different tribes. It should be abandoned.“ 24 Die Amphiktyonie wird man also verabschieden müssen. „Daß dadurch auf historischem Gebiet eine Leere entsteht, ist eine für viele peinliche, doch nicht zu leugnende Tatsache, wie immer man auch versuchen mag, diese Leere auszufüllen.“25 Was soll man an ihre Stelle setzen? Irgendeine gesellschaftliche und politische Entwicklung, die dann zur Staatenbildung führte, musste es schließlich gegeben haben. Womit soll man diese Lücke ausfüllen? Die Antwort hängt damit zusammen, wie man die sog. „Landnahme“, also die Besiedlung und bevölkerungspolitische Entwicklung, sieht. Auf die verschiedenen „Modelle“ kann hier nicht näher eingegangen werden. Dass es sich dabei um keinen dramatischen Eroberungszug eindringender Stämme gehandelt hat, ist allgemeiner Konsens, wenn man von einigen Unentwegten in den USA absieht. Es war ein im Ganzen friedlicher, innerpalästinensischer Vorgang. Eroberer oder eindringende Nomaden („Transhumanz“) waren nur in geringem Umfang daran beteiligt. „Die ‚Einwanderung Israels‘ war in Wirklichkeit zum größten Teil eine Unterwanderung und Umschichtung der Bevölkerung, z. T. auch eine Sesshaftwerdung vorher nicht sesshafter Gruppen, die man ganz allgemein als ‚Nomaden‘ bezeichnen kann. Das war zumeist ein friedlicher Vorgang. Es gab keine geschlossene Eroberungsaktion. Der Vorgang ist in seinem detaillierten Ablauf nicht mehr rekonstruierbar.“ 26 Dabei darf man sich diese „Nomaden“ allerdings nicht als die Nachfahren der Patriarchen vorstellen. Gemeint sind damit alle möglichen nicht sesshaften Gruppen, die von außen gekommen sein können und teilweise zu den
24 25 26
R. d. Vaux, The Early History of Israel, 715. J. A. Soggin, Einführung, 125. D. Kinet, Geschichte, 47.
36
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
„hapiru“ gehört haben mögen, die es überall, nicht nur in Ägypten, gab;27 überwiegend waren es aber Gruppierungen, die sich aus dem Umkreis der Städte gelöst hatten und teilweise in Opposition zu ihnen standen. Diese wurden jetzt sesshaft und bildeten allmählich die „Stämme“, entsprechend den geographischen Verhältnissen. Die Archäologen haben für diese Zeit in den Hochebenen und in den südlichen Steppen neue Siedlungen entdeckt, die z. T. von Bauern aus dem Kulturland, andererseits aber auch von Halbnomaden gegründet wurden (kleine, nicht ummauerte Dörfer).28 Wir hätten dann beide Gruppierungen, ehemalige Angehörige des Kulturlandes (Kanaan) und ungebundene Gruppen von innen und außerhalb. Wieweit es zwischen diesen und den kanaanäischen Stadtstaaten zu Konflikten gekommen ist („Israel gegen Kanaan“), lässt sich im Einzelnen nicht mehr ermitteln.29 Die Zerstörung von Städten in der damaligen Zeit kann die verschiedensten Ursachen gehabt haben. Auf jeden Fall kann man aber davon ausgehen, dass sich die „Stämme“ erst im Inland gebildet haben. Die Zwölfzahl und die im Alten Testament aufgeführten Namen sind eine genealogische Liste zur Feststellung und Bestätigung der Abstammung und der Verwandtschaftsverhältnisse. Und G. Fohrer formuliert es so: „Aus den angeführten Gründen scheint es mir ratsam, die Amphyktyonie-Hypothese durch die Annahme zu ersetzen, dass das Schema der zwölf Stämme Israels eine kurze volkstümliche Genealogie darstellt, die während der Frühzeit in wechselnden Formen entsprechend dem jeweiligen Bestand an Stämmen und unter Anpassung der Wirklichkeit an die vorgegebene Zwölfzahl die Gemeinschaft Israel konstituiert.“ 30 Diese Gruppierungen lebten dann in Form von „segmentären, akephalen Gesellschaften“ zusammen. Mit diesem soziologisch-ethnologischen Begriff ist ein Zusammenschluß von Sippen und Großfamilien gemeint, ohne staatliche Organisation und ohne staatliche Führung.31 So könnte man sich das Leben in Palästina im 12. und 11. Jahrhundert vorstellen, verbunden mit einem allmählichen Niedergang der kanaanäischen Stadtstaaten. Und der
27
28 29 30 31
Zu diesen „Zugereisten“ kann dann auch eine „Ägypten-Gruppe“ gehört haben – mit oder ohne Anführer. Es spricht eigentlich nichts dagegen. Diese Gruppe hat dann ihre Traditionen an das spätere Gesamt-Israel weitergegeben. J. A. Soggin, Einführung, 119; vgl. im Einzelnen 2. Teil, II.2. Ebd., 119. G. Fohrer, Altes Testament, 894. D. Kinet, Geschichte, 57.
III. Weitere Forschung
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Jahwe-Kult war in weiter Ferne. Nur einige wenige Gruppen dürften ihn praktiziert haben. Diese Zusammenhänge mussten etwas ausführlicher dargestellt werden, weil sie unmittelbaren Einfluss auf die Frage der Rechtsentwicklung haben. Der Rechtshistoriker kann nämlich mit den Begriffen „segmentär“ und „akephal“ wieder arbeiten. Dies sind für ihn bekannte Größen, die ihm Angaben zum Recht dieser Gesellschaften erlauben.32 In diesen frühen Verhältnissen herrscht eine Verwandtschaftsordnung. Stämme als „patrilineare lineages“ setzen sich dabei ihrerseits aus den einzelnen Großfamilien mit drei bis vier Generationen „unter einem Dach“, zusammen. Der „pater familias“ war die Autorität innerhalb der Großfamilie und die Stämme („lineages“) wurden wiederum von Ältesten vertreten. Konflikte innerhalb der „lineages“ wurden von den eigenen Ältesten gelöst, Streitigkeiten zwischen den „lineages“ wurden, wenn möglich, durch Schlichtung geregelt, wie viele Berichte des Alten Testaments zeigen. Daneben gab es die meist gewaltsame Selbsthilfe und die Blutrache als feste Einrichtung. Mit diesen rechtshistorischen Erkenntnissen kommen wir auch bei unserem Thema weiter. Das apodiktische Recht müssen wir zumindest in Vorformen in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen suchen, wie im nächsten Kapitel anhand des Buches von E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft des Apodiktischen Rechts, von 1965, dargestellt werden soll. Dabei muss allerdings hier schon darauf hingewiesen werden, dass das apodiktische Recht als eigenständige Rechtsform eine späte Entwicklung ist und sich in segmentären, akephalen Gesellschaften nicht als solches finden lässt. In Israel ist es nicht möglich, bereits für das 12. und 11. Jahrhundert apodiktische Rechtsformen festzustellen. Allgemeine Rechtsvorstellungen, Verhaltensregeln, Sprichwörter u.ä. wird es, wie überall, gegeben haben; ein apodiktisches Recht, so wie es uns in der biblischen Endfassung begegnet, kann hier – noch – nicht entstanden sein; dies soll im 2. Teil dieser Arbeit näher dargelegt werden.
32
U. Wesel, Geschichte des Rechts, 106.
38
4.
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
E. Gerstenberger: „Sippenethos“
In seinem viel zitierten und für unser Thema grundlegenden Werk „“Wesen und Herkunft des Apodiktischen Rechts“ von 196533 weist E. Gerstenberger einleitend darauf hin, dass er für seine Arbeit die „form- und gattungsgeschichtliche Methode“ als das geeignete Instrument halte, ein geschichtliches Geschehen zu begreifen, allerdings nur in der von A. Alt praktizierten Weise.34 H. Gunkels Glaube an eine „harmonisch-schöpferische Volksseele“, die sich in den – mündlichen – Urformen der Textgattungen widerspiegele, die man dann von späteren Zusätzen und Verunstaltungen befreien müsse, ist ihm zu stark ideologisch belastet. A. Alt sei vorsichtiger und arbeite in erster Linie als Historiker. Dieser Arbeitsweise kann sich E. Gerstenberger anschließen. Trotzdem beginnt er seine Arbeit sofort mit einer erheblichen Einschränkung.35 Er will nur die sog. „Prohibitive“ als apodiktisches Recht gelten lassen. Alle anderen von A. Alt hinzugerechneten Formen sind für ihn „Rechtssätze“ mit Tatbestand und Tatfolge, die als kasuistisches Recht oder als Gruppierung sui generis zu gelten hätten. Damit scheiden alle Partizipialund Relativkonstruktionen mit מוֹת יוּמַת, die אָרוּר-Reihe und die Schamreihe aus seiner weiteren Betrachtung aus. A. Alts Kriterien, nämlich metrische Struktur, Reihenbildung und die „Wucht des Ausdrucks“ reichen für ihn nicht aus, um aus diesen unterschiedlichen Normen eine einheitliche Gattung zu machen. Sie alle enthielten nämlich eine Rechtsfolge, die Apodosis, die auf ein als schon geschehen gedachtes Vergehen reagiert. Die Ge- und Verbote dagegen hielten keine Rückschau auf zu ahnendes Unrecht, sondern stellten – für die Zukunft – Verbotsschilder bzw. Richtungshinweise auf, an die sich alle zu halten hätten. Sie sollten also kommendes Unrecht verhindern und benötigten deshalb keine Straffolgebestimmung.36 Nur mit dieser Gruppe, dem „Rest“, will sich E. Gerstenberger beschäftigen. Und das sind dann nur die Prohibitive.
33 34 35 36
E. Gerstenberger, Wesen. Ebd., 21. Ebd., 23. Ebd., 25; Diese Auffassung ist m. E. insofern problematisch, als E. Gerstenberger eine falsche Vorstellung vom kasuistischen Recht hat (vgl. Kap. III.2.b). Letzterem fehlt nämlich die Unbedingtheit der Rechtsfolge. Deshalb sind die neben den Prohibitiven von A. Alt genannten Formen zumindest kein kasuistisches Recht. Ob man sie als Apodiktisches Recht oder als Sonderform einstufen möchte, ist eine andere Frage.
III. Weitere Forschung
39
Diese „Prohibitive“ sind hauptsächlich in den als Gesetzessammlungen zu betrachtenden Texten enthalten, also im Bundesbuch, Deuteronomium und Heiligkeitsgesetz sowie im Dekalog. E. Gerstenberger fragt „nach dem Vorkommen von nichtkonditionalen, nichtrituellen, meist negativ und in direkter Anrede formulierten und für das tägliche Leben normativen Geboten.“ 37 Er untersucht die erwähnten Korpora und stellt alles zusammen, was unter seinen Begriff der Prohibitive fällt, wobei dann im Wesentlichen aber doch das gleiche Material erscheint wie bei A. Alt und den anderen Autoren. Alle diese Sätze, sowohl die direkten Anreden wie auch die unpersönlichen Aufreihungen, lassen sich nach E. Gerstenberger auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen. Dieser lässt sich aus den charakteristischen Zügen dieser Gattung, nämlich aus der Negativität der Form und der Verbindlichkeit (Intensität) für das tägliche Leben ermitteln. Dabei haben auch die positiv formulierten Gebote über Sabbatheiligung und Elternehrung letztlich einen inhaltlich negativen abwehrenden Charakter.38 Die Intensität ergibt sich aus der sprachlichen Form ( אַלmit Jussiv und ֹלאmit Indikativ Perfekt). Der Vergleich der Belegstellen ergibt dabei nach E. Gerstenberger aber keine Unterschiede hinsichtlich der Stärke des Ausdrucks bei den beiden grammatischen Formen. Generalisationen seien falsch. Es bestehe, im Grundsatz, eine Gleichheit der Imperfekt- und der Jussivverbote.39 Entscheidend sei dann die Frage nach der hinter den Prohibitiven, dem apodiktischen Recht, stehenden Autorität.40 Da die Prohibitive im vorliegenden Endtext meist in einem kultischen Rahmen und in Redezusammenhängen auftauchen, in denen Jahwe das redende Subjekt ist, z. B. die Selbstvorstellungsformel in Ex 20,2, sollen sie im Endtext als direkte Offenbarung Jahwes an sein Volk verstanden werden. Damit ist aber die eigentliche Herkunft der Prohibitive noch nicht geklärt, denn diese waren z. B. im Dekalog ursprünglich gerade nicht mit der Selbstvorstellungsformel verbunden. Dies sei unstreitig eine Komposition späterer Redaktionen.41 Die Stilisierung als Jahwerede sei sekundär. Die Sätze seien ursprünglich nicht „jahwistisch“. Es gehe nicht um eine Jahweverehrung. „Den Kern der Verbotssammlungen bilden vielmehr die Vorschriften für das tägliche Leben in den allgemein menschlichen, sozialen Gruppierungen.“ Die Prohibitive wollen im Kern nicht 37 38 39 40 41
E. Gerstenberger, Wesen, 27. Ebd., 43. Ebd., 54. Ebd., 59. Ebd., 60.
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1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
die Beziehungen der Menschen zu Gott, sondern der Menschen untereinander regeln, besonders der durch Familie oder Gesellschaft verbundenen Personen. Mord, Diebstahl und Raub, sexuelle Tabus, Verhalten vor Gericht, Schutz der Waisen und Witwen, der Fremden, Lohnarbeiter und sozial Schwachen seien die vorwiegenden Themen der Prohibitive. Und dieser Inhalt führt E. Gerstenberger dann auf den richtigen Weg. Die Prohibitive stünden nicht mit einem fiktiven Bundesschluss, dem Sinaigeschehen oder einer Amphiktyonie in Verbindung. Sie führten vielmehr direkt in die Sippe, die Großfamilie, wo der Familienälteste für den Zusammenhalt und das geordnete Zusammenleben der Sippe verantwortlich sei. In den Prohibitiven spreche der ‚pater familias‘ als oberste Autorität und als Vertreter der geheiligten und seit altersher überlieferten Lebensordnung. Ein Text belege dies ausdrücklich. In der Erzählung von den Rechabiten (Jer 35) wird auf den Sippenvater Jonadab verwiesen. Dessen Weisung wird als ִמ ְצוָהbezeichnet. Insgesamt seien die Prohibitive daher im Sippenverband, in der Sippenordnung beheimatet. „Es scheint in der Tat die einfachste und natürlichste Erklärung zu sein, wenn wir dem Sippenältesten die Prohibitive in den Mund legen.“ 42 Die ganze Sippengemeinschaft unterstehe der „Jurisdiktions- und Exekutivgewalt des Vaters.“ „Dieser ist Hüter und Wahrer des Sippenethos“.43 Er führe die männlichen Mitglieder der Sippe in die Sippenordnung ein und garantiere die Einhaltung eines Sippenkodex. Und hieraus stammten dann die Prohibitive und damit das, was A. Alt als das apodiktische Recht bezeichnet habe. Die sehr detaillierten Ausführungen E. Gerstenbergers konnten hier nur verkürzt wiedergegeben werden. Seine Sicht des apodiktischen Rechts verdient Zustimmung. Die Versuche, es in fiktive biblische Zusammenhänge zu zwingen, werden damit hinfällig. Seine Überlegungen entsprechen auch der nach dem bisherigen Forschungsstand zu ermittelnden Geschichte Palästinas in vorstaatlicher Zeit, wo wir die bereits erörterten „segmentären“ und „akephalen“ Gesellschaften vorfinden. Das „Sippenethos“ passt genau in diese Verhältnisse. Was von E. Gerstenberger nicht näher erörtert wird, ist die Stellung des apodiktischen Rechts im Kontext der biblischen Endgestalt.44 Welche Funk42 43 44
E. Gerstenberger, Wesen, 110. Ebd., 116. Hier erscheint es nämlich dann doch wieder als israelitisches und jahwistisches Recht.
III. Weitere Forschung
41
tion hat es heute in Bezug auf die anderen Normen? Welche Vorstellungen stehen insoweit hinter der Endredaktion? Es ist schließlich nicht unzulässig, Rechtssätze, völlig losgelöst von ihrer eigentlichen Herkunft, neu zu verwenden und in ganz andere Zusammenhänge zu bringen. Diese Fragen müssten noch näher erörtert werden. Fr. Crüsemann, E. Otto und auch Eun-Ae Lee beschäftigen sich mit diesem Komplex und sollen deshalb noch näher vorgestellt werden. Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass das apodiktische Recht als solches in akephalen, segmentären Gesellschaften nicht zu finden ist. Historische, sprachliche und rechtsgeschichtliche Gründe sprechen dagegen. Das von E. Gerstenberger herangezogene Sippenethos kann deshalb nicht als direkte Quelle dieses Rechts angesehen werden. Erst in der biblischen Endgestalt finden wir in einer großen Komposition das apodiktische Recht als Rahmen der übrigen Rechtsordnung. Das Sippenethos war aber sicherlich die Quelle der apodiktischen Redeweise, die einzelne Sentenzen hervorbrachte, die dann schließlich im Dekalog zu einer Grundsatzordnung zusammengefasst wurden.
5.
G. Fohrer: „Lebens- und Verhaltensregeln“
Zu einem ähnlichen Ergebnis wie E. Gerstenberger kommt G. Fohrer in seinem Aufsatz „Das sogenannte apodiktisch formulierte Recht und der Dekalog“ aus dem Jahre 1965.45 Er unterscheidet dabei zwischen dem apodiktischen Stil und den apodiktischen Satzreihen.46 Der „Stil“ als solcher („tue dies“ – „tue jenes nicht“) gehöre zu den „Urformen menschlicher Redeweise“ und sei deshalb überall zu finden. Hierfür gebe es, worin ihm sicher zuzustimmen ist, keinen speziellen, genuinen Herkunftsort. Die Bildung von Reihen sei dagegen das Spezifische und gehöre in den (halb)nomadischen Lebensbereich. Innerhalb dieser Reihen gebe es dann „verschiedene Gattungen“. Aus solchen „Reihen“ sei dann auch der Dekalog, Ex 20,1–17, gebildet worden. Die heutige Form sei durch Erweiterungen verändert worden. Die Selbstvorstellungsformel Adonais sei eine deuteronomistische Ergänzung und habe insbesondere mit den letzten Verboten des Tötens, Ehebrechens und Stehlens
45 46
KuD 11 (1965), 49–74. Ebd., 51.
42
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
„überhaupt nichts“ zu tun.47 Die „Urform“ des Dekalogs, wie immer diese auch ausgesehen habe, sei also nicht „jahwegebunden“ gewesen. Die Crux bei diesen Erörterungen ist, dass dabei immer nur auf die – vermutete – Herkunft der Sätze geachtet wird. Wenn man die Texte weit genug zurückverfolgt, kommt man natürlich in eine „jahwefreie“ Zeit. Dann haben die Gebote – ursprünglich – tatsächlich nichts mit Adonai zu tun. Aber ist dies das Entscheidende? Wenn in der vorliegenden Endfassung die Gebote ausdrücklich Adonai unterstellt werden, dann sind sie – heute – doch „jahwegebunden“ und stehen in unmittelbarer Beziehung zu Adonai. Sie waren es ursprünglich nicht, sollen es aber heute sein. Hierauf hat Fr.Crüsemann überzeugend hingewiesen.48 Sein Buch soll später noch näher vorgestellt werden. Für den Juristen ist dies auch kein Problem. Rechtsnormen gelten immer nur in ihrer letzten Fassung. Frühere Formulierungen und Sinnzusammenhänge interessieren nur den Rechtshistoriker. Ein Haus kann erst nach seiner Fertigstellung zutreffend gewürdigt werden. Die Betrachtung der einzelnen Baumaterialien ist eine andere Sache. G. Fohrer betrachtet insgesamt die Reihen des apodiktischen Rechts als Lebens- und Verhaltensregeln und kommt damit zu einem ähnlichen Ergebnis wie E. Gerstenberger. Apodiktisches Recht sei ursprünglich kein „Recht“ im eigentlichen Sinne mit konkreten Sanktionen, sondern die Sammlung allgemeiner Lebensregeln aus dem (halb)nomadischen Lebensbereich.49 Wichtig ist hierbei, dass auch G. Fohrer die Diskussion um das orientalische Recht, insbesondere die Vasallenverträge, hinter sich gelassen hat. Diese werden von ihm im Zusammenhang mit dem apodiktischen Recht nicht mehr erörtert. Insoweit liegt bei G. Fohrer wie bei E. Gerstenberger eine eigenständige Entwicklung dieses Rechts vor. Ein Bezug zum orientalischen Rechtsbereich besteht nach Meinung beider Autoren nicht.
47 48 49
KuD 11 (1965), 58. Fr. Crüsemann, Bewahrung. G. Fohrer, Apodiktisches Recht, 67.
IV.
Heutiger Forschungsstand
IV. Heutiger Forschungsstand
1.
Fr. Crüsemann: „Bewahrung der Freiheit“
Eines der besten Bücher zum Dekalog und damit auch für unser Thema ist die kleine Schrift von Fr. Crüsemann „Bewahrung der Freiheit“. Der Untertitel lautet: „Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive“. Dies ist nach Fr. Crüsemann der entscheidende Aspekt, wobei es ihm um die soziale Funktion des Dekalogs in seiner Endgestalt, also um die gesellschaftspolitischen Gründe zur Zeit seiner abschließenden Formulierung geht. Die speziellen Herkünfte und Traditionen der einzelnen Bestimmungen interessieren ihn nur insoweit, als diese Aufklärung über die Bedeutung in der Gegenwart geben können. a) Der Dekalog, die – vermeintliche – „Quintessenz des Menschenanstandes“1, ist für Fr. Crüsemann aber nicht die Zusammenfassung der gesamten alttestamentlichen oder biblischen Ethik. Viele Themen werden nicht angesprochen. Wir haben vielmehr eine Auswahl nach bestimmten Gesichtspunkten vor uns, wobei die Auswahlkriterien für Fr. Crüsemann die entscheidenden Aspekte sind. Die kompositorischen Überlegungen, die zu seiner Endgestalt führten, sind das, worauf es ihm ankommt. Hieraus ergeben sich für ihn die sozialen und politischen Hintergründe, die maßgebend bei der Erstellung des Dekalogs in seiner Endgestalt waren. Von hier aus sei verständlich, warum viele Themen im Katalog fehlten und warum man ihn deshalb eben nicht als eine Zusammenfassung der gesamten Ethik, als ein „Grundgesetz“ für die gesamten Rechtsvorschriften des Alten Testaments, betrachten könne.2 Nach Fr. Crüsemann fehlen die sog. Taburegeln, nämlich die Enthaltung von bestimmten Speisen und von Blutgenuss. Letzteres ist von Noah bis zu Paulus („Aposteldekret“) eigentlich ein sehr zentrales Thema. „Rein“ und „Unrein“ und das Verhalten gegenüber dem Tod und den Toten gehören
1 2
Th. Mann, Das Gesetz, 684. Fr. Crüsemann, Bewahrung, 69.
44
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
hierzu. Ferner fehlen alle Sexualtabus, die im Dekalog nicht durch das Ehebruchsverbot abgedeckt werden, wie von denjenigen angenommen wird, die eine umfassende universale Geltung des Dekalogs postulieren. Der gesamte Bereich des Kultes ist ebenfalls ausgeklammert. Dieser wird nach Fr. Crüsemann auch nicht durch das Sabbatgebot erfasst. Alles, was an anderen Stellen über spezielle Vorschriften über Opfer, Erstlinge, Zehnte, Feste oder Wallfahrten ausführlich erörtert wird, wird vom Dekalog nicht erwähnt. Das Gleiche gilt für das Verhältnis zum Staat und zur Obrigkeit. Man kann dies nicht über das Elterngebot hineininterpretieren. Steuern, Kriegsdienst, das Verhalten gegenüber Fremden und Fremdvölkern werden nicht angesprochen. Und schließlich fehlt, ganz verblüffend, das Verhalten gegenüber den sozial Schwachen und Benachteiligten. Die Witwen und Waisen, Arme oder Blinde treten nicht auf, obwohl das Verhalten gegenüber diesen Gruppen ein sonst ganz zentrales Thema ist. Warum fehlen alle diese Vorschriften? Das Auswahlkriterium muß ermittelt werden. Hierfür weist Fr. Crüsemann darauf hin, dass der jetzige Dekalog durch seinen Textzusammenhang und durch die Selbstvorstellung und Namensnennung JHWH‘s eine Gottesbeziehung voraussetze, aus der heraus der Dekalog zu betrachten sei. Die Rettungstat Adonais, der Israel aus Ägypten geführt hat, sei das Faktum, von dem aus alles seine Bedeutung beziehe. „Nur vom befreienden Gott des Exodus her lassen sich die Gebote sachgemäß verstehen.“3 Die hierdurch gewonnene Freiheit sei der zentrale Begriff. Was hat dieser Begriff aber mit der Auswahl der Gebote zu tun? Warum werden das Ehebruchsverbot und das Elterngebot erwähnt, das Verhalten gegenüber sozial Schwachen aber nicht? Fr. Crüsemann geht davon aus, dass dies kein Zufall ist. Der „Dekalog (ist) ein überaus reflektierter und bewusst komponierter Text.“4 Er geht von einem speziellen „Thema des Dekalogs“ aus, das er mit Hilfe einer sozialgeschichtlichen Interpretation ermitteln möchte. Für ihn sind die Adressaten des Dekalogs von Bedeutung, weniger die Verfasserkreise. Letztere lassen sich schwer ermitteln. Die durch den Dekalog Angesprochenen, die Adressaten, seien dagegen mit „weitgehender Eindeutigkeit“ zu erkennen.
3 4
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 12. Ebd., 13.
IV. Heutiger Forschungsstand
45
b) Zunächst muss hierfür die Datierung geklärt werden. Dass der Dekalog, so wie er uns heute vorliegt, nicht aus vorstaatlicher Zeit stammt, obwohl er in der Bibel in einem solchen textlichen Zusammenhang steht (Exodus), ist unbestritten. Er ist nach Fr. Crüsemann vielmehr in die „späte vorexilische Zeit“ zu datieren, also in das 8. Jahrhundert, zwischen dem Untergang des Nordreichs und Josija, wobei Crüsemann offenbar das 7. Jahrhundert mit einbeziehen will. Der Dekalog stelle eine „Reaktion auf die tiefen religiösen, theologischen, politischen und sozialen Krisen“ dieser Zeit dar. Er reagiere auf die damals entstandenen starken sozialen Spannungen und Risse in der israelitischen Gesellschaft. Hieraus resultierten die Auswahl der Gebote. Diese sollten die durchaus konkret und sozial gedachte Freiheit des israelitischen Bürgers bewahren. Dies beziehe sich unmittelbar auf die Rettungstat JHWH‘s und werde hierauf zurückgeführt. Die Einhaltung des Dekalogs sei die unmittelbare Antwort Israels auf die von JHWH gewährte Freiheit. Nur dadurch könne die Freiheit bewahrt werden. Genauso sieht es auch M. Köckert. Er formuliert: Die Zehn Gebote „gelten Befreiten und halten dazu an, die Freiheit zu bewahren. Aus der erfahrenen Befreiung erwächst die Bindung an den befreienden Gott.“5 c) Der Adressatenkreis lässt sich nach Fr. Crüsemann dann leicht ermitteln. Es ist der freie, grundbesitzende israelitische Vollbürger. Auf diesen beziehe sich der Dekalog. JHWH stelle sich als derjenige vor, der Israel aus Ägypten in die Freiheit geführt hat. Er definiert sich hier allein über dieses Ereignis. In dieser Beziehung steht er zum einzelnen, befreiten Israeliten, soweit dieser als Vollbürger Träger dieser Freiheit ist. JHWH hat Israel aus dem „Sklavenhaus“ in das Land geführt, in dem „Milch und Honig fließen“. Hier lebt der – befreite – Israelit in einer egalitären Gesellschaft, die es zu bewahren gilt. Die drohende Aufspaltung der israelitischen Gesellschaft in Arme und Reiche, die Herausbildung einer Aristokratie mit abhängigen Bauern soll verhindert werden. Es ist dabei eine „kommunikative Freiheit“.6 Gottes „Befreiungstat“ entspricht der Freiheit der Bürger. Sie begründet dieses Privileg. Die Unterwerfung unter JHWH und seine Gebote sichert diese Freiheit. Es geht also nicht um die Herrschaft JHWH‘s, sondern umgekehrt um das freie Leben der Angehörigen des Volkes Israel.
5 6
M. Köckert, Zehn Gebote, 48. Fr. Crüsemann, Bewahrung, 39.
46
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
d) Diese Grundkonzeption ergibt dann nach Fr. Crüsemann die Auswahl der Gebote. Es sind diejenigen Regeln, die zur Erhaltung dieser Freiheit erforderlich sind. Es geht um kein „Universalethos“ o. ä., sondern um die ganz konkreten Beziehungen der Bürger. Diese Beziehungen werden von Fr. Crüsemann im Einzelnen dargelegt: Die alleinige Verehrung JHWH’s und das Bilderverbot sollen den Rückbezug auf Adonai sicherstellen. Dieser ist der Befreier und der Garant der gewonnenen Freiheit. Auch die Einhaltung des Sabbats hat hier weniger kultische Bedeutung. Dieser Ruhetag soll vielmehr demonstrieren, dass man nicht mehr im „Sklavenhaus“ Fronarbeit leisten muss, sondern „freier Bauer auf freier Scholle“ ist, um diesen Ausdruck hier zu gebrauchen. Es ist eine Frage der Lebensqualität, an der alle, auch der Sklave, seinen Anteil haben soll. Das Gebot, die Eltern zu ehren, bedeutet ganz konkret die angemessene Versorgung der alten Menschen, so wie später der durch dieses Gebot Verpflichtete seinerseits von seinen Kindern versorgt werden soll. Nur so wird seine eigene soziale Freiheit und Unabhängigkeit in der Zukunft sichergestellt. Das Verbot des Mordens, Stehlens und Meineids schützt den Bürger vor kriminellen Handlungen. Das Verbot des Ehebruchs sichert den Bestand der Familie und erhält den nachbarlichen, sozialen Frieden. Das letzte Verbot scheint mit dem 8. Gebot zu kollidieren. „Du sollst nicht begehren …“ bedeutet nach Fr. Crüsemann aber etwas anderes. Während das 8. Gebot den direkten kriminellen und strafbewehrten Diebstahl meint, richtet sich das 10. Gebot gegen eine Aneignung von Habe des Nächsten durch scheinlegale Handlungen. Wer Notsituationen seines Nachbarn ausnutzt oder bewusst herbeiführt, soll hier getroffen werden. Die soziale Ausbeutung auf „legale“ Weise, z. B. durch Wucherzinsen, soll verhindert werden. Wer durch solche Machenschaften die Habe seines Nächsten an sich bringt, handelt genauso verwerflich wie ein Dieb, sogar noch verachtenswerter. „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank!“ lässt Berthold Brecht seinen berüchtigten Titelhelden Macheath, genannt „Mac the knife“, in der „Dreigroschenoper“ verkünden. Dieses letzte Gebot ist eminent wichtig. Jedes gesellschaftliche System bietet dem wirtschaftlich Stärkeren die Möglichkeit, sich Hab und Gut seiner Mitbürger anzueignen, ohne sich direkt strafbar zu machen. Das skrupellose Ausnutzen aller wirtschaftlichen und rechtlichen Möglichkeiten kann zu einer unmittelbaren Gefährdung der Existenz der anderen Mitbürger führen.
IV. Heutiger Forschungsstand
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Deren Lebensgrundlage und Freiheit sind in Gefahr. Sozialer Missbrauch ist daher auch eines der Hauptthemen des Alten Testaments bei den Propheten, bei Nehemia oder bei Hiob. Dies Problem birgt viel mehr sozialen Zündstoff als ein kleiner Ladendiebstahl. Insgesamt bringt der Dekalog eine „Solidaritätsethik innerhalb der angesprochenen Schicht.“ Geschützt wird der freie Bürger gegen alle Angriffe, die seine soziale Existenz bedrohen. Die traditionelle egalitäre Gesellschaft Israels soll erhalten bleiben. Dies erfolgt über die Einhaltung der auf JHWH bezogenen Verpflichtungen allen Mitbürgern gegenüber.7 e) Die sozialgeschichtliche Analyse des Dekalogs durch Fr. Crüsemann musste hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Zum einen haben wir es beim Dekalog mit apodiktischem Urgestein, mit Prohibitiven in reinster Form zu tun; zum anderen zeigt diese Betrachtungsweise, wie wichtig es ist, nicht immer nur nach Herkunft und Ursprung und den wechselnden Trägerschaften zu fragen. Gerade bei Rechtsnormen ist es viel wichtiger, ihre Bedeutung in der jeweiligen Endgestalt zu erkunden. Für den Juristen ist dies eindeutig. Jedes Gesetz gilt immer nur in seiner letzten veröffentlichten Fassung. Welche Bedeutung einzelne Vorschriften vorher gehabt haben könnten, ist eigentlich uninteressant und nur von rechtshistorischem Interesse. Verbindlich ist der Wille des aktuellen Gesetzgebers. Er, und nicht sein Vorläufer, bestimmt, was geltendes Recht ist und was nicht. Wenn er dabei einzelne Normen „umfunktioniert“, liegt das in seinem legitimen Ermessen. Er kann eine völlige Verschiebung der Bedeutungsinhalte vornehmen, wenn dies nach seiner Meinung erforderlich ist. Dies ist dann keine „Verfälschung“ einer alten „Urform“, sondern eben seine vorrangige Aufgabe. Er hat das geltende Recht stets den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen, um diese in die gewünschten Bahnen zu lenken. Die Funktion der einzelnen Bestimmungen in Relation zu den übrigen aktuellen Normen ist deshalb das, worauf es ankommt. Die Struktur der Rechtskorpora in ihrer „letzten Fassung“ ist entscheidend. Wenn daher in einem Textzusammenhang apodiktisches Recht auftaucht, ist nicht bedeutsam, was es früher einmal bedeutet hat, sondern was es heute, nach Meinung des „Gesetzgebers“ bedeuten soll. Für den Dekalog kommt es also auf die
7
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 79.
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1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Verhältnisse zur Zeit seiner Abfassung in „spät vorexilischer Zeit“ an. Dies hat Fr. Crüsemann in seiner Schrift überzeugend dargelegt. Mit diesen Fragen beschäftigt sich auch das nächste Kapitel (IV.2.), in dem ebenfalls Fr. Crüsemann mit seinem Buch „Die Tora“ zu Wort kommt. Es geht dabei um die Entwicklung von Recht bis hin zu seiner Endgestalt im biblischen Kontext.
2.
Fr. Crüsemann: „Die Tora“
Die Frage nach dem apodiktischen Recht begrenzt sich nicht auf die Suche nach seiner Herkunft. Viel wichtiger ist die Frage, welches weitere „Schicksal“ dieses Recht genommen hat. Wir hatten gesehen, dass es in seinen vielen Vorformen dem noch nicht jahwegebundenen „Sippenethos“ einer „segmentären, akephalen“ Gesellschaft zuzurechnen ist (E. Gerstenberger, G. Fohrer). Dort verblieb es aber nicht. Es ist bis heute im biblischen Kontext in schriftlich fixierter Form erhalten und hat einen bestimmten Bezug zu den übrigen Rechtsnormen. Diese Entwicklung und die des Rechts insgesamt wird von Fr. Crüsemann in seinem Buch „Die Tora – Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes“ aus dem Jahre 2005 nachgezeichnet.8 Dabei gilt der erste Hinweis der Gestalt des „Mose“, auf den sich alles Recht bezieht. Die Tora JHWH’s kann man deshalb auch als „Tora des Mose“ bezeichnen, was im Alten Testament auch mehrfach erfolgt (2 Chr 23,18; Jos 8,31; 23,6 u. a.). Die Frage, wer historisch hinter dieser Figur steht, führte dann aber über die historisch-kritische Forschung zu einem ständigen Schrumpfen dieses „Gesetzgebers“. Aus einem „Riesen“ wurde ein „kaum mehr erkennbarer Zwerg“,9 dem M. Noth abschließend dann nur noch ein „unbekanntes Grab“ zubilligen wollte. Dieser Weg müsse aber, so Fr. Crüsemann, jetzt wieder umgekehrt gegangen werden. Die Frage laute: „Wie konnte aus diesem historischen ‚Zwerg“ der ‚Riese‘ des Alten Testaments werden?“ Warum wurde nach und nach alles Recht diesem Mose zugeschrieben und welche Personen und Institutionen beriefen sich auf dessen Autorität?10 Hierauf wird auch von F. W. Golka
8 9 10
Fr. Crüsemann, Tora, 76. Ebd., 76. Ebd., 77.
IV. Heutiger Forschungsstand
49
in seinem Mose-Buch11 besonders hingewiesen: „Welche Gruppen oder Institutionen in der Geschichte Israels bzw. des Judentums haben ein Interesse daran gehabt, sich in der Moseüberlieferung zu verankern, sich quasi in diese Überlieferung ‚hineinzuschreiben‘?“12 F. W. Golka verweist dabei auf J. Assmann und dessen Buch „Moses der Ägypter – Entzifferung einer Gedächtnisspur.“13 Hierin wird die „Wirkungsgeschichte“ der Gestalt des Mose, durch die Geschichte Israels hindurch, aufgezeichnet. Diese verlief genau umgekehrt wie diejenige von Pharao Echnaton, dessen historische Präsenz bestens belegt ist, dessen versuchte Religionsreform aber ohne jedes Resultat blieb.14 Mose dagegen wurde vom kleinen Leiter einer nicht mehr genau bekannten Filiale (vielleicht Ex 1–19) zum Chef des gesamten Konzerns. Die biblische Wirkungsgeschichte („Gedächtnisspur“) des Mose ist nach F. W. Golka entscheidend und bedarf einer näheren Untersuchung. Parallel dazu verlief dann der Wandel des Rechts, seiner Begründung und seiner Trägerschaften. a) Für die Rechtsentwicklung in Israel ist nach Fr. Crüsemann wichtig, dass es für die vorstaatliche Zeit keine Amphiktyonie, keine „hebräische Rechtsgemeinde“, kein „Recht im Tor“15 und keine „Richter“ gab. Alle Berichte hierüber sind spätere Texte und Rückprojektionen.16 Sie widersprechen auch, wie bereits erörtert, den archäologischen Befunden. Es gibt keine direkten Quellen für das vorstaatliche Recht Israels. Fr. Crüsemann entnimmt den biblischen Texten, die er für relevant hält, vielmehr ein anderes „Rechtssystem“. Die Erzählungen von Gen 31 (Jakob – Laban), Gen 34 (Dina), Ri 17 (Michas Heiligtum), Ri 19 (Schandtat von Gibea) und 2 Sam 14 (Frau aus Tekoa) ergeben Abweichendes. Es gelten die Begriffe „Selbsthilfe und Verhandlung“.17 Hierbei gibt es immer eine direkte Konfrontation der Beteiligten. Jeder sammelt seine Anhänger und es kommt zu Verhandlungen und Disputen, und zwar ohne Mittler. Crüsemann kommt zu folgendem Ergebnis: „Im vorstaatlichen Israel werden Rechtsfälle, soweit sie nicht in die Zuständigkeit eines einzelnen pater familias fallen, nicht durch vermittelnde Instanzen irgendwelcher Art gelöst, sondern allein durch direkte 11 12 13 14 15
16 17
F. W. Golka, Mose. Ebd., 180. 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2004. F. W. Golka, Mose, 180. Rut 4 mit der angeblichen „Sitzung eines Ältestengerichts“ ist ein späterer Text, der keine Beweiskraft hat. Die zehn Männer sind zudem auch keine Richter, sondern nur Zeugen. Fr. Crüsemann, Tora, 80. Ebd., 91.
50
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Verhandlungen zwischen den beteiligten Parteien.“18 Es entscheidet also keine „Rechtsgemeinde im Tor“. Es erfolgt vielmehr eine rein faktische Konfliktlösung, wie immer sie auch aussehen mag. Hinter allen diesen Konfliktlösungen steht der Gedanke eines Verstoßes gegen allgemein gültige Normen. Diese liegen aber nicht schriftlich vor. Es gibt auch keine dahinter stehende, göttliche Autorität. Die Normen sind vielmehr Selbstverständlichkeiten. Fr. Crüsemann spricht hier von „Normevidenz statt Gottesrecht.“19 Nichtzentralisierte Gesellschaften haben zwar Normen. Diese sind aber flexibel, nicht fixiert und „selbstevident“. Sie stehen nicht unter der Autorität Gottes. Dies entspricht auch der Auffassung E. Gerstenbergers vom Entstehen des apodiktischen Rechts. b) Erst in staatlicher Zeit, im Königtum, gab es dann Gerichte, das „Ältestengericht im Tor“. Dies war ein Instrumentarium des königlichen Rechtssystems. Es gab daher keine „Konkurrenz“ dieses Gerichts mit königlichen Rechtsentscheidungen.20 Dies wird von Fr. Crüsemann mit vielen Textstellen belegt. Erst jetzt entsteht die „hebräische Rechtsgemeinde“. Eine weitere „mosaische Instanz“ ist in diesem Zusammenhang wichtig. In Ex 18 werden „tüchtige Männer“ für kleinere Verfahren eingesetzt. Die schwierigen, grundsätzlichen Fragen werden aber Mose belassen. Dieser Text, zusammen mit 2 Chr 19,5ff und Dtn 17, bezieht sich auf das Jerusalemer Obergericht von König Joschafat. Dieses führt also seine Autorität direkt auf Mose zurück.21 Fr. Crüsemann formuliert: „Der Schluß, den man daraus ziehen muß, ist völlig eindeutig: Die Entscheidungen des Gerichts haben dieselbe Bedeutung und denselben Rang wie die Rede des Mose und damit wie das Deuteronomium selbst.“22 Auch das spätere „Synhedrion“ und sein Vorgänger, die „Gerusia“, beziehen ihre Kompetenz von Mose her.23 Mose ist insgesamt die überragende Autorität. Er „steht für den Rechtswillen Gottes“ und ist so letztlich der „Grund der Freiheit“, die Adonai dem Volk Israel zugesprochen hat.24
18 19 20 21 22 23 24
Fr. Crüsemann, Tora, 93. Ebd., 94. Ebd., 98. Ebd. 113. Ebd., 120. Ebd., 130. Ebd., 131.
IV. Heutiger Forschungsstand
51
c) In diesen großen Rahmen gehört dann die Frage, welches Recht übernommen, schriftlich fixiert und über die Autorität des Mose als allumfassendes Gottesrecht verstanden wurde. Wie verhält es sich dabei mit dem apodiktischen Recht? Welche Stellung und Funktion hat es in Bezug auf die übrigen Rechtsnormen? Fr. Crüsemann25 erörtert dies im Zusammenhang mit seiner Diskussion über den von E. Otto eingeführten Begriff der „Ausdifferenzierung“.26 Es geht dabei um die Frage, ob sich durch die Übernahme apodiktischen Rechts und dessen „Theologisierung“, nämlich Erklärung zum Gottesrecht, so etwas wie ein Ethos aus dem Recht „ausdifferenziert“ habe. Sind die Sozialgebote und alles das, was A. Alt „apodiktisches Recht“ genannt hat, noch „Recht“ im eigentlichen Sinne oder muss man sie jetzt als „Ethos“ mit nur noch paränetischem Charakter betrachten? E. Otto soll im nächsten Kapitel noch näher vorgestellt werden. Fr. Crüsemann selbst befasst sich mit diesem Thema in seinem Kapitel „Recht oder Ethik? – Zum Rechtscharakter der Sozialgebote.“27 Er vertritt die Auffassung, dass die Sozialgebote im Bundesbuch, die den Schutz der Fremden, Armen und Ausgebeuteten, der Witwen und Waisen beinhalten, durchaus zum Recht im weiteren Sinne zu zählen seien. Sie seien zwar, anders als die Mischpatim, ohne Sanktionsandrohung, trotzdem aber nicht zum reinen unverbindlichen „Ethos“ geworden. Sie seien das, was von der „älteren Forschung“ als apodiktisches Recht bezeichnet wurde. Ihre Übernahme in einen Rechtskorpus und ihre Vermischung mit positivem, kasuistischem Recht habe eine bestimmte Funktion. Sie seien Richtschnur und Korrektiv für die Anwendung und Auslegung der übrigen Normen. Durch sie solle die angemessene, gottgewollte Durchführung der gesamten Rechtsordnung, einschließlich seiner sozialen Aspekte, sichergestellt werden. Sie blieben deshalb verbindliches „Recht“. Die Gebote, also das alte apodiktische Recht, könne man als „Optimierungsangebote“28 für das übrige Recht bezeichnen. Sie verpflichteten die Gerichte und den Gesetzgeber zur Beachtung von grundsätzlichen Wertentscheidungen über ein gerechtes Zusammenleben der Menschen innerhalb des israelitischen Volkes. Fr. Crüsemann sieht ihre Stellung wie die von mo-
25 26 27 28
Fr. Crüsemann, Tora, 224. E. Otto, Sozial- und rechtshistorische Aspekte, 94. Fr. Crüsemann, Tora, 224. Ebd., 227.
52
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
dernen Grundrechtsbestimmungen oder Menschenrechtsnormen. Sie stehen über dem positiven Recht. Sie sind „Metanorm und kritische Instanz.“ Und das gesamte Recht war jetzt gottgebunden und führte sich auf Mose zurück. Alles unterstand seiner alleinigen Autorität. Diese Auffassung verdient m. E. volle Zustimmung. Aus dem apodiktischen Recht wurde „Verfassungsrecht“. Das ursprünglich situationsgebundene Spezialrecht aus dem Bereich der vorstaatlichen Gesellschaften avancierte zum alles dominierenden und korrigierenden „Überbau“ der Rechtsordnung. Seine Übernahme in die verschiedenen Rechtskorpora des Alten Testaments verfolgt genau diesen Zweck. Fr. Crüsemann ist, soweit ersichtlich, der erste Autor, der diesen Gedanken präziser formuliert. „… die Frage nach der … juristischen Funktion solcher Formulierungen und ihrer Funktion in einem gemischten Korpus wie dem Bundesbuch wurde … nie präzise gestellt.“29 Wieweit man moderne Begriffe wie „Menschenrechte“, „Grundrechte“ oder „Verfassungsnormen“ auf das Alte Testament übertragen kann, müsste allerdings näher überprüft werden. Der Grundgedanke eines bestimmten Verhältnisses zwischen Prinzipien und den von hier aus zu kontrollierenden konkreten Regeln ist aber der gleiche. In diesem Sinne hat das apodiktische Recht nicht nur überlebt und einen wichtigen Platz im Alten Testament erhalten, sondern ihm wurde eine ganz spezielle, neue Aufgabe zugewiesen. Es war jetzt „Metanorm und kritische Instanz“, also das, was wir heute als „Verfassung“ bezeichnen würden.
3.
E. Otto: „Ausdifferenzierung“
In direkter Ergänzung zu Crüsemann müssen die Auffassungen von E. Otto zu diesem Thema herangezogen werden. In seiner „Rechtsgeschichte des Bundesbuchs“ 30 hat er sich näher mit den von ihm so bezeichneten „Ausdifferenzierungen“ verschiedener Funktionen des Rechts beschäftigt. Er führt hierzu folgendes aus: Das kasuistische Recht war zu Beginn ein reiner Konfliktslösungsmechanismus zwischen Familien in einer segmentären Gesellschaft. Gemeinschafts-
29 30
Fr. Crüsemann, Tora, 244. E. Otto, Wandel, 61.
IV. Heutiger Forschungsstand
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zerstörende Gewalt bei der Durchsetzung eigener Positionen sollte vermieden werden durch eine friedliche Konfliktregelung. Dieses Recht kannte noch keine Sanktionsbestimmungen i. S. einer Straffolge. Es waren Lösungsvorschläge, die von den Parteien angenommen werden konnten, aber nicht mussten. Es gab noch keine „übergentale Gewalt“, die die Sanktionen hätte durchsetzen können. In der Überlieferungsgeschichte des kasuistischen Rechts im Bundesbuch zeigt sich dann aber eine Aussonderung von Sanktionen, die dieses Vakuum ausfüllen,31 z. B. das „Duplum“ im Depositenrecht (Ex 22, 6.7) oder im Körperverletzungsrecht (Ex 21,18–32), wo der Kernüberlieferung eines reinen Ersatzleistungsrechts (Ex 21,18f. u. 22) ein Sanktionsrecht, einschließlich einer Todessanktion, hinzugefügt wird (Ex 21,23 u. 29). „Die zivilrechtliche Funktion der Konfliktregelung wird also auf breiter Basis um die strafrechtliche Sanktionsfunktion erweitert.“ E. Otto liefert noch andere Beispiele,32 um dann auf eine weitere „Ausdifferenzierung“ hinzuweisen, nämlich die Ausbildung eines sozialen Schutzrechts der Schwachen in der Gesellschaft. Hier wird ein neuer Aspekt sichtbar. Aus der „horizontalen“ Konfliktregelung zwischen im Grundsatz gleichberechtigten Familien wird eine „vertikale“ Konfliktregelung zwischen Reichen und Armen, z. B. Ex 22,24–27. Dies erfolgt über eine lokale Gerichtsorganisation, die diese Funktionen durchsetzen kann und nicht mehr wie vorher auf nur freiwillige Übernahme von Konfliktregelungsvorschlägen angewiesen ist. Jetzt spricht eine übergentale Autorität „von oben“, also „vertikal“. Für das apodiktische Recht gilt diese Entwicklung ebenfalls. Dieses ist ursprünglich „als Todesrecht und Grenzrecht der Familie reines Sanktionsrecht.“33 Dieses wandert dann aber in staatlicher Zeit aus und wird an ein Rechtsverfahren der lokalen Gerichtsinstitutionen gebunden. Das Tötungsverbot von Ex 21,12 wird durch Ex 21,13f. ergänzt, was ein Verfahren zur Feststellung der Alternativen voraussetzt. Die Durchsetzung des apodiktischen Rechts liegt also nicht mehr in der Sippe, Autorität ist nicht mehr der pater familias, sondern ein staatliches Gericht, das die Gemeinschaft aller repräsentiert. Damit sind jetzt die verschiedenen Rechte, das kasuistische und das apodiktische, am Ortsgericht vereint.34
31 32 33 34
E. Otto, Wandel, 61. Ebd., 62. Ebd., 63. Ebd., 65.
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1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Der Grund hierfür ist die zunehmende Komplexität der Gesellschaft, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht. Die vielen neuen Probleme können durch das alte intergentale apodiktische und intergentale kasuistische Recht nicht mehr ausreichend gelöst werden. Gleichzeitig wird eine zunehmende Systematisierung und Rationalisierung erforderlich.35 Die weitere Rechtsentwicklung zeigt dann nach Otto eine zunehmende „Theologisierung“ des Rechts.36 Die früheren Rechtsbegründungen tragen nicht mehr. Die Solidarität innerhalb der Familie und innerhalb der Gesellschaft wird zunehmend brüchiger. An diesen „Bruchlinien israelitischer Gesellschaft“ setzt die Theologisierung ein. Wo die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, kann an eine soziale Solidarität allein nicht mehr ausreichend appelliert werden. Der Rückbezug auf Adonai wird erforderlich, wie dies insbesondere auch im Dekalog sichtbar wird.37 JHWH wird der neue, allumfassende Begründungszusammenhang. E. Otto weist darauf hin, dass also nicht eine Profanisierung des Rechts aus sakralen Ursprüngen stattgefunden hat, sondern dass umgekehrt ursprünglich profane Rechtssysteme (intergentale Konfliktregelung und Sippenethos) nach und nach „theologisiert“ wurden, um die schweren Probleme einer auseinanderbrechenden Gesellschaft zu lösen. Nur JHWH kann jetzt noch als tragender Grund der Rechtsordnung gelten, nicht mehr die Solidarität der Gesellschaft, da diese nicht mehr solidarisch ist. Das apodiktische Recht ist deshalb aus ursprünglich profanem Ursprung nachträglich theologisiert worden, um seine Geltung zu erhalten. Der Vorgang der „Ausdifferenzierung“ führt E. Otto dann zu weiteren Überlegungen, auf die Fr. Crüsemann näher eingegangen ist. Es geht um die Frage eines „altisraelitischen Ethos“. E. Otto hat hierzu eine eigene Untersuchung vorgelegt.38 Er unterscheidet zwischen Rechtsnormen, die justitiabel sind, also Rechtsfolgen enthalten, und solchen, die keine Sanktionsregelungen haben und damit nicht unmittelbar durchsetzbar sind. Hier sei nur ein „paränetischer Appell“ möglich. Damit sind diejenigen Normen gemeint, die das apodiktische Recht ausmachen. Diese enthalten keine unmittelbaren Sanktionen. Auch der Fluch aus der אָרוּר-Reihe ist nur eine formelhafte
35 36 37 38
E. Otto, Wandel, 66. Ebd., 69. Vgl. Fr. Crüsemann im Kapitel über den Dekalog (s. IV.1.). E. Otto, Sozial- und rechtshistorische Aspekte.
IV. Heutiger Forschungsstand
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Grundsatzerklärung. Dies ist also kein kasuistisches Recht, sondern gehört zum ursprünglichen apodiktischen Recht. Diese Normen bilden nach E. Otto das „Ethos“ neben dem eigentlichen Recht. Das Ethos ist eine „Ausdifferenzierung“ grundsätzlicher Normen aus dem apodiktischen Recht. Sie sind nicht erzwingbar. Für sie ist daher die „Theologisierung“ besonders wichtig, weil die sozial zerrissene Gesellschaft selbst sie nicht mehr tragen kann (s. o. S. 64). Nur der Rückbezug auf JHWH ermöglicht jetzt ihre Durchsetzung. Diese Auffassung ist, wie Fr. Crüsemann zu Recht gezeigt hat, m. E. nicht zutreffend. Die fraglichen Normen, also das apodiktische Recht, sind nicht „unverbindlich“, auch wenn ihnen die unmittelbare Durchsetzbarkeit fehlt. Sie sind vielmehr Richtlinien für die Anwendung und Auslegung der übrigen Normen. Sie stellen ein soziales Korrektiv dar, das die gleiche Funktion hat wie eine Verfassung in einem modernen Rechtsstaat. Sie haben also „Verfassungsrang“ und sind damit ebenfalls „Recht“ im unmittelbaren Sinne. „Verfassungsrecht“ ist fester Bestandteil jeder „Rechtsordnung“. Das apodiktische Recht ist deshalb nicht nur reines Ethos, wie E. Otto meint, sondern direkt wirksames Recht, und zwar in Form von „Verfassungsrecht“.
4.
B. S. Jackson: „Semiotik“
Ein weiterer interessanter Versuch zur Analyse des biblischen Rechts wurde vor wenigen Jahren von B. S. Jackson vorgelegt.39 Er versucht, aus dem sprachlichen Kontext heraus die Entwicklung des Rechts aus der mündlichen Tradition bis hin zur Verschriftlichung zu ermitteln. Er beschäftigt sich mit der grundsätzlichen Frage, wie „Recht“ entsteht und welche Bedeutung die schriftliche Fixierung von Entscheidungen oder Rechtsauffassungen hat. Er bedient sich dabei der „semiotischen Methode“, die sich aus verschiedenen Fachrichtungen entwickelt hat: Phänomenologie, Ethnologie, Soziologie und Anthropologie. B. S. Jackson geht davon aus, dass in den heutigen Texten noch „frühere Erkenntnismuster der mündlichen Überlieferung durchschimmern“ und dass die vorliegenden Texte die rechtlichen Gedankenmuster wiedergeben, die vorher entwickelt worden waren. Auf diese Weise könne man auch den historischen Ursprung dieses Rechts ermitteln. 39
B. S. Jackson, Studies, zitiert in Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 153.
56
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Es komme deshalb auf den narrativen Kontext an, in dem die jeweilige Norm stehe. Recht entwickele sich aus einer bestimmten Situation heraus, bedürfe außerdem aber noch eines besonderen „speech act“, um Rechtssatz zu werden. In 1 Sam 30 wird z. B. die Beuteverteilungsregelung erst durch die nachträgliche Anordnung Davids zu einem festen dauernden Rechtssatz. B. S. Jackson übernimmt, wie eigentlich alle Forscher, die grundsätzliche Einteilung A. Alts in apodiktisches und kasuistisches Recht als Gattungen, sieht aber den „Sitz im Leben“ anders. Für ihn ist jedes Recht aus mündlich überlieferten „wisdom laws“ entstanden, die nach und nach zu Rechtssätzen und dann schließlich verschriftlicht wurden, dabei als erstes das älteste Rechtskorpus, das Bundesbuch. Das apodiktische Recht ist dann auch für ihn im Bereich der Familie beheimatet („domestic setting“), so wie es E. Gerstenberger40 bereits herausgearbeitet hat. Eine gewisse Nähe zu J. Assmanns „Gedächtnisspur“ ist nicht zu bestreiten.41 B. S. Jackson versucht die Trägerkreise der Rechtsüberlieferungen zu ermitteln und deren Interesse an einer Ausgestaltung dieser Überlieferungen darzustellen. So wie das Jerusalemer Obergericht seine eigene Legitimation auf Mose zurückführte und an einer entsprechenden Ausgestaltung der Traditionen interessiert sein musste, z. B. Ex 18, so galt dies auch für viele andere Gruppierungen und Einrichtungen.42 Bei J. Assmann geht es allerdings speziell um Mose und dessen Einbindung in die biblischen Kontexte. B. S. Jackson will die Überlieferung und Entstehung von Rechtsformen durch die verschiedenen Trägerkreise darstellen und hat somit eine andere Aufgabe. Vom Ansatz her besteht aber eine tendenzielle Ähnlichkeit der Denkweisen. Wer nun erwarten würde, dass mit diesem speziellen Ansatz neue konkretere Ergebnisse zu erzielen wären, wird enttäuscht. B. S. Jackson findet seine Thesen in den von ihm behandelten Beispielsfällen (Num 27,1–11: Zelofhads Töchter; Num 36,1–9: Erbrecht; Lev 24,10–23: Beuteregelung) zwar bestätigt; neuere Erkenntnisse zur Herkunft des Rechts können aber auch damit nicht erreicht werden. Die Herkunft des apodiktischen Rechts aus dem Sippenethos (E. Gerstenberger), seine „Auswanderung“ an eine Gerichtsorganisation verbunden mit einer zunehmenden Theologisierung (Fr. Crüsemann und E.
40 41 42
s. Kap. III.4. J. Assmann, Moses. Vgl. F. W. Golka, Mose, 64, 178.
IV. Heutiger Forschungsstand
57
Otto), um seine Durchsetzbarkeit zu erhalten, und seine Funktion als „Verfassung“ werden von B. S. Jackson also nicht in Frage gestellt.
5.
Eun-Ae Lee: „Grundnormen“
Die neueste Untersuchung zum Thema „Apodiktisches Recht“ ist die Dissertation von Eun-Ae Lee von 2003.43 Die Autorin berichtet ausführlich über die Ergebnisse von A. Alt und die weitere Forschung hierzu, u. a. auch über die „semiotische“ Methode von B. S. Jackson, der im vorigen Kapitel vorgestellt wurde (s. IV.4). Für ihre eigenen Untersuchungen übernimmt sie dann, wie alle ihre Vorgänger auch, die grundsätzliche Einteilung A. Alts in apodiktisches und kasuistisches Recht. Wir können also auch hier feststellen, dass sich an diesem großen Wurf bis heute nichts geändert hat und diese Unterscheidung allseits akzeptiert wird. Ich vermute, dass sich hieran auch nichts ändern wird, völlig unabhängig davon, wo man die Herkunft des apodiktischen Rechts und seine Stellung innerhalb der verschiedenen Rechtskorpora ansiedeln will. Ob sich der Begriff „Verfassungsrecht“ für das apodiktische Recht durchsetzen wird (vgl. Fr. Crüsemann), ist eine andere Frage. Auch für die Darstellung der in der nachfolgenden Forschung durchgeführten Detailuntersuchungen folgt sie A. Alt. Sie übernimmt dessen „Grobeinteilung“ in die vier Gruppen bzw. Fundstellen, nämlich in die מוֹת יוּמַתSätze, die Dekaloge, die Prohibitiv-Reihe von Lev 18 und die אָרוּר-Reihe. Im Rahmen dieses Schemas stellt sie dann die verschiedenen Diskussionen um das apodiktische Recht und dessen Einordnung in die Gesamtzusammenhänge dar, wobei ihr besonderes Interesse den sprachlichen Problemen gilt. Diese standen ja auch am Beginn der kritischen Untersuchungen nach A. Alt. Es ging um den genauen sprachlichen Aufbau der kasuistischen Rechtssätze („lex Rössler“)44 und dann insbesondere dem der apodiktischen Sätze. Die Zahl der z. T. extrem detaillierten sprachlichen Abhandlungen mit endlosen Diskussionen über hebräische Sprachformen ist fast unübersehbar und auch, wenn man ehrlich sein will, sehr ermüdend. Dies gilt insbesondere dann, wenn man die mehr inhaltlichen und historischen Arbeiten von F. Gerstenberger, E. Otto oder Fr. Crüsemann dagegenhält. Diese bringen außerdem
43 44
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte. G. Liedke, Gestalt, 35.
58
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
auch noch die wesentlich interessanteren Ergebnisse, weil sie sich nicht mehr allein auf die Frage der Herkunft fixieren, sondern die heutige Bedeutung erörtern. Den Einordnungen und Beurteilungen von Eun-Ae Lee45 kann man im Wesentlichen zustimmen. Sie stellt in ihrer Zusammenfassung korrekt fest, dass die apodiktischen Rechtssätze immer in Rechtssammlungen auftreten und deshalb in einem bestimmten Kontext zu diesen Normen stehen. Ihre Funktion innerhalb des jeweiligen Rechtsbuches (BB, Dtn, HG) ist also das Entscheidende. „Diese Funktion drückt die Intention der Redaktoren der alttestamentlichen Rechtssammlungen aus, die ganze Rechtssammlung Gott zu unterstellen und sie so zu sichern, weil die apodiktischen Rechte in ihren einfachen und wuchtigen Ausdrucksformen als das die höchste Autorität Gottes voraussetzende Gesetz angesehen wurden.“46 Zur Klarstellung muss hierbei aber gesagt werden, dass die Autorin diesen Aspekt erst für die jeweiligen Endfassungen der Rechtssammlungen ansetzt. Die ursprüngliche Herkunft des apodiktischen Rechts sieht sie, wie die Mehrzahl der Forscher nach E. Gerstenberger, in einer frühen, noch nicht schriftlichen Sippengesellschaft mit dem pater familias als verbindlicher Autorität. Erst anschließend sei diese Autorität über das Gericht zu Gott transponiert worden.47 Diese besondere Stellung des apodiktischen Rechts ist nach Eun-Ae Lee bei den Endredaktionen, die bei den Rechtskorpora unterschiedlich anzusetzen sind, bewusst eingesetzt worden, um der Sammlung einen sakralen Rahmen zu geben. Diese Rahmung kann in allen drei Rechtsbüchern festgestellt werden. Apodiktische Formulierungen fassen das kasuistische Recht ein und bilden auf diese Weise die Richtschnur oder Zusammenfassung der jeweiligen Sammlung. Sie haben, modern gesprochen, Verfassungsrang und deshalb eine herausgehobene Stellung, die durch die besondere Formulierung noch hervorgehoben wird. a)
45 46 47 48
Bundesbuch48 21,12–17 mot-jumat-Reihe im profanen Bereich 21,18–22,16 Rechtsbestimmungen in kasuistischer Formulierung 22,17–19 Todesrechtsreihe im sakralen Bereich,
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 171–181. Ebd., 171. Ebd., 176. Ebd., 173.
IV. Heutiger Forschungsstand
59
die aus Prohibitiv (V. 17), mot-jumat-Satz (V. 18) und Injunktiv (V. 19) besteht. b)
Deuteronomium49 Dtn 5 Dekalog in Prohibitiv- und Injunktivform Dtn 12–26 Das deuteronomische Gesetz Dtn 27 Fluchreihe in ’arur-Form
c)
Heiligkeitsgesetz50 Lev 18 Reihe gegen Sexualverbrechen in Prohibitivform Lev 19 soziale / kultische Rechtsbestimmungen, die aus dem Bundesbuch und dem deuteronomischen Gesetz zitiert werden und nach der dekalogischen Struktur angeordnet sind. Lev 20 Reihe gegen Sexualverbrechen in mot-jumat-Form
Diese Rahmennormen sind die Grundnormen einer einfachen alten Gesellschaft und durch die apodiktische Form zu israelitischem Recht geworden. Sie „entwickeln sich weiter zum absoluten Recht, durch das alle Lebensbereiche dem Gott Jahwe unterstellt werden. In diesem Sinne sind die ‚apodiktischen‘ Rechtsformen ein Spezifikum Israels.“51 Dieser Auffassung dürfte zuzustimmen sein. Eun-Ae Lee setzt sich in ihrer Arbeit unverständlicherweise nicht mit Fr. Crüsemann und E. Otto auseinander, obwohl deren Untersuchungen schon lange vorlagen und unmittelbar zum Thema gehören. Beide Autoren werden nicht besprochen. Sie beschäftigt sich deshalb nicht mit der von E. Otto aufgeworfenen Frage, ob es sich bei dem apodiktischen Recht in seiner jetzigen Form um ein reines Ethos handelt oder ob es unmittelbar wirksames Recht mit Verfassungsrang geworden ist (Fr. Crüsemann). Sie kommt allerdings letztlich zum gleichen Ergebnis, dass nämlich das apodiktische Recht in seiner biblischen Endgestalt einen „Rahmen“ für das übrige, das kasuistische Recht darstellt und insofern so etwas wie eine Verfassung bildet.
49 50 51
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 173. Ebd., 174. Ebd., 181.
V. Zusammenfassung V. Zusammenfassung
1. Bei unserem Streifzug durch die Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts konnten wir feststellen, dass sich das Forschungsinteresse gewandelt hat. Während es früher in erster Linie um die Frage der Herkunft und der Entstehung der verschiedenen Rechtsgattungen ging, hat sich heute der Blick mehr auf die Stellung und Bedeutung des apodiktischen Rechts innerhalb der verschiedenen Rechtskorpora des Alten Testaments verlagert. Die ältere Forschung beschäftigte sich überwiegend, literarkritisch und gattungsgeschichtlich, mit der Einordnung dieses Rechts in die zurückliegende Rechtsentwicklung. Eine Herkunft aus dem „israelitischen Stammesrecht“, eine Anbindung an „amphiktyonisches Bundesrecht“ wurde postuliert und detailliert untersucht. Andererseits wurde eine Verbindung zum altorientalischen Recht, insbesondere zu den hethitischen Vasallenverträgen gesucht. Die sprachliche Gestaltung, im Unterschied zum kasuistischen Recht, wurde minutiös ermittelt, immer in der Hoffnung, hieraus Rückschlüsse auf die Herkunft dieser speziellen Rechtsform ziehen zu können. Herauskristallisiert hatte sich dann die insbesondere von Gerstenberger vorgetragene Überzeugung, dass das apodiktische Recht im sog. Sippenethos beheimatet ist und dort seinen Ursprung hat. Es war damit nicht mehr „volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch“, wie A. Alt es vorgeschlagen hatte, sondern entsprang der Sippenordnung einer „segmentären, akephalen Gesellschaft“. Die dahinter stehende Autorität war die selbstverständliche, von allen zu respektierende Grundordnung innerhalb einer Großfamilie, repräsentiert durch den „Patriarchen“ oder die Ältesten der Sippe. Diese Sippenordnung ist dann auch nicht ethnisch begrenzt und nicht typisch „israelitisch“. Überall dort, wo sich Stammesgesellschaften noch in vorstaatlichem Zuschnitt befinden, kann „apodiktisches Recht“ entstehen, unabhängig davon, ob es sich um „Israeliten“ oder andere Volksgruppen handelt. Wir finden derartige „archaische“ Rechtsformen in fast allen früheren Lebensordnungen. Die demgegenüber viel wichtigere Frage ist aber, was sich von diesen Rechtsformen erhalten hat und in spätere staatliche Gesellschaften über-
62
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
nommen worden ist, verbunden mit der Überlegung, welche Stellung diese Formen in der Gesamtrechtsordnung des jeweiligen Staates haben sollen. Es ist dann aber nicht mehr altes Sippenrecht, weil die Sippenordnungen zunehmend durch staatliche Institutionen zurückgedrängt werden. Es wird neues Recht, das sich durch seine Stellung innerhalb der jeweils geltenden Rechtsordnung neu definiert. Für einen Juristen sind derartige Überlegungen eigentlich selbstverständlich. Ihn interessiert immer nur die „Endfassung“ eines Gesetzes, und zwar in der Form, in der es im Bundesgesetzblatt oder im Reichsgesetzblatt verbindlich veröffentlich worden ist. Der Wille des letztmalig tätigen Gesetzgebers ist für ihn entscheidend. Vorangehende Fassungen sind nicht mehr maßgeblich, weil sie – wegen der Neufassung – eben gerade nicht mehr gelten sollen. Sonst hätte der Gesetzgeber sie nicht geändert. Es ist insofern eine klare Regelung. Kein Richter oder Verwaltungsjurist käme heute auf die Idee, für die Entscheidung eines ihm vorgelegten Falles hinter die Endfassung des anzuwendenden Gesetzes zurückzugehen und nachzuprüfen, welche Grundsätze und Auffassungen eventuell der frühere Gesetzgeber vertreten hat. Es gilt immer die vorliegende Endfassung. Alte Rechtsgrundsätze, die sich im neuen Gesetz widerspiegeln, interessieren nur den Rechtshistoriker. Rechtsentwicklungen und frühere Rechtsauffassungen können natürlich für ein Verfassungsgericht von Bedeutung sein, wenn es um die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen geht. Hier sind die großen Entwicklungslinien insbesondere von Grundrechts- oder Verfassungsnormen von Wichtigkeit und können herangezogen werden. Dies ist aber ein Sonderfall und berührt nicht die Gültigkeit eines korrekt erlassenen Gesetzes. Dieses gilt so, wie es im Gesetzblatt steht. Ein weiterer Sonderfall kann die Neufassung von Gesetzen sein. Wenn der Gesetzgeber, heute das Parlament, aufgrund veränderter Umstände neue gesetzliche Regelungen erlassen will oder muss, dann wird er die vorangegangene Rechtsentwicklung der jeweiligen Gesetzesmaterie im Auge haben und bedenken, ob es langfristige, bedenkenswerte Grundsätze gibt, die sich in früheren Gesetzesfassungen wiederfinden. Diese kann er berücksichtigen, muss es aber nicht. Bei diesen Maßnahmen geht es aber nicht um die Frage der Auslegung bestehender Gesetze, sondern um den Erlass neuer Gesetze. Solange diese nicht vorliegen, gilt verbindlich die alte Regelung, ohne Rücksicht auf Herkommen oder alte historische Grundsätze.
V. Zusammenfassung
63
Dies lässt sich sehr gut an einem Beispiel aus dem heutigen Bürgerlichen Recht, dem Zivilrecht, demonstrieren. Im heute geltenden Erbrecht, so wie es im Fünften Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) festgeschrieben ist, gibt es verschiedene erbrechtliche Grundsätze, die in den §§ 1922ff. BGB zum Tragen kommen und miteinander in Einklang gebracht werden müssen. So stehen z. B. das sog. Familienerbrecht und die sog. Testierfreiheit in Konkurrenz zueinander. Die „Testierfreiheit“ berechtigt den Erblasser zur beliebigen testamentarischen Verfügung über seinen Nachlass; das „Familienerbrecht“ bedeutet demgegenüber, dass der Nachlass grundsätzlich auf die Familie übergeht, wenn keine abweichende gesetzliche oder testamentarische Verfügung vorliegt.1 Im deutschen Erbrecht ist das Verhältnis beider Grundsätze so geregelt, dass der Erblasser zwar grundsätzlich zum Erben einsetzen kann, wen er will, dass aber die Angehörigen (Kinder und Ehegatten) durch die Pflichtteilsregelung immer mit der Hälfte ihres gesetzlichen Erbteils am Nachlass beteiligt bleiben. Das kann der Erblasser nicht ausschließen. Er bleibt also im Endergebnis nur zur Hälfte Herr seines Nachlasses; die andere Hälfte geht, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, grundsätzlich an die Familie. Wir haben hier einen Kompromiss zwischen zwei widerstreitenden Rechtsprinzipien vor uns, der dem Willen des aktuellen Gesetzgebers entspricht. Wer nun wissen möchte, ob es früher anders war und woher diese Prinzipien kommen, kann dies in der juristischen, insbesondere rechtshistorischen Literatur nachlesen und wird dann erfahren, dass die Testierfreiheit aus dem römischen Recht, das Familienerbrecht mehr aus dem germanischen Rechtskreis stammt. Die Freiheit des Erblassers entspricht dem rationalen, individuellen Eigentumsbegriff des alten römischen Rechts, die Bindung an die Familie geht auf germanische Volks- und Sippenvorstellungen zurück. Der Eigentümer ist zwar „freier Bauer auf freier Scholle“, aber nur so lange er lebt. Seine Freiheit reicht nicht über den Tod hinaus. Er kann insbesondere seinen Hof nicht an „Fremde“ vermachen. Er ist dem Grunde nach nur „Treuhänder“ seines Hofes und hat seinen Besitz so an seine Söhne weiterzugeben, wie er ihn seinerseits von seinem Vater erhalten hat. Diese Erkenntnisse haben nun aber, so interessant sie auch sein mögen, keine Auswirkungen auf das heute geltende deutsche Erbrecht. Dieses gilt so, wie der Gesetzgeber es in seiner letzten Fassung verabschiedet hat. Bei einer 1
Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 58. Aufl. 1999, Einl. V. § 1922 BGB, Rn. 3.
64
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Auslegung dieses Gesetzes in streitigen Einzelfragen werden deshalb nicht „römische“ gegen „germanische“ Grundsätze abgewogen, sondern es gilt ausschließlich zu ermitteln, wie der zuletzt tätige und damit zuständige Gesetzgeber sich das Verhältnis von Testierfreiheit und Familienerbrecht gedacht hat. Dies lässt sich dann nur aus der Stellung der jetzt geltenden Bestimmungen zueinander feststellen. Ein einzelner Grundsatz kann herkommen, wo er will; in dem Augenblick, wo er in einer geltenden Rechtsnorm zum Tragen kommt, ist er „deutsches“ Recht und wird nur in Beziehung zu anderem deutschen Recht gesehen. 2. Das Gleiche gilt entsprechend für das apodiktische Recht des Alten Testaments. Auch hier sind Herkunft, Entwicklung und frühere Bedeutung nicht so wichtig wie Geltung und Stellung in den abschließenden Rechtskorpora. Entscheidend ist die letzte Fassung und deren Komposition. Haben die Normen eine besondere Funktion innerhalb dieser Sammlungen? Haben sie den gleichen Rang wie die übrigen Vorschriften oder sind sie vielmehr als grundsätzliche, verfassungsähnliche Normen zu betrachten?2 Diesem gilt es näher nachzuspüren. Das Aufzeigen der Herkunft und der Entwicklungslinien ist natürlich für das Verständnis dieser Rechtsformen hilfreich, nicht aber für die Einordnung und Bestimmung ihrer Geltung innerhalb der Endfassung der jeweiligen Texte. Hinzu kommt, dass die Suche nach einem Ursprung in der Forschung oft von illusionären religiösen oder ideologischen Vorstellungen begleitet war, die in die Irre führen mussten. Wer fundamentalistisch glaubte, das apodiktische Recht könne ihn in eine israelitische Vorzeit, direkt an den Sinai führen, wo er dann unmittelbarer als in späterer Zeit Gottes Wort lauschen könne, war ebenso auf dem Holzweg wie derjenige, der, mit H. Gunkel, meinte, er könne hier einen Schatz, ein Produkt der reinen Volksseele heben, noch unbelastet von späteren Verfälschungen. Die Suche nach einem mündlichen oder schriftlichen „Original“ setzt nämlich voraus, dass es dieses auch gab. Und das ist bei Gesetzestexten problematisch. Dies mag bei erzählenden Texten anders sein. Hier wird ein früherer, ursprünglicherer Text näher an der historischen Wahrheit sein als ein späterer.
2
Die Frage eines alttestamentlichen Ethos war bereits im Zusammenhang mit E. Otto und Fr. Crüsemann erörtert worden.
V. Zusammenfassung
65
Hier kann man dann auch von „Verfälschungen“ sprechen. Bei Rechtssammlungen stellt sich dieses Problem aber nicht. Hier sind Änderungen und Ergänzungen keine „Fälschungen“, sondern „legale“ Neufassungen des jeweiligen „Gesetzgebers“, der neue Sachverhalte zu regeln hat. Die „Fälschung“ besteht dann im Alten Testament nur darin, dass die Neufassung auf Mose zurückprojeziert und dessen Autorität unterstellt wird. Die Behauptung, auch diese Neufassung gehe direkt auf Mose zurück, und die damit verbundene Ausnutzung von dessen Autorität für möglicherweise eigennützige Interessen einzelner Gruppen, z. B. der Priesterschaft oder des Königshauses3, ist dann das eigentliche Problem. Die grundsätzliche Berechtigung jeder staatlichen Macht zur Setzung neuen Rechts wird hiervon aber nicht berührt. König Joschija hatte also durchaus die Befugnis, im 7. Jahrhundert ein neues Gesetzbuch, das Deuteronomium, herauszugeben. Die Frage ist nur, ob es „korrekt“ war, dieses als „Moserede“ auszugeben. Wir kennen dieses Problem auch im Neuen Testament, wo es viele sog. Pseudepigraphen gibt, insbesondere bei den Paulusbriefen. Die Meinungen hierzu sind geteilt. Es wird meist darauf verwiesen, dass in antiker Zeit das Gefühl für literarische Wahrhaftigkeit ein anderes gewesen sei als heute. Dies wird aber durchaus diskutiert.4 Auch die Antike habe selbstverständlich ein Bewusstsein für Betrug und Fälschung gehabt und falsche Zuschreibungen nicht ohne weiteres toleriert. Eine echte Fälschung wie der 2. Thessalonicherbrief, der ausdrücklich darauf angelegt war, den ersten, echten Brief zu ersetzen (2 Thess 2,1ff.), wäre auch früher nicht akzeptiert worden, wenn dies nur rechtzeitig erkannt worden wäre. Im Alten Testament ist dieses Problem in Bezug auf den Pentateuch aber wesentlich komplexer. Das Deuteronomium ist ja keine komplette Neuschöpfung, sondern enthält überwiegend älteres, authentisches Material, das nur neu zusammengestellt und streckenweise abgeändert wurde. Ein Rückbezug auf Mose war deshalb nicht völlig unsachgemäß und entsprach vor allem allgemeiner Auffassung. Mose war der große Gesetzgeber. „Alle gesetzgeberische Autorität leitet sich daher von Mose ab.“5 Es war deshalb unumgänglich, auch neues Material der Autorität des Mose zu unterstellen. König Joschija hatte gar keine andere Wahl, als sein Gesetzbuch als „torat moshäh“ 3 4 5
Z. B. die Zentrierung des Kults auf Jerusalem. G. Lüdemann, Ketzer, 113. F. W. Golka, Mose, 181.
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1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
auszugeben. Ich bin mir auch sicher, dass alle Beteiligten wussten, wie es gemeint war. 3. Es ist insgesamt festzustellen, dass bei der Erforschung des apodiktischen Rechts die Ermittlung seiner Herkunft nur einen ersten Teil der Diskussion darstellen kann. Der m. E. entscheidende zweite Teil ist die Frage, was von diesen Rechtsnormen noch im Alten Testament erhalten ist und aus welchen Gründen es dort platziert ist. Die Auffassung von Eun-Ae Lee, dem apodiktischen Recht den Rang von „Grundnormen“ zu geben, welches die übrigen Rechtsnormen einrahmt, wie sie schematisch auch darlegen konnte, ist eine sicher richtige Überlegung. Dies korrespondiert mit der Auffassung von Fr. Crüsemann, der den Dekalog aus Ex 20 als eine Art Grundgesetz für den freien israelitischen Mitbürger ansieht, zusammengestellt in einer Zeit des sozialen Umbruchs. Für ihn ist das apodiktische Recht eine „Metanorm“ (s. Kap. IV.2., S. 62). Um dies weiter zu überprüfen, müsste man „apodiktisches Recht“ aus anderen Rechtssystemen heranziehen und auf seine Funktion hin überprüfen. Und wenn man sich dann erst einmal von der Vorstellung befreit hat, das apodiktische Recht sei ein geheimnisumwittertes Spezifikum Israels und sei – abgesehen von vereinzelten Vorkommen im altorientalischen Recht – nur im Alten Testament zu finden, wird man auch schnell fündig, dazu noch in Bereichen, wo man es gar nicht vermutet hätte. Ich stelle einige Beispiele vor: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ „Die Wohnung ist unverletzlich.“ „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“ Diese Liste ließe sich noch erweitern. Es handelt sich, wie jeder deutsche Staatsbürger wissen sollte, um seine eigenen im „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ (GG) verbrieften Grundrechte. Wenn man diese
V. Zusammenfassung
67
unbefangen betrachtet, kann man sie eigentlich von der sprachlichen Struktur und ihrer verbindlichen Aussagekraft her nur als „apodiktisch“ bezeichnen. Alle Elemente, die die Form und den Inhalt des apodiktischen Rechts aus dem Alten Testament ausmachen, sind gegeben. Der einzige Unterschied besteht darin, dass sie nicht so heißen, sondern die Grund- und Menschenrechte darstellen, die eine lange Verfassungstradition, beginnend mit der Aufklärung, hinter sich haben. Eine weitere verblüffende Übereinstimmung besteht außerdem hinsichtlich des „Gottesbezuges“. Das ursprüngliche apodiktische Recht war nicht ausdrücklich jahwegebunden. Es entsprang der unverbrüchlichen Sippenordnung, die jedes Mitglied der Sippe zu respektieren hatte. Erst nach und nach wurde es unter göttliche und mosaische Autorität gestellt. Diese „Theologisierung“6 bestand nicht von Anfang an, sondern ist sekundär. Fr. Crüsemann hat dies für den Dekalog dargestellt. Dieser wurde aus zwei oder drei älteren Reihen zusammengestellt und in Ex 20 in einen unlösbaren, dialektischen Zusammenhang zur Rettungstat Adonais gestellt. Exodus und Dekalog bedingen sich jetzt gegenseitig. Ähnlich wurde auch mit den Grund- und Menschenrechten im GG verfahren. Verfassungsrichter U. Di Fabio hat in seiner „Einführung in das Grundgesetz“ 7 darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz zwar seinen Ursprung in der „verfassungsgebenden Gewalt des souveränen Volkes“ habe, wie dies in der Präambel zum GG ausdrücklich formuliert wird, und zwar „ohne innere oder äußere Fremdbestimmung“, dass aber gleichzeitig eine – freiwillige – Bindung an Gott bestehe. Die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ ist die Einleitung zur deutschen Verfassung. Damit sind die Grundrechte, unabhängig von ihrer teilweise „atheistischen“ Herkunft aus der Aufklärung, in ihrer jetzigen Gestalt gottesbezogen. Der Verfassungsgeber wollte dies so und hat die heute gültige Form der Verfassung in dieser Weise ausgestaltet8. Es spielt dann keine Rolle mehr, wo die einzelnen Grund- und Menschenrechte bzw. ihre Ausgestaltung historisch anzusiedeln sind. Ihre Wurzeln reichen auch nicht nur bis in die Auf-
6 7 8
Vgl. S. 45. U. Di Fabio, Einführung, VII. Die Auffassung von einem direkten Gottesbezug ist allerdings streitig. Viele Verfassungen anderer Länder besitzen zwar einen unmittelbaren Bezug zur christlichen Religion, für das deutsche Grundgesetz wird demgegenüber von vielen Autoren nur eine sehr unbestimmte Anbindung an eine neutrale transzendente Idee angenommen, weil das heutige Verfassungsdenken und die Menschenrechtsidee primär aus der Aufklärung stammen (vgl. 3. Teil, Kap. I. u. III. Ziff.3.).
68
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
klärung. Die Idee der Menschenrechte geht zurück auf stoisches Gedankengut.9 Jüdisch-christliche Vorstellungen spielen hinein. Vielfältige Einflüsse und Ausgestaltungen in der historischen Entwicklung sind vorhanden. Dies alles tritt aber zurück hinter die Bedeutung, die die Grund- und Menschenrechte heute innerhalb des GG haben sollen. Ihre Relation zueinander im Rahmen des vorliegenden Verfassungstextes ist von Belang, nicht ihre frühere Bedeutung oder Herkunft. Ein gewichtiger Unterschied besteht allerdings. Die modernen Grund- und Menschenrechte sind der heutigen Vorstellung nach unmittelbare Rechte jedes Menschen. Er selbst ist direkter Träger dieser Rechte und kann sie gegenüber Staat und Gesellschaft einklagen. Das schwache und sozial benachteiligte Mitglied der Gesellschaft soll nicht darauf angewiesen sein, dass die anderen von sich aus seine Existenz respektieren und ihn unterstützen. Die Grundrechte sind deshalb justiziabel. Adressat ist primär der Staat und der Gesetzgeber. Das apodiktische Recht richtet sich demgegenüber an diejenigen Personen, die die Bedürfnisse der Armen und Schwachen beachten und die die Rechte ihrer Mitbürger respektieren sollen. Deshalb ist das apodiktische Recht des Alten Testaments auch oft in Form der direkten Anrede gefasst. Wir haben es insoweit mit Prohibitiven zu tun. Der so Angesprochene soll seine sozialen und religiösen Pflichten erfüllen. Trotzdem steht letztlich aber auch hier der Gedanke dahinter, dass jeder Mensch als Geschöpf Gottes eine eigene Würde hat, die zu respektieren ist. Die Menschenschöpfung ist hier Motor des sozialen Ausgleichs.10 Damit ist auch bei den Prohibitiven das zu schützende Mitglied der Gesellschaft Träger eines ihm eigenen Anspruchs. 4. Die dem apodiktischen Recht des Alten Testaments vergleichbaren Grundrechte des Grundgesetzes (GG) bilden zusammen mit dem sog. Staatsorganisationsrecht das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland.11 Dieses Recht besteht dabei nicht aus unverbindlichen Grundsatzerklärungen, es ist kein uneinklagbares Ethos, sondern Recht im eigentlichen Sinne. Die deut-
9
10 11
Alpmann Brockhaus, Fachlexikon Recht, 878; die Entwicklung der Menschenrechtsidee soll im 3. Teil, Kap. I., noch näher dargestellt werden. F. W. Golka, Flecken, 146. Alpmann Brockhaus, Recht, 1381.
V. Zusammenfassung
69
sche Verfassung heißt dementsprechend auch „Grundgesetz“ und hat eine besondere Beziehung zum übrigen, sog. positiven Recht. Es bildet die Grundlage, den Rahmen, innerhalb dessen sich alles Recht zu bewegen hat. Es zieht Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, auch nicht in Notlagen. Auch bei der Terrorbekämpfung sind nur rechtsstaatliche Mittel erlaubt, auch wenn der Rechtsstaat sich dadurch – zunächst – in eine schwächere Position begibt. Langfristig kann er nur so überleben. Diese vorgelagerte Grundordnung, die alle Rechts- und Lebensbereiche durchzieht, ist der Garant des Rechtsstaates und damit der Garant der Freiheit. Nur wenn sie strikt eingehalten wird, hat der Rechtsstaat eine Chance und der einzelne Bürger die Gewissheit, dass seine Rechte und damit seine Freiheit gewahrt bleiben. Wir sind also genau dort, wo auch der Dekalog vor knapp 3000 Jahren angesetzt hat, nämlich bei der „Bewahrung der Freiheit“.12 Die weitere Diskussion um das „Apodiktische Recht“ müsste also der Frage nachgehen, ob diese Normen dem modernen Verfassungsrecht, nicht nur in Deutschland, entsprechen und eine ähnliche Entwicklung durchlaufen haben. Wo liegen die Übereinstimmungen, wo die Unterschiede? Sind die Ziele, die beide Rechtsformen verfolgen, im Grundsatz identisch und ist die Dialektik des Gottesbezuges vergleichbar? Ergibt sich aus einem solchen direkten Vergleich die Stellung und Aufgabe des apodiktischen Rechts im Alten Testament? Dies alles sind Fragen, die weiterführend durchdacht werden müssten. Dabei wäre dann die Suche nach Herkunft und Entwicklung des apodiktischen Rechts nicht die zentrale Aufgabe, sondern das Aufzeigen der Funktion innerhalb der biblischen Rechtskorpora in ihrer Endgestalt. Diese Fragen waren bereits von Fr. Crüsemann und Eun-Ae Lee erörtert worden, die vorgeschlagen hatten, das apodiktische Recht als „Grundnormen“ (Lee) oder als „Metanorm“ (F. Crüsemann) mit Verfassungsrang zu betrachten. Beide haben aber noch keine Vergleiche zu „Verfassungen“ anderer Rechtskreise, insbesondere der Neuzeit, angestellt. Dies müsste aber ergeben, dass viele Parallelen bestehen und dass vor allem das Grundanliegen vergleichbar ist, nämlich die Wahrung der Grundrechte und der Freiheit des Menschen im Rahmen einer dialektischen Gottesbeziehung. Menschrechte werden letztlich immer auf die göttliche Menschenschöpfung zurückgeführt.
12
Vgl. Fr. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit (Kap. IV.1.).
70
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Es gibt, wie Golka zu Recht ausführt, „keine völlig säkulare Begründung der Menschenrechte.“13 Gleichzeitig kommen wir zu dem überraschenden Ergebnis, dass Albrecht Alt zum Schluss nun doch noch Recht erhält, wenn auch ganz anders, als er es sich gedacht hat. Zumindest in der biblischen Endfassung wird sein apodiktisches Recht schließlich doch noch zu dem, was es immer sein sollte, aber ursprünglich keineswegs war, nämlich „volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch“.
13
F. W. Golka, Flecken, 151; vgl. aber 3. Teil, Kap. I. u. II.
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
I. Problem und These I. Problem und These Obwohl der neue Begriff „Apodiktisches Recht“ seit A. Alt in der Forschung allgemein anerkannt ist und seinen festen Platz in der theologischen Terminologie behauptet, war die Frage der Herkunft dieses Rechts von Beginn an streitig. Während A. Alt davon ausging, dass es sich um Rechtsgut handele, das die einwandernden Israeliten direkt aus der Wüste nach Kanaan mitgebracht hätten, wo es dann mit dem kanaanäischen kasuistischen Recht kollidiert sei, verlegten M. Noth, E. Gerstenberger, G. Fohrer u. a. seine Entstehung in die Richterzeit, in der vorstaatliche Verhältnisse, eventuell im Rahmen einer Amphiktyonie, geherrscht hätten. Die Verlegung in die Richterzeit war erforderlich, weil der „Exodus“ und die „Landnahme“ sich zunehmend als Fiktion erwiesen, die einer historischarchäologisch ausgerichteten Forschung nicht standhalten konnten. Einwandernde ethnisch selbständige Gruppierungen gab es nicht oder ließen sich zumindest nicht nachweisen. Die biblischen Berichte über den Auszug des ganzen Volkes aus Ägypten unter Mose, die Eroberung des Landes Kanaan unter Joschua und die Entstehung Israels aus dieser eingewanderten Stammesgruppe erwiesen sich immer mehr als eine fiktive Komposition verschiedensten Materials, die viel später, erst ab dem 8. oder 7. Jahrhundert, einsetzte und im 5. Jahrhundert und danach ihren redaktionellen Abschluss fand.1 Religiöse und vor allem politische Motive unter Joschija und dann später, nach der Katastrophe des Exils, die Notwendigkeit, eine neue religiösnationale Identität zu entwickeln, spielten eine entscheidende Rolle. Die Entstehung Israels durch einwandernde Stämme als Nachkommen der Pa-
1
Frühere Entstehungszeiten werden von niemandem mehr vertreten (vgl. die Übersicht bei N. P. Lemche, Vorgeschichte, 213.
72
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
triarchen und die Bildung eines mächtigen Großreichs, das von Beginn an in einer besonderen Beziehung zu JHWH stand, waren als Bild der eigenen Vergangenheit erforderlich, um sich von seiner Umwelt absetzen und die eigene religiöse und nationale Identität behaupten zu können. Die schon seit langem durchgeführten historischen und archäologischen Arbeiten haben aber ergeben, dass man von einer Eroberung oder Einwanderung nicht ausgehen kann. Die Entstehung Israels war eine überwiegend innerpalästinensische Entwicklung, die kaum noch Raum für einen Gegensatz „Israel – Kanaan“ lässt, ganz abgesehen davon, dass „Kanaan“ oder „kanaanäisch“ völlig diffuse Begriffe sind, die die vielfältigen geographischen und ethnischen Verhältnisse überhaupt nicht wiedergeben können.2 „Israel“ ist direkt aus „Kanaan“ hervorgegangen, ohne größere Einwanderungen von außen. Es handelt sich um eine Umschichtung der Bevölkerung, verbunden mit neuen Siedlungen, die durch vielerlei Faktoren ausgelöst wurde, auf die noch näher eingegangen werden muss.3 Die biblischen Berichte über ein Gegenüber von – eingedrungenen – israelitischen und kanaanäischen Bevölkerungsteilen beziehen sich deshalb nicht auf ethnische, sondern primär auf religiöse Unterschiede (Baal – JHWH). Und die Erzählungen über die ständigen „Rückfälle“ zum Baal-Kult spiegeln nur den Umstand wider, dass der JHWH-Kult nicht die ursprüngliche, alleinige Religion der Israeliten war, sondern dass sich dieser erst nach und nach gegen viele andere Kulte durchsetzen musste. Damit ist auch eine Zuordnung des apodiktischen Rechts an „Israel“ und andererseits des kasuistischen Rechts an „Kanaan“ hinfällig. Man könnte allenfalls darüber diskutieren, ob es sich um neues Recht handelt, das in denjenigen Gebieten entstanden ist, in denen sich ab dem 12. Jahrhundert die Reiche Israel und Juda formierten. Es könnte sich dann um eigenständiges, originäres Recht dieser Gebiete handeln, das in Abweichung oder Ergänzung zum bereits vorhandenen vorderorientalischen Recht des Umlands entstand und insofern eine besondere kulturelle Leistung dieser sich neu bildenden, eigenen Gesellschaften darstellt. Eine andere Möglichkeit wäre die Hypothese von kleineren Gruppierungen von außerhalb, die den JHWH-Kult und die Exodustradition mitgebracht und in den neuen Siedlungsgebieten durchgesetzt hätten. Es könnte sich um
2 3
W. Zwickel, Einführung, 16. Vgl. 2. Teil, Kap. II. 2.
I. Problem und These
73
die viel diskutierte „Ägyptergruppe“ oder „Moseschar“ handeln4, die dann vielleicht auch eigenes, besonderes Recht eingebracht hätte. Aber auch das ist sehr fraglich und reinste Spekulation. Wir können nicht davon ausgehen, dass die überlieferten Texte des apodiktischen Rechts auf eine eigene originäre „Quelle“ zurückgehen, die man in Israels Frühzeit ausmachen könnte. Hier soll die Auffassung vertreten werden, dass sich dieses Recht erst nach und nach, zusammen mit dem übrigen in der Bibel überlieferten Recht entwickelt hat. Es hat sicherlich Vorformen gegeben, die auch apodiktisch formuliert gewesen sein mögen. Derartige Rechtssätze als Grundnormen einer Gesellschaft können überall entstehen. Das, was wir heute als apodiktisches Recht bezeichnen, ist aber erst später, bei der schriftlichen Fixierung der biblischen Texte entwickelt worden – als Rahmen oder Grundnorm und in bewusster Überordnung zum übrigen Recht, was beim Dekalog ganz offensichtlich ist. Ich möchte deshalb die folgende These vorlegen und diese anschließend näher begründen:
These: Das apodiktische Recht war nie eine eigenständige historische Größe mit selbstständiger Herkunft, sondern hat sich allmählich im Rahmen der biblischen Tradition entwickelt. Vorher war es nur eine unsystematische Tradierung allgemeiner Grundnormen, die in jeder Gesellschaft entstehen können. Erst in der kanonischen Endgestalt wurde es zu dem, was in der Forschung seit A. Alt als apodiktisches Recht bezeichnet wird. Im biblischen Kontext erhält es dann allerdings durch die Einbindung in das gesamte Rechtssystem und vor allem durch eine präzise Theologisierung als übergeordnete „Verfassungsnorm“ eine besondere Ausgestaltung, die rechtshistorisch eine einmalige kulturelle Leistung Israels darstellt und vom Ansatz her mit modernem Verfassungsdenken vergleichbar ist. Der Dekalog entspricht in seiner Struktur einer heutigen Verfassung mit einer Präambel und einer Auflistung von Grund- und Menschenrechten. 4
H. Donner, Geschichte, 123.
74
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Von einer selbständigen „Gattung“, die sich – nach Gunkel – bis in frühe Zeiten und bis zu einer originären Quelle zurückverfolgen ließe, kann man m. E. nicht ausgehen. Gegen eine solche Annahme sprechen mehrere Gründe, wovon drei in den nachfolgenden Kapiteln näher erörtert werden sollen. Hier sollen sie zunächst nur angerissen werden.
1.
Historische Gründe
Dass man sich, bevor man Detailfragen erörtert, zunächst einmal mit dem historischen Rahmen der fraglichen Zeit beschäftigt, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Trotzdem wird dies oft vernachlässigt. F. W. Golka hat oft darauf hingewiesen, dass in der alttestamentlichen Forschung zunächst die geschichtlichen Zusammenhänge zu klären sind. Erst kommt die „Geschichte Israels“ und dann die Theologie. Wie wichtig dies gerade bei unserem Thema ist, soll noch dargelegt werden. Weil die Herkunft des apodiktischen Rechts in die frühen Zeiten gelegt und eine besondere Trägerschaft angenommen wird, ist die Untersuchung dieser Frühzeit Israels besonders wichtig. Es muss dargestellt werden, wer als Träger dieses Rechts in Frage kommt. Wie sah Israel vor der Königszeit aus und wie ist es entstanden? Wo und bei wem könnte das apodiktische Recht entwickelt und weitergegeben worden sein und wie ist es in den Pentateuch gelangt? Die Frühgeschichte Israels ist heute historisch und archäologisch weitgehend geklärt, wenn man von der Patriarchenzeit absieht, die sich einer genauen historischen Erfassung entzieht.5 Man weiß heute, dass Israel aus Kanaan heraus entstanden ist und welche historischen Umstände hierfür verantwortlich waren. Und man weiß auch, aus welchen Gruppierungen die Vorfahren Israels stammten. Können diese Gruppierungen aber Väter des apodiktischen Rechts gewesen sein? In diesen Gesellschaften können allenfalls Vorformen dieses Rechts entwickelt worden sein, die mit dem späteren Dekalog und den anderen Reihen noch wenig gemeinsam hatten. Die historische Entwicklung Israels spricht gegen eine frühe Entstehung des apodiktischen Rechts.
5
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 34.
I. Problem und These
2.
75
Sprachhistorische Gründe
Die zum Charakter des apodiktischen Rechts gehörende „Wucht des Ausdrucks“6 wird nicht nur durch den Inhalt, durch die kategorische Aussage bestimmt, sondern in besonderer Weise durch die sprachliche Ausgestaltung, wobei eines das andere bedingt. Es ist aber fast unmöglich, für die Frühzeit Israels verbindliche Aussagen über Schrift und Sprache zu machen. Diese haben sich in den ersten Jahrhunderten erst allmählich entwickelt. Die frühen Sprachformen eventueller apodiktischer Aussagen sind deshalb nicht sicher zu ermitteln.
3.
Rechtsgeschichtliche Gründe
Ein ebenfalls stark vernachlässigter Bereich bei der Erörterung des apodiktischen Rechts sind die Erkenntnisse der Rechtsgeschichte. Diese bevorzugt das römische, griechische, orientalische oder kanonische Recht, weil hierüber schriftliche Quellen vorliegen und man bessere Parallelen und Verbindungslinien zum modernen Recht aufzeigen kann. Die für unser Thema wichtige Rechtsentwicklung in frühen schriftlosen Gesellschaften ist demgegenüber schwieriger darzustellen, weil es nur indirekte, spätere Zeugnisse gibt und weil man im Wesentlichen auf ethnologisches, anthropologisches Material aus heute noch existierenden „Naturvölkern“, den sogenannten „rezenten Gesellschaften“, angewiesen ist.7 Trotzdem gibt es Erkenntnisse, die auch für unser Thema herangezogen werden müssen. Sie können nämlich aufzeigen, dass es höchst fraglich ist, ob Rechtsformen, wie sie uns im apodiktischen Recht begegnen, in vorstaatlichen Gesellschaften nachzuweisen sind. In einfachen, frühen Gruppierungen verläuft die Rechtsentwicklung anders, zumal die Definition von „Recht“ äußerst problematisch ist. Damit liefert auch die Rechtsgeschichte schwerwiegende Zweifel an einer frühen Entstehung des apodiktischen Rechts. Insgesamt haben wir es mit mehreren Problemen zu tun, die uns von einem frühen apodiktischen Recht trennen und die im Folgenden genauer behandelt werden sollen.
6 7
A. Alt, Ursprünge, 306. U. Wesel, Frühformen, 36.
II. Das geschichtliche Problem II. Das geschichtliche Problem
1.
Bibel und Archäologie
Wer sich mit der Frage der Herkunft des apodiktischen Rechts beschäftigt, muß zu ermitteln versuchen, wer im frühen Israel Träger eines derartigen Rechts gewesen sein könnte und welche lokalen, sozialen oder vielleicht religiösen Gruppierungen für eine Entwicklung und Tradierung in Betracht kommen. Dies gilt umso mehr, wenn man dieses Recht im Gegensatz zu den übrigen Rechtsordnungen in Palästina sieht und eine eigenständige Entstehung annehmen möchte. Es ist dies eine historische, soziologische und siedlungsgeschichtliche Fragestellung, die in eines der zentralen Themen der alttestamentlichen Wissenschaft, nämlich in die Frage nach der „Geschichte Israels“ hineinführt. Auf keinem anderen Gebiet wurde wohl intensiver gestritten und geforscht als hier. Es ging um die Frage nach der „historischen Wahrheit“ der Bibel. Man erhoffte sich dabei insbesondere von der Archäologie, dass diese eindeutige Beweise für die historische Zuverlässigkeit der biblischen Texte beibringen könne. Ausgrabungen in Palästina waren deshalb immer von weltweitem Interesse. „Palästina zählt heute zu den am besten archäologisch erforschten Gebieten der Welt.“ 1 Größte Brisanz haben dabei die Stichworte Patriarchen, Exodus, Landnahme oder davidisch-salomonisches Großreich, weil sich hier die größte Diskrepanz zwischen religiös-politischem Anspruch und historischer Realität ergibt. Für viele hängt das religiöse und auch das heutige politische Selbstverständnis Israels von der Frage ab, wie sich die Entstehung und frühe Geschichte Palästinas darstellt. Alle diese Erörterungen sind heute nicht nur religiöser Natur, sondern zugleich auch hoch politisch. Diese Fragen werden oft sehr emotional diskutiert und münden häufig in religiöse Grundsatzdebatten. Für die weitere Erörterung muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass die frühe Geschichte Israels schon seit langem von Archäologen, Historikern 1
W. Zwickel, Einführung, 12.
78
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
und Ethnologen und weniger von Alttestamentlern geschrieben wird. Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass die Archäologie auch in der Lage ist, ein Bild der Verhältnisse im 12. und 11. Jahrhundert zu entwerfen und die Besiedlung im Westjordanland dazustellen. Das Verhältnis von Archäologie und Bibelwissenschaft war lange Zeit äußerst problematisch und führte oft zu falschen Ergebnissen, wie das Beispiel Jericho musterhaft zeigt. Während die biblische Archäologie früher weitgehend nur als eine Hilfswissenschaft der Theologie angesehen wurde, hat sie sich heute von jeder theologischen Bevormundung befreit. Die Bibel ist längst nicht mehr die Richtschnur der archäologischen Arbeit, sondern wird nur noch ergänzend herangezogen, so wie andere Texte aus Ägypten oder Assyrien auch. Man redet deswegen heute auch lieber von „Palästina-Archäologie“ statt von „biblischer Archäologie“, obwohl die entsprechenden Universitätsinstitute bis heute nach wie vor so heißen. Stellvertretend für viele andere seien zwei Autoren zitiert, nämlich E. A. Knauf und W. Zwickel: „Schlechte Archäologen haben im Heiligen Land einiges Unheil angerichtet, indem sie ihre Funde nicht im Lichte kritischer und selbstkritischer archäologischer Theorien, sondern im Kontext der biblische(n) Geschichte(n) interpretierten. Jetzt dreht die Archäologie den Spieß um und erklärt die Entstehung der Bibel im Rahmen der archäologisch geklärten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen; und es entsteht gute, weil empirische, Bibelwissenschaft.“2 „Die archäologische Forschung in Palästina ist inzwischen aber so weit vorangeschritten, dass sich auf Grund der bisher bekannten Fakten ein völlig eigenständiges Bild von der antiken Kultur erheben lässt, das auf Texte zumindest weitgehend verzichten kann. So entsteht ein eigenständiges Bild der Lebensverhältnisse in biblischer Zeit, das sich teilweise mit den biblischen Aussagen deckt, teilweise aber auch zu völlig neuen Sichtweisen biblischer Texte führt.“3
Das problematische Verhältnis von Archäologie und Bibelwissenschaft gilt insbesondere für die Frühzeit Israels, mit dem Beginn der sog. Eisenzeit im 12. Jahrhundert. Dabei wird folgende grobe Einteilung zugrunde gelegt: Mittelbronzezeit II Spätbronzezeit
2 3
1950–1550 1550–1200
E. A. Knauf, Schreiber über Schreiber, WUB 2/2003, 58. W. Zwickel, Einführung, 47.
79
II. Das geschichtliche Problem
Eisenzeit I (frühe Eisenzeit) Eisenzeit II
1200–1000 1000–5874
Die frühe Eisenzeit kann man, in Analogie zur griechischen Geschichte nach Mykene, durchaus als die Epoche der „dunklen Jahrhunderte“ Palästinas bezeichnen. Die historischen Informationen über diese Zeit sind äußerst spärlich. Und in diese Zeit fällt die Entstehung Israels. Wir haben für diese Periode eigentlich nur die biblischen Texte als schriftliche Informationsquellen. Da die dort geschilderten historischen Abläufe über die kriegerische Landnahme einwandernder Stämme und deren anschließende Siedlung aber fiktiv sind und primär dazu dienen, den Besitz des Landes Kanaan als ein Geschenk Gottes zu verstehen, verbunden mit der Aufforderung, sich dieses Geschenkes würdig zu erweisen und es, nach dem Exil, wieder erneut in Besitz zu nehmen, sind wir auf andere Informationen angewiesen. Diese liefert heute im Wesentlichen die Archäologie. Diese kann zeigen, wie die Gebiete der Länder Israel und Juda, einschließlich Jerusalems, ab dem 12. Jahrhundert besiedelt wurden und wie wir uns die Entstehung des Volkes Israel vorstellen können. Damit ergibt sich dann auch die Möglichkeit, über die Entstehung von Recht in vorstaatlicher Zeit nachzudenken und Rückschlüsse auf das apodiktische Recht zu ziehen. Die Archäologie kann mit ihren vielen „Hilfswissenschaften“ wie Ethnologie, Textil- und Keramikkunde, Metallurgie, Zoologie, Botanik, Epigraphie, Dendrochronologie usw., die alle eigenständige Wissenschaften sind, aber gut zusammenarbeiten, heute sehr genaue Angaben zur Entstehung Israels in Palästina machen. Viele Autoren wie V. Fritz, N. P. Lemche, D. Jericke, J. Kamlah, H. Donner oder I. Finkelstein sind sich, gestützt auf die Archäologie, über diese Zeit im Wesentlichen einig. So sind z. B. die entsprechenden Angaben von V. Fritz in Band 2 der Kohlhammer-Reihe „Biblische Enzyklopädie“5 fast deckungsgleich mit den späteren, sehr ausführlichen Darlegungen von I. Finkelstein und N. A. Silberman in ihrem bekannten Buch „Keine Posaunen vor Jericho“6.
4
5 6
V. Fritz, Entstehung Israels, 65. Anm.: Die Einteilungen sind bei den verschiedenen Autoren nicht einheitlich und werden auch noch detaillierter vorgenommen. Es hat sich aber allgemein durchgesetzt, die hier interessierende Epoche von 1200–1000 als frühe Eisenzeit zu bezeichnen. V. Fritz, Entstehung Israels, 118. I. Finkelstein, Keine Posaunen, 112.
80
2.
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Die Geschichte Israels im 12. und 11. Jahrhundert
Die Geschichte Israels beginnt mit dem Untergang der Paläste. Während der Bronzezeit (ca. 3200–1200) waren Syrien und Palästina durchzogen von vielen vergleichsweise kleinen Palastherrschaften, den sog. Stadtstaaten. Diese standen in mehr oder weniger starker Abhängigkeit von Ägypten, Mitanni oder zeitweise auch von „Hatti“, den Hethitern in Kleinasien, wobei der Einfluss der Hethiter sich meist auf das direkt angrenzende Syrien beschränkte. Unter diesen Stadtstaaten finden wir bekannte Namen wie Megiddo, Hazor, Qadesch, Aleppo, Haran, Byblos und viele andere. Sie wurden meistens von einem selbsternannten „König“ regiert, der diesem Titel aber – vom Umfang seiner Herrschaft her – nur selten gerecht wurde. Die Ägypter nannten diese Herrscher denn auch zutreffender „khazanu“, was so viel wie „Bürgermeister“ oder „Amtmann“ bedeutet.7 Diese kleinen Herrschaftsgebiete konnte man, mit Einschränkungen, durchaus als „staatliche“ Gebilde bezeichnen. Es waren urbane Gesellschaften mit einer zentralen Herrschaft, nämlich dem „König“ und seiner Sippe oder seinem Gefolge, mit einem kleinen Verwaltungsapparat, Schreibern und Bewaffneten in Form einer Palastwache oder einer Truppe von Söldnern. Diese Truppen waren aber oft so klein, dass bei Streitigkeiten untereinander die Entsendung einer kleinen Einheit ägyptischer Soldaten ausreichte, um den Frieden wieder herzustellen. Das war aber nicht oft der Fall. Die Anwesenheit eines ägyptischen Provinzgouverneurs oder einiger weniger Beamter, die den Kontakt nach Theben oder Amarna aufrecht erhielten, reichte meist aus. Im Übrigen kümmerte sich die ägyptische Zentralregierung nicht sonderlich um ihre Provinz „Kanaan“. Solange die Tributzahlungen eingingen, hatten die einzelnen Territorien ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. In dynastische Streitigkeiten oder Rivalitäten untereinander mischte sich Ägypten selten ein, was wir den oft verzweifelten Schreiben der Stadtfürsten aus der Amarnapost entnehmen können. Auch innere Probleme mit den Hapiru oder Schasu interessierten Ägypten wenig, zumal noch hinzukam, dass das „Neue Reich“ am Nil zunehmend schwächer und instabiler wurde und zu Beginn der Eisenzeit (ab 1200) seine Kontrolle über Palästina praktisch aufgab. „Ramses VI. (1144–
7
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 138.
II. Das geschichtliche Problem
81
1136) war der letzte Pharao, von dem mit Sicherheit gesagt werden kann, daß er über Palästina regiert hat.“ 8 Die vielen Stadtstaaten waren in der Regel nicht autark. Sie lebten nicht ausschließlich vom eigenen Handel, Handwerk und Landwirtschaft, sondern waren alle in das große Netzwerk des internationalen Handels eingebunden. Durch Palästina führten einige wichtige Handelsstraßen, die erhebliche Einkünfte für die anliegenden Städte erbrachten. Dieses Wirtschaftssystem brach um 1200 in kürzester Zeit zusammen. Ein dramatischer Klimawandel (Trockenheit) führte zu einem Zusammenbruch der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und zu einem Ende der vielen Palastherrschaften bzw. Stadtstaaten, weil diese sich wirtschaftlich nicht mehr halten konnten. Ohne die direkten und indirekten Einnahmen aus dem Fernhandel waren sie nicht überlebensfähig. Handwerk und Landwirtschaft reichten allein nicht aus, eine differenzierte Stadtgesellschaft mit einer teuren Oberschicht zu finanzieren. Ein weiterer Grund war der Einbruch der sog. Seevölker, die im gesamten östlichen Mittelmeerraum Eroberungszüge unternahmen und sich auch in Palästina ansiedelten. Insgesamt kam es zu einem Ende der Stadt- und Palastherrschaften, und zwar zeitgleich auch in Mykene, Tiryns und Pylos. Da auch das Hethiterreich um 1200 unterging und Ägypten an Einfluss verlor, war nunmehr in Palästina der Weg frei für die Entstehung neuer Gesellschaften, aus denen dann später, ab 1000, neue Reiche entstanden, nämlich Israel, Juda, Ammon, Moab und Edom.
Exkurs 1: Die Patriarchen 1.
Die Suche nach den historischen Patriarchen
Die Geschichte Israels beginnt nicht mit den Patriarchen. Mit diesen beginnt vielmehr die biblische Erzählung über die Geschichte Israels. Und diese Erzählung „ist die erste große Saga der Bibel, eine Geschichte von den Einwandererträumen und göttlichen Verheißungen, ein vielfarbiger, inspirierender
8
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 134.
82
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Auftakt für die spätere Geschichte des Volkes Israels.“9 Es ist der große „Gründungsmythos“, die „Gründungsurkunde Israels.“10 Der historische Gehalt der Erzvätergeschichten ist demgegenüber aber äußerst umstritten. Wie schwierig und unergiebig dieses Thema ist, zeigt allein schon der Umstand, dass das „Zeitalter der Patriarchen“ von den verschiedenen Autoren in die verschiedensten Zeiten gelegt wird. Die Angaben variieren von der Mitte des 3. Jahrtausends bis ins 12./11. Jahrhundert, wobei meistens allerdings – entsprechend der biblischen Chronologie – die Zeit von 2000 bis 1800 oder im Gefolge der Dokumente von Nuzi ab ca. 1500 diskutiert wird. Es geht dabei darum, die Angaben der Genesis über die Erzväter mit einer Zeit in Deckung zu bringen, in die die historischen, geographischen, soziologischen, religiösen, kulturellen oder wirtschaftlichen Verhältnisse der Erzvätergeschichten hineinpassen. Dies ist aber ein vergebliches Unterfangen und wurde in der Vergangenheit oft schon fast unwissenschaftlich betrieben. Oft ging es nur darum, die historische Existenz der Erzväter zu „beweisen“. Man vergleiche nur, wie eindringlich N. P. Lemche bei diesem Thema zur wissenschaftlichen Ordnung ruft11. Man kann die ganze Diskussion dahin zusammenfassen, dass die Erzvätergeschichten in fast jede Zeit hineinpassen oder aber, im Gegenteil, eigentlich mit keinem Zeitabschnitt deckungsgleich sind, je nachdem, welchen Wert man auf welche Details legt. Die vielen Untersuchungen über kanaanäische, amurritische oder aramäische Völkerwanderungen, über das Nomadentum oder über juristische Verhältnisse wie Landkauf oder Brautwerbung, Ersatzkind, Schwester als Ehefrau usw. haben zu keinem überzeugenden Ergebnis geführt. Auch die Überlegungen von A. Alt über den „Gott der Väter“12 werden heute nicht mehr geteilt. Die Erzählungen lassen sich „kaum einem bestimmten zeitgeschichtlichen Horizont zuordnen, sondern nur einem allgemein orientalischen Milieu.“13 Es gibt keine „Beweise“ für die Existenz der Patriarchen, allerdings auch keine gegen deren Wanderungen. Die vielen Anachronismen (Kamele, Chaldäa, Philister, Ismaeliten usw.) kann man nicht als „Gegenbeweis“ verwenden, da sie spätere Ausschmückungen aus der Abfassungszeit dieser
9 10 11 12 13
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 39. E. Zenger, Einleitung, 72. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 34. A. Alt, Gott der Väter, in: Grundfragen, 21. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 45.
II. Das geschichtliche Problem
83
Geschichten darstellen, die deren historischen Gehalt nicht im Ganzen in Frage stellen müssen. Für die Entstehung der Erzvätergeschichte und ihre Einordnung in den Pentateuch gibt M. Noth aber eine einleuchtende Erklärung. Danach handelt es sich bei den Erzählungen über die drei Erzväter um ursprünglich getrennte Überlieferungen verschiedener Gruppen oder Stämme, die sich auf einen je eigenen „Vater“ als Gründer und Träger der Land- und Nachkommens-Verheißung beriefen.14 Die mittelpalästinische Jakobs-Erzählung ist dabei, wie das „kleine geschichtliche Credo“ aus Dtn 26,5–9 zeigt, die ältere Überlieferung, ohne Abraham und Isaak und auch ohne Mose. Jakob war danach als Vater seiner 12 Söhne direkter Ahnherr der 12 Stämme. Als die im Süden beheimateten Abraham und Isaac bei der Entstehung Gesamt-Israels hinzukamen, konnten sie nur „genealogisch verknüpft“15 werden, als Vater und Großvater. So konnte für alle Israeliten eine gemeinsame Abstammung geschaffen werden, wobei dann aber die ursprünglich schon bei den Erzvätern vorhandene Erfüllung der Kulturlandverheißung abgekoppelt werden musste.16 Diese verwirklichte sich erst später bei der sogenannten Landnahme. Die Erzväter wurden auf diese Weise zu Stellvertretern für die spätere Inbesitznahme des zugesagten Landes.
2.
J. Assmann und die Patriarchen
Die vorangegangenen Erörterungen beschäftigten sich mit der Historizität der Patriarchenerzählungen. Eine andere, zusätzliche Frage ist, welche Bedeutung diese Erzählungen für die nachfolgenden Generationen hatten und welche Absichten und Vorstellungen aus späterer Zeit Einfluss auf Entstehung und Ausformung dieser Berichte genommen haben. Wie konnte es zur Bildung der in den biblischen Texten vorliegenden großen und zusammenhängenden Familiensaga kommen? Diese Frage führt direkt zu J. Assmann und seinem Werk „Moses der Ägypter“17, wobei seine weitere Arbeit „Die Mosaische Unterscheidung“18 von der Thematik her mit zu berücksichtigen ist. Es geht in diesen Arbeiten um die 14 15 16 17 18
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 1948, 58. Ebd., 232. Ebd., 59. J. Assmann, Moses. J. Assmann, Mosaische Unterscheidung.
84
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Entstehung des Monotheismus im Gegensatz zum Polytheismus und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die spätere Religions- und Geistesgeschichte. Der Monotheismus ist eine Weiterentwicklung der Monolatrie. Es wird nicht nur ein Gott von vielen anderen verehrt, sondern dieser eine Gott ist auch der einzig wahre Gott, der die Existenz aller anderen Götter ausschließt. Diese sind nur falsche Götter, die nicht existieren und deren Verehrung dementsprechend verabscheuungswürdiger Götzendienst ist. Es geht um die Unterscheidung von „wahr“ und „unwahr“; und da die Begründung des Monotheismus auf Moses zurückgeführt wird, nennt J. Assmann diesen Gegensatz die „Mosaische Unterscheidung“. Der monotheistische Gott ist außerkosmisch und deshalb nicht zu erfassen und auch nicht bildlich darzustellen. Götterbilder sind blasphemisch und werden im Dekalog gleich zu Beginn verboten. Der Polytheismus kennt demgegenüber viele Götter, die innerkosmisch gedacht und in Wort und Bild darstellbar sind. J. Assmann spricht hier deshalb auch vom „Kosmotheismus“19. Alle polytheistischen Religionen haben eine Vielzahl von Göttern, die sich in ihrem Aufgabenbereich ergänzen und in einem großen Pantheon zusammengefasst sind. Sie haben alle eine spezielle Funktion und sind bestimmten Bereichen zugeordnet, z. B. „Himmel“, „Sonne“, „Mond“, „Weisheit“, „Tod“, „Gerechtigkeit“ usw. Sie haben damit eine „spezifische semantische Dimension“, durch die die Götternamen und die Götter selbst „übersetzbar“ werden.20 Die Götter sind in ihren Funktionen ähnlich und daher direkt vergleichbar. Da es z. B. nur eine Sonne gibt, müssen der griechische Helios und der ägyptische Aton die gleichen Göttergestalten sein. „Die Praxis der Übersetzung von Götternamen … führte schließlich zu der Vorstellung, daß die Götter international, d. h. überall mehr oder weniger dieselben sind.“21 Die Götter der anderen Religionen waren damit keine „falschen Götter“. „Den antiken Polytheismen war der Begriff einer unwahren Religion vollkommen fremd.“22 Religiöse Toleranz war möglich und auch selbstverständlich. „Polytheisten führen keine Religionskriege.“23
19 20 21 22 23
J. Assmann, Moses, z. B. 11. Ebd., 73. Ebd., 74. Ebd., 19. F. W. Golka, Mose, 65.
II. Das geschichtliche Problem
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„Daher war die Mosaische Unterscheidung etwas radikal Neues.“24 Der Monotheismus war eine „Gegenreligion“25, die das Gegenteil von dem darstellte, was der Polytheismus verkörperte. Es gab jetzt die Unterscheidung von „wahr“ und „unwahr“. Alle anderen Götter waren Götzen und konnten nicht mehr toleriert werden. Und dieser Gegensatz, dieser Antagonismus wurde repräsentiert durch das Begriffspaar „Israel“ und „Ägypten“. Israel stand für die wahre Religion, für den Glauben an den einzigen Gott, wobei die Gestalt des Moses den Ausgangspunkt des Monotheismus und der endgültigen Absage an den bisherigen Religionstyp, den Polytheismus, darstellte. Ägypten war demgegenüber der Inbegriff der unwahren Religion, der Vielgötterei. J. Assmann untersucht dann sehr ausführlich das wechselnde Bild des Moses und Ägyptens in der langen europäischen Geistesgeschichte. Er legt dar, welche Vorstellungen und Geistesströmungen hinter den jeweiligen MoseRezeptionen und der Bewertung Ägyptens standen, z. B. im Zeitalter der Aufklärung. Er prägt hierfür den Begriff der Gedächtnisgeschichte. Dabei geht es nicht darum, den historischen Moses zu ermitteln und zu fragen, ob hinter dem überlieferten biblischen Moses eine faktische Person auszumachen ist, sondern darum, „diese Überlieferungen selbst als Phänomene des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses zu studieren“26, und zwar unabhängig davon, ob diese Überlieferungen historisch zuverlässig sind oder nicht. „Im Unterschied zur Geschichte im eigentlichen Sinne geht es der Gedächtnisgeschichte nicht um die Vergangenheit als solche, sondern um die Vergangenheit, wie sie erinnert wird.“27 Und in dieser Erinnerung liegt dann die zu ermittelnde Wahrheit. Welche Vorstellungen und welche Epochen stehen hinter den verschiedenen Mose- oder Ägyptenbildern und welchen Einfluss nehmen sie auf diese Bilder? Wie formt und verändert die Gegenwart die Vergangenheit? Die Gedächtnisgeschichte benutzt J. Assmann auch in seinem neuesten Werk von 2015 über den Exodus. Auch hier wird die Erinnerung an Mose und den Exodus herausgearbeitet, und zwar unabhängig davon, was historisch noch zuverlässig greifbar ist. Diese Erinnerungsarbeit mit der Ausformung der Vergangenheit erfolgt meistens in Form einer „Großen Erzählung“28, eines Mythos, mit dem die Vergangenheit neu erfunden und für die Gegenwart neu erklärt wird. Ein 24 25 26 27 28
J. Assmann, Moses, 20. Ebd., 20. Ebd., 27. Ebd., 25. Ebd., 24.
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solcher Mythos will deshalb nicht als historischer Tatsachenbericht verstanden werden, sondern als die Wiedergabe von Vorstellungen über die Entstehung der Welt, eines Volkes oder einer Religion. Er durchläuft daher eine oft lange Entwicklung und wird von Generation zu Generation weiter ausgeformt, entsprechend dem Selbstverständnis der jeweiligen Tradenten. Die naheliegende Frage nach einer Geschichtsfälschung stellt sich daher beim Mythos nicht. Mythenbildungen gibt es besonders bei Berichten über die Entstehung der eigenen Volksgemeinschaft. „Mythen im Sinne traditioneller Erzählungen spielen eine entscheidende Rolle in der Ausbildung eigener Identitäten (‚Ethnogenese‘)“.29 Die Identitätsbildung einer Gemeinschaft wird gefördert durch Erzählungen, in denen über eine eigene, individuelle Herkunft berichtet wird und auf die man sich für die ethnische oder religiöse Abgrenzung von seiner Umwelt berufen kann. Eine gemeinsame Abstammung oder zumindest eine gemeinsame lokale Herkunft ist für das Selbstwertgefühl und das Bewusstsein, eine selbständige Volksgemeinschaft zu sein, unerlässlich. Das Wesen der Gedächtnisgeschichte wird von J. Assmann am Beispiel von Echnaton und Mose verdeutlicht. Pharao Amenophis IV. (1372–55 v. Chr.), der sich später Echnaton nannte, hatte in seiner nur kurzen Regierungszeit versucht, durch eine religiöse „Revolution von oben“ die alleinige Verehrung des Sonnengottes Aton in monotheistischer Form einzuführen. Nach seinem Tode wurden seine gesamten Reformen aber wieder rückgängig gemacht und sein Name erfolgreich aus den Königslisten und von allen Bauten entfernt. Dies erfolgte so gründlich, dass er in völlige Vergessenheit geriet und erst durch die Entdeckung seiner zerstörten Hauptstadt Amarna im 19. und 20. Jahrhundert wieder bekannt wurde. Echnaton ist eine historische Figur. Leben und Werk sind relativ genau erforscht. Sein Versuch, eine neue Religion einzuführen, scheiterte aber in kürzester Zeit und hinterließ keinerlei Wirkung, wenn man von der verdrängten Traumatisierung Ägyptens absieht, die nach J. Assmann durch eine Übertragung möglicherweise einer der Gründe für den späteren Antisemitismus darstellt.30 Bei Mose ist es genau umgekehrt. Als historische Figur ist er kaum zu ermitteln, vielleicht nur in Ex 1–19.31 Außer den unsicheren biblischen Berich29 30 31
J. Assmann, Moses, 34. Ebd., 71. F. W. Golka, Mose, 179.
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ten haben wir keine genaueren Informationen über seine historische Existenz. Seine Bedeutung für die Nachwelt, als Teil eines großen Mythos, ist demgegenüber aber umso größer. Er ist die zentrale Figur des Alten Testaments, auf die sich alles bezieht. Mose ist deshalb bis heute in fester „Erinnerung“ der späteren Generationen. Assmann formuliert dies kurz abschließend so: „Moses ist eine Figur der Erinnerung, aber nicht der Geschichte; Echnaton dagegen ist eine Figur der Geschichte, aber nicht der Erinnerung.“32 F. W. Golka hat in seinem Buch „Mose – Biblische Gestalt und literarische Figur“33 die Überlegungen J. Assmanns ausführlich vorgestellt. Dabei weist er darauf hin, dass dieser die Erinnerung an Mose und die wechselnden Mosebilder nicht innerhalb der biblischen Texte, sondern durch die antike und abendländische Geistesgeschichte hindurch bis heute, bis zu S. Freud, untersucht hat. „Er hat damit die Spur eines biblischen Themas außerbiblisch gesucht. Es wäre nun zu fragen, ob man die Methode der Gedächtnisgeschichte nicht auch innerbiblisch auf das Mose-Thema anwenden kann.“34 Und wenn man die Gedächtnisgeschichte innerbiblisch anwendet, müsste die Frage nach Golka dann lauten: „Welche Gruppen oder Institutionen in der Geschichte Israels bzw. des Judentums haben ein Interesse daran gehabt, sich in der Moseüberlieferung zu verankern, sich quasi in diese Überlieferung ‚hineinzuschreiben‘? Auch dies ist eine historische Fragestellung, sie bezieht sich nur nicht auf das dreizehnte, sondern auf spätere Jahrhunderte. Für welche Gruppen im späteren Israel wurde Mose zum Vorbild und Gewährsmann? Welche Gruppen und Institutionen im späteren Israel legten Wert darauf, ihre Autorität von Mose abzuleiten?“35
Die verschiedenen Gruppen und Institutionen, die sich in die Gestalt des Mose für ihre eigene Legitimation „eingeschrieben“ haben, kann man dann an den verschiedenen Rollen erkennen, die Mose zugedacht sind:36
32
33 34 35 36
J. Assmann, Moses, 18. Anm: Der Gedanke einer Unterscheidung von allgemeiner Geschichte und Gedächtnisgeschichte ist allerdings nicht ganz neu. Wenn z. B. M. Noth schreibt: „Die Überlieferungsgeschichte des Pentateuch ist selbst ein Stück Geschichte Israels“ (Überlieferungsgeschichte, 272), dann bringt er genau diesen Unterschied zur Sprache. J. Assmann ist allerdings der erste Autor, der diesen Komplex methodisch genauer untersucht hat. F. W. Golka, Mose, 64–74. Ebd., 72. Ebd., 180. Ebd., 180.
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Er ist der „charismatische Führer“, die „gesetzgeberische Autorität“, der „Erzprophet“, der „Erzpriester“ und hat schließlich auch eine „monarchische Rolle“. Diesen verschiedenen Funktionen kann man diejenigen Gruppierungen zuordnen, die offensichtlich an der Ausformung des Mose-Mythos mitgewirkt haben. F. W. Golka gibt hierzu einen entsprechenden Überblick und stellt die Interessengruppen vor. Diese lassen sich als Träger einer Gedächtnisgeschichte bei der Bildung der Mose-Tradition identifizieren. Zu nennen sind z. B. das Jerusalemer Obergericht, die israelitischen Könige (Joschija?), die konkurrierenden Priesterfamilien oder die Propheten. Sie alle haben an der Entstehung des Mosesbildes bis zur biblischen Endfassung mitgewirkt. Es ist nun ein naheliegender Gedanke, die von F. W. Golka vorgeschlagene innerbiblische Gedächtnisgeschichte auch auf andere Themen, z. B. die Patriarchen, anzuwenden. Nach dem bisher Gesagten ist dieser Schritt auch nicht allzu schwer. Wir hatten bereits gesehen, dass die drei Erzväter ursprünglich getrennte Gestalten waren, die auch mit unterschiedlichen religiösen Vorstellungen verbunden waren („Gott der Väter“). Im Laufe der Überlieferung sind sie dann aber zusammengewachsen und bilden heute im biblischen Endtext eine einheitliche Familie, mit Großvater, Vater und Sohn. Die jetzige Familien-Saga bildet den großen „Gründungsmythos“ Israels37, mit dem die gemeinsame Abstammung der Israeliten von einer Familie und vom ersten Patriarchen Abraham dokumentiert werden soll. Das Zusammenleben der verschiedenen Stämme erforderte auch ein Zusammenwachsen der einzelnen Traditionen. Dies war für die Identitätsbildung des Volkes Israel unumgänglich. Aber nicht nur die gemeinsame ethnische Abstammung war wichtig. Ebenso entscheidend war der Wunsch nach einer gemeinsamen Ableitung der Religion. Die unterschiedlichen Gottheiten der altisraelitischen Gruppen, die sich im biblischen Endtext noch in alten Namensbezeichnungen erhalten haben (vgl. den „Schrecken Isaaks“, den „Starken Jakobs“ oder die verschiedenen El-Namen, z. B. Ex 6,3 u. a.)38, mussten zusammengeführt und auf eine einzige Gründungsfamilie bezogen werden. Abraham wurde dabei, obwohl die Jakobtradition wahrscheinlich älter war, zum ersten Offenbarungsträger, der von Gott beauftragt wurde, in das versprochene Land zu ziehen. Er war damit der Garant der Kulturlandverheißung und musste dieses dann
37 38
E. Zenger, Einführung, 71. Vgl. A. Alt, Gott der Väter, 21, 44.
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auch gleichermaßen für alle israelitischen Stämme werden. Der Aufenthalt der Patriarchen in Kanaan war eine erste, stellvertretende Besitzergreifung des Landes, die sich dann im Exodus und in der Landnahme vollenden sollte. Gleichzeitig waren die Patriarchen auch die gemeinsamen Träger der Nachkommensverheißung und der Schutzzusage Gottes für alle Israeliten. Auch diese konnten nicht getrennt für Nord und Süd gelten, sondern mussten in einer gemeinsamen Trägerschaft zusammengefasst werden. Auf diese Weise konnten und mussten die verschiedenen Traditionen zusammenwachsen. Die Interessenlage war eindeutig. Die Gedächtnisgeschichte kommt auch hier zur Anwendung. Das Phänomen einer nachträglichen Identitätsbildung von Volksgemeinschaften kennen wir auch aus anderen Bereichen. Nach der so genannten „Völkerwanderung“ ab dem 4. Jh. n. Chr. kam es in Europa zu verschiedenen Reichsgründungen germanischer Völkerschaften, die aus z. T. friedlichen, z. T. aber auch kriegerischen Wanderbewegungen hervorgingen. Es bildeten sich die Reiche der Vandalen, der West- und Ostgoten, der Gepiden, Langobarden, Burgunder, Sachsen, Alemannen, Franken, Norer, Chauken usw., die sich auf entsprechende frühere Stämme dieses Namens aus ursprünglich anderen Bereichen zurückführten. Dies entsprach aber nicht den historischen Tatsachen. Die „Völkerwanderung“ bestand nur zu einem geringen Teil aus Wanderungen ethnisch geschlossener Gruppen, sondern war nach heutigem Kenntnisstand überwiegend eine allmähliche und unregelmäßige Einwanderung verschiedenster kleinerer Gruppen, die sich erst nachträglich zu ethnisch abgegrenzten Reichen zusammenfanden. Aber auch größere Gruppen oder ganze Stämme waren ethnisch nicht homogen i. S. einer „Blutsgemeinschaft“, sondern bildeten mehr eine Rechtsgemeinschaft, die offen war für neue Mitglieder.39 Deshalb ist es auch oft schwierig, die genaue Herkunft der wandernden Stämme festzustellen. Trotzdem gab es Geschichten und Berichte über eine bestimmte gemeinsame Herkunft, die sich, wie in Israel, nach und nach zu einem gemeinsamen „Gründungsmythos“ zusammenfanden. Deshalb ist z. B. die Herkunft der legendären Goten bis heute nicht restlos aufzuklären („Thule“/“Gotland“?).
39
Die Goten, Wanderer, Eroberer, Staatengründer, „Geschichte“ 6/2005, 20.
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Wenn wir uns demgegenüber wieder dem Übergang vom System der Stadtstaaten zu einem System dörflicher Gesellschaften im 12. Jahrhundert zuwenden, haben wir wieder verwertbare archäologische Fakten als Grundlage zur Verfügung. Die vielen Stadtstaaten lösten sich mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts weitgehend auf, was neue Siedlungsformen erforderlich machte. Dies war ein massiver Einschnitt in die damaligen Verhältnisse. I. Finkelstein sieht dies wie folgt: „In den letzten Jahren des 13. und zu Beginn des 12. Jahrhunderts v. Chr. machte die gesamte alte Welt einen dramatischen Wandel durch, als eine verheerende Krise die Königreiche der Bronzezeit davonfegte und eine neue Welt entstand. Es war eine der dramatischsten und chaotischsten Perioden in der Geschichte, während der alte Reiche zerbrachen und neue, aufsteigende Kräfte an ihre Stelle traten.“40 Die Gründe hierfür waren vielfältig. Wenn V. Fritz41 schreibt: „Die Gründe für diesen allgemeinen Rückgang sind unbekannt und aus den archäologischen Daten auch nicht zu ermitteln“, so ist er mit dieser Auffassung nicht auf dem neuesten Stand. Die Ursachen für den Untergang der Palast- und Stadtstaaten können ziemlich genau angegeben werden:
a) Klimakatastrophe Am Ende der Bronzezeit kann man im gesamten östlichen Mittelmeerraum einen massiven Wechsel des Klimas verzeichnen. Zwickel gibt eine ausführliche Zusammenfassung zu diesem Thema.42 Ausbleibender Regen führte in Palästina zu Dürreperioden, Ernteausfällen und Hungersnöten. Auch das Hethiterreich war von der Dürre betroffen. Es gab, völlig ungewöhnlich für die damalige Zeit, Hilfslieferungen von Getreide aus Ägypten nach Kleinasien43, was allerdings den Untergang Hattis nicht verhindern konnte. Ägypten selbst war von der Dürreperiode kaum betroffen, weil es über den Nil von den Regenfällen in Zentralafrika lebt. In Palästina war die Dürre dermaßen gravierend, dass die Ernährung der Bevölkerung, besonders in den Städten, nicht mehr gesichert war. Die Preise für Nahrungsmittel stiegen und wir haben es in dieser Zeit mit einem großen
40 41 42 43
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 97 (Hervorhebung vom Verf.). V. Fritz, Entstehung, 67. W. Zwickel, Zeit des Umbruchs, DAMALS, Das Magazin für Zeitgeschichte, 11/2008, 74. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 145.
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Flüchtlingsproblem zu tun. Hierüber geben etliche Urkunden aus der Spätbronzezeit Auskunft.44 Die Städte entvölkerten sich und konnten sich wirtschaftlich nicht mehr halten. Wie stark der Klimawandel war, kann man aus der Tatsache ersehen, dass der Wasserspiegel des Toten Meeres damals auf den Stand sank, den er heute wegen der zu großen Wasserentnahme aus dem Jordan erreicht hat.45 Es müssen extreme Verhältnisse geherrscht haben. Die Abhängigkeit Palästinas von ausreichenden Regenfällen war absolut.
b) Zusammenbruch des Fernhandels Im gesamten östlichen Mittelmeerraum bestand während der späten Bronzezeit ein weitverzweigtes, überregionales Netz von Handelsbeziehungen. Hauptbeteiligte waren Ägypten, Hatti und die Ägäis, einschließlich Kreta und Zypern.46 Von diesem System profitierten auch die Stadtstaaten in Syrien und Palästina. Die Levante war immer ein Durchgangsland für die Handelskaravanen. Zölle und Gebühren fielen an, aber auch Zahlungen für Versorgung und Unterkunft sowie Aufträge für die Handwerker. Als der internationale Warenverkehr, hauptsächlich wegen der Klimakatastrophe47, zum Erliegen kam, fielen diese Einkünfte fort. Die Städte waren nicht mehr lebensfähig, entvölkerten sich oder wurden leichte Beute bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Das gesamte Netz der verschiedenen teils kooperierenden, teils konkurrierenden Stadtstaaten brach zusammen. Wir haben ab dem 12. Jahrhundert einen dramatischen Abstieg der städtischen Bevölkerung zu verzeichnen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass dies nicht absolut galt. Einzelne Städte blieben erhalten, andere, wie z. B. Kinneret am See Gennesaret, blühten erst in der Eisenzeit richtig auf.48 Außerdem gab es die Pentapolis der Philister mit einer ausgesprochenen Stadtkultur, sowie die Phöniker an der nördlichen Küste. Man darf deshalb die aufgezeigte Entwicklung nicht zeitgleich für alle Regionen annehmen. Die Archäologen sind sich auch darüber einig, dass jedes Gebiet für sich sorgfältig zu erforschen ist, schon weil die geogra44 45 46 47 48
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 144. W. Zwickel, Eine Zeit des Umbruchs, 74. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 148; J. Kamlah, Dörfer – Die Entstehung Israels, 29. W. Zwickel, Eine Zeit des Umbruchs, 77. J. Kamlah, Dörfer, 33.
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phischen Unterschiede differenzierte, zeitlich versetzte Prozesse erwarten lassen.49 Die große Gesamtentwicklung war jedoch so, wie dargestellt. Sie entspricht auch der Entwicklung im griechischen Raum. Auch hier gab es in der Bronzezeit frühgriechische Palastzentren in Mykene, Tiryns, Pylos, Knossos, Theben, Milet u. a., die eine ähnliche zentrale Verwaltungsstruktur aufwiesen wie die Städte in Palästina. Bei ihnen kann man von einem „Seeimperium“, einer „Thalassokratie“, sprechen, weil die Schifffahrt wichtigstes wirtschaftliches und militärisches Rückgrat dieser Staaten war.50 Der Zusammenbruch der frühgriechischen Palaststaaten erfolgte ebenfalls ab dem 12. Jahrhundert. Die näheren Umstände sind archäologisch sehr intensiv erforscht worden.51 Die Zerstörungsschichten lassen auf gezielte Überfälle und Invasionen von außen schließen. Hierfür werden in erster Linie die sog. Seevölker aus der Ägäis verantwortlich gemacht, die auch in Palästina eindrangen. In jedem Fall folgen auf die glanzvolle Zeit von Mykene die „dunklen Jahrhunderte“, in der wir zunächst nur eine dörfliche Besiedlung verzeichnen können, bis dann ab dem 9./8. Jahrhundert die verschiedenen Kleinstaaten, die „poleis“, wie Athen, Theben oder Sparta, entstehen.
c) Die Seevölker Von den sog. Seevölkern tauchen in der Bibel die Philister als ständige Gegner der Israeliten auf. Diese siedelten in Ekron, Gad, Gaza, Aschdod und Aschkalon, der sog. philistischen Pentapolis. Sie wurden erst von Nebukadnezar vertrieben.52 Diese „Seevölker“ waren eine weitere Ursache für die großen Änderungen zu Beginn der Eisenzeit. Ihre genaue Herkunft ist nicht völlig geklärt, weil es sich um keine einheitliche Gruppierung, sondern um verschiedene Ethnien aus verschiedenen Gegenden handelte. Sie stammen wahrscheinlich überwiegend aus der Ägäis und drangen als Invasoren nicht nur in Palästina, sondern auch in Ägypten ein. Ramses III. (1188–1155) konnte diese Invasion nur mit Mühe abwehren, musste aber die Ansiedlung der „Peleset“, der Phi49 50 51
52
D. Jericke, Woher kam das Volk Israel, WuB 3/2008, 21. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 148. G.A. Lehmann, Die mykenische Kultur und ihr Untergang, DAMALS – Das Magazin für Geschichte und Kultur, 10/2008, 16. E. Yehuda, Die Philister, Abenteuer Archäologie, 4/2004, 31.
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lister, an der südlichen Küste Palästinas zulassen, also in einem Bereich, der eigentlich zum ägyptischen Einflussbereich gehörte.53 Wieweit diese „Seevölker“ nun für den Untergang der Stadtstaaten in Palästina verantwortlich waren, ist streitig. Die Zerstörung etlicher, bereits geschwächter Städte geht sicherlich auf ihr Konto; N. P. Lemche warnt aber davor, ihren Beitrag zu überschätzen.54 Für ihn war in erster Linie die innere Entwicklung Syriens und Palästinas entscheidend. Trotzdem muss man sie als eine der Ursachen für den Umschwung der Bevölkerungsstruktur betrachten. Die „Seevölker-These“ ist in letzter Zeit wieder zunehmend in die Diskussion geraten. Es wird darauf verwiesen, dass der Untergang der Stadtkulturen nicht primär auf Eroberungszüge von Seevölkern zurückzuführen sei, sondern dass die Ursachen vielfältiger Natur seien und dass viele Stadtstaaten auch erst später und ohne kriegerische Auseinandersetzungen verlassen wurden.55 Diese Diskussion bringt aber nichts wirklich Neues. Es war immer schon allgemeiner Konsens, dass die „Seevölker“ nur eine von mehreren Ursachen waren.56 Die zwangsläufige Folge des Untergangs der Stadtstaaten waren neue Besiedlungsformen. Im westjordanischen Bergland entstanden kleine dörfliche Siedlungen, die man inzwischen mit Hilfe sehr aufwendiger Oberflächenuntersuchungen, den sog. Surveys, ermittelt hat.57 Allein im westjordanischen Bergland, dort wo später die Reiche Israel und Juda entstehen sollten, fand man bisher rund 300 derartiger Siedlungen. Das verdeutlicht folgende Karte58:
53 54 55 56 57 58
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 149. Ebd., 149. Vgl. J. Millek u. J. Kamlah in WUB 3/2015, 74. M. Sommer, Narren in Purpur, 37. J. Kamlah, Entstehung, 29; I. Finkelstein, Keine Posaunen, 121. C. Frevel, Geschichte, 396.
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Die Arbeiten Finkelsteins, die nach N. P. Lemches Auffassung „für die Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung Palästinas in der Früheisenzeit ……… unentbehrlich sind“59, werden auch von A. Knauf als zutreffend übernommen60. Auch W. Zwickel und J. Kamlah verwerten sie bei ihren eigenen Untersuchungen.
59 60
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 88. A. Knauf, Schreiber über Schreiber, 58.
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Die durch die Oberflächenuntersuchungen entdeckten zahlreichen Dörfer stimmen in ihrer Struktur weitgehend überein.61 Die Häuser sind nur für Kleinfamilien bis zu 5 Personen, größere Häuser für maximal 10–14 Personen gedacht. Im Durchschnitt bildeten 5–10 derartiger Familien ein Dorf, das damit nur 50–140 Einwohner hatte. Es wurde in erster Linie Ackerbau (Getreide) und zusätzlich ein wenig Viehzucht betrieben, also nur für die bäuerliche Selbstversorgung der Familie.62 Es war eine friedliche Besiedlung ohne Waffen und ohne Verteidigungsanlagen. Ein soziales Gefälle ist nicht erkennbar, so dass wir es offenbar mit einer weitgehend egalitären Gesellschaft zu tun haben. Über Kult, Religion und Bestattungsriten lässt sich dagegen archäologisch kaum etwas ermitteln. Kulträume oder kultische Gegenstände wurden nicht gefunden. Hier sind wir auf Vermutungen angewiesen. Zur allgemeinen Kultur und Lebensweise können die Archäologen dagegen etwas mehr beitragen. Zisternenbau, Vorratshaltung, Architektur (Vier-Raum-Häuser mit Innenhof), Keramik usw. sind genau untersucht und geben ein sehr präzises Bild vom Lebenszuschnitt dieser Dörfer. Und in diesen Dörfern „lebten die ersten Israeliten“.63 Aber wer waren die ersten Israeliten und woher kamen sie? Da es sich um Neusiedlungen in bisher nicht fest bewohnten Regionen handelte, waren die Neusiedler vorher woanders beheimatet. Und hier kommen die vielen Landnahmemodelle in die Diskussion, über die in jedem Lehrbuch ausführlich berichtet wird. W. Zwickel stellt allerdings fest: „Unter den derzeit lieferbaren deutschsprachigen Werken gibt es jedoch kein Lehrbuch, das den aktuellen Stand der Forschung zur Landnahmezeit widerspiegelt.“ 64 Die meisten Modelle sind überholt. Angesichts der neueren Forschungsergebnisse kann man z. B. nicht mehr von einem Einwanderungs- oder gar Eroberungsmodell ausgehen. Die Albright-Schule ist insoweit überholt. Es gibt um 1200 keine zeitgleichen Zerstörungsschichten in Palästina, die auf eine gewaltsame „Landnahme“ eindringender Gruppen schließen lassen, insbesondere nicht in Jericho, Ai oder Lachisch. Hier nützen auch keine Überlegungen zur Chro-
61
62 63 64
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 123. Finkelstein gibt eine sehr ausführliche und anschauliche Darstellung der Ergebnisse der „Surveys“ im Bergland. Die Lebensweise der neuen Siedler kann anhand der archäologischen Erhebungen erstaunlich genau wiedergegeben werden. J. Kamlah, Entstehung, 31. Ebd., 123. W. Zwickel, Einführung, 56.
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nologie, wie dies von verschiedenen Autoren versucht wird, indem sie eine „Landnahme“ in die Zeit um 1400 verlegen.65 Dieses Datum hätte den Vorteil, dass wir für diese Zeit tatsächlich Zerstörungsschichten z. B. in Jericho finden, die mit einer Eroberung durch „Israeliten“ zusammenpassen würden. Es entspricht auch der Zeitangabe aus 1 Kön 6,1 und könnte außerdem besser erklären, warum bereits auf der „Israel-Stele“ von Pharao Merenptah (1213–1204) in hieroglyphischer Schrift der Name „Israel“ auftaucht, als Gebiets- oder Volksname. Für alle diese Überlegungen müsste dann allerdings auch die ägyptische Chronologie umgestellt werden, damit der Exodus zeitlich in die Reihe der Pharaonen hineinpasst. Eine „Landnahme“ schon um 1400 ist aber völlig indiskutabel. Sie würde nicht in die historische Landschaft Palästinas und der umliegenden Länder passen. Auch das damals noch starke Ägypten hätte eine derartige Invasion in seine Provinz Kanaan sicher nicht reaktionslos hingenommen, ganz abgesehen davon, dass ein derartiger Vorgang in irgendeiner schriftlichen Quelle aus Ägypten, Mesopotamien oder Hatti dokumentiert worden wäre. Diskussionswürdig sind dagegen die anderen Theorien, wie das Weidewechsel-/Transhumanz-Modell, Migrations- oder Penetrations-Modell oder das Revolutions-Modell. Aber auch diese sind inzwischen überholt. Nach heutigem Stand der Forschung muss man davon ausgehen, dass es keine Zuwanderung von außen gab, sondern dass die neuen Siedler Einheimische waren, die nur ihre Lebensweise gewechselt hatten und sesshaft wurden, und zwar friedlich, ohne Eroberung oder Revolte. Die sog. materielle Kultur der neuen Bewohner ergibt, dass es keine Fremden waren. Sie kamen nur in freies Land, das jetzt ohne Vertreibung von Vorbewohnern in Nutzung genommen werden konnte. „Die Vorfahren der früheisenzeitlichen Dorfbewohner sind demnach mehrheitlich nicht von außen nach Palästina eingedrungen, sondern stammen aus dem Kulturland selbst.“66 D. Jericke formuliert es kürzer: „Woher kam das Volk Israel? Die neueste Antwort lautet: Es war schon immer da.“ 67 Die Frage ist aber, wo die Dorfbewohner vorher gewohnt haben. Waren sie ehemalige Bauern und Städter, also sesshaft, oder Nomaden? Die Meinungen 65
66 67
Vgl. J. J. Bimson u. a. mit mehreren Beiträgen in dem aufwendig gestalteten Sammelband von P. v. d. Veen / U. Zerbst (Hrsg.), Biblische Archäologie am Scheideweg? Für und Wider einer Neudatierung archäologischer Epochen im alttestamentlichen Palästina, Holzgerlingen 2002; sowie in U. Zerbst / P. v. d. Veen (Hrsg.), Keine Posaunen vor Jericho?, Holzgerlingen 2005. J. Kamlah, Entstehung, 30. D. Jericke, Woher kam das Volk Israel, WUB 3/2008, 16 (Hervorhebung vom Verf.).
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hierüber sind nicht einheitlich. I. Finkelstein68 geht davon aus, dass sie überwiegend nomadischen Ursprungs waren, weil die neuen Dörfer im Oval, also wie ein beduinisches Zeltlager, mit einer freien Fläche in der Mitte, sozusagen einem Hof, angelegt wurden. Als Beispiel dient ein Ort namens IzbetSartah, von dem I. Finkelstein die folgende Abbildung69 vorlegt, wobei allerdings nur die dunkel ausgezeichneten Teile tatsächlich vor Ort gefunden wurden. Das Übrige ist eine Rekonstruktion.
From THE BIBLE UNEARTHED: Archaeology’s New Vision of Ancient Israel and the Origin of Its Sacred Texts by Israel Finkelstein and Neil Asher Silberman. Copyright © 2000 by Israel Finkelstein and Neil Asher Silberman. Reprinted by permission of Free Press, a Division of Simon & Schuster, Inc. All rights reserved.
J. Kamlah70 ist anderer Ansicht. Er bezweifelt, daß man die gefundenen Reste von Izbet-Sartah zum Oval ergänzen könne. Im Übrigen sei bisher kein weiteres Dorf in dieser Form gefunden worden. Er geht davon aus, dass es sich überwiegend um Bauern und Städter gehandelt hat, ohne allerdings nicht sesshafte Teile ausschließen zu wollen. Auch Jericke sieht eher Städter: „Eine Überprüfung des archäologischen Materials zeigt, daß sich die materielle Kultur der frühen Eisenzeit weniger stark von derjenigen der bronzezeitlichen Städte unterscheidet, als angenommen. So läßt sich die Annahme erhärten, daß die neu entstandenen Siedlungen im Bergland von Menschen gegründet 68 69 70
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 127. Ebd., 127. J. Kamlah, Entstehung, WUB, 3/2008, 30.
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wurden, die vorher in den bronzezeitlichen Städten lebten oder engen Kontakt mit diesen Städten pflegten.“71 V. Fritz72 und N. P. Lemche73 gehen demgegenüber wieder mehr von nomadischen Gruppen aus, wobei N. P. Lemche besonders auf die Hapiru und die Schasu-Nomaden hinweist. Gemeinsam ist allen Autoren aber die Auffassung, dass die „Proto-Israeliten“ Bewohner des Lands Kanaan waren, die wegen des Niedergangs der Städte neuen Siedlungsraum suchten. I. Finkelstein weist noch darauf hin, dass die von ihm als ehemalige Nomaden gesehenen Dorfbewohner zu der neuen Besiedlung deswegen veranlasst wurden, weil sie als Hirten keine eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse (Getreide, Wein, Oliven) produzierten, sondern auf Tausch und Handel mit Sesshaften angewiesen waren. Da diese Handelspartner nunmehr weitgehend wegfielen, mussten sie selbst das Fehlende anbauen und wurden so sesshaft.74 Diese vielen einzelnen Dörfer waren weitgehend autark. Da offenbar keine kriegerischen Aktivitäten zu befürchten waren, gab es zunächst auch keine staatlichen Zusammenschlüsse. Dies geschah erst nach und nach. Aus Kleinfamilien wurden Großfamilien, es bildeten sich Sippen oder „lineages“, die sich dann zu Stämmen zusammenschlossen. Aus diesem Stämmesystem entstanden dann größere Einheiten, aber nicht wieder die alten Stadtherrschaften, sondern kleine Flächenstaaten, die mehrere Stämme umfassten. Dies waren Israel im Norden und Juda im Süden, sowie östlich Ammon, Moab und Edom. Die drei letzteren haben die gleiche demographische Entwicklung durchlaufen wie ihre beiden israelitischen Nachbarn.75 Ihre Entstehung ist identisch. Ein schon fast skurriler Unterschied besteht allerdings doch. In Israel und Juda gab es von Anfang an, auch schon in der Zeit der Dorfgründungen, keine Schweine. Sie wurden nicht gegessen und auch gar nicht erst gehalten. Während die Archäologen in Ammon, Moab und Edom Schweineknochen in Mengen fanden, fehlen diese im Westjordanland völlig. Für dieses Phänomen gibt es keine archäologische Erklärung. Klima und Boden waren weitgehend gleich. I. Finkelstein vermutet den Beginn einer Identitätsbildung durch
71 72 73 74 75
D. Jericke, Woher kam das Volk Israel?, WUB 3/2008, 20. V. Fritz, Entstehung, 118. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 149. I. Finkelstein, Keine Posaunen, 134. Ebd., 135.
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Abgrenzung in den Essgewohnheiten.76 In letzter Zeit sollen allerdings doch Schweineknochen gefunden worden sein. Die geschilderten Vorgänge in Palästina kann man als „Deurbanisierung“ mit anschließender „Retribalisierung“77 bezeichnen. Dabei ist beachtenswert, dass diese Prozesse von 1200 nicht einmalig waren, sondern sich bereits vorher schon zweimal ereignet hatten. Es gab also insgesamt dreimal den Wechsel von einer urbanen zu einer bäuerlichen oder nomadischen Gesellschaft. I. Finkelstein gibt folgende Übersicht:78 Epoche
Datum
Hauptmerkmale
Frühe Bronzezeit
3500–2200 v. Chr.
Erste Besiedlungswelle; ca. 100 Orte nachgewiesen
Zwischenzeit
2200–2000 v. Chr.
Krise; die meisten Orte werden aufgegeben
Mittlere Bronzezeit
2000–1550 v. Chr.
Zweite Besiedlungswelle; ca. 220 Orte nachgewiesen
Spätbronzezeit
1550–1150 v. Chr.
Krise; nur ca. 25 Orte nachgewiesen
Eisenzeit I
1150–900 v. Chr.
Dritte Besiedlungswelle; ca. 240 Orte nachgewiesen
Eisenzeit II
900–586 v. Chr.
Besiedlung wächst auf mehr als 500 Orte an (8. Jahrhundert v. Chr.)
Die Besiedlungswellen im Bergland J. Kamlah79 stellt zu diesem Thema ein „Langzeit-Entwicklungsmodell“ vor, aus dem sich die wechselnden Anteile der unterschiedlichen Bevölkerungen ergeben:
76 77 78 79
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 136. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 104. I. Finkelstein, Keine Posaunen, 130. J. Kamlah, Entstehung, 31.
100
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Abbildung aus: Jens Kamlah: „Wohlauf, lasst uns eine Stadt bauen“ (Gen 11,4). Städtische Lebensweise als Ressource in der Welt des Alten Testaments, in: J. Kampmann / C. Schwöbel (ed.): Die Stadt (Theologie interdisziplinär; Neukirchen Vluyn; im Druck), Abb. 1.
Er spricht von einer „zyklischen Deurbanisierung“. Ob es sich dabei allerdings um einen automatischen Zyklus handelt, ist zu bezweifeln. Auslöser für den Wechsel um 1200 war in erster Linie der Klimawandel. Was 2200–2000 und 3200 die Ursachen waren, ist nicht genau bekannt. Es kann daher auch eine rein zufällige Abfolge gewesen sein. Noch einen weiteren Aspekt bringt N. P. Lemche mit dem Hinweis auf den ständigen, grundsätzlichen Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie oder dem „Kampf zwischen der Wüste und dem Kulturland.“80 Ab 1200 verlieren die Zentren, also die Städte, die Macht und geben sie an die Peripherie, die Dörfer und Stämme ab, die dann ihrerseits wieder ab 1000, mit Beginn der Staatenbildung, an Bedeutung verlieren und sich in die neuen Staaten eingliedern müssen.
3.
Ergebnis
Dieser historische Abriss war erforderlich, weil es um die Frage geht, ob das apodiktische Recht in seiner Entstehung oder Tradierung in eine israelitische Frühzeit zurückverfolgt werden kann. Dabei sind wir allerdings auf Spekulationen angewiesen. Das apodiktische Recht haben wir nur in der Endfassung 80
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 104.
II. Das geschichtliche Problem
101
der biblischen Texte. Auch wenn wir hinter den masoretischen Text zurückgehen und die Septuaginta, den Samaritanus oder die unterschiedlichen Qumrantexte überprüfen, haben wir trotzdem immer nur den relativ späten biblischen Text. Außerbiblische Belege über ein frühes – israelitisches – apodiktisches Recht gibt es nicht. Wir haben keine Möglichkeit, das apodiktische Recht hinter die biblischen Texte zurückzuverfolgen. Auch die vielen Versuche, einen „Urdekalog“ oder frühe Reihen von Prohibitiven textkritisch zu ermitteln, können keinen Erfolg bringen. Wir haben aber die Möglichkeit, aus den archäologischen und historischen Erhebungen Erkenntnisse über diejenigen Gruppierungen zu gewinnen, die die Vorfahren der späteren Israeliten waren und auf deren Territorien dann ab 1000 die Reiche Israel und Juda entstanden. Es ist dann auch zu überlegen, ob hier ein besonderes Recht, nämlich das apodiktische, als eigene Gattung denkbar ist. Die ersten Israeliten im westjordanischen Bergland waren Dorfbewohner, die Ackerbau betrieben, verbunden mit etwas Viehzucht, und zwar hauptsächlich Schafe und Ziegen. Sie hatten dort neu gesiedelt, um sich eine neue Lebensgrundlage zu schaffen, die ihnen durch den Verfall der Stadtkulturen entzogen worden war. Und sie stammten überwiegend aus dem alten Kulturland Kanaan. Von eingewanderten Bevölkerungsteilen kann man nur in geringem Maße ausgehen. Dabei handelte es sich allerdings nicht um eine Umsiedlung von einem früheren Dorf in ein neues Dorf. Es gab in der Spätbronzezeit, also in der Zeit vor 1200, in Palästina kaum Dörfer, obwohl die große Mehrheit der Bevölkerung Bauern waren.81 Aus Gründen, die archäologisch nicht zu ermitteln sind, lebten sie im direkten Umkreis der Städte, teilweise in den Städten selbst als sog. Ackerbürger. Sie standen also, von ihrer Herkunft her, ethnologisch und soziologisch nicht auf einer Vorstufe vor einer urbanen Kultur, sondern entstammten ihr direkt. Dass sie sich in ihrer neuen Umgebung verselbständigten und nach und nach eine eigene Identität im Rahmen von segmentären Gesellschaften entwickelten, ändert hieran nichts. Es bestanden außerdem nach wie vor Beziehungen zu den umliegenden, noch intakten urbanen Regionen. Auf diesen Umstand wird von J. Kamlah ausdrücklich hingewiesen. Am Beispiel der sog. Rollkragenkrüge (collared rim jars) und des Vier-Raum81
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 137.
102
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Hauses kann dies archäologisch belegt werden.82 „Daher ist es wahrscheinlich, daß die meisten der Menschen, die in der frühen Eisenzeit im Gebirge Dörfer gründeten, vorher sesshaft waren. Die Israeliten sind damit als ethnische Gruppe aus der kanaanäischen Kultur hervorgegangen. Ihre ethnische Identität bildete sich erst am Ende der frühen Eisenzeit heraus.“83 Anders könnte es sich bei denjenigen Neusiedlern verhalten, die vorher nicht sesshaft waren und zu denen auch die Hapiru oder die Schasu-Nomaden gehören könnten. I. Finkelstein geht, wie (S. 112) dargestellt, davon aus, dass sogar die Mehrheit der Siedler aus derartigen Gruppierungen bestand. Nomadisch lebende Menschen mussten sich ihr Getreide selbst anbauen, nachdem die bisherigen Bezugsquellen, die Städte mit ihren sesshaften Bauern, am Ende der Bronzezeit wegfielen. Aber auch diese Gruppen stammten nicht von außerhalb, sondern aus Kanaan. Auch sie standen vorher, wenn auch nur in lockerer Form, im allgemeinen kulturellen Kontext der Stadtstaaten in Kanaan. Sie hatten Kenntnis von deren Kultur, unabhängig davon, wie viel sie selbst von dieser Kultur praktizierten. Die Frage des Zahlenverhältnisses von nicht sesshaften zu auch schon vorher sesshaften Siedlern kann deshalb nicht sehr entscheidend ins Gewicht fallen. In diesem Zusammenhang ist noch ein Hinweis von N. P. Lemche von Bedeutung. Er weist darauf hin, „daß sich die vorderorientalische Gesellschaft nicht in die drei ‚Idealtypen‘ Nomade, Bauer und Stadtbewohner aufspalten läßt.“84 Man müsse vielmehr mit einem „polymorphen Gesellschaftsmodell“ mit „sozioökonomischen Mischformen“ rechnen. Die orientalische Gesellschaft sei bis heute „durchlässig“. Ein Wechsel zwischen den verschiedenen Lebensformen sei, wenn die Verhältnisse es erforderlich machten, ohne Weiteres möglich. Man könne deshalb keine grundsätzliche Unterscheidung der Gesellschaftsgruppen machen. Der Gegensatz zwischen einem freien Nomadenleben und einer erdgebundenen bäuerlichen Existenz ist also nicht grundsätzlicher Natur. Beide Lebensformen sind austauschbar. Auf den gleichen Aspekt weist H. Donner bei der Erörterung des Nomadentums hin. Die heute bekannten beduinischen Nomaden hätten sich erst im 5. Jahrhundert und später gebildet. Kennzeichnend sei regelmäßiger Weidewechsel (Transhumanz) und eine eigenständige Kultur und Lebensweise.85 82 83 84 85
J. Kamlah, Entstehung, 32. Ebd., 30. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 97 u. 40. H. Donner, Geschichte, 54; (vgl. auch R. Neu, Die Bedeutung der Ethnologie für die Alttestamentliche Forschung, Bd. 1, 15).
II. Das geschichtliche Problem
103
Diese Lebensform dürfe nicht ohne weiteres bei allen nicht sesshaften Gruppen Ende des 2. Jahrtausends vorausgesetzt werden. Man müsse vielmehr mit den unterschiedlichsten Herkünften rechnen, nämlich „Jäger, Sammler, Kleinviehzüchter, Ziehbauern, wandernde Kesselflicker, Zigeuner, outlaws aus den Städten u. a. m.“ 86 Die Gruppe der Nichtsesshaften sei durchlässig und nicht homogen. An dieser Stelle ist noch ein weiterer, etwas überraschender Hinweis von N. P. Lemche wichtig.87 Es geht um die fahrenden Sänger, umherziehende Künstler, die die sog. Volksliteratur weitertrugen. Dabei handelt es sich um Epen, Märchen oder Anekdoten, von denen es gerade in schriftlosen Gesellschaften eine große Anzahl gibt. So sind die ersten David-Geschichten und viele andere Erzählungen zunächst nur mündlich tradiert worden.88 Sie wurden erst wesentlich später schriftlich fixiert. Da diese Märchenerzähler nicht nur in den Städten und Residenzen, sondern auch auf dem flachen Lande umherzogen, kann man sich vorstellen, wie viel Kulturgut auf diese Weise vermittelt wurde. Auch hier haben wir eine sehr feste Anbindung an die umliegende Zivilisation und an zurückliegende Erzähltraditionen. Auf diesem Wege dürften auch sehr viele Rechtsvorstellungen tradiert worden sein. Nach allem kann man als Ergebnis festhalten, dass die Vorfahren der Israeliten Kanaanäer waren, die aus dem Kulturland Palästina stammten. Sie waren nicht von außerhalb zugezogen, sondern standen in kultureller Kontinuität innerhalb ihres bisherigen kanaanäischen Umfeldes. Ihnen war die Kultur der früheren Stadtstaaten, einschließlich deren Rechtsvorstellungen, vertraut. Diese Rechtsauffassungen gehörten in den allgemeinen vorderorientalischen Rechtskreis, der kasuistisch gestaltet war, weil komplexe, städtische Verhältnisse zu regeln waren. Apodiktisches Recht als eigene übergeordnete Rechtsgattung war demgegenüber im vorderen Orient nicht bekannt. Der König als Gesetzgeber handelte zwar in göttlichem Auftrag; er war verpflichtet, Ordnung und Gerechtigkeit in seinen Ländern zu sichern. Trotzdem waren es, wie aus dem Codex Hammurabi ersichtlich, seine eigenen profanen Gesetze, die keine göttliche Offenbarung für sich in Anspruch nahmen.89
86 87 88 89
H. Donner, Geschichte, 57. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 161. I. Finkelstein, David und Salomo, 37. R. Albertz, Theologisierung, 124.
104
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Wenn trotz dieses Umfeldes in Israel apodiktisches Recht entstand und schließlich zum Grundbestand des Dekalogs, des Bundesbuches, des Heiligkeitsgesetzes und des Deuteronomiums gehört, so muss es sich um eine wesentlich spätere Entwicklung handeln, die mit der zunehmenden Theologisierung des Rechts zusammenhängt.90 Ein früheres allgemeines Sippenethos91 oder andere Vorformen waren nur Ausgangspunkt und Material für die spätere Ausformung der apodiktischen Rechtssätze. Erst eine präzise Formulierung und vor allem die Einbindung in einen größeren rechtlichen Zusammenhang macht apodiktische Redeweise zu apodiktischem Recht.
Exkurs 2: Die Historizität des Exodus? Wenn man sich die dargelegten neueren historischen und archäologischen Ergebnisse über die Besiedlung des nördlichen Israels und des südlichen Judas vor Augen führt, bleibt kaum Raum für eine Einwanderung größerer Bevölkerungsteile aus Ägypten oder dem übrigen Umland. Wie konnte dann aber der Exodus unter JHWH’s Führung das zentrale Thema des Pentateuch werden, auf das sich letztlich alles bezieht? M. Noth hat dieses m. E. sehr überzeugend beantwortet: „Daß Jahwe, der Gott Israels, derjenige sei, ‚der Israel aus Ägypten herausgeführt hat‘, ist einer der elementarsten und der am häufigsten wiederholten Glaubenssätze im Alten Testament. …………. Auf die in diesem Glaubenssatz ausgesprochene Tat Gottes hat Israel seine Existenz und seine Sonderstellung im Kreise der Völker zurückgeführt.“92 Diese Aussage sei „schon sehr früh zu einer fest geprägten Formel geworden.“ Es sei „das Urbekenntnis Israels“ und auch zugleich die „Keimzelle der ganzen großen späteren Pentateuchüberlieferung“.93 Trotzdem weiß Noth, dass es sich historisch gesehen um keine gesamtisraelitische Tradition, sondern nur um die Erlebnisse kleinerer Gruppen gehandelt haben kann. Noth geht zutreffend davon aus, dass sich Israel und Juda und zuvor die einzelnen Stämme erst im Inland gebildet haben und dass deshalb keine „Israeliten“ die ursprünglichen, historischen Träger der Exodustradition gewesen sind, sondern nur einzelne Gruppen oder Sippen, die noch keinen
90 91 92 93
R. Albertz, Theologisierung, 128. E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft, 110. M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 50. Ebd., 52.
II. Das geschichtliche Problem
105
der späteren Stämme bildeten. Noth führt dann aus, „daß die Sippen, die die Dinge in Ägypten und am Meer erlebt hatten, später hie und da in die Verbände der sich bildenden landnehmenden israelitischen Stämme sich eingliederten, …………, so daß das ihnen Begegnete in weitere Kreise Israels getragen und – durch seine Einmaligkeit und Gewalt auch zunächst Unbeteiligte mit fortreißend – zum grundlegenden Glaubensbesitz aller israelitischen Stämme wurde.“94 So könnte man sich die Entstehung und Einbindung des Exodus-Themas vorstellen. Denkbar wäre m. E. aber auch, dass diese Berichte nur indirekt, und zwar in Verbindung mit dem JHWH-Kult, in Israel Verbreitung fanden. Die Exodus-Tradition könnte schon länger vorher mit dem JHWH-Glauben in Verbindung gestanden haben und hätte sich dann als Teil des JHWHGlaubens in Israel festgesetzt, als die JHWH-Religion sich allmählich vom Süden und vom Ostjordanland her in Israel ausbreitete. In jedem Fall sollte man aber davon ausgehen, dass der Exodus-Tradition ein tatsächliches historisches Ereignis zugrunde liegt und dass es sich nicht um eine bloße Fiktion späterer Generationen handelt (vgl. auch Exkurs 3). Eine wenn auch noch so kleine Gruppe von Flüchtlingen könnte die Exodus-Tradition nach Israel gebracht haben, wo sie dann in Verbindung mit dem JHWH-Glauben nach und nach gesamtisraelitisch wurde, weil beides, JHWH-Glaube und Exodus, dem Wunsch nach einer freien, egalitären Gesellschaft die theologische Grundlage geben konnte (vgl. auch S. 105). Die ersten Siedler waren freie, selbständige Bauern und Viehhalter in einem lockeren Familien- und Stammesverband, ohne staatliche Ordnung und ohne Feudalsystem. Es handelte sich um eine egalitäre Gesellschaft, die auf die Wahrung ihrer individuellen Freiheit angewiesen war. Anders wäre m. E. die spätere zentrale Bedeutung von Exodus und Schilfmeer nicht zu erklären. So konnte dann auch die Verteidigung der Freiheit Motivation und Anliegen des Dekalogs werden, ein Anliegen, das auch alle anderen Verfassungen aus späterer Zeit antreibt.
94
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 53.
106
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Exkurs 3: Bauern, Hirten und Nomaden Die ersten Siedler, die im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. im brachliegenden westjordanischen Bergland neue Dörfer gründeten und damit zu Stammvätern des späteren Juda und Israel wurden, kamen nicht von außerhalb, sondern aus Kanaan. Hierüber besteht in der heutigen Forschung allgemeiner Konsens.95 Es handelt sich nicht um Gruppierungen, die aus dem Umland nach Palästina eingewandert oder kriegerisch eingedrungen waren, sondern um Personen, die aus der vielschichtigen Bevölkerung des Inlandes stammten. Diskutiert wird nur die Frage, ob und in welchem Umfang der JHWH-Glaube und die Exodustradition von einer auswärtigen Gruppe in das werdende Israel eingebracht wurden.96 E. A. Knauf hat zu diesem Thema einen sehr konkreten Vorschlag.97 Nach ihm vermittelte eine in Ägypten aufhältliche Midianiter-Gruppe einer nach dort geholten palästinischen Söldnergruppe das Lied der aus Midian stammenden Mirjam, in dem JHWH und der Untergang von ägyptischen Streitwagen gefeiert wird (Ex 15, 21). Diese Inhalte wurden von den später aus Ägypten flüchtenden Söldnern als eigenes Erleben übernommen und mit dem eigenen Exodus verbunden. JHWH und das Schilfmeer gelangten auf diese Weise nach Palästina und wurden dort nach und nach religiöses und historisches Gemeingut der sich im Bergland formierenden Stämme. Diese und andere Hypothesen basieren auf der Überlegung, dass eine so zentrale Überlieferung wie der Exodus und der damit untrennbar verbundene Gott JHWH keine reine Fiktion sein können, sondern einen historischen Rückhalt haben müssen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Überlieferung ohne einen historischen Kern entstanden sein könnte, so dass wir insofern mit einer „Ägypten-Gruppe“98 unter den Begründern der neuen Stammesgebiete im Bergland Juda und Israel rechnen müssen. Aber abgesehen von einer solchen kleinen, wenn auch wichtigen Außengruppe kamen nach heute einhelliger Meinung alle frühen Siedler direkt aus Kanaan und standen damit zwangsläufig in kultureller Anbindung an die größtenteils untergegangenen, z. T. aber auch weiterbestehenden kanaanäischen Stadtstaaten und deren vorderorientalische Lebensweise. 95
96 97 98
H. Donner, N. P. Lemche, V. Fritz, J. Kamlah, D. Jericke, I. Finkelstein, W. Zwickel, E. A. Knauf u. a. Vgl. H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 147. E. A. Knauf, Midian, 145. H. Donner, Geschichte, 97.
II. Das geschichtliche Problem
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Mit dieser Feststellung ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, aus welchem Teil Palästinas bzw. aus welcher Bevölkerungsgruppe die neuen Siedler kamen. Dies war bereits im geschichtlichen Teil (II.2.) erörtert worden. Kamen die Bewohner der neuen Siedlungen aus dem Bereich der Stadtstaaten oder gehörten sie zu nicht sesshaften Gruppen, vielleicht nomadischen Ursprungs? Die Meinungen hierzu sind geteilt. Während einige Autoren (z. B. I. Finkelstein und V. Fritz) wegen der ovalen, an Zeltlager erinnernden Bauweise der kleinen Dörfer mehr an eine nomadische Herkunft denken, sehen andere (z. B. J. Kamlah) wegen kultureller Übereinstimmungen (Vierraumhaus, Keramik) einen überwiegend früher sesshaften städtischen Bevölkerungsanteil. Die meisten Autoren gehen allerdings von einer gemischten Herkunft aus. Bei dieser Frage sind wir weitgehend auf Vermutungen angewiesen, da insoweit präzise archäologische oder historische Belege fehlen.99 Man kann allerdings Rückschlüsse aus der allgemeinen Bevölkerungsstruktur Palästinas vor der Landnahme ziehen. Dabei haben wir eine grobe Einteilung in drei größere Gruppen: Stadtbewohner, Hapiru und (Schasu-)Nomaden.
1. Stadtbewohner Der größte Teil der Stadtbewohner bestand aus Ackerbauern, die teilweise auch Viehzucht betrieben. Im palästinischen Raum haben wir nämlich die Besonderheit, dass die Stadtstaaten der Bronzezeit, also bis zum 12. Jahrhundert, keine umliegenden Dörfer hatten. Die Bauern wohnten vielmehr innerhalb des Stadtbezirks und bewirtschafteten von hier aus ihre vor den Toren der Stadt liegenden Ländereien, wobei man sich die einzelnen Städte auch nicht allzu groß vorstellen darf.100 Diese Bauern waren Ackerbürger. Als dann ab dem 12. Jahrhundert die Stadtkulturen weitgehend zusammenbrachen, mussten sich viele dieser Ackerbürger eine neue Existenz suchen. Wir können deshalb m. E. davon ausgehen, dass zu den ersten Siedlern im Bergland viele ehemalige Stadtbewohner gehörten, die damit auch in gewisser kultureller Kontinuität zu den Stadtstaaten standen. Wenn V. Fritz die Auffassung vertritt, dass für die Gründung der neuen Siedlungen „nur die 99 100
V. Fritz, Entstehung, 57. Eine der größten Städte der Bronzezeit, Arad, hatte z. B. nur ca. 3500 Bewohner (N. P. Lemche, Vorgeschichte, 111).
108
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Gruppen im Umkreis der Städte in Frage kommen, die wegen ihrer sozialen Stellung oder ihrer Lebensweise außerhalb der Städte gelebt haben“, und dabei an die Hapiru und die Schasu-Nomaden denkt,101 so halte ich das für sehr unwahrscheinlich. Für viele der Ackerbürger aus den untergegangenen Stadtherrschaften muss sich die Notwendigkeit einer neuen Existenzgründung ergeben haben, so dass etliche von ihnen sicherlich auch in das angrenzende Bergland ausgewichen sind, um dort das zu tun, was sie vorher auch betrieben hatten, nämlich Ackerbau und Viehzucht.102
2. Hapiru Eine kleine, aber sehr effiziente Gruppe, wenn auch nur im negativen Sinne, waren die Hapiru (apiru).103 Es handelte sich dabei um „outlaws“, sozial entwurzelte Menschen, Flüchtlinge und Kriminelle, die nicht in festen Siedlungen wohnten, sondern sich zwischen den Stadtstaaten bewegten und die sich in den Wäldern zu (Räuber-)Banden zusammenschlossen. Das Bergland war damals im Gegensatz zu heute noch stark bewaldet. Die Hapiru lebten von Raub, Diebstahl, Schutzgelderpressung und ähnlichen Tätigkeiten, wurden aber auch in die Rivalitäten der Stadtstaaten hineingezogen. Oft tauchten sie als Söldnertruppen oder Verbündete einzelner Herrscher auf, konnten gelegentlich aber auch selbst die Macht ergreifen und Herrscher kleinerer Territorien werden.104 Wir kennen die Hapiru aus ägyptischen Quellen, insbesondere der Amarnapost. Hier beschweren sich verschiedene „Könige“ aus kanaanäischen Stadtstaaten über ihre Nachbarkönige, aber auch über die räuberischen Hapiru. Der Begriff wird in dieser Post allerdings oft ausgeweitet und auch auf politische Rivalen, als tatsächliche oder nur behauptete Gegner der ägyptischen Oberhoheit, angewandt. Von den Hapiru hören wir nach der Landnahme nichts mehr, wenn wir nicht David und seine „outlaws“ dazu zählen wollen. Mit dem Untergang der meisten Stadtstaaten wurde ihnen die „Existenzgrundlage“ entzogen. Es ist daher sehr naheliegend, dass viele von ihnen sich den neuen Dorfbewohnern 101 102 103 104
V. Fritz, Entstehung, 120. H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 145. Vgl. insgesamt V. Fritz, Entstehung, 111. Die interessante Frage, ob das Wort „Hebräer“ sprachlich und historisch mit den „Hapiru“ zu tun hat, soll hier nicht weiter erörtert werden.
II. Das geschichtliche Problem
109
anschlossen und sesshaft wurden. Sie werden dann den Wald gerodet haben, in dem sie vorher Unterschlupf gefunden hatten, um jetzt Getreide anzubauen und Kleinviehzucht zu betreiben. Auch sie gehören sicherlich zu den Stammvätern Israels.
3. Nomaden Der Begriff „Nomade“ ist sehr unbestimmt und vieldeutig, entsprechend dem Erscheinungsbild, welches diese Gruppierungen boten. Man kann nur ganz allgemein formulieren: Nomaden waren „Menschen, die weder in (befestigten) Städten noch in ganzjährig bewohnten dörflichen Siedlungen lebten.“105 Nähere, generalisierende Definitionen sind angesichts der Vielfalt der nomadischen Gruppen, die zu allen Zeiten vorhanden waren, nicht möglich. So ist es auch erklärlich, dass sich im Alten Testament, wie überhaupt im Alten Orient, kein eigentlicher Begriff für diese Lebensform findet. Am nächsten kommt noch das Wort אֹבֵדaus dem „Kleinen Credo“ in Dtn 26,5 im Sinne von „umherirrend / umherziehend“.106 Der weitere Begriff רֹעֶה (Hirte), der im gesamten biblischen Text positiv konnotiert ist und bereits bei Kain und Abel auftaucht,107 ist auf die Viehzucht begrenzt und umfasst nicht die gesamte nomadische Lebensweise. Das Wort „Nomade“ kommt vielmehr vom griechischen νομάς bzw. νομαδικός und meint Menschen, die mit ihren Viehherden umherziehen und deshalb keine Angehörigen einer polis sind.108 Ein häufiger Irrtum ist die Gleichsetzung des Nomaden mit dem „Araber“ oder „Beduinen“. Der Begriff „Araber“ ist aber mehr ethnisch gemeint und bezieht sich überwiegend auf die Bewohner der arabischen Halbinsel, die später die Träger des heutigen Islam wurden. „Beduinen“ sind demgegenüber „reiterkriegerische Kamelnomaden“,109 die in der Lage waren, größere Strecken zurückzulegen und oft kriegerisch auftraten. Diese beduinischen Nomaden mit Kamelen als Reittieren gibt es aber erst ab Beginn des 1. Jahrtausends und scheiden daher für die Zeit der Landnahme und der Patriarchen aus. Dass Abraham mit Kamelen umherzog und dass Rebekka vom 105 106 107 108 109
Th. Schaubli, Das Image der Nomaden, 15. Ebd., 150. Ebd., 142. Menge-Güthling, Altgriechisch-Deutsch, 472. E. A. Knauf, Midian, 10.
110
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Kamel fiel, als sie zum ersten Mal Isaac sah, ist ein Anachronismus, der von den späteren Schreibern in diese Zeit hineinprojiziert wurde. Rebekka müsste wohl doch auf einem Esel geritten sein. Der Grund hierfür ist die einfache Tatsache, dass das Kamel zwar schon seit dem 3. Jahrtausend domestiziert wurde, dass es aber zunächst nur als Nahrungsquelle und nach und nach als Lasttier diente, wobei die Zucht schwieriger ist als bei anderen Tieren. Das Kamel hat eine geringere Reproduktionsrate. Nur jede zweite Kamelstute bringt alle zwei Jahre ein Kamelfüllen zur Welt, so dass das Schlachten eines Kamels vermieden wurde,110 zumal es später auch stolzer Besitz des beduinischen Nomaden wurde und besondere Achtung erlangte. Die Nutzung als Reittier war erst möglich, nachdem sich allmählich die passende Sattelform entwickelt hatte. Aus dem Haulani- und Palansattel entstand Anfang des 1. Jahrtausends der Sadadsattel, der das Sitzen nicht hinter, sondern auf dem Höcker ermöglichte und die Kamele manövrierfähiger und militärisch einsetzbar machte.111 So sollen an der Schlacht bei Qarqar (853 v. Chr.) unter Salmanassar III. immerhin 1000 Kamelreiter beteiligt gewesen sein.112 Erst das Kamel als Reittier ermöglichte die Zurücklegung längerer Strecken und machte diese Nomadengruppe noch unabhängiger als andere Gruppierungen. Man konnte sich schnell und zu jeder Zeit in die Wüste oder andere unwirtliche Gegenden zurückziehen. Das Kamel benötigt keine tägliche Tränke. Es kann für mehrere Tage im Voraus Wasser und Futter aufnehmen. Nur diese auf Kamelen reitenden Nomaden werden als Beduinen bezeichnet. Das Pferd war dann nur eine Ergänzung als schnelles und wendiges Reittier. Alle anderen Nomadengruppen ohne Kamele waren auf tägliche Weide und Tränke für ihre Viehherden angewiesen, die aus Schafen, Ziegen, Eseln und allenfalls noch Rindern bestanden. Diese konnten in der Regenzeit in den Randgebieten des Kulturlandes geweidet werden. In der Trockenzeit mussten sie dann aber doch in das Kulturland selbst hineingetrieben werden, da nur hier ausreichend Wasser und Weide vorhanden waren. Diese Wirtschaftsform wird Transhumanz oder Transmigration genannt,113 wobei V. Fritz den Begriff der Transhumanz auf Wanderungen mit größeren Entfer-
110 111 112 113
E. A. Knauf, Midian, 15 Anm. 81. Th. Staubli, Das Image der Nomaden, 184. E. A. Knauf, Midian, 11. V. Fritz, Entstehung, 114.
II. Das geschichtliche Problem
111
nungen, also auf das beduinische Nomadentum beschränken möchte, was aber nur eine Definitionsfrage ist. Nomadische Gruppen tauchen im Alten Orient unter verschiedenen Namen und Bezeichnungen auf.114 Aus den Texten von Mari kennen wir die Sutäer, die Hanäer und die Jameniten,115 die sich um 1800 in den weniger fruchtbaren Gebieten Mesopotamiens aufhielten. Vom Ausgang des 2. Jahrtausends an erscheinen als weitere größere Gruppe die Aramäer, ein Sammelbegriff für ethnisch unterschiedliche umherziehende Völkerschaften, die teilweise auch zu Staatenbildungen kamen, z. B. in Aram / Damaskus, und auf die die spätere lingua franca des Vorderen Orients, das Aramäische, zurückgeht. Es ist interessant, dass im „Kleinen Credo“ (Dtn 26,5) der Stammvater Jakob als „Aramäer“ bezeichnet wird. Für Palästina wichtig sind dann die Schasu-Nomaden, die aus zahlreichen ägyptischen Quellen bekannt sind. Es handelt sich dabei um einen „Sammelbegriff semitisch sprechender Sandbewohner der südlichen Levante“,116 die in vielfältigen friedlichen, aber auch kriegerischen Beziehungen zu Ägypten und den kanaanäischen Stadtstaaten standen. Sie sind für die zweite Hälfte des 2. Jahrtausends bezeugt und dürften daher bei der Landnahme und vielleicht auch für den Exodus eine Rolle gespielt haben. Th. Staubli hat für diese Gruppe eine große Fülle an Bild- und Textmaterial zusammengestellt.117 Nach der Landnahme sind von den Schasu-Nomaden keine Nachrichten mehr vorhanden, zumindest nicht aus Ägypten. Dies wird daran gelegen haben, dass ab dem 12. Jahrhundert die ägyptische Kontrolle über Palästina zu Ende ging. Im Übrigen wird ab der Landnahme und der anschließenden Staatenbildung in Israel und Juda immer weniger Raum für Nichtsesshafte vorhanden gewesen sein, wobei noch hinzukommt, dass auch in den umliegenden Gebieten nicht wieder neue Stadtstaaten entstanden, sondern ebenfalls größere Flächenstaaten mit zentralistischer Struktur wie in Aram, Moab und Edom. Teile dieser Schasu-Nomaden sind mit großer Wahrscheinlichkeit in den neuen Siedlungen im Bergland aufgegangen.118 Sie konnten damit ihre nomadische Lebensweise aufgeben und sesshaft werden, ohne ihre Kleinviehherden aufgeben zu müssen. Der Ackerbau in Palästina war immer auch mit 114 115 116 117 118
Vgl. zum Folgenden: H. Klengel, Zwischen Zelt und Palast; Th. Staubli, Das Image der Nomaden. Vielleicht die Vorläufer des Stammes Benjamin (H. Klengel, 66). Th. Staubli, Image, 23. Ebd., 19–64. V. Fritz, Entstehung, 120.
112
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Viehhaltung verbunden – und umgekehrt. Dies ergibt sich schon aus der „Tatsache, dass der Mensch nicht ausschließlich von tierischem Eiweiß leben kann, sondern auch auf pflanzliche Nahrungsmittel angewiesen ist. Kein Nomade kann ohne Getreideprodukte überleben.“119 Im Ergebnis können wir festhalten, dass die ersten Siedler sich aus allen drei Bevölkerungsgruppen zusammengesetzt haben dürften, nämlich ehemalige Stadtbewohnern, Hapiru und Schasu-Nomaden. Wir haben zwar keine sichere Beweislage, sondern müssen mit Wahrscheinlichkeiten auskommen; diese sprechen aber m. E. für die Annahme einer derart gemischten Abstammung. Dabei ist auch noch zu beachten, dass die Besiedlung, die sich immerhin über zwei Jahrhunderte hinzog, nicht überall zeitgleich und gleichförmig verlaufen sein kann. Es muss sowohl vom Zeitpunkt als auch von der Zusammensetzung der Siedler her regionale Unterschiede gegeben haben, so dass jede Rekonstruktion schwierig ist. „Alle Bemühungen um die Erfassung der sozialen Gestalt des vorstaatlichen Israel bleiben hypothetisch und alle Analogieschlüsse sind stets kritisch zu hinterfragen.“120 Trotzdem dürfte es richtig sein, alle Bevölkerungsgruppen einzubeziehen oder, andersherum formuliert, keine Gruppe auszuschließen. Die Lebensweise der ersten Siedler dürfte demgegenüber besser darzustellen sein. Nachdem die Ansiedlungen, meist wohl verbunden mit der Rodung von Waldpartien, erfolgt waren, konnte man die Bewohner der neuen Dörfer als Kleinbauern bezeichnen, die sesshaft waren und Ackerbau betrieben (Getreide, Oliven, Wein). Gleichzeitig waren sie aber auch Viehhalter, überwiegend von Schafen und Ziegen, die in der Trockenzeit in unmittelbarer Nähe der Siedlungen geweidet werden mussten, in den Regenmonaten aber auch in die östlichen und südlichen Randgebiete geführt werden konnten. Wir haben es hierbei mit einer der heutigen Sennwirtschaft in den Alpen vergleichbaren Weideform zu tun. Da hierfür auch weitere Strecken zurückgelegt werden mussten, blieb immer noch ein nomadisches Element erhalten, welches sicherlich Einfluss auf die Vorstellungswelt der späteren Generationen gehabt hat und die Erinnerung an eine zumindest teilweise nomadische Abstammung verstärkt hat. „Das nachmalige Israel hat sich nach Ausweis seiner eigenen Überlieferung eine nomadische Vergangenheit zugeschrieben.“121 119 120 121
N. P. Lemche, Vorgeschichte 98, Anm. 13. V. Fritz, Entstehung, 111. H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 141.
II. Das geschichtliche Problem
113
– „Das nomadische Erbe ist in Israels Überlieferung so stark, dass die Ablehnung jeder nomadischen Vorgeschichte Israels keine historische Wahrscheinlichkeit für sich hat.“122 Dabei ist aber immer zu beachten, dass auch in der biblischen Überlieferung die Erzväter, Moses und die Israeliten niemals als „Vollnomaden“ dargestellt werden, sondern immer mit Grundbesitz und Ackerbau verbunden waren und Kontakte zu den Kleinstädten Palästinas hatten.123 Jakob wohnt z. B. in Hebron und schickt Joseph zu seinen Brüdern, die sich in Sichem mit den Kleinviehherden auf der Weide befinden. Die Auffassung von A. Alt, dass Nomaden das apodiktische Recht aus der Wüste in das Kulturland gebracht hätten, findet deshalb nicht nur in der archäologisch-historischen Realität, sondern auch in den biblischen Berichten über die Erzväter keine Stütze. Bei A. Alt besteht insofern eine falsche Vorstellung über das Nomadentum. Die Erzväter waren Esel- und Kleinviehnomaden mit teilweisem Grundbesitz und Ackerbau. Und dies entsprach genau der Lebensweise der ersten Siedler.
122 123
H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 145. N. P. Lemche, Vorgeschichte, 42.
III.
Das sprachhistorische Problem (Quadratschrift, Dialekt, Textgeschichte)
III. Das sprachhistorische Problem
Das sprachliche Gewand ist nach Auffassung aller Autoren ein konstitutives Element des apodiktischen Rechts. Trotzdem beschäftigt sich kaum einer der Autoren mit der Frage, in welcher Schrift und welcher Sprache Frühformen des apodiktischen Rechts ausgesehen haben könnten. Alle gehen, wie selbstverständlich, vom masoretischen Endtext aus. Dabei ist der heute vorliegende biblische Text in der sog. hebräischen Quadratschrift abgefasst, die sich erst im 5. und 4. Jahrhundert in Israel, im Zusammenhang mit der Übernahme der aramäischen Sprache, durchgesetzt hat. Sie ist aus dem aramäischen Alphabet entstanden. Davor wurde die altisraelitische Schrift benutzt, die sich aus dem phönikischen Alphabet entwickelt hat. Aber auch diese Schrift gibt es frühestens seit dem 10. oder 9. Jahrhundert. Vor dieser Zeit und damit auch während der Entwicklung Israels ab dem 12. Jahrhundert wurden andere Schriftformen aus dem altorientalischen Kulturkreis verwendet. Auch die hebräische Sprache hat sich erst ab dem 10. Jahrhundert entwickelt. Davor und auch noch lange danach müssen die verschiedensten kanaanäischen Dialekte gesprochen worden sein. Welche Sprache z. B. in Jerusalem im 10. Jahrhundert gesprochen wurde, weiß niemand. Oder wie das von E.Gerstenberger postulierte „Sippenethos“ der ersten Stämme formuliert wurde, kann ebenfalls niemand genau angeben. Hinzu kommt noch die langwierige und verwickelte Textgeschichte der biblischen Bücher. Es ist von zahlreichen „Textfamilien“ auszugehen, die immer mehr divergieren, je weiter man in die Frühzeit zurückgeht.1 Es gibt keine singulären „Urtexte“. Wir müssen mit einer Vielzahl von Alternativen rechnen. Die Dominanz des masoretischen Textes ist hinfällig.2 Wie schwierig es ist, auf diesem Gebiet zu sicheren Erkenntnissen zu kommen, zeigt auch die frühere endlose Diskussion um die vermuteten Quellen J, 1 2
H. J. Fabry, Der Text und seine Geschichte, in: Erich Zenger u. a., Einleitung, 51. Ebd., 52.
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Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
E, P und Dt, die weitgehend mit der Streichung des Elohisten und dem „Abschied vom Jahwisten“ beendet wurde. J. Wöhrle3 hat in seiner neuen Untersuchung von 2012 gezeigt, dass man heute eigentlich nur noch von „P“ und „nicht P“ ausgehen könne, also von „priesterlichen“ und „nicht priesterlichen“ Texten, wobei diskutiert wird, ob es sich bei P um eine eigenständige literarische Quelle oder nur um Redaktionsschichten handelt. Insgesamt bleibt festzustellen, dass ein frühes, apodiktisches Recht sprachlich nicht sicher greifbar ist. Die von A. Alt gesehene „Wucht des Ausdrucks“ ist deshalb für die Frühzeit Israels sprachlich nicht zu belegen. Wir sind hier auf den masoretischen Endtext angewiesen, der allerdings, wie A. Alt gezeigt hat, diesen Sprachstil ganz prägnant und eindrucksvoll wiedergibt (vgl. II.1.).
3
J. Wöhrle, Fremdlinge im eigenen Land, 11.
IV.
Das rechtshistorische Problem
IV. Das rechtshistorische Problem
1.
Die komparative Methode
Die Rechtsgeschichte befindet sich bei der Beschreibung der Rechtsentwicklung in frühen Gesellschaften in einer besonderen Schwierigkeit. Vorstaatliche akephale Gesellschaften, die ohne eine institutionalisierte zentrale Gewalt auskommen, hinterlassen in der Regel keine schriftlichen Quellen. „Akephalie und Schriftlosigkeit gehören typischerweise zusammen.“ 1 Diese Gesellschaften sind deshalb gerade für die Frage nach ihrem Recht schwer zugänglich. Auch archäologisch lässt sich wenig ermitteln, weil rein materielle Zeugnisse, ohne Texte, keine Aufschlüsse über Recht und Rechtsanwendungen ergeben. Ausgegrabene Dörfer enthalten keine Rechtsurkunden. Man ist deshalb bei Gesellschaften aus früherer Zeit auf die Berichte antiker Autoren angewiesen, die über ihre Nachbarvölker oder vergangene Kulturen berichten. Bei derartigen Texten ist aber zu beachten, dass unsere heutigen Vorstellungen über eine „objektive“ Geschichtsschreibung nicht ohne Weiteres auf antike Autoren übertragen werden können. Es sind immer die Tendenzen zu ermitteln, aus denen heraus ihre Werke verfasst wurden. Hieraus können sich erhebliche Verschiebungen und Widersprüche ergeben. Ein oft zitiertes Beispiel ist Flavius Josephus, in dessen Schriften deutlich unterschiedliche Motive und die Berücksichtigung der jeweiligen Leserschaft festzustellen sind. König Herodes wird z. B. im Bellum noch neutral und mehr als Opfer intriganter Berater dargestellt, während er in den Antiquitates2 als der böse, hinterlistige Herrscher erscheint, dessen Unrechtstaten sich der Nachwelt fest eingeprägt haben. Derartige Tendenzen sind dann bei Berichten über fremde Völkerschaften noch deutlicher zu erkennen. Wenn Herodot über die Völker des Ostens schreibt, sind diese für ihn unzivilisierte Barbaren, ohne Freiheit, ohne Demokratie und ohne Kultur. Und wenn Tacitus über die Germanen berichtet, werden diese umgekehrt von ihm idealisiert.3 1 2 3
Chr. Sigrist, Einführung, 7. St. Mason, Flavius Josephus, 153. U. Wesel, Frühformen, 17.
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Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Besonders prägnant ist das Auftreten von Tendenzen immer dann, wenn Völker über ihre eigene Vergangenheit berichten. Und hierbei macht das Alte Testament keine Ausnahme; im Gegenteil, die Tendenzen der alttestamentlichen Autoren sind überdeutlich. Es geht um die besondere Beziehung Israels zu JHWH, die im historischen Geschehen sichtbar werden soll, im Guten wie im Schlechten. Deshalb wird das Schicksal des Volkes und seiner Herrscher als eine Reaktion JHWH’s auf die Sünden der Könige und auf den ständigen Abfall des Volkes dargestellt. Die Darstellung der Geschichte wird dieser Erzählabsicht untergeordnet. Es ist deshalb schwierig, aus antiken Texten zuverlässige historische Informationen zu erhalten. Der Rechtshistoriker darf diese Berichte nur sehr bedingt auswerten. Dies gilt auch für die biblischen Texte. Es ist äußerst schwierig, aus den weitgehend fiktiven Berichten rechtshistorisch zuverlässiges Material herauszuarbeiten. Es kommt hinzu, dass die Autoren oft auch Verhältnisse ihrer eigenen Zeit in diejenige Zeit zurückverlegen, über die sie berichten. Diese Schwierigkeiten führen zu dem schon erwähnten Umstand, dass bis heute noch keine umfassende „hebräische Rechtsgeschichte“ existiert. Es gibt immer nur Einzeluntersuchungen zu speziellen Themen. Anderes ist auch nicht zu erwarten. Der Rechtshistoriker ist deshalb bei der Untersuchung früher Gesellschaften auf weitere, zusätzliche Quellen angewiesen. Diese liefern ihm heute in erster Linie die Ethnologie und verwandte Wissenschaften wie Soziologie oder Anthropologie. Der Rechtshistoriker U. Wesel stellt fest: „Die Ethnologie ist die wichtigste Grundlage für die Kenntnis vom frühen Recht. Das wichtigste Material stammt aus der ethnologischen Forschung.“ 4 Dabei stellt sich allerdings ein grundsätzliches methodisches Problem. Das von der Ethnologie gelieferte Material stammt aus Beobachtungen von sog. „rezenten“ Gesellschaften, also von Völkern, die heute noch in ökologischen Nischen existieren und sich in einem vermeintlichen Urzustand befinden. Es gibt dabei viele bekannte ethnologische Untersuchungen. Ein grundlegendes Werk ist die Arbeit von E. Evans-Prichard über die Nuer im Sudan, in der alle erreichbaren soziologischen, rechtlichen und religiösen Daten dieses Volkes sorgfältig zusammengetragen wurden.5 Das Gleiche gilt für viele andere Untersuchungen. Es gibt eine Fülle von Material. Die Frage ist aber, ob man
4 5
U. Wesel, Frühformen, 15. E. Evans-Pritchard, Das Stammessystem der Nuer, 123.
IV. Das rechtshistorische Problem
119
diese rezenten Gesellschaften mit anderen antiken Gesellschaften, z. B. der vorstaatlichen Bevölkerung im frühen Israel des 12. und 11. Jahrhunderts, vergleichen kann. Es geht um die „komparative Methode“.6 Diese Frage war lange Zeit umstritten. Der Vergleich eines zentralafrikanischen Stammes mit der Stammesgesellschaft in Israel erschien vielen als unzulässig. Es fehlte die räumliche und zeitliche Nähe. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass die heutigen rezenten Gesellschaften eine längere Vergangenheit und mehr Beeinflussungen durch umliegende Kulturen hinter sich haben, z. B. durch Missionare, Händler oder europäische Kolonialverwaltungen. Inzwischen besteht aber Einigkeit, dass derartige Vergleiche und Übertragungen möglich sind, wenn es sich um Kulturen mit gleicher gesellschaftlicher Struktur handelt. Es muss sich um akephale, segmentäre Gesellschaften handeln. Dann ist die „komparative Methode“ zulässig.7 R. Neu gibt in seinem Beitrag „Die Bedeutung der Ethnologie für die alttestamentliche Forschung“8 einen Überblick über die Einbindung der Ethnologie, insbesondere der Ethnosoziologie. Danach begann es mit H. Gunkel und der Suche nach dem „Sitz im Leben“.9 Insbesondere M. Noth, G. E. Mendenhall und N. K. Gottwald haben ethnologisches Material aufbereitet, ohne dies allerdings immer deutlich zu machen.10 Oft wurden auch methodische Fehler gemacht, indem nicht vergleichbare Verhältnisse herangezogen wurden. So kann man das beduinische Nomadentum nicht ohne Weiteres auf die Patriarchen- oder Landnahmezeit übertragen. Ebenso fehlt es an der Vergleichbarkeit griechischer oder römischer Amphiktyonien (M. Noth)11 oder gar der Eidgenossenschaft in der Schweiz (Chr. Schäfer-Lichtenberger)12 mit dem Stämmeverband in Israel. Auch der „isländische Gesetzessprecher“ (A. Alt)13 kann nicht mit den „kleinen Richtern“ des Alten Testaments verglichen werden, obwohl bei allen diesen Beispielen – gesuchte – Ähnlichkeiten vorhanden sind. Wenn es sich dagegen um Gesellschaften im gleichen Entwicklungsstadium handelt, ist ein Vergleich möglich. Man kann segmentäre, akephale Gesellschaften untereinander in Bezug setzen, auch wenn sie aus verschiede6 7 8 9 10 11 12 13
U. Wesel, Frühformen, 6. Ebd., 44. R. Neu, Die Bedeutung der Ethnologie, 11. Ebd., 11. Ebd., 20. Ebd., 12. Ebd., 24. Ebd., 13.
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Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
nen Kontinenten und Zeitaltern stammen. Ein Vergleich heutiger rezenter Völker mit dem Stämmeverband im alten Israel ist also zulässig. Zwei Beispiele sollen genannt werden: 1.1 Fr. Crüsemann bezieht sich in seinem Beitrag „Der Widerstand gegen das Königtum“14 ausdrücklich auf segmentäre Gesellschaften, die akephal sind und deshalb einen egalitären Charakter haben. Chr. Sigrist spricht von einem „primären Egalitarismus“ derartiger Gesellschaften.15 1.2 F. W. Golka vergleicht in seiner Arbeit „Die Flecken des Leopoarden“ afrikanische Sprichwörter mit biblischer Weisheit.16 Er kann dabei nachweisen, daß die Thesen von C. Westermann zur Entstehung der biblischen Weisheit aus dem Sprichwort zutreffend sind.17 Benutzt wird sehr umfangreiches, von dessen Vater D. Westermann gesammeltes ethnologisches Material. Die Sprichwörter Israels und Afrikas stimmen in vielen Bereichen überein.18 Im folgenden Kapitel sollen die Rechtsverhältnisse in akephalen, segmentären Gesellschaften in ihren Grundzügen dargestellt werden, um feststellen zu können, ob in derartigen Gesellschaften apodiktisches Recht entstehen kann.
2.
Recht in segmentären Gesellschaften
Der Begriff „segmentäre Gesellschaft“ geht auf E. Durkheim (1858–1917) zurück und hat sich in der Ethnologie und Soziologie zur Beschreibung früher Gesellschaften allgemein durchgesetzt.19 Man unterscheidet drei Stufen gesellschaftlicher Organisation: Sammler und Jäger Segmentäre, akephale Gesellschaften Kephale (staatliche) Gesellschaften20 14 15 16 17 18 19 20
Ebd., 24; Fr. Crüsemann, Der Widerstand gegen das Königtum, 198. Chr. Sigrist, Einleitung, 8. F. W. Golka, Flecken. Ebd., 49. Ebd., 67. Chr. Sigrist, Über das Fehlen und die Entstehung von Zentralinstanzen, 138. U. Wesel, Frühformen, 36, 71, 189.
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Die Übergänge sind fließend; es lassen sich aber strukturelle Unterschiede feststellen, die diese Einteilung rechtfertigen. Hierauf soll aber nicht weiter eingegangen werden, da hier nur die zweite Gruppe zum Vergleich herangezogen werden soll. Der Soziologe Chr. Sigrist definiert die segmentäre Gesellschaft „als eine akephale (d. h. politisch nicht durch eine Zentralinstanz organisierte) Gesellschaft, deren politische Organisation durch politisch gleichrangige und gleichartig unterteilte mehr- oder vielstufige Gruppen vermittelt ist.“ 21 Die segmentäre Struktur dieser Gesellschaften wird dabei durch das „Lineage-System“ erreicht. „Lineages“ sind Verwandtschaftsgruppen, die sich unilinear auf einen Ahnen zurückführen, und zwar agnatisch, d. h. über die Vaterlinie. Sie sind also patrilinear, was in segmentären Gesellschaften die Regel ist. Matrilineare Gruppen sind die Ausnahme.22 Wichtiges Element ist dabei die „Akephalie“, also das Fehlen einer Zentralgewalt. Die Lineages stehen in einer selbständigen Beziehung zueinander. Erst in späteren kephalen, staatlichen Gesellschaften bildet sich ein zentrales Herrschaftssystem heraus, das Autorität und Anordnungsbefugnis für sich beansprucht. Die Selbständigkeit der Lineages geht hierdurch nach und nach verloren. Natürlich gibt es auch in akephalen Gesellschaften Macht und Einfluss. Zu einer Herrschaft wird Macht aber erst, wenn sie auf Dauer angelegt, also institutionalisiert ist und autoritär über den Lineages steht.23 In akephalen Gesellschaften fehlen derartige Instanzen. Deshalb können Konflikte innerhalb und zwischen den Lineages auch nur entweder durch Vermittlung mit Schadensregulierung oder durch Selbsthilfe und Rache beigelegt werden. Es gibt keine Gerichte oder ähnliche Institutionen. Recht und Rechtsanwendung haben hier einen anderen Charakter und eine andere Aufgabe als in späteren kephalen Gesellschaften. Es geht nicht um die Durchsetzung einer abstrakten Gerechtigkeit, sondern um die Wiederherstellung des sozialen Friedens, der durch die Tat eines Einzelnen oder einer Gruppe gestört wurde. Nicht die Verletzung eines Rechts, sondern die Verletzung einer Person steht im Vordergrund. Es muss ein Ausgleich geschaffen werden, um das Gleichgewicht innerhalb des sozialen Gefüges wiederherzustellen. Wenn Jakob in Gen 34 versucht, wegen der Vergewaltigung seiner Tochter Dina eine gütliche Regelung mit Hamor herbeizuführen, so ist 21 22 23
Chr. Sigrist, Segmentäre Gesellschaft, 106. J. Middleton / D. Tait, Die Lineage, 65. U. Wesel, Frühformen, 25.
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Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
dies ein typisches Beispiel für eine Konfliktlösung durch Verhandlung, ohne Mitwirkung staatlicher Organe und unter Verzicht auf Strafverfolgung. Wenn ein Ausgleich misslingt oder nicht eingehalten wird, kommt es zu Fehde und Blutrache, wie bei den Söhnen Jakobs (vgl. auch S. 46). Dieses System wird von dem Soziologen E. R. Karauscheck für den Stamm der Nuer untersucht. „Die Nuer … lebten … als segmentäre Stammesgesellschaft unter den Bedingungen der Akephalie.“ 24 Problemlösungen erfolgten nur durch Ausgleichsverhandlungen oder Fehde und Blutrache. Der Ethnologe R. Schott und der Rechtshistoriker U. Wesel haben sich sehr ausführlich mit der Entstehung und dem Charakter des Rechts in segmentären Gesellschaften beschäftigt.25 Trotz der großen Verschiedenheit der über alle Kontinente verteilten Gesellschaften lassen sich einige Grundzüge ermitteln, die allen diesen Gesellschaften gemeinsam sind (nach R. Schott), wobei Einigkeit besteht, dass es sich auch bei den frühisraelischen Siedlungen um eine akephale Stammesgesellschaft handelte.26
a) Reziprozität Dieser Gedanke, nämlich die Gegenseitigkeit der Rechtsbeziehungen, ist das wichtigste Grundprinzip des Rechtslebens in frühen Gesellschaften.27 Rechtsverhältnisse und Abhängigkeiten ergeben sich aus den faktischen Verhältnissen innerhalb der Familie, der Lineage oder aus den Beziehungen zu anderen Gruppen, z. B. beim Handel oder Warentausch. Es geht um die „symmetrischen Sozialbeziehungen, in denen der Grundsatz do-ut-des gilt.“ 28 Die sich hieraus ergebenden Regeln und Verhaltensweisen entspringen daher nicht abstrakten Normen oder allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern der Notwendigkeit, ein geregeltes Zusammenleben zu ermöglichen. Sie entstehen direkt aus den vorhandenen Beziehungen der Beteiligten und können sich deshalb auch jederzeit ändern oder fortentwickeln, ohne Gesetzgeber und ohne allgemeine, übergeordnete Grundsätze.
24 25
26 27 28
E. R. Karauscheck, Fehde und Blutrache, Kiel 2011, 189. R. Schott, Anarchie und Tradition, 22; U. Wesel, Geschichte des Rechts; U. Wesel, Frühformen des Rechts. Vgl. Chr. Schäfer-Lichtenberger in WiBiLex, Das Bibellexikon, 2011. R. Schott, Anarchie, 36; U. Wesel, Frühformen, 86, 232. R. Schott, Anarchie, 37.
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b) Konfliktbeilegung durch Schlichtung Da die Reziprozität kein ausreichender Garant für die Einhaltung sozialer Normen ist, müssen weitere Regulierungsmechanismen zur Verfügung stehen, wenn Verstöße auftreten und Verletzungen anderer eintreten. Da keine staatlichen Organe zur Regelung vorhanden sind, wäre Selbsthilfe oder Blutrache die unausweichliche Folge. Um dies zu vermeiden, hat sich in den verschiedenen Gesellschaften ein breites Netz von Schlichtungsmöglichkeiten herausgebildet.29 Eine Schlichtung können die Beteiligten, Täter und Opfer bzw. deren Angehörige selbst vornehmen, was oft der Fall ist, oder es gibt hierfür Einrichtungen und Vorgehensweisen, die die Einschaltung Dritter vorsehen, die als Vermittler auftreten. Dies können Älteste, neutrale Personen aus Nachbarstämmen oder Priester oder weise Männer sein. Oft sind religiöse Instanzen die einzige Möglichkeit zur Beilegung von Streitigkeiten.30 Wichtig ist dabei, dass die Schlichtung durch Dritte, die oft nach festen Ritualen abläuft, keinen verpflichtenden Charakter hat. Es ist kein Urteilsspruch, der von den Parteien angenommen werden muss. Es sind, von Ausnahmen abgesehen, nur Kompromissvorschläge, deren Durchsetzbarkeit vom Ansehen des Schlichters oder dessen Verhandlungsgeschick abhängt. Es besteht also nur ein sozialer, kein juristischer Druck. Oberstes Ziel dieser Schlichtung ist die Wiederherstellung des sozialen Friedens. Es geht nicht um Gerechtigkeit. Dieser Frieden wird meist durch Ausgleichszahlungen erreicht, z. B. durch Hergabe einer bestimmten Menge Viehs. Hierfür kann es feste Taxen geben, meistens wird die Höhe der Zahlung aber ausführlich ausgehandelt. Da alle Beteiligten, auch das Opfer, in der Regel Interesse an einer friedlichen Regelung haben, gelingt es meistens, eine Schlichtung herbeizuführen. „Der Grundgedanke des Schadensausgleichs zum Zwecke der Herstellung des sozialen Gleichgewichts und Friedens beherrscht das Rechtsdenken vieler Völker in so hohem Maße, daß an einer ‚Sühne‘ oder ‚Strafe‘ als Reaktion auf eine Unrechtshandlung … kaum ein Interesse besteht.“31 In einigen Gesellschaften hat diese Schlichtung schon fast einen institutionalisierten Charakter; sie bleibt aber, im Grundsatz, immer von der Zustimmung der Parteien abhängig. 29 30 31
U. Wesel, Frühformen, 324. R. Schott, Anarchie, 46. Ebd., 44.
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c)
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Die „faktische Kraft des Normativen“
In schriftlosen segmentären Gesellschaften gibt es keine Gesetzbücher. Das, was als verbindlich gelten soll, kann daher nur mündlich überliefert werden oder sich aus der allgemeinen Überzeugung und Zustimmung heraus entwickeln. Schott spricht von der „faktischen Kraft des Normativen“. Das Handeln des Menschen orientiere sich „an einem Datenhorizont, an dem ‚Normatives‘ als ebenso reales Faktum angesehen wird wie z. B. die tägliche Nahrung.“32 Man kann hier auch den Gedanken einer „Selbstevidenz“ von Normen einführen. Wichtig ist die „Tradition“, nämlich die Überlieferung von Geschichte und Geschichten, von Erzählungen und Sprichwörtern. Hier können allgemeine Rechtsvorstellungen übermittelt werden, aber nicht im Sinne von festen Normen, sondern als geschichtliche Fakten, die Gemeingut dieser Gemeinschaft sind. „Jedenfalls gehen Rechtsbewußtsein und Geschichtsbewußtsein aus einer gemeinsamen Wurzel hervor, aus der Erinnerung an Vergangenes, welches für die Gegenwart normative Kraft beansprucht.“33 Hier wäre auch das von E. Gerstenberger34 als Ursprung des apodiktischen Rechts angenommene „Sippenethos“ einzubringen. Eine selbstverständliche Sippenordnung, die von Generation zu Generation weitervermittelt wird, ist auch als ein solches Faktum anzusehen. Zu beachten ist allerdings, dass das „Sippenethos“ nicht mit dem späteren ausformulierten apodiktischen Recht gleichzusetzen ist. Es kann nur allgemeine und noch unbestimmte Grundlage sein.
d) Relativität des Rechts Ungleichheit von Recht und Rechtsmissbrauch sind allgemein bekannt. In segmentären Gesellschaften kommt aber hinzu, dass Relativität, also eine Abhängigkeit des Rechts von Person und Situation, systemimmanent ist. So werden Vergehen innerhalb einer Gruppe oft nicht geahndet, weil keine übergeordnete Instanz oder keine verletzte fremde Gruppe vorhanden ist.
32 33 34
R. Schott, Anarchie, 43. Ebd., 44. E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft.
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Bruder- oder Vatermord bleiben oft ungesühnt. Auch Kain (Gen 4,1–16) wird Gottes Gerechtigkeit überliefert und entgeht menschlicher Strafe.35 Die Stellung innerhalb der Verwandtschaftsgruppe oder die Größe und Macht dieser Gruppe sind ausschlaggebend für die Rechtsstellung und vor allen Dingen für die Durchsetzung von Ansprüchen. Dies wird als gegeben anerkannt und nicht an übergeordneten Gerechtigkeitsvorstellungen gemessen. Oberstes Ziel ist die Friedenssicherung und die weitgehende Erhaltung der sozialen Ordnung. Schadensersatzleistungen, Eigentumsverhältnisse oder Nutzungsrechte aus Weideland richten sich nach der Stellung in der Gruppe. Das Recht wechselt mit der Position der Betroffenen. Die vorstehend dargestellten Grundzüge des Rechts in segmentären vorstaatlichen Gesellschaften lassen erkennen, dass wir es mit einer völlig anderen Auffassung von „Recht und Ordnung“ zu tun haben als in späteren staatlichen Verhältnissen. Das Recht ist noch horizontal, in direktem Gegenüber der Beteiligten. Diese haben selbst für das soziale Gleichgewicht und ein friedliches, geregeltes Miteinander zu sorgen. Es fehlt die spätere autoritäre Setzung von Recht durch Zentralinstanzen, die in der Lage sind, eigene Rechtsvorstellungen mit Zwang durchzusetzen. Wenn man Zwang und Durchsetzungsmöglichkeiten von oben als konstitutiv für Recht ansehen will, könnte man sogar sagen, dass es in akephalen Gesellschaften – noch – kein Recht gibt. Das ist aber eine Definitionsfrage und sicher eine zu enge Betrachtungsweise. Auch in segmentären Gesellschaften gibt es Normen und Rechtsvorstellungen, bei deren Verletzung eine Reaktion erfolgen muss, und sei es nur durch Selbsthilfe. Diese Normvorstellungen haben aber, wie dargelegt, einen anderen Charakter und andere Voraussetzungen. Es geht um pragmatische Konfliktlösung und nicht um abstrakte Gerechtigkeit.
3.
Ergebnis
Aus den dargestellten Grundzügen des Rechts in akephalen segmentären Gesellschaften ergibt sich direkt die Frage, ob sich in derartigen Rechtsstrukturen apodiktisches Recht entwickeln kann. Dies muss aus rechtshistorischer und ethnologischer Sicht verneint werden. Diese Rechtsform findet sich in segmentären, akephalen Gesellschaften nicht. Aus der beigezogenen Literatur ist kein Beispiel dieses Rechts bekannt, obwohl gerade auch die 35
U. Wesel, Frühformen, 33.
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Rechtsvorstellungen der rezenten Völker ausgiebig erforscht worden sind, z. B. in den Arbeiten von E. E. Evans-Pritchard über die Nuer.36 Nirgends erscheint eine Aufzählung von Rechtsvorschriften grundsätzlicher Art, in besonderer sprachlicher Ausgestaltung oder gar Reihenbildung, die sich dem Gedächtnis einprägen soll. Dieses ist auch nicht zu erwarten. Die Rechtsvorstellungen in segmentären Gesellschaften sprechen dagegen. Hier gelten die Grundsätze der Reziprozität, der Konfliktschlichtung und der Relativität. Normen und Rechtsvorstellungen werden als gegeben, als faktisch vorliegend angenommen. Apodiktisches Recht mit einer dahinter stehenden Autorität wäre in diesen Vorstellungen ein Fremdkörper. Auch der mit dem apodiktischen Recht in Verbindung gebrachte Bundesgedanke, den man in der früheren Forschung mit den hethitischen Vasallenverträgen verglichen hat,37 kann in segmentären Gesellschaften nicht aufkommen. Ein für alle Lineages gleichermaßen verbindliches Recht gibt es nicht. Dem Fehlen von apodiktischem Recht korrespondiert die Feststellung, dass wir in segmentären Gesellschaften demgegenüber kasuistisches Recht finden. Bei den Nuern gibt es folgende Aufstellung von Schadensersatzleistungen, die sich mit entsprechenden Listen aus anderen Kulturen durchaus vergleichen lässt:38 Bruch des Unterarms Bruch des Ellbogens Bruch des Oberarms Bruch der Kniescheibe Bruch des Oberschenkels Bruch des Schlüsselbeins Bruch des kleinen Fingers Bruch des Daumens oder großen Zehs Bruch der Schulter Riß der Sehne an Ferse oder Handgelenk Ausschlagen der Zähne eines Mädchens Verlust eines Auges Verlust beider Augen 36 37 38
E. E. Evans-Pritchard, Das Stammessystem der Nuer, 123. Vgl. G. Heinemann, Untersuchungen zum apodiktischen Recht. U. Wesel, Frühformen, 260.
2 Rinder 2 Rinder 6 Rinder 2 Rinder 6 Rinder 2 Rinder 1 Rind 1 Rind 6 Rinder 2 Rinder 2–4 Rinder 5 Rinder 10 Rinder
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Hierbei handelt es sich um eine typische kasuistische Sammlung, die jeden Fall getrennt regelt und ihn auch der Disposition und Verhandlung der Parteien überlässt. Diese Feststellungen bestätigen aber nur den Befund über das Fehlen von apodiktischem Recht in segmentären Gesellschaften. In diesen Gesellschaften gibt es ein derart gestaltetes Recht nicht, so dass wir bei Anwendung der „komparativen Methode“ zu dem Ergebnis kommen müssen, dass dies auch für das frühe Israel gilt. Auch die Bewohner im Westjordanland des 12. und 11. Jahrhunderts lebten in Form einer akephalen segmentären Gesellschaft zusammen. Hiervon geht man heute allgemein aus.39 Und da Vergleiche und Übertragungen methodisch zulässig und auch in der theologischen Forschung selbstverständlich sind, wie die vorgetragenen Beispiele von Fr. Crüsemann und F. W. Golka demonstrieren, bleibt aus rechtshistorischer und ethnologischer Sicht nur die Folgerung, dass das biblische apodiktische Recht, so wie es erstmalig von A. Alt beschrieben wurde, nicht in der Frühzeit Israels beheimatet gewesen sein kann. Es muss einen anderen Ursprung haben oder später entstanden sein. Nicht zu verwechseln mit dem apodiktischen Recht sind Tabu-Bräuche, die auch im alten Israel zu finden sind.40 Diese gehören aber in den magischkultischen Bereich und haben keinen Rechtscharakter, auch wenn sie nach R. Albertz häufig Vorläufer von späteren Rechtsvorschriften gewesen sein könnten, z. B. der wöchentliche Ruhetag für den Sabbat (Ex 23,12).
39 40
Chr. Sigrist, Einführung, 7. R. Albertz, Religionsgeschichte, Bd. 1, 155.
V. Zusammenfassung und Ergebnis (Späte Entstehung des apodiktischen Rechts) V. Zusammenfassung und Ergebnis
Die vorangegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass wir ein inhaltlich und sprachlich präzise ausgestaltetes apodiktisches Recht nicht in einer Frühzeit Israels erwarten können. Insbesondere die Epochen vor der Staatenbildung, also das 12. und 11. Jahrhundert, scheiden hierfür aus. Aus sprachlicher Sicht kommen nicht einmal das 10. oder 9. Jahrhundert in Betracht, weil wir mit einer eigenständigen hebräischen bzw. altisraelitischen Sprache erst ab dem 8. Jahrhundert rechnen können. Es sind lediglich unsystematisch gesammelte, allgemeine Grundsätze in unbekannten Dialektformen denkbar.
1.
Historische Gründe
Es fehlt an eigenständigen Trägerkreisen, die für eine Entwicklung des apodiktischen Rechts in Betracht kommen. Die Siedler, die im 12. und 11. Jahrhundert in den brach liegenden Gebieten Israels und Judas Dörfer gründeten, waren keine Einwanderer mit einer möglicherweise abweichenden Rechtskultur, sondern Einwohner des Kulturlandes Kanaan. Sie kamen aus den untergegangenen Stadtstaaten und deren Umkreis und suchten neuen Lebensraum. Für sie war es ein wirtschaftlicher Neubeginn, aber keine totale Loslösung von ihrer bisherigen Umwelt. Sie standen in kultureller Kontinuität zu ihrem Herkunftsbereich, nämlich den kanaanäischen Stadtgebieten. Ihnen war die allgemeine vorderorientalische Rechtstradition bekannt, die kasuistisch, also fallbezogen und pragmatisch, ausgerichtet war. Apodiktisches Recht ist demgegenüber im alten Orient unbekannt und nirgends bezeugt.1 Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass die Gründer der späteren israelitischen Stammesgemeinschaften noch keine Rechtsformen kannten,
1
Das bei E. Gerstenberger zusammengestellte Material aus dem alten Orient ist kein apodiktisches Recht im eigentlichen Sinne, sondern überwiegend Spruchweisheit (E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft, 131).
130
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die man als apodiktisch, also mit imperativem Grundsatzcharakter, bezeichnen kann. Bei den ersten Siedlern können wir noch keine Dekaloge erwarten. Diese eindeutigen und überzeugenden historischen und archäologischen Umstände sind bei der Untersuchung des apodiktischen Rechts und der Rechtsentwicklung in Israel erstaunlicherweise noch nicht ausreichend berücksichtigt worden. Dies dürfte daran liegen, dass sich diese Aspekte erst in den letzten Jahrzehnten in ausreichender Eindeutigkeit ergeben haben und deshalb noch nicht überall einbezogen werden konnten. Trotzdem liegen sie schon lange genug vor, um ein entsprechendes Umdenken vornehmen zu können. Es kommt aber wohl hinzu, dass vielen dieses Ergebnis als zu radikal erscheint. Es lässt kaum noch Platz für die biblischen Berichte über den Exodus und vor allem über die Landnahme bis hin zur Staatenbildung in Israel und Juda, ganz abgesehen davon, dass auch die Existenz eines davidischsalomonischen Großreichs schon seit langem zur Diskussion steht.2 Wer die bis heute andauernden, endlosen Debatten über die Zerstörungsschichten von Jericho3 oder über die angeblichen salomonischen Stadttore4 verfolgt, weiß, wie schwer es offenbar vielen Forschern fällt, lieb gewordene Vorstellungen aufzugeben. Wenn Jericho um 1200 v. Chr. bereits zerstört war und deshalb gar nicht mehr erobert werden konnte, entfällt ein wichtiger archäologischer Beweis für eine gewaltsame Landnahme. Ein Überblick über die entsprechende Literatur ergibt allerdings, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Theologen und Historiker und insbesondere der Archäologen nicht mehr von einer Okkupation des Landes durch Nicht-Kanaanäer, sondern von einer eigenen Entwicklung im Inland ausgeht. Man kann insofern durchaus von einer herrschenden Meinung sprechen. Trotzdem ist die hier dargestellte komplette Herkunft der ersten Israeliten aus Kanaan und deren kulturelle Anbindung an die untergegangenen, teilweise aber auch noch existierenden Stadtstaaten noch nicht Allgemeingut geworden.
2 3 4
Vgl. insgesamt I. Finkelstein, David und Salomo, 2006. E. Villeneuve, Jericho, WUB 3/2008, 11. I. Finkelstein, Was besagen „high“ und „low chronology“, WUB 3/2008, 23.
V. Zusammenfassung und Ergebnis
2.
131
Sprachliche Gründe
Die sprachlichen Probleme sind zwar kein zwingendes Indiz gegen ein frühes apodiktisches Recht, führen aber dazu, dass wir eventuelle Vorformen sprachlich nicht fassen könnten. Wir können den masoretischen Endtext oder auch frühere Qumrantexte sprachlich nicht zurückprojezieren. Es ist zusätzlich zu bedenken, dass auch die jeweilige Grammatik eine andere gewesen sein kann. Gab es in frühen kanaanäischen Dialekten bereits die Möglichkeit, wie im späteren Hebräisch, einzelne Verbote mit nur zwei Worten, nämlich ֹלאmit Imperfekt, wiederzugeben? Das alles muss offenbleiben und führt dazu, dass wir das apodiktische Recht in seiner Sprachform nur anhand des biblischen Endtextes beurteilen können und nicht versuchen dürfen, postulierte Vorformen irgendwie sprachlich formulieren zu wollen.
3.
Rechtsgeschichtliche Gründe
Die Gründe, die sich aus der Rechtsgeschichte gegen die Annahme eines frühen apodiktischen Rechts ergeben, sind m. E. besonders gravierend. Trotzdem muss man auch hier feststellen, dass sich bisher noch kein Autor mit diesem zugegebenermaßen sehr speziellen Thema befasst hat. Es besteht zwar allgemeine Einigkeit, dass es sich bei der israelitischen Stammesgemeinschaft des 12. und 11. Jahrhunderts um eine akephale, segmentäre Gesellschaft gehandelt hat. Ob aber in derartigen Gesellschaftsordnungen rechtsgeschichtlich apodiktisches Recht zu erwarten ist, wird nicht diskutiert. Dabei sind die Ergebnisse der Rechtsgeschichte insoweit eindeutig. Bei den sogenannten „rezenten Gesellschaften“, also heute noch existierenden „Naturvölkern“, gibt es kein apodiktisches Recht. Natürlich haben auch diese Völker Vorstellungen darüber, was falsch und richtig, gut und böse, gerecht und ungerecht ist. Diese Vorstellungen münden aber nicht in ausformulierte Grundsatzreden, die eine Grundlage für das Leben in der jeweiligen Gemeinschaft bilden sollen. Es gibt, wie überall, kasuistisches Recht, das bestimmte Einzelfälle regelt, aber keine allgemeinen Grundaussagen apodiktischer Art. So enthalten z. B. die von F. W. Golka untersuchten afrikanischen Sprichwörter keine apodiktisch formulierten Rechtssätze.5 Einen afrikanischen Dekalog gibt es nicht. 5
F. W. Golka, Flecken, 89.
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Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Diese Ergebnisse lassen sich dann rechtsgeschichtlich mit der komparativen Methode auf antike Gesellschaften übertragen, sofern sie ebenfalls akephal und segmentär strukturiert sind. Dies war für das frühere Israel des 12. und 11. Jahrhunderts der Fall, so dass der Rechtshistoriker für diese Zeit und für diese Gesellschaft kein apodiktisches Recht nachweisen kann. Die Rechtsauffassungen dieser Gemeinschaften lassen ein derartiges Recht nicht zu.
4.
Ergebnis
Als Gesamtergebnis lässt sich festhalten, dass das apodiktische Recht nicht am Anfang der Rechtsentwicklung in Israel gestanden hat und auch nicht im Gegensatz zum kanaanäischen Fallrecht gesehen werden kann. Wir haben es vielmehr mit einer späten Entwicklung zu tun, die innerhalb der sich bildenden Staatlichkeit und innerhalb der allgemeinen Rechtsordnung abgelaufen ist, und dies auch nicht als gegensätzliche Entwicklung, sondern durch ein Verschmelzen verschiedenster Rechtsgruppen zu einer Gesamtrechtsordnung. Das apodiktische Recht, so wie es in den biblischen Texten überliefert ist, hat dabei die Rolle einer Grundsatznorm, einer „Metanorm“ oder Verfassung übernommen, die das übrige Recht, das positive Recht, in einen verbindlichen, übergeordneten Rahmen stellt. Es war die Klammer, die das umfangreiche rechtliche Material in einen großen Zusammenhang bringen sollte, sowohl religiös als auch rechtlich. Es war eine bewusste, groß angelegte Komposition, bei der es dann auch nicht wichtig ist, welche Vorformen eventuell bereits vorgelegen haben oder welche Teile neu konzipiert wurden. Entscheidend ist die Endfassung. Wenn früheres Material eine abweichende Bedeutung gehabt haben sollte, wird diese durch die neue Regelung „aufgehoben“. Diese besondere Relation wird auch bestätigt durch das Größenverhältnis des apodiktischen Rechts zum übrigen kasuistischen Recht. Letzteres macht den weitaus größten Teil der Rechtsbestimmungen aus. Dieses Verhältnis ist durchaus vergleichbar mit der Aufteilung von Verfassungen und dem übrigen positiven Recht in modernen Staaten. Wir haben insofern eine deutliche Parallele zum heutigen Verfassungsstaat. Dass dies nicht die einzige Parallele ist, sondern auch für die inhaltliche Ausgestaltung und die Genese der einzelnen Rechte gilt, soll im dritten Teil dieser Arbeit dargelegt werden.
V. Zusammenfassung und Ergebnis
133
Wir können weiter feststellen, dass eine Einordnung des apodiktischen Rechts in ein altes „Sippenethos“ (E. Gerstenberger) sehr problematisch ist. Wenn damit die Vorstellung verbunden wird, dass es sich dabei um einen mehr oder weniger fest umrissenen Korpus von Grundsätzen und Grundregeln handelt, die aus der unverbrüchlichen Sippenordnung entspringen und vom „pater familias“ bewahrt und an seine Söhne weitergegeben werden, so sind das romantisierende und wissenschaftlich nicht belegbare Hypothesen. In akephalen, segmentären Gesellschaften finden wir ein derartiges Recht nicht. Vor allen Dingen steht hinter dieser Vorstellung der Gedanke, dass man das apodiktische Recht als eine Gattung i. S. der Form- oder Gattunsgeschichte identifizieren und durch die Zeitläufe hindurch bis zu einem mündlichen oder schriftlichen Ursprung zurückverfolgen könne. Dies wäre aber, juristisch gesprochen, ein „untauglicher Versuch“, nämlich ein Bemühen mit „untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt“. Das apodiktische Recht, so wie es heute im biblischen Text überliefert ist, hat eine eigene Funktion innerhalb der verschiedenen Rechtskorpora, die sich erst aus der aktuellen Zusammenstellung der verschiedenen Rechte ergibt. Hier erhält es, insbesondere im Dekalog, seine besondere Stellung und Bedeutung. Vorher können wir nur mit einzelnen Prohibitiven oder entsprechenden kleineren Reihen rechnen. Dies wird für den Dekalog allgemein angenommen.6 Und diese Vorformen haben die verschiedensten Herkünfte und Überlieferungen, so dass man sie nicht schematisch zu einer Gattung zusammenführen kann. Außerdem fehlt es an gemeinsamen Trägerkreisen. Ein „Sitz im Leben“ im Kult oder in einer Verlesung auf einem fiktiven Bundeserneuerungsfest scheitert schon an den fehlenden historischen Voraussetzungen. Vereinzelte Prohibitive oder vergleichbare Formulierungen bilden noch kein apodiktisches Recht, so wie es in der Komposition der biblischen Texte erscheint. Dies kann man sehr gut an den von E. Gerstenberger zusammengestellten zahlreichen Beispielen aus dem altorientalischen Raum erkennen.7 Es handelt sich hierbei um Mahnworte und Spruchweisheiten, die in unterschiedlich präziser Form apodiktisch formuliert sind. Diese oft nur zufällige apodiktische Formulierung macht einen Spruch aber noch nicht zu apodiktischem Recht. Hinzukommen muss die inhaltliche grundsätzliche Substanz der Aussage und vor allen Dingen die Stellung und Funktion innerhalb eines
6 7
W. H. Schmidt, Die zehn Gebote, 1993, 25. E. Gerstenberger, Wesen, 130.
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Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Rechtskorpus. Es muss sich um eine präzise Anordnung oder Grundsatzerklärung handeln, die rechtlich relevant ist. Sie muss justiziabel sein oder dieses zumindest in Anspruch nehmen oder sie muss i. S. einer Überordnung Grundregeln für die Rechtsordnung geben, was bei Verfassungen der Fall ist. Dies alles fehlt bei dem von E. Gerstenberger vorgestellten Material. Das Gleiche müssen wir auch bei vermuteten, aber nicht genauer zu ermittelnden Vorformen des apodiktischen Rechts der Bibel annehmen. Erst die besondere Stellung zum übrigen Recht macht apodiktische Redeweise zu apodiktischem Recht. Und da die genaue Formulierung dieser eventuellen Vorformen und deren Stellung zum übrigen Recht sich nicht ausreichend ermitteln lässt, können und müssen wir uns auf die Endfassung der biblischen Texte beschränken und die Rechtsformen so untersuchen, wie sie dort redigiert worden sind. Und wenn man die biblischen Texte insoweit als eine Rechtsordnung begreift, ist ein solches Vorgehen nicht nur legitim, sondern auch das einzig zulässige. Juristisch gilt so oder so immer nur die letzte Fassung. Dies kann man an einem Beispiel aus heutiger Zeit sehr gut deutlich machen. Der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist in eindeutig apodiktischer Redeweise abgefasst. Trotzdem ist er für sich allein noch kein apodiktisches Recht, weil der rechtliche Zusammenhang fehlt. Er kann in theologischen oder philosophischen Erörterungen diskutiert und postuliert werden, bleibt aber immer nur ein allgemeiner Grundsatz, den man im Naturrecht oder Gottesrecht verorten kann. Er hat dadurch jedoch noch keine rechtliche Funktion. Dies erfolgt erst, wenn er z. B. als Artikel 1 in das deutsche Grundgesetz, also in eine Verfassung, aufgenommen wird. Hier kann er eine rechtliche Wirkung entfalten, die er vorher noch nicht hatte, nämlich eine Kontrollfunktion über das übrige Rechtssystem im Rahmen einer verfassungsmäßigen Ordnung. Erst jetzt wird der allgemeine Ausspruch über die Würde des Menschen zu konkretem apodiktischem Recht.
Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
„Die zehn Gebote sind deswegen so kurz und logisch, weil sie ohne Mitwirkung von Juristen zustande gekommen sind.“ (Charles de Gaulle)1
Wenn Fr. Crüsemann das apodiktische Recht als „Meta-Norm und kritische Instanz“ bezeichnet und einen Vergleich mit heutigen Grundrechtsbestimmungen und Menschenrechtskatalogen vornimmt2 oder wenn J. Magonet, aus ganz anderer Perspektive, den Dekalog „als eine Art Grundgesetz des Bundes“ betrachtet3, dann bringen beide Autoren letztlich den Begriff der Verfassung ins Spiel. Hieraus ergibt sich aber die weitere Frage, ob das apodiktische Recht überhaupt in der Lage ist, diesem hohen Anspruch aus juristischer Sicht zu genügen. „Verfassung“ ist ein Begriff der Neuzeit. Man versteht darunter im formellen Sinne die „mit erhöhter Geltungskraft und erschwerter Abänderbarkeit ausgestattete Verfassungsurkunde“.4 Sie enthält die normierten Grundrechte und das Staatsorganisationsrecht. Es ist dies die „geschriebene“ Verfassung. Im materiellen Sinne ist der Begriff weiter zu fassen. Hier meint „Verfassung“ die „Gesamtheit der grundlegenden Regeln“ über die Leitung des Staates, über die Strukturen der Gemeinschaftsordnung (Föderalismus, Gewaltenteilung) und über die Stellung der Bürger im Staat, also insbesondere die anerkannten Grundrechte.5 Großbritannien hat z. B. keine geschriebene Verfassung, sondern nur einzelne Verfassungsgesetze, die Magna Charta Libertatum, die Habeas-Corpus-Akte und die Bill of Rights. Zur Verfassung im materiellen Sinne gehören, soweit vorhanden, die geschriebene Verfassungsurkunde und alle anderen verfassungsrechtlich relevanten Regeln, nämlich weitere Geset1
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Alpmann Brockhaus, Fachlexikon Recht, 2004, Vorwort; V. Meid, Lachen ohne Bewährung, München 1980, 95. Fr. Crüsemann, Tora, 227. J. Magonet, Die subversive Kraft der Bibel, 91. Alpmann Brockhaus, Recht, 1379. Th. Maunz / R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 31.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
ze, Gewohnheitsrecht, die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts usw. Man spricht hier auch von der „ungeschriebenen“ Verfassung.6 Wichtiger und nach heutiger rechtsstaatlicher Auffassung entscheidender Teil jeder Verfassung sind die Grund- und Menschenrechte7, die die grundlegenden Rechte des Einzelnen im Staat regeln. Moderne Verfassungen enthalten stets eine Zusammenstellung und Garantie dieser Rechte. Dabei ist die Geschichte der Menschenrechtsidee älter als die Verfassungsgeschichte. Während man den Beginn des eigentlichen Verfassungsdenkens und das Entstehen schriftlicher Verfassungen allgemein bei den Unabhängigkeitsbestrebungen in den nordamerikanischen Kolonien im 18. Jahrhundert und der französischen Revolution von 1789 ansetzt, führt man den Menschenrechtsdiskurs über die Aufklärung und das christliche Mittelalter zurück bis in die Antike. Das Nachdenken über Menschenrechte und ein Naturrecht begann bereits in Athen. Im Folgenden soll deshalb zunächst ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Menschenrechte gegeben werden, um dann den Verfassungsbegriff näher zu erläutern und diesen mit der Struktur des apodiktischen Rechts zu vergleichen.
6 7
Th. Maunz / R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Grundrechte sind in einer Verfassung normierte Menschenrechte.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
Die heutigen Darstellungen der Menschenrechte beginnen im historischen Teil allgemein mit der Antike, und zwar in der griechischen Welt.1 Sie legen die Keimzelle der Menschenrechtsidee nach Athen und in die anderen griechischen Metropolen. Die Sophisten, Plato, Aristoteles und vor allem die Stoa setzen die ersten Grundlagen für ein dem weltlichen, positiven Recht vorgelagertes Naturrecht, aus dem sich mögliche Grundrechte des Menschen oder zumindest des Bürgers einer Polis ergeben können. Die Geschichte der Menschenrechte lässt man nicht in Jerusalem oder im Babylon der Exilszeit beginnen, obwohl das apodiktische Recht und insbesondere der Pflichtenkatalog des Dekalogs hierzu hätte Anlass geben müssen. Erst im christlichen Mittelalter wird bei der Diskussion über ein – christliches – Naturrecht auf das Alte Testament und einzelne Bestimmungen des Dekalogs Bezug genommen.2 Erst hier wurden in der Literatur einzelne Aspekte des alttestamentlichen Freiheitsbegriffs und eines biblischen Menschenbildes erörtert. Aber auch im Mittelalter wurden der Dekalog oder andere Bestimmungen des Alten Testamentes nicht als Formulierung von Menschenrechten oder eines Naturrechts verstanden, sondern nur als Ausdruck allgemeiner Grundsätze. Der Dekalog wurde nicht als unmittelbarer Vorläufer der Menschenrechte und auch nicht als selbständiges jüdisches Gedankengut betrachtet. Die rein christologische Deutung des Alten Testaments und das beharrliche Missverstehen der jüdischen Tora führten dazu, den Dekalog nicht als einen eigenständigen, abgeschlossenen Rechtskorpus zu betrachten. 1. Bei der Erörterung der Menschenrechte in der Antike ist zu beachten, dass zwar bei Platon und Aristoteles die Grundlagen für ein allgemeines Naturrecht gelegt wurden. „Platons Ideenlehre als Lehre von den apriorischen Wesensgehalten der Welt bildet das theoretische Rückgrat jeder ideellen Natur1
2
Vgl. das Standardwerk v. G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte; A. Neschke-Hentschke, Tradition und Identität Europas. Vgl. die umfangreiche Zusammenstellung von R. Weigand, Naturrechtslehre.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
rechtslehre.“3 Von Freiheit und Gleichheit aller Menschen waren beide aber weit entfernt. Platon geht gerade von der Ungleichheit der Menschen aus und entwickelt hieraus seine Staatstheorien. Aristoteles ist zwar etwas gemäßigter in seinen Auffassungen, hält aber z. B. die Sklavenhaltung nicht nur für nützlich, sondern auch für gerechtfertigt.4 Erst die Stoa entwickelt später das, was unseren heutigen Menschenrechtsvorstellungen nahe kommt. Die Philosophenschule der Stoa geht zurück auf Zenon (300 v. Chr.) und wurde in Rom von Lälius, Scipio und vor allem Cicero weitergeführt. Sie mündete in die „jüngere Stoa“, vertreten durch Seneca, Epiktet und Marc Aurel.5 Durch diese römischen Vertreter konnte sich stoisches Gedankengut mit römischem Rechtsdenken verbinden. Allerdings wird die Stoa meist nicht über ihre verschiedenen Vertreter, sondern als Sammelbegriff zitiert, was auf die unklare Quellenlage zurückgeht.6 In der Stoa wird die Gleichheit aller Menschen, auch der Barbaren und Sklaven, zum Prinzip erhoben. „Die Stoa entwickelte in ihrer Anthropologie und Ethik die Lehre von der Gleichheit der Menschen. Sie wurde begründet durch die zentrale Vorstellung, daß neben dem realen Gemeinwesen das Reich der Vernunft existiert. In diesem steht jeder Mensch gleichberechtigt da als Teilhaber an der Weltvernunft, dem logos, weil alle Menschen mit Vernunft begabt sind.“7 Trotz der theoretischen Gleichheit aller Menschen hatte aber auch die Stoa kaum praktische Konsequenzen. Allgemeine „Menschenrechte“ kannte die Antike nicht.8 Athen und Rom blieben Sklavenhaltergesellschaften. Nicht nur Platon und Aristoteles, auch die „Stoiker“ Cicero und Seneca beschäftigten rechtlose Sklaven auf ihren umfangreichen Ländereien. Seneca war sogar einer der reichsten Männer seiner Zeit und hätte, auch als Erzieher von Nero, gesellschaftspolitisch sicher viel bewegen können. Aber Theorie und Praxis liegen immer weit auseinander. Die gleiche Diskrepanz bestand auch für die fehlende Gleichberechtigung der Frauen.
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H. Welzel, Naturrecht, 22. G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte, 16. H. Welzel, Naturrecht, 38. Lexikon der Alten Welt, Zürich u. Stuttgart 1965, 2930. G. Oestreich, Geschichte, 16. Ebd., 18.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
139
2. Das gleiche Problem müssen wir auch für das Frühchristentum und das christliche Mittelalter feststellen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Begriffe „Menschenrechte“ und „Naturrecht“ nicht identisch sind. Das Naturrecht ist der theoretische Nährboden, aus dem die individuellen Menschenrechte erwachsen. Von letzteren spricht man erst, wenn sich allgemeine naturrechtliche Vorstellungen zu präzisen Forderungen des Individuums an seine Umwelt auf Respektierung gewisser Grundrechte konkretisieren. „Menschenrechtliche Forderungen unterscheiden sich vom Gedanken eines rein ethisch postulierten Naturrechts dadurch, daß sie nach einer Verrechtlichung drängen und die staatliche Ordnung bewußt prägen.“9 Aus diesem Grunde waren im Mittelalter, wie in der Antike, durchaus naturrechtliche Überlegungen vorhanden, ohne aber schon in konkret formulierte und vor allem von der Rechtsordnung akzeptierte Menschenrechte zu münden. Von einem Naturrecht bis hin zu fassbaren Menschenrechten ist es ein weiter Weg. Wir können deshalb auch im Frühchristentum und im christlichen Mittelalter nicht von Menschenrechten im heutigen Sinne sprechen. Eine weitere Ursache kommt hinzu. Die drei klassischen Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum10 sind Freiheitsrechte. Sie richten sich primär gegen den Staat.11 Dieser hat die genannten drei Grundrechte seiner Bürger zu respektieren und darf sie in ihrem Wesensgehalt nicht antasten. Sie sind Abwehrrechte gegen einen übermächtigen Staat. Die Menschenrechte setzen deshalb einen „Staat“ voraus, der aber erst in der Moderne entstanden ist.12 Im Mittelalter gab es diesen Begriff noch nicht. Es gab vielmehr die feudalistisch aufgebaute „Herrschaft“ mit dem „dominus terrae“ an der Spitze und den Landständen, dem Adel.13 Der Gedanke von Forderungen gegen einen anonymen Staat konnte damals noch nicht aufkommen. Was jedoch weiterlaufen konnte, war die in der Antike begonnene Diskussion um ein – nunmehr christliches – Naturrecht. Stärkster Impuls war dabei die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott, die sich aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der Imago Dei, ergab (Gen 1,26) sowie
9 10 11 12 13
L. Kühnhardt, Universalität, 47. Zur „Trias der Menschenrechte“ vgl. die näheren Ausführungen in Kap. I. 4., S. 142. Auf das Problem der sog. Drittwirkung der Grundrechte soll später eingegangen werden. U. Wesel, Geschichte, 415. Ebd., 299; D. Willoweit, Deutsches Staatsrecht, 5.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
aus der Überzeugung von der Gemeinschaft aller Gläubigen in Christus, die alle Grenzen aufhob. So konnte Paulus den Galatern schreiben: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus.“14 (Gal 3,28)
Hinzu kam das allumfassende Gebot der Nächstenliebe, die forderte, auch den Sklaven als „geliebten Bruder“ anzuerkennen (Phil 16). Aber auch dieses hatte langfristig kaum praktische Konsequenzen. Die Sklavenhaltung wurde in der altkirchlichen Literatur zwar für ungerecht erklärt15, es blieb aber weitgehend bei einem Appell an die Mitbürger. Von einer Ausbildung von Menschenrechten, die jedem Individuum unmittelbar zustehen, konnte keine Rede sein. Das Naturrecht als theoretische Maxime wurde zwar bei Ambrosius, Augustin, Ulpian und Thomas von Aquin weiter ausgebaut, führte aber nur im Grundsatz zur Gleichheit und Freiheit aller Menschen. Sklavenhaltung, Leibeigenschaft und Ketzerverfolgung blieben bestehen. Augustinus war der Auffassung, dass man unter Berufung auf das „compelle intrare“ aus Lk 14,23 die Menschen auch zu ihrem Seelenheil zwingen dürfe16, und Thomas von Aquin hielt ebenfalls die Ketzerverfolgung und sogar die Sklaverei für gerechtfertigt17, alles eklatante Verstöße gegen die Glaubensfreiheit und die Gleichheit aller Menschen. Diese Auffassungen sind natürlich auch aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, führen aber dazu, dass man die Bedeutung der Kirchenväter für die Entwicklung der Menschenrechte – trotz aller Verdienste um das Naturrecht – nicht überbewerten darf. Wir rühren hierbei an ein Grundproblem aller monotheistischen Religionen. Im Zweifel ist letztlich die „Wahrheitsfrage“ und nicht ein die eigene Religion relativierendes Menschenrecht entscheidend. Nur die Wahrheit darf freie Rede für sich beanspruchen. Die Lüge muss schweigen. Und wer vom rechten Glauben abweicht, muss zu seinem eigenen Nutzen notfalls mit Gewalt auf den richtigen Weg zurückgeführt werden. Und wer trotzdem an seinem Irrglauben festhält, ist dumm oder böswillig und kann sich nicht auf eine Glaubensfreiheit berufen. Ein Glaube, der direkt in die Hölle führt, kann keinen Schutz für sich beanspruchen.
14 15 16 17
Einheitsübersetzung 2003. G. Oestreich, Geschichte, 20. Ebd., 21. Ebd., 23.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
141
Andererseits wurde dem Naturrecht durch die Anbindung nicht nur an die Vernunft, sondern auch an Gott, ein besonderer Glanz und eine starke Autorität verliehen. Die Verbindlichkeit des Naturrechts wird immer erheblich verstärkt, wenn es einen göttlichen Ursprung für sich in Anspruch nehmen kann. Aus Sicht der heutigen Menschenrechte ist diese Anbindung aber immer gefährlich. Wer sich zu sehr von seiner Religion leiten lässt, läuft Gefahr, vom Tugendweg der neutralen Menschenrechte abzuweichen. Diese Gefahr ist auch heute noch gegeben, wenn sich Kirchen zu gesellschaftspolitischen Fragen zu Wort melden. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, ob nicht auch die heutigen Menschenrechte einer letzten Begründung durch göttliche Autorität bedürfen. Golka weist unter Bezugnahme auf die Französische Revolution von 1789 und die nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen darauf hin, dass es keine völlig säkulare Begründung der Menschenrechte gebe.18 Diese Diskussion spiegelt sich auch bei der noch nicht gelösten Frage eines Gottesbezuges in einer europäischen Verfassung wieder.19 Anzumerken ist bei den mittelalterlichen Juristen und Theologen, dass sie bei der Erörterung von natürlichen Rechten teilweise auf den Dekalog zurückgreifen. So wurde das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ für die Frage einer Eigentumsgarantie und das Gebot „Du sollst nicht töten“ für das allgemeine Lebensrecht herangezogen.20 Dies erfolgte aber, wie erörtert, nicht in der Form, dass es sich hierbei um direkte Individualrechte handeln sollte. Diese Gebote wurden vielmehr allgemein als Hinweise auf Gottes Willen betrachtet. 3. Auch die Reformation stand unter dem schlechten Stern der Wahrheitsfrage. Sie wird oft als die Wegbereiterin der Glaubens- und Gewissensfreiheit betrachtet, kann diesem Anspruch aber nur sehr bedingt genügen. Der durch die Reformation letztlich erzwungene „Augsburger Religionsfrieden“ von 1555 war in Wahrheit kein religiöser, sondern ein rein politischer Frieden, ein Waffenstillstand, der beide Seiten dazu verpflichtete, nicht mit Gewalt gegen die jeweils andere Konfession vorzugehen. Mehr nicht. Die andere Konfession wurde keineswegs als ein möglicher Weg zum Heil anerkannt. „Keine Seite gab ihren Monopolanspruch auf Wahrheit preis – man verzichtete 18 19 20
F. W. Golka, Flecken, 151. Zur Frage des Gottesbezuges in den verschiedenen Verfassungen der Neuzeit vgl. Kap. III, Ziff. 3. A. Neschke-Hentschke, Tradition und Identität Europas, 24 u. 26.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
lediglich darauf, diesen Anspruch gewaltsam durchzusetzen.“21 Im Übrigen hatten die Landesherren das ius reformandi und konnten nach dem Grundsatz „cuius regio, eius religio“ die Konfession ihrer Untertanen festsetzen. Diese hatten nur die Möglichkeit auszuwandern, das ius emigrandi, wenn sie der anderen Konfession anhängen wollten. A. Gotthard hat dies in seiner Untersuchung über den Augsburger Religionsfrieden sehr ausführlich dargelegt. Von Toleranz konnte nicht die Rede sein. Im Gegenteil, im „konfessionellen Zeitalter“ nach 1555 verhärteten sich die Fronten, die Calvinisten wurden von beiden Seiten verfolgt, die Gegenreformation setzte ein und alles mündete in den brutalen 30jährigen Krieg. Erst im Westfälischen Frieden von 1648 wurde ein streng paritätisch ausgerichteter Burgfrieden ausgehandelt. Insofern fällt es schwer, die Reformatoren als Vorkämpfer der Religionsfreiheit zu betrachten. Sie kämpften für ihre Sache, die sie als wahr erkannt hatten, wollten sich aber nicht für die Freiheit Andersgläubiger einsetzen. So wurde von protestantischer Seite in Schriften, Flugblättern und in den zahllosen Verfahren vor dem Reichs-Kammergericht immer wieder Religionsfreiheit eingefordert – aber nur für Protestanten. Von Katholiken war nicht die Rede, was von katholischer Seite in Gegenschriftsätzen oft mit Verbitterung beanstandet wurde.22 Trotzdem bleibt die Reformation – indirekt – eine Wurzel der Religionsfreiheit, weil sie Fakten geschaffen hat, die man später nicht mehr negieren konnte und die zu einem Nachdenken über ein friedliches Nebeneinander verschiedener Konfessionen zwangen. 4. Die „entscheidende Wende“ im Naturrechtsdenken und damit in der Menschenrechtsentwicklung brachte das sogenannte klassische Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts. Hier sind viele Namen zu nennen: Johann Oldendorp, Johannes Althusius, Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Christian Thomasius oder Christian Wolf. Der wichtigste Vertreter aber ist John Locke (1632–1704). Er schweißte die schon vorher diskutierten drei Grundrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum zu der bis heute gültigen Trias der klassischen Menschenrechte zusammen, als „angeborene Rechte der
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A. Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, 566. Ebd., 566.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
143
im Naturzustand gleichen und unabhängigen Individuen.“23 In seinen „Two Treaties on Civil Government“ heißt es: „Man being born with a title to perfect freedom and uncontrolled enjoyment of all rights and privileges of the law of nature, equally with any other man, or number of men in the world, hath by nature a power … to preserve his property, that is, his life, liberty and estate, against the injuries and attempts of other men“ (Second Treatise § 87; vgl. auch § 123).24
Der Begriff „property“ (proprium) ist dabei der Sammelbegriff für alle Rechte und Möglichkeiten des Menschen, die ihm nicht genommen werden können. Hiervon überträgt er dem Staat nur so viel, wie dieser zu seiner einzigen Zweckerfüllung benötigt, nämlich die drei genannten Grundrechte seiner Bürger zu schützen. Diese Grundrechte sind „Ausdruck individueller, angeborener, vorstaatlicher und unveräußerlicher Personenrechte mit universaler Geltungskraft.“25 Der Staat wird damit zum Rechtsstaat. Voraussetzung für diese Entwicklung war im Zeitraum der Renaissance, des Humanismus und der Aufklärung eine zunehmende Enttheologisierung bzw. Säkularisierung des Naturrechts. Das Naturrecht gründete jetzt „in der menschlichen Vernunft und im Prinzip der sittlichen Autonomie“ des Menschen. „Die Vernunftnatur des Menschen wurde von der theologischen Ethik abgekoppelt.“26 Gott wurde zwar nicht negiert – für Locke blieb er die Quelle des Naturrechts –, aber er wurde nicht mehr für die dogmatische Begründung des Naturrechts benötigt. Er konnte sozusagen „in Klammern“ gesetzt werden.27 Das Naturrecht galt gleichermaßen mit oder ohne Gott. Die letzte Verselbständigung des Naturrechts und damit der Menschenrechte erfolgte durch Immanuel Kant, der den Menschen als freies autonomes Subjekt definierte, das die Grundlage des Rechtsstaats bildet. Dieses autonome Subjekt gibt sich selbst die Gesetze und befolgt sie in freier Selbstbestimmung.28 Der freie, vernunftbegabte und verantwortungsbewusste Mensch war nunmehr die letzte Begründung der Menschenrechte – und nicht mehr Gott, wobei es jedem freigestellt blieb, wie John Locke doch noch eine allerletzte Begründung des gedanklich an sich selbständigen Naturrechts und der Menschenrechte bei Gott zu suchen. 23 24 25 26 27 28
G. Oestreich, Geschichte, 41. Ebd., 41 (Hervorhebung vom Verf.). L. Kühnhardt, Universalität, 32 (Hervorhebung vom Verf.). Ebd., 57. A. Neschke-Hentschke, Tradition, 30. Ebd., 32.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Die Menschenrechte waren in dieser Form in einer Zeit entstanden, in der sich der absolutistische Staat etablierte. Dieser nahm zunehmend die alleinige Verfügungsgewalt über die Bürger in Anspruch, die damit nur noch Objekte der Herrschaft waren. Die Menschenrechte waren deshalb in erster Linie rein individuelle Freiheitsrechte zur Abwehr von Übergriffen des Staates, des Leviathans, wie Hobbes ihn genannt hatte. Gegen ihn richteten sich die Grundrechte und verlangten eine strikte Beschränkung der Herrschaftsgewalt. Sie wurden damit zu bürgerlich-liberalen Freiheitsrechten, die bis heute ihre Geltung behalten haben. 5. In der Folgezeit entwickelten sich zwei Gegenströmungen, die dem Naturrecht und den klassischen Menschenrechten skeptisch gegenüberstanden. Es handelt sich dabei zunächst um den Rechtspositivismus, der, verbunden mit einer besonderen Hochachtung des Staates und seiner Einrichtungen, in unterschiedlicher Radikalität das Naturrecht oder zumindest eine Berufung auf ein solches Institut ablehnt. Diese Auffassung basiert auf einer erheblichen Skepsis gegenüber einem ungeschriebenen, zu Relativität und Subjektivität neigenden vorstaatlichen Recht, was jeder Jurist nachempfinden kann. Gerechtigkeit gibt es nur um den Preis geschriebenen Rechts. Der Richter benötigt präzise formulierte Rechtsvorschriften, unter die er die zu entscheidenden Einzelfälle subsumieren kann. Ein ungeschriebenes oder nur in allgemeinen Erklärungen gefasstes Naturrecht lässt sich nicht in die Praxis umsetzen. Der Rechtspositivismus geht aber noch einen Schritt weiter. Einige Vertreter dieser Richtung bezweifeln, ob es überhaupt vorstaatliche, angeborene Rechte des Menschen geben könne. Von „Rechten“ könne man erst sprechen, wenn diese von der Rechtsordnung anerkannt werden. Grundrechte der Bürger werden zwar nicht bestritten; die Sicherung von Leben, Freiheit und Eigentum gehören selbstverständlich zu den Kernaufgaben des Staates. Aber diese Grundrechte entstehen erst im Rahmen des Rechtslebens, in einer „positiven“ Fortentwicklung des Rechts, wobei oft Hegel als Gewährsmann zitiert wird. „Es gibt keine natürlichen, sondern nur bestimmte, vom Staat festgesetzte Rechte.“29
29
G. Oestreich, Geschichte, 80.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
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Der Rechtspositivismus besticht durch seine klare Linie. Nur das geschriebene Recht gilt. Das bringt Rechtssicherheit, ein wichtiges Ziel der Rechtspflege. Man kann und will sich dabei darauf verlassen, dass der Gesetzgeber seiner Verantwortung gerecht wird und nur Gesetze erlässt, die den Ansprüchen umfassender Gerechtigkeit genügen. Dies ist aber auch zugleich die Achillesferse des Rechtspositivismus. So geriet er insbesondere in der Zeit nach 1945 erheblich in die Kritik. Er wurde verantwortlich gemacht für die „Gesetzeshörigkeit“ vieler deutscher Juristen während der Zeit des Nationalsozialismus. Die kritiklose Befolgung erlassener Gesetze, auch wenn sie offensichtliches Unrecht enthielten, sei eine der Ursachen für das Unglück vor 1945 gewesen. Allgemein wurde der Ruf laut: „Zurück zum Naturrecht!“ In diese Diskussion gehört auch der schon zitierte Beitrag von R. Albertz über die „Theologisierung des Rechts im alten Israel“.30 Diese überzeugenden Ausführungen betreffen aber nur die Notwendigkeit einer Anbindung des Rechts an übergeordnete Werte. Es geht hier jedoch nicht um die Frage, ob das positive, also das geschriebene Recht an eine übergeordnete Idee gebunden sein soll, sondern darum, wie eine solche Bindung ausgestaltet und vor allem kontrolliert werden kann. Die Anbindung des Rechts an eine vorgegebene Autorität, sei es Gott, die Vernunft, das autonome Subjekt oder ganz allgemein die Gerechtigkeit, wird von kaum jemandem bestritten; problematisch ist aber, wie diese Bindung funktional auszugestalten ist, um Gesetzgebung und die Rechtsprechung auf die Beachtung dieser Grundsätze zu verpflichten. Und das ist letztlich eine Frage der Ausgestaltung einer demokratischen, rechtsstaatlichen Verfassung mit einer präzisen Regelung des Normenkontrollverfahrens durch ein Verfassungsgericht. Das zweite Problem ist die Ausweitung, aber auch der Missbrauch der Menschenrechtsidee für politische und ideologische Ziele. Es geht dabei zunächst um die sozialen Umbrüche im Frühkapitalismus mit der Entstehung des Proletariats und dem damit verbundenen Massenelend in den Industrienationen. Der Kommunismus / Sozialismus sah als eine der Ursachen den Missbrauch der bürgerlich-liberalen Grundrechte an, die die Anhäufung von Vermögen und wirtschaftlicher Macht durch den Schutz des Eigentums und die Verarmung der Arbeiter mit schlechten Arbeitsverträgen durch die Sicherung der Vertragsfreiheit ermöglichten. Die traditionellen Grundrechte schützten einseitig die besitzende Klasse. 30
R. Albertz, Theologisierung.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Die klassischen Grundrechte waren deshalb zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen durch eine Absicherung des Rechts auf ein Existenzminimum und ein Leben in Würde für alle. So wurden Forderungen nach einem Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf Krankenvorsorge oder auf Urlaub erhoben. Diese an sich berechtigten Forderungen sollten jetzt aber den Status von allgemeinen Menschenrechten erhalten und damit unter entsprechendem verfassungsmäßigen Schutz stehen. Die Kirchen schlossen sich teilweise diesen Forderungen an.31 Man sprach von einer „zweiten Generation“ von Grundrechten, von „sozialen oder Teilhaberechten.“32 Die Diskussionen um diese Forderungen führten zu einer Zerreißprobe in der internationalen Menschenrechtsdebatte.33 Die kommunistischen Staaten füllten nicht nur ihre „Verfassungen“ mit einer Vielzahl niemals erreichter Sozialrechte, sondern versuchten diese auch im Rahmen der UNO durchzusetzen. Die Menschenrechte wurden zu Kampfrechten.34 Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948“ der UNO35 ist deshalb auch ein Kompromiss aus beiden Arten von Grundrechten. Trotz dieser politischen Vorbelastung der sozialen Rechte versucht man heute allgemein eine Zusammenschau der Rechte zu erreichen und nach dogmatischen Zusammenhängen zu suchen.36 Die „Menschenwürde“ könnte ein alles umfassender Begriff sein. „Die Würde des Menschen scheint uns heute … den alle Grundrechte umfassenden und zusammenschließenden Wert auszudrücken.“37 Im deutschen Verfassungsleben gewinnt bei dieser Diskussion der Gedanke der Sozialstaatlichkeit zunehmend an Bedeutung. Hierbei geht es nicht mehr um die Abwehr von Übergriffen des Staates durch eine Festschreibung der klassischen Menschenrechte als Freiheitsrechte, sondern umgekehrt um die Frage, wie weit der Staat verpflichtet ist, sich direkt selbst um die sozialen Belange der Bürger zu kümmern und sich aktiv, gestalterisch in die materiellen, kulturellen oder gesundheitspolitischen Fragen der Gesellschaft einzubringen. Obwohl das Grundgesetz kaum derartige Verpflichtungen normiert hat, wird der in Art. 20 und 28 GG niedergelegte Grundsatz der Sozialstaatlichkeit heute sehr extensiv angewandt, wobei nicht geklärt ist, ob
31 32 33 34 35 36 37
G. Oestreich, Geschichte, 116. Ebd., 105. L. Kühnhardt, Universalität, 136. Ebd., 134. Ebd., 305. Chr. Tomuschat, Einheit, 140. G. Oestreich, Geschichte, 117; L. Kühnhardt, Universalität, 232.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
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man hier von eigentlichen Grundrechten sprechen kann. Die sozialen Rechte haben einen hohen Stellenwert. „Aber die Frage bleibt bis zum heutigen Tage offen, ob sie echte subjektive Rechte in gleicher Weise wie die traditionellen Freiheitsrechte verkörpern können.“38 Eine weitere Ausweitung des Menschenrechtsbegriffs erfolgte durch die Entwicklungsländer. Hier wurden Forderungen nach einem Menschenrecht auf Frieden, auf Entwicklung, auf eine natürliche Umwelt oder nach nationaler Selbstbestimmung laut.39 Sie werden eine „dritte Generation“ von Menschenrechten genannt,40 bei denen es sich dann aber nicht um Rechte von Menschen, sondern von Völkern und Staaten handelt. Ob derartige Forderungen deshalb den Rang von Menschenrechten haben, ist m. E. sehr zweifelhaft. Es handelt sich hierbei nicht um eine rein theoretische Diskussion. Wenn diese durchaus berechtigten Ansprüche als „Menschenrechte“ anerkannt würden, stünden sie als solche nicht nur unter dem Schutze jedes einzelnen Staates, sondern auch der Völkergemeinschaft, repräsentiert durch die UNO. Sie ließen sich dann, zumindest moralisch und politisch, mit Nachdruck einfordern und können als Munition im Debatten-Kampf gegen die reichen Industrienationen eingesetzt werden.
Fazit Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die heutigen Menschenrechte das Produkt einer über zweitausendjährigen abendländischen Entwicklung sind. Antike Philosophie, römisches Rechtsdenken, christliche Theologie und der Rationalismus der Aufklärung schufen das, was heute als die wichtigste Kulturleistung des Abendlandes bezeichnet werden kann: Die Anerkennung von menschlichen Rechten, die dem Zugriff der Macht entzogen sind. Menschenrechte sind individuelle, angeborene, vorstaatliche und unveräußerliche Rechte, die nicht aberkannt oder in ihrem Wesensgehalt eingeschränkt werden dürfen. Sie sind sogar unverzichtbar; sie können also auch nicht freiwillig aufgegeben werden. Die Menschenrechte haften dem Menschen von Geburt, von Natur aus an und haben universale Geltung.
38 39 40
Chr. Tomuschat, Einheit, 147. L. Kühnhardt, Universalität, 248. Ebd., 248.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Sie stehen damit auch über den Religionen und deren Geboten. Auch die islamische Scharia korrigiert nicht die Menschenrechte, sondern diese kontrollieren umgekehrt die Scharia – eine Konsequenz, die für viele traditionelle Muslime nicht nachvollziehbar ist, die aber für das Zusammenleben in einer modernen, westlichen Demokratie unerlässlich bleibt. Deshalb ist auch der durchaus wünschenswerte „Dialog der Religionen“ nicht das Hauptproblem multikultureller Gesellschaften, sondern die allgemeine Anerkennung gemeinsamer Grundwerte, so wie diese in einer über allen Religionen und allen Ideologien stehenden Verfassung niedergelegt sind. In dieser Bedeutung haben die Menschenrechte Eingang gefunden in die ersten schriftlichen Verfassungen in Nordamerika und Frankreich, um dann auch in den weiteren europäischen Verfassungen bis heute fortgeführt zu werden.
Exkurs 4: Die Menschenrechte als Individualrechte Bei der Diskussion um die Menschenrechte wird ein wichtiger Punkt oft übersehen. Die heutigen Menschenrechte, so wie sie sich im abendländischen Raum seit der Aufklärung entwickelt haben, sind Individualrechte, die jedem Menschen von Geburt an zustehen und ihm nicht genommen werden können. Er selbst ist Träger dieser Rechte und kann sie auch selbst einfordern. Die Sicherung der materiellen Existenz und die Achtung der Menschenwürde sollen also nicht davon abhängen, ob die anderen Mitglieder der Gesellschaft diese Ansprüche aus religiöser oder moralischer Verpflichtung heraus von sich aus erfüllen oder eben auch nicht, sondern davon, dass diese elementaren Bedürfnisse als jedem Einzelnen unmittelbar zustehende Rechte gesehen werden, die – in umgekehrter Blickrichtung – von diesem auch selbst direkt von den Anderen eingeklagt werden können. Er ist also nicht mehr nur Objekt einer moralischen oder religiösen Verpflichtung, sondern unmittelbares Subjekt eigener Rechte. Ob die Einforderung dieser Rechte dann in der Realität immer gelingt, ist eine andere Frage und hängt davon ab, ob rechtsstaatliche, verfassungsgebundene Verhältnisse herrschen. Wenn also im Rahmen dieser Diskussion unter Hinweis auf die Nächstenliebe im Neuen Testament, auf die Sozialgesetzgebung im Alten Testament oder die Almosenpflicht im Koran oft vorgetragen wird, hiermit seien Menschenrechte angesprochen, so ist dies aus heutiger Sicht nicht richtig. Es
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handelt sich vielmehr um nur einseitige Verpflichtungen, deren Einhaltung der zu schützende Nächste nicht beeinflussen kann. Sie sind, juristisch gesprochen, nicht „einklagbar“ und deshalb wertlos, wenn sie von der anderen Seite nicht eingehalten werden. Auf den Dekalog angewendet würde dies bedeuten, dass wir hier noch von keinen Menschenrechten im modernen Sinne sprechen könnten. Dies wäre aber eine voreilige Betrachtung. Der Dekalog will nämlich durch seine präzise apodiktische Redeweise mehr sein als nur eine allgemeine Verpflichtung zu sozialverträglichem Verhalten. Die unbedingte Anrede mit „Du sollst …!“ ist so zwingend, ohne wenn und aber, dass die Schwelle hin zu echten Menschenrechten sicherlich überschritten sein dürfte. Der Dekalog enthält zwar expressis verbis keine direkten „Rechte“ des Nächsten; inhaltlich ist er aber ein Normenkatalog, auf dessen Einhaltung sich der sozial Schwache unmittelbar berufen kann. Hinzu kommt, dass der Dekalog zu seiner Zeit auch gar nicht anders formuliert werden konnte. Heutiges Verfassungsdenken und die Ausformung von Menschenrechten sind ein Produkt der Neuzeit. Wir können deshalb 2.500 Jahre zurückgerechnet nicht die gleiche Wortwahl und Denkrichtung erwarten. Umso erstaunlicher ist daher die geniale Art, durch die apodiktische Formulierung die Unbedingtheit der Normen zum Ausdruck zu bringen. Diese erhalten hierdurch dann doch den Charakter von echten Menschenrechten. Ähnlich hierzu formuliert E. Otto: „Die rechtliche Anerkennung von Menschenrechten … ist ein Kennzeichen der Moderne. Erst die Überführung der Ideen in den Bereich des Rechts unterscheidet die Moderne seit der Aufklärung grundlegend von der Antike.“ 41 Menschenrechte bedürfen der rechtlichen Normierung, um wirksam sein zu können. Dies kennen wir in der Tat grundsätzlich erst in der Moderne. Eine Ausnahme hiervon bildet aber gerade der Dekalog durch seine noch darzulegende verfassungsrechtliche Struktur als übergeordneter Grundrechtskatalog. Er stellt ein einmaliges Dokument dar, dessen Wert nicht hoch genug eingestuft werden kann.
41
E. Otto, „Menschenrechte“, 120.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Exkurs 5: Amos 1.
Amos und die Menschenrechte
Es wurde bereits zu Beginn dieses Kapitels (I.1.) darauf hingewiesen, dass in der juristischen und rechtsgeschichtlichen Literatur der Menschenrechtsdiskurs erst in Athen mit der Stoa beginnt. Der Dekalog kommt erst später, bei der Erörterung des christlichen Mittelalters, ins Gespräch. Das Gleiche gilt auch für andere Texte des Alten Testaments, wie z. B. die Prophetenschriften. Dabei hätten das apodiktische Recht oder die sozialen Anklagen der Propheten durchaus Anlass geben können, bereits hier erste Anfänge der Menschenrechtsdiskussion zu suchen. Geht es in diesen Texten doch nicht nur um religiös-kultische Verfehlungen, sondern ganz vorrangig um die Verletzung von elementaren Ansprüchen des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Die Ausbeutung der Armen, die Missachtung des Lebens und der Menschenwürde stehen im Zentrum dieser Anklagen bzw. Rechtsnormen. Hier ist insbesondere auf den Propheten Amos zu verweisen, dessen Texte trotz zahlreicher späterer Ergänzungen in ihrem Grundbestand bis in das 8. Jahrhundert zurückreichen. Sie sind damit um mehrere Jahrhunderte älter als die ersten Erörterungen in der griechischen Antike. Amos prangert in seinen Anklagen massive Verfehlungen der reichen Oberschichten, aber auch ganzer Völker an. Modern gesprochen handelt es sich dabei um Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen. Deshalb spricht E. Zenger hier auch von „Menschenrechtsverbrechen“42 und F. W. Golka von „allgemeinen Menschenrechten“, weil JHWH von Amos als Gott der gesamten Menschheit angesehen werde.43 Dies wird unmittelbar deutlich in den sogenannten Völkersprüchen des 1. Teils (1,3–2,16). Hier werden die Nachbarländer Aram, Philistea, Tyrus, Edom, Ammon und Moab und schließlich, als Kulminationspunkt, auch Juda und Israel wegen verschiedener Verbrechen Gottes Gericht überantwortet, das von Amos endgültig und unwiderruflich gesehen wird. Erst in exilischer oder nachexilischer Zeit wird durch den Zusatz von 9,7–15 die Heilszusage Gottes wieder hergestellt.44
42 43 44
E. Zenger, Einleitung, 534. F. W. Golka, Amos und Hosea, Vorlesung SS 05, 12.4. J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie, 81; E. Zenger, Einleitung, 539.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
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Bei den meisten Völkersprüchen haben wir es mit Vergehen zu tun, von denen weder Israel noch seine Religion direkt betroffen sind. Täter und Opfer sind keine Israeliten. Hierbei handelt es sich zwar auch um einen rhetorischen Kunstgriff, um die folgenden Anklagen gegen Juda und Israel umso dramatischer gestalten zu können; es zeigt aber auch, dass Amos von verbindlichen Grundregeln ausgeht, die von allen Völkern, auch außerhalb Israels, zu beachten sind. Es gibt Grenzen, die nirgends überschritten werden dürfen. Leben, Freiheit und Eigentum sind überall und zu allen Zeiten geschützt. Dies entspricht der Auffassung des Amos, dass JHWH nicht nur der Herr Israels, sondern auch aller anderen Völker in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist und dass im Gericht totale Gleichheit zwischen Israel und den Völkern herrscht.45 G. Fohrer formuliert diesen Gedanken wie folgt: „Sogar für das Zusammenleben der Völker setzt er gottgewollte Regeln voraus, deren Verletzung Jahwe ahndet, auch wenn Israel gar nicht betroffen ist, 2,1–3; damit bahnt er den Weg in eine national entschränkte, universale Theologie.“46 Dieser zeitlose und universelle Charakter ist ein zentraler Punkt auch bei der Diskussion um die Menschenrechte. Diese müssen überall und von jedermann beachtet werden, um wirksam sein zu können. Sie sind nicht an unterschiedliche historische oder ethnische Gegebenheiten gebunden, sondern sind in ihrem Wesen unabänderlich, auch wenn bei ihrer Konkretisierung Unterschiede auftreten können und müssen. Weiterhin muss es sich bei Menschenrechten um die grundlegenden Ansprüche des Menschen handeln. Nur schwerwiegende Verstöße kann man in die Menschenrechtsdebatte einbeziehen. Aber auch dies ist bei Amos der Fall. Es geht bei den Völkersprüchen u. a. um Verschleppung und Sklaverei, kriegerische Überfälle, das Aufschlitzen schwangerer Frauen und die Störung der Totenruhe. J. Magonet schreibt: „Diese beiden letzten Anklagen erstaunen, stellen sie doch Angriffe auf die Heiligkeit des Lebens selbst dar: die Vernichtung ungeborenen Lebens und die Entweihung von Toten.“47 Ein würdiges Begräbnis und die Einhaltung der Totenruhe waren in der Antike besonders wichtig. Dies wird z. B. im Trauerspiel „Antigone“ von Sophokles sehr eindringlich dargestellt. Das Wort „Humanität“ leitet sich vom lateinischen „humare“ (= beerdigen) ab.
45 46 47
F. W. Golka, Amos und Hosea, Vorlesung SS 05, 12.4. G. Fohrer, Einleitung, 481. J. Magonet, Die subversive Kraft der Bibel, 99.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Die weiteren Anklagen des Amos gegen Juda, die allerdings erst später eingefügt wurden48, und dann besonders gegen Israel / Samaria beinhalten neben Verstößen gegen den Kultus ebenfalls schwerwiegende Verbrechen der reichen Oberschicht durch hemmungslose Ausbeutung der Armen bis hin zur Schuldsklaverei. Der Einsatz für die Armen und Geringen ist eines der Hauptthemen bei Amos.49 Wir finden also bei ihm indirekt die spätere Trias der Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum. Allerdings ist der Blickwinkel bei Amos ein anderer. „Menschenrechte“ werden nicht als solche formuliert. Es geht vielmehr um die Verpflichtung der Menschen, Gottes Gebote zu achten. Die zu schützenden Personen sind nicht Inhaber eigener Rechte, sondern Gegenstand der religiösen Pflichten der Mitmenschen. Auf diesen Unterschied wurde bereits im vorigen Exkurs 6 hingewiesen. Trotzdem kann man aus den vorhergehenden Erwägungen bei Amos durchaus von grundlegenden Normen sprechen, die bereits Menschenrechtscharakter tragen.
2.
Amos und das apodiktische Recht
Eine viel diskutierte Frage ist, in welchen Traditionen theologischer, rechtlicher oder gesellschaftlicher Art Amos gestanden hat. Es geht um seine „geistige Heimat.“50 R. Rendtorff will sich hier nicht festlegen: „Dabei sind viele zutreffende Beobachtungen gemacht worden, doch hat sich kein abgrenzbarer Bereich innerhalb der israelitisch-judäischen Traditionen ergeben, aus dem heraus Amos verstanden werden könnte und müßte.“51 Auch G. Fohrer sieht keine spezielle Bindung des Amos an bestimmte Traditionen: „Grundlegend ist vielmehr sein Nein zum sozialen Verhalten Israels, zu seinem Geschichtsverständnis, zum Kultus und zu seiner Existenz überhaupt.“ Die gleiche Auffassung vertreten auch E. Zenger52 und J. Blenkinsopp53. Für sie ist Amos ein „Konservativer, der die alte Ordnung entschwinden sieht.“ Es gehe um das „traditionelle, allgemein anerkannte Ethos ……., wie es in Israels Sprüchen
48 49 50 51 52 53
J. Blenkinsopp, Geschichte, 81. H. W. Wolff, Amos’ geistige Heimat, 48. Ebd., 1. R. Rendtorff, Das Alte Testament, 235. E. Zenger, Einleitung, 543. J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
153
und Unterweisungen und in seinem apodiktischen und kasuistischen Recht zum Ausdruck kommt.“54 In der älteren Literatur versuchte man dagegen, konkrete Anknüpfungspunkte an rechtliche oder gesellschaftliche Traditionen zu finden. R. Bach hat in einem Beitrag von 195755 darzulegen versucht, dass Amos unmittelbar auf das apodiktische Recht Bezug nehme. Dieser Nachweis ist ihm aber m. E. nicht gelungen. Er übernimmt nämlich ohne Einschränkungen die Überlegungen von A. Alt zur Einteilung und Entstehung des apodiktischen und kasuistischen Rechts. Auch für ihn ist das apodiktische Recht „volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch“, habe seinen Sitz im Kult (Bundeserneuerungsfest) und stehe in Konkurrenz zum profanen kasuistischen Recht, das kanaanäischer Herkunft sei und seinen Sitz in der „Rechtsgemeinde im Tor“ habe. Beide Rechtsformen hätten zur Zeit des Amos nebeneinander bestanden. „Ja, eine Verschmelzung und vollständige gegenseitige Durchdringung der beiden Rechte stellt nicht einmal das uns im Pentateuch vorliegende Endergebnis der israelitischen Rechtsgeschichte dar; es ist vielmehr sowohl im Bundesbuch als auch im Deuternonomium lediglich zu einem schiedlich-friedlichen Nebeneinander der beiden Rechte gekommen, ohne einen wirklichen Ausgleich zwischen ihnen.“56 Nach R. Bach greifen deshalb alle Begründungen des Amos für seine Unheilsankündigungen auf das apodiktische Recht zurück, teilweise sogar in ausdrücklicher Ablehnung des kasuistischen Rechts, wie z. B. bei der Schuldknechtschaft, die in Amos 2,6 und 8,6 abgelehnt wird, obwohl sie in Ex 21,2ff.; 7ff.; Dt 15,22ff. nicht verboten ist.57 Das Problem bei R. Bach besteht aber darin, dass er zwar für die Anklagen des Amos, z. B. gegen die Unterdrückung der Armen, die Rechtsbeugung, die Betrugspraxis der Kaufleute usw., entsprechende inhaltliche Parallelen im apodiktischen Recht, so wie es im biblischen Endtext vorliegt, aufweisen kann, dass aber an keiner Stelle ein direkter Hinweis bzw. ein Zitat des Amos hinsichtlich des apodiktischen Rechts nachzuweisen ist. Es sind alles nur inhaltliche Übereinstimmungen, die sich aus der Sache selbst ergeben, und nicht aus der Formulierung bestimmter Rechtssätze.
54 55 56 57
J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie, 86. R. Bach, Gottesrecht, 23–34. Ebd., 25. Ebd., 29.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Der Grund hierfür ist einfach. Entgegen der Annahme von R. Bach gab es das apodiktische Recht zur Zeit des Amos, also im 8. Jahrhundert, noch nicht, zumindest nicht als eine fest gefügte ausformulierte Rechtsgattung. Diese finden wir erst später im biblischen Endtext. Deshalb konnte Amos auch noch nicht den Dekalog oder andere Bestimmungen des apodiktischen Rechts zitieren. Ihm waren noch nicht einmal der Exodus, geschweige denn der Sinai bekannt.58 Der Exodus wird erst im späteren Anhang (9,7) erwähnt. Dem ursprünglichen Amos lagen die Exodus- und Sinaitraditionen offenbar noch nicht vor. Wir können deshalb auch Amos als Beleg für die hier vertretene These einer sehr späten Entstehung des apodiktischen Rechts heranziehen. Eine präzisere Untersuchung bietet demgegenüber H. W. Wolff in seinem Buch „Amos’ geistige Heimat“. Er kann sehr ausführlich belegen, dass Amos in der Tradition der altisraelitischen Sippenweisheit steht und hieraus seine Ethik und Theologie bezieht. Es sind ausreichende sprachliche, grammatische und thematische Übereinstimmungen mit der übrigen weisheitlichen Literatur vorhanden, die diesen Schluss zulassen. Für H. W. Wolff ist Amos deshalb auch nicht im Kult beheimatet. Vielmehr ist davon auszugehen, dass „die urtümliche Verkündigung des altisraelitischen Gottesrechts in der Form der Sippenweisheit mindestens bis in die Zeiten des Amos hinein wenigstens in einigen noch mehr halbnomadisch lebenden Kreisen Israels und in deren landstädtischen Siedlungszentren auf eine unverwechselbare Weise weiterlebte.“59 J. Blenkinsopp bringt für diese Problematik ein sehr schönes Beispiel.60 Im Javneh-Jam-Ostrakon Nr. 1 bittet ein Landarbeiter den Ortskommandanten, die Rückgabe seines gepfändeten Rockes zu veranlassen, für den er einen Kredit nicht zurückzahlen konnte. Genau der gleiche Fall wird in Amos 2,8 angesprochen. Beide, Amos und der Landarbeiter, nehmen aber nicht Bezug auf Ex 22,25f., obwohl dort der gleiche Sachverhalt geregelt wird. Alle drei Zeugnisse stehen also nicht in Abhängigkeit voneinander, sondern gründen auf dem allgemeinen Grundsatz, dass auch eine an sich legale Zwangsvollstreckung ihre Grenze bei einer Gefährdung der Existenz des Schuldners hat. Diese Absicherung des Lebens und der Menschenwürde kann in verschiedenen Formen Ausdruck finden und zu verschiedenen Zeiten immer wieder neu formuliert werden. 58 59 60
H. W. Wolff, Amos, 37. Ebd., 60. J. Blenkinsopp, Geschichte, 86.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
155
Außerdem ist zu bedenken, dass das Anprangern sozialer Missstände keine besondere, eigenständige „Heimat“ erfordert, sondern überall und zu allen Zeiten denkbar ist. Die gerechte Empörung über Missetaten ist an keine spezielle Kultur oder Theologie gebunden. Überall, wo Menschenrechtsverletzungen begangen werden, finden sich auch immer wieder mutige Ankläger, die versuchen, diese an die Öffentlichkeit zu bringen. Anzumerken ist noch, dass sowohl R. Bach als auch H. W. Wolff bei ihren sprachlichen Untersuchungen vom späten masoretischen Text ausgehen, obwohl zwischen Amos und der Endfassung des masoretischen Textes ca. 1.800 Jahre Sprachentwicklung stehen. Im 8. Jahrhundert begann sich die altisraelitische Schrift und Sprache erst allmählich zu formieren. Wir wissen deshalb nicht, in welchem Dialekt Amos und seine ersten Schüler gesprochen haben und wie er sich im Nordreich verständlich gemacht hat. Vielleicht konnte er auf die damalige lingua franca, das Aramäische, oder das alte Phönikisch zurückgreifen. Detaillierte sprachliche Untersuchungen sind deshalb bei Amos immer nur unter Vorbehalt möglich.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens
1. Die im vorigen Kapitel erörterten Menschenrechte bleiben wirkungslos, wenn sie nur Gegenstand philosophischer oder theologischer Betrachtung bleiben. Sie müssen aus dem Reich der Philosophie in die harte Welt des Rechtslebens und der Rechtswirklichkeit geholt werden. Allgemeine Apelle und auch die Überzeugung aller Betroffenen reichen nicht aus, um Menschenrechte durchzusetzen und sie dem Zugriff der Mächtigen zu entziehen. Sie müssen vielmehr konkret normiert und für alle verbindlich gemacht werden. Und dies kann, wie die historische Entwicklung gezeigt hat, nur im Rahmen einer Verfassung geschehen. Man kann sogar zugespitzt formulieren: „Ohne Verfassungsstaat gibt es im Grunde keine Menschenrechte – das ist die fundamentale Erfahrung bis zum heutigen Tage geblieben.“ 1 Wenn die allgemeinen Menschenrechte in einer Verfassung verankert sind, spricht man von Grundrechten. Die Begriffe Menschen- und Grundrechte sind zwar inhaltlich im wesentlichen gleichbedeutend; von Grundrechten spricht man aber erst, wenn es sich um Rechte handelt, die in einer konkreten, schriftlichen Verfassung niedergelegt und garantiert sind.2 Dies kommt im Grundgesetz, der heutigen deutschen Verfassung, in Art. 1 deutlich zum Ausdruck: „Art. 1 (Schutz der Menschenwürde) (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“3
Hier haben wir genau diese Reihenfolge: Die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“ werden in den „nachfolgenden Grundrechten“ ausformuliert und werden dadurch „unmittelbar geltendes Recht“. Erst durch 1 2 3
L. Kühnhardt, Universalität, 65. K. Hesse, Grundzüge, 125ff. Grundgesetz, Beck-Texte im dtv, Nördlingen 2005, 15.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
diese Aufnahme in eine Verfassung als Grundrechte und die Anerkennung ihrer unmittelbaren Rechtsverbindlichkeit werden Menschenrechte konkretisiert und für den Schutz des Einzelnen verfügbar gemacht. Nur hier können sie ihre volle Wirksamkeit entfalten. Deshalb ist Verfassungsgeschichte immer auch eine Geschichte der Menschenrechte – und umgekehrt. Bei dem Begriff der Verfassung müssen wir allerdings zwischen der allgemeinen Bedeutung und der speziellen Ausformung in der Neuzeit unterscheiden. Jedes Herrschaftsgebiet hat eine „Verfassung“ im Sinne einer rechtlichen Grundordnung; es muss nicht immer eine demokratisch-rechtsstaatliche Form sein. Jede Art von Verfassung ist denkbar und historisch nachweisbar, wobei auch nicht unbedingt eine zusammenhängende Verfassungsurkunde vorliegen muss. Es waren in früheren Zeiten häufig nur Einzelgesetze oder andere Rechtseinrichtungen wie Gewohnheitsrechte, Urteile, Privilegien oder Verträge aller Art, die erst in ihrer Gesamtheit eine bestimmte Form von „Verfasstheit“ eines Gemeinwesens4 oder Staates ausmachten.5 So gesehen können wir für alle historischen Gesellschaften „Verfassungen“ aufzeigen. Erörtert werden in den gängigen Lehrbüchern, so z. B. von U. Wesel, Geschichte des Rechts, üblicherweise die „Verfassungen“ von Athen und Sparta, von Rom, des Frankenreichs und des Mittelalters6, weil es sich hierbei um direkte Vorläufer der modernen Verfassungen handelt. Die Verfassungen im engeren heutigen Sinne lässt man dann erst in Virginia und im Frankreich der Revolution beginnen. Hier finden wir die ersten vollständigen Verfassungen, mit einem Katalog der Menschen – oder Grundrechte und dem sogenannten Staatsorganisationsrecht. Das deutsche Standardwerk von W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, beginnt dementsprechend auch direkt mit der nordamerikanischen und der französischen Revolution und lässt die frühen Vorläufer dieser Verfassungen nur rechtshistorisch durchscheinen.7 Verfassungen im heutigen Sinne setzen zwei Dinge voraus: die Entstehung eines „Staates“ und weiterhin die damit verbundene Trennung von öffentlichem und privatem Recht. Beides war in der Frühzeit und im Mittelalter noch nicht gegeben. Nationalstaaten, meist in Form absolutistischer Herr-
4 5 6 7
K. Hesse, Grundzüge, 9. D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. U. Wesel, Geschichte des Rechts, 121, 162, 276 u. 291. W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 9.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens
159
schaften, kennen wir erst seit dem 17. und 18. Jahrhundert, mit dem Beginn der Neuzeit.8 Erst hier machen umfassende Regelungen der gesamten politischen Ordnung Sinn. Vorher konnte man sich mit Einzelregelungen begnügen. Und in dieser Zeit entstand auch das heutige „öffentliche Recht“, das „ius publicum“. Die Lehre hiervon nannte man die Reichspublizistik.9 Man konnte jetzt die rechtlichen Verhältnisse des Menschen aufteilen, einerseits in seine Stellung als Privatmann, in sein privates Verhältnis zu seinen Mitmenschen (Zivilrecht), und andererseits in seine Stellung als Bürger innerhalb eines Staates, der seinerseits ebenfalls zusätzliches, eigenes Recht für die Regelung seiner öffentlichen Belange benötigte (öffentliches Recht). Beides, nämlich die Entstehung von Staaten und die Trennung von privatem und öffentlichem Recht, bedingen einander und entstanden zur gleichen Zeit. Der einzelne Bürger wurde im absolutistischen Staat zunehmend als individuelles Objekt der Herrschaft gesehen. Der mittelalterliche Ständestaat wurde allmählich zurückgedrängt. Es sollten möglichst keine ständischen, statusbedingten Sonderregelungen mehr gelten. Der absolutistische Staat war damit nicht nur Adressat und Gegner der Menschenrechte und des Verlangens nach verfassungsmäßiger Absicherung dieser Rechte, sondern auch deren Wegbereiter. Erst die Schaffung eines allumfassenden Staates und die zunehmende Abschaffung der Ständestruktur zugunsten einer gleichförmigen Verwaltung des gesamten Staatsgebiets ermöglichte die Vorstellung von einer für alle Bürger gleichermaßen geltenden Verfassung. Das Mittelalter war demgegenüber geprägt vom Ständedenken. Der einzelne Mensch wurde über seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand oder einer Berufsgruppe (Zünfte) definiert. Die ersten Regelungen mit „staatsrechtlichem“ Charakter waren deshalb auch nur Vereinbarungen zwischen dem Herrscher und seinen Ständen oder Städten, zwischen Kaiser und Territorialherren oder zwischen selbständigen Regenten einzelner Länder. Sie alle hatten Vertragscharakter und sicherten einem bestimmten Stand oder Territorium und dem Herrscher als Vertragsparteien bestimmte vertragliche Rechte und Pflichten zu. So war die Magna Charta Libertatum von 1251 ein Vertrag zwischen dem englischen König und seinen Vasallen, den Baronen. Er galt nur für diese und nicht für die Gesamtheit der Untertanen.10 Das Gleiche gilt dann auch für weitere Vereinbarungen, z. B. die Goldene 8 9 10
U. Wesel, Geschichte, 415. Ebd., 363ff.; G. Oestreich, Geschichte, 13. U. Wesel, Geschichte, 416.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Bulle von 1356, das „Grundgesetz des Reiches“, oder den Augsburger Religionsfrieden von 1555. Es waren sogenannte „Statusverträge“. Ihnen fehlte der allumfassende individuelle und universelle Charakter der heutigen Menschenrechte und der modernen Verfassungen. 2. So gesehen ist es korrekt, wenn man das eigentliche Verfassungswesen erst mit den entsprechenden Bestrebungen in Nordamerika und Frankreich beginnen lässt. Hier wurden die ersten echten Verfassungen geschrieben. Den Beginn macht die Bill of Rights of Virginia von 1776 mit einem Katalog von Grundrechten. „Die Bill of Rights von Virgina war die erste umfassende und verfassungskräftige Positivierung von Grundrechten im modernen Sinn.“11 Hier erscheint die klassische Trias von Leben, Freiheit und Eigentum, die auf den schon genannten John Locke zurückgeht. Auf diesen beziehen sich die Väter der ersten Verfassungen und knüpfen damit unmittelbar an das klassische Naturrecht an. Es folgen, noch im gleichen Jahr, die Unabhängigkeitserklärung und später weitere Verfassungen der amerikanischen Kolonialstaaten. 1787 tritt die Verfassung für die gesamte USA in Kraft und 1791 werden die zehn „Amendments“ (Zusatzartikel) als „Federal Bill of Rights“ hinzugefügt. Letzteres war erforderlich, weil die ursprüngliche Verfassung von 1787 noch keinen Grundrechtskatalog enthielt. Dies sollte durch die Hinzufügung der „Amendments“ nachgeholt werden. Die amerikanische Verfassung war nunmehr vollständig, nämlich mit einem Grundrechtsteil und dem Staatsorganisationsrecht. Die 10 Amendments wurden nach und nach durch 17 weitere Zusatzartikel ergänzt, die ebenfalls verschiedene grundrechtliche Fragen regeln.12 In Europa begann das Verfassungsleben etwas später, mit der französischen Revolution von 1789, wobei die Vorgänge in Nordamerika schon durch die persönlichen Verbindungen über La Fayette, Thomas Jefferson und Thomas Paine direktes Vorbild waren.13 Unmittelbar nach dem Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789 beschloß die verfassungsgebende Versammlung am 26. August 1789 die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“, die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“. 11 12 13
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 12. Ebd., 19. Ebd., 31.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens
161
Diese Erklärung, die direkt in die Verfassung vom 3. September 1791 aufgenommen wurde, ist eines der bedeutendsten Dokumente der Neuzeit. Sie ist das „Credo eines neuen Zeitalters“14 und in ihrer Wirksamkeit nur mit ihrem religiösen Pendant, der Exodustradition und dem Dekalog, zu vergleichen. Es geht um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Liberté, Egalité, Fraternité) und damit um die Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte. Die Déclaration ist bis heute in Frankreich geltendes Recht.15 Der von dieser französischen Erklärung ausgehende revolutionäre Schwung erfasste ganz Europa und war Grundlage und Antrieb für Freiheitsbestrebungen in allen anderen Ländern. Demokratie, Verfassung, Menschenrechte wurden zu allseits gehörten Schlagworten und führten zu weiteren Verfassungsbestrebungen in den übrigen europäischen Territorien. Wichtige Stationen in Deutschland waren dabei erste Verfassungen in Bayern, Baden und Württemberg, die allerdings noch stark monarchistisch geprägt waren und erhebliche Einschränkungen der Grundrechte enthielten.16 Die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche erarbeitete dann aber 1848 einen Grundrechtskatalog, der in den Verfassungsentwurf vom 28. März 1849 aufgenommen wurde, auch wenn diese Verfassung nie in Kraft getreten ist.17 Der Katalog von 1848 war aber Ausgangspunkt für die späteren deutschen Verfassungen, die in den einzelnen Ländern nach und nach erlassen wurden. Er war ein Meilenstein auf dem Weg zu einer freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung. „Deutschland hatte in der 48er Revolution die Leistung Frankreichs von 1789 nachgeholt und die Grundsätze seines neuen Rechtsverständnisses niedergelegt.“18 Es folgten die von Bismarck entworfene Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 und die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871. Beide Verfassungen enthalten jedoch keinen Grundrechtskatalog. Sie verweisen vielmehr auf die jeweiligen Grundrechtsbestimmungen der einzelnen Länder. Bismarck wollte damit weitere Schwierigkeiten bei der Eingliederung der einzelnen deutschen Territorien vermeiden. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 enthielt dann aber wieder eine Auflistung der „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen.“ Diese Rechte hatten jedoch über-
14 15 16 17 18
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 34. Ebd., 34. Ebd., 28. G. Oestreich, Geschichte, 93. Ebd., 98.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
wiegend nur den Charakter unverbindlicher Programmsätze.19 Viele dieser Bestimmungen wurden nicht als unmittelbar geltendes Recht aufgefaßt. Dies lag nicht zuletzt daran, daß die Weimarer Verfassung zwar einen Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich vorsah, diesen aber mit nur sehr wenigen Kompetenzen ausstattete. Es fehlten die abstrakte und konkrete Normenkontrolle und vor allem die aus heutiger Sicht unverzichtbare Verfassungsbeschwerde.20 Es bestand also nicht die Möglichkeit, Gesetze oder Maßnahmen der Exekutive auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin zu überprüfen, ein schwerwiegender Mangel, der einer der vielen Ursachen für die schrittweise Machtergreifung der Nationalsozialisten war. Das Grundgesetz vom 8. Mai 1949 hat hieraus gelernt. Nicht nur wurden die Grundrechte an den Anfang gestellt und kürzer und präziser gefasst, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen, es wurde auch das Bundesverfassungsgericht geschaffen und mit umfassenden Kompetenzen versehen. Das Normenkontrollverfahren, also die Überprüfung von Gesetzen, sowie die Verfassungsbeschwerde, die Anrufung des Gerichts durch einzelne Bürger, die sich in ihren Verfassungsrechten verletzt fühlen, sind heute Grundpfeiler der Absicherung der Grundrechte. Nur die Möglichkeit einer Kontrolle durch ein unabhängiges Gericht sichert die Einhaltung der Grundrechte und garantiert zugleich auch die Beachtung der Gewaltenteilung. Das heutige Grundgesetz hat auf diese Weise, anders als die Verfassung in Weimar, weitgehende Akzeptanz gefunden, was nicht zuletzt der umsichtigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verdanken ist. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang noch, dass dogmatisch keine zwingende Abhängigkeit zwischen den Begriffen Menschenrechte und Demokratie besteht. Menschenrechte können auch in anderen Staatsformen Beachtung finden. Eine Ausformulierung in Gestalt von Grundrechten im Rahmen einer Verfassung ist auch in anderen Gesellschaftsformen denkbar. Andererseits hat die historische Erfahrung gelehrt, dass Menschenrechte auf Dauer nur in einer Demokratie sicher aufgehoben sind. Nur eine Staatsform, in der das Volk, also die Gesamtheit aller Individuen, Souverän der Gesetzgebung ist und in der eine strikte Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle der Staatsorgane herrscht, kann langfristig die Einhaltung der Menschenrechte garantieren. K. D. Bracher hat dies zutreffend formuliert:
19 20
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 280. Ebd., 277.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens
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„In Wirklichkeit vermag wohl allein die rechtsstaatliche Demokratie das naturwüchsige ‚Recht des Stärkeren‘ mit seinem rücksichtslosen Geltungsdrang und seiner steten Tendenz zu diktatorischer Machtwillkür aufzufangen: durch Gewaltenteilung, Schutz der Minderheiten und wechselseitige Machtkontrolle. Sie schafft dadurch erst den Raum für Freiheit und kann daher trotz vieler menschlicher Mängel mit Fug als der höchste Ausdruck der politischen Kultur gelten.“21
3. Die vorangegangenen Ausführungen zur Geschichte der Menschenrechte und der Verfassungsidee lassen bereits erkennen, dass es schwierig ist, eine allgemeine, für alle Zeiten zutreffende Definition des Verfassungsbegriffs zu geben. Dafür ist der Sachverhalt zu komplex. „… die heutige Verfassungsrechtslehre hat Begriff und Eigenart der Verfassung, auch wenn sich weitgehende Übereinstimmungen finden, nicht bis zu dem Konsens einer ‚herrschenden Meinung‘ geklärt.“22 Dies hängt mit dem Wandel der Begriffe „Verfassung“ und „Staat“ zusammen, die unmittelbar verknüpft sind, und auch mit den unterschiedlichen Auffassungen über die Prioritäten bestimmter Aufgaben und Funktionen von Staat und Verfassung. Es gibt zunächst den schon erwähnten Unterschied zwischen einer Verfassung im materiellen und einer solchen im formellen Sinne.23 Der Inhalt beider Formen ist weitgehend gleich. Es können aber unterschiedliche Bereiche abgedeckt werden. So meint der formelle Begriff direkt die geschriebene Verfassungsurkunde, der ein höherer Rang und eine höhere Bestandsgarantie zukommt als einem einfachen Gesetz24 („Parlamentsgesetz“). Diese Verfassung kann nicht oder nur in einem speziellen Verfahren (qualifizierte Mehrheiten oder Volksentscheid) abgeändert werden. Eine derartige Urkunde muss nicht eine vollständige Auflistung aller verfassungs- oder staatsrechtlich relevanten Regelungen enthalten. Diese können ergänzend noch in vielen anderen Institutionen vorhanden sein, wie im Gewohnheitsrecht, in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts oder in einfachen Gesetzen, soweit diese grundlegende Regelungen der politischen und staatlichen Ordnung enthalten. Fasst man alle diese Regelungen zusammen, sprechen wir von einer Verfassung im materiellen Sinne. Es ist sogar denkbar, dass, wie in Großbritannien, 21 22 23 24
K. D. Bracher, Geschichte und Gewalt, 1981, 27. K. Hesse, Grundzüge, 3. R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 41. Ebd., 41.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
eine materielle Verfassung nur aus derartigen Einzelregelungen, ohne Verfassungsurkunde, besteht. Verfassung ist dann die „Gesamtheit der grundlegenden Regeln“ über die Staatsorganisation und die Stellung der Bürger im Staat.25 Man nennt dies auch die „ungeschriebene“ Verfassung im Gegensatz zur „geschriebenen“ Verfassung in einer Verfassungsurkunde. Dies ist rechtshistorisch bedeutsam, weil wir „geschriebene“ Verfassungen im formellen Sinne erst ab dem 18. Jahrhundert, seit der nordamerikanischen und französischen Revolution kennen. Die „Bill of Rights of Virginia“ von 1776 war die erste geschriebene Verfassung und „die erste umfassende und verfassungskräftige Positivierung von Grundrechten im modernen Sinn.“26 Diese und die weiteren Verfassungen, insbesondere die französische Menschenrechtserklärung von 1789 und die anschließende Verfassung von 1791, waren geboren aus dem Kampf gegen den absolutistischen Staat bzw. gegen eine rücksichtslose Kolonialmacht und strebten, im liberalen Sinne, die Machtbegrenzung des Staates und die Sicherung der Menschenrechte durch eine verbindliche schriftliche Verfassungsurkunde an. Gleichzeitig sollte, zur Absicherung dieser Ziele, die demokratische Grundordnung mit einer Teilung der Gewalten festgeschrieben werden. Diese Bestrebungen führten zu den Verfassungen im heutigen Sinne. Vorher waren derartige Urkunden unbekannt. Es gab nur Einzelregelungen mit Vertragscharakter, wie z. B. die „Magna Charta Libertatum“ von 1215 oder die „Goldene Bulle“ von 1356, die vertragliche Bindungen des Herrschers und der verschiedenen Stände des Territoriums enthielten. Eine zusammenfassende Urkunde, in der alle grundlegenden Regeln des politischen oder rechtlichen Lebens aufgelistet wurden, waren „systemfremd“. Sie entsprachen nicht dem Staatsverständnis früherer Zeiten. Trotzdem gab es im Mittelalter und in der Antike „Verfassungen“, zumindest im materiellen Sinne.27 Sie musste es geben, weil kein geordnetes Gemeinwesen ohne Recht und ohne eine Verteilung der politischen Machtbefugnisse auskommt. Ohne feste Regeln herrschen Anarchie und Rechtlosigkeit. So sprechen wir von einer athenischen oder römischen Verfassung, von einer Verfassung des Frankenreichs oder des späteren deutschen Reiches. Gemeint ist damit die Gesamtheit aller Regelungen (Gesetze, Verträge, Gewohnheitsrecht usw.), die sich mit den Machtverhältnissen und der Stellung 25 26 27
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 41. W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 12. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 42.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens
165
der Stände und Städte oder einzelner Territorien befassen. Wir haben es dann, auch ohne Verfassungsurkunde, mit einer Verfassung im materiellen Sinne zu tun. Diese hat immer eine bestimmte, historisch bedingte Struktur und muss für jedes Territorium gesondert untersucht werden. Die Verfassungsfrage ist damit nicht auf die Zeit nach der Aufklärung beschränkt, sondern kann und muss für alle Gesellschaften zu allen Zeiten gestellt und beantwortet werden. Und das gilt auch für Israel in biblischer Zeit. Unter einer Verfassung versteht man ganz allgemein die „rechtliche Grundordnung eines Gemeinwesens“ oder den „Strukturplan für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens“.28 Verfassung kann man auch als die „Gesamtheit der grundlegenden rechtlichen Regeln, nach denen Menschen als staatliche Gemeinschaft zusammenleben“29 definieren. Insgesamt fehlt es aber „an einem feststehenden oder überwiegend anerkannten Verfassungsbegriff.“30 So werden die hier zitierten allgemeinen und sehr unbestimmten Formulierungen in Literatur und Rechtsprechung immer mit einer Beschreibung einzelner Funktionen und Inhalte einer Verfassung ausgefüllt. Nach K. Hesse hat dementsprechend auch das deutsche Bundesverfassungsgericht kein formelles, sondern ein mehr inhaltliches Verfassungsverständnis. Die Verfassung wird als materielle Einheit aufgefasst. Die Inhalte werden „als grundlegende, der positiven Rechtsordnung vorausliegende Werte bezeichnet, die sich unter Aufnahme der Traditionen der liberal-repräsentativen parlamentarischen Demokratie, des liberalen Rechtsstaates und des Bundesstaates sowie unter Hinzufügung neuer Prinzipien, namentlich des Sozialstaates, in den Entscheidungen des Verfassungsgebers zu einer ‚Wertordnung‘ verbunden haben und ein Staatswesen konstituieren, das weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral ist.“31 Allen Definitionen gemeinsam ist der Hinweis, dass es sich bei einer Verfassung, im materiellen wie im formellen Sinne, um eine Regelung der rechtlichen Grundordnung handelt. Diese muss in ihren Grundzügen festgelegt sein, um langfristig ein Zusammenleben der Menschen und ein Funktionieren des Staates, des Gemeinwesens, zu garantieren. Deshalb müssen diese Normen sich auf das Wesentliche beschränken, um einer Interpretation und
28 29 30 31
K. Hesse, Grundzüge, 10. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 41. K. Hesse, Grundzüge, 4. Ebd., 4.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
einer Fortentwicklung bzw. Anpassung an sich ändernde Verhältnisse Raum zu lassen. Zu genaue und detaillierte Regelungen sind oft hinderlich und können zur Notwendigkeit einer Verfassungsänderung führen, was möglichst vermieden werden soll. Verfassungsnormen müssen deshalb „von mehr oder minder großer inhaltlicher Weite und Unbestimmtheit sein.“32 Sie müssen Raum lassen für eine eigenständige politische Bestätigung der verschiedenen Träger des Gemeinwesens, die z. B. in der Wirtschafts- oder Außenpolitik flexibel und zukunftsorientiert bleiben müssen. Das wichtigste funktionelle Element einer Verfassung ist ihre Stellung innerhalb der „Hierarchie der Rechtsnormen“33. Sie muss als Rahmen- oder Grundordnung des Gemeinwesens an der Spitze der Rechtsordnung stehen. Sie ist dem positiven Recht, also den einfachen Gesetzen und übrigen Rechtsnormen, vorgelagert und ist die Messlatte, an der das übrige Recht auf seine Übereinstimmung mit den Grundvorstellungen der Gesellschaft gemessen wird. Sie hat insoweit eine Kontrollfunktion über die gesamte Rechtsordnung. Einfaches Recht, das der Verfassung inhaltlich widerspricht, ist von vornherein nichtig oder kann in einem bestimmten Verfahren für nichtig erklärt werden, wofür dann wieder in einem modernen demokratischen Staat eine präzise Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Justiz und insbesondere mit einer funktionierenden und anerkannten Verfassungsrechtsprechung erforderlich ist. Die Legitimation für diese Vorrangstellung bezieht die Verfassung letztlich aus den Werten, die sie nach dem Willen des Verfassungsgebers garantieren soll. Wir kommen hier wieder auf die Idee der Menschenrechte zurück. Diese angeborenen, unabdingbaren Rechte, die damit auch vorstaatlich sind, sollen in der Verfassung geschützt werden. Dies geschieht in der Weise, dass sie in Form von Grundrechten im Verfassungstext festgeschrieben werden und dass die Einhaltung dieser Rechte durch eine bestimmte, heute demokratische und rechtsstattliche Organisation des Zusammenlebens sichergestellt wird. Auch das sogenannte Staatsorganisationsrecht hat letztlich die Aufgabe, den einzelnen Bürger in seinen Grundrechten zu schützen. Und da diese Rechte allem anderen Recht vorgelagert bzw. übergeordnet sind, ist auch die Verfassung „vorgelagert“, d. h. sie steht über dem positiven Recht und hat die Funktion, das einfache Recht abändern zu können, ohne selbst
32 33
K. Hesse, Grundzüge, 11. R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 42.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens
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abgeändert werden zu dürfen. Die Verfassung entzieht sich damit dem Zugriff der sozialen Gewalten und der verschiedenen Interessengruppen einer Gesellschaft. Sie entzieht sich letztlich sogar einem demokratischen Mehrheitswillen. Sie ist nur durch ein besonderes Verfahren und nur in bestimmten Teilen demokratisch abänderbar. Im Übrigen steht sie unantastbar über der gesamten Rechtsordnung. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt kommt hinzu. Verfassungen haben auch die Aufgabe, die politische Einheit34 herzustellen bzw. zu bewahren. Sie sollen durch die Schaffung einer gleichförmigen Rechtsordnung durch Beachtung der für alle gleichen Grundwerte ein politisch einheitliches Gemeinwesen ermöglichen. Durch den Grundsatz „Gleiches Recht für alle“ wird in dem Territorium, für das die jeweilige Verfassung gilt, auch die gesellschaftliche Gleichförmigkeit gewährleistet. Die Verfassung sagt verbindlich und für alle gleich, wie Interessenkonflikte zu lösen sind und welche gemeinsamen Grundentscheidungen als Kriterien hierfür zur Verfügung stehen und beachtet werden müssen. Durch diese Funktion wird eine wichtige politische Aufgabe der Verfassung abgedeckt. Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus dem Wandel der Auffassung vom Staat. Den „Staat“ sah man früher in einem grundsätzlichen Gegensatz zur „Gesellschaft“. Er war ein abstraktes, zeitloses, über der Geschichte stehendes Gebilde, das sich möglichst aus der liberalen Gesellschaft der Bürger heraushalten sollte. Die Gesellschaft regelte ihre Angelegenheiten selbst; der Staat wurde überspitzt als „Nachtwächterstaat“ gesehen, der nur die notwendigste äußere Ordnung zu wahren hatte. Insbesondere hatte er nicht in Rechte der Bürger einzugreifen. Dieser aus einer „vordemokratischen liberalen Vorstellung der Zeit vor 1918“35 stammende Dualismus ist heute weitgehend aufgehoben. „Staat“ und „Gesellschaft“ durchdringen in modernen Demokratien einander so sehr, dass man keine scharfen Trennungslinien mehr ziehen kann. Die großen „sozialen Gewalten“ und Interessenverbände (Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Parteien, Kulturträger usw.) nehmen immer stärkeren Einfluss auf den Staat und gestalten ihn mit. Umgekehrt beteiligt sich der Staat zunehmend am öffentlichen Leben und ist auch hier gestaltend und lenkend tätig.
34 35
K. Hesse, Grundzüge, 5. Ebd., 8.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Er hat zudem nach herrschender Auffassung konkrete Schutzpflichten. Er hat also nicht nur – passiv – die Freiheit der Bürger zu respektieren, sondern soll auch – aktiv – an der Sicherung der Bürgerrechte mitwirken, indem er die nötigen Vorkehrungen für deren Realisierung trifft, z. B. durch Bereitstellung von Gerichten und Polizei, Absicherung von Demonstrationen, Ausbau des Bildungswesen, Integration von Migranten, Mitgestaltung des Rundfunk- und Fernsehwesens, Ausbau des Gesundheitswesens, Erhaltung der Umwelt, Klimaschutz, Absicherung des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens usw. Die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft ist daher heute weitgehend aufgehoben. Man spricht deshalb in der Verfassungs- und Staatslehre oft, beides zusammenfassend, vom „Gemeinwesen“.36 Trotzdem bleibt der Staat als „regulierende Instanz“ für die Abwicklung des gesellschaftlichen Lebens und für einen verfahrensmäßig abgesicherten Interessenausgleich als übergeordnete Einrichtung erforderlich. Wenn er regulierend und unter Anwendung seines Gesetzes- und Gewaltmonopols eingreift, ist er wieder der neutrale Staat, der über den gesellschaftlichen Interessen steht. Dieser Auffassung entspricht die „Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten“ in einer modernen Verfassung. Die Schutzverpflichtung des Staates ergibt sich danach unmittelbar aus der Verfassung und den dort verankerten Grundrechten. Diese sind nicht nur zu „gewähren“, sondern aktiv zu schützen und gegen Gefährdungen abzusichern. Der Staat hat Vorsorge zu betreiben. Hierher gehört auch der Begriff der „Sozialstaatlichkeit“. Das deutsche Grundgesetz enthält zwar kaum direkte soziale Rechte, sondern überwiegend die klassischen liberalen Freiheitsrechte37, ist aber verstärkt im Sinne einer „Sozialstaatlichkeit“ zu interpretieren. Aus den vorhandenen Grundrechten ist eine aktive Schutzpflicht des Staates herauszulesen. Ein weiteres schwieriges Thema ist hierbei noch die Frage der „Drittwirkung“ der Grundrechte.38 Gelten die Grundrechte auch im Verhältnis der Bürger zueinander? Hierbei ist zu beachten, dass die Formulierung der ersten schriftlichen Verfassungen in einer Zeit erfolgt ist, in der es galt, die Zugriffe eines absolutistischen Staates abzuwehren. Es ging um Herrschaftsbeschränkung im Rahmen eines Über- und Unterordnungsverhältnisses. Hier sollte
36 37 38
K. Hesse, Grundzüge, 9. Chr. Tomuschat, Die Einheit von liberalen Freiheitsrechten und sozialen Rechten, 141. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 261; K. Hesse, Grundzüge, 156.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens
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der Bürger gegen einen übermächtigen Staat geschützt werden. Wir sprechen hier von der „Staatsgerichtetheit“ der Grundrechte. Diese Situation haben wir aber beim Verhältnis der Bürger untereinander nicht. Hier stehen sich zwei im Grundsatz gleichberechtigte und juristisch gleich starke Individuen gegenüber, deren Beziehung der freien Gestaltung überlassen ist. Es gibt Vertragsfreiheit und niemand wird gezwungen, einen für ihn nachteiligen Vertrag abzuschließen. Tut er es trotzdem, kann er hinterher nicht die Verletzung des Gleichheitssatzes geltend machen. Es war sein eigener, freier Entschluss. Wenn ein Zeitungsredakteur sich in seinem Arbeitsvertrag verpflichtet, die politische oder weltanschauliche Linie seines Verlages zu unterstützen, kann er sich nachträglich nicht mehr auf Art. 5 GG berufen, obwohl er in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt ist. Diese Einschränkung hat er sich selbst auferlegt. Sie ist ihm nicht aufgezwungen worden. Diese dogmatisch an sich richtigen Überlegungen gehen aber an der Wirklichkeit vorbei. Es gibt in jeder Gesellschaft neben dem Staat viele nichtstaatliche „soziale Gewalten“39, Verbände, Presse, Wirtschaftsimperien, Konzerne, Handelsketten, Gewerkschaften, Kirchen, Parteien, Interessenvertretungen jeder Art, die eine faktische Machtposition erlangt haben und diese missbrauchen können. Auch ein einzelner Privatmann kann einem anderen überlegen sein. Hier taucht die Frage auf, ob die verfassungsmäßigen Grundrechte nicht doch direkte Wirkung zeigen sollten. Dieses Problem wird in Rechtsprechung und Lehre kontrovers diskutiert. Kann die grundsätzliche Vertragsfreiheit der Bürger durch die Grundrechte eingeschränkt werden? Wann dürfen Gerichte privatrechtliche Verträge oder faktisches Verhalten Privater unter Berufung auf die Grundrechte für unwirksam erklären? Ein erster Ansatzpunkt für diese Überlegungen sind die im Privatrecht geltenden Generalklauseln, z. B. § 138 BGB („gute Sitten“) oder § 242 BGB („Treu und Glauben“). Hier kann man Grundrechtsüberlegungen einfließen lassen. Weiterhin hat die Rechtsprechung schon sehr früh unter Berufung auf die Menschenwürde des Art. 1 GG ein allgemeines Persönlichkeitsrecht entwickelt, das die Beachtung der menschlichen Würde in Privatverträgen verlangt. Diese Entwicklung der Rechtsprechung ist noch nicht abgeschlossen. Die Geltung von Grundrechten im privaten Verhältnis und nicht nur gegenüber dem Staat wird aber zunehmend ausgedehnt. 39
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 261.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Es gibt noch weitere Fragen zum Thema Staat – Verfassung – Grundrechte, z. B. die Frage des Gottesbezuges oder der Verfassungslegitimation, die aber nicht mehr hier, sondern im folgenden Kapitel bei der Erörterung der „Verfassung“ des Alten Testaments, bestehend aus dem Dekalog und weiteren grundlegenden Rechtsvorschriften, behandelt werden sollen.
III.
Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
Die Frage, ob der Dekalog oder andere Bestimmungen des apodiktischen Rechts den Charakter einer Verfassung im juristischen Sinne beanspruchen können, ist bisher noch nicht näher erörtert worden. Es gibt zwar Untersuchungen darüber, inwieweit der Dekalog für eine Begründung des Naturrechts in Betracht kommt oder ob er unmittelbare Menschenrechte formuliert1; die naheliegende Frage, ob er auch als eine Verfassung im staatsrechtlichen Sinne angesehen werden kann, wurde aber noch nicht gestellt. Dabei ist es übereinstimmende Auffassung, dass die Menschenrechte oder noch allgemeiner das Naturrecht ohne eine schriftliche Normierung wirkungslos bleiben. Insoweit kommt das Naturrecht nicht ohne seinen ständigen Widersacher, den Rechtspositivismus aus; denn historisch gesehen wurden Menschenrechte immer erst dort lebendig, wo sie in einer Verfassung verankert und damit rechtlich und moralisch „einklagbar“ wurden. Eine Betrachtung der Menschenrechte ist deshalb ohne eine Hinzuziehung der Verfassungsfrage unvollständig. Auch die Schwierigkeit und letztendliche Unmöglichkeit, aus dem abstrakten Naturrecht konkrete, für alle Zeiten und alle Gesellschaften gültige „materiale Inhalte“ zu ermitteln2, zwingt dazu, sich mit denjenigen Erscheinungsformen zu beschäftigen, in denen dennoch versucht wurde, das Naturrecht und die daraus resultierenden Menschenrechte zu konkretisieren und in die reale Welt zu holen. Und dies sind Verfassungen von Staaten und Gesellschaften, wobei hier die Verfassung im materiellen Sinne gemeint ist, nämlich unter Einbeziehung aller grundlegenden Rechtsquellen, also neben einer Verfassungsurkunde auch der Rechtsprechung eines Verfassungsgerichts als Interpret der Verfassungsordnung oder weiterer Verfassungsgesetze. Wenn deshalb in den nächsten Kapiteln auch der Dekalog als Verfassung untersucht werden soll, so ist zu beachten, dass er in einem solchen Zusammenhang nicht oder nicht nur als Ausdruck göttlichen Willens zu werten ist, was sich objektiver Betrachtung entzieht, sondern als einer der vielen Versuche, grundlegende Normen für das Zusammenleben
1 2
Vgl. Kap. III, Ziff. 5. Vgl. die Ausführungen von H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 219.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
der Menschen zu schaffen. Der Dekalog ist so gesehen eine Verfassung von vielen, wobei er zwar die erste, aber nicht die einzige ist. Im Folgenden soll versucht werden, den Dekalog an den verschiedenen Kriterien einer Verfassung zu messen und zu beurteilen.
1.
Entstehungszeiten
Verfassungen sind nie der Beginn, sondern immer der krönende Abschluss einer meist langen und kontrovers verlaufenen Rechtsentwicklung. Es gibt, historisch gesehen, keine Verfassung, die zeitlich am Anfang einer Rechtsordnung steht. Mit ihr beginnt zwar immer eine neue Ära, sie fußt aber auf der zurückliegenden Ordnung, die von ihr abgelöst oder abgeändert wird. Die heutigen Verfassungen sind das Ergebnis eines langen Kampfes und eines zähen Ringens um die Menschenrechte und die beste Ordnung im Staat. Auf dem Weg dahin mussten viele Hindernisse überwunden und viele Rückschläge hingenommen werden. Schließlich setzte sich dann aber doch die von Vernunft und Mehrheitswillen getragene demokratische Verfassung durch. Verfassungsgebungen erfolgten deshalb zumeist in Zeiten revolutionären Umschwungs, so wie in Frankreich, in Nordamerika oder in der Paulskirche. Es stand immer ein sozialer Druck dahinter, der zur Schaffung von Verfassungen führte. Diese mussten stets den Mächtigen abgetrotzt werden und waren deshalb immer ein Instrument der Herrschaftsbegrenzung, aber auch einer Herrschaftsbegründung für eine demokratische Gesellschaft. Schon hieraus kann man ersehen, dass Verfassungen immer eine Vorgeschichte haben, die sie dann selbst zum Abschluss bringen. Eine scheinbare Ausnahme ist der Koran, der „Heilige QUR-AN“. Dieser steht am Beginn der islamischen Bewegung und begründet diese. Trotzdem ist er nicht der Anfang einer Rechtsentwicklung, sondern deren Abschluss. Der Koran versteht sich selbst als Vollendung der schon mit Abraham begonnenen Geschichte Gottes mit den Menschen. Es ist der gleiche Gott, der zu Abraham, Mose, Jesus und zu den anderen Propheten gesprochen hat. Mohammed ist dann der letzte Prophet, das „Siegel der Propheten“. „Der Quran erhebt den Anspruch, Zusammenfassung aller religiösen Lehren aller Zeiten zu sein und damit Vervollkommnung und Abschluß des göttlichen Gesetzes“.3 3
Hazrat Mirza Tahir Ahmad, Koran, Der Heilige QUR-AN, Vorwort.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
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Die im Koran enthaltenen Rechtsvorschriften stehen in der Tradition des Vorderen Orients. Auch von Mohammed neu geschaffene oder abgeänderte Vorschriften stehen immer vor dem Hintergrund des zuvor geltenden Rechts. Sie sollen deshalb Abschluss und Krönung der schon vorher begonnenen Rechtsentwicklung sein. Dabei ist es allerdings fraglich, ob der Koran oder Teile daraus ihrem Aufbau nach überhaupt als eine „Verfassung“ angesehen werden können. Sie sind sicherlich als ein geschlossener Rechtskorpus zu betrachten; eine Verfassung ist aber die Zusammenstellung von grundlegenden Normen, die ihrer Wertigkeit nach über den übrigen Normen stehen. Eine derartige „Hierarchie der Rechtsnormen“ ist im Koran nicht erkennbar. Er enthält auch keine Aufzählung von Grund- oder Menschenrechten. Von islamischer Seite wird zwar mit Nachdruck betont, dass der Islam selbstverständlich Menschenrechte kenne; dies ist jedoch nur sehr bedingt richtig. Menschenrechte sind nirgends als solche formuliert; sie ergeben sich nur im Wege der Auslegung aus anderen Vorschriften. Außerdem stehen sie, was oft nicht bedacht wird, ausdrücklich unter dem Vorbehalt der „Scharia“4, gelten also nicht gleichermaßen für „Gläubige“ und „Ungläubige“. Und von grundsätzlicher Meinungs- und Religionsfreiheit kann so oder so keine Rede sein. L. Kühnhardt5 hat diese Zusammenhänge ausführlich dargelegt, wobei er die gleichen Probleme auch für andere Kulturkreise in Indien, Japan, China oder Afrika aufzeigt. Der Islam hat noch nicht die „harte Schule der Aufklärung“ durchlaufen. In jedem Fall ist der Koran, selbst wenn man ihn trotzdem als eine Verfassung betrachten wollte, faktisch und nach seinem eigenen Selbstverständnis, nicht der Anfang, sondern das Ende einer langen Entwicklung. Er eröffnet zwar eine neue, nämlich die islamische Zeitrechnung, beendet aber einen davor liegenden Zeitraum, der mit einbezogen und zu einem Abschluss geführt wird. Alle bekannten Verfassungen sind also stets Abschluss einer Rechtsentwicklung. Auch der Dekalog sowie die übrigen Passagen des apodiktischen Rechts sind eine späte Entwicklung, und zwar bezogen auf die Zeit des Entstehens der Staaten Israel und Juda ab dem 12. Jahrhundert. Bereits ab diesem Zeitpunkt ist eine eigene israelitische Rechtsentwicklung anzusetzen. 4
5
Kairoer Erklärung von 1990, Art. 24: „Alle in dieser Erklärung aufgestellten Rechte und Freiheiten unterliegen der islamischen Scharia“. L. Kühnhardt, Universalität, 139.
174
Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Der Dekalog aus Ex 20 und aus Dtn 5 stammt demgegenüber nach Fr. Crüsemann erst aus „spät vorexilischer Zeit“6 oder nach W. H. Schmidt aus noch späterer Redaktionsarbeit: „Seine vorliegende Gestalt reicht wegen der jüngeren (dtr) Sprachanteile kaum in vorexilische Zeit zurück“.7 Dabei wird immer versucht, den Dekalog und seine Vorformen literarisch oder redaktionsgeschichtlich in frühere Zeiten zurückzuverfolgen. In der „älteren Forschung“ hoffte man dabei einen „Urdekalog“ ermitteln zu können, der später ausgeformt wurde.8 Diese Hoffnung, mit der man versuchte, doch noch irgendwie an den Sinai zu kommen, hat man inzwischen aber aufgegeben. Man geht heute allgemein davon aus, dass die Dekaloge aus einzelnen Reihen zusammengesetzt wurden, die man bis in die Zeit der Schriftpropheten Hosea und Micha nachzuweisen versucht.9 Damit kommt man aber auch nur zurück bis in das 8. Jahrhundert. In diesen Zusammenhang passt auch die Beobachtung, dass im Rahmen der Pentateuchentwicklung die Sinai-Tradition ein Thema ist, das erst spät zu den anderen Themen hinzugekommen ist. Schon M. Noth10 hat darauf hingewiesen, daß die Themen „Herausführung aus Ägypten“, „Führung in der Wüste“, „Hineinführung in das palästinische Kulturland“ und „Verheißung an die Erzväter“, literarisch gesehen, die älteren Themen sind, mit denen das Thema „Offenbarung am Sinai“ erst später verbunden wurde. Historisch gesehen könnte es zwar „als ein Stück ältester uns noch erhaltener Überlieferung im Alten Testament“ betrachtet werden, innerhalb der Pentateuchentstehung sei es aber literarisch ein jüngeres Thema11, das in die schon vorhandenen Hauptthemen eingebaut werden musste. Auf die Frage, ob und welche älteren Vorformen existieren, kommt es aber aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht an. Alle Verfassungen haben „Vorformen“ bzw. bestehen aus Einzelmaterialien, die oft eine jahrhundertelange Geschichte hinter sich haben. Das deutsche Grundgesetz hat z. B. die Begriffe der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit oder des Eigentumsschutzes auch nicht „erfunden“. Diese Begriffe lagen schon lange vor und sind nur neu gestaltet und zusammengesetzt worden. Und dies ist der entscheidende Akt, nicht die rechtsgeschichtliche Zurückverfolgung einzelner 6 7 8 9 10 11
Fr. Crüsemann, Bewahrung, vgl. 1. Teil, Kap. IV, Ziff. 1. W. H. Schmidt, Zehn Gebote, 26. Ebd., 27. Ebd., 30. M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 46. Ebd., 65.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
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Grundrechte zu einem meist doch nur fiktiven „Ursprung“. Derartige Untersuchungen sind wichtig für das Verständnis einzelner Rechtssätze, aber nicht für die Frage ihrer Geltung. Hierüber entscheidet allein der Zeitpunkt ihrer Endfassung. Hier erscheinen die einzelnen Sätze in einer ganz bestimmten, gezielten Auswahl und Zusammenstellung und gelten erst in dieser abschließenden Fassung. Wichtig sind dann auch noch weitere zusätzliche Komponenten, wie der Hinweis auf das Volk als Souverän der Verfassungsgebung oder der Gottesbezug. Erst alles zusammen bildet dann eine primäre Einheit, nämlich die neue Verfassung. Genau die gleiche Konstellation haben wir beim Dekalog. Auch hier sind die meisten der herangezogenen Sätze wesentlich älter, weil es sich um Normen handelt, die schon vorher und überall galten. Mord, Diebstahl und Ehebruch waren schon immer verboten. Insoweit enthält der Dekalog nichts Neues. Neu ist aber die Auswahl der Ge- und Verbote und die religiöse Einbindung, ihre Theologisierung. Sie sind hier in einen spezifisch religiösen Kontext gestellt, der so das Koordinatensystem für ihre Auswahl und jetzige Bedeutung darstellt. Die Befreiungstat JHWHs ist jetzt das entscheidende Grunddatum, aus dem sich alles Weitere ergibt. Fr. Crüsemann hat dies ausführlich dargelegt.12 Auch beim Dekalog kommt es also auf seine Endfassung an. Erst als diese schriftlich fixiert vorlag (7. oder 6. Jahrhundert), können wir eine Relation zur gesamten Rechtsentwicklung in Israel und Juda herstellen und kommen dann zu dem Ergebnis, dass vom Beginn der Volkswerdung im 12. und 11. Jahrhundert an bereits 500 Jahre vergangen waren. Auch der Dekalog gehört damit, wie alle Verfassungen, in die Endphase einer Rechtsentwicklung. Aber auch wenn man trotzdem Wert auf eine Zurückverfolgung des apodiktischen Rechts auf vermutete Vorformen legen möchte, käme man nicht sehr weit zurück. Im zweiten Teil dieser Arbeit ist ausführlich dargelegt worden, dass eine Entstehung des apodiktischen Rechts in einer Frühzeit Israels ausgeschlossen ist. Historisch, sprachlich und vor allem auch rechtsgeschichtlich sind apodiktische Rechtsformen nicht nachweisbar. Sie haben sich, wie der Gedanke eines Naturrechts, dem sie letztlich auch angehören, erst allmählich entwickelt.13 Die Vorstellung von übergeordnetem, allen anderen Gesetzen vorgelagertem Recht ist immer eine späte Entwicklung und 12 13
Fr. Crüsemann, Bewahrung; vgl. 1. Teil, Kap. IV, Ziff. 1. Anm: Auch das von E. Gerstenberger vorgeschlagene „Sippenethos“ ist in letzter Konsequenz Naturrecht, weil es ohne religiöse Anbindung auskommt; vgl. 1. Teil, Kap. III. 4.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
setzt ein abstraktes Rechtsverständnis voraus, das sich erst in einer fortgeschrittenen Rechtskultur entfalten kann. Deshalb ist es nachvollziehbar, wenn wir in frühen „segmentären, akephalen Gesellschaften“ rechtshistorisch kein apodiktisches Recht vorfinden. Im Palästina des 12. und 11. Jahrhunderts fehlt es historisch außerdem an selbständigen Trägerkreisen. Israel ist bevölkerungspolitisch direkt aus Kanaan entstanden. Und sprachlich haben wir das Problem, dass in den ersten drei oder vier Jahrhunderten israelitischer Geschichte noch kein Hebräisch, sondern Phönikisch oder andere kanaanäische Dialekte gesprochen wurden. Auch die altisraelitische Schrift ist erst ab dem 8. Jahrhundert nachweisbar, ganz abgesehen davon, dass in früher Zeit mit einer Vielzahl von Textvarianten und Textfamilien zu rechnen ist, die gleichberechtigt nebeneinander bestanden. Wir müssen also auch bei Vorformen des Dekalogs oder des übrigen apodiktischen Rechts davon ausgehen, daß es sich um späte Erscheinungsformen des Rechts handelt. Insgesamt ist daher hinsichtlich der Entstehungszeiten eine deutliche Parallele zwischen dem Dekalog und den heutigen Verfassungen festzustellen.
2.
Legitimation
Jede Verfassung hat einen „Souverän“, von dem die verfassungsgebende Gewalt ausgeht, die „pouvoir constituant“. Nach demokratischem Verständnis ist dieser Souverän das freie Volk, das sich in freier Selbstbestimmung eine Verfassung gibt. „Das entspricht der Grundkonzeption, daß das politische Gemeinwesen insgesamt auf den Konsens seiner Mitglieder gegründet sein soll.“14 Die historische Wirklichkeit entsprach diesem Ideal aber nur in den wenigsten Fällen. Die verschiedenen Verfassungen der Neuzeit haben alle eine sehr eigene Geschichte, die nicht immer streng demokratisch war. Etliche Verfassungen in den deutschen Ländern vor und auch wieder nach der Paulskirche waren sogar „oktroyierte“ Verfassungen. Sie waren einseitig vom Monarchen erlassen worden. Dieser war zwar nach demokratischen Maßstäben hierzu nicht legitimiert, hatte aber de facto die verfassungsgebende Ge14
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 50.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
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walt. Die auf diese Weise erlassenen Verfassungen waren „legal“, nämlich faktisch geltendes Verfassungsrecht, unabhängig von der Zustimmung des Volkes. Sogar bezüglich des deutschen Grundgesetzes vom 23.5.1949 wurde ein solcher „Legitimationsmangel“ diskutiert.15 Dies beruhte darauf, dass die Verfassungsgebung unter der „Ägide“ der Besatzungsmächte stand und nicht durch eine Volksabstimmung oder Nationalversammlung erfolgte. Außerdem war das Grundgesetz ursprünglich nur für ein Provisorium, nämlich die westlichen Zonen, gedacht. Es wurde im Verfassungskonvent in Herrenchiemsee zunächst im Entwurf erarbeitet und dann dem Parlamentarischen Rat in Bonn zur weiteren Beratung vorgelegt. Nach verschiedenen Änderungen, die z. T. auf Vorbehalten und Änderungswünschen der Alliierten beruhten, wurde dann am 8.5.1949 das künftige „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ beschlossen. Nach Genehmigung durch die Militärgouverneure stimmten die Länderparlamente, mit Ausnahme Bayerns, zu. Am 23.5.1949 wurde das Grundgesetz dann offiziell verkündet.16 Die Mitglieder des Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rates waren direkt von den bereits bestehenden Länderparlamenten gewählt worden. Dies war demnach keine unmittelbare Wahl durch das Volk. Außerdem bestand nach wie vor Besatzungsrecht. Dieses wurde durch das von den Militärgouverneuren erlassene „Besatzungsstatut“ fortgeführt. Hierin wurden zwar die Autonomie der Bundesrepublik anerkannt, aber auch erhebliche Rechtsvorbehalte gemacht. Es wurde sogar der generelle Vorbehalt aufgenommen, aus Gründen der Sicherheit direkt kraft Besatzungsrechts eingreifen zu können.17 Von voller Souveränität konnte also nicht die Rede sein. Die Frage der Legitimation hat sich aber inzwischen „durch Zeitablauf“ erledigt. Die Geltung des Grundgesetzes wird von niemandem mehr bezweifelt, ganz abgesehen davon, dass sich dieses Gesetz als eine der bestmöglichen Verfassungen herausgestellt hat. Es basiert unmittelbar auf den Erfahrungen von 1945 und hat zudem die lange deutsche Verfassungsgeschichte hinter sich, über die die nötige Praktikabilität verfassungsrechtlicher Normen eingebracht werden konnte. Für die Rechtsvorschriften des Alten Testaments, insbesondere die Normen des apodiktischen Rechts, stellt sich die gleiche Frage. Wer hatte die 15 16 17
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 51. D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 341. Ebd., 343.
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Kompetenz, diese Vorschriften zu erlassen? Und wenn die biblischen Berichte bei dieser Frage die Gesetze und insbesondere den Dekalog unmittelbar auf Moses bzw. Gott zurückführen, dann ist diese Erklärung juristisch nicht verwertbar. Der Verfassungsrechtler muss fragen, wer faktisch hinter den Bestimmungen steht und als „Verfassungsgeber“ in Betracht kommt. Und selbst wenn sich einzelne Personen oder Institutionen ermitteln lassen, bleibt immer noch die offene Frage, mit welcher – juristischen – Legitimation sie handelten. Dies lässt sich für das Alte Testament aber nicht sicher beantworten. Mose scheidet aus historischen Gründen aus. In Betracht kämen vielleicht das Jerusalemer Obergericht oder König Joschija, mit dem „Buch des Gesetzes“, dem späteren Deuteronomium. Auch die Hasmonäerzeit wäre denkbar. Hierüber gibt es aber keine sicheren Erkenntnisse. Es bleibt weitgehend Spekulation. Dies gilt m. E. auch für die Auffassung von R. Albertz, „daß die gesamte dtn. Reformgesetzgebung eben diesem Obergericht selber oder seinem engsten Umfeld entstammt.“18 Gerichte erlassen in der Regel aber keine Gesetze. Es könnte sich nur um sogenanntes Richterrecht handeln, das sich aus beständiger Rechtsprechung ergibt. Die Rechtsvorschriften entsprangen vielmehr mehreren Traditionssträngen, die bei Gerichten, am Hofe, im Tempel, im Exil und von Schriftgelehrten zusammengestellt und redigiert wurden, bis sie dann schließlich im heutigen masoretischen Text als Gesamtkorpus vorlagen. Wir haben damit zwar eine umfangreiche Gesetzessammlung, aber keinen Gesetzgeber. Wir könnten hierfür nur noch die Masoreten aus Jamnia oder Tiberias in Anspruch nehmen, da diese für die letzte Fassung verantwortlich waren. Ist damit die Frage nach der „Legitimation“ oder „Legalität“ des Alten Testaments hinfällig? Sicher nicht, denn wir wissen z. B. aus Qumran, aus dem Neuen Testament, von Flavius Josephus und vielen anderen Quellen, dass die alttestamentlichen Schriften überall präsent waren und nicht nur religiöse, sondern auch rechtliche Relevanz hatten, wobei beides nicht scharf zu trennen ist. Sie hatten also eine weitgehende „Geltung“ und waren anerkannt. Und dies ist auch im heutigen Verfassungsdenken ein anerkanntes Kriterium. Die „Akzeptanz“ einer Verfassung kann fehlende demokratische Legitimation bei ihrem unmittelbaren Erlass nachträglich ersetzen bzw. ausgleichen. „Diese verfassungstragende Akzeptanz bildet … im historischen Ab18
R. Albertz, Theologisierung, 137.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
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lauf die wesentliche Grundlage für die Legitimität einer Verfassungsordnung; ihr gegenüber verliert auch die Frage nach der ursprünglichen Legitimität der Verfassungsgebung an Bedeutung: For the Legislator is he, not by whose authority the Lawes were first made, but by whose authority they now continue to be Lawes (Th. Hobbes, Leviathan, Kap. 26).“19 Mit diesem Argument behilft man sich auch beim deutschen Grundgesetz. Die etwas zweifelhafte Legitimation seines Erlasses „wurde fortschreitend durch die Akzeptanz der Verfassungsordnung seitens der später Geborenen ersetzt.“20 „Die Effektivität des Grundgesetzes und damit dessen normative Kraft, das politische Leben zu gestalten, steht seit Erlaß des Grundgesetzes außer Frage.“21 Unter diesem Gesichtspunkt kann dann auch das Alte Testament als legitime Verfassungsordnung betrachtet werden. Einer Anerkennung des Dekalogs als Verfassung stünde insoweit nichts im Wege.
3.
Gottesbezug
Der sogenannte Gottesbezug war und ist bis heute bei allen Verfassungen ein „heißes Eisen“. Darf in einer Verfassung, die für alle Bürger gleichermaßen gelten soll, Bezug auf Gott oder eine Religion genommen werden, wenn Bürger mit verschiedenem Glauben und unterschiedlicher Konfession in der jeweiligen Gesellschaft zusammenleben? Muss nicht gerade in einer Verfassungsordnung, die als wichtigsten Bestandteil die in der Aufklärung mühsam errungenen säkularisierten Grundrechte enthält, auf eine derartige Festlegung verzichtet werden? Die gleichberechtigte pluralistische Gesellschaft ist heute ein wichtiges Kennzeichen jeder Demokratie. Andererseits beruht jede staatliche Ordnung und damit insbesondere auch die jeweilige Verfassung auf einer historisch gewachsenen Werteordnung und einem bestimmten Menschenbild. Dieses ist in Europa primär christlich geprägt. Warum also keinen Gottesbezug? K.-Th. Frhr. zu Guttenberg22 hat in seiner Arbeit über europäische und amerikanische Verfassungen in einem eigenen Kapitel über den Gottesbezug
19 20 21 22
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 51. R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 52. Ebd., 52. K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung und Verfassungsvertrag, 373.
180
Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
sehr anschaulich die unterschiedlichen Regelungen in den europäischen Verfassungen zusammengestellt. Danach weisen nur die Verfassungen von Dänemark, Griechenland, Irland, Deutschland, Schweiz und Großbritannien in ihrer Präambel einen direkten Gottesbezug auf, die übrigen nur indirekt oder gar nicht. Wie aufwendig diese Präambeln sein können, zeigt die irische Verfassung: „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeiten, von der alle Autorität kommt und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir, das Volk von Irland in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hindurch beigestanden hat …“23
Ähnlich lang ist der Bezug in der griechischen Verfassung. Der Hinweis des deutschen Grundgesetzes ist demgegenüber eher bescheiden. Hier heißt es nur: „Präambel Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“24
Wie ist dabei die Formulierung „Verantwortung vor Gott“ gemeint? U. Di Fabio, Verfassungsrichter, schreibt hierzu in seiner Einführung zum Grundgesetz: „Dies ist keineswegs hohles Pathos, sondern schöpft aus den tiefsten Quellen unserer Kultur. Mit dem Gottesbezug machen die Deutschen ihre christliche Identität deutlich.“25 Di Fabio hält den Gottesbezug für eine „bewußte Geste der Demut, ein Gegengewicht gegen jede Hybris einer Selbstvergötterung menschlicher Vernunft“26. Mit diesen Äußerungen dürfte der Autor aber etwas zu weit gegangen sein. Gerade das Verfassungsdenken und insbesondere die Normierung angeborener, unveräußerlicher Menschenrechte sind ein Verdienst der Aufklärung, also der Vernunft. Das christliche Mittelalter war hierzu nicht in der Lage. Erst die zunehmende Enttheologisierung des Naturrechts brachte die heuti-
23 24 25 26
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung und Verfassungsvertrag, 385. Grundgesetz, Beck-Texte im dtv, 2005, 15 (Hervorhebung vom Verf.). Ebd., VII, Einf. v. U. Di Fabio. Ebd., VII.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
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gen Menschenrechte.27 Man kann also nicht nachträglich, auch nicht nach 1945, die christlichen Grundlagen der Naturrechtsdebatte wieder in den Vordergrund rücken und von einer „Hybris der Selbstvergötterung menschlicher Vernunft“ sprechen, mit der nach U. Di Fabio offenbar zu rechnen ist, wenn man den – christlichen – Gottesbezug vergisst. Mit einer solchen Einstellung kann man die Akzeptanz einer Verfassung durch alle Bürger nicht fördern. „Mit welchem Recht werden Früchte, die auf dem Baum der Vernunft gewachsen sind, mit einemmal vom Baum der Offenbarung gepflückt?“28 Eine sehr zutreffende Bemerkung! Richtiger dürften deshalb die Ausführungen im Lehrbuch zum Deutschen Staatsrecht von R. Zippelius / Th. Würtenberger sein, wo ausgeführt wird, dass sich das Grundgesetz „weder zu einem christlichen Staat noch zu einer prochristlichen Programmatik“ bekennt; „die weltanschauliche und religiöse Neutralität des Grundgesetzes gilt auch für seine Präambel“.29 Der Gottesbezug sei vielmehr der allgemeine Ausdruck, „daß die Verfassung wie alles Recht vor dem Forum einer transzendenten Institution unvollkommenes Menschenwerk ist.“30 Gott wird hier also auf eine „transzendente Institution“ reduziert. Dies lässt aber für alle Bürger aller Konfessionen und Weltanschauungen Raum, sich mit dieser Verfassung zu identifizieren, was primäre Aufgabe einer verfassungsmäßigen Ordnung ist. Außer bei den bis hierher erörterten nationalen Verfassungen war der Gottesbezug bei der Schaffung einer europäischen Verfassung besonders brisant. Unter dem Motto „Ehre sei Gott … in der EU!“31 wurde heftig um Gottes Präsenz in einer für ganz Europa geltenden Verfassung gestritten.32 Von 27 Plenartagungen im verfassungsplanenden Konvent von 2003 wurden drei ganze Tage für die Diskussion um Werte und Ziele der Europäischen Union benötigt. Auch in Deutschland wurde diese Diskussion sehr kontrovers geführt. Insbesondere die Kirchen gaben Stellungnahmen ab, so z. B. 2004 der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Wolfgang Huber zusammen mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Karl Kardinal Lehmann, die 27 28 29 30 31 32
G. Oestreich, Geschichte, 35. H. Welzel, Naturrecht, 231. R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 79. Ebd., 79. K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung, 375, Fußnote 10. Ebd. 377.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
sich beide für einen präzisen Gottesbezug in einer Europäischen Verfassung aussprachen.33 Nach langen Diskussionen im europäischen Konvent, wobei Frankreich immer der Anführer der „gottlosen“ Fraktion war, wurde schließlich für den Verfassungsentwurf folgende Kompromissformel gefunden, die in der deutschen Fassung lautet: „In dem Bewußtsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und Solidarität.“
Dabei ist diese offizielle deutsche Fassung eine bewusste Erweiterung des beschlossenen Textes. Im Französischen heißt es nämlich nur „patrimoine spirituel et moral“ und im Englischen „spiritual and moral heritage“.34 In der deutschen Version ist der Begriff „spirituel“ bzw. „spiritual“ eigenmächtig mit „geistig-religiös“ wiedergegeben worden. Auch an dieser Episode kann man den heftigen Kampf um einen angemessenen Gottesbezug erkennen. Dieser Verfassungsentwurf konnte sich aber in den nationalen Ratifizierungsverfahren nicht durchsetzen. Frankreich und die Niederlande waren dagegen. Er wurde schließlich ersetzt durch den Vertrag von Lissabon vom 1.12.2009, in dem ebenfalls kein direkter Gottesbezug enthalten ist. Es heißt hier in der Präambel lediglich: „… schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas …“ 35 Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Frage nach einem Gottesbezug unterschiedlich beantwortet wird. Beide Varianten sind möglich. Wichtig dürfte aber immer sein, dass auch bei einem Gottesbezug und einem Verweis auf die christliche Religion oder Tradition die Neutralität der Verfassung gewahrt bleibt, so wie dies beim Deutschen Grundgesetz der Fall ist. Hier wird Gott nur in der Präambel erwähnt; ansonsten ist es eine Verfassung, die ganz in der abendländischen aufgeklärten Tradition steht. Aber auch bei Verfassungen, die einen stärkeren Gottesbezug aufweisen und die die Trennung von Staat und Religion nicht immer konsequent durchhalten, spricht man von gültigen Verfassungen im staatsrechtlichen Sinne. Ein fehlender oder ein vorhandener Gottesbezug haben also keinen Einfluss auf den Verfassungscharakter. 33 34 35
H. Görlich, W. Huber, K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung, 376. V. Kreilinger, Europäische Gottesbezüge, Vortrag LMU München 2010, 2.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
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Interessant ist, dass sogar die französische „Declaration des droits de l’homme et du citoyen“ von 1789 einen Gottesbezug enthält, wenn auch nur in Gestalt einer Kompromissformel: „Infolgedessen anerkennt und erklärt die Nationalversammlung in Gegenwart und unter dem Schutz des allerhöchsten Wesens folgende Menschen- und Bürgerrechte:“36
Obwohl in der französischen Nationalversammlung die „Aufklärer“ gegenüber den „Christen“ die Mehrheit hatten und sich in sachlichen Fragen meistens durchsetzen konnten, nahm man die zitierte Formulierung auf. „Man wählte diese Formel, weil die Masse des Volkes aus überzeugten Katholiken bestand, die anderen Deisten waren, und man benötigte die Geistlichkeit.“37 Bei den Rechtsvorschriften des Alten Testaments ist der Gottesbezug demgegenüber eindeutig. Zumindest in der vorliegenden Endfassung (MT) stehen alle Vorschriften unter Gottes Autorität. Beim Dekalog gibt es deshalb, wie in vielen heutigen Verfassungen auch, eine „Präambel“, die hier allerdings eine sehr spezifische Formulierung hat: ֵאת֛יָך ִמצ ַ ְ֖רי ִם מ ֵ ִ֣בּ ֥ית ֲעב ִ ֑ ָֽדים׃ ִ ֲשׁר ה ֹוצ ָ אָ ֽנ ִ ֹ֖כ ֙י י ֧ ֶ ֱֹלהיָך א ֑ ֶ֔ ְהו֣ה א „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“; Ex 20, 2, Einheitsübersetzung 1980
Dies ist die Grundaussage, die über dem ganzen folgenden Rechtskorpus steht. Dabei spielt es dann keine Rolle, dass die einzelnen Vorschriften des Dekalogs wahrscheinlich schon länger existierten. Der Dekalog ist aus mehreren Einzelreihen zusammengestellt worden, die in früheren Zeiten auch ohne direkten Gottesbezug bestanden haben mögen. Hier im Dekalog sind sie aber „theologisiert“ worden, um ihre Rechtsverbindlichkeit außer Zweifel zu stellen.38
36 37 38
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 29 (Hervorhebung vom Verf.). G. Oestreich, Geschichte, 69. Vgl. R. Albertz, Theologisierung.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Wichtig ist dabei, dass der Gott des Exodus und nicht der Gott der Schöpfung oder der Tora gewählt wurde. Das hat seinen guten Grund. Religionsgeschichtlich ist der Exodus das „religiöse Schlüsselerlebnis“ Israels39, und nicht der Gedanke an die Schöpfung oder den Sinai. Dies kam erst später hinzu. Zunächst war das Erlebnis der Befreiung durch den Exodus das Grunddatum der sich entwickelnden Religion Israels. Der Gott JHWH muss von Anfang an damit verknüpft gewesen sein, so dass er die Autorität wurde, auf die sich dann später das Recht und insbesondere der Dekalog bezogen. Hieraus resultiert dann auch die Auswahl der Rechtssätze. Diese sollten dazu dienen, die innere und äußere Freiheit des israelitischen Bürgers zu sichern, was nur unter Berufung auf den Gott des Exodus möglich erschien.40 Wir haben also beim Dekalog den typischen Aufbau einer Verfassung vor uns: eine Präambel mit Gottesbezug, in der auf das Grundverständnis der Rechtsgemeinschaft verwiesen wird, und einen Katalog von Vorschriften (Grundrechten), die unter der Obhut dieser Präambel stehen. Hierzu passt genau der Hinweis von M. Köckert, dass von den verschiedenen Rechtskorpora des Alten Testaments allein der Dekalog eine Präambel enthält.41 Dies entspricht genau dem Aufbau einer modernen Rechtsordnung. Auch hier hat nur die Verfassung eine Präambel. Alle weiteren Gesetze benötigen eine derartige Deklaration nicht mehr, da sie Ausläufer der in der Verfassung niedergelegten Grundordnung sind und damit der gleichen Präambel unterstehen. Auch dies ist ein Beleg für den Verfassungscharakter des Dekalogs.
4.
Vertragscharakter / Bund
Sowohl die Rechtsordnung des Alten Testaments wie auch die heutigen Verfassungsvorstellungen sind getragen vom Bundesgedanken. Ein Bund bzw. ein Vertrag sind Ausgangspunkt und Begründung der rechtlichen Ordnung. Dies ist beim Dekalog und den folgenden Rechtsvorschriften offensichtlich und wird in der Rahmenerzählung deutlich zum Ausdruck gebracht, z. B. im Deuteronomium (5,2): 39 40 41
R. Albertz Religionsgeschichte, Teil 1, 76; M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 50. Vgl. Fr. Crüsemann, Bewahrung, 1993. M. Köckert, Zehn Gebote, 44.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
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ְהו֣ה אֱֹל ֵ֗הינוּ כּ ַ ָ֥רת עִמָּ ֛נוּ בּ ִ ְ֖רית בְּח ֵ ֹֽרב׃ ָ י „Der Herr, unser Gott, hat am Horeb einen Bund mit uns geschlossen“; Einheitsübersetzung 1980
Dieser Bundesgedanke durchzieht die gesamte Rechtsordnung, wobei es sich nicht um einen Bund zwischen Gleichgestellten, sondern zwischen Gott als Souverän und seinem Volk handelt. Das Wort בּ ִ ְ֖ריתbedeutet deshalb auch weniger einen Bund, als vielmehr eine auferlegte oder freiwillig übernommene Verpflichtung42, die zwischen zwei, wenn auch nicht gleichgestellten Vertragspartnern besteht. Diesen Grundgedanken finden wir auch im modernen Verfassungsleben. Der zwischen Herrscher und Volk geschlossene Verfassungsvertrag war die ursprüngliche Begründung dieses Instituts. Dabei ging es primär darum, Übergriffe des absolutistischen Staates zu verhindern. Der Gedanke der Herrschaftsbegrenzung war vorrangig. Ausgehend von den amerikanischen Verfassungen trat dann aber mehr und mehr die Vorstellung von einem „Grundvertrag aller mit allen“ in den Vordergrund, durch den nach Wegfall der englischen Kolonialherrschaft Herrschaft neu begründet und geregelt werden sollte.43 Es war ein großer Gesellschaftsvertrag, den das Volk mit sich selbst abschloss. In Weiterführung dieser Idee sah man dann das Volk als den Souverän, der die verfassungsgebende Gewalt innehat. Es blieb aber immer der Vertragsgedanke im Hintergrund bestehen. Die allgemeine Akzeptanz ist wichtiges Kriterium einer heutigen Verfassung.44 Wir können also auch hier eine Übereinstimmung von Vorstellungen des Alten Testaments mit modernem Verfassungsdenken feststellen.
5.
Grundrechtskatalog
Alle modernen Verfassungen enthalten, zumeist am Anfang nach der Präambel, einen Grundrechtskatalog. Auf diese Weise soll die besondere Bedeutung der Grundrechte, die die Verkörperung der Menschenrechte darstellen, hervorgehoben werden. Auch das deutsche Grundgesetz ist in dieser 42 43 44
Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, 17. Aufl., 116. Chr. Winterhoff, Verfassung, 17. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 45.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Form aufgebaut. Es soll deshalb hier geprüft werden, ob auch das apodiktische Recht mit dem Dekalog Menschen- bzw. Grundrechte enthält. Dabei ist jedoch eines zu beachten. Nicht jede Rechtsvorschrift, die den Schutz des Menschen vor Willkür und Habgier beinhaltet oder die Ansprüche auf soziale Leistungen sichert, ist deshalb schon ein Menschenrecht. Man kann jede rechtliche Bestimmung letztlich auf allgemeine Rechtsgrundsätze und auf grundlegende Menschenrechte zurückführen. Strafrechtsnormen schützen z. B. Freiheit, Leben und Eigentum. Mietvorschriften schützen den sozial Schwachen und das Erbrecht schützt in allen seinen Verästelungen die Testierfreiheit und das Eigentum. Deshalb stehen alle Rechtsnormen im großen Kontext der Menschenrechte. Zu diesen selbst zählen aber nur diejenigen grundlegenden Rechte, die das Minimum dessen darstellen, was jeder Mensch kraft Geburt beanspruchen darf. Sie sind die Richtschnur, der großen Rahmen, an dem sich die allgemeine Rechtsordnung, also das positive Recht, und staatliches Handeln auszurichten haben. Wie diese Rechtsordnung dann konkret aussehen soll, muss durch den weiteren Akt der Schaffung positiven Rechts verwirklicht werden. Erst hier finden wir konkrete Normen, in denen Rechtsfolgen angeordnet werden. Diese sind sozusagen die Ausführungsbestimmungen der Menschenrechte bzw. des Naturrechts, ohne selbst schon Menschenrechte zu sein. Deswegen enthalten die Grundrechtskataloge der verschiedenen Verfassungen in aller Regel auch nur allgemeine Grundsätze. Diese sind nicht kasuistisch, sondern apodiktisch aufgebaut. Die apodiktische Redeweise lässt sich am deutschen Grundgesetz in den Artikeln 1 bis 19 genau beobachten: „… ist unantastbar“, „Jeder hat …“, „Alle Menschen sind …“, „Niemand darf …“ oder „… wird gewährleistet.“ Diese sprachliche Form entspricht der Erkenntnis, dass das Naturrecht, aus dem sich die Menschenrechte herleiten, selbst auch keine konkreten Rechtsfolgen enthält. Diese ergeben sich erst bei der Schaffung von positiven Rechtsnormen. „Es gibt keine rechtliche Sanktion45 von Natur aus … Es gibt daher keinen Bereich, in dem naturrechtliche Normen mit ‚positivem‘, d. h. Rechtsfolgen schaffendem Inhalt möglich wären.“46 Die konkreten Inhalte ergeben sich erst durch das positive, also das nicht-apodiktische Recht.
45 46
Rechtsfolge im kasuistischen Sinne. G. Otto, Was darf man vom Naturrecht erwarten?, 12.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
187
Und genau dieses Verhältnis können wir auch beim apodiktischen Recht des Alten Testaments feststellen. Die apodiktische Redeweise lässt sich in Idealform beim Dekalog beobachten. Kürzer und präziser geht es nicht. Aber auch die alten hebräischen אָרוּר- oder die מוֹת יוּמָת-Reihen sind apodiktisch formuliert. Der Fluch und der Todesspruch sind nur formelhafte Wendungen, die keine Rechtsfolgen im eigentlichen kasuistischen Sinn enthalten. Diese Bestimmungen könnte man unter Weglassung dieser Formeln ohne weiteres umformulieren in „Du sollst …“ oder „Du darfst nicht …“, ohne dabei ihren Inhalt zu verändern. Die inhaltlichen Aussagen des Dekalogs entsprechen – in ihrer Weise – den allgemeinen Menschenrechten. Das ist im christlichen Mittelalter von einigen Theologen auch untersucht worden.47 Dabei wurde allerdings der Denkfehler gemacht, den Dekalog nur als Begründung der Menschenrechte, z. B. auf Leben oder Eigentum zu betrachten, sozusagen als vorgelagertes göttliches Naturrecht, aus dem die Menschenrechte abzuleiten wären. Der Dekalog ist aber nicht das Naturrecht selbst, auch nicht ein göttliches, sondern der Versuch, das hier als Gottes Willen verstandene Naturrecht, so gut es ging, in Worte zu fassen. Der Dekalog ist deshalb auch nicht die Zusammenfassung allen Rechts, er ist nicht der Extrakt oder der Fond der Tora, sondern eine von vielen Möglichkeiten, letzte ewige Werte zu konkretisieren. Dies ist auch der Grund, weshalb im jüdischen Bereich keine selbständige Menschenrechtsdiskussion in Gang kam. Die Fixierung auf die im Text vorliegende Tora als Gottes endgültig offenbartem Willen verhinderte eine weitergehende Betrachtung. „Eine eigenständige jüdische Auffassung oder Entwicklung der Menschenrechtsidee läßt sich in der vorliegenden Forschung nicht auffinden.“48 Dass der Dekalog nicht Gottes „letzter Wille“, nicht sein alles abschließendes Testament ist, kann man aber auch schon daraus ersehen, dass die Regelungen des Dekalogs keineswegs vollständig sind und es auch nicht sein sollen und können. Dies hat Fr. Crüsemann sehr anschaulich dargelegt.49 Danach ist der Dekalog eine bewusste Auswahl von Vorschriften zu einem bestimmten Thema, nämlich der Bewahrung der inneren und äußeren Freiheit der Bürger Israels, entsprechend der Selbstvorstellung JHWH’s in der Präambel als Gott des Exodus. Bereiche, die nicht direkt zu diesem Thema 47 48 49
A. Neschke-Hentschke, Tradition und Identität Europas, 24 u. 26. L. Kühnhardt, Universalität, 45 Anm. 47 a.E. Fr. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit; s. 1.Teil, Kap. IV., 1.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
gehören, z. B. Kultvorschriften oder Armenfürsorge, wurden ausgelassen. Der Dekalog war eine Antwort auf soziale Missstände, die durch ein zunehmendes Auseinanderklaffen der armen und reichen Bevölkerungsschichten und durch die Gefahr der Ausbeutung der Schwachen durch die politisch und wirtschaftlich Stärkeren entstanden waren. Der Dekalog gehört deshalb in eine bestimmte Situation und in eine bestimmte Gesellschaft, deren Belange zu regeln waren. Er war auf eine konkrete Gesellschaft und deren spezifischen Probleme „zugeschnitten“. Daraus ergeben sich dann zwangsläufig Unterschiede zu anderen Verfassungsentwürfen. Oder anders formuliert: der Dekalog sähe anders aus, wäre er 200 Jahre eher oder später entstanden, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse dann andere gewesen wären. Dass Verfassungen immer unterschiedlich ausfallen, je nach ihrem politischen Umfeld, ergibt sich aus der Erkenntnis, dass auch das Naturrecht, aus dem die Menschenrechte entspringen, nicht für alle Zeiten gleich zu formulieren ist. Wenn dem so wäre, könnte man das Postulat erheben, dass alle Verfassungsentwürfe durch die Jahrhunderte hindurch jeweils die gleichen Grundrechtskataloge aufweisen müssten. Dies ist aber nicht der Fall. Das Naturrecht entzieht sich einem festen dauerhaften Zugriff. H. Welzel kommt in seiner ausführlichen historischen Untersuchung des Naturrechts50 zu dem nicht unbedingt pessimistischen Ergebnis, dass die Berufung auf die Natur des Menschen immer nur eine „geistige Auseinandersetzung“ um die richtige konkrete Entscheidung sein kann und deshalb nur ein „Kampfmittel“ ist, um der für richtig erachteten Lösung die nötige Durchschlagskraft zu verleihen. „Ewige Werte“, die durch die Zeiten hindurch stets den gleichen Inhalt haben, gibt es nicht. Die Berufung auf das Naturrecht unterliegt zudem einem „Zirkelschluss“. Um sich auf die „Natur“ zu berufen, muss diese erst definiert werden. Man holt also letztlich nur das heraus, was man zuvor selbst hineingelegt hat.51 Wer z. B. das Vorrecht des Mannes in der Familie mit der Natur des familiären Zusammenlebens begründen will, muß diese zunächst erst selbst festlegen. Er muss bestimmen, dass der Mann „von Natur aus“ der Frau übergeordnet ist. Diese Ansicht hat Jahrtausende hindurch weitgehend Bestand
50 51
H. Welzel, Naturrecht, 236. Ebd., 241.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
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gehabt und wurde erst in der Neuzeit als nicht mehr angemessen empfunden. Was also ist die „wahre Natur“ des Mannes oder der Frau? Es kann daher nicht so sehr darum gehen, aus einem postulierten Naturrecht „ewige Wahrheiten“ herzuleiten, sondern darum, sich immer des Umstandes bewusst zu sein, dass es übergeordnete Prinzipien gibt und geben muss, nach denen sich letztlich alles auszurichten hat, und dass diese Prinzipien stets aufs Neue für wechselnde Verhältnisse erarbeitet werden müssen, und zwar argumentativ und nicht durch ein Diktat. H. Welzel beschließt seine Untersuchungen über das Naturrecht deshalb wie folgt: „Was aus der Gedankenwelt des Naturrechts folgt, ist nicht ein System ewiger materialer Rechtsgrundsätze, sondern der unter stets neuen Bedingungen zu erfüllende Auftrag an das positive Recht, dafür zu sorgen, daß der Kampf um die richtige Gestaltung der Sozialverhältnisse eine geistige Auseinandersetzung bleibt und nicht durch die Vergewaltigung oder gar durch die Vernichtung von Menschen durch Menschen beendet wird.“52
Die Unvollständigkeit des Dekalogs, aus heutiger verfassungsrechtlicher Perspektive, besteht außer in den von Crüsemann bereits erwähnten Einzelfällen, noch in weiteren grundsätzlichen Bereichen. Aus der Gruppe der klassischen Menschenrechte werden zwar der Schutz des Lebens (5. Gebot) und des Eigentums (7. und 10. Gebot) im Dekalog direkt angesprochen. Die ebenso wichtigen Grundrechte der Freiheit und Gleichheit sowie der Religionsfreiheit werden dagegen nicht direkt erwähnt. Sie sind nicht expressis verbis aufgeführt und können nur indirekt erschlossen werden. Dabei bereitet der Freiheitsgrundsatz noch die geringsten Schwierigkeiten. Der gesamte Dekalog steht, ausgehend von der Präambel, unter dem Prinzip der Freiheit. Diese ist durch JHWH im Exodus gewährt worden und muss nun durch ein sozial gerechtes Leben abgesichert werden. Den Schutz der Freiheit kann man daher ohne weiteres dem Dekalog insgesamt entnehmen, auch wenn eine eigene unmittelbare Norm hierfür fehlt. Der Gleichheitsgrundsatz ist demgegenüber schwieriger zu eruieren. Dies liegt daran, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit zu berücksichtigen sind. Und diese entsprechen, wie in allen anderen umliegenden Territorien auch, keineswegs dem heutigen Gleichheitsanspruch. Auch Israel war eine Sklavenhaltergesellschaft. Hieran änderte auch die alttesta52
H. Welzel, Naturrecht, 253.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
mentliche Sklavengesetzgebung nicht viel. Diese verschaffte den Sklaven zwar gewisse Rechte, das Institut der Sklaverei blieb aber bestehen. Und auch Frauen, Knechte, Mägde, Pächter, Söhne und Töchter waren keineswegs gleichberechtigt. Der Gleichheitsgrundsatz bezog sich nur auf den israelitischen Vollbürger, den pater familias. Andererseits war der Gleichheitsgedanke in Israel wahrscheinlich ausgeprägter als in den umliegenden Bereichen. Dies entsprach dem Charakter der Jahwe-Religion. Diese wird häufig als die Religion einer „egalitären Gesellschaft“ mit antiherrschaftlicher Tendenz bezeichnet.53 Das ganze Volk und vor allem jeder Einzelne stand durch den Bund in direkter Beziehung zu Gott. Die gottgewollte Ordnung wurde nicht durch einen Repräsentanten, einen absoluten Herrscher, vermittelt, der als Vertreter der Götter in der irdischen Welt für Ordnung und Gerechtigkeit zu sorgen hatte. Hierfür war jeder Einzelne selbst verantwortlich. Die Gebote der Tora galten für alle gleichermaßen, ohne Unterschied nach Rang und Stand. Der Gleichheitsgedanke war daher im Grundsatz vorhanden und war religiös abgesichert. So ist z. B. der Umstand zu erklären, dass Frauen aus fremden Ländern häufig froh waren, wenn sie einen Israeliten heiraten konnten, weil in dessen Gesellschaft für Frauen ein durch die Religion garantierter Mindestbestand an Rechten vorhanden war. Ein weiteres wichtiges Grundrecht, das in allen heutigen Verfassungen enthalten ist, nämlich die Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit, fehlt im apodiktischen Recht völlig. Dies lässt sich auch nicht im Wege der Auslegung hineininterpretieren, weil es im Rahmen des Alten Testament „systemfremd“, besser noch „systemfeindlich“ wäre. Wenn die Propheten bei ihren mutigen Anklagen das Recht für sich in Anspruch nahmen, ihre Auffassung frei äußern zu dürfen, so ging es ihnen nicht um Meinungsfreiheit, sondern um die Durchsetzung der richtigen, eigenen Meinung. Nur diese hatte das Recht der freien Rede. Und wenn Elija am Kischon die 450 Priester des Baal hinrichten ließ (1 Kön 18,40), verhalf er zwar dem JHWH-Kult zum Durchbruch, nicht aber der Religionsfreiheit. Diese konnte es, zumindest auf israelitischem Territorium, nicht geben. Und wenn König Manasse (2 Kön 21) trotzdem fremde Kulte tolerierte, war er in den Augen der Bibel ein schlechter König, der mit zum Untergang Jerusalems beitrug. Auch hier war der Wahrheitsanspruch der monotheistischen Religion stärker als religiöse Toleranz. Diese findet sich im Alten Testament nicht. Der Gedanke des 53
Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte, Bd. 1, 112.
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„freien Wettbewerbs der Religionen“ ist den biblischen Texten fremd. Dieses Problem ist aber für die Verfassungsfrage nicht entscheidend. Verfassungen können aus späterer Perspektive durchaus falsche Wertentscheidungen treffen, ohne deshalb ihren Verfassungsrang zu verlieren. Auch Diktaturen können eine Verfassung haben, die nach demokratischem Verständnis zwar nicht legitim, aber legal und de facto gültig ist. Diese aus heutiger Sicht fehlende Vollständigkeit des Dekalogs und des übrigen apodiktischen Rechts ist also kein Grund, diesem den Charakter einer Verfassung zu nehmen. Verfassungen sind immer für eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Gesellschaft gedacht. Ändern sich die Zeiten, ändern sich auch die Verfassungen. Nach heutiger Auffassung ist nur wichtig, dass die elementaren Grundrechte auf Leben, Freiheit, Gleichheit und Eigentum als solche geachtet werden. Die Ausformulierung kann dann im Detail für jede Verfassung unterschiedlich ausfallen. Nur in ihrem Wesensgehalt dürfen die Grundrechte bzw. Menschenrechte nicht angetastet werden. Unterschiedliche Formulierungen, aber auch das Fehlen von Grundrechten, die in anderen Verfassungen selbstverständlich sind, machen eine Verfassung nicht ungültig. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass z. B. die deutsche Reichsverfassung von 1871 überhaupt keinen Grundrechtskatalog enthält, sondern auf die einzelnen Landesverfassungen verweist, die insoweit aber keineswegs einheitlich waren. Unterschiedliche Formulierungen und Unvollständigkeiten sind im heutigen Verfassungsleben historische Selbstverständlichkeiten und unschädlich. Auch eine unvollständige Verfassung bleibt eine Verfassung. Ein interessanter Unterschied des Dekalogs zu heutigen Grundrechtsnormen besteht in der direkten Anrede: „Du sollst …“. Hier ist das „Du“ der Adressat der Gebote. Damit ist jeder Einzelne gemeint, also auch der Herrscher, Beamte, Steuereintreiber, Pächter, Feldherr usw., so dass letztlich die Gesamtheit der Gesellschaft verpflichtet wird. Bei den modernen Verfassungen ist dagegen der Staat mit seinen verschiedenen Organen der Adressat der Grundrechte. Dieser ist verpflichtet, sich an bestimmte Grundsätze zu halten und sie vor einer Verletzung durch Dritte zu bewahren. Dieser selbständige und anonyme Staatsbegriff ist aber ein Produkt der Moderne. Er war in Israel noch nicht bekannt. Deshalb musste der Dekalog anders formulieren. Eventuell wären allgemeine Sätze mit „Jeder ist verpflichtet …“ denkbar gewesen;
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die direkte Anrede mit „Du“ ist aber viel expressiver und verpflichtender. Hier kann sich niemand ausklammern; jeder wird gleichermaßen angesprochen. Gleichzeitig wird mit dieser Anrede auch das Problem der Drittwirkung der Grundrechte umgangen. Diese Frage brachte dem modernen Verfassungsdenken gewisse dogmatische Schwierigkeiten, die sich erst allmählich durch eine extensive Rechtsprechung der oberen Gerichte und des Bundesverfassungsgerichts beseitigen ließen. Die Diskussion zu diesem Thema hält aber noch an. Hier im Dekalog ist das Problem durch die Form der Anrede sozusagen mit einem Federstrich erledigt worden. Die Verfasser der Dekaloge konnten diese spezifische Frage als solche noch nicht direkt im Blick haben; der Grundgedanke, nämlich die Verpflichtung von jedermann, ist aber der gleiche. Bei der Frage der Grundrechte kommen wir also insgesamt zu dem Ergebnis, dass unterschiedliche Inhalte und unterschiedliche Formulierungen für die Verfassungsfrage unerheblich sind. Das apodiktische Recht kann trotz seiner Beschränkung auf bestimmte Themen als Verfassung betrachtet werden.
6.
Hierarchie der Rechtsnormen
Aufgabe jeder Verfassung ist es, dem jeweiligen Gemeinwesen eine rechtliche und politische Grundordnung zu geben. Um dies sein zu können, muss sie allem anderen Recht vorgeordnet sein. Sie ist die Richtschnur, nach der sich die Rechtsordnung zu entwickeln hat. Sie muss deshalb fest und unverrückbar über dem positiven Recht stehen, welches dann nur die Ausformung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundsätze ist. Wir sprechen hier von der „Hierarchie der Rechtsnormen“. Das hat nicht nur theoretische, sondern auch praktische Konsequenzen. Gesetze, die der Verfassung widersprechen, sind entweder von vornherein nichtig oder können von einem Verfassungsgericht für verfassungswidrig und damit ungültig erklärt werden. Letzteres setzt natürlich voraus, dass die betreffende Verfassung auch eine Verfassungsgerichtsbarkeit vorsieht, wie z. B. in den USA den Supreme Court oder in Deutschland das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Weiterhin muss dieses Gericht auch mit den entsprechenden Kompetenzen ausgestattet sein, was in der Weimarer Republik
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
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noch nicht der Fall war. Aber auch hier hatte die Verfassung einen übergeordneten Rang und starken appellativen Charakter. Die drei demokratischen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative waren zumindest in einem theoretischen Anspruch an die Verfassungsgrundsätze gebunden. Diese Konstellation haben wir auch beim apodiktischen Recht. Beim Dekalog ist dies schon aus der Rahmenerzählung über seine Schaffung und Bekanntgabe zu ersehen. In diesem Zusammenhang können wir die Absicht des Erzählers direkt heranziehen, weil sie dem sogenannten „Willen des Gesetzgebers“ entspricht, und zwar dem des jeweils letzten. Wenn der Dekalog also früher in einem anderen Zusammenhang gestanden hat und vielleicht aus mehreren einzelnen Teilen zusammengesetzt worden ist, spielt dies hier keine Rolle. Wichtig ist, wie er nach dem Willen des zuletzt tätigen Redaktors, vergleichbar dem zuletzt tätigen Gesetzgeber, aussehen sollte und welche Stellung und Bedeutung ihm jetzt beigemessen wird. Und wenn nach den biblischen Berichten der Dekalog das erste und wichtigste Gesetz ist, das Mose direkt von Gott erhalten hat, dann soll es dieses auch sein. Der hier zuletzt tätige Redaktor hatte insoweit die „Gesetzgebungskompetenz“ oder genauer die „verfassungsgebende Gewalt“. Vorangegangene abweichende Erzählungen werden, wie frühere Gesetze, durch den neuen Bericht verbindlich abgeändert und „gelten“ nicht mehr. Die Suche nach einem „Urdekalog“ ist also nicht erforderlich, ganz abgesehen davon, dass hinter einem solchen Bemühen oft die irreführende fundamentalistische Auffassung einer höheren Dignität einer früheren Fassung steht. Der Dekalog hat damit auch von seiner Stellung im Text her eindeutig den Rang übergeordneten Rechts. Er soll, so will es die Erzählung, die Grundlage des Bundes und damit der gesamten Rechtsordnung Israels sein. Er kann durchaus als eine geschlossene Verfassungsurkunde mit Präambel und Grundrechtskatalog und damit als eine Verfassung im formellen Sinne verstanden werden. Aber auch das übrige apodiktische Recht erhält durch seine Einordnung in die Texte den Charakter von Grundsatz- oder Rahmenbestimmungen. Dies hat Eun-Ae Lee überzeugend nachgewiesen.54 Die drei Gesetzeskorpora des Bundesbuches, des Deuteronomiums und des Heiligkeitsgesetzes sind jeweils von Normen des apodiktischen Rechts eingefasst, die ihnen, nach Eun-Ae 54
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 173ff.; vgl. 1. Teil, Kap. IV, 5.
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Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Lee, einen „sakralen Rahmen“ geben sollen. Diese sakrale Rahmung kann man von einer verfassungsrechtlichen Sicht her auch als Einfassung durch Grundsatznormen mit Verfassungsrang auffassen. Diese stehen dann zwar nicht in einem geschlossenen Korpus wie der Dekalog und könnten deshalb nicht als Verfassung im formellen Sinne angesehen werden, wohl aber als Bestandteile einer Verfassung im materiellen Sinne.55 Sie haben dann ebenfalls übergeordnete Geltung.
7.
Rechtswirklichkeit
Die in den vorangegangenen Kapiteln erörterten Einzelkriterien haben ergeben, dass man das apodiktische Recht mit einer Verfassung im heutigen Sinne vergleichen kann. Eine ganz andere Frage ist, ob eine solche „Verfassung“ auch im täglichen Rechtsleben in Israel Wirkung gehabt und tatsächlich eine alle anderen Gewalten bindende Funktion ausgeübt hat. Es stellt sich das Problem der Rechtswirklichkeit der alttestamentlichen Normen. Diese Frage lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Ob der Dekalog eine die Gesetzgebung bindende und korrigierende Wirkung gehabt hat, wissen wir nicht. Eine Verfassungsrechtsprechung im eigentliche Sinne dürfte es im alten Israel nicht gegeben haben. Ob z. B. das Jerusalemer Obergericht oder das spätere Synhedrion ein „Normenkontrollverfahren“ durchführen konnten, ist zu bezweifeln. Hierzu fehlte die rechtliche Institutionalisierung einer derartigen Gerichtsbarkeit und auch ein spezifisch verfassungsrechtliches Denken. Die in Dtn 17,8–13 wiedergegebenen neuen Kompetenzen des Jerusalemer Obergerichts scheinen zwar in diese Richtung zu deuten. Sie geben aber diesem Gericht doch nur den Status einer „letzten Instanz“, deren Entscheidungen zwar unbedingte Rechtskraft haben, die aber keine Verfassungsrechtsprechung im eigentlichen Sinne sind. Auch die Möglichkeit, Fälle aus der städtischen Gerichtsbarkeit in Jerusalem zur Entscheidung vorzulegen, entspricht eher der auch im heutigen Recht gegebenen Möglichkeit einer „Vorlage“ schwieriger Fälle an ein höheres Gericht, wenn z. B. in Strafsachen ein Oberlandesgericht von der Rechtsprechung eines anderen Oberlandesgerichts abweichen will. Dann kann die Sache durch Beschluss
55
Vgl. 3. Teil, Kap. II.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
195
dem Bundesgerichtshof vorgelegt werden. Aber auch dies ist noch keine Verfassungsrechtsprechung. Im Übrigen währte die deuteronomische Reformgesetzgebung nicht lange. Mit dem Tode von König Joschija 609 v. Chr. war diese Ära sehr schnell wieder vorüber, so dass wir nicht wissen, ob und wie lange das Jerusalemer Obergericht tätig war.56 Die fehlende bzw. nicht nachweisbare Rechtswirklichkeit führt aber nicht dazu, dem apodiktischen Recht die Qualität einer Verfassung abzusprechen. Wir hatten schon bei der Frage der Legitimation57 gesehen, dass eine dauerhafte Akzeptanz einer Verfassung als ausreichend angesehen wird. Weiterhin gibt es Verfassungen, die wie in Weimar ohne eine präzise ausgebaute Verfassungsrechtsprechung auskommen. Und sogar Verfassungen, die niemals offiziell in Kraft getreten sind, sind in der Theorie, als Entwürfe, von ihrem Aufbau her mögliche Verfassungen. Bekanntestes Beispiel ist die Paulskirchen-Verfassung, die nicht mehr in Kraft treten konnte.58 Trotzdem war sie als Modell Vorbild für viele weitere deutsche Verfassungen und wurde nicht etwa als unbrauchbar oder weniger kompetent angesehen. Die Möglichkeit, eine geltende Verfassung sein zu können, reicht insoweit aus.
8.
Geltendes Recht
Verfassungen und die darin enthaltenen Grundrechte sind geltendes Recht, kein reines Ethos mit nur paränetischem Charakter. Für das deutsche Grundgesetz ergibt sich dieses direkt aus Art. 1 Abs. 3: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“
Sie enthalten zwar keine direkte Rechtsfolge oder Sanktion, sie sind apodiktisch formuliert, binden aber das übrige Recht, das sich nur in dem von der Verfassung vorgegebenen Rahmen entfalten kann. Verlassen einzelne Normen diesen Rahmen, sind sie verfassungswidrig und unwirksam. Insofern haben Grundrechte unmittelbare rechtliche Relevanz. Die gleiche Konstruktion können wir für den Dekalog und das übrige apo56 57 58
R. Albertz, Theologisierung, 137. Vgl. 3. Teil, Kap. III, Ziff. 2. G. Oestreich, Geschichte, 93.
196
Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
diktische Recht annehmen. Es handelt sich um geltendes Recht im verfassungsrechtlichen Sinne, indem es die Grundordnung vorgibt, nach der sich das übrige Recht zu richten hat. Dieses kann die einzelnen Grundrechte zwar eigenständig ausfüllen und konkretisieren, muss sich aber immer an den Grundgedanken des Grundrechts halten. So muss der Grundsatz des fünften Gebots: „Du sollst nicht ohne rechtfertigenden Grund töten“ näher konkretisiert werden, indem für den Einzelfall eine Differenzierung in Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung, Notwehr, übergesetzlichen Notstand, Todesstrafe, Abtötung der Leibesfrucht, Kriegseinsatz usw. vorgenommen wird; der Grundsatz selbst muss aber immer erhalten bleiben und zwingt zu einer genauen Abwägung der verschiedenen Rechtsgüter für den zu regelnden Einzelfall. Die Grundsatzkataloge der heutigen Verfassungen und der Dekalog haben also die gleiche Funktion und sind in diesem Sinne geltendes Recht.
IV.
Ergebnis
IV. Ergebnis
Die vorangegangenen Erörterungen haben gezeigt, dass das apodiktische Recht inhaltlich und formal mit heutigen Verfassungen verglichen werden kann. Nicht nur der „erste Anschein“, auch eine Untersuchung von Detailfragen haben eine erstaunliche Übereinstimmung ergeben. Sowohl das moderne Verfassungsrecht als auch das alttestamentliche apodiktische Recht sind späte Entwicklungen. Sie stellen geistesgeschichtlich einen Höhepunkt des Rechtslebens dar. Sie erfordern beide eine gedankliche Durchdringung des Rechts und eine hoch entwickelte Rechtskultur. Der Gedanke einer schriftlichen Formulierung grundlegender Regeln und die Ausformung von Menschen- oder Grundrechten sind immer das Produkt einer langen Entwicklung und intensiver geistiger Auseinandersetzung, oft verbunden mit revolutionären Umbrüchen. So stammt auch das apodiktische Recht nicht aus einer Frühzeit Israels, auch wenn sein „Entdecker“ A. Alt es noch in die Wüste verlegen wollte. Es ist, ausgehend von allgemeinen und wohl noch unverbindlichen Vorformen, erst spät entstanden und steht nicht am Anfang der israelitischen Rechtsentwicklung. Das kasuistische Recht, als das allgemeine vorderorientalische Recht, lässt sich durch die Jahrhunderte hindurch weit über die Zeit des 11. und 12. Jahrhunderts hinaus zurückverfolgen. Das apodiktische Recht taucht demgegenüber wie aus dem Nichts unvermittelt auf und tritt uns erst in der biblischen Endgestalt in wohldurchdachter und sicherer Formulierung entgegen. Es bildet in der Rahmenerzählung den Anfang der gesamten Gesetzgebung. Das apodiktische Recht hat wie das Verfassungsrecht den höchsten Rang in der Hierarchie der Rechtsnormen. Es bildet die Grundlage aller Rechtsüberlegungen und steht damit über dem übrigen positiven kasuistischen Recht. Ob diese Vorrangstellung im täglichen Rechtsleben aktualisiert werden konnte, ist ein nur sekundäres Problem und schmälert nicht die grundsätzliche, theoretische Priorität dieses Rechts. Verfassungen sind über die Idee der Menschenrechte letztlich Ausdruck eines übergesetzlichen, wenn auch postulierten Naturrechts. Dies ist für das
198
Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
heutige Verfassungsrecht allgemeiner Konsens. Aber auch das apodiktische Recht kann m. E. nicht anders gesehen werden, auch wenn es in jüdischer Überlieferung als unmittelbare göttliche Offenbarung betrachtet wird. Wir müssen aber berücksichtigen, dass auch der Dekalog menschlicher Vorstellungskraft entspringt, die ihrerseits einen Anhalt an vorgegebenen, ewig gültigen Werten suchen muss, um Entscheidungen treffen zu können. Und diese vorgegebenen Werte werden in der Bibel als Inhalt göttlichen Willens gesehen, was von der Funktion her gleichbedeutend ist. Sowohl das Naturrecht als auch Gottes Wille muss in menschliche Worte gekleidet werden, um wirksam werden zu können. Beides ist den jeweiligen Texten vorgelagert und kann zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Weise zum Ausdruck gebracht werden. Dabei mindert diese juristische, verfassungsrechtliche Betrachtungsweise keineswegs den Wert und die Würde des Dekalogs. Im Gegenteil, sie zeigt deutlich, welch überlegene geistige Leistung die Schaffung eines solchen Rechts darstellt. Die schriftliche Fixierung einer „Verfassungsurkunde“, die dem übrigen Recht vorgeordnet ist, ist für die damalige Zeit einmalig. Keine der anderen Rechtsordnungen aus Israels Umfeld hat diesen Gedanken je hervorgebracht. Und auch später dauerte es über 2000 Jahre, bis sich in Nordamerika und Europa wieder Verfassungsdenken durchsetzen konnte. Das, was die Aufklärer und die vielen Denker vor ihnen durch viele Jahrhunderte hindurch mühsam erkämpft haben, erscheint im Alten Testament wie selbstverständlich als Teil einer großen durchdachten Rechtsordnung. Worüber in der Antike und im christlichen Mittelalter rein akademisch und ohne praktische Auswirkungen vergebens diskutiert wurde, war mit dem Dekalog bereits lange vorher verwirklicht worden. Die Einordnung des Dekalogs in die allgemeine Rechtsordnung als übergeordnete Verfassung ist deshalb gerade aus dieser verfassungsrechtlichen Sicht eine herausragende kulturhistorische Leistung Israels. Der Dekalog und die übrigen Sätze des apodiktischen Rechts bilden nicht nur die weitaus älteste, sondern auch die langlebigste Verfassung, die zwar ihren ursprünglichen historischen Geltungsbereich verloren hat, deren lange Wirkungsgeschichte aber bis heute nicht abgeschlossen ist.1 1
Vgl. z. B. E. Wolf, Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, der sich ausführlich mit den Zehn Geboten als „Weisungen“ für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung auseinandersetzt. Er sieht sie allerdings nicht als Ausfluss eines absoluten, gerechten Naturrechts, welches er aus
IV. Ergebnis
199
Das vorliegende Ergebnis lässt sich noch genauer dahin präzisieren, dass erst eine verfassungsrechtliche Betrachtung die besondere Funktion des Dekalogs deutlich macht. Die einzelnen Sätze sind für sich allein betrachtet nur allgemeiner Natur. Sie sind auch schon vor der Entstehung des biblischen apodiktischen Rechts zu allen Zeiten und in allen Kulturen auf verschiedenste Weise gedacht und formuliert worden. Der Dekalog bringt deshalb, von der Theologisierung in den ersten Sätzen abgesehen, nichts Neues und nichts spezifisch Israelitisches. Er ist inhaltlich gesehen kein Novum der biblischen Autoren, sondern nur eine Zusammenstellung allgemeiner grundlegender Normen, die auch schon vorher präsent waren und in vielen anderen Völkern Beachtung beanspruchten. Völlig neu und auf lange Zeit einmalig ist dagegen die Form ihrer Präsentation. Sie werden in einem festgefügten Rechtskorpus mit präzisem Aufbau und unter dem Grundmotiv der Freiheit als Grundlage des Bundes und als verbindliche Richtschnur für das Leben des Volkes und seiner Rechtsordnung vorgestellt. Sie sind die oberste Ordnung innerhalb einer Hierarchie von Rechtsnormen und entsprechen damit genau dem, was wir heute eine Verfassung nennen. Das Entscheidende beim Dekalog ist deshalb nicht der Inhalt, sondern die rechtliche Funktion. Und aus diesem Grunde behält der eingangs auf S. 135 zitierte Charles de Gaulle nun doch nicht Recht. Gerade weil der Dekalog von juristisch, genauer verfassungsrechtlich denkenden Autoren verfasst wurde, ist er so klar und präzise und soll eindeutige und apodiktisch formulierte Grundnormen wiedergeben.
protestantischer Sicht ablehnt; die Gebote seien „mehr als Natur- und Vernunftsrecht, weil sie der Natur Schranken und der Vernunft Ziele setzen“ (S. 53). In ihrer Funktion sieht er sie dann letztlich aber doch so wie ein übergeordnetes Naturrecht, auch wenn er dieses nicht gelten lassen will.
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Abkürzung: WUB = Welt und Umwelt der Bibel, Zeitschrift für Archäologie, Kunst, Geschichte, Katholisches Bibelwerk e.V., Stuttgart
Hinweis: Aufgeführt wurde nur die tatsächlich benutzte Literatur. Es wurde darauf verzichtet, zu jedem Einzelthema eine umfangreiche Bibliographie zusammenzustellen.
Register
Namen und Sachen Abraham 83, 88, 109 Ägypten 85 f., 91 Ägyptergruppe 72, 104f., 106 Ai 95 Akephalie 121f. Akephale Gesellschaften 36f., 121f. Akzeptanz 178 Aleppo 80 Alt, A. 11ff., 17ff., 26ff., 70 Amarna 80, 86, 108 Ammon 98 Amos 150ff. Amphiktyonie 14, 21, 33ff. Apodosis 29 Araber 109 Aram 111 Aramäer 111 Archäologie 77ff., 97ff. Aristoteles 137f. Aton 84, 86 Augustinus 140 Ausdifferenzierung 52 Baal 72 Beduinen 109 Bill of Rights 160 Bund 184f. Bundesbuch 58 Bundeserneuerungsfest 25 Bundesverfassungsgericht 162 Byblos 80 Case law 19 Codex Hammurapi 15, 20, 29, 31f., 103 David 108 Dekalog 24, 33, 41f., 43ff., 73, 133, 149, 187ff. Deurbanisierung 99 Dina 49 Drittwirkung 168, 192 Echnaton 86 f. Edom 98
Egalitäre Gesellschaft 47 Elija 190 Erbrecht 63f. Ethnogenese 86 Ethnologie 118 ff. Europäische Verfassung 181 Exodus 104f. Fernhandel 91f. Finkelstein, I. 14, 79. 90, 93f. Flavius Josephus 117 Fluchreihe 23 Gedächtnisgeschichte 85ff. Gibea 49 Goten 89 Gott der Väter 82 Gottesbezug 67, 179ff. Grundgesetz 66, 69, 134, 162, 177 Grundrechte 66f., 157f., 185f. Gunkel, H. 11, 18, 38, 74 Hapiru 36, 80, 102, 108f. Haran 80 Hatti 91 Hazor 80 Hebräische Rechtsgemeinde 50 Heiligkeitsgesetz 59 Herodes 117 Hethitische Staatsverträge 32f. Hethiterreich 81 Hierarchie 166, 192ff., 197 Isaak 83, 88 Israel 74, 78, 88, 96 Israel-Stele 95, 104 Israeliten 95, 104 Izbet-Sartah 97 Jakob 49, 83, 88, 21 Jericho 78, 95, 130 Jerusalemer Obergericht 50, 194
Jonadab 40 Joschafat 50 Joschija 65, 71 Joseph 113 Juda 81 Kain 124 Kamel 82, 109 f. Kanaan 19, 21, 71f., 101, 139 Kant, I. 143 Kasuistisches Recht 11, 18ff. Khazanu 80 Kleines Credo 83, 111 Klima 90f. Kinneret 91 Komparative Methode 11, 127 Koran 172 Kosmotheismus 84 Laban 49 Landnahme 35 ff., 95 ff. Lachisch 95 Legitimation 176, 178 Lex Rössler 29, 57 Lineages 37 Locke, J. 142 f. Magna Charta 159 Manasse 190 Megidao 80 Menschenrechte 137 ff. Merenptah 96 Metanorm 52, 132 Michas Heiligtum 49 Midian 106 Mirjam 106 Moab 98 Monotheismus 83ff., 140 Mosaische Unterscheidung 84 Mose 48ff., 65, 83ff. Moseschar 73, 104 f. Mykene 79, 92 Naturvölker 75
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Register
Naturrecht 139, 142f., 188f., 197f. Nomaden 35f., 102, 106, 109ff. Noth, M. 14, 48, 83 Nuer 126 Otto, E. 13, 52 Palastherrschaften 80f. Palästina-Archäologie 78 Pater familias 37, 40 Patriarchen 71f., 81ff., 88 Patrilineare Lineages 37 Paulskirche 161 Pentapolis 92 Philister 92f. Platon 137 Polytheismus 84 Prohibitive 24, 30, 38f. Protasis 29 Proto-Israeliten 98 Pseudepigraphen 65 Pylos 81 Qarqar 100 Quadratschrift 117 Quellen 115 f. Ramses III. 92 Ramses VI. 80f.
Rebekka 109 Rechtspositivismus 144 Reformation 141 Reihenbildung 22 Retribalisierung 99 Rezente Gesellschaften 75, 118, 131 Reziprozität 122 Rollkragenkrüge 101 Rut 49 Schamreihe 23 Scharia 146, 173 Schasu 80, 102, 111 Schweine 98f. Seevölker 92 Segmentäre Gesellschaften 36f.,120ff. Semiotik 55 Siedlungen 93 Silberman, N. A. 14, 79 Sippenethos 38ff., 61, 124, 133 Sozialstaat 146, 168 Stadtbewohner 107 f. Stadtstaaten (Kanaanäische) 12f., 19, 30, 36, 80f., 91
Stoa 138 Surveys 93, 95 Tabu 127 Talionsrecht 21 Tekoa 49 These 73 Thomas v. Aquin 140 Tiryns 81 Tora 43 Transhumanz 35, 110 Transmigration 110 Vasallenverträge 32f., 42 Verfassung 135ff., 157ff. Verfassungsrecht 68 Vier-Raum-Häuser 95, 101 Völkerwanderung 89 Wellhausen, J. 18 Weimarer Verfassung 161 Wesel, U. 12 f.
Leviticus 18,7 24,10–23
Jeremia 35,1–19
40
Amos 2,6 2,8 8,6
153 154 153
Galater 3,28
140
Die Forscher, die sich speziell mit dem apodiktischen Recht befasst haben, ergeben sich aus dem Inhaltsverzeichnis (1. Teil).
Bibelstellen in Auswahl Genesis 1,26
139
Exodus 1–19 6,3 20,1–17 20,13 21,1 21,12–14 21,18–19 21,23–25 22,6–7 22,24–27
49 88 41 30 18 21 f. 21 f. 21, 53 53 53, 154
Numeri 27,1–11 36,1–9
23 56
56 56
Deuteronomium 5,2 184 15,22f. 153 26,5 83, 109, 111 25 27,1–10 27,16 23 31,9–13 25