Corpus Intra Muros: Eine Kulturgeschichte räumlich gebildeter Körper [1. Aufl.] 9783839431481

How are spaces constructed and how are they in turn constructed by people? This volume puts the relationship between peo

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German Pages 566 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Corpus Intra Muros
I. Geschlossene Räume
»Von der Welt abgeschlossen«
»… leider trägt er überall seinen verkehrten Kopf mit«
Pflichtlektüren
»… ich hätte alles getan, damit ich ja da nicht mehr reinkomme.«
II. Übergangsräume
Healing Spaces
Topographien des sterbenden Körpers
Der Hermaphrodit als heteros topos und corpus illustre in der römischen Antike
Flucht aus dem Heim
III. Zwischenräume
Von Räumen und Klüften der Bildung
Corpus Extra Muros
Verkehrswege zwischen den Zentren
»Woher kommen Sie?«
IV. Sonderräume
Gemeinsam im Seminar
Fremde und befremdliche Räume des Hochschul(un)wesens in Saudi-Arabien
Machtraum Heim
Ein Raum der Ausgrenzung
Katalog
Warum
I. Wie wir Räume gestalten
Abdrücke der Zeit
Der Pulverturm in Bruneck
Wie es so ist, wenn man hinter meterhohen Mauern lebt
»Kunst ist der Architektur weit überlegen«
II. Was Räume erzählen
Poesie einer Installation
Was von einem Leben bleibt
Zum ästhetischen Raum im Werk Waltraud Mittichs
Abschied von der Serenissima
III. Wie Räume wirken
Slow Spaces
Ein Rufezeichen in der Mitte der Stadt
Über die Verletzlichkeit und Entfaltungsmöglichkeit menschlicher Körper
Was der moderne Mensch vom Klosterleben lernen kann
Dank
Autorinnen und Autoren
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Corpus Intra Muros: Eine Kulturgeschichte räumlich gebildeter Körper [1. Aufl.]
 9783839431481

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Ulrich Leitner (Hg.) Corpus Intra Muros

Edition Kulturwissenschaft | Band 74

Ulrich Leitner (Dr. phil.) ist Universitätsassistent am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck.

Ulrich Leitner (Hg.)

Corpus Intra Muros Eine Kulturgeschichte räumlich gebildeter Körper

Die Drucklegung wurde von folgenden Institutionen unterstützt:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Corpus Intra Muros« von Stefan Hitthaler (Bruneck/ Südtirol, 2014, Detailansicht), fotografiert von Harald Wisthaler Satz: Ulrich Leitner Korrektorat: Margret Haider Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3148-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3148-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt EINLEITUNG Corpus Intra Muros: Raum als heuristische Kategorie der Historischen Bildungs- und Sozialforschung

Ulrich Leitner | 11

I GESCHLOSSENE RÄUME »Von der Welt abgeschlossen«: Das Gefängnis als hermetische Raumkonstruktion

Mechthild Bereswill | 37 »… leider trägt er überall seinen verkehrten Kopf mit«: Klosterangehörige in der k.k. Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol (1830–1865)

Maria Heidegger | 53 Pflichtlektüren: Die Erfindung der Gefängnisbibliothek und Spuren ihrer Um-/Nutzung in Cesare Lombrosos Kerker-Palimpsesten

Philipp Hubmann / Mara Persello | 85 »… ich hätte alles getan, damit ich ja da nicht mehr reinkomme«: Karzer, Besinnungsstübchen, Therapiestation: Räume der Erziehung?

Flavia Guerrini | 117

II ÜBERGANGSRÄUME Healing Spaces: Teresa von Avila – Eine Fallgeschichte aus dem 16. Jahrhundert

Irene Berkel | 151 Topographien des sterbenden Körpers: Sakrale und profane Raumstrukturen in den Testamenten der deutschen Reichsfürsten des Mittelalters

Christina Antenhofer | 173

Der Hermaphrodit als heteros topos und corpus illustre in der römischen Antike

Kordula Schnegg | 205 Flucht aus dem Heim: Das enfant vagabond im Raum der Erziehungsanstalt zwischen Nichtsesshaftigkeitsund Verwahrlosungsdispositiv (1950–1980)

Nora Bischoff | 219

III ZWISCHENRÄUME Von Räumen und Klüften der Bildung: Wilhelm von Humboldts anthropologische Erkundungen in Spanien und im Baskenland

Ruprecht Mattig | 249 Corpus Extra Muros: Der Heimatforscher Paul Tschurtschenthaler (1874–1941) und seine Erkundung von Kleinarchiven in der ländlichen Peripherie

Andreas Oberhofer | 273 Verkehrswege zwischen den Zentren: Straßen, Wege, Flüsse im vormodernen Tirol

Roland Steinacher | 305 »Woher kommen Sie?«: Marginalisierung aus postmigrantischer Perspektive

Marc Hill | 327

IV SONDERRÄUME Gemeinsam im Seminar: Die körperlich-räumliche Herstellung eines Interaktionsereignisses in der Universität

Cordula Schwarze | 347 Fremde und befremdliche Räume des Hochschul(un)wesens in Saudi-Arabien

Annemarie Profanter | 377 Machtraum Heim: Raumkonzepte und Subjektivierungsstrategien im Bürgerlichen Waisenhaus Basel (1928–1945)

Mirjam Lynn Janett | 393

Ein Raum der Ausgrenzung: Soziale Kontrolle zwischen Mauern und als institutionelle Praxis im Jugendheim Fuldatal in den Jahren 1953–1973

Lina Edith Eckhardt | 419

KATALOG Warum

Stefan Hitthaler | 439

I WIE WIR RÄUME GESTALTEN Abdrücke der Zeit

Peter Reischer | 461 Der Pulverturm in Bruneck: Ein (fast) vergessenes Baudenkmal

Andreas Oberhofer | 463 Wie es so ist, wenn man hinter meterhohen Mauern lebt …

Nina Schröder im Gespräch mit Mechthild Bereswill, Christina Antenhofer, Stefan Hitthaler und Ulrich Leitner | 477 »Kunst ist der Architektur weit überlegen« Heinrich » Schwazer im Gespräch mit Stefan Hitthaler | 485

II WAS RÄUME ERZÄHLEN Poesie einer Installation: Über Corpus intra von Stefan Hitthaler (entlang von Heidegger)

Stefano Zangrando | 491 Was von einem Leben bleibt: Herzog Christophs Reise nach Jerusalem – Eine historische Spurenlese

Christina Antenhofer | 501 Zum ästhetischen Raum im Werk Waltraud Mittichs

Birgit Holzner | 515 Abschied von der Serenissima: Musik zum Roman

Rudolf Unterhuber | 519

III WIE RÄUME WIRKEN Slow Spaces

Waltraud Mittich | 523 Ein Rufezeichen in der Mitte der Stadt

Reinhold Messner | 525 Über die Verletzlichkeit und Entfaltungsmöglichkeit menschlicher Körper

Christina Antenhofer | 527 Was der moderne Mensch vom Klosterleben lernen kann

Anselm Bilgri | 533

Dank | 541 Autorinnen und Autoren | 543 R egister | 547

Einleitung

Corpus Intra Muros Raum als heuristische Kategorie der Historischen Bildungs- und Sozialforschung U LRICH L EITNER

Intra muros hieß in der römischen Antike der Raum innerhalb der Stadtmauern. Die Mauern legten fest, was zur Stadt gehörte und was zum Außen zählte. Sie prägten damit nicht nur die ästhetische Erscheinungsform des Raumes, sondern ebenso die körperlichen und emotionalen Erfahrungen der Menschen, die zwischen den Mauern lebten, an ihnen entlanggingen, sich in ihnen heimisch fühlten, sich zur Stadtgesellschaft, und über diese hinaus auch dem Imperium, zugehörig verstanden und von den Anderen, denen extra muros, abgrenzten. In aktuellen politischen Debatten werden Grenzziehungen, in denen sich Diskurse über Identitäten manifestieren, über voreilig gezogene Analogieschlüsse zur römischen Geschichte gerechtfertigt und materielle wie soziale Grenzen als statisch dargestellt.1 Die Grenzverwischungen sowie die Durchlässigkeit von Grenzen aber, die dem Ausdruck intra muros inhärent sind, zeigen sich nicht in starren Denkmustern und großangelegten Analogien. Sie werden vielmehr am konkreten Menschen sichtbar. Für das römische Fallbeispiel bedeutet das eine Absage an große theoretische Würfe und die Hinwendung zu konkreten Fallbeispielen, zu den Menschen selbst, die neben den historiographischen Quellen oft nur mehr über ihre materielle Hinterlassenschaft greifbar werden.2

1

Vgl. beispielhaft: Alexander Demandt, Untergang des römischen Reichs. Das Ende der alten Ordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.1.2016, http://www.faz.net/. Materielle Grenzen, etwa in Form des Limes, werden in dieser Diskussion ebenso bemüht wie die Vorstellungen großer Kollektive. Vgl. hierzu: Ulrich Leitner, Imperium. Geschichte und Theorie eines politischen Systems, Frankfurt am Main / New York 2011.

2

Vgl. hierzu die althistorischen Beiträge von Schnegg und Steinacher in diesem Band.

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Die Notwendigkeit, die Bedeutung des Raumes nah am Menschen zu diskutieren, lässt sich auch auf die aktuelle Weltsituation übertragen. Im Zuge der Flüchtlingswellen und der damit verbundenen Leiderfahrungen, die mit politischen und physischen Grenzziehungen einhergehen, wird deutlich, wie sehr körperliche und räumliche Erfahrungen miteinander verwoben sind. Die hier in all ihrer Dramatik zu beobachtende Verbindung zwischen Mensch und Raum verdichtet sich im Bild Corpus intra muros, dem Körper zwischen Mauern, das als Titel dieses Buches gewählt wurde. Der Begriff Corpus steht dabei sowohl für die materielle Verfasstheit des Menschen als auch für seine leibliche Erfahrungswelt.3 Die Beziehung zwischen den Menschen und dem gebauten Raum ist insbesondere am Beispiel des Stadtraumes diskutiert worden. Anhand des urbanen Raumes verdeutlicht etwa der Geograph und Erziehungswissenschaftler Jürgen Hasse die Beziehung zwischen Leib und Körper: »Als Körper sind wir selbst physische ›Dinge‹ – mit Organen ausgestattet, die uns eine spezifisch menschliche Weise des Lebens garantieren. In dieser organisch-körperlichen Lebendigkeit können wir uns am eigenen Leib wahrnehmen. Der Leib ist aber nicht dasselbe wie der Körper. Er ist das, was man als Gefühl an sich in einem ephemeren Sinne spüren kann.« Hasse zeigt auf, dass die leibliche Erfahrung den Menschen von anderen Dingen unterscheidet, die sich in der Stadt finden lassen, wie etwa Häuser und Automobile, weil diese »sich nicht selbst wahrnehmen« können. Die leibliche Erfahrung sei aber immer an einen Körper gebunden, was er am Beispiel des Schmerzes veranschaulicht. »Ein Schmerz mag seinen Grund in einer organischen, also körperlichen Funktionsstörung haben. Zu spüren bekommen wir ihn aber nicht auf dem Display eines medizinischen Instruments, sondern am eigenen Leib.«4 Die interdependente Beziehung zwischen dem menschlichen Körper, seinen leiblichen Erfahrungen und der materiellen Umwelt zeichnet der amerikanische Soziologe und Historiker Richard Sennett in seinem Buch Fleisch und Stein von der Antike bis zum multikulturellen New York der Gegenwart nach. Er argumentiert, dass »urbane Räume weithin 3

Vgl. zu Leib und Körper etwa: Thomas Fuchs, Zwischen Leib und Körper, in: Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, hg. von Martin Hähnel / Marcus Knaup, Darmstadt 2013, 82–93. Zur pädagogischen Diskussion: Helga Peskoller, Körperlicher Raum, in: Handbuch pädagogische Anthropologie, hg. von Christoph Wulf / Jörg Zirfas, Heidelberg 2014, 395–401; Käte Meyer-Drawe, Leib, in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, hg. von Helmuth Vetter, Hamburg 2004, 331–337; Kristin Westphal, Zwischen Himmel und Erde. Annäherungen an eine kulturpädagogische Theorie des Raumerlebens, Frankfurt am Main 1997.

4

Jürgen Hasse, The (felt) Body oft the City. Feeling Urban Spaces, in: Cities as Multiple Landscapes. Investigating the Sister Cities Innsbruck and New Orleans (Interdisziplinäre Stadtforschung 21), hg. von Christina Antenhofer / Günter Bischof / Robert L. Dupont / Ulrich Leitner, Frankfurt am Main / New York 2016, 277–293, 286.



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durch die Weise Gestalt annehmen, wie die Menschen ihren eigenen Körper erfahren.«5 Für das Zusammenleben in einer multikulturellen Welt sei es daher unumgänglich, das Verständnis vom eigenen Körper zu schärfen, wozu die Anerkennung der eigenen Unzulänglichkeiten, des eigenen Schmerzes und der eigenen Endlichkeit gehören. Die von Sennett angesprochene Schmerzerfahrung nennt die Südtiroler Schriftstellerin Waltraud Mittich in ihrem Roman Abschied von der Serenissima ein »Ausgeliefertsein«, von dem sie schreibt, es werde »nie mehr im Leben so durchdringend körperlich erfahren wie als Kind.«6 Diese Erfahrung ist laut Mittich die Folge der Symbiose, die Menschen mit den Dingen eingehen, die sie umgeben: »Die verborgene Verknüpfung von Menschen und Dingen mehr ahnend als um sie wissend, wird das Spiel des Lebens ernsthaft in Szene gesetzt.«7 Der kindliche Leib scheint somit eine gesteigerte Sensibilität für die Erfahrung der materiellen Umgebung zu haben. Walter Benjamin hat das kindliche Raumerleben und seine Beziehung zu den Dingen und Räumen eindrucksvoll in den Bildern der Berliner Kindheit um neunzehnhundert eingefangen.8 Wie sehr sich die materielle Beschaffenheit des Aufwachsens in den kindlichen Leib und Körper einschreibt, zeigt sich auch in einer Studie zur Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Westösterreich.9 Hierbei wurden neben der Aufarbeitung der historischen Quellenbestände auch 37 Interviews mit ehemaligen Heimkindern geführt. Ihre Erzählungen schildern atmosphärische Raumeindrücke der Großheimstrukturen sowie räumlich konnotierte Schmerz- und Leiderfahrungen, die sich in ihrem Körpergedächtnis abgespeichert hatten. Die Bedeutung, die Räume und Dinge sowie die damit verbundenen Schmerzerfahrungen einnahmen, fügte sich ein in die gesteigerte Aufmerksamkeit, die dem Raum und seiner Gestaltung in den Heimen seit ihrer Gründung Ende des 19. Jahrhunderts bis zu ihrer Schließung in den 1990er Jahren seitens der Fürsorgeorgane zukam. Den Massenschlafsälen und Gruppenräumen, der Isolierzelle und den hohen Mauern, ihnen al5

Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisati-

6

Waltraud Mittich, Abschied von der Serenissima, Innsbruck 2014, 126.

7

Mittich, Serenissima (wie Anm. 6) 126 f.

8

Vgl. Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert – Fassung letzter Hand,

9

Vgl. Michaela Ralser / Nora Bischoff / Flavia Guerrini / Christine Jost / Ulrich Leitner /

on, Berlin 1997, 456.

Frankfurt am Main 2010. Martina Reiterer, Heimkindheiten. Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg, Innsbruck / Wien / Bozen 2017. Die Studie ging aus dem Projekt Regime der Fürsorge. Geschichte der Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg (1945– 1990) unter der Leitung von Prof. Michaela Ralser hervor. Siehe die Projekthomepage: http://www.uibk.ac.at/iezw/heimgeschichteforschung/.

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len kamen Funktionen im Erziehungsgeschehen in den Anstalten zu. Diese Beobachtungen zum Zusammenhang zwischen Raum und Erziehung in geschlossenen Erziehungsanstalten standen am Beginn des Kunst- und Wissenschaftsprojektes Corpus intra muros, dessen Ergebnisse in diesem Band präsentiert werden.

H EIMGESCHICHTE

ALS

A USGANGSPUNKT

Ein Zeitzeuge, der als Neunjähriger in die größte Erziehungsanstalt für schulpflichtige Buben Westösterreichs, den Jagdberg in Vorarlberg, eingewiesen wurde, erinnert sich mit folgenden Worten an seine Heimzeit Anfang der 1970er Jahre: »Und das Heim selber, ich mein, ich weiß genau in welchem Zimmer ich dort oben war … da hast du auch keine Privatsphäre gehabt oder so etwas, das war alles öffentlich … alles quasi für jeden zugänglich, da hast du keinen Schlüssel gehabt, wo du den Schrank zusperren kannst oder so etwas, ja, zwischendurch waren die Kontrollen wieder von den Erziehern, ob irgendwas Verbotenes drinnen ist, oder so etwas Ähnliches … du warst öffentlich, du warst für jeden sichtbar, gläsern.«10

Diese Schilderung des ehemaligen Heimkindes gibt zum einen Auskunft darüber, wie eng die Erinnerungen des Zeitzeugen mit der räumlichen Vermessung der kindlichen Lebenswelt verbunden sind. Die Aussagen bezeugen darüber hinaus, wie die Großraumarchitektur des Heimes nicht nur das Gebäude durchleuchtete, sondern in den Leib der Kinder selbst eindrang. Sie, die sie Objekte öffentlicher Ersatzerziehung waren, wurden in den Räumen der Anstalt öffentlich gemacht, sie wurden gläsern. Bei der Analyse der Erinnerungen der Zeitzeug/-innen sowie von Aktenbeständen zur Heimgeschichte der beiden westlichsten Bundesländer Österreichs, Tirol und Vorarlberg, trat deutlich zutage, wie sehr in geschlossenen Erziehungseinrichtungen wie dem Jagdberg Raum eine zentrale Rolle spielte. Bedeutend für das Erziehungsgeschehen waren sowohl die gebauten Mauern der Gebäude als auch die durch die Jugendwohlfahrtsbehörden in der Anstalt konstituierten Erziehungsräume, die sich von Kindheitsräumen außerhalb abgrenzten und unterschieden. Die Kategorien des Innen und Außen traten in den untersuchten Quellen stark in den Vordergrund, oft in Zusammenhang mit dem Phänomen der zahlreichen Fluchten der Anstaltszöglinge. Die materiellen Dimensionen der Anstalten, sprich ihre geographische Platzierung, ihre Architektur sowie ihre bauliche Ausgestaltung und Einrichtung im Inneren, hatten Auswirkungen auf die in ihnen stattfindenden päda10 Interview mit Gebhard Fasser (Pseudonym) am 9.9.2013, 00:31:54–00:32:30, Audiofile archiviert am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck.



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gogischen Prozesse. Die Bedeutung des Raumes war bis hin zum Gebrauch von Alltagsgegenständen spürbar. So ließen sich etwa Schlüssel in einer geschlossenen Erziehungsanstalt, wie im oben angeführten Zitat angedeutet, als machtvolle Dinge entziffern. Die größeren Städte, Innsbruck in Tirol und Bregenz in Vorarlberg, traten in den von den leitenden Behörden der Jugendfürsorge verfassten Schriftstücken als Gegenräume zu den Anstalten auf. Sie wurden als Räume jugendlicher Begehrlichkeiten gezeichnet, von denen sich die Organe der Fürsorge bestrebt zeigten, die Heimzöglinge tunlichst fernzuhalten. Die Räume der Fürsorge, die bei der Analyse der Quellen nach und nach zutage traten, waren oft geprägt von stereotypen Raumbildern: etwa die verführerische Stadt und das idyllische Land, die wohlgeordnete Anstalt und das chaotische Alltagsleben der Kinder und Jugendlichen in ihren Herkunftsfamilien. Es zeigte sich daran, dass die Topographie, die Architektur und die räumliche Organisation der Anstalten Einblick in idealtypische Erziehungsvorstellungen der jeweiligen Zeit zu geben vermochten. Das Erziehungsgeschehen, wie es sich im schriftlichen Quellenmaterial und den Erinnerungen der Zeitzeug/-innen darstellte, war zudem häufig verbunden mit der Überwindung räumlicher Grenzen und Raumorganisationen. Außergewöhnliche Ereignisse, wie Fluchten oder Liebesbeziehungen, aber auch gewaltförmige Übergriffe fanden Eingang in das Schriftgut und die Erzählungen. Sie verdeutlichten einerseits die Bedeutung der materiellen Raumstrukturen wie sozialen Raumorganisationen und ermöglichten andererseits ein tieferes Verständnis des spezifischen Zusammenwirkens von idealtypischen Erziehungskonzepten und dem praktischen Erziehungsgeschehen in den Anstalten.11 Können diese kurz skizzierten Beobachtungen die Bedeutung des Raumes für die anstaltsförmige Ersatzerziehung auch nur anreißen, so werfen sie grundlegend Fragen zur Materialität der Erziehung und Bildung in einem größeren Kontext auf: Wie generieren und wandeln sich Erziehungs- und Bildungsorte und welche Dinge stellen sie bereit? Welches Wissen, welche Akteur/-innen und Diskurse formen ihre Ausgestaltung? Welche Erziehungsräume konstituieren sich an welchen Orten?12 11 Vgl. hierzu: Ulrich Leitner, Gebaute Pädagogik – Raum und Erziehung. Die Bedeutung der Architektur für die Fürsorgeerziehung am Beispiel der Landeserziehungsanstalt am Jagdberg, in: Tiroler Heimat. Zeitschrift für Regional- und Kulturgeschichte Nord-, Ostund Südtirols 80 (2016) 171–200; vgl. auch: Ulrich Leitner, Sonderorte ländlicher Kindheiten. Raumerinnerungen ehemaliger Heimkinder der Fürsorgeerziehungslandschaft Tirol und Vorarlberg, in: Landschaftslektüren. Lesarten des Raums von Tirol bis in die PoEbene (Edition Kulturwissenschaft), hg. von Markus Ender / Ingrid Fürhapter / Iris Kathan / Ulrich Leitner / Barbara Siller, Bielefeld (erscheint 2017). 12 Zum Unterschied zwischen Ort und Raum siehe Susanne Rau, Räume: Konzepte. Wahrnehmungen. Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt am Main / New York

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Welche Handlungen und Praktiken werden in welchen Räumen an welchen Orten möglich? Wie wirken materielle und soziale Raumkonfigurationen auf die Menschen und wie erfahren sich diese in ihnen? Kurz: Wie werden Räume gebildet und wie bilden sie ihrerseits die Menschen?

F ORSCHUNGSNETZWERKTREFFEN

UND

T AGUNG

Die anhand der Jugendfürsorge aufgeworfenen Fragestellungen gaben den Anstoß zu einem Forschungsnetzwerktreffen,13 das dazu diente, das Potential raumtheoretischer Fragestellungen am Beispiel der historischen Ersatzerziehung mit Blick auf Fallstudien aus Österreich, Deutschland und der Schweiz zu erproben.14 Um einen interdisziplinären Diskussionsraum zu schaffen, der es zuließ, die Frage nach der Beziehung zwischen Raum und Mensch in einen größeren Kontext zu stellen, wurde das Forschungsnetzwerktreffen in eine Tagung eingegliedert. Beide Veranstaltungen fanden vom 17. bis 19. Juli 2014 in Bruneck in Südtirol statt. Neben einem Schwerpunkt auf Fallstudien aus dem Bereich der Heimgeschichte, des Jugendstrafvollzugs und der Psychiatriegeschichte vereinte die Tagung kulturgeschichtliche Themenbereiche in weiter historischer Perspektive. Die Wahl des Tagungsortes erklärt sich vor dem Hintergrund, dass ein Kunstobjekt die Veranstaltungen begleitete, das der Brunecker Architekt Stefan Hitthaler an einem zentralen Platz in seiner Heimatstadt, unweit der Tagungsräumlichkeiten, realisierte: eine monumentale 2013, 64 f.; vgl. aus pädagogischer Perspektive: Carola Groppe, Erziehungsräume, in: Mensch und Ding. Die Materialität pädagogischer Prozesse, hg. von Arnd-Michael Nohl / Christoph Wulf, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 25 (2013) 59–74. 13 Am Treffen beteiligten sich Mechthild Bereswill, Magdalena Apel, Lina Edith Eckhardt, Patrik Müller, Sabine Stange (Universität Kassel), Gisela Hauss, Sara Galle, Urs Germann (Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten), Michaela Ralser, Nora Bischoff, Flavia Guerrini, Ulrich Leitner, Martina Reiterer (Universität Innsbruck). 14 Erste Ergebnisse wurden im Symposium Raum als heuristische Kategorie der Historischen Bildungs- und Sozialforschung am Beispiel der Fürsorgeerziehung und ihrer Schnittstellen zu Kinderpsychiatrie und Jugendstrafvollzug am 25. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) 2016 zum Thema Räume für Bildung. Räume der Bildung vom 13.–16. 3. 2016 an der Universität Kassel sowie im Panel Gender Segregation and the Materiality of Educational Spaces bei der International Standing Conference of the History of Education (ISCHE) in Chicago zum Thema Education and the Body vom 17.–20. 8. 2016 vorgestellt. Die Arbeiten mündeten im Forschungsvorhaben Negotiating Educational Spaces in Residential Care 1970–1990. An Interdisciplinary Comparison of Transformation Processes in Austria, Germany and Switzerland, eingereicht beim FWF.



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Kunstinstallation, welche die Beziehung zwischen Raum und Körper visualisierte und zugleich in der Praxis durch die Schaffung neuer Raumbezüge inszenierte, aber auch verfremdete. Um die Beziehung zwischen Raum und Körper sinnlich und auf mehreren Ebenen wahrnehmbar zu machen, wurden die Veranstaltungen um ein Literatur- und Musikprogramm erweitert, die eine Verbindung zwischen Wissenschaft, Kunst und Architektur bilden sollten. Hierzu konnte die Brunecker Schriftstellerin Waltraud Mittich gewonnen werden. Ihr Roman Abschied von der Serenissima erschien wenige Monate, bevor das Kunstobjekt installiert wurde. Die Autorin erzählt darin von Wegen, Umwegen und Traumwegen und zeigt, wie Verkehrsverbindungen, Straßen und Flüsse schicksalshaft für Menschen und Städte wirken. Raum, Zeit und Körper verweben sich in Mittichs Roman, dessen Schauplätze entlang der alten Handelsstraße zwischen dem Pustertal mit seinem Hauptort Bruneck und Venedig, der Serenissima, liegen. Für die Eröffnungsfeier der Kunstinstallation am 19. Juli 2014, die zugleich den Abschluss der wissenschaftlichen Tagung bildete, bereitete der Musiker Rudolf Unterhuber eine Vertonung ausgewählter Passagen von Waltraud Mittichs Roman vor, die er gemeinsam mit der sound-performativen Gruppe JOXHFN umsetzte.15 Für drei Tage im Juli war die Kleinstadt Bruneck zu einem Experimentierfeld geworden, wo sich die beteiligten Wissenschaftler/-innen, Künstler/-innen und das Publikum auf ein verändertes Raumgefühl einließen.16

D AS K UNSTOBJEKT Die Installation Corpus intra muros ummantelte den so genannten Pulverturm in Bruneck. Im Vorfeld hatte sich der Historiker Andreas Oberhofer, Leiter des Brunecker Stadtarchivs, auf die historische Spurensuche nach Informationen zu diesem Gebäude begeben. Der Pulverturm, so lässt sich das Fazit des Historikers zusammenfassen, ist mit Marc Augé gesprochen, ein Nicht-Ort,17 denn anders als viele historische Bauwerke besitzt dieser Turm keine eigene Identität, keine überlieferte Geschichte, nur viele Erzählungen, die sich um ihn ranken. Dort, wo der Historiker aufgrund mangelnden Quellenmaterials an Grenzen der Interpretation stieß, setzte der Architekt Stefan Hitthaler an. Sein Kunstobjekt zeigte den ersten Raum, den wir Menschen bewohnen, den nackten menschlichen Leib und Körper,18 den Hitthaler in Beziehung mit dem Turm setzte. Die Körper, die auf großformatigen Fotografien auf der Installation rund um den Turm abgebildet waren, standen für die vielfältigen 15 Vgl. hierzu: http://www.norbertdalsass.it/de/sound/joxhfn---music-meets-art.html; vgl. auch Unterhuber in diesem Band. 16 Vgl. hierzu den Beitrag von Stefano Zangrando in diesem Band. 17 Marc Augé, Nicht-Orte, München 2010 [1992]. 18 Vgl. Peskoller, Körperlicher Raum (wie Anm. 3) 395.

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Beziehungen, die Menschen mit Mauern eingehen. Die Bilder sollten die Spuren der Menschen sichtbar machen, die sie über die Jahrhunderte in der Stadtarchitektur hinterließen – und diese wiederum in ihnen. Die Installation fragte nach der Bedeutung und Entwicklung historischer Orte in Städten, für Kultur, Erziehung und Bildung, Wirtschaft, Politik und Religion, Freizeit und Sport. Das Objekt lud darüber hinaus dazu ein, die Potentiale solcher Orte für die Zukunft auszuloten. Insbesondere regte das Kunstwerk dazu an, über die Freiräume nachzudenken, die Architektur schafft oder verhindert, indem sie materielle und soziale Grenzziehungen vornimmt. Der Bau des Kunstobjekts, mit dem nur wenige Wochen vor seiner Eröffnung begonnen wurde, erregte bald eine Diskussion über die Bedeutung und Sinnhaftigkeit von Kunst im öffentlichen Raum und vor allem, ob der Beziehung zwischen Raum und Mensch derartige Anstrengung gewidmet werden sollte. Zwar hatten die Eigentümer des Turms, die Pächter sowie die politischen Vertreter/-innen der Stadtgemeinde Bruneck dem Bau zugestimmt, die Bevölkerung aber war auf ein derartiges Bauwerk, das einen zentralen Platz ihrer Stadt schlagartig völlig veränderte, nicht vorbereitet, sodass der rasante Aufbau eines aus 50 Kubikmetern Beton und 50 Tonnen Stahl bestehenden, über zehn Meter hohen ungewohnten Objektes Verwunderung hervorrief. Obwohl der Bau ausschließlich durch Sachmittel privatwirtschaftlicher Sponsoren umgesetzt wurde, veröffentlichte die meistgelesene Tageszeitung Südtirols die fiktive Bausumme von rund 85.000 Euro, die mit der Umfrage »Spektakuläre Kunst oder sinnlose Geldverschwendung?« kommentiert wurde.19 Dies sorgte für Diskussionen über das Bauwerk in sozialen Netzwerken und weiteren Zeitungsartikeln. Ein Punkt der Auseinandersetzung war, dass die Installation von Beginn an als ephemere Erscheinung konzipiert wurde und nach dreimonatiger Präsentation wieder abgebaut werden sollte. Dieser Sachverhalt führte zu einer Pattsituation in der öffentlichen Debatte, in der die einen die Installation nicht haben und so schnell wie möglich wieder rückgängig machen, die anderen diese aber als willkommene Bühne für Veranstaltungen, als Treffpunkt und Blickfang in der Mitte der Stadt annahmen und nicht mehr hergeben wollten. Auf diese Diskussionen reagierten wir im Organisationsteam des Projektes,20 indem wir die für die Eröffnung des Kunstwerkes angesetzte Podiumsdiskussion mit dem Titel Können Räume bilden? als öffentliches Forum nutzten, um die wissenschaftliche Diskussionsrunde um Fachleute aus Wirtschaft und Politik sowie Personen aus dem öffentlichen Leben zu erweitern. Diskutiert wurde dabei nicht nur über die Bedeutung der

19 Vgl. Dolomiten. Tagblatt der Südtiroler vom 20.7.2014. 20 Dem Organisationsteam gehörten neben Stefan Hitthaler und Ulrich Leitner Christina Antenhofer sowie Vertreter der Raiffeisenkasse Bruneck und des Stadtmarketings Bruneck an, mit denen die Veranstaltungen umgesetzt wurden.



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Beziehung zwischen Mensch und Raum, sondern auch über die Frage, was Kunst kosten darf, wem sie nützt und was sie in einer Stadt bewirken kann.21 Die Diskussionen um das Kunstwerk brachen auch nach der Eröffnung nicht ab, bis es schließlich im Mai 2016 wieder abgetragen und damit dem Pulverturm sein gewohntes Erscheinungsbild wieder zurückgegeben wurde. Die Ummantelung des Pulverturmes mit der Darstellung menschlicher Körper machte zum einen die »verborgene Verknüpfung von Menschen und Dingen« erfahrbar, wie Waltraud Mittich es ausdrückte. Die Installation war darüber hinaus selbst zu einem Körperraum geworden, der die Sichtweisen der Betrachter/-innen auf das alltägliche Stadtbild und auf sich selbst verändert hatte.22 Das Objekt und die wissenschaftlichen Vorträge betonten, dass die Verknüpfung von Menschen und Dingen in die historische und die biographische Tiefe reicht, und sie verdeutlichten damit, dass die Historische Bildungs- und Sozialforschung explizit angesprochen sind, wenn in den Kultur- und Sozialwissenschaften die Beziehung zwischen Menschen und Räumen verhandelt wird.

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Spätestens seit der Historiker Karl Schlögel mit seinem 2003 erschienenen Buch Im Raume lesen wir die Zeit das Raumparadigma in den Kulturwissenschaften ausgerufen hat, mehrten sich auch in der Erziehungswissenschaft die Auseinandersetzungen mit räumlichen Dimensionen der Pädagogik und es kam zur Wiederbeschäftigung mit pädagogischen Klassikern zum Raum.23 Jutta Ecarius und Martina Löw hatten die Diskussionen rund um die »Verräumlichung sozialer Prozesse« bereits 1997 wieder neu angestoßen.24 Die Analyse der Beziehung zwischen Räumen und den 21 Die Eröffnungsstatements sind im Katalogteil dieses Bandes unter dem Titel Wie Räume wirken versammelt. 22 Vgl. hierzu den Beitrag von Stefano Zangrando in diesem Band. 23 Anstoß hierzu gab unter anderem der 25. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (wie Anm. 14) http://dgfe2016.de/. Vgl. als Überblick zu den aktuellen Debatten: Constanze Berndt / Claudia Kalisch / Anja Krüger (Hg.), Räume bilden – pädagogische Perspektiven auf den Raum, Bad Heilbrunn 2016. Als klassische Studie gilt: Martha Muchow / Heinrich Muchow, Der Lebensraum des Großstadtkindes, Weinheim / München 2012 [1935]; und darauf aufbauend die Arbeiten von Zinnecker, etwa: Jürgen Zinnecker, Stadtkids: Kinderleben zwischen Straße und Schule, Weinheim / München 2001. 24 Vgl. Jutta Ecarius / Martina Löw, Raumbildung. Bildungsräume. Über die Verräumlichung sozialer Prozesse, Wiesbaden 1997.

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darin stattfindenden pädagogischen Prozessen steht in engem Kontakt zu pädagogisch anthropologischen sowie phänomenologischen Forschungen, gliedert sich in diese ein und arbeitet an ihnen weiter.25 Angesprochen werden einerseits architektonische Raumstrukturen von Erziehungs- und Bildungsorten, andererseits wird der Raumbegriff zugleich weiter gefasst. Aufbauend auf raumsoziologische Studien, insbesondere von Martina Löw, wird der Raum nicht als natürliche und feststehende Gegebenheit, sondern als »relationale Anordnung von Körpern« verstanden.26 Einfluss auf die Diskussion zur Bedeutung der Materialität für Erziehung und Bildung nahmen auch die soziologischen Schriften Bruno Latours und der AkteurNetzwerk-Theorie (ANT).27 Soziale Netzwerke werden hier als Verknüpfungen von Menschen mit nicht-menschlichen und materiell-technischen Entitäten verstanden. Diese nicht-menschlichen Einheiten nennt Latour »Aktanten«, die Netzwerke dazu bringen zu handeln. Indem sie übersetzen und vermitteln, bilden sie AkteurNetzwerke.28 Damit ist die Frage nach dem pädagogischen Raum in ein weites Feld materieller Grundlagen erziehungs- und bildungsrelevanter Prozesse gebettet. Die aktuelle Auseinandersetzung mit den Räumen der Pädagogik in den Erziehungsund Bildungswissenschaften ist somit im Kontext des neuen Interesses für Raum und Materialität in den Kulturwissenschaften zu verorten.29 Zentrale Fragen sind jene nach der Beziehung von Räumen zum menschlichen Körper und dessen performativem Ausdruck in räumlichen Umwelten.30 Diskutiert 25 Vgl. hierzu etwa: Eckart Liebau / Gisela Miller-Kipp / Christoph Wulf (Hg.), Metamorphosen des Raums. Erziehungswissenschaftliche Forschungen zur Chronotopologie (Pädagogische Anthropologie 9), Weinheim 1999. Zur phänomenologischen Forschung siehe vor allem die in diesem Beitrag zitierten Arbeiten von Peskoller oder Hasse. 26 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. Vgl. als Überblick zu soziologischen Raummodellen: Rau, Räume (wie Anm. 12) 91 ff. 27 Vgl. vor allem: Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007. 28 Zur Rezeption Latours in der Erziehungswissenschaft sowie zur Bedeutung der Materialität vgl. die Beiträge in Nohl / Wulf, Mensch und Ding (wie Anm. 12). 29 Vgl. Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. 30 Vgl. hierzu die klassische Arbeit: Christoph Wulf / Dietmar Kamper, Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main 1982; sowie aktuell: Johannes Bilstein / Micha Brumlik (Hg.), Die Bildung des Körpers, Weinheim / Basel 2013; zum Jugendalter: Yvonne Niekrenz / Matthias D. Witte (Hg.), Jugend und Körper, Leibliche Erfahrungswelten, Weinheim / München 2011; zu marginalisierten Körpern: Imke Schminke, Gefährliche Körper an gefährlichen Orten. Eine Studie zum Verhältnis von Körper, Raum und Marginalisierung (Materialitäten 9), Bielefeld 2009; zur Performativität: Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012.



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werden der Zusammenhang zwischen Emotionen, Praktiken und Ritualen sowie Ästhetiken von Erfahrungsräumen.31 Ein Schwerpunkt der bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen zum Raum liegt ferner in der Untersuchung, wie Lern- und Erkenntnisprozesse durch architektonische und städtebauliche Kontexte beeinflusst werden und diese wiederum die ästhetische Wahrnehmung baulicher Umgebungen ihrerseits beeinflussen.32 Hierzu werden Lernorte auf ihre physikalischen Eigenschaften, ihre psychologische Bedeutung, die historische Entwicklung und Funktion bis hin zu Energiesparmaßnahmen interdisziplinär untersucht.33 Daneben wird die Atmosphäre von Lernorten und Erziehungsräumen thematisiert, die der Philosoph Gernot Böhme als »etwas zwischen Subjekt und Objekt« und als »eine gemeinsame Wirklichkeit beider« definierte.34 Betont werden die Verwendung von Farbe und Licht und der Einfluss von Formen auf pädagogische Entwicklungen. Hervorgehoben wird ebenso die Bedeutung der taktilen Raumerkundung.35 Daneben wird die Überwindung stereotyper Raumkonstruktionen thematisiert, so etwa zwischen Stadt und Land in der Kindheits- und Jugendforschung.36 Im Zuge des neuen Interesses am Raum erlebt vor allem die Stadtforschung eine Hochkon-

31 Vgl. am Beispiel des Naturraums: Eckart Liebau / Helga Peskoller / Christoph Wulf (Hg.), Natur. Pädagogisch-anthropologische Perspektiven, Weinheim 2003. 32 Vgl. Hildegard Schröteler-von Brandt / Thomas Coelen / Andreas Zeising / Angela Ziesche (Hg.), Raum für Bildung. Ästhetik und Architektur von Lern- und Lebensorten, Bielefeld 2012. Vgl. auch: Henning Schluß / Stefanie Lachmann: Raum als pädagogische Dimension? Untersuchungen am Joachimsthalschen Gymnasium, in: Bildung und Erziehung 60/1 (2007) 79–95.  33 Vgl. Leopold Schober, Räume gestalten – Chancen nützen. Die Bedeutung des Raumes und dessen Gestaltung für Lernprozesse, in: Lernen und Raum. Gebaute Pädagogik und pädagogische Baustellen (Pädagogik für Niederösterreich 5), hg. von Erwin Rauscher, Baden 2012, 286–303. 34 Gernot Böhme, Dämmerung, in: KörperDenken. Aufgaben der Historischen Anthropologie (Historische Anthropologie 27), hg. von Frithjof Hager, Berlin 1996, 36–44, 39; vgl. hierzu auch die Arbeiten von Hasse, etwa: Jürgen Hasse, Räume der Pädagogik – zwischen Funktion und Subversion, in: Pädagogische Rundschau 3/63 (2009) 369–385. 35 Paradigmatisch aufgezeigt durch die Arbeiten von Peskoller, vgl. etwa: Helga Peskoller, BergDenken: eine Kulturgeschichte der Höhe, Wien 1997; vgl. auch: Helga Peskoller, Berge und Mythos, in: Berg & Leute. Tirol als Landschaft und Identität (Schriften zur politischen Ästhetik 1), hg. von Ulrich Leitner, Innsbruck 2014, 84–96. 36 Vgl. hierzu das erste Kapitel in folgendem Band zu einer raumtheoretisch orientierten Kindheitsforschung: Rita Braches-Chyrek / Charlotte Röhner (Hg.), Kindheit und Raum (Kindheit.Gesellschaft 2), Opladen / Berlin / Toronto 2016.

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junktur.37 Hervorzuheben sind hierbei die Arbeiten zum Verhältnis von Stadt und Migration.38 Aus medienpädagogischer Perspektive wird die Bedeutung von »virtuellen Räumen« für erziehungsrelevante Prozesse untersucht und der Erwerb von »visuellen Kompetenzen« und ein eigenverantwortlicher Umgang mit »visueller Kultur« betont.39 Zentralen Einfluss auf die erziehungswissenschaftliche Beschäftigung mit Räumen haben Michel Foucaults Schriften, die wesentliche Grundlagen für die Untersuchung der materiellen Dimension pädagogischer Prozesse lieferten. Seine Studien zeigen, dass Räume und Dinge mit den Menschen zusammenhängen, sich gegenseitig bilden und nur unzureichend getrennt voneinander beobachtet werden können.40 Foucault betont, dass diese wechselseitige Bildung mit der Produktion von Macht und Herrschaft einhergeht und besonders dort sichtbar wird, wo der Körper zum Maßstab sozialer Disziplinierung wird. Ihre Wirkung reicht stets in die historische Tiefe und ihre Mechanismen können explizit an den Orten beobachtet werden, an denen Wissen produziert, Erziehung angestrebt und Bildung ermöglicht werden soll. Martin Nugel stellte aufbauend auf Foucault fest, dass auf die Kategorie des Raums fokussierte erziehungswissenschaftliche Studien zum einen die Wirkung des konkreten Raums auf dessen Bewohner/-innen zu untersuchen haben. Daneben gelte es, die »diskursiven und theoretischen Wissenspraktiken zu hinterfragen, mit denen bestimmte Raumordnungen überhaupt erst generiert, etabliert und sedimentiert werden«.41 Daniel Burghardt wiederum führte im Anschluss an Michel Foucault, Jean Piaget und Otto Friedrich Bollnow raumtheoretische, entwicklungs-

37 Vgl. etwa aus historischer Perspektive die Steuerung sozialer Verhältnisse durch Stadtraumplanung: Martin Viehhauser, Reformierung des Menschen durch Stadtraumgestaltung. Eine Studie zur moralerzieherischen Strategie in Städtebau und Architektur um 1900, Weilerswist 2016; vgl. auch Antenhofer / Bischof / Dupont / Leitner, Cities as Multiple Landscapes (wie Anm. 4). 38 Vgl. etwa Erol Yildiz, Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht, Bielefeld 2013; vgl. auch den Beitrag von Marc Hill in diesem Band. 39 Vgl. Theo Hug / Andreas Kriwak (Hg.), Visuelle Kompetenz. Beiträge des interfakultären Forums Innsbruck Media Studies, Innsbruck 2011; vgl. auch: Sigrid Schade / Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011. 40 Vgl. vor allem: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 2008 [1976]; Michel Foucault, Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. von Karlheinz Barck, Leipzig 1992 [1967], 34–46. 41 Martin Nugel, Erziehungswissenschaftliche Diskurse über Räume der Pädagogik. Eine kritische Analyse, Wiesbaden 2014, 29.



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psychologische und pädagogische Ansätze zusammen und konzipierte den pädagogischen Raum als ein mehrdimensionales Phänomen.42

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Aufbauend auf die oben dargestellten Überlegungen nimmt der vorliegende Band vier sich zuweilen überlappende Raumdimensionen in den Blick: geschlossene Räume, Übergangsräume, Zwischenräume und Sonderräume. Die vier Kapitel behandeln zum einen die Wirkmacht von Raumgrenzen, für die paradigmatisch die gebauten Mauern stehen können, und fragen nach dem ihnen zugrundeliegenden und sie generierenden Raumwissen. Andererseits wird ein Schwerpunkt auf die Durchlässigkeit von Räumen gelegt. Damit wird der von Michael Göhlich formulierte Gedanke aufgegriffen, »die Geschichte pädagogischer Raumkonzeptionen […] als Wechselspiel zwischen Öffnung und Schließung des pädagogischen Raums zur Welt« zu lesen.43 Dieses Unternehmen wird am Beispiel gebauter Räume wie Kloster, Gefängnis, Psychiatrie, Erziehungsheim, Universität, Bibliothek und Archiv, aber auch der Stadt sowie Straßen und Verkehrswege unternommen. Neben diesen gebauten Räumen gilt das Interesse liminalen Erfahrungen wie der Reise, der Flucht, des Sterbens, geschlechterüberschreitenden Realitäten oder der Imagination fremder Welten. Die körperlichen und leiblichen Erfahrungswelten von Menschen, die Räume bilden und von ihnen gebildet werden, sie ergehen, bewohnen und erfahren, sind der Ankerpunkt der interdisziplinären Analysen. Im Kapitel Geschlossene Räume werden Beiträge zum Themenkomplex Fürsorgeerziehung, Psychiatrie und Strafvollzug versammelt, die sich dem Phänomen der räumlichen Isolierung als Erziehungsmaßnahme widmen. Mechthild Bereswill eröffnet das Kapitel mit einem Aufsatz zur geschlossenen Unterbringung von jungen Männern im deutschen Jugendstrafvollzug. Mit dem Freiheitsentzug als ultima ratio werden Erziehungsmaßnahmen angestrebt, die zu einer Resozialisierung der Jugendlichen führen sollen. Anhand von Interviewsequenzen, die sie mit jugendlichen Gefängnisinsassen führte, rekonstruiert die Autorin die Gewaltförmigkeit der Hermetik des Gefängnisses, die im Wechselspiel zwischen Körpern und Mauern ihre spezifische Bedeutung erlangt. Körper werden als »Kreuzungspunkte zwanghafter Männlichkeitsideale und unbewusst gehaltener Männlichkeitskonflikte« entschlüsselt. An ihnen lassen sich ambivalente Beziehungsräume untersuchen, die in der 42 Daniel Burghardt, Homo spatialis. Eine pädagogische Anthropologie des Raums, Weinheim / Basel 2014. 43 Michael Göhlich, Raum als pädagogische Dimension, in: Berndt / Kalisch / Krüger, Räume bilden (wie Anm. 23) 36–50, 41. Dies zeigte er exemplarisch anhand von Schulraumkonzeptionen auf.

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spezifischen Situation des Eingekerkert-Seins entstehen, in der die Insassen um die gegenseitige Verletzungsmacht ringen. Wie das Gefängnis sind auch die frühe Anstaltspsychiatrie und die weit ältere Klostergemeinschaft mehr oder weniger »geschlossene Häuser«. Sie zielten darauf ab, Körper von Melancholie und Tobsucht zu befreien oder auf ihre Seele einzuwirken. Anhand von Krankenakten der historischen Irrenanstalt Hall in Tirol präsentiert Maria Heidegger Raum- und Leiderfahrungen von vier Ordensleuten, die in die psychiatrische Anstalt kamen. Die Krankenakten, die Heidegger als Quellen dienen, liest sie gegen den Strich, um »Auskünfte über die Wahrnehmungen und Erfahrungen des Eingesperrt-Seins und des Ausgesperrt-Werdens« zu erlangen. Es wird deutlich, dass die Körper zwischen Psychiatrie- und Klostermauern einem Medikalisierungsprozess ausgesetzt waren, der darauf abzielte, sie mit psychiatrischem Wissen zu bessern. Persönliche Rückzugsorte gab es im strengen Raumregiment der Psychiatrie kaum. Auch das Lesen von Büchern wurde in der Anstalt als Therapie verordnet. Bibliotheken waren in beiden Institutionen, der Psychiatrie und dem Gefängnis, architektonisch vorgesehen und wurden erzieherisch eingesetzt.44 Philipp Hubmann und Mara Persello gehen in ihrem Beitrag dem Buch als Bildungs- und Besserungsvehikel in den ersten Zellengefängnissen nach. Gefängnisgeistliche erlegten den Häftlingen aus pädagogischen und therapeutischen Gesichtspunkten Pflichtlektüren auf, welche die Gefangenen ihrerseits kreativ umzudeuten wussten. Ähnlich den Büchern der Irrenanstalt in Hall in Tirol, die Patient/-innenkommentare aufweisen,45 wurden auch die Bücher der frühen Gefängnisbibliothek von den Gefangenen als Kommunikationsmittel genutzt, wie die Autor/-innen anhand von Cesare Lombrosos 1899 entstandener Schrift über die Kerker-Palimpseste zeigen. Auf die Isolationshaft reagierten die Häftlinge damit, dass sie auf den Seitenrändern von Büchern, auf Bettgestellen und Türrahmen, Mauern und Kirchenbänken kurze Nachrichten hinterließen, mit denen sie sich untereinander austauschten. Um die Umdeutung geschlossener Erziehungsräume geht es auch im Beitrag von Flavia Guerrini. Sie widmet sich der Isolierzelle, dem so genannten Karzer, in einem geschlossenen Erziehungsheim für Mädchen in Tirol. Die Autorin zeichnet die Geschichte dieses besonderen Erziehungsortes von seinen Anfängen in der Vorgängerinstitution der Erziehungsanstalt, einem Zwangsarbeitshaus, bis zur Schließung des Jugendheimes Anfang der 1990er Jahre nach. Dabei zeigt sie auf, wie psychiatrisches Wissen in die bauliche Ausge44 Zur Bibliothek in der Anstaltspsychiatrie siehe: Ursula A. Schneider / Annette Steinsiek, »Die Lektüre der Pfleglinge«. Ein literaturwissenschaftlicher Blick auf die historische Bibliothek des Psychiatrischen Krankenhauses, in: Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, hg. von Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann J. W. Kuprian / Sieglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser, Innsbruck 2011, 99–107, 100. 45 Schneider / Steinsiek, Lektüre der Pfleglinge (wie Anm. 44) 105–106.



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staltung dieses Erziehungsraumes einfloss, seine Funktionszuschreibung modernisierte, verwissenschaftlichte und hierrüber legitimierte. Obwohl sich am Karzer paradigmatisch die Macht- und Herrschaftsverhältnisse ablesen lassen, denen die Jugendlichen im geschlossenen Erziehungsheim ausgesetzt waren, können die Botschaften, welche die Jugendlichen an den Wänden des Karzer hinterließen, als widerständige Praxis der Raumaneignung gelesen werden, mit der sich die Mädchen in der für sie »existentiell bedrohlichen Erfahrung« der Isolationshaft als handlungsmächtiges Subjekt selbst positionierten. Die im Kapitel Übergangsräume versammelten Beiträge beschäftigen sich mit liminalen bzw. liminoiden körperlichen Zuständen und ihrer räumlichen Verfasstheit, sprich: mit Körpern in räumlichen Schwellensituationen.46 Den Anfang macht Irene Berkel mit einem psychohistorischen Beitrag über die Karmelitin und Mystikerin Teresa von Avila. Die spanische Heilige, die auf den Widerspruch zwischen dem verweltlichten Leben im Kloster und ihrer Berufung mit schweren psychosomatischen Erkrankungen reagierte, machte etwa 1553 ein Gotteserlebnis und wurde zur Reformerin des Karmeliterinnenordens. In ihrer Schrift Die innere Burg hielt Teresa ihren Weg zur Unio Mystica fest, in der sie die Seele mit einer lebendigen Raummetaphorik als Festung beschreibt, die in sieben Wohnungen unterteilt ist. Mit dem psychoanalytischen Konzept des potential space von Donald Winnicott deutet Berkel das Kloster als intermediären, potentiellen Raum, als Übergangsraum zwischen psychischer Innenwelt und wirklicher Außenwelt. Die Klostermauern ermöglichten den selbsttherapeutischen Prozess, der Teresa zur Vereinigung mit ihrem himmlischen Bräutigam führte und sie so von ihrem Seelenleiden heilte. Teresas Schrift kennzeichnet ein programmatischer pädagogischer Charakter, denn sie versucht die Interpretation ihrer Erfahrungen den Leser/-innen als potentiellen Nachfolger/-innen zu vermitteln und sie für ein gottesfürchtiges Leben zu gewinnen, wovon auch die von ihr initiierten Klostergründungen zeugen. Im Anschluss zeichnet Christina Antenhofer entlang von Alfred Gells Konzept der distributed personhood Formen räumlicher Erinnerung nach, die als Topographien des sterbenden Körpers bezeichnet und anhand von Testamenten der Deutschen Reichsfürsten des Mittelalters freigelegt werden. Vor dem Hintergrund der prinzipiellen narrativen Konstruiertheit von (historischen) Texten nutzt die Historikerin die Quellensorte des Testaments für eine methodische Einschätzung der Möglichkeit, über Ego46 Vgl. hierzu die von Hess und Schmiedbach herausgegebene Studie zu den Schwellenräumen des Wahnsinns um 1900. Sie fassen »Grenz- und Randzustände« als »Schwellenräume«, die sie in Anlehnung an Victor Turners Konzept der Liminalität zu greifen versuchen. Vgl. Volker Hess / Heinz-Peter Schmiedbach, Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne, in: Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne (Kulturen des Wahnsinns [1870–1930] 1), hg. von Volker Hess / Heinz-Peter Schmiedbach, Wien / Köln / Weimar 2012, 7–17, 10.

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Dokumente und Selbstzeugnisse die Perspektive historischer Subjekte in den Blick zu bekommen. Während Testamente kaum Einblicke in das Befinden der Person im Sterbebett erlauben, eröffnen sie bemerkenswerte Einblicke in die Beziehung zwischen Körper, Räumen und Dingen. Über die in den Testamenten genannte Verteilung des Körpers wie materieller Erinnerungsdinge, welche die Person repräsentieren, lokalisiert Antenhofer sakrale Raumstrukturen in Form von Orten des Begräbnisses, der Stiftungen und von Gedächtnisorten, die zur Verdinglichung der Memoria der verstorbenen Person beitrugen. Daneben werden über die Analyse der Testamente profane Raumstrukturen freigelegt, da diese Quellen Hinweise auf die Wohnräume und Dinge der Menschen erlauben, in denen und mit denen die Sterbenden ihr Leben verbrachten. Die von Antenhofer formulierte Aufforderung, »Dinge als Reisegebäck vergangener Leben zu lesen«, greift Kordula Schnegg auf und nimmt uns mit auf einen Streifzug durch den Garten des Römers Quartio im Pompeji des 1. Jahrhunderts nach Christus. Die Analyse der Raumstrukturen und der Ausstattung des Gartens erlauben Hinweise auf seinen Besitzer. Schnegg stellt den Garten des Quartio als heteros topos vor: Er war zum einen Schau- und Repräsentationsraum, über den sich der reiche römische Bürger weltoffen und gebildet zeigen konnte. Zum zweiten wurde er von seinem Besitzer nach einem individuellen Konzept angelegt, das die Autorin anhand des spezifischen Designs sowie des Skulpturen- und Bildprogramms als Sehnsuchtsraum entschlüsselt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit im Garten des Quartio stand die Statue eines schlafenden Hermaphroditen, der als corpus illustre, als ansehnlicher Körper, inszeniert wurde. Quartio schuf seinen Garten als mehrfachen Übergangsraum: Der Hermaphrodit erlaubt ein Überschreiten der Geschlechtergrenzen, die bukolische Inszenierung des Gartens ein Übergehen vom alltäglichen Leben in den Mythos. Im Schwellenraum zwischen Nichtsesshaftigkeit und Verwahrlosungsdispositiv verortet Nora Bischoff sodann das enfant vagabond im Raum der Erziehungsanstalt zwischen 1950 und 1980. Das Phänomen der Fluchten von Anstaltszöglingen wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ausdruck eines vermeintlich pathologischen Verhaltens als antisozial eingestuft und fand seine Entsprechung in repressiven Erziehungspraktiken und Gesetzen, die sich in den Heimstrukturen lange hielten. Als sich in den 1970er Jahren die Erziehungsvorstellungen der Heimerziehung allmählich wandelten, wurde den Entweichungen mit einer psychologisch orientierten Pädagogik begegnet. Der Zugriff auf die Körper der Kinder sollte nun nicht mehr über Strafpädagogik erfolgen, sondern über die zunehmende Absonderung der betroffenen Kinder in heiminternen Therapiestationen oder die Überführung in psychiatrische Anstalten. An zwei Fallbeispielen wird das enfant vagabond als »Grenzverletzer« vorgestellt, der zum einen einer Ordnungsmacht entweicht, sich ihr durch die Flucht aber gleichermaßen einverleibt.



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Zwischenräume sind »Räume, die zwischen Verkehrsraum und privatem Raum liegen«.47 Sie sind dadurch charakterisiert, dass sich Körper auf den Weg machen, Räume ergehen und sich dadurch Raumerfahrungen aneignen. Von solchen Raumerfahrungen handeln die vier Beiträge, die in diesem Kapitel versammelt sind. Ruprecht Mattig rückt Schriften Wilhelm von Humboldts ins Zentrum seines Beitrages, die bislang in der Erziehungswissenschaft wenig Beachtung gefunden haben: die Berichte über seine um 1800 unternommenen Reisen nach Spanien und ins Baskenland. Humboldt stellte hierin Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Bildung und Raum an, wenngleich er dem Begriff des Raumes keine besondere Bedeutung zumaß, sondern vielmehr diesen durch die Beschreibung von geographischen, landschaftlichen, architektonischen und sozialstrukturellen Gegebenheiten zum Ausdruck brachte, die er auf seinen Reisen sah. Humboldt charakterisierte aber nicht nur die historische, soziale, politische und räumliche Umgebung der Spanier und Basken. Durch seine Reisen ergab sich für ihn ein Rückschluss für sein Heimatland: Die »Kluft zwischen Volk und Gebildeten« sollte in einem räumlichen Sinne überwunden werden, eine Überlegung, die bildungswissenschaftliche Fragen zu räumlichen Differenzierungen sozialer Gruppen anregt. Andreas Oberhofer begleitet im Anschluss den Städter, Tiroler Heimatforscher und Juristen Paul Tschurtschenthaler bei seinen Begegnungen mit der ländlichen Bevölkerung. Die Corpora, denen der Autor nachspürt, sind Bestände von Kleinarchiven in der ländlichen Peripherie. Diese bäuerlichen Kleinarchive versuchte Tschurtschenthaler im nationalistischen Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts hinter den Mauern eines Museums zu versammeln. Vor diesem Hintergrund gibt der Beitrag Einblick in die Literalität einer im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert noch weitgehend autark und agrarisch geprägten Bevölkerung und zeigt deren Besitz und Lektüre von Büchern. Oberhofers Streifzug zu den Orten des Lesens, Schreibens und Archivierens weitet sich schließlich zu einer Geschichte des Archivs und dessen Ordnung stiftender Raumpraktiken. Mit Roland Steinachers Beitrag bleiben wir in Tirol und begeben uns auf die Spuren der Kommunikation von Menschen und Gütern auf den Straßen der römischen Antike. Über das Beispiel der Tabula Peutingeriana, einer kartenähnlichen Darstellung des römischen Straßennetzes, gibt Steinacher Einblick in die antike Raumauffassung. Wird in aktuellen Diskussionen oft der Gegensatz zwischen Römern und Barbaren bemüht, so zeigt der Autor, wie sehr Stereotype über die Fremdheit von verschiedenen ethnischen Gruppen aus spezifischen Entstehungsbedingungen der antiken Literatur herrühren. So verwendeten römische Geschichtsschreiber etwa die spektakuläre Naturlandschaft der Alpen als Metapher für Grenze, Bollwerk und Sicherheit. Die Alpen aber bildeten bis in das hohe Mittelalter die Hauptverbindung zwischen Mittel- und Osteuropa zu den italienischen Hä47 Christine Ahrend, Lehren der Straße. Über Kinderöffentlichkeiten und Zwischenräume, in: Ecarius / Löw, Raumbildung (wie Anm. 25) 197–212, 199.

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fen mit ihren Routen über das Mittelmeer in den Orient. Marc Hill thematisiert im Anschluss moderne Mobilitätserfahrungen, die mit urbanen Verräumlichungspraktiken verbunden sind, wie er anhand von marginalisierten Stadtvierteln aufzeigt. Städtische Sozialräume, in denen vornehmlich Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund leben, werden dabei auf eine bestimmte Symbolik reduziert und als Parallelgesellschaft stigmatisiert. Diese Marginalisierung spiegelt gesellschaftliche Machtverhältnisse und soziale Ungleichbehandlungen sowie Diversitätshierarchien wider. Ihren Ursprung haben sie vielfach in wissenschaftlichen Mythen, nicht selten historischen Analogieschlüssen, und Bildern über vermeintliche ethnische Segregationsprozesse. »Real existierende Menschen, Räume und Lebensverhältnisse« kommen dabei zu kurz, weshalb der Autor vorschlägt, Marginalisierungsdiskurse aus einer biographischen Perspektive zu betrachten. Dieses Vorhaben wird anhand von zwei biographischen Fallportraits junger Musliminnen realisiert. Die Fallportraits schildern Migrationserfahrungen, Probleme mit Marginalisierung und verweisen auf selbst entwickelte marginalisierungskritische Haltungen hin. Unter dem Begriff Sonderräume48 werden Beiträge von zwei Bildungs- und Erziehungsinstitutionen mit sondernder Wirkung versammelt, der Universität und des Erziehungsheims. Die Universität ist ein »durch spezifische Zugangsbedingungen ausgezeichneter Ort«, an dem Lehrende und Lernende »in ortstypischen Situationen und Rahmungen« miteinander interagieren. Mithilfe der linguistischen Interaktionsanalyse nähert sich Cordula Schwarze in ihrem Beitrag einem universitären Sonderort, der besonderen qualitativen und quantitativen Zugangsbeschränkungen unterliegt, dem Seminar. Dieses werde durch ein habitualisiertes Körper- und Raumwissen konstituiert: Zu typischen Objekten wie Tafel, Computer, Beamer und Tische sowie Stühle reihen sich bestimmte Rollen von Lehrenden und Studierenden, die mit spezifischen Körperpraktiken, etwa stehen oder sitzen, verbunden sind. Neben interaktionsanalytischen Perspektiven auf den Raum und einem Überblick zum Seminar in der Hochschulforschung bietet die Autorin die Auswertung von Fallanalysen zu drei Interaktionsbeteiligten im Seminar: dem Raum, der Lehrperson und den Studierenden. Indem die Architektur des Seminars in Bezug auf die Interaktionskonstitution bestimmte Handlungen erwartbar macht, ist sie Speicher von sozialtopographischem Wissen, das als Spezialwissen anzusehen ist und hierüber das Seminar als Sonderort mitkonstruiert. Die Auswirkungen eines spezifischen Raumwissens auf die Positionierung der Subjekte sind Thema des Beitrages von Annemarie Profanter über das Hochschulwesen in Saudi-Arabien. Anhand des Fallbeispiels der ersten privaten Universität in der östlichen Provinz SaudiArabiens, die 2006 eröffnet wurde, nähert sich die Autorin nach Geschlechtern ge48 Vgl. in Anlehnung an Foucaults Konzept der heterotopen Räume: Michaela Ralser / Ulrich Leitner / Martina Reiterer, Die Anstalt als pädagogischer Sonderort, in: zeitgeschichte 3 (2015) 179–195.



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trennten Raumordnungen. Geschlechtsidentität sei eine Schlüsselvariable für die Definition von öffentlichen und privaten Räumen, wobei der Universitätscampus ein Ort sei, an dem beide Raumsphären zusammentreffen. In der architektonischen Ausgestaltung der Universität, etwa nach Geschlechtern getrennte Vorlesungsräume oder Zugänge zum Gebäude, liest die Autorin den Versuch, »einerseits tradierte Normen zu implementieren und andererseits das Empowerment von Frauen und ihre Präsenz in eigens dafür vorgesehenen Räumen zu ermöglichen«. Diesen Vorgang begreift sie als »machtstrategische Grenzziehung«, die durch die Architektur implementiert wird. Machtansprüche und Auswirkungen auf das Subjekt und seine Handlungsmöglichkeiten im Sonderraum einer Erziehungsanstalt analysiert im Anschluss Mirjam Lynn Janett in ihrem Beitrag über das Bürgerliche Waisenhaus Basel. In diesem Heim, das zu den ältesten Waisenhäusern der Schweiz zählt, wurde 1929 ein Wandel des pädagogischen Konzepts vollzogen, der mit einem umfassenden Umbau des Heims einherging. Die architektonische Neugestaltung sollte das bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Korridorsystem mit großen Aufenthaltsund Schlafräumen ablösen. Die räumliche Anordnung, wie sie durch den Umbau realisiert wurde, schuf neue Sinn- und Bedeutungszusammenhänge, die auf eine Disziplinierung der Individuen und eine spezifische Subjektivierung hinzielten. Wie Akteure in einer institutionell vorgegebenen Struktur Raum herstellen und hierüber Handlungsmöglichkeiten festlegen, thematisiert Lina Edith Eckhardt anhand eines Ortes, der eine lange Tradition der geschlossenen Unterbringung aufweist. In einer umfriedeten mittelalterlichen Klosteranlage in der Nähe von Kassel wurden in den letzten hundert Jahren Menschen untergebracht, die nach geltenden Normvorstellungen nicht erwünscht waren. Die Mauern dienten als Korrektionsanstalt für straffällig gewordene Männer und Frauen, als frühes Konzentrationslager, Straf- und KZ-Durchgangslager der Gestapo, als Unterbringung für Flüchtlinge und internierte Nationalsozialisten nach dem Krieg und ab 1952 als Mädchenjugendheim. Anhand von Führungsheften, die in den Fallakten der in dieser Anstalt untergebrachten Mädchen enthalten sind, geht die Autorin der Frage nach, wie über die materielle Beschaffenheit der Anstalt mit ihren hohen Mauern, vergitterten Fenstern und verschlossenen Türen Erziehungsräume der Fürsorge entstanden. Ferner sei etwa über Körperbeschreibungen der Mädchen auf deren Verhalten geschlossen worden, was Auswirkungen auf die Fürsorgepraxis hatte und sich in einer starken Kontrollstruktur und restriktiven Erziehungsmaßnahmen niederschlug. Im Katalogteil des Bandes wird die Installation Corpus intra muros anhand von Planungsskizzen des Architekten Stefan Hitthaler und Bildeindrücken des Objektes vorgestellt. Im Abschnitt Wie wir Räume gestalten ordnet der Architekturkritiker Peter Reischer das Kunstobjekt thematisch ein und Andreas Oberhofer präsentiert seine Nachforschungen zur Geschichte des Pulverturmes in Bruneck. Es folgen zwei Interviews, die Heinrich Schwazer und Nina Schröder mit Projektbeteiligten führten. Das Kapitel Was Räume erzählen beginnt mit einem essayistischen Beitrag

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des Literaturwissenschaftlers und Literaten Stefano Zangrando zur »Poesie des Raumes«, die er anhand des Kunstwerkes und Martin Heideggers Raumverständnis zu fassen versucht. Christina Antenhofer begibt sich im Anschluss auf eine historische Spurenlese durch das Pustertal, das ehemals die deutschen Lande mit der Serenissima, der Republik Venedig, verband. Herzog Christoph von Bayern kam 1493 auf seiner Reise nach Jerusalem durch das Pustertal und hinterließ seine Präsenz in Form materieller Hinterlassenschaften, welche die Historikerin zum Erzählen bringt. Die Literaturwissenschaftlerin Birgit Holzner stellt sodann das literarische Werk Waltraud Mittichs und insbesondere ihren Roman Abschied von der Serenissima vor, den Rudolf Unterhuber im Rahmen des Projektes vertonte. Den letzten Beitrag in diesem Kapitel bildet der erste Akt von Unterhubers Musikstück. Im Abschnitt Wie Räume wirken folgen schließlich vier Statements über das Kunstwerk von Waltraud Mittich, Reinhold Messner, Christina Antenhofer und Anselm Bilgri, die im Rahmen der Eröffnungsfeier des Kunstwerks präsentiert und für den vorliegenden Band verschriftlicht wurden.

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Was sehen wir und was übersehen wir, um mit der von Mechthild Bereswill formulierten Frage zu sprechen,49 wenn wir Raum als heuristische Kategorie in der historischen Bildungs- und Sozialforschung ansetzen? Innovativ am neuen Interesse am Raum ist nicht die Leistung, Raum als soziale Konstruktion aufzufassen, wie längst mit Verweis auf ältere Studien angemerkt wurde.50 Neu ist auch nicht die Betonung der Bedeutung des Raumes für pädagogische Prozesse, angesichts der schon lange währenden Diskurse zu räumlichen, zeitlichen und körperlich-leiblichen Aspekten der Erziehung und Bildung über pädagogisch-anthropologische Arbeiten. Reizvoll an der Raumkategorie sind für eine historisch orientierte Bildungs- und Sozialforschung vielmehr die durch die konsequente Zusammenschau von Materialität, sozialer Konstruktion und anthropologischen wie phänomenologischen Aspekten sich ergebenden methodischen Herausforderungen. Sie lassen sich als fünf Aufmerksamkeiten im Umgang mit dem Raum beschreiben. Die erste dieser Aufmerksamkeiten gilt der Methoden- und Quellenvielfalt: Neben den durch Oral History gewonnenen Quellen stehen die Forscher/-innen nicht nur einer Vielfalt von schriftlichem Quellenmaterial gegenüber, sondern haben auch die Aufforderung zu meistern, materielle Kultur in ihre Analysen miteinzubeziehen. Materialität verweist zuweilen auf eine weite historische Tiefe, wie an den in diesem Band vorgestellten 49 Vgl. den Beitrag von Mechthild Bereswill in diesem Band. 50 Vgl. hierzu etwa den Hinweis von Göhlich, Raum als pädagogische Dimension (wie Anm. 43) 40.



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Baustrukturen deutlich wurde, die eine lange Geschichte als Erziehungs- und Bildungsorte aufweisen. Die Arbeit am Fallbeispiel eines heute als sozialpädagogisches Zentrum genutzten Ortes etwa, der eine lange Geschichte als Kloster, Arbeitshaus und Erziehungsheim aufweist, erfordert eine profunde historische Kenntnis der jeweiligen zeitgenössischen Kontexte. Diese sind oft, hier hat die zweite Aufmerksamkeit zu liegen, nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zu erschließen. Das gilt auch für soziale Grenzziehungen. Wenn etwa im aktuellen Diskurs um Migration und Mobilität Analogieschlüsse zu sozialräumlichen Verortungen der römischen Antike, insbesondere der so genannten spätantiken »Völkerwanderung«, gezogen werden, hilft die historische Perspektive, Diskursmuster aufzuspüren und zu überwinden. Die interdisziplinäre Herangehensweise macht zudem einmal mehr deutlich, dass das jeweilige zeitgenössische Raumverständnis mitgedacht werden muss. Antike, mittelalterliche oder neuzeitliche Raumvorstellungen sind dem zeithistorischen oder aktuellen Raumdenken und -empfinden nicht gleichzusetzen und erfordern jeweils eigene Zugänge.51 Drittens erfordert die Heuristik des Raumes Weitsicht bei der Auswahl der Quellen: Zum einen wird der Blick auf bislang in der Erziehungswissenschaft weniger rezipierte Schriften gelenkt, wie Ruprecht Mattig anhand von Humboldts Berichten aus Spanien und dem Baskenland zeigt. Zugleich demonstriert der Autor, dass seine Re-Lektüre durch die Brille der Räume darauf aufmerksam macht, wie wichtig es ist, Bildung auch in ihren körperlichen Dimensionen und in ihren räumlichen Kontexten zu sehen. Wenn die schriftliche Quellenlage schmal ist bzw. die zu untersuchenden physischen Erziehungs- und Bildungsorte nicht mehr existieren, kann die Bedeutung von bislang für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen als wenig ergiebig eingestuften Quellensorten steigen.52 Diese wiederum erfordern viertens ein auf den Raum abgestimmtes Analyseinstrumentarium. Das Untersuchungswerkzeug sollte darauf ausgerichtet sein, das Ergehen von Räumen, erzählte und erinnerte Räume ebenso wie erschriebene Räume im weitesten Sinne einfangen zu können. Susanne Rau hat hierfür in der historischen Stadtforschung das Konzept der »Topo-Graphie« eingeführt,53 das auch für erziehungs- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen von Nutzen sein kann, die an historische Quellen herangetra51 Susanne Rau hat zur Erschließung historischer Räume ein brauchbares Analyseraster entwickelt, das den heuristischen Blick auf historische Raumformationen und -dynamiken, Raumwahrnehmungen sowie Raumpraktiken und -nutzungen zu schärfen hilft. Vgl. Rau, Räume (wie Anm. 12) insb. 122–182. 52 So konnte etwa die Geschichte des Heimes für schulpflichtige Mädchen in KramsachMariatal (Tirol) großteils über Bauakten rekonstruiert werden. Vgl. Ralser / Bischoff / Guerrini / Jost / Leitner / Reiterer, Heimkindheiten (wie Anm. 9). 53 Vgl. Susanne Rau, Räume der Stadt. Eine Geschichte Lyons 1300–1800, Frankfurt am Main / New York 2014, insb. Kapitel III.

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gen werden. »Topo-Graphie« meint die Verschriftlichung von relationalen Raumerfahrungen, die historische Subjekte über Raumbegehungen gewinnen. Im Gegensatz zu klassischen Zugängen zur Stadtgeschichte über die »geographische Topographie« (Entwicklungsgeschichte) oder die »Topographie der Macht« (Orte der Macht) eröffnet das Konzept der »Topo-Graphie« die Möglichkeit, danach zu fragen, »wie Stadträume durch Subjekte angeeignet werden konnten und wie diese Aneignungsmethoden zu einem allgemeinen Muster der Zeit werden konnten, also letztlich auch in institutionalisierte Formen übergingen.«54 Die Verbindung von Ergehen und Erschreiben von Räumen, die in bestimmten Quellen resultiert, nennt Rau den »lokativen Narrationsmodus«.55 Dieser kommt dann zustande, wenn die Handlungsräume, in denen sich historische Subjekte bewegen, mit der Produktion der schriftlichen Quellen zusammenhängen, und das Narrativ die Räume erst hervorbringt. Die durch die Reisen Wilhelm von Humboldts entstandenen Beschreibungen Spaniens und des Baskenlandes sowie die Bilder, die Paul Tschurtschenthaler in seinen Wanderungen durch das Pustertal über die dort lebende ländliche Bevölkerung zeichnete, sind Beispiele für topo-graphische Quellen in diesem Sinn. Die Produktion von Räumen durch Verschriftlichung ist aber auch in den durch Christina Antenhofer vorgestellten Testamenten oder den von Irene Berkel bearbeiteten mystischen Schriften Teresas von Avila zu finden. In den Schwerpunktthemen dieses Bandes, Fürsorgeerziehung, Psychiatrie und Justiz, mit ihren äußerst produktiven und zuweilen miteinander verzahnten Verwaltungsvorgängen, ist der »lokative Narrationsmodus« des Schriftgutes ebenso häufig zu beobachten. Dieser wird etwa über Handlungsanweisungen in den jeweiligen verhaltensnormierenden Raumordnungen und der über diese konstituierten Pädagogik greifbar. Lina Edith Eckhardt zeigt die Verschränkung von Schriftlichkeit und Raum anhand der in einem Erziehungsheim über die Kinder angelegten »Führungshefte« beispielhaft auf. Die Verschriftlichung der Hefte beeinflusste nicht nur die Erziehungspraxis im Heim, sondern verfestigte auch die dort etablierten Erziehungsräume. In den Inschriften, die Philipp Hubmann, Mara Persello und Flavia Guerrini auf den Gefängnis- und Karzermauern untersuchen, tritt die topo-graphische Herstellung eines »Schriftraumes«56 explizit in Erscheinung. Werden Quellen mit institutionalisiertem Charakter mit Blick auf die Räume gegen den Strich gelesen, wie Maria Heidegger am Beispiel der Psychiatriegeschichte vorschlägt, wird die Institutionengeschichte um Aspekte des Alltagslebens in soziokulturell strukturierten, von Machtverhältnis54 Rau, Räume der Stadt (wie Anm. 53) 227. 55 Rau, Räume der Stadt (wie Anm. 53) 226. 56 Eine Einführung zur Bedeutung der Schrift als Medium, um Orte zu besetzten und Räume hervorzubringen, bieten: Christian Kiening / Martina Stercken (Hg.), SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 4), Zürich 2008.



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sen geformten Räumen erweitert und setzt diese nicht nur in größere Zusammenhänge, sondern wendet sich auch individuellen Leiderfahrungen zu. Den Schmerz, »der da ist, sobald die Tür zu ist«, stellt Mechthild Bereswill in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zum Jugendstrafvollzug. In narrativen Interviews können Zeitzeug/-innen Auskunft über ihre Gefühlslagen geben, was in vormodernen Quellen allenfalls über Ego-Dokumente der Fall ist. Können weder das schriftliche Quellenmaterial noch die materielle Kultur einen Weg zu den Menschen bereiten, die in bestimmten Räumen lebten und sie erlebten, helfen künstlerische Herangehensweisen den heuristischen Blick zu schärfen. Die fünfte Aufmerksamkeit im Umgang mit dem Raum gilt daher der Kunst. Das Beispiel des Kunstwerkes Corpus intra muros rund um den Pulverturm in Bruneck verdeutlicht, dass künstlerische Irritationen imstande sind, Orte umzugestalten, Räume neu zu figurieren und zu erfahren. Kunst hat das Potential, wie Stefano Zangrando ausführt, die Menschen in eine »vielfache und einzigartige Vierdimensionalität« zu werfen, in »eine Osmose von Orten und Zeiten«. Sie hilft damit nicht nur Neues und Anderes historischer Räume zu sehen, sondern auch sie am eigenen Leib zu erfahren.

I Geschlossene Räume

»Von der Welt abgeschlossen« Das Gefängnis als hermetische Raumkonstruktion M ECHTHILD B ERESWILL

»Das ist Schmerz erst mal, der da ist, sobald die Tür zu ist. Sobald die Tür zu ist, ist erst mal der Rest von der Welt abgeschlossen, dann ist hinter dir Schluss. Dann ist man in ʼnem Raum, wo nichts mehr rein und rauskommt, dann ist Feierabend, erst mal. Dann weißt du genau, man ist drinne. Dann ist Feierabend.«

Die zitierte Textpassage entstammt einem Interview, das 1998 in einer bundesdeutschen Jugendvollzugsanstalt mit einem siebzehnjährigen Inhaftierten geführt wurde.1 Er wird von einer Interviewerin gebeten, über seine Ankunft im Gefängnis und seine Erfahrungen mit dem Freiheitsentzug zu sprechen.2 Die Erfahrung einer geschlossenen Unterbringung bildet für ihn einen scharfen Kontrast zu seinem Lebensgefühl vor der Inhaftierung, das er mit Bewegungsfreiheit, Unabhängigkeit und räumlicher Mobilität assoziiert. Vor diesem Hintergrund beschreibt der Jugendliche das Gefängnis als einen hermetischen, abgedichteten Raum, in dem er festgesetzt wird. Mit dem Begriff »Schmerz« findet er ein starkes sprachliches Bild, das auf seelische ebenso wie auf körperliche Qualen deuten kann. Die Pein wird für ihn durch die räumliche Erfahrung der geschlossenen Tür ausgelöst.

1

Vgl. die Angaben zu den durch die VolkswagenStiftung und die Stiftung Deutsche Jugendmarke finanzierten Forschungsprojekten des Kriminologischen Instituts Niedersachsen (KFN), die online abrufbar sind: http://kfn.de/forschungsprojekte/gefaengnis-und-diefolgen/; http://kfn.de/forschungsprojekte/labile-uebergaenge-die-integration-hafterfahren er-junger-maenner-in ausbildung-und-arbeit/.

2

Mechthild Bereswill, Gefängnis und Jugendbiographie. Qualitative Zugänge zu Jugend, Männlichkeitsentwürfen und Delinquenz (JuSt-Bericht 4), KFN-Forschungsbericht Nr. 78, Kriminologisches Forschungsinstitut, Hannover 1999.

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Wie viele andere Inhaftierte3 thematisiert auch der zitierte Jugendliche die geschlossene Unterbringung im Gefängnis als eine existenzielle Krise, indem der hermetische Raum ihn »vom Rest der Welt« abschneidet – »hinter dir ist Schluss« lässt alles zurück, was außerhalb dieses hermetischen Raums existiert. »Dann ist Feierabend« ist eine gängige Redewendung, mit der zum Ausdruck gebracht wird, dass es nun reicht, etwas endgültig vorbei ist und der absolute Schlusspunkt einer Entwicklung erreicht wurde. Diese Redewendung könnte auch den Repräsentanten der juristischen und pädagogischen Instanzen in den Mund gelegt werden, die darüber zu entscheiden haben, ob ein Siebzehnjähriger inhaftiert wird. Da der Freiheitsentzug im bundesdeutschen Jugendstrafrecht als eine ultima ratio gilt, wird dieser sowohl von den zuständigen Professionen als auch von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit häufig als eine Basta-Maßnahme kommuniziert und der Schmerz, der (jugendlichen wie erwachsenen) Inhaftierten durch den Freiheitsentzug zugefügt wird, ist ein durchaus erwünschter Effekt des Wegsperrens von Körpern hinter Mauern.4 Gesellschaft – als komplexes Interaktionsgefüge zwischen der Öffentlichkeit und Institutionen der Hilfe und Kontrolle – hat sich für die bewusste Zufügung der »Schmerzen des Freiheitsentzugs«5 entschieden, die Inhaftierte aushalten und verarbeiten müssen. Was Robert Johnson und Hans Toch bereits 1982 schreiben, gilt gegenwärtig immer noch: »One of the striking things about prisons is that we make no bones about the fact that we intend them to be uncomfortable. This feature is implied by two of the prisons’ most popular goals, punishment and deterrence, and it is a fond desideratum in the public’s view of prisons.«6 Der Inhaftierte thematisiert, was Strafe und Freiheitsentzug bei ihm auslösen, und betont den radikalen Einschnitt der räumlichen Erfahrung in sein Selbstempfinden. Kommen wir vor diesem Hintergrund auf das sprachliche Bild zurück, das er wählt, um seine Empfindungen in Worte zu fassen, und das er bei genauerer Hinsicht relativiert: Etwas ist »erst mal« zu Ende und »man ist drinne«. Das Empfinden, vom eigenen Leben abgeschnitten zu sein, und das räumliche Bild, in einem Innenraum zu sein, verknüpfen sich in seiner Rede zu einer Verallgemeinerung – 3

Mechthild Bereswill, Die Schmerzen des Freiheitsentzugs – Gefängniserfahrungen und Überlebensstrategien männlicher Jugendlicher und Heranwachsender, in: Forschungsthema Strafvollzug (Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung 21), hg. von Mechthild Bereswill / Werner Greve, Baden Baden 2001, 253–285.

4

Mechthild Bereswill, »Von der Welt abgeschlossen«. Die einschneidende Erfahrung einer Inhaftierung im Jugendstrafvollzug, in: Jugendstrafvollzug. Grundlagen, Konzepte, Handlungsfelder 2 (DVJJ Schriftenreihe 40), hg. von Jochen Goerdeler / Philipp Walkenhorst, Mönchengladbach 2007, 163–183.

5

Gresham M. Sykes, The Society of Captives. A Study of a Maximum Security Prison,

6

Richard Johnson / Hans Toch, The Pains of Imprisonment, Beverly Hills 1982, 13.

Princeton / New Jersey 1958.



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»man« ist nicht mehr draußen, sondern drinnen, zumindest vorerst. Hier schwingt der für eine geschlossene Unterbringung typische Kontrast zwischen dem being inside auf der einen und dem getting outside auf der anderen Seite mit, der laut Erving Goffman konstitutiv für totale Institutionen ist.7 Die sprachliche Generalisierung der individuellen Erfahrung, die der Inhaftierte formuliert (»man«), unterstreicht das Typische und überindividuell Gültige an seiner Schilderung, das wir ähnlich auch in anderen Interviews erkennen können. So beschreibt ein Inhaftierter beispielsweise seinen Weg in den geschlossenen Raum und greift dabei ebenfalls auf das Bild zurück, dass sich eine Tür, in diesem Fall ein Tor, »hinter dir« schließt. Er fühlt sich gefangen und fürchtet, diesen Ort nie wieder verlassen zu können: »Tor geht auf und hinter dir zu und dann nochʼn Tor, dann überall Natodraht und Kameras und da habe ich gedacht, das ist hier die letzte Station«. Andere junge Männer vergleichen sich mit Tieren: »wie ein Tier im Zoo kann man so sagen«; »wie ein Hund im Käfig«. In beiden Bildern steckt der Käfig, wobei der Zoo die Assoziation weckt, gegen den eigenen Willen begafft zu werden, während der Hundezwinger nahelegt, dass ein Tier gefährlich abgerichtet wurde und sich nur noch unter Kontrolle außerhalb seines Käfigs bewegen darf. Die fehlende Bewegungsfreiheit, die Tieren im Käfig zugemutet wird, kennzeichnet auch die räumliche Situation im Gefängnis. So resümiert ein Inhaftierter, »wo will man hier hin, hier sind sechsundneunzig Meter, kann man hoch und runter rennen und da irgendwann ist da ʼne Wand und dann ist Ende«. Auch in dieser Sequenz markiert die räumliche Struktur eine absolute Grenze der Bewegungsfreiheit. Diese räumliche Struktur bestimmt die sozialen Beziehungen und Alltagsinteraktionen von Inhaftierten mit anderen Inhaftierten und mit dem Personal. So stellt der gleiche Inhaftierte an anderer Stelle fest, »man ist nicht draußen, wo man vor anderen Menschen weglaufen kann«, und bringt damit die Hermetik der sozialen Interaktionen wie auch die Unausweichlichkeit von Konflikten auf den Punkt. Die Interaktionen zwischen Inhaftierten sind häufig durch angedrohte oder ausgeübte Gewalt strukturiert, auch darauf spielt die Aussage an – in einem Kampf zu unterliegen und sich nicht zurückziehen zu können, ist demnach eine Folge der durch den geschlossenen Raum veränderten Spielregeln bei Auseinandersetzungen. Alle Untersuchungsteilnehmer erleben das Gefängnis als eine vom Rest der Gesellschaft abgeschiedene institutionelle Eigenwelt. Sie fühlen sich in einen Raum gesteckt, der ihr Selbstempfinden erschüttert und ihre Handlungsoptionen radikal eingrenzt. Der hermetische Raum Gefängnis determiniert aus dieser Perspektive die Selbstkonstruktionen und die sozialen Beziehungen seiner Mitglieder. Solche machtvollen Raumkonstruktionen in den Erzählungen von Inhaftierten korrespondieren auf bemerkenswerte Weise mit wissenschaftlichen Metaphern, wenn Goffman beispielsweise in Asyle vom »Treibhaus der Charakterveränderung« spricht 7

Erving Goffman, Asyle, Frankfurt am Main 1961/1973, 25.

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und davon ausgeht, dass die totale Institution sich die Spannung zwischen der »Welt der Institution« und der »heimischen Welt« als »strategischen Hebel zur Menschenführung« zunutze macht.8 Sein Zeitgenosse Gresham Sykes9 sieht im Freiheitsentzug eine autoritäre »Attacke auf die Psyche« von Menschen. Wenngleich sie recht unterschiedliche theoretische Blickwinkel wählen, begreifen beide das Gefängnis als einen räumlichen Zwangszusammenhang, unter dessen Einfluss Menschen die Kontrolle über ihr Leben verlieren und mit entsprechenden Handlungsmustern der Selbstverteidigung und Anpassung darauf antworten. Michel Foucault10 analysiert das Gefängnis als einen umfassenden Disziplinarapparat, dessen räumliche Struktur maßgeblich dazu beiträgt, dass die Überwachung und Selbstüberwachung von Menschen ineinandergreifen: »Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken, in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem Individuen gefangen sind.«11 Damit hebt er die Bedeutung von gezielten räumlichen Arrangements für die machtvolle Situation der Gefangenschaft hervor und verweist implizit darauf, dass hermetische Räume keine Container sind, in die Menschen gesteckt werden. Die Hermetik des Gefängnisses gewinnt ihre spezifische Bedeutung vielmehr im Wechselspiel von Körpern und den Mauern, dies wird auch in den Deutungsmustern der zuvor zitierten Interviewerzählungen nachvollziehbar. Dabei werden die eigenen Handlungsmöglichkeiten einerseits als räumlich determiniert wahrgenommen – die Mauer, die Tore, die fremdbestimmte Raum-Zeit-Struktur des Vollzugsalltags. Andererseits wird deutlich, dass die empfundene Hermetik aktiv mit hergestellt wird – in stark ritualisierten und wechselseitig kontrollierten Interaktionsszenarien zwischen Inhaftierten und Inhaftierten sowie zwischen Inhaftierten und Bediensteten. Die Analyse der bereits zitierten Interviews zeigt, welche Bedeutung Geschlecht, genauer Versionen einer verkörperten wehrhaften Männlichkeit, verbunden mit der »Demonstration kein Opfer zu sein«,12 für die hermetischen Raumkonstruktionen im Gefängnis hat. Anders gesagt, ist das Gefängnis ein homosozial konstruierter, geschlossener Raum, dessen Gestalt auch durch das Ineinandergreifen der binär und heteronormativ strukturierten symbolischen Ordnung der Geschlechter und gesellschaftlichen Konstruktionen von Abweichung geprägt ist. Dies gilt für 8

Goffman, Asyle (wie Anm. 7) 25.

9

Sykes, Pains (wie Anm. 6) 64.

10 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994. 11 Foucault, Überwachen und Strafen (wie Anmerkung 10) 259. 12 Anke Neuber, Die Demonstration kein Opfer zu sein. Biographische Fallstudien zu Gewalt und Männlichkeitskonflikten (Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung 35), Baden Baden 2009.



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den Strafvollzug an Jungen und Männern ebenso wie für den an Mädchen und Frauen. Diese Dynamik wird im Folgenden für den Fall Männlichkeit weiter ausgelotet. Untersucht wird zunächst die Wechselwirkung zwischen hermetischen Räumen und rigiden Konstruktionen von Geschlechterdifferenz. Anschließend wird eine Fallvignette aus der qualitativen Untersuchung vorgestellt, die verdeutlicht, dass diese Hermetik durchaus brüchig ist. Ausblickend wird vor diesem Hintergrund auf eine raumtheoretische Debatte Bezug genommen, in der das Verhältnis von Raumstrukturen und Raumkonstruktionen problematisiert wird.

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UND VERLETZLICHE K ÖRPER – DIE HERMETISCHE Z USPITZUNG VON G EWALT IM G EFÄNGNIS Wie bereits deutlich wurde, ist das Gefängnis aus der Perspektive von Gefangenen ein geschlossener Raum ohne Entkommen. Darauf verweisen nicht nur die Befunde Sykesʼ klassischer Studie in einem US-amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis in den 1950er Jahren. Wenn er schreibt, »the prison inmate can never feel safe. And at a deeper level lies the anxiety about his reactions to this unstable world, for then his manhood will be evalutated in the public view«,13 betont Sykes, was auch gegenwärtig gilt: Männlichkeit wird in diesem Rahmen herausgefordert, sie ist bedroht und muss ständig neu bestätigt werden.14 Gewaltkonflikte, die die Interaktionen zwischen Männern durchaus auch außerhalb dieser Institution strukturieren, erfahren im geschlossenen Raum eine existenzielle Zuspitzung. Hier kommt die Bedeutung von Geschlecht ins Spiel. Die Verflechtung zwischen den alltäglichen Interaktionen im Gefängnis und ganz bestimmten Bedeutungszuschreibungen von Geschlecht zeigt sich in vielschichtigen Aushandlungsprozessen zwischen allen Mitgliedern der Institution. Dabei handelt es sich um weitgehend homosozial strukturierte Gruppenprozesse. Das heißt, die Geschlechterbeziehungen zwischen Gefangenen sind Beziehungen zwischen Männern oder zwischen Frauen. Für die Gruppe des Personals ist das mittlerweile anders, da im Vollzug für Männer auch Frauen tätig sind. Aber selbst, wenn Frauen vollkommen aus dem Männergefängnis ausgeschlossen wären, Weiblichkeitsvorstellungen sind es nicht. Im Rahmen der geschlossenen Institution amalgamieren gewaltförmige Degradierungen und Weib13 Sykes, Pains (wie Anm. 6) 64. 14 Mechthild Bereswill, The Society of Captives – Formierungen von Männlichkeit im Gefängnis. Aktuelle Bezüge zur Gefängnisforschung von Gresham M. Sykes, in: Kriminologisches Journal 36/2 (2004) 92–108. Joe Sim, Tougher than the Rest? Men in Prison, in: Men, Masculinities, and Crime – Just Boys Doing Business?, hg. von Tim Newburn / Elizabeth A. Stanko, London 1994, 100–117.

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lichkeitszuschreibungen. Die Hierarchien zwischen Männern sind mit Zuschreibungen von Geschlechterdifferenz verwoben. Im Anschluss an Pierre Bourdieu15 und Raewyn Connell16 kann das Gefängnis als sozialer Kontext untersucht werden, an dem sich die Ausbuchstabierung von hegemonialer Männlichkeit und männlicher Herrschaft wie unter einem Brennglas zeigt. In unseren Interviews mit jungen Inhaftierten finden sich durchweg Aussagen, in denen die gegenseitige Platzanweisung zwischen Inhaftierten zur Sprache kommt. Dabei werden regelmäßig dichotome, sexualisierte Zuschreibungen von Stärke und Schwäche vorgenommen, und zwar fast immer mit Blick auf die Schwäche der anderen. Die Opfer von Unterdrückung werden als »Fotzen« oder »Muschis« bezeichnet. Ihre Körper werden als fragile Repräsentationen von Unfähigkeit beschrieben: ein »Schmachthaken« oder ein »Dulli« kann sich nicht durchsetzen. Durchsetzungsfähige junge Männer sind »Rüden« oder »Hirsche«. Sie verfügen über »50er Oberarmkeulen«; ihre Körper werden als wehrhaft und kampferprobt idealisiert. Geschilderte Degradierungen zwischen Inhaftierten beziehen sich auf die symbolische Ordnung geschlechtlicher Arbeitsteilung: So steht der gegenseitige Zwang zur Verrichtung verachteter Hausarbeiten wie Abwaschen oder Toilettenputzen hoch im Kurs, um die Hierarchie zu demonstrieren. Ein weiteres Mittel der zwanghaften Distinktion zwischen stark und schwach besteht in direkten körperlichen Übergriffen und Erniedrigungen. In solchen Interaktionen schlägt sich die Wechselbeziehung von gesellschaftlich-institutionellen Zwängen und dem konkreten Handeln von Individuen nieder. Die jungen Männer formen ihre Vorstellungen von sich selbst und anderen in einem Prozess der wechselseitigen Prägungen. Dessen Verlauf ist äußerst konfliktgeladen und weist schnell wechselnde Identifizierungen und Positionen auf. Es ist eine unberechenbare Interaktionsdynamik mit permanenten Aushandlungen in Gruppen, begleitet von der dauerhaften Unsicherheit des Einzelnen, wie sie auch von Sykes beschrieben wurde. Diese grundlegende und auf Dauer gestellte Unsicherheit über die eigene Position spiegelt sich in der fortlaufenden wechselseitigen Beobachtung, wie sie schon bei der Ankunft eines neuen – oftmals als »Frischfleisch« bezeichneten – Inhaftierten etabliert wird. Schon der Begriff Frischfleisch verweist auf die spezifische Relation zwischen Körpern und Raum, indem der Eintritt Neuer als Fleischbeschau und damit als Begutachtung inszeniert wird. Damit verbunden sind interaktive Szenarien, die die zukünftigen Handlungsspielräume des Neuankömm-

15 Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, in: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der Praxis, hg. von Beate Krais / Irene Dölling, Frankfurt am Main 1997, 153–217. 16 Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999.



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lings ausloten sollen. Die folgende Typisierung solcher »Anfangstests« illustriert dies: »Als wär das schon mit diesen, also mit so’n kleinen Anfangstests, sag ich jetzt mal, starten würde. Nach dem Motto ›wie ist er? Ist er dumm, ist er schlau, ist er klug, ist er stark, ist er schwach, ist er gewaltbereit, kann er was.‹ Das wird da alles zu Anfang, wenn man neu angeflogen kommt, wird da alles ausgecheckt.«

Erinnern wir uns an die weiter oben zitierten Überlegungen Foucaults, das Prinzip der Macht liege weniger in der einzelnen Person als vielmehr in der Anordnung von Körpern, räumlichen Strukturen und Blicken, gewährt die Interviewpassage einen exemplarischen Einblick in eine solche Anordnung, die durch den Neuen in Bewegung gesetzt wird, zugleich aber stabil gehalten werden soll. »Alles« wird ausgecheckt, mit Hilfe von Herausforderung und Beobachtung. Die Robustheit des Körpers wird ebenso geprüft wie die intellektuelle Flexibilität. Zugleich verweist die Schilderung auf die hohe Bedeutung von erkennbarer Gewaltbereitschaft – nicht zu verwechseln mit Gewaltausübung – für die Anerkennungskämpfe im Gefängnis. Besonders bemerkenswert ist die kontrastierende Steigerung von Eigenschaftszuschreibungen – stark und klug: Es handelt sich um das idealtypische Bild einer Person, die gewaltbereit und zugleich in der Lage ist, ihren Körper zu kontrollieren: als rationale Ressource der Selbstbehauptung und der Anerkennung. Hier zeigt sich ein Ideal von überzogener Autonomie und Selbstkontrolle unter den Bedingungen des extremen Kontrollverlusts in der geschlossenen Institution. Rigide Konstruktionen von Geschlecht und rigide Konstruktionen von Raum verschränken sich ineinander und verstärken sich wechselseitig. Was dabei verdeckt gehalten wird, sind die eigene Verletzungsoffenheit und der einleitend betrachtete Schmerz, die mit jedem Freiheitsentzug einhergehen. Der mit dieser Anforderung verbundene Konflikt kommt in den Interviews im Gefängnis in einem markanten kollektiven Deutungsmuster zum Ausdruck. Im Interview um einen Rückblick auf ihre Ankunft gebeten, reagieren junge Männer mehrheitlich mit einem bemerkenswerten Abwehrmanöver, das zusammengefasst wie folgt paraphrasiert werden kann: Ich habe vor meiner Inhaftierung Gerüchte gehört, wie gefährlich es im Gefängnis ist, und hatte große Angst. Meine Befürchtungen haben sich schnell relativiert und tatsächlich ist die Situation im Gefängnis nicht gefährlich für mich. Die folgende Passage veranschaulicht, wie Angst und Bluff in der Ankunftssituation korrespondieren: »Ich bin hier reingekommen und hatte auch Schiss gehabt. Hab das nicht so gezeigt. Ich bin, ich habʼ gedacht, ›ach was sollʼs, hier drinnen ist es genauso wie draußen.‹ Bin dann genauso cool und lässig wie ich draußen halt rumgegangen bin auch hier in der Freistunde rumgegan-

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gen. Da hat man mich halt so angeguckt, was ich so für einer bin und so. Das ist mir am Arsch vorbeigegangen.«

In diesem Rückblick auf die eigene Ankunft wird räumlich zwischen »drinnen« und »draußen« unterschieden, um im Vergleich zwischen diesen verschiedenen Räumen festzustellen, dass die eigenen Handlungsmuster von »draußen« ihre Gültigkeit und Wirkung auch »drinnen« nicht verlieren. Die Spannung zwischen drinnen und draußen wird aufgehoben, um den eigenen Spannungszustand zu relativieren. Indem die eigene Angst – wie auch draußen – hinter Coolness verborgen bleibt, gleiten die kontrollierenden Blicke der anderen an der eigenen Person ab – die Vermessung des eigenen Körpers im fremden Raum wird als unerheblich abgetan und die tatsächliche Verletzungsoffenheit wird mit Hilfe einer kräftigen, körperbezogenen Formulierung de-thematisiert (»am Arsch vorbei«). Aus einer raumbezogenen Perspektive rückt der Ort des Geschehens, die »Freistunde« in den Fokus der Untersuchung. An diesem Ort überlagern sich verschiedene Räume: die offizielle Funktion dieses Ortes ist, sich eine Stunde lang gemeinsam mit anderen im Freien zu bewegen, z.B. Fußball zu spielen oder Inhaftierten zu begegnen, die in anderen Abteilungen untergebracht sind. Aus der Perspektive von Inhaftierten bietet dies Möglichkeiten, weitere Räume zu etablieren, um die hierarchischen Beziehungen zwischen Inhaftierten, die nicht zuletzt auch die ökonomische Dimension der illegalen Tauschbeziehungen beinhalten, auszugestalten. Der hermetische Raum Gefängnis und die damit verbundene rigide Struktur des Alltags werden hierbei aktiv angeeignet und in eine eigene Anordnung von Körpern, Räumen und Gütern17 überführt. Der interaktive Bluff in der Freistunde wird im ausgewählten Interviewdialog reproduziert, indem Angst und Schwäche durch Coolness und Stärke kaschiert werden. In der Gruppe der jungen Männer ist aber gleichzeitig klar, dass es sich um eine kollektive Täuschung handelt. Wer kann die Demonstration von Unverletzbarkeit, verbunden mit der gleichzeitigen Bereitschaft, den eigenen Körper zu riskieren, glaubwürdig und abschreckend markieren und durchhalten? Die Frage deutet auf die drohende Opferposition in der Männergruppe und die damit verbundenen Opfer-Täter-Ambivalenzen, die mit Hilfe des Bluffs oder anderer Strategien in Richtung Unverletzlichkeit aufgelöst werden sollen. Diese Konstellation dominiert die manifesten Deutungsmuster der Raumerfahrungen im Gefängnis. Bekräftigt werden Männlichkeitsentwürfe, die mit Verletzungsmacht assoziiert sind, und Verletzungsoffenheit wird mit Weiblichkeit assoziiert.18 Geschlechtertheoretisch sind 17 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. 18 Mechthild Bereswill, Männlichkeit und Gewalt. Empirische Einsichten und theoretische Reflexionen über Gewalt zwischen Männern in Gefängnissen, in: Feministische Studien 2 (2006) 242–255.



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solche binären Codierungen altbekannt. Umso wichtiger ist es, diese in der Forschung nicht zu affirmieren, sondern weiter zu dekonstruieren. Anders gesagt, fordert die augenscheinlich enge Korrespondenz von hermetischem Raum mit rigiden Verkörperungen von Männlichkeit und Geschlechterdifferenz dazu heraus, nach den Brüchen, Ambivalenzen und möglichen Irritationen dieser hegemonialen Konstellation zu fragen. Dieser Schritt erfolgt im nächsten Abschnitt, indem zunächst ein Ausschnitt aus einer Einzelfallanalyse herangezogen wird. Im Vordergrund steht dabei weiterhin die Frage nach dem Verhältnis von hermetischen Räumen und rigiden Männlichkeitskonstruktionen, und die biographische Fragestellung, die in der Studie erkenntnisleitend für die Einzelfallanalysen war, wird hier nicht weiter verfolgt.19 Deshalb bleibt es – wie in den bisherigen Ausführungen auch – dabei, dass allgemein von dem Inhaftierten, dem Sprecher oder dem Erzähler die Rede sein wird, auch wenn hier die Logik des Einzelfalls stärker in den Vordergrund tritt als bisher.

L ATENTE B EZIEHUNGSRÄUME UND O PFER -T ÄTER -A MBIVALENZEN Auch für den einundzwanzigjährigen Inhaftierten, der im Folgenden zu Wort kommt, ist Gewalt im Gefängnis durchaus eine legitime Handlungsressource, die mit durchsetzungsfähiger Männlichkeit im geschlossenen Raum einhergeht. Diese Ressource muss er sich aber erst aneignen, um sich angemessen an den Interaktionsritualen der anderen Inhaftierten beteiligen zu können. Er sagt, »man hat selber dazugelernt«, und schildert einen Prozess, in dessen Verlauf er lernt, genauso zu bluffen wie die anderen und nun nicht mehr abgezogen zu werden, sondern selbst abzuziehen: »Da hast du nur den Großen markiert so nach dem Motto, aber in Wirklichkeit hattest Du selber Angst, weil Du wusstest ja nicht, was er auf einmal macht. Und hätte ja auch in die Hose gehen können, aber meistens ist es gut gegangen und du hattest neue Klamotten.«

Hier wird eine für das Gefängnis recht alltägliche Situation geschildert: die widerrechtliche Aneignung von Dingen, in diesem Fall Kleidung, mit Hilfe von Drohun19 Mechthild Bereswill, Gewalthandeln, Männlichkeitsentwürfe und männliche Subjektivität am Beispiel inhaftierter junger Männer, in: Gewalt und Geschlecht. Konstruktionen, Positionen, Praxen, hg. von Frauke Koher / Katharina Pühl, Opladen 2003, 189–212; Mechthild Bereswill, Zwischen autoritärer Zumutung und Entwicklungsversprechen – Der Freiheitsentzug als tief greifende biographische Konflikterfahrung, in: Handbuch Jugendstrafvollzug, hg. von Marcel Schweder, Weinheim / Basel 2015, 339–353.

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gen, die rechtlich als Nötigung sanktioniert werden muss, wenn sie vom Personal registriert wird. Für die Inhaftierten, so auch für den hier zitierten Sprecher, ist die juristische Dimension des Geschehens aber weniger relevant als die Frage, ob sie abziehen oder abgezogen werden. Auch sein Risikoverhalten richtet sich nicht auf die Bediensteten. Seine Unsicherheit bezieht sich auf die Frage, ob er die Täterposition wird halten können oder stattdessen selbst zum Opfer werden wird. Diese schwankende, von Risikofreudigkeit begleitete Position verdeutlicht, dass der strategische Umgang mit Gewalt im Alltag sich weniger zwischen eindeutigen Tätern und Opfern als vielmehr in einem dynamischen und diffusen Mittelfeld abspielt, in dem Überlegenheit und Unterlegenheit schnell wechseln können. Aber auch, wenn der Sprecher um dieses Schwanken und um seine Verletzungsoffenheit weiß – er fühlt sich nicht wirklich gefährdet, denn er ist ein Bündnis mit Stärkeren eingegangen, die ihn unterweisen und beschützen. Er spricht von diesen Bezugspersonen, indem er das Bild einer Familie einführt. Demnach hat er einen »Vater« und mehrere »Brüder« gefunden, mit denen er sich emotional verbunden fühlt. Die Mitglieder seine »Gefängnis-Familie« – sie leben zusammen in einer sozialtherapeutisch ausgerichteten Wohngruppe – sind bis auf ihn selbst alle wegen Gewaltdelikten inhaftiert. Seinen »Vater« beschreibt der Erzähler als intelligent und unfehlbar: »Er ist ziemlich schlau, ... was er sagt, ist richtig, ich habʼs noch nicht einmal falsch erlebt und er ist wie so, er hält die schützende Hand über mich, würdʼ ich mal behaupten. Also wenn ich Probleme habe oder so, dann kommt er an und fragt gleich, weil er es merkt bei mir, ja und er hält die Oberhand über mich und die andern beiden, die passen auf, dass mir nix passiert. Weil ich nicht so durchsetzungsstark bin, so von mir aus und die mir das beibringen wollen.«

Das Familienbündnis hat also die Funktion, den Inhaftierten in seiner Position zu stärken. Dabei sieht er sich als einen Lehrling, der sich den anderen, erfahreneren Mitinhaftierten unterordnet. Seine Unterordnung ist aber an keine eindeutige Opferposition gebunden. Vielmehr wird diese begleitet von der Überzeugung, auch wichtig für die anderen zu sein, und zwar auf der Beziehungsebene. »Und wenn se, wie soll ich sagen, ah ja, wenn sie von Arbeit kommen oder so und irgendwas haben ..., dann sehe ich denen das schon an. ... Wenn sie schlechte Laune haben, wenn sie Ärger mit ihrem Meister oder so was haben, weil denn brauche ich nämlich gar nicht erst mit den ... darüber zu reden, weil machen sie nicht. Aber abends, wenn wir alleine sind so nochʼn Tee trinken am Küchentisch und so, denn kommt dies langsam raus. Weißt Du, dann reden wir miteinander und dann geht’s denen auch besser, mir geht’s besser und jeder hat wieder seine Ruhe.«



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Im Mittelpunkt der Schilderung steht die Beziehungsarbeit zwischen Männern. Diese entfaltet sich in einem eigenen Raum, den der Interviewte »am Küchentisch« verortet und damit einen weiblich konnotierten Ort des Persönlichen, Privaten konstruiert. Er selbst leistet dabei die entscheidende Arbeit, den richtigen Moment für diese persönliche Begegnung abzuwarten und zu erkennen. Aus dieser Haltung ergibt sich die vertrauensvolle Haltung, die als wechselseitig beschrieben wird. Wie intensiv der Inhaftierte diese Erfahrung während seiner Haft durchlebt, wird auch daran deutlich, dass er für einen winzigen Moment den Abstand zu seinem Gegenüber verliert und die Interviewerin duzt (und so für einen kurzen Moment auch in die Familie aufnimmt). Der Beziehungsraum, der in dieser Schilderung konstruiert wird, korrespondiert möglicherweise mit dem weiter oben schon erwähnten sozialtherapeutischen Setting des Vollzugs. So stellt sich die Frage, ob die jungen Männer Elemente, die in der Sozialtherapie der Anstalt an sie herangetragen werden – Empathie und Sprechgebote –, transformieren und im eigenen Interesse weiterentwickeln. Das bleibt hypothetisch, von Bedeutung ist an dieser Stelle vielmehr, dass hier ein ambivalenter Beziehungsraum sichtbar wird, der die im vorhergehenden Abschnitt rekonstruierten rigiden Raum- und Geschlechterkonstruktionen einerseits unterläuft und andererseits auch ermöglicht. Ambivalent ist dies insofern, da dieser Raum ohne Zweifel auch dazu dient, sich als Teil einer etablierten Gruppe in der Subkultur besser behaupten zu können. Wie bereits deutlich wurde, bewundert der Inhaftierte, der über diese Gruppenerfahrung spricht, einen der anderen jungen Männer ganz besonders und bezeichnet ihn als überlegenen »Vater«. Sich selbst beschreibt er im Gegenzug als lernend: »Weil ich viel von ihm lerne so, sein Wesen, seine Aussprache, wie er was präsentiert«. Die weitere Erzählung über diese Beziehung verweist auf ein Moment der persönlichen Nähe, welches aus den rigiden Konstruktionen von Unverletztlichkeit herausfällt. Es ist ein Moment der einfühlsamen Hinwendung zueinander, der Aufmerksamkeit für die Stimmungen des anderen und der Fürsorge. Seine mit diesen Erfahrungsqualitäten verbundene Zuneigung für einen anderen Mann wird deutlich, wenn der Erzähler den anderen jungen Mann als »sehr sensibel« beschreibt und dies mit einer konkreten Geschichte veranschaulicht. Sie handelt von einem gemeinsamen Gefühlsausbruch der beiden, und er erzählt darüber, indem er einleitend seine gemeinsame Wellenlänge mit dem anderen betont: »So, da sind wir auf einer Welle, so kennen Sie den Film ›Forrest Gump’? (I: Hmhm, ja.) Wo er da vor dem Grab steht und vor Jenny seinem Grab? (I: Ja, ja.) Und da ihr die dingsten, die Rede da hält und mit den Kleinen da? (I: Ja.) Ja, ich bin angefangen zu heulen und er hat angefangen zu heulen, (I: Ja) weil wir das voll nicht weißt du und eh da haben wir denn angefangen zu heulen und lagen uns so fast in die Arme und (macht ein hochziehendes Geräusch) haben geheult und fanden das wirklich wunderschön und da kommt irgend jemand dazwi-

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schen und fängt an sich totzulachen. (I: Hmhm) Und da waren wir, gucken wir auf und gucken den voll entsetzt an, so nach dem Motto: ›Wie kannst Du das jetzt machen und was hat dich dazu hingerissen darüber zu lachen, ey? (I: Ja) Der wurde von hinten bis vorne verarscht und liebt trotzdem dieses Mädchen.‹ Und nun ja, das war so, er ist, ja er ist gut. Er ist in allen Dingen, er weiß die Situation zu beherrschen oder was weiß ich, wie man das sagt. (I: Ja) Er weiß da was mit anzufangen auf den Situationen.«

Es handelt sich um eine verwickelte Szene, die hier nicht ausführlich interpretiert werden soll. Bemerkenswert ist nicht nur das, sondern wie der Erzähler seine emotionale Verbundenheit mit einem anderen Mann artikuliert: Er schildert einen gemeinsamen Moment der Trauer und die Gemeinsamkeit zwischen beiden resultiert für ihn aus der Fähigkeit, sich in eine Filmfigur einzufühlen und mit dieser zu leiden. Die Szene erfährt ihre besondere Spannung durch die Assoziation einer tragischen heterosexuellen Liebesgeschichte im Film mit einem kurzen Moment der gefühlvollen Verschmelzung beider Männer. Dabei liegen sie sich (fast) in den Armen – wie ein Liebespaar – und trauern gleichzeitig um die verlorene Liebe von Forrest Gump, einem Mann, der den Standards des real man im Gefängnis nun gar nicht genügen würde, am Ende aber immer durchkommt und eine Erfolgsgeschichte besonderer Art zu erzählen hat (und nicht zuletzt: einen höchst begabten Sohn zeugt). Ihre Gefühle füreinander nehmen dabei einen sicheren Umweg: über die Liebesgeschichte eines Mannes und einer Frau. Nur deshalb kommen sich die beiden näher und liegen sich auch nur »fast« schniefend in den Armen. Die damit verbundene Grenzüberschreitung wird durch den dritten Inhaftierten verkörpert, der sich über die emotionale Rührung der beiden lustig macht, was bei diesen aber Empörung und nicht Scham auslöst. Hier zeigt sich auch der Punkt, an dem die Erzählung kippt. Die innige Szene verdankt sich letztlich der Durchsetzungsfähigkeit und Macht des Freundes: »Er« kann es sich leisten, öffentlich zu weinen, weil er die »Situation zu beherrschen weiß« – schlussendlich rücken Sensibilität und Drohgebärde zueinander, die Zuneigung zwischen Männern unterliegt auch hier ihrem gemeinsamen Ringen um die gegenseitige Verletzungsmacht. Die bewunderte Sensibilität des anderen und seine Durchsetzungsfähigkeit bilden eine Bedeutungseinheit und die Bewunderung gilt einem unangreifbaren Männlichkeitsideal. Im Windschatten dieses Ideals kommt aber doch zum Ausdruck, was eigentlich aus dem Diskurs und dem eigenen Selbstempfinden verbannt bleiben sollte – die Vulnerabilität von Männlichkeit und die Zuneigung zwischen Männern, unter Bedingungen ihrer gewaltförmigen Zurichtung als unverletzbar und heterosexuell. Auch wenn die gewaltförmige Zurichtung der männlichen Körper in den meisten Interviews nur zwischen den Zeilen zur Sprache kommt, bleibt die angstvolle Opferposition aber nicht vollends aus den Erzählungen der jungen Männer ausgeblendet. Bemerkenswert ist beispielsweise, dass eigene Opfererfahrungen erst in den Längsschnittinterviews nach einer Entlassung zur Sprache gebracht werden.



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Oder die drohende, dauerhafte Unterwerfung wird in drastischen, überladen wirkenden Bildern ohne unmittelbaren Bezug auf die eigenen Erfahrungen thematisiert. So bezeichnet ein Inhaftierter junge Männer, die für andere als zu schwach gelten, als »weiches Fleisch«, ihre Verfolger als »Wölfe«. »Wenn man weiches Fleisch ist, zum Beispiel schon mal hat sich unterdrücken lassen oder wie auch immer, dann kommen die anderen Wölfe, die sehen das oder hören oder riechen das und die machen dann mit.«

Wer einmal als »weich« und damit unmännlich markiert ist, wird zum Opfer (sexueller) Gewalt durch Rudel wilder Tiere, die in der Lage sind, es aufzuspüren. Mit Blick auf die Konstruktion von Raum handelt es sich um eine Hetzjagd, bei der viele auf der Spur des Opfers bleiben, dessen Körper entsprechend markiert ist und eine Fährte setzt. Die Sequenz ist durch eine überzogene, klischeehafte Sprache gekennzeichnet, deren Bilder mit einer animalischen Version von Männlichkeit einhergehen. Die Bilder könnten aus Romanen über das Gefängnis geliehen sein. Diese überladene Beschreibung einer naturwüchsig konstruierten Opfer-Täter-Relation im Hermetischen steht neben etwas Unaussprechlichem: »wenn man sich schon mal hat unterdrücken lassen oder wie auch immer«. Was hinter dieser vagen Andeutung steckt, lässt sich nur erahnen: Es ist die Erfahrung des Einzelnen, der einer Gruppe ausgeliefert ist, die ihm das Stigma des verletzten Opfers aufdrückt, weil er seinen weichen Körper nicht zu schützen vermag. Vor diesem Hintergrund gewinnt die zuvor untersuchte Erzählung über Schutz und wechselseitige Sorge ihre ambivalente Bedeutung.

D AS G EFÄNGNIS –

EIN GEWALTFÖRMIGER

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Das augenfällige Spiel mit übertriebenen Männlichkeits- und Weiblichkeitsklischees, das die Erzählungen der jungen Männer im Gefängnis kennzeichnet, kann als Ausdruck eines kollektiven Abwehrmanövers entschlüsselt werden. Es handelt sich um die realitätstüchtige Abwehr der dauerhaften Angst, zum Opfer von Unterdrückung und Gewalt zu werden. Anke Neuber20 hat diese Dynamik als »Demonstration kein Opfer zu sein« bezeichnet. Die mit dieser Dynamik verbundene dauerhafte Spannung wird durch zwei Elemente in Gang gehalten: durch die Erfahrung realer Vorfälle von Gewalt und durch die permanente Streuung von Gerüchten über solche Vorfälle, auch über die Gefängnismauern hinweg. Diese kontinuierliche Thematisierung von Gewalt konfrontiert alltäglich mit der eigenen Zerbrechlichkeit im geschlossenen Raum Gefängnis. Im Gegenzug muss diese Empfindlichkeit ver20 Neuber, Demonstration (wie Anm. 12).

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tuscht werden, indem das Gefühl eigener Schwäche verleugnet und auf andere verschoben wird. Der Körper ist dabei nicht nur eine Handlungsressource oder ein Sinnträger sozialen Handelns. Er durchkreuzt den rationalen Umgang mit Gewalt als eine Ressource durch Empfindungen von Schmerz, Angst und Scham, die abgewehrt werden müssen, deshalb aber nicht weniger wirkmächtig sind als der bewusste, gezielte Umgang mit dem Bluff oder der eigenen Coolness. Der Körper verweist auf die zerstörerischen Seiten von Gewalt und auf die Zerbrechlichkeit von Männlichkeitsentwürfen. Damit wird er zum Kreuzungspunkt zwanghafter Männlichkeitsideale und unbewusst gehaltener Männlichkeitskonflikte (kulturell wie individuell). Dabei sehen wir eine enge Wechselwirkung zwischen einseitigen Verkörperungen und der Verräumlichung von sozialer Kontrolle. Diese Wechselbeziehung wurde im vorliegenden Text für eine ganz bestimmte Gruppe junger Männer rekonstruiert. Es sind sozial randständige Heranwachsende, deren Männlichkeitsideale, Selbstidentifikationen und Interaktionen sich im hermetischen Raum des Gefängnisses weiter zuspitzen. Der Körper wird in diesem Kontext zum Bezugspunkt der Aushandlung von Rangordnungen. Er stellt einen Kampfschauplatz dar, auf dem die Spannung zwischen Selbstbehauptung und Selbstgefährdung fortlaufend neu ausbalanciert wird. Die grundsätzliche Verletzungsoffenheit des individuellen Körpers wird hierbei mit der einseitigen Idealisierung von Verletzungsmacht verknüpft. Gewalt sichert die soziale Ordnung zwischen Männern, angedrohte und ausgeübte Gewalt garantiert Männlichkeit. Junge Männer riskieren ihre Körper als Einsatz in einem Wettbewerb, dessen Resultat die kollektive Herstellung von normaler, vor allem sicherer Männlichkeit darstellt. Die Erzählungen junger Inhaftierter bekräftigen diese handlungstheoretische Lesart der Beziehung zwischen Gewalt und Geschlecht. Warum aber schließen junge Männer ihre Verletzungsoffenheit buchstäblich mit Gewalt aus ihren Selbstdeutungen aus? Welche Bedeutung erfahren Konstruktionen von Geschlechterdifferenz in diesem Zusammenhang? Wie lassen sich die auch sichtbar werdenden Opfer-Täter-Ambivalenzen junger Männer erschließen? Wenn wir davon ausgehen, dass ihre Körper nicht nur Kampfschauplätze, sondern auch Kreuzungspunkte zwanghafter Männlichkeitsideale und unbewusst gehaltener Männlichkeitskonflikte sind, ist das der Ansatzpunkt für die Vervollständigung eines zu einseitigen Bildes. Diese Überlegungen deuten auf die verworfenen und verpönten Aspekte gerade solcher Männlichkeitsentwürfe, deren Gehalt die enge Beziehung zwischen Männlichkeit und Gewalt immer wieder zu verfestigen scheint. Wir können die überzogenen, hypermaskulinen Selbstinszenierungen junger Männer bruchlos als funktionale Strukturübung zur Aneignung von Männlichkeit lesen, dazu passt auch ein hermetischer Raum wie das Gefängnis. Wir können sie aber auch als Hinweis auf die Konflikte im Umgang mit der eigenen Angst, Männlichkeitsideale zu verfehlen und in eine weiblich konnotierte Position abzusinken, untersuchen. Damit ist die



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Herausforderung verbunden, die Spannung zwischen der Verletzungsoffenheit und der Verletzungsmacht des Körpers zusammen zu halten. Raumtheoretisch stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Überwindung des Containermodells, das gerade durch das Gefängnis und die geschlossene Unterbringung nahegelegt zu werden scheint: Menschen werden in das Gefängnis gebracht und müssen auf diese Intervention reagieren. Ein relationaler Raumbegriff, wie beispielsweise Martina Löw ihn für die Raumsoziologie vorschlägt, verwirft dieses Containermodell und fokussiert die wechselseitige KoKonstruktion von Räumen, Handlungen und Dingen. Aus dieser Sicht ist die hermetische Raumordnung des Gefängnisses nicht etwas, was auf die Handlungen von Insassen und Personal wirkt, sie ist vielmehr das Resultat von Handlungen und bringt diese Handlungen im Gegenzug hervor. Markus Schroer plädiert für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Behälter-Raum grundsätzlich überholt ist und der relationale RaumBegriff sich durchgesetzt hat. Dabei wirft er die Auffassung vom Behälter-Raum nicht einfach über Bord, sondern fragt nach ihrer spezifischen Bedeutung für das Verständnis sozialer Verhältnisse. »Sie kommt deshalb immer dort zum Tragen, wo von Herrschaft, Macht, Gewalt und Zwang die Rede ist. […] Im Rahmen einer Container-Theorie kann eine Raumstelle nur von einem Objekt, Ding oder Menschen eingenommen werden, sodass die Einnahme ebendieser Raumstelle durch ein zweites Individuum nicht vonstattengehen kann, ohne den früheren Besitzer dieser Raumstelle zu vertreiben, was zumeist nicht ohne Streit, Kampf und Gewaltanwendung abgeht.«21 Im Kontrast zu dieser Auffassung, dass es Räume gibt, die die Positionen und Handlungen von Menschen vorstrukturieren, verspricht die relationale Raumauffassung einen Zugang zu den Handlungspotenzialen von Akteurinnen und Akteuren bei der Konstituierung von Räumen. Schroer stellt hierzu fest, dass die handlungstheoretische Kritik an einem Raumdeterminismus in einen Raumvoluntarismus kippen könnte, wenn jede vorgängige Struktur eines Raums als unpassende Behälterauffassung verworfen würde, ohne sich zu fragen, welche Funktion eine Behälterauffassung für das wissenschaftliche Verständnis eines Phänomens habe. Die skizzierte Kontroverse kann auch auf die in diesem Text herausgearbeitete Wechselwirkung von vergeschlechtlichten Körpern und Räumen übersetzt werden: Was sehen wir und was übersehen wir, wenn wir das Gefängnis als einen relationalen Raum und eine Anordnung von Menschen und Gütern auffassen? Was sehen wir und was übersehen wir, wenn wir das Gefängnis als eine autoritär strukturierte soziale Organisation mit verfestigten Machtbeziehungen voraussetzen? Welche Bedeutung erfährt Geschlecht in diesem Zusammenhang als eine soziale Konstruktion, die Räume mit herstellt und in Raumkonstruktionen eingeschrieben ist? Diese Fra21 Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006, 175.

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gen weisen über das Gefängnis als einen konkreten Untersuchungszusammenhang hinaus auf grundsätzliche Fragen der theoretischen Erfassung von verräumlichten Machtbeziehungen.

»… leider trägt er überall seinen verkehrten Kopf mit« Klosterangehörige in der k.k. Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol (1830–1865) M ARIA H EIDEGGER

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Innerhalb der Psychiatriegeschichte haben sich in den letzten Jahren die Blickwinkel verschoben. Angeregt vom Programm der neueren Kulturgeschichte1 gilt die Aufmerksamkeit den Individuen und individuellen Aneignungen, Praktiken, Wahrnehmungen und Deutungen und nicht mehr vorrangig den lange Zeit im Fokus gestandenen psychiatrischen Anstalten. Aus pragmatischen Gründen findet psychiatriehistorische Forschung freilich weiterhin einen Ausgangspunkt bei Institutionen, in erster Linie dem historischen Irrenhaus und dessen Aktenbestand. Psychiatriegeschichte in kulturgeschichtlicher Prägung, unter anderem beeinflusst vom spatial turn, erweitert aber die ältere Institutionengeschichte bzw. bricht sie auf und wendet sich Aspekten des Alltagslebens in soziokulturell strukturierten, von Machtverhältnissen geformten Räumen, den psychiatrischen Landschaften oder psychomedikalen Feldern in größeren, vernetzten Zusammenhängen, psychiatrischen Gesellschaftsdeutungen sowie individuellen Leiderfahrungen zu.2 Von diesen Denkan1

Zur Diskussion innerhalb der Medizingeschichte mit weiteren Literaturverweisen siehe Hans-Georg Hofer / Lutz Sauerteig, Perspektiven einer Kulturgeschichte der Medizin, in: Medizinhistorisches Journal 42/2 (2007) 105–141.

2

Dieser Beitrag ist Teil meines Habilitationsprojekts Sorge(n) um die Seele. Psychiatrie und Religion in Tirol in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Universität Innsbruck. Zum Corpus in der psychiatrischen Anstalt des 19. Jahrhunderts siehe auch meine älteren Beiträge: Maria Heidegger, Der Körper in der Psychiatrie. Psychiatrische Praxis

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sätzen ausgehend, rücken in diesem Beitrag das Individuum, seine Mobilität und Einschränkung, gebunden an konkrete soziale Räume, in den Vordergrund.3 Das Ziel ist, exemplarisch anhand von Ausschnitten aus historischen psychiatrischen Krankenakten unterschiedliche Verhältnisse von individuellen Körpern zu den diese Körper umschließenden Räumen zu beleuchten. In erster Linie fokussiert auf individuelle Leid- und Raumerfahrungen ausgewählter corpora intra muros werden sodann in zweiter Linie zwei Institutionen thematisiert, die u.a. bereits Michel Foucault mit dem Gefängnis, der Fürsorgeeinrichtung und dem Erziehungshaus in einen genealogischen Zusammenhang stellte: die zeitgenössisch als Irrenanstalt bezeichnete frühe Anstaltspsychiatrie und die weit ältere Klostergemeinschaft, beide mehr oder weniger geschlossene Häuser, in denen jeweils ein gewisser »Zwang zur Ordnung«4 herrschte. Das Kloster zur Mitte des 19. Jahrhunderts dient im Folgenden aber nicht als pauschale Vergleichsfolie für das Leben intra muros in der zeitgenössisch als Irrenhaus bezeichneten psychiatrischen Anstalt. Zu vielfältig für einen solchen Vergleich war und ist das Ordenswesen selbst mit seinen unterschiedlichen Ordensregeln,5 der Alltag einer Nonne in einem Kloster mit Klausur unterscheidet sich grundlegend von dem eines Bettelbruders auf Almosenfahrt. Auch der jeweilige soziale Hintergrund, das Lebensalter und der Aktionsradius der Auswahlgruppe psychiatrisch behandelter Klosterangehöriger, um die es im Folgenden geht, sind für einen vergleichenden Zugriff zu unterschiedlich. Die Ausgangsfrage gilt daher – viel bescheidener – den Zirkulationen und Transfers von einzelnen Religiosen zwischen verschiein Tirol in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Von Körpermärkten, hg. von Andreas Exenberger / Josef Nussbaumer, Innsbruck 2008, 39–58 sowie: Maria Heidegger, Körper – Seele – Leid. Entäußerungen des »Irrsinns« in der ärztlichen Wahrnehmung der 1830er Jahre, in: Körper er-fassen. Körpererfahrungen, Körpervorstellungen, Körperkonzepte, hg. von Kordula Schnegg / Elisabeth Grabner-Niel, Innsbruck / Wien / Bozen 2010, 134–147. 3

Vgl. zu einem entsprechend ausformulierten kulturgeschichtlichen Programm Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann, Zur Historisierung bürgerlicher Werte. Einleitung, in: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, hg. von Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann, Göttingen 2000, 7–21.

4

Vgl. Marietta Meier / Brigitta Bernet / Roswitha Dubach / Urs Germann, Zwang zur Ord-

5

Einen Überblick über die Vielfalt des Ordenslebens aus der hier formulierten Problem-

nung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870–1970, Zürich 2007. sicht bietet Heinz Dopsch, Klöster als Orte der Verwahrung? Zwischen benediktinischer Ortsgebundenheit und apostolischer Mission, in: Orte der Verwahrung. Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospitälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter (Geschlossene Häuser 1), hg. von Gerhard Ammerer / Arthur Brunhart / Martin Scheutz / Alfred Stefan Weiß, Leipzig 2010, 297–325.



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denen sozial konstruierten, mehr oder weniger von Mauern umschlossenen Räumen, innerhalb von, wiederum aus der Sicht des Individuums, mehr oder weniger freiwilligen Lebensgemeinschaften.6 Anstatt also auf einen Vergleich zwischen dem Leben intra muros innerhalb verschiedener Institutionen abzuzielen, geht es in diesem Beitrag um eine gemeinsame Thematisierung der Sozialräume Kloster und psychiatrische Anstalt für psychisch erkrankte Klosterangehörige, die sowohl hier wie dort verwahrt und/oder behandelt wurden, um möglicherweise geteilte und unterschiedliche Raumerfahrungen in geschlossenen Häusern7 herauszuarbeiten. Im Kloster und im Irrenhaus (im Folgenden wird die zeitgenössische Bezeichnung verwendet) erfuhren Individuen über einen gewissen Zeitraum verbindliche Zeitregime, abgegrenzte Bereiche, Regeln und Wiederholungszyklen, Einforderung von Disziplin und eine Einheitlichkeit ihrer Lebensbedingungen.8 In diesem Zusam6

Die Frage ist anfänglich inspiriert von einer Forschungstagung im Winter 2011 in Berlin zu Praktiken, Akteuren und Räumen der Einsperrung: Zirkulationen und Transfers, die aus sozialwissenschaftlicher wie historischer Perspektive erstmals eine solche Sichtweise anregte. Das Quellenmaterial zu diesem Beitrag wurde dort präsentiert. Vgl. http://www. hsozkult.de/event/id/termine-16004, 18.9.2015. Das Symposium Corpus Intra Muros. Eine Geschichte räumlich gebildeter Körper in Bruneck im Sommer 2014 ermöglichte mir weiterführende Überlegungen zum Quellenmaterial vorzutragen. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern beider Tagungen für ihre Anregungen.

7

Zur Diskussion, ob diese geschlossenen Häuser und deren Verhältnis zur Außenwelt mit dem von Erving Goffman weiterentwickelten Begriff der totalen Institution zu erfassen sind, siehe aus geschichtswissenschaftlicher Sicht einerseits zum Kloster: Christine Schneider, Frauenklöster der Frühen Neuzeit als totale Institutionen – Gleichheit und Differenzen, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8/1 (2008) 20–33; Elisabeth Dietrich-Daum, »[…] denn ich leide wahrlich unter einem schweren Druck […]«. Menschen in totalen Institutionen – das Beispiel eines Tiroler Frauenklosters im 19. Jahrhundert, in: Politik – Konflikt – Gewalt, hg. von Robert Rebitsch / Elena Taddei (Innsbrucker Historische Studien 26), Innsbruck 2007, 101–121; sowie andererseits zum historischen Irrenhaus: Christina Vanja, Das Irrenhaus als »Totale Institution«? Erving Goffmans Modell aus psychiatriehistorischer Perspektive, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8/1 (2008) 120–129; Elisabeth Dietrich-Daum / Maria Heidegger, Die k.k. Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol im Vormärz – eine totale Institution?, in: Ebd., 68–85; Maria Heidegger, Handlungsräume und Positionen von Anstaltsgeistlichen in der k.k. Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol (1830–1870), in: Personal und Insassen von totalen Institutionen (Geschlossene Häuser 3), hg. von Falk Bretschneider / Martin Scheutz / Alfred Stefan Weiß, Leipzig 2011, 271–288.

8

Dazu allgemein: Kristina Krüger, Orden und Klöster. 2000 Jahre christliche Kunst und Kultur, hg. von Rolf Toman, Köln 2007, 16 f. sowie am Beispiel eines Frauenklosters detailliert: Christine Schneider, Kloster als Lebensform. Das Wiener Ursulinenkonvent in

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menhang war beispielsweise eine der u.a. von den klassischen Arbeiten von Michel Foucault und Erving Goffman angeregten Ausgangsüberlegungen, dass die persönlichen Einschränkungen im Irrenhaus den in Klausur lebenden und an geregelte Zeitrhythmen gewohnten Angehörigen monastischer Orden (den Insassen in der Goffmanʼschen Diktion) vertraut gewesen sein könnten.9 Weitere Fragen ergeben sich aus den Quellen, den historischen Krankenakten: Erfuhren psychisch erkrankte Ordensangehörige im Irrenhaus fallweise sogar eine Erweiterung oder Auflockerung von im Kloster erfahrenen Grenzen und erlittenen Einsperrungen? Wie wurden Veränderungen im Raum und biographische Brüche, die jeweils auch im Raum verortet waren, in Krankengeschichten reflektiert? Welche Sehnsüchte kommen zwischen den Zeilen, in den notierten Aussagen der Patientinnen und Patienten zum Ausdruck? Von solchen Fragen geleitet, erwies sich mit Blick auf die Krankenakten, dass individuelle Erfahrungen, soweit diese überhaupt rekonstruierbar sind, unterschiedlich raumgebunden waren. Räume waren oder wurden unterschiedlich emotionell besetzt und angeeignet und Sehnsuchtsräume erschlossen sich zuweilen auch in der Phantasie. Darüber hinaus waren die betroffenen corpora intra muros nicht nur zum Verweilen in Verwahrsituationen gezwungen, sondern immer wieder auch in Bewegung. Kategorien der Mobilität, Transfers und Zirkulationen spielten in unterschiedlicher Intensität eine Rolle, vor allem jedoch der Faktor Zeit, etwa in Bezug auf die jeweilige Aufenthaltsdauer in der Anstalt,10 welche ein je unterder zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (1740–90) (LʼHomme Schriften 11), Wien / Köln 2005. 9

Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1972 [1961]. In Foucaults Überwachen und Strafen wird die Geburt des Gefängnisses mit dem Erbe der religiösen Orden in Zusammenhang gebracht, die sich vor allem als »Meister der Disziplin« und »Spezialisten der Zeit«, als »die großen Techniker des Rhythmus und der regelmäßigen Tätigkeiten« auszeichneten. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, 8. Auflage 1989 [1975], 192. In historischen Fallstudien zur Lebenswelt im Kloster erhält dieses Bild z.T. widersprüchliche Facetten. Vgl. etwa zum Alltag in einem monastischen Frauenorden: Erika Kustatscher, Die Welt (in) der Klausur. Spirituelle Ideale und realer Alltag im Brixner Klarissenkloster im 17. und 18. Jahrhundert, in: Frauenklöster im Alpenraum, hg. von Brigitte Mazohl / Ellinor Forster (Schlern-Schriften 355), Innsbruck 2012, 111–151.

10 Der anhand des Aufnahmebuches (1830–1863) errechnete Mittelwert der Aufenthaltsdauer in der k.k. Irrenanstalt Hall in Tirol beträgt 866 Tage, wobei die statistischen Ausreißer von nur einem Tag bis zu 49 Jahren [!] reichen: Historisches Archiv, Landeskrankenhaus Hall in Tirol Psychiatrie [im Folgenden HA LKH], Aufnahmebuch I. Zu den Aufnahmebüchern der Haller Anstalt, die 2005–2006 in Form von Excel-Dateien erfasst wurden, siehe: Elena Taddei, Das Archiv der »Landesheilanstalt/Irrenanstalt« Hall in Ti-



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schiedliches Verhältnis zum geschlossenen Raum ebenso mitbegründete wie Mehrfachaufnahmen und monatelange Entlassungsprozedere. Zeit und Raum sind unauflöslich miteinander verknüpft, in der psychiatrischen Erzählung bzw. Irrengeschichte offenbaren sich – wie im Roman – »die Merkmale der Zeit […] im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt«.11 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bot dieser Raum, die kaiserlich-königliche Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol, im September 1830 eröffnet und den heilbaren und unheilbar-gefährlichen Irren gewidmet, Platz für rund 100 Patientinnen und Patienten.12 Die Krankenakten der Auswahlgruppe der Ordensangehörigen im Archiv des heutigen Landeskrankenhauses Hall, die für diesen Beitrag gesichtet wurden, sind unterschiedlich umfangreich, je nach Aufenthaltsdauer und Anzahl der Aufnahmen. Insgesamt wurden in den Jahrzehnten um 1850, dem ältesten Aufnahmebuch der Anstalt zufolge (1830–1863),13 im Haller Irrenhaus nur 22 katholische Ordensangehörige behandelt, 18 Ordensbrüder und lediglich vier weibliche Klosterangehörige: eine insgesamt überschaubare und kleine Auswahlgruppe relativ zur Gesamtzahl aller Ordensangehörigen innerhalb des Kronlandes Tirol und Vorarlberg.14 Offenbar wurden Nonnen monastischer Frauenorden im Krankheitsfall fast rol. Ein Projektbericht, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 6 (2007) 105–110. 11 Michael M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt am Main 1989 [1975], 8. 12 Vgl. zur Anstaltsgeschichte der sich zu ihrer Gründung als modern positionierenden Haller Irrenheilanstalt die jüngere Literatur: Angela Grießenböck, Die »Landesirrenanstalt« in Hall in Tirol und ihre Patientinnen und Patienten (1882–1919) [Diss.] Innsbruck 2009; Maria Heidegger / Oliver Seifert, »Nun ist aber der Zweck einer Irrenanstalt Heilung …«. Zur Positionierung des »Irrenhauses« innerhalb der psychiatrischen Landschaft Tirols im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Region / Storia e Regione 17/2 (2008) 24–46; Dietrich-Daum / Heidegger, Die k.k. Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol (wie Anm. 7). 13 HA LKH, Aufnahmebuch I, 1830–1863. 14 Zur Relation: Im Jahr 1850 befanden sich allein in der Diözese Brixen (zum Einzugsgebiet der Haller Anstalt zählten jedoch auch Teile der Diözesen Salzburg und Trient) 552 weibliche Ordensangehörige. Der nordtirolischen Kapuziner-Ordensprovinz und der nordtirolischen Franziskaner Ordensprovinz, zu denen u.a. auch die Salzburger Niederlassungen zählten, gehörten 325 Kapuziner und 324 Franziskaner an, der Servitenorden zählte einschließlich der Niederlassungen in Kärnten 75 Mitglieder. Die Stifte Marienberg, Fiecht und Stams wiesen einen Personalstand von zusammen 84 und die beiden Chorherrenstifte Wilten und Neustift von zusammen 101 auf, ohne die Priester, die sich in Expositur befanden. Zu diesen Daten: Schematismus der Geistlichkeit der Diözese Brixen für das Jahr 1850, 34. Ausgabe, Brixen 1850.

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ausschließlich in ihrem Konvent verwahrt, kaum je aus der Klausur entlassen, konnten vielleicht eher von ihren Ordensangehörigen behandelt und gepflegt werden als Ordensbrüder. In gewisser Hinsicht kompetenter als andere Ordensangehörige dürften die Schwestern und Novizinnen nicht monastischer katholischer Frauenkongregationen gewesen sein,15 die sich der Krankenpflege widmeten: Als Patientinnen der Haller Anstalt sind diese Ordensangehörigen – von einer Novizin abgesehen – im Untersuchungszeitraum überhaupt nicht präsent. Hingegen wiesen die in diesem Beitrag erwähnten Männerklöster in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine relativ hohe Altersstruktur auf und verfügten auch aus diesem Grund über weniger Pflegekapazitäten innerhalb der eigenen Mauern.16 Nonnen und Schwestern befanden sich also aus verschiedenen Gründen sehr selten als Patientinnen innerhalb des säkularen Anstaltsraums. Nach der Ablegung der Profess war ihr Leben – auch im Krankheitsfall – weit seltener von Zirkulationen und Transfers betroffen. Gleichwohl soll im Folgenden die Geschichte einer der wenigen Nonnen, die im Untersuchungszeitraum an der Haller Irrenanstalt behandelt wurden, an den Anfang gestellt werden, bevor anhand von weiteren Quellenauszügen gezeigt wird, wie das Verhältnis von Körper und Raum in Kloster und Irrenhaus in den Krankenakten der Kapuzinerpater Ferdinand S* und Marcellus B* sowie des Franziskaner Laienbruders Alexius G* thematisiert wurde. Bei diesen Ordensbrüdern handelte es sich jeweils um Klosterangehörige von Bettelorden, die im Unterschied zu Ordensbrüdern mit benediktinischer Ordensregel nicht einer stabilitas loci verpflichtet waren und – wie die biographischen Informationen zeigen – alle drei über ausgedehnte Raumund Mobilitätserfahrungen verfügten. Der diese Mobilität letztlich beschränkende Raum innerhalb physischer Mauern erwies sich für diese Individuen aber nicht nur als ein vierdimensionaler Behälter mit einem eingesperrten Innen und ausgesperrten Außen, sondern verknüpfte verschiedene Erfahrungsräume der Marginalisierung, wurde von den drei erkrankten Ordensbrüdern unterschiedlich wahrgenommen und über den Zeitraum des Anstaltsaufenthalts hinweg unterschiedlich angeeignet.

15 Vgl. Relinde Meiwes, »Arbeiterinnen des Herrn«. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main / New York 2000. 16 Zum geringen Personalstand in den Kapuzinerklöstern und zur Anzahl der über 60Jährigen zum 1.1.1823 siehe: Agapit Hohenegger / Peter Baptist Zierler, Geschichte der Tirolischen Kapuziner-Ordensprovinz (1593–1893), Bd. 2, Innsbruck 1915, 306. In den 1850er Jahren waren die Kapuzinerklöster wieder gut besetzt, die Altersstruktur war jedoch weiterhin hoch geblieben, auch weil sich gerade die jüngeren Brüder in die Mission verabschiedeten: Ebd. 418 f.



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E RHOLUNGSRAUM : D OMINIKA K*

Die Karmelitin Dominika K*17 wurde 1856 nach längerer Krankheit und ein zweites Mal 1861 als angeblich »Tobsüchtige« im Irrenhaus Hall aufgenommen. Sie wurde vor ihrer ersten Aufnahme, zwischen ihren beiden Anstaltsaufenthalten und wohl auch nachher innerhalb ihres Klosters Karmel St. Josef im Innsbrucker Stadtteil Wilten18 verwahrt und dort durchaus mit ähnlichen Therapien ärztlich behandelt wie in der historischen Irrenanstalt. Der Haller Irrenhausdirektor wurde nach Ausbruch der »Tobsucht« von den Karmeliterinnen sogar als Konsiliararzt zu ihrer Behandlung im Kloster hinzugezogen. Sie erhielt dort Fuß- und Sturzbäder, Auflagen mit Senfteig, ableitende Mittel, kühlende und die Darmfunktion unterstützende Mittel und eine besondere reizarme Kost,19 die therapeutischen Maßnahmen in der spezialisierten Irrenheilanstalt unterschieden sich davon kaum. Dominika K*, 1828 in Meran als Tochter eines »selbst ziemlich exaltiert[en]«20 Gerichtsbeamten geboren, war bereits als Mädchen zum Zeitpunkt der Klostererrichtung (1846) in den Orden der Karmelitinnen zu Wilten eingetreten, ihre Profess legte sie 1852 ab. Im ihrer Einweisung nachgereichten ärztlichen Gutachten wurde über sie befunden: »Die geisteskranke Schwester Dominika gehört (wenigstens im Kloster) zu den für sich und der Umgebung gefährlichen Individuen, auf dessen Heilung wenig oder gar keine Aussicht zu hoffen ist, da die Kranke von ihrer Jugend an zu religiöser Schwärmerei geneigt, mithin eine Anlage dazu vorhanden ist, die […] durch die

17 HA LKH, Krankenakten [KA] Frauen 1862, Dominika K* [anonymisiert] I/494; 616 [= Aufnahmebuch I/Kopfzahl-Nummern laut Aufnahmebuch]. Die Akte enthält einen im Juni 1861 datierten Arztbrief, 4 Bögen Irrenprotokolle der Monate Dezember 1856 bis Juli 1857 sowie 4 Bögen Irrenprotokolle 1861/62 sowie eine am 28.1.1857 in Innsbruck verfasste Krankheitsgeschichte »nach den von der Irrenhausdirektion vorgelegten Fragen«. 18 Das Kloster wurde 1846 vom Innsbrucker Lithographen Johann Nepomuk Kravogl (1803–1873) u.a. für seine Töchter und Nichten nahe dem Stift Wilten errichtet. Siehe: Gertraud Zeindl, Ist alles ein Werk Gottes. Zur Geschichte des Karmel St. Josef zu Innsbruck (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs N.F. 38), Innsbruck / Wien 2009. 19 Vgl. zu den zeitgenössisch in den Irrenanstalten verabreichten somatischen Mitteln und der psychischen Kurmethode Michael Kutzer, Die therapeutischen Intentionen in der Irrenanstalt des 19. Jahrhunderts, in: Wissen und irren. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg, hg. von Christina Vanja / Steffen Haas et al., Kassel 1999, 46–59. 20 HA LKH, KA Frauen 1862, Dominika K* I/494; 616, Krankheitsgeschichte nach den von der Irrenhausdirektion vorgelegten Fragen vom 28.1.1857.

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Einsamkeit und fortwährender Schlaflosigkeit noch mehr genährt wurde.«21 Während ihres ersten Anstaltsaufenthalts soll sie, dem Irrenprotokoll vom Dezember 1856 zufolge, Arbeitsmaterialien, die ihr zur Beschäftigung als Therapie in die Hand gereicht wurden, im Abtritt entsorgt haben, im Februar 1857 hätte sie jede Nacht »Visionen und Träume von der Hölle und Teufel« gehabt. »Folgsam und ordentlich« soll sie aber bereits im April 1857 wieder »eine große Sehnsucht nach ihrem Kloster« gezeigt haben. Im Mai 1857 befürchtete Hauswundarzt Dr. Anton Nagy sogar, dass »von wegen dem unermüdlichen Verlangen der Kranken nach dem Kloster« vielleicht noch einmal ein »Ausbruch der Tobsucht erfolgen werde«. Diese Befürchtung bewahrheitete sich nicht, wobei jedoch beispielsweise im Juni 1857 beobachtet wurde, dass Dominika K* »fast den ganzen Tag hindurch von Abtheilung zu Abtheilung trübsinnig und einsilbig herumgeht und ungeduldig nach dem Kloster verlangt.«22 Im Juli 1857 wurde sie entlassen, eineinhalb Jahre später neuerlich zunächst innerhalb des Klosters isoliert, in ihre Zelle eingesperrt und dort wieder wie folgt behandelt: »Auf freundlichem Wege, doch zweckmäßiger Beschäftigung war man bemüht auf ihren traurigen Zustand wohlthätig einzuwirken und anfangs gestattete diese Behandlung auch Aussicht auf einigen Erfolg«, heißt es im zweiten Einweisungsschreiben in das Irrenhaus, bis sich der »Irrsinn« bei der »damaligen stürmischen Witterung« wieder steigerte und man sich »bei den eigenthümlichen Verhältnissen des Klosters und aus Rücksicht für die übrige Klostergemeinde entschloss, die arme Schwester in die Irrenanstalt zur Heilung zu transferieren«.23 Die angesprochenen »eigentümlichen Verhältnisse« innerhalb des Klosters lassen sich wie folgt umreißen: Es handelte sich um eine relativ kleine Ordensgemeinschaft von 13 Mitgliedern, davon zwei nahe weibliche Verwandte von Dominika K*, die in strenger Klausur nach den Ordensregeln des Karmelitinnenordens lebten. Zudem befand sich die Innsbrucker Niederlassung durch fehlende Mitgift mehrerer Nonnen zur Sicherstellung von deren Lebensunterhalt in finanziell angespannter Lage.24 Ihr familiärer Hintergrund und die Umstände, dass Dominika K* im angesprochenen prekären Kontext des Klosters eine privilegierte Position einnahm, nährten wohl bereits vorhandene klosterinterne Konflikte und fanden im Vorwurf an Dominika K*, sie sei überheblich und halte sich für etwas Besseres, Ausdruck. Als Dominika K* aus der Klausur bzw. ihrer abgesperrten Klosterzelle von Innsbruck nach Hall transportiert wurde, soll sie, so eine Anmerkung im unmittelbar nach der Aufnahme angelegten »Irrenprotokoll« vom Mai 1861, keinerlei Schwierigkeiten gemacht haben: »[…] sie schien sich sogar zu freuen über die Fahrt in der frischen Luft, ihre Reden waren während der Fahrt in weiten Stücken 21 Ebd. 22 Ebd., Irrenprotokolle Dezember 1856 bis Juni 1857. 23 Ebd., Arztbrief Dr. Tschurtschenthaler, Innsbruck im Juni 1861. 24 Zeindl, Ist alles ein Werk Gottes (wie Anm. 18) 60.



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gar nicht unverständig, doch gefiel sie sich sehr in Bemerkungen über die politische Lage, sie erzählte, mit Garibaldi und Napoleon Kämpfe gehabt und beide geschlagen zu haben.«25 Der von Gertaud Zeindl eingesehenen Klosterchronik zufolge war im Karmelitinnenkloster seit Kriegsausbruch 1859 buchstäblich Tag und Nacht für den Friedensschluss gebetet worden, waren Verbandszeug und Salben hergestellt und an der Klosterpforte die wunden Füße der Soldaten mit Wundheilsalbe behandelt worden.26 Die von Dominika K* erwähnten Kämpfe gegen Napoleon und Garibaldi, von den Ärzten als wirres Gerede einer Klosterfrau, die doch Zeit ihres Lebens kaum etwas anderes kannte als ihre Zelle, in die Anamnese mitaufgenommen, ergeben aus Sicht der Dominika K* Sinn: Innerhalb der Klosterklausur galten die Sorge und das intensive auf diese Sorge abgestimmte Gebet dem Weltgeschehen außerhalb des Klosterraumes, insbesondere nahmen sich die Karmelitinnen laut Klosterchronik die Berichte über die Bedrängnis Papst Pius’ IX. und der gesamten katholischen Kirche sehr zu Herzen.27 Bei ihrer neuerlichen Aufnahme als Patientin – und zwar wegen ihrer Herkunftsfamilie in die privilegierte zweite Versorgungsklasse – bemerkte Dominika K* in heiterer Stimmung und zum Scherzen aufgelegt gegenüber dem aufnehmenden Arzt, es sei ihr im Kloster nur die Luft abgegangen.28 Bereits nach wenigen Monaten wurden in der Haller Anstalt weitläufige Vorbereitungen für ihre Entlassung getroffen, unter anderem erhielt sie nun jeden Tag wieder Mehlspeise, um sie an die eintönigere Klosterkost zurück zu gewöhnen.29 Während der Zeit ihrer Anstaltsaufenthalte genoss Dominika K*, den Irrenprotokollen zufolge, häufig den Besuch ihrer Brüder, die sie in klösterlicher Klausur kaum besuchen hätten können.

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AUF DEM

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Männliche Klosterangehörige wurden nach ihrer Priesterweihe auf Grund des geistlichen Standes zumindest in der zweiten und somit besseren Versorgungsklasse untergebracht, selbst wenn sie einem Bettelorden angehörten wie Kapuzinerpater Ferdinand S*. Dieser wurde 1810 in Bozen als Sohn eines Chorleiters und Musikers 25 HA LKH, KA Frauen 1862, Dominika K* I/494; 616, Irrenprotokoll Mai 1861. 26 Vgl. auf der Grundlage der Klosterchroniken Zeindl, Ist alles ein Werk Gottes (wie Anm. 18) 61. 27 Der Brixener Fürstbischof Bernhard Galura sah die Bedeutung dieses kontemplativen Klosters vor allem in seinem Gebets- und Bußleben für Kirche und Welt begründet. Eduard Hosp, Kirche Österreichs im Vormärz 1815–1850, Wien / München 197, 72. 28 HA LKH, KA Frauen 1862, Dominika K* I/494; 616, Irrenprotokoll Mai 1861. 29 Ebd., Irrenprotokoll Januar 1862.

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geboren, trat ebenfalls schon jung, mit 18 Jahren, in den Kapuzinerorden ein und nahm den Ordensnamen Ferdinand an. Diesen Namen lehnte er später derart vehement ab, dass die Ärzte der Haller Irrenanstalt stillschweigend wieder dazu übergingen, ihn mit Anton anzusprechen, später führten sie sogar eine zweite Krankenakte mit diesem Namen über denselben Patienten.30 Pater Ferdinand S*, im Mai 1843 zum ersten Mal, in der Folge wiederholt in die Anstalt aufgenommen, wurde zwischen den Aufenthalten in der Anstalt immer wieder an ein Tiroler KapuzinerKonvent zurück entlassen. Seine Diagnose bei der Erstaufnahme wurde unspezifisch auf »Wahnsinn« gestellt. Zuvor war er über vier Wochen im Innsbrucker Ordenskonvent von Dr. Theodor Albaneder (1775–1847), ehemals Professor für Anatomie an der Universität Innsbruck,31 behandelt bzw. beobachtet worden. Wie bei der Karmelitin Dominika K* bemühte man sich offensichtlich auch im Kapuzinerkloster um die Konsultation eines lokal renommierten Arztes.32 Dr. Albaneder berichtete über den Patienten in seinem an die Irrenhausdirektion adressierten Parere medicum: »Wollte man mit Worten oder physischen Zwang ihm Arzneyen beybringen, so gerieth er alsogleich in widerstrebende Wuth, und man hat Ursache bey seinem sehr starken Körperbau und robuster Constitution vor körperlicher Mißhandlung sich zu fürchten und zu hüten. Er sträubt sich gewaltthätig gegen das Anziehen des Ordenhabits […]. Seine fixe Idee ist, er muß die Prinzessin Maria heurathen, und wahrscheinlich will er deswegen nichts hören noch sehen vom Kapuziner Orden, und wenn man ihn bey seinem angenomenen Ordensnamen (Pater Ferdinand) anredet, so protestiert er und geräth immer in eine drohende Aufregung. Ueber andere Gegenstände merkt man kaum eine Aberratio mentis; er schrieb Briefe, und auch Gedichte, wo man sogar viel Witz darin findet. Da seine Monomanie hauptsächlich seinen Or30 HA LKH, KA Männer 1849, Ferdinand [=Anton] S* I/337; 361; 541. Die jüngere Akte HA LKH, KA Männer 1855, Anton S* I/361betrifft dieselbe Person. Der Wunsch des Anton S*, seinen angenommenen Ordensnamen abzulegen und symbolisch wieder aus dem Orden auszutreten, war aber nur auf der Ebene der psychiatrischen Aktenarchivierung erfolgreich. 31 Josef Theodor Albaneder, Doktor der Medizin und Chirurgie, geb. in Schwaz 1775, war 1816–1842 erster Lehrstuhlinhaber der selbständig gewordenen Lehrkanzel für Anatomie an der Universität Innsbruck, 1830 wurde er zum Rektor gewählt. Er verstarb 1847 in Innsbruck. Siehe: Manfred Westhoff, Medicina Oenipontana: Chirurgum Lycei, 1816– 1869, München 1978, 84–86. 32 Auch das Franziskanerkloster in Hall konsultierte 1858 im Fall des »in einem Male in eine religiöse Melancholie« verfallenen Pater Camillus R* den Direktor und Primararzt der hiesigen Anstalt, Dr. Josef Stolz, der ihn daraufhin im Kloster über mehrere Wochen »mit Autenriethʼschen Pillen und Morphium für den Schlaf« behandelte. HA LKH, KA Männer 1862, Camillus R* I/768; 818.



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densstand betrifft, so ist es leicht erklärlich, daß er, wenn der P. Guardian oder P. Vicarius ihm zusprechen, oder mit aller Sanftmuth zur Ordnung verweisen wollen, allzeit selbe mit Drohung abschafft, wo man dann freylich vom weitern Zureden abstehen muß.«33

Biographische Bruchstücke und Auskünfte über die wechselhafte Karriere des Anton oder Ferdinand S* als Ordensbruder und Patient sind aus dem Blickwinkel des Verfassers der psychiatrischen Krankengeschichte, dem (im Vergleich zu Dr. Albaneder viel jüngeren) Sekundararzt an der Haller Irrenanstalt, wiedergegeben. Von dessen Erzählstandpunkt aus wurde auf Grundlage ärztlicher Gutachten zunächst der biographische Einschnitt des Klostereintritts zum pathographischen Moment und zur psychiatrisch-relevanten Situation, wobei aber die Einschätzungen und Wertvorstellungen der Klostergemeinde Eingang in diese Form medikaler Erzählung34 fanden. Ferdinands [Antons] Eintritt in den Orden wäre nämlich nicht aus wahrer, eigener Berufung erfolgt, sondern »wahrscheinlich« nur aus »dem vielen Zureden eines seiner Jugendfreunde«, wenn nicht gar seines eigenen, »ungemein exaltiert[en] und reizbar[en]« Vaters.35 Bereits während des Theologiestudiums sei, so die zur Zeit des zweiten Anstaltsaufenthalts vom Sekundararzt verfasste Irrengeschichte aus dem Jahre 1855, ein »erste[r] Funke einer höheren Meinung von sich«, ein besonderer Ehrgeiz bemerkbar geworden, der sich mit einer angemessenen Haltung und der einer bescheidenen Lebensführung verpflichteten Klostergemeinschaft nicht vereinbaren ließ.36 Die im Kloster erforderliche Tugend der Bescheidenheit hätte sich Pater Ferdinand nicht einmal in der Zeit seines Einsatzes als predigender und Almosen bettelnder »Sammelpater« in Sterzing erwerben können, wo man nämlich (zu) große Stücke auf seine Predigten gehalten hätte: »Durch diese allgemeine Anerkennung seiner ausgezeichneten Predigten nun wurde wahrscheinlich seine hohe Meinung von sich gesteigert, und er bemühte sich daselbst Frühprediger zu werden, allein man schickte ihn als ganz gemeinen Aushilfspriester nach Kitzbühel, wohin er so ungern ging, daß er bei der Bekanntmachung seiner Versetzung weinte«,37 so lautet die Formulierung in der Anamnese, Teil der so genannten Irrengeschichte. Nun erkrankte Pater Ferdinand an einer Gehirnhautentzündung, »wobei er so tobte, daß er mußte gebunden werden«. Noch nicht genesen und ver33 HA LKH, KA Männer 1849, Ferdinand [=Anton] S* I/337; 361; 541, Parere Medicum des Dr. Albaneder, 10.5.1843. 34 Vgl. zur Definition und Systematik der medikalen Narration in der Erzählforschung: Rishi Goyal, Narration in Medicine, in: The Living Handbook of Narratology, http:// www.lhn.uni-hamburg.de, 5.10.2015. 35 HA LKH, KA Männer1849, Ferdinand [=Anton] S* I/337; 361; 541, Krankengeschichte des geisteskranken P. Ferdinand S* [1844]. 36 HA LKH, KA Männer 1855, Anton S* I/337; 361; 541, Irrengeschichte. 37 Ebd.

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wirrt, wurde er von Kitzbühel in das Klosterkonvent nach Innsbruck gebracht, hier wurde er ärztlich behandelt und so wieder hergestellt, dass er in sein Heimatkloster nach Bozen versetzt werden konnte. Dort blieb Pater Ferdinand zwei Jahre lang, wurde im Frühjahr eines jeden Jahres krank, im ersten Jahr melancholisch, im zweiten Jahr aber mehr »aufgeregt«. Wie er innerhalb des Klosters behandelt wurde, darüber ist nichts bekannt, außer dass während dieser Zeit sein Gesuch um eine Versetzung als Katechet nach Eppan bewilligt wurde. Gerade Kapuziner und Franziskaner, deren Regelwerk sich nach der vita apostolica bzw. am Vorbild der Apostel ausrichtete, wurden generell breit in der Seelsorge eingesetzt, Haller Franziskanerbrüder aushilfsweise auch im Irrenhaus. In Eppan bemerkten die Mitbrüder an Pater Ferdinand S* ein auffallendes Misstrauen ihnen gegenüber sowie eine innere Unruhe. Er äußerte vehement den Wunsch, die Ordensprovinz verlassen und in eine andere überzutreten zu wollen.38 Da ihm dies nicht bewilligt wurde, sah er seinen Ausweg in wiederholten Fluchtversuchen, die ihn bis nach Graz und Wien führten. Zuletzt versuchte er ohne Pass in die Schweiz auszureisen, scheiterte und wurde in Zirl unweit von Innsbruck von der Polizei aufgegriffen, verhaftet und in das Kapuzinerkonvent in Innsbruck überliefert. Dort – im Kloster – wurde er in eine Zelle »wohl eingesperrt, aber doch wegen mangelnder Gelegenheit nicht fest genug, wenn er mit Gewalt ausbrechen wollte, was er schon gedroht habe«, so der einen weiteren Fluchtversuch befürchtende Arzt, der zu seiner Behandlung herbeigeholt wurde.39 Dem Gesuch der Klostergemeinde, Pater Ferdinand in das Haller Irrenhaus einweisen lassen zu können, wurde entsprochen. Hier nun stellten die Ärzte allerdings fest: »Er benahm sich während der ganzen Zeit seines Hierseins recht ordentlich, zeigte sich ruhig und heiter, er spricht stets verständig, urtheilt scharf, und handelt vernünftig, und es läßt sich weder eine Spur von einer Geistesstörung noch von einer Verkehrtheit des Gemüthes an ihm bemerken (übrigens gibt er zu, daß er geisteskrank gewesen sey).«40

Obschon in den Augen der Irrenhausärzte augenblicklich gesund, wobei zu deren Einschätzung auch das Geständnis des Patienten einer früheren Krankheit beitrug, wurde der Pater dem Ansuchen der Klostervorstehung entsprechend weiterhin zur Beobachtung in der Irrenanstalt behalten, mit dem Lesen von Büchern geschichtlichen Inhaltes beschäftigt sowie mit verschiedenen Spielen und Spaziergängen zerstreut.41 Im Januar 1846 las Ferdinand bzw. Anton S* das Konversationslexikon.42 38 Ebd. 39 Ebd., Parere Medicum des Dr. Albaneder, Innsbruck 10.5.1843. 40 HA LKH, KA Männer 1855, Anton S* I/337; 361; 541, Irrengeschichte. 41 Ebd. 42 Ebd., Irrenprotokoll Januar 1846.



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Abbildung 1: Ausschnitt aus dem Irrenprotokoll vom November 1845.

Quelle: HA LKH, KA Männer 1855, Anton S* I/337; 361; 541.

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In monatlichen Rapporten, den so genannten Irrenprotokollen, die in zwei Spalten den Verlauf und die therapeutischen Maßnahmen dokumentierten, wurden Aspekte des Aufenthalts Pater Ferdinands und die Verschlechterung seines psychisches Zustands intra muros der Anstalt dokumentiert: Im Januar 1845 beschäftigte sich S* »wenig mit Zeichnen und Dichten, verfertigte einmal aus Papier und andern Gegenständen ein Schachspiel, womit er sich allein einige Tage unterhielt, lehnte aber die Einladung der Herrn Direktors, mit ihm auf einem ordentlichen Schachbrette ein Spiel zu versuchen, ab«.43 Im Mai 1846 [Verlauf:] »Uibrigens besuchte er fleißig den Gottesdienst u[nd] hatte bei den Darmentleerungen keine Arznei nöthig.« [Therapie:] »Man konnte nichts mehr thun als ihn beobachten.« Im August 1846 [Verlauf:] »Zeigte sich meist gereizter Stimmung, gab ganz trockene kurze Antworten, verschmähte die Lectüre, jedoch besuchte er täglich den Gottesdienst, nie aber den Garten. Es zeigte sich wieder Trägheit der Darmentleerung u[nd] er nahm uns keine Medizin mehr, ebenso weigerte er sich die Bäder zu gebrauchen […].« [Therapie:] »Man läßt ihm seinen Willen.« Im November 1846 [Verlauf:] »Welche Ansicht er von der Welt habe, läßt sich nur errathen.« [Therapie:] »Er wird mit aller Freundlichkeit behandelt, übrigens sich selbst überlassen.« Im Januar 1847 wurde der Kranke »immer abstoßender und wortkarger«:44 »Als man sich am 11. um sein Befinden erkundigte, gab er zur Antwort, man habe ihm im Kloster gesagt, daß man ihn hier in der Anstalt in jeder Beziehung verschonen werde. Am 17. trat ohne bekannte Veranlassung eine größere Aufregung ein, er bat den Herrn Director um seine schriftliche Entlassung u[nd] als man ihn fragte, wohin er sich dann wenden wolle, erwiderte er, dies werde wohl die Entlassung bestimmen u[nd] übrigens sei ihm vom Herrn Protomedicus das Recht zugestanden allein leben u[nd] sterben zu dürfen u[nd] dieses Recht wolle er öffentlich genießen. Er will von keiner Beschäftigung etwas hören […]. Am 17. gab man ausweichende Antworten, erbat sich Uiberlegungs-Zeit zur Abfassung der Entlassungsformulare u[nd] kam damit ohne weitere Auftritte, die zu besorgen standen, ab. Seitdem beruht das Ganze auf sich.«45

Das »Ganze« beruhte tatsächlich über sehr lange Zeit auf sich. Pater S* führte im Irrenhaus weiterhin die von den protokollierenden Irrenärzten »oft beschriebene Lebensweise«, im Mai 1847 fing er an, »auf den Corridors herum zu gehen, wurde gesprächiger und scherzhafter, fragte eine Tochter des Portiers, ob sie ihn nicht heirathen wolle, sehnte sich ins Weite, besuchte auch das Feld und den Männergar43 HA LKH, KA Männer1849, Ferdinand [=Anton] S* I/337; 361; 541, Irrenprotokoll Januar 1845. 44 HA LKH, KA Männer 1855, Anton S* I/337; 361; 541, Irrenprotokolle der Monate Mai, August und November 1846, Januar 1847. 45 Ebd., Irrenprotokoll Januar 1847.



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ten.«46 Erst Ende April 1849, zwei Jahre später, wurde Pater Ferdinand S* in sein Kloster zurückgeschickt, Ende August des Folgejahres 1850 jedoch mit der Diagnose »misstrauischer Wahnwitz« erneut im Haller Irrenhaus aufgenommen. Über die näheren Gründe für die erneute Einweisung ist nichts bekannt, doch wird im Nekrolog-Eintrag im Totenbuch der Pater und Brüder des Kapuzinerordens in der Tiroler Provinz (1804–1910) so viel berichtet, dass Pater Ferdinand im Bozener Kloster ein ziemliches Spektakel geboten habe (»Ecce! Quale spectaculum!«), indem er den Habit verweigerte, weltliche Kleidung trug, sich mit »Don S*« ansprechen ließ, Tabak konsumierte und sich gar den Bart abrasierte. Die Gemeinschaft der Brüder, wiederholte er, gehe ihn nichts mehr an.47 Im Irrenhaus wurde Anton S* bzw. Pater Ferdinand nun lediglich beobachtet und festgestellt: »[…] hat nie was Irres geäußert, obwohl man ihm eine große Gereiztheit ansieht.«48 Gereizt, jedoch gesellig, Zeitung lesend, rauchend und Billard spielend, soll er nun in der Anstalt die Zeit verbracht haben.49 Im November 1850 versetzte man den bisher in der zweiten Versorgungsklasse eingesetzten Pater in die erste Klasse zu den »Honoratioren«. Allerdings ließ ihn als einen auf den »Geist des Minderseins« selbstverpflichteten Bettelmönch des Kapuzinerordens daraufhin sein Ehrgefühl nicht mehr schlafen, wie im Januar 1851 vermerkt wurde: »Frägt, wer für ihn wohl zahle«. Nach der Entlassung eines Mitpatienten, eines Weltpriesters und Bozner Landsmannes, wurde Pater Ferdinand S* zunehmend trübselig, er äußerte sich: »es kümmere sich um ihn Niemand, er habe vielleicht immer da zu bleiben.«50 »Die Ärzte kämen ihm sonderbar vor«,51 meinte der Pater dann im Februar 1851, den Behandlungsmethoden, vor allem den Begießungen mit kaltem Wasser, die er nun seit Jahren bei Mitpatienten beobachtete, stand er zunehmend ablehnend gegenüber.52 Im August 1851 notierte der Sekundararzt, der Patient sei ernstlich missgestimmt, »er habe ein ernstes Wort mit uns zu sprechen, wolle hier nicht weiter bleiben und mit einem Mann

46 Ebd., Irrenprotokoll Mai 1847. 47 Provinzarchiv der Kapuziner in Innsbruck [im Folgenden PA Kapuziner], Mortuale Patrum et Fratrum Provinciae Tyrolis ab anno 1804–1910, Nekrologeintrag 2029. Der Konsum von Schnupftabak war den Franziskanern und Kapuzinern jedoch nicht verboten, im Gegenteil besaßen die tirolischen Mendikantenklöster nach Einführung des Tabakmonopols 1829 einen besonders begünstigten Zugang zu den Tabakmagazinen in Innsbruck und Trient. Ab 1835 »für immer« gewährte Kaiser Ferdinand I. jedem Mitglied jährlich 6 Pfund Schnupftabak gratis: Hohenegger / Zierler, Geschichte (wie Anm. 16) 421. 48 HA LKH, KA Männer 1855, Anton S* I/337; 361; 541, Irrenprotokoll Oktober 1850. 49 Ebd., Irrenprotokolle September bis November 1850. 50 Ebd., Irrenprotokoll Januar 1851. 51 Ebd., Irrenprotokoll Februar 1851. 52 Ebd., Irrenprotokolle Juli und August 1851.

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außen in freundschaftlichen Verkehr treten«,53 und im Oktober 1851, er wolle »fort auf einen Platz, der ihm tauge. Er kann in jedes Haus gehen, wohin er wolle, wann er herumziehe, sei es gewiß allen recht«. Anton hörte endgültig auf, Pater Ferdinand zu sein, die Anstaltskapelle zu besuchen, meinte, »er wisse nichts Gutes zu hoffen«, sehnte sich danach, in einem Wirtshaus auf dem Lande zu wohnen, er wäre »ungerecht hier her gekommen, er wolle wißen, wie es mit ihm stehe, beschuldigt alle, man halte es mit ihm nicht gut«.54 Entlassen wurde Anton S* jedoch noch lange nicht. Im Jahre 1855, mehr als zehn Jahre nach seiner Erstaufnahme in Hall, wurde allerdings die Diagnose »Misstrauischer Aberwitz« abgeändert zur Diagnose »Verrücktheit«. Heilung, diese kam in dieser Umformulierung der Diagnose zum Ausdruck, wurde nun keine mehr erwartet, damit war dem Aufenthalt im Haller Irrenhaus jedoch statuarisch ein Ende gesetzt. Allerdings vermerkte der leitende Arzt und Irrenhausdirektor Dr. Josef Stolz zu diesem Zeitpunkt: »Die Ausfindigmachung eines anderen Verpflegungsortes gelang bis jetzt nicht. Gegen den Antrag in sein Kloster zurück zu gehen äußerte er sich derart aufgeregt, daß damit einen Versuch zu machen ein allzu gewagtes Unternehmen scheint, er äußerte nämlich, zwischen ihm und dem Kloster liege nur der Tod.«55

Anton S* wusste ohne Zweifel trotz der bei ihm diagnostizierten »Verrücktheit«, dass eine Entlassung in ein Kloster beantragt und somit seine Tage in der Anstalt gezählt waren, wo er nun »meist zufrieden« gewesen wäre, »nichts Auffallendes zeigte« und bei Gottesdiensten in der Anstaltskapelle ministrierte. Im Mai und Juni 1855 drohte er daher, er wolle sich lieber umbringen, als in ein Kloster zurückkehren.56 Die Entlassung »wegen Unheilbarkeit« aus der Anstalt vor Augen, unternahm er Anfang September 1855 schließlich noch einen Fluchtversuch, kurz danach erfolgte sein Transport in das Kapuzinerkloster in Imst.57

D IE U NHOLDE

UNTER DEM

H ABIT : F RATER A LEXIUS

Frater Alexius G*, Laienbruder im Franziskanerhospiz in Telfs seit November 1834, gebürtig aus einem Dorf im Tiroler Oberinntal, war zum Zeitpunkt seiner Aufnahme in Hall 39 Jahre alt. Er hatte als Sohn eines Schuhmachers selbst auch das Schuhmachergewerbe erlernt und anschließend als Geselle weite Teile der Mo53 Ebd., Irrenprotokoll August 1851. 54 Ebd., Irrenprotokoll Oktober 1851. 55 Ebd., Eintrag des Dr. Josef Stolz in das Irrenprotokoll April 1855. 56 Ebd., Irrenprotokolle Mai und Juni 1855. 57 Ebd., Irrenprotokoll September 1855.



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narchie durchwandert, bevor er 1833 zunächst als Diener in das Salzburger Franziskanerkloster eintrat. Seine Aufgaben dort wie auch später im Nordtiroler Kloster in Telfs hatte er stets »fleißig, treu und ordentlich« erledigt, bis seine Mitbrüder im Verlauf des Jahres 1839 zu beobachten begannen, dass er »bei Besorgung mehrerer Geschäfte verzagt und mutlos gewesen«, er »still und melancholisch« wurde, bis er schließlich überzeugt zu sein schien, »man wolle ihn vergiften, später, man beschuldige ihn eines Diebstahls« und zuletzt, dass Unholde »in unzähligen Mengen von seinem Habit Besitz genommen, und ihn durch verhöhnendes Spotten absichtlich und vorsätzlich Tag und Nacht martern«.58 Die Klostergemeinschaft in Telfs war zu dieser Zeit klein: Noch in den Jahren 1820 bis 1830 bestand sie aus lediglich vier Pater und zwei Laienbrüdern, seither war die Anzahl der Pater nur langsam angestiegen, bis Ende des Jahrhunderts auf durchschnittlich acht, »darunter freilich oft alte und erholungsbedürftige.«59 Offensichtlich sah man sich überfordert, den Laienbruder Alexius im eigenen Kloster zu behandeln. Daher, und um »seinen Ideen eine andere Richtung zu geben«,60 wurde Frater Alexius zunächst aus Telfs wegund in verschiedene andere, nicht näher erwähnte Klöster und Hospize der ausgedehnten Franziskanerprovinz geschickt, »was anfangs auf einige Zeit auch guten Erfolg zu haben schien, jetzt aber keinen Eindruck [mehr] zu machen vermag«.61 Da er »öfters Ausbrüche von Wuth gezeigt« und auch bereits einmal heimlich aus dem Kloster entwichen und, wo er hinkam, »Furcht und Schrecken« verbreitet habe, wurde Frater Alexius als ein »für sich und der menschlichen Gesellschaft gefährliches Individuum«62 im August 1843 erstmals in Hall aufgenommen. Die Akte, die dort über ihn geführt wurde, ist umfangreich, insgesamt verbrachte er mehr als sechs Jahre in der Anstalt. In Hall, wo Frater Alexius auf seinen Bruder Anton G* traf, der dort insgesamt 13 Jahre lang Patient war, wurde anlässlich der ersten Aufnahme konstatiert, dass Strenge überhaupt nicht auf ihn wirke, wohl aber »Güte und Gemüthlichkeit«, dass 58 HA LKH, KA Männer 1859, Alexius [Alexander] G* I/345; 806, Krankengeschichte vom 10.8.1843. 59 P. Florian Nothegger, Das Franziskanerkloster zu Telfs, in: Geschichte des Franziskanerklosters zu Telfs. Festschrift zur 250-Jahr-Feier (Schlern-Schriften 144), Innsbruck 1955, 7–46, hier: 38. Die anlässlich der 300-Jahrfeier erschienene, reich bebilderte Festschrift: Johann Gapp (Red.), 300 Jahre Franziskaner in Telfs, Bozen 2004, enthält zum Untersuchungszeitraum nichts Neues. Nicht nur in Bezug auf Telfs ist festzustellen, dass die Geschichte der Klöster im 19. Jahrhundert im Verhältnis zu früheren Epochen kaum erforscht ist und vorhandene Klosterchroniken überdies noch kaum aufgearbeitet wurden. 60 HA LKH, KA Männer 1859, Alexius [Alexander] G* I/345; 806, Krankengeschichte vom 10.8.1843. 61 Ebd. 62 Ebd.

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Frater Alexius therapeutisch nicht behandelt werden könne, da er sich jeder Behandlung widersetzte, und dass der Wechsel der Aufenthalte in verschiedenen Klöstern keinen nachhaltigen Erfolg haben konnte, da er das Problem in seinem Habit überallhin – und nun auch in die Irrenanstalt – mitnehmen musste und nirgends ablegen konnte. In welchen Mauern auch immer, Halluzinationen und Geister gönnten ihm keinen Augenblick Ruhe, sie wohnten gewissermaßen unter seinem Habit. »Er hat es stets mit Geistern zu thun, die ihm keinen Augenblick Ruhe gönnen, ihn entweder mit Worten necken, oder durch seine Gurgel in seinen Corpus, wie er sich ausdrückt, fahren, dort herumwühlen und ein Stück nach dem andern von seinen Gedanken davon tragen, und ihm dann wieder letztere vorhalten. Unter diesen Geistern befinden sich aber noch gegenwärtig am Leben befindliche Personen, und er glaubt, daß wohl die Obrigkeit diese Ruhestörer abhalten und züchtigen könne, indem es nach den Gesetzen in eines jeden Privatrecht begründet sey, Ruhe fordern zu können und Sicherheit seiner Person, allein man wolle nur nicht helfen, daher fängt er auf alle geistlichen und weltlichen Obrigkeiten zu schimpfen an und will an eine höhere Instanz appellieren und wenn der Kaiser nicht Gerechtigkeit handhabe, wird er selbst diesen noch citieren und vor ein höheres Gericht fordern, damit diese Leibeigenschaft bestraft werde.«63

Beinahe tagtäglich beschäftigte sich Frater Alex mit der Herstellung von Rosenkränzen für seine Ordensbrüder oder verkroch sich unter einer Decke am Boden. Einsamkeit, so lautete ein Eintrag im Irrenprotokoll des Monats April 1845, wäre ihm Notwendigkeit geworden bzw. hätte ihn seine Geisterfurcht getrieben, »sich unter der Decke ein Asyl zu suchen«.64 Im seinem Kloster war Frater Alexius als Gärtner beschäftigt gewesen – und in der Anstalt versuchte man ihn wiederum im Garten zu beschäftigen. Davon wollte der Patient nun jedoch nichts mehr wissen. Im Sommer 1845 drohte Alexius sogar mit Kostabbruch, damit man ihn nicht mehr zum Arbeiten im Garten anhalte.65 Im Winter 1845 fasste Dr. Stolz den Zustand wie folgt zusammen: »G* benimmt sich um so ruhiger, je ungestörter er seinen Wahnvorstellungen nachhängen kann. Er bringt daher den größten Theil seines Hierseins in der Zelle liegend unter einer Decke zu. Seine Beschäftigung ist Rosenkränze zusammen ketten, welcher Beschäftigung er sich freiwillig unterzieht. […] Seine einzige Klage ist, daß er nicht vollkommen in Freiheit gesetzt werde, eine Klage, die nicht gehört werden kann. Seine Wahnvorstellungen sind bekannt.«66 63 Ebd., Irrenprotokoll September 1843. 64 Ebd., Irrenprotokoll April 1845. 65 Ebd., Irrenprotokoll Juli 1845. 66 Ebd., Irrenprotokoll Dezember 1845.



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Im August 1847 wurde vermerkt: »Er besucht den Garten, den Speisesaal, die Singschule, aber leider trägt er überall seinen verkehrten Kopf mit.« Im Garten, allerdings, sah er, »obwohl selbst Gärtner, lieber den Arbeitern zu«,67 als selbst zu arbeiten. Abbildung 2: Planzeichnung der k.k. Provinzial-Irren-Heilanstalt.

  Quelle: Johann Tschallener, Beschreibung der k.k. Provinzial-Irren-Heilanstalt zu Hall in Tirol, Innsbruck 1842, Anhang.

»Obzwar tief in seinem Wahn befangen, jedoch ruhig, reinlich und verträglich, könnte dieser auch in seinem Kloster leben«, bemerkte Anstaltsdirektor Dr. Johann Tschallener nicht ganz zwei Jahre später, schon längst wäre seine Entlassung beantragt, doch wäre es nicht einfach, für ihn einen Platz in einem Kloster zu finden, wie der Provinzial des Ordens dem Anstaltsdirektor mitteilte – ein Kloster, wo der Wahn »zu Ende gesponnen werden könnte«, ohne »in einer Heilanstalt hoffnungslos einem Heilbaren den Platz« zu versperren.68 Nach mehr als sechs Jahren Auf67 Ebd., Irrenprotokoll Mai 1849. 68 Ebd., Irrenprotokoll Juli 1849.

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enthalt wurde Frater Alexius am 1. Oktober 1849 »ungeheilt« entlassen und an das Franziskanerkloster in Hall übergeben. Zehn Jahre später wurde er erneut aufgenommen – diesmal allerdings nur für die Dauer eines Monats. Frater Alexius hatte sich in den vergangenen zehn Jahren verändert, er war nun 55 Jahre alt, hatte sich einen »mäßigen Schmerbauch« erworben und wog 170 Pfund. Über einen längeren Zeitraum hätte er »vielen Eigensinn und Trotz an Tag gelegt und durch seine hartnäckige Weigerung sich zu waschen, zu kämmen, Wäsche und Kleider zu wechseln, eine Unzahl von Läusen großgezogen«. Diese, nicht die Unholde, hausten nun also unter seinem Habit. Und dieser Zustand hätte auch verursacht, dass man ihn nun auf »mündliches Ersuchen des Hochw. Herrn Guardian dahier auf 1-2 monatliche Dauer aufgenommen u. zwar um 1tens einer durchgreifenden Reinigung u. Säuberung unterzogen u. 2tens wieder an Ordnung und Gehorsam gewöhnt zu werden.« Eindeutiger finden sich die Erwartungen der Institution Kloster an die Institution Irrenanstalt selten formuliert. Und so nahm man Frater Alexius sämtliche Kleidungsstücke ab, schnitt ihm die Haare kurz, badete ihn, kleidete ihn mit Anstaltskleidern ein und stellte ihn eine Weile im Männergarten zum Graben an, bevor er so rasch als möglich wieder an sein Kloster zurückgeschickt wurde. Die Diagnose lautete auf »partielle Verrücktheit.«69

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»Mit plötzlich überwältigender Vorliebe zur Dichtung«70 bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Pflichten gegenüber dem geistlichen Stand brach um 1850 die Krankheit des Kapuzinerpaters Marcellus aus Burgeis im Vinschgau aus. Marcellus B*, geboren 1819 und 1842 zum Priester geweiht, wurde das erste Mal im März 1851 von der k.k. Bezirkshauptmannschaft Brixen in die Irrenanstalt in Hall eingewiesen und mit der Diagnose »Allgemeine Verrücktheit« bzw. »Wahnwitz« ebendort aufgenommen. Im Oktober 1852 wurde er als »unheilbar«, aber auch als »unschädlich« an das Kapuzinerkonvent in Innsbruck entlassen. Drei weitere Einweisungen erfolgten 1855 und 1863. 1852 wurde in der über ihn in Hall verfassten Pathographie geschildert, wie sehr sich Marcellus ebenso wie zuvor sein Ordensbruder Pater Ferdinand nach einem umfassenden Bruch mit seiner Zeit im Kloster sehnte und das Leben in den Mauern der säkularen Anstalt geradezu begrüßte:

69 HA LKH, KA Männer 1859, Alexius [Alexander] G* I/345; 806, Irrenprotokolle Februar/März 1859. 70 HA LKH, KA Männer 1865, Marcellus [Mathias ] B* I/557; 680; 683; 980, Irrengeschichte 1852.



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»Er beabsichtigt für sich eine ehrenvolle freie Lebensstellung, will dem Kloster ganz entsagen, ist deshalb froh und vergnügt, hier zu sein, damit er nicht mehr zurück dürfe, die Jahre des Klosters haben ihn erschreckt, seien schwer gewesen, er habe daran genug bekommen, er sei froh, daß nun eine Änderung eingetreten sei, er will daher auch statt seiner Kutte eine andere Kleidung für sich anständig finden, wünscht freie Bewegung, angenehme Aussicht, ländliche Beschäftigung, er brauche nun nicht mehr zu beten, nicht Kirchen zu gehen, er sei nicht mehr Priester.«71

Dr. Thomas Lampodinger, der Autor einer umfangreichen Irrengeschichte zu Pater Marcellus, aus der dieses Zitat entnommen ist und die einen Teil der dichten und umfangreichen Krankenakte bildet, war Sekundararzt an der Haller Irrenanstalt. Lampodinger rekurrierte in seiner Irrengeschichte auf verschiedene, um 1850 immer noch aktuelle Diskurse innerhalb der anthropologisch argumentierenden frühen Psychiatrie, in denen zwar auch von somatischen Ursachen für Geisteskrankheiten die Rede war, letztlich aber doch eher psychische bzw. moralische Begründungen bemüht wurden.72 Er urteilte stark individualisierend, dass Pater Marcellus eine Veranlagung zu einer Geistesstörung habe, aber keine »selbst erworbene moralische Schuld« dafür verantwortlich zeichnete. Jedoch wäre der Körper durch Selbstüberschätzung und »geistige Schuld« zum Ort von Krankheit geworden, durch »Sachen, die das Innerste seines Selbst in Anspruch nahmen«: »Selbstschuld ist daran blos dies, daß eine geistige Überhebung auf einem unfruchtbaren Dichterlingsfeld vom Irren angestrebt wurde, mit seinen geringen geistigen Mitteln, die nicht hinreichen zu was immer für einer guten Dichtung; und daß er die Berufswahl nicht mit genügender Überlegung und Einsicht getroffen hatte. Dies ist alles geistige Schuld, ohne moralischen Antheil.«73 Pater Marcellus̕ Dichtkunst qualifizierte Dr. Lampodinger mit folgenden Worten ab: »Er macht Gedichte über Heilige, wobei wenig Heiliges ist, sondern flaches, phantastisches, wenig hochgehaltenes, wenig anziehungsfähiges, er schichtet das Geschriebene nach einer eigenen Ordnung zur Schau auf, hält es sehr werth und lobt es selbst als schön und werthvoll.«74 Für einen solchen, sich selbst überschätzenden »Dichterling« im Ordenshabit galt folgende Prognose: »Was 71 Ebd., Irrengeschichte 1852. 72 Zu den deutschsprachigen psychiatrischen Diskursen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe insb. Michael Kutzer, »Psychiker« als »Somatiker« – »Somatiker« als »Psychiker«. Zur Frage der Gültigkeit psychiatriehistorischer Kategorien, in: Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, hg. von Eric J. Engstrom / Volker Roelcke, Mainz 2003, 27–47. 73 HA LKH, KA Männer 1865, Marcellus [Mathias ] B* I/557; 680; 683; 980, Irrengeschichte 1852. 74 Ebd.

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aber für ein End-Loos erfolgen werde, läßt sich wohl an andern ähnlichen Leidensgefährten wahrnehmen; er wird nie ein Mann der Berufstauglichkeit werden, wird aber in einem erträglichen zu etwas verwendbaren Zustand kommen, wenn man ihm erlaubt, nach seinen Phantasien, Einbildungen und Sehnen zu leben.«75 In welchen Mauern aber konnte ihm solches erlaubt werden? Lampodingers konkrete Behandlungsvorschläge beschränkten diesen schwer zu überwachenden Raum der Phantasie, der Einbildung und des Sehnens. Vereinzelte, streng kontrollierte Zugeständnisse an Pater Marcellus, diesen Raum – das »Dichterlingsfeld« – innerhalb der Mauern aufzusuchen, wären sogar nach und nach zurückzunehmen: »Untersagung seiner übertriebenen Dichtelei; Beachtung aller seiner Schreibereien und genauere Berutheilung derselben, Gutheißung bloß desjenigen, was ihn nicht in seinem Krankheitszustand unterhält, sondern mehr in die gewöhnlichen Lebensverhältnisse zurückbringt. Ferner bloß beschränkte Bewilligung des Dichtens überhaupt, denn wenn man ihm gleich alle Dichtelei, solang sie einfach und unwichtig bleibt, anfangs nicht untersagen kann, um ihn nicht ganz verdrossen zu machen, so ist doch nach und nach dahin zu trachten, ihn auf geeignete Weise nach und nach abzubringen und ihn von der Schädlichkeit derselben in seinen Verhältnissen zu überzeugen.«76

Tabelle 1: Auszug aus dem Verlaufs- oder Irrenprotokoll vom März 1851. 16. Ersucht um Schreibgeräthe 18. Schreibt ordentlich 20. Schreibt äußerst klein 23. Schreibt einen Brief an die Brixner Consorten ordentlich 24. Dichtet Novellen von Heiligen 26. Will sich auch im Cytherspielen üben Quelle: HA LKH, KA Männer 1865, Marcellus [Mathias ] B* I/557.77

Um nun Pater Marcellus’ Aufenthalt im Phantasieraum einzuschränken, wurde folgende individualisierte Raum- und Zeitstrukturierung empfohlen: »Man baue vor, daß er nicht abgeschlossen in Orten herumsitze oder gehe, halte ihn mehr in der genauen Tagesordnung, ohne Ausnahmen ihm zu erlauben, schließe seine Zelle nicht ab, weil seine Geisteskrankheit keine derartige Beschränkung erfordert, sondern lasse ihn dem Verkehre offen, wehre blos [sic] die bedeutenderen Außeneinflüsse jeder Art von ihm ab, um weder Körper noch Seele zu beeinträchtigen […].«78 Die75 Ebd. 76 Ebd. 77 Ebd., Irrenprotokoll März 1851. 78 Ebd., Irrengeschichte 1852.



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ses räumliche und zeiträumliche Arrangement als therapeutisches Mittel für Pater Marcellus unterschied sich nun nicht wesentlich von der vorausgegangenen Behandlung bei den Ordensbrüdern in Brixen, die ebenso wie auch in der Irrenanstalt auf der Trias Hausordnung, Bewegung und Diät beruhte. Im Kloster wurde Pater Marcellus, dem ärztlichen Einweisungsgutachten zufolge, für einige Zeit noch zusätzlich der Konsum von Wein verboten, er wurde in ein anderes Kapuzinerkloster versetzt, für das er früher eine besondere Vorliebe gehabt haben soll, sowie für Bewegung und Beschäftigung gesorgt. Erst nachdem diese Maßnahmen nicht halfen und nachdem Pater Marcellus zudem wiederholt dem Kloster entlief, wurde er in eine Klosterzelle eingesperrt und in direkter Konsequenz dieser Maßnahme beobachteten die Mitbrüder und der behandelnde Arzt »sichtbare Steigerung des Irrsinns«, wobei Pater Marcellus versuchte, sich mit einer Glasscherbe die Pulsader zu öffnen.79 Als Marcellus B* im Oktober 1852 als ungeheilt wieder an das Kloster zurück entlassen wurde, geschah dies gegen den wiederholt ausgesprochenen Willen des Patienten: »Sein Hauptwunsch war immer, hier zu bleiben, er äußerte sich sehr ungehalten, wie er hörte, daß er wegmüße.«80 Im Mai 1855 erfolgte auf Grundlage eines an die Bezirkshauptmannschaft Brixen adressierten ärztlichen Gutachtens und Antrags eine zweite Einweisung in die Irrenanstalt Hall. Pater Marcellus̕ Zustand im Kloster Brixen – er wurde dort nun in seiner Zelle fixiert – hatte sich verschlechtert und gesteigert zu »manicalischen Anfällen mit sehr heftigem Triebe zum Lärmen, zur Zerstörung aller erreichbaren Gegenstände, zur Beschädigung seiner Umgebung und vorzüglich zur Flucht, zu welchem Zwecke er sich auf jeder Weise seiner Bande zu entledigen eifrig bestrebt war.« Pater Marcellus gelang einmal sogar durch »Schlauheit« die Flucht aus dem Kloster, wobei er, so das Einweisungsgutachten, infolge »des Entwischens und mehrtägigen Herumvagirens« mehrere kleinere Verletzungen erlitt. Aus diesem Grund appellierte das Gutachten an die Bezirkshauptmannschaft als zuständige Obrigkeit: »Nachdem nun das daige Kapuzinerkloster nicht die hinreichenden Kräfte und Mittel zu seiner ferneren gehörigen Bewachung bietet, so muß hiemit von ärztlicher Seite der dringende Antrag gestellt werden, daß obbemelter Irrer zu seiner eigenen wie auch zur allgemeinen Sicherheit ehestens einer geeigneten Versorgungsanstalt übergeben werde.«81

79 Ebd., Krankgengeschichte des irren Kapuziner Paters Marzellus B*, datiert Brixen 16.2.1851. 80 Ebd., Irrenprotokoll Oktober 1852. 81 Ebd., Antrag an die k.k. Bezirkshauptmannschaft Brixen, 1.5.1855. Bezüglich der »hinreichenden Kräfte und Mittel« des Brixner Kapuzinerklosters siehe auch die Angaben im Schematismus aus dem Jahr 1850, wonach die Ordensgemeinschaft vor Ort aus neun Priestern, sieben Klerikern und acht Laienbrüdern bestand.

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Die Verlaufsprotokolle über Pater Marcellus’ zweiten Anstaltsaufenthalt schilderten ihn hingegen als einen Patienten mit »totaler Verrücktheit mehr ruhiger Art«.82 Das Toben, Lärmen und Zerstören schien sich in seinem Fall auf das Kloster beschränkt zu haben. Nur wenn man ihn beleidige, so heißt es im November 1856, rege er sich auf und schlage um sich, er störe niemanden, gehe täglich in den von Mauern umgebenen so genannten Tobhof spazieren.83 Den Großteil seiner Zeit im Irrenhaus schien Pater Marcellus allerdings knieend und betend in seiner Zelle zu verbringen, wo er auch »eine unsichtbare Schrift schreibt, u[nd] nach etwas Verlorenen aufs genaueste den ganzen Boden durchsucht.«84 Dass sich Marcellus B* im Mai 1861 wieder mit »Abschreiben« beschäftigen ließ, wurde als Verbesserung seines Zustands verbucht. Nun ließ er sich bei den Gottesdiensten in der Anstaltskapelle als Ministrant »verwenden« und leitete auch öfter das Rosenkranzbeten.85 In diesem Zustand wurde Pater Marcellus als gebessert im Winter 1861 an das Klosterkonvent in Innsbruck entlassen. Ein neuerliches ärztliches Gutachten des Innsbrucker Stadtphysikus, das der vierten Anstaltseinweisung des Paters im Jahr 1863 vorausging, befand jedoch, dass dort – wie vor Jahren schon im Kloster Brixen – für die Sicherheit der Person und des Lebens des nunmehr 44-Jährigen nicht gesorgt werden könne, »[…] weßhalb für nothwendig erachtet wird, daß derselbe aus dem Kloster entfernet und auf einige Zeit der löbl. Irrenanstalt zur Beobachtung übergeben werde.«86 Blass und abgemagert wurde Pater Marcellus auf einem eigenen Wagen in die Anstalt gebracht. Dort soll er sich »einsichtig« gezeigt haben, dass seine im Kloster ausgeführten Selbstverletzungen unrecht und dumm gewesen wären (er stieß mit dem Kopf an die Wand und brachte sich Wunden bei, indem er sich Nägel in den Fußrücken stieß [!], »allein er sagt, er habe es müssen«.87 Im Dezember 1863 wurde das Verhalten des wiederum in weltlicher Kleidung gewandeten und in einer nicht versperrten Separatzelle untergebrachten Paters wie folgt geschildert: »Benimmt sich ruhig und gelassen. Ist gesprächig u[nd] hat durchaus kein Verlangen, die Anstalt zu verlassen, da es hier feiner sei, als im Kloster.«88 Am 1. Februar wurde ihm die baldige Rückkehr in das Kapuzinerkloster in Aussicht gestellt, »worüber er wenig erbaut« gewesen sei. Am folgenden Tag »rannte er mit Kopf gegen den Rand des Billard.« Ein paar Tage später freute er sich, »daß er bis auf Weiteres in 82 HA LKH, KA Männer 1865, Marcellus [Mathias ] B* I/557; 680; 683; 980, Irrenprotokoll November 1856. 83 Ebd. 84 Ebd., Irrenprotokoll Januar 1857. 85 Ebd., Irrenprotokoll Mai 1861. 86 Ebd., Ärztliches Gutachten des Stadtphysikus Dr. Mayrhofer an die Provinzial-Irrenhaus Direction in Hall, Innsbruck 2.10.1863. 87 Ebd., Irrengeschichte 1865. 88 Ebd., Irrenprotokoll Dezember 1863.



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unserer Anstalt bleiben darf«, und am 11. Februar, es war Faschingszeit, notierte der Sekundararzt in das Irrenprotokoll, dass auch das »Paterle« bei der vorgestrigen Unterhaltung sein Tänzchen gemacht habe.89 Gegen Ende des letzten Anstaltsaufenthalts des Pater Marcellus in Hall hieß es nun: »Der Zustand des Patienten [ist] immer derselbe, macht allerlei lächerliche Gesten, spricht ohne Zusammenhang u[nd] allerlei tolles Zeug durcheinander, im übrigen jedoch ist er harmlos und ungefährlich.«90 Der Zeitpunkt schien gekommen, ihn endgültig an die Pater Kapuziner in Innsbruck zurückzuschicken. Darüber, wie es Marcellus B* dort erging, nachdem er den Aufenthalt in den Mauern der Irrenanstalt über so viele Jahre dem Kloster vorgezogen hatte und diesen nicht zuletzt durch Selbstverletzungen auch erwirken konnte, ist nichts bekannt. Dem Nekrologeintrag ist zu entnehmen, dass Pater Marcellus bis zu seinem Lebensende geistesgestört blieb und von seiner Vernunft keinen Gebrauch mehr machen konnte.91

F AZIT : I NKLUSION , E XKLUSION G RENZEN DES R AUMS

AN DEN

Der von den historischen Akteuren erfahrene Sozialraum, die historische Irrenanstalt in Hall in Tirol, weist selbst eine bemerkenswerte Geschichte unterschiedlicher Raumnutzungen auf, zunächst als Kirche seit 1650, als Kloster im frühen 18. Jahrhundert, Beinahe-Kaserne um 1800, psychiatrische Heilanstalt seit 183092 bis her89 Ebd., Irrenprotkoll Februar 1864. 90 Ebd., Irrenprotokoll Oktober 1865. 91 PA Kapuziner, Mortuale (wie Anm. 47) 2127. 92 An der Stelle der späteren Anstalt wurde 1650 unter dem Patrozinium der beiden Schutzheiligen gegen die Pest und andere Seuchen, Sebastian und Rochus, eine Kirche errichtet. Im Jahre 1720 stiftete Freiherr Franz von Enzenberg 25.000 Gulden zur Errichtung eines Klarissenklosters, das 1723 von sechs Nonnen aus Brixen bezogen worden war. Diese Vorgeschichte der Anstalt endete bereits nach wenigen Jahren mit der Auflassung des Klosters 1732, die Nonnen verließen den Ort, die Klostergründe wurden eingezogen, das verwaiste Gebäude teilweise durch Brand zerstört. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaufte der Stadtmagistrat den restlichen Baubestand um 4.000 Gulden, um ihn in eine Militärkaserne auszubauen, was sich letztlich aber als zu kostspielig für die Stadt erwies. Nach den Kriegsjahren und nach Errichtung der neu erschaffenen modernen territorialen Einheit, dem Kronland Tirol und Vorarlberg (1815), erklärte schließlich 1819 eine Kommission den Ort als geeignet zur Errichtung einer neuen modernen Irrenanstalt für die neu organisierte medikale Landschaft, worauf der Aus- und Umbau allerdings erst 1826 um 38.000 Gulden Conventionsmünze in Angriff genommen wurde. Die Eröffnung der k.k. Provinzial-Irrenanstalt erfolgte am 1.9.1830. Siehe: Franz v. Zimmeter-Treuherz, Die

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auf zum modernen Krankenhaus; eine Geschichte, auf die in diesem Beitrag nicht näher eingegangen wurde. Herausgearbeitet wurde jedoch, dass sich mit einer auf individuelle corpora intra muros zentrierten Sichtweise anhand von in Krankenakten überlieferten Aussagen Fragen zur alltäglichen Konfrontation und einem Arrangement mit und innerhalb dieser Räume stellen lassen. Die hier präsentierten Fallgeschichten aus der historischen Anstaltspsychiatrie berühren unterschiedliche Aspekte des Verhältnisses von Raum und Körper und rücken das Kloster als zusätzlichen Sozialraum mit in den Blick. Thematisiert werden in den ärztlichen Gutachten und Irrengeschichten als Bestandteile der psychiatrischen Krankenakte biographische Brüche und das persönliche Scheitern von Religiosen, die – aus der Sicht zeitgenössischer Ärzte – letztlich nicht fähig waren, sich die klösterliche Lebensordnung, die nicht ihrer »Natur« entsprach, auf Dauer »zur Gewohnheit zu machen«, und die dann aus »allen Schranken« brachen, wenn »das Gefühl des Unvermögens zu mächtig wurde«.93 Eine nachträgliche Korrektur der falschen Berufsentscheidung war nämlich nicht möglich, Dispens kaum zu erwirken, von einem Mut zum Scheitern und einem Neuanfang in der Krise war weder seitens der Klostergemeinde noch der Ärzte die Rede.94 Jedoch wurden jene betroffenen Individuen, die in den psychiatrischen Akten greifbar werden, auch von ihren Klosterangehörigen durchaus als Geisteskranke und nicht als Abtrünnige oder Sünder behandelt. Sie erfuhren entsprechende Behandlungen und Einsperrungen zunächst im Kloster, bevor sie von dort in die Anstalt eingewiesen wurden und dann oft monate- und jahrelang auf eine Entlassung warteten. Einer Einweisung in die Irrenanstalt gingen in den hier erzählten Fällen also stets Behandlungsversuche im Kloster, diesen wiederum Besserungsversuche und wenn möglich eine Versetzung in ein anderes Kloster voraus, behandelt wurde im Klosterraum außerdem mit ähnlichen therapeutischen Fonde. Anstalten und Geschäfte der Tiroler Landschaft geschichtlich und sachgemäß dargestellt, Innsbruck 1894, 585 f. 93 HA LKH, KA Männer 1865, Marcellus [Mathias] B* I/557; 680; 683; 980, Irrengeschichte 1852. 94 Aus der (offiziellen) Sicht des katholischen Kirchenoberhaupts existierte das Problem schlichtweg nicht. Fürstbischof Bernhard Galura betonte hingegen, dass die Bestimmungen über Ordenskleid, Klausur, Chorgebet etc. sämtlich eingehalten und Dispensen nicht leicht und nicht ohne Grund gewährt würden. Zucht und Ordnung wären »seit langer Zeit ohne wesentliche Störung und gegen kein Glied der Klöster liege in der Öffentlichkeit ein Bedenken vor.« Eduard Hosp, Kirche Österreichs im Vormärz 1815–1850, Wien / München 1971, 70. Mit kaiserlicher Entschließung vom 27.6.1827 über eine Reform der Klöster waren alle Bischöfe verpflichtet, alle drei Jahre Visitationen durchzuführen, wobei sie das Visitationsrecht dem jeweiligen Ordensprovinzial überlassen konnten und Berichte und Fragebögen von den Klöstern eingefordert wurden. Siehe dazu: Hohenegger / Zierler, Geschichte der Tirolischen Kapuziner-Provinz (wie Anm. 16) 309.



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Mitteln wie im Irrenhaus. Der von der Melancholie oder Tobsucht zu befreiende Körper stand ebenso wie die Seele im Blickfeld. Allerdings ist die Patientengruppe der psychisch kranken Ordensangehörigen in der Anstalt relativ klein. Wie Ordensgemeinschaften mit milderen Erkrankungsfällen und verwirrten Klosterangehörigen in ihren Reihen umgingen, unter welchen Umständen diese in den eigenen Mauern verwahrt wurden, wann und wie tiefgreifend der Medikalisierungsprozess auch auf Klostergemeinschaften einwirkte und psychiatrisches Wissen auch intra muros des Klosters zirkulierte, sodass brüskierendes oder herausforderndes Verhalten nunmehr auch als krank angesehen werden konnte, ist nicht pauschal zu beantworten, jedoch: das ersehnte Wirtshaus auf dem Lande als Rückzugsort stand im 19. Jahrhundert nicht zur Verfügung und Nonnen, die ihre Profess bereits abgelegt hatten, wurden im Krisenfall wohl weiterhin mit allen Mitteln daran gehindert, das Kloster zu verlassen, und unter noch strengere Aufsicht gestellt.95 Die in diesem Beitrag behandelten Fallbeispiele weisen darauf hin, dass die tatsächlichen Therapiemöglichkeiten beschränkt bzw. der moralisch-kurative Einfluss der Irrenärzte eingestandener Weise auch in der Heilanstalt begrenzt war, eine eigentliche Heilung wurde in den hier referierten Fällen schon bald nicht mehr ins Auge gefasst. Dennoch wurde die Entlassung oftmals weit hinausgeschoben, zog sich der Rücktransfer in irgendeine Klosterniederlassung innerhalb der Ordensprovinz über mehrere Monate hin und war schwierig. Die verwendeten Krankenakten geben über diesbezügliche Probleme des ärztlichen Direktors, einen geeigneten Verwahrungsort alternativ zur Heilanstalt zu finden, Auskunft.96 Entscheidungspro-

95 Vgl. Dopsch, Klöster als Orte der Verwahrung (wie Anm. 5) 317. Aus der Literatur, so der Kirchenhistoriker und Theologe Ulrich L. Lehner, sei auch allgemein bekannt, »dass Klöster geisteskranke oder mental instabile Mitglieder inkarzerierten.« Im Kloster seien im Unterschied zur säkularen Welt sogar leichtere Fälle geistiger Verwirrung von Wegsperrung betroffen gewesen: Ulrich L. Lehner, Mönche und Nonnen im Klosterkerker. Ein verdrängtes Kapitel Kirchengeschichte, Kevelaer 2015, 19. In den österreichischen Erbländern waren die Klosterkerker allerdings per Verordnung vom 31.8.1771 abgeschafft worden – was allerdings nicht heißen muss, dass es nun gar keine Korrektionszimmer mehr gegeben hätte: Ein locus Correctionis & Detentionis, der regelmäßig gesäubert werden musste und jederzeit visitiert werden konnte, war weiterhin erlaubt. Vgl. Christine Schneider, Beziehungen und Schwierigkeiten zwischen Klosterschwestern und ihren Oberinnen, in: Personal und Insassen von »Totalen Institutionen« – zwischen Konfrontation und Verflechtung, hg. von Falk Bretschneider / Martin Scheutz / Alfred Stefan Weiß, Leipzig 2011, 85–104, hier 98. 96 Es wäre lohnenswert zu überprüfen, ob die Akten der Klosterarchive dazu noch mehr Material, insb. den Schriftverkehr zwischen dem Kloster und der Anstalt, enthalten. Eine erste Anfrage im PA der Kapuziner in Innsbruck ergab, dass keine Personalakten aus dem

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zesse über das weitere Schicksal der Patienten wurden – im zeitgenössischen Kontext kaum verwunderlich – hinter den Rücken der Betroffenen geführt. Dabei dürften zumindest teilweise auch divergierende Erwartungshaltungen eine Rolle gespielt haben: Während sich das Kloster vorrangig eine sichere Verwahrung des erkrankten und die Gemeinschaft störenden Klostermitglieds wünschte,97 teilte die Irrenhausdirektion zumindest in den ersten Jahrzehnten das Heilungsparadigma zeitgenössischer Irrenreformer, welches die Anstaltsgründung überhaupt erst legitimiert hatte. Doch ein für die Behandlung und Verwahrung psychisch erkrankter Menschen ausgestatteter einschränkender Raum, der nach Ansicht des Direktors und Primararztes der Haller Irrenanstalt Dr. Johann Tschallener all die Eigenschaften aufweisen sollte, »welche ein wahres Irrenzimmer haben muß«, befand sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts selten intra muros einer dafür spezialisierten Anstalt. Als pragmatisch-praktizierender wie standespolitisch agierender Irrenarzt des 19. Jahrhunderts unterschied Johann Tschallener daher strategisch zwischen »Lokalien« für »brave Irre« einerseits und gut zu überwachenden Räumen für die »Gefährlichen« andererseits, in denen sich – im Klartext gesprochen – vor allem nichts befinde, »etwas daran zu befestigen, wenn es dem Kranken einfiele, sich zu erhängen.«98 Der begrenzt vorhandene Raum innerhalb der zeitgenössischen »Irrenheil19. Jahrhundert vorhanden sind, auf eine weitergehende Recherche musste vorerst aus Zeitgründen verzichtet werden. 97 Die Forschungsliteratur zur Geschichte ordensinterner Disziplinarmaßnahmen in der Neuzeit ist insgesamt überschaubar. Siehe dazu zuletzt das Buch des Theologen Ulrich L. Lehner, Mönche und Nonnen (wie Anm. 95), das kursorisch anhand exemplarischer Fälle die Frühe Neuzeit bis zur Aufhebung der Klostergefängnisse im 18. Jahrhundert abdeckt und sich besonders auf die Orden der Kapuziner und Franziskaner bezieht. 98 Tiroler Landesarchiv Innsbruck, Jüngeres Gubernium Sanität 1841, Akten betreffend »Irren Localien Errichtung in Spitälern 1839, 1840, 1841: Nr. 18711 772/Sanität, Johann Tschallener an das Landesgubernium, Juli 1840. Im März 1839 hatte sich der Direktor der Irrenanstalt in Hall, Dr. Johann Tschallener, mit einer Note wegen des »immer fühlbarer werdende[n] Bedürfnis einer sicheren und angemessenen Unterbringung« an den ständigen Ausschuss-Kongress gewandt. Eine Erweiterung der bestehenden Irrenanstalt zu einer Heil- und Pflegeanstalt wurde beinahe über das gesamte 19. Jahrhundert gefordert. Entsprechende Initiativen scheiterten regelmäßig aus Kostengründen. Siehe dazu: Heidegger / Seifert, »Nun ist aber der Zweck« (wie Anm. 12). Gewissermaßen als provisorische »Zwischenlösung« sollten die Kreisspitäler ebenfalls entsprechende Räumlichkeiten einrichten. 1839–1841 wurden die Kreisärzte vom Gubernium aufgefordert, in ihren Kreisbeschreibungen entsprechende Berichte über vorhandene Lokalien in den Kreisspitälern aufzunehmen. Diese Berichte stellen bemerkenswerte Quellen für eine neuere de-zentralisierte Psychiatriegeschichte dar, die nicht mehr ausschließlich auf einen zentralen Anstaltsort fokussiert.



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anstalt« war nach Möglichkeit reserviert zu halten für diese für sich selbst und ihre soziale Umgebung so genannt gefährlichen, vor allem jedoch für die heilbaren Irren, für die der Einschluss in die Anstalt als therapeutische Notwendigkeit gesehen wurde.99 Dies war, knapp zusammengefasst, der offizielle Standpunkt der Irrenhausdirektion. Das Paterle auf der Faschingsveranstaltung gehörte demnach gewiss nicht zum statuarisch begründeten Adressatenkreis. Auf der anderen Seite erschien den jeweiligen Klosteroberen in den zitierten Fallbeispielen die Einsperrung der Religiosen intra muros einer Anstalt in bestimmten, oft nur angedeuteten Konflikten und Krisensituationen notwendig für die Zurückbleibenden wie für die zeitweise aus ihren Gemeinschaften Ausgewiesenen, wobei eine Heilbehandlung den Belegstellen in den Quellen zufolge eben nicht die primäre Motivation für die Einweisung in das Irrenhaus darstellte. An eine konkrete Situation gebundene Praktiken der Inklusion und Exklusion spielten offenbar stets die entscheidende Rolle, wie anhand fragmentarisch geschilderter Situationen überaus deutlich wird. Um zusammenzufassen: Krankenakten ergeben – indirekt bzw. mit dem eingangs beschriebenen Erkenntnisinteresse gegen den Strich gelesen – Auskünfte über die Wahrnehmungen und Erfahrungen des Eingesperrt-Seins und des Ausgesperrt-Werdens. Dabei entsteht ein Bild vielfältiger, meist mit biographischen und räumlichen Brüchen verknüpfter Formen der Inklusion und Exklusion, des ZumAußenseiter- oder Zur-Außenseiterin-Werdens100 innerhalb der Welt katholischer Geistlichkeit, das durch Hinzufügen weiterer Beispiele, etwa aus den Reihen der im selben Zeitraum (1830–1863) in Hall behandelten 26 Weltpriester, zusätzliche Facetten erhielte.101 99 Vgl. zur Institutionalisierung der Psychiatrie als Anstaltspsychiatrie, für die intervenieren gleichbedeutend mit internieren war, im 19. Jahrhundert: Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen 2010, 13. 100 Christine Schneider hält fest: »Nonnen, die sich den klösterlichen Zwängen und Selbstzwängen nicht unterwerfen wollten oder konnten, mussten in der Enge und Abgeschlossenheit der Klausur zwangsläufig zu Außenseiterinnen werden. Unglückliche, unzufriedene und/oder psychisch kranke Nonnen belasteten das Gemeinschaftsleben. Von ihren Oberinnen und Mitschwestern wurde ihnen vorgeworfen, dass sie die Ruhe und Ordnung des Klosters und damit das friedliche Zusammenleben störten. Da ein Austritt aus dem Orden nicht möglich war, mussten für alle disziplinären und zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, wozu auch psychische Krankheiten zählten, Lösungen innerhalb der Abgeschlossenheit der Klausur gefunden werden.« Schneider, Beziehungen (wie Anm. 95) 98. 101 Zumindest zwei der in Hall behandelten Weltpriester waren zuvor im fürstbischöflichen Korrekturhaus in Brixen verwahrt worden und verfügten somit wohl ebenfalls über Raumerfahrungen des Eingesperrt-Seins. Zum Korrektur- bzw. Defizientenhaus in Brixen liegen bislang allerdings keine publizierten Einzelforschungen vor. Christoph Hartung

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Von besonderem Interesse hinsichtlich der eingangs gestellten Fragen erwiesen sich die in die monatlichen Verlaufsprotokolle bzw. Irrenprotokolle eingestreuten Äußerungen und Wünsche der Patientinnen und Patienten. Auffallend oft finden sich darin Hinweise, dass Patienten das Leben in der Anstalt dem Kloster als das geringere Übel vorzogen, mehr noch, sich aus beiden Häusern, dem Kloster und der Anstalt, fortwünschten. Abgesehen von einer in der Rückschau schwer zu rekonstruierenden psychischen Erkrankung, waren und wurden die betroffene Klosterfrau und die betroffenen Ordensbrüder konfrontiert mit existentiellen Fragen freiwilliger oder unfreiwilliger lebenslänglicher Mitgliedschaft, für die sich in der Realität kaum eine Antwort finden ließ. Letztlich unterlag der gesamte Lebensvollzug an beiden Orten, dem Kloster wie der Anstalt, umfassender Kontrolle. Persönliche Rückzugsräume gab es kaum, doch fand sich in den hier referierten Geschichten noch eher in der Anstalt als im Kloster das erwähnte Asyl unter der Decke,102 eröffnete sich dem Pater »das Feld der Dichtelei«, standen zur Zerstreuung die Bücher der Anstaltsbibliothek zur Verfügung,103 konnte die Nonne Besuche von männlichen Familienangehörigen empfangen, die in die klösterliche Klausur nicht ohne Weiteres eindringen durften. Zum Teil ordneten sich Ordensleute als Patientinnen und Patienten relativ problemlos der Hausordnung unter, ähnliche Reglements und Zeitregime waren ihnen aus dem Klosteralltag vertraut. Aber gerade die vertrauten Anstaltsregeln konnten für diese Patientengruppe ebenso leicht das Potential subvon Hartungen weist in seiner Dissertation auf einen Inspektionsbericht des Distriktarztes Florineth von Mühlbach vom Oktober 1828 in den Kreisamtsakten von Bruneck über die Zustände im Brixner Priesterseminar, mit Entgegnungen des Regens Michael Feichter und Gegenentgegnung Florineths, hin, worin auch ein dem Brixner Priesterseminar angeschlossenes Korrektionshaus erwähnt wird, in dem drei Priester gestorben sein sollen: Christoph Hartung von Hartungen, Studien zur Sozialgeschichte Tirols im Vormärz (1814–1848) [Diss.] Innsbruck 1985, 172–178. Vgl. die aus sozialhistorischer Sicht bahnbrechende Arbeit von Irmtraud Götz von Olenhusen, Klerus und abweichendes Verhalten. Zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert: Die Erzdiözese Freiburg, Göttingen 1994. 102 Vgl. zur Aneignung des Bettes als »proxemischen Ort« (Barthes), als Territorium des Selbst bzw. Raum im Raum, als Versteck und Mikrokosmos: Monika Ankele, Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn, Wien / Köln / Weimar 2009, 145–150. 103 Schneider Ursula A. / Steinsiek Annette, »Die Lektüre der Pfleglinge«. Ein literaturwissenschaftlicher Blick auf die historische Bibliothek des Psychiatrischen Krankenhauses Hall, in: Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, hg. von Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann J.W. Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser, Innsbruck 2011, 99–107.



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versiver Alltagspraktiken und expliziten Protestverhaltens darstellen: etwa in der Weigerung des im Kloster gärtnerisch tätigen Laienbruders, im Anstaltsgarten zu arbeiten oder den Gottesdienst zu besuchen. Von besonderer, symbolisch hoch aufgeladener Bedeutung erwies sich in den hier präsentierten Fällen die Ablehnung des Ordenshabits bzw. die bewusste Entscheidung für weltliche (Anstalts-)Kleidung. Am eindrücklichsten lassen die in den Krankenakten dokumentierten, jeweils gescheiterten Fluchtversuche aus dem Kloster sowie auch aus der Anstalt Rückschlüsse auf die erlittenen Erfahrungen der Einsperrung der corpora intra muros schließen.

Pflichtlektüren Die Erfindung der Gefängnisbibliothek und Spuren ihrer Um-/Nutzung in Cesare Lombrosos Kerker-Palimpsesten P HILIPP H UBMANN / M ARA P ERSELLO »Wie sollen wir den [schlechten Verbrechern] den Mund stopfen? Und wenn dies nicht gelingen will: wie sollen wir den Bessern die Ohren stopfen? Durch Bücher, die wir ihnen geben, und deren fleissigen Gebrauch wir ihnen fort und fort an’s Herz legen.« ALFRED BIENENGRÄBER, DIE WICHTIGKEIT DER BIBLIOTHEK UND DEREN HANDHABUNG, 1877

Im Juli 2013 feierte eine Serie auf dem Online-Portal Netflix ihre Premiere, die auf Piper Kermans Autobiografie My year in a Women’s Prison basiert.1 Im Zentrum des Geschehens in Orange is the new black steht die fiktive Figur der Piper Chapman, die aufgrund von Drogenschmuggel für 15 Monate in einem staatlichen minimum-security-Frauengefängnis landet. Dort bemerkt sie schnell, dass die Bibliothek einer der wichtigsten Verständigungsräume der Haftanstalt ist.2 Denn die Insassinnen haben in der Bibliothek nicht nur die Möglichkeit, Bücher zu entleihen und über diese zu sprechen, sie bietet ihnen auch die Gelegenheit, geheime Nachrichten auszutauschen und sogar gefährliche Liebschaften mit dem Gefängnispersonal anzubahnen. Neben dieser Inszenierung diskreter Versteckspiele wandte sich die auf 13 Staffeln angelegte Serie mehrmals dezidiert der Lektüre der Gefangenen zu.

1

Piper Kerman, My year in a Women’s Prison, New York 2011.

2

Zu Bibliothekdarstellungen im Film vgl. u.a. Dario D’Alessandro, Hauptrolle Bibliothek. Eine Filmographie, übers. v. Karin Heller, Innsbruck / Wien / München 2002.

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Diese Aufmerksamkeitslenkung ging auch an der Rezeption der Serie nicht spurlos vorüber. Ein Blog beispielsweise dokumentiert die Leselisten des Charakters Alex und scannt deren Bücherregal systematisch ab. Dabei kommt eine eklektische Lektüre zum Vorschein, die von Alex Grecians The Yard über Gaston Bachelards The Poetics of Space bis hin zu einem Yoga-Ratgeber und einem Hawaiian Phrase Book reicht.3 Ein anderer Blog wiederum verzeichnet alle Anspielungen auf literarische Werke, die in der Serie vorkommen.4 Die Erfindung der Gefängnisbibliothek lässt sich in einen historischen Wandel des Justizwesens einordnen, der seit der Aufklärung darauf abzielte, Kriminelle mit der Haft nicht mehr nur zu bestrafen, sondern sie auch zu bessern bzw. zu resozialisieren.5 Im Rückgriff auf die liberalen Rechtsdiskurse setzte sich um 1800 in Politik und Wissenschaft mehr und mehr die Überzeugung durch, dass der Staat durch körperliche Bestrafungen in der Bevölkerung an Kredit einbüßt. Dieser Legitimationsverlust lässt sich schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts beobachten, als das Publikum bei öffentlichen Hinrichtungen wiederholt Solidarität mit den Verurteilten bekundete. Das absolutistische Theater des Tötens, das einst Tausende von Schaulustigen angezogen hatte, verlor unter den Bedingungen tiefgreifender politischer, sozialer und ökonomischer Transformation im langen 19. Jahrhundert in den Augen der Bevölkerung zunehmend an Reiz. Die Absenkung der gerichtlichen Toleranzschwelle bei der Bekämpfung von revolutionären Umtrieben im Vormärz ließ selbst unter dem vermeintlich unpolitischen Bürgern zunehmend Zweifel an der Rechtund Zeitgemäßheit der Marter aufkommen. Denn die Brutalität der körperlichen Strafen schienen so gar nicht zu der allgegenwärtigen Bildungs- und Humanisierungsoffensive zu passen, die doch an anderer Stelle u.a. durch die Einrichtung von 3

Vgl. hierzu: http://booksofoitnb.tumblr.com/, 8.11.2015.

4

http://www.buzzfeed.com/jarrylee/orange-is-the-new-black-season-3-books#.dbYl09qnP,

5

Die Forschung hat sich erst ab den 1970er Jahren mit Gefängnisbibliotheken beschäftigt.

8.11.2015. Mit Dank an Nadia Brügger für diesen Hinweis. Zumeist stehen dabei zeithistorische Aspekte im Zentrum der wissenschaftlichen Befragung. Ein Blick auf die Anfänge der Gefängnisbibliotheken in Deutschland stellt sowohl kultur- wie auch medienhistorisch ein Desiderat dar. Vgl. Jean-Louis Fabiani, Lire en prison. Une étude sociologique, Paris 1995; Janet Fyfe, Books Behind Bars – The Role of Books, Reading, and Libraries in British Prison Reform 1701–1911, Westport / London 1992; Thomas Sutter, Lesen und Gefangen-Sein. Gefängnisbibliotheken in der Schweiz, Wiesbaden 2015; Brenda Vogel, Down for the Count. A Prison Library Handbook, Metuchen / New York 1995; eine kursorische Zusammenschau findet sich bei Gerhard Perschers, Gefangenenbibliotheken als Zeitzeugen. Streifzug durch die Geschichte der Gefangenenbücherei seit 1850, in Begleitbuch zur Ausstellung »Ketten – Kerker – Knast. Zur Geschichte des Strafvollzugs in Westfalen«, hg. von Maria Perrefort, Hamm 2000, 123–141.



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Schulen, Kindergärten und Armenhäusern sozialpolitische Blüten trug. Die Revolutionsjahre 1848/49 markierten auch im Strafwesen eine Zäsur, indem sich der Sanktions- in einen Präventionsstaat wandelte, der sich eine individuelle Förderung und Integration des einzelnen Häftlings auf die Fahnen schrieb, um damit politische Problemprophylaxe zu betreiben.6 Erziehen statt strafen lautete fortan das Motto. Wie Michel Foucault in Überwachen und Strafen argumentiert, manifestierte sich dieser Paradigmenwechsel in der Justiz in einer vollkommen neuen Organisation des Besserungsapparats, in dem Zellengefängnisse die alten Kerker- und Festungsanlagen ersetzten und der vereinzelte Häftling, der vorher in der Masse der anderen Sträflinge unterging, nun den Zielpunkt vielfältiger Prozeduren der Erziehung abgab, die ihn zu einem moralisch integren Menschen formen sollten.7 Die Gefängnisbibliotheken sollten ihren Teil zur Besserung der Kriminellen beitragen. Das Medium Buch hatte in den Anfangsjahren in den Strafanstalten vor allem zwei Aufgaben zu erfüllen, die sich aus den neuen Umständen der Isolationshaft ergaben: Erstens sollte die Lektüre die Häftlinge in einen dauerhaften und sinnvollen Lernzusammenhang verwickeln, damit sie in der Einsamkeit der Zelle nicht auf falsche Gedanken kommen, zweitens fungierten die Bücher – so zumindest der Plan – als kommunikativer Eisbrecher, indem sie die Unkooperativität und Lethargie der Verurteilten durch anregende Lesestoffe zerstreuen und die Häftlinge für therapeutisch-seelsorgerische Maßnahmen zugänglich machen sollten. Bevor die Aufgabe der Besserung im 20. Jahrhundert an Ärzte und Psychologen übertragen wurde, kam dem Anstaltsgeistlichen am Anfang des modernen Strafvollzugs eine herausgehobene Rolle zu: »Er [der Gefängnisgeistliche] ist staatlich angestellter Oberbeamter, besitzt entsprechende Privilegien wie Pension und Dienstwohnung, nimmt an den Konferenzen teil, in denen über die Zukunft der Sträflinge entschieden wird, und es gehört zu seinen Aufgaben, die Post der Gefangenen zu kontrollieren. Der Gefängnisgeistliche ist, so lässt sich zusammenfassen, ein theologischer Aufsichtsbeamter, der als Disziplinarinstanz zum Repertoire einer Strafanstalt gehört, die nicht straft, um zu strafen, sondern straft, um zu erziehen. Ihm ist die Bildung, die Erziehung, die Besserung der Delinquenten anvertraut; er gibt ihnen Unterricht, hört ihre Beichte, liest ihre Post und erstattet Bericht. Der Gefängnisgeistliche ist Dreh- und Angelpunkt der Forderung und Anforderung eines neuen Strafsystems, das nicht mehr vom Verbre-

6

Zur Geschichte des Besserungsdiskurses im 19. Jahrhundert in Deutschland vgl. Désirée Schauz, Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933, München 2008, 104 ff.

7

Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1994.

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cher als Rechtssubjekt seiner Tat auszugehen hat, sondern vom Sträflingsindividuum als Gegenstand einer kontrollierten Transformation.«8

Die »kontrollierte Transformation« des Häftlings in einen rechtschaffenen Bürger sollte das Lesen von Büchern sicherstellen. Anders als die Figuren in der Fernsehserie Orange is the new black konnten sich die Häftlinge im 19. Jahrhundert ihren Lesestoff dabei allerdings nicht frei aussuchen. Die Gefängnisgeistlichen verfügten über die bibliothekarischen Bestände und statteten die Insassen mit Pflichtlektüren aus, von denen sie sich sittliche Erfolge versprachen. Da dem Buch als frühem Bildungs- und Besserungsvehikel in den Zellengefängnissen ab 1848 in der Forschung bislang kaum Beachtung geschenkt wurde, soll sich dieser Aufsatz eingehender mit dem Verhältnis zwischen Isolationshaft und Gefängnisbibliothek beschäftigen, um mehr über die Logiken und Grenzen des Einsatzes von Büchern in Strafanstalten zu lernen.

D AS R EGIME DER B ESSERUNG : Z UR K O -E VOLUTION E INZELHAFT UND G EFÄNGNISBIBLIOTHEK

VON

Die Einrichtung von Bibliotheken in Gefängnissen lässt sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachten. Überzeugt von dem Potenzial der sittlichen Läuterung der Häftlinge durch Lektüre begriff die Justiz Sachliteratur und Belletristik als Instrumentarien zur Besserung der Gefangenen. Unter den Reformern im Gefängniswesen hatten sich vorher die Stimmen derer gemehrt, die neben der Einsperrung und Zwangsarbeit eine gesteuerte Lektüre der Häftlinge als probates Mittel für deren moralische Erziehung betrachteten. Schon in der Hausordnung des Eastern State Penitentiary in Pennsylvania, dessen Vorbild die modernen Haftanstalten folgten, hieß es dementsprechend, dass zu den »Hülfsmittel[n]« der Besserung vor allem »der Besuch rechtschaffener Leute, das Lesen nützlicher Bücher und Arbeit« zählten.9 In der Folge gehörten auch in den neuen europäischen Gefängnisbauten Bücher zum Handwerkszeug der Justizbeamten. Ein vorrangiges Anliegen der frühen theologischen Resozialisierungskonzepte war es, den Geistlichen durch das Lesen

8

Arne Höcker, Der Gefängnisgeistliche, in: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, hg. von Eva Eßlinger / Tobias Schlechtriemen / Doris Schweitzer / Alexander Zons, Berlin 2010, 264–275, 268.

9

Julius Füesslin, Das neue Männerzuchthaus Bruchsal nach dem System der Einzelhaft in seinen baulichen Einrichtungen. Carlsruhe 1854, Blatt 2; zum Eastern State Penitentiary vgl. Jodi Schorb, Reading Prisoners. Literature, Literacy, and the Transformation of American Punishment 1700–1845, New Brunswick 2014.



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»Anknüpfungspunkte für die spezielle Seelsorge« zu liefern.10 Schließlich litten gerade Straftäter in Einzel- bzw. Isolationshaft unter einer akuten Reiz- und Informationsverknappung, die sich negativ auf die Interaktion zwischen den Anstaltspfarrern und den Häftlingen auswirkte. Wie die Geistlichen berichten, stumpften die Häftlinge umso mehr ab, je mehr die Erinnerungen an das Leben außerhalb der Gefängnisse verblassten. Das beharrliche Schweigen ihrer Klienten führten die Seelsorger daher – ob Zweckoptimismus oder nicht – auch auf den Mangel an äußeren Impulsen und somit auf ein Defizit an passenden Gesprächsthemen zurück – und nicht auf den Widerwillen gegenüber den missionarischen Bemühungen der kirchlichen Würdenträger.11 Doch neben den Gefängnisgeistlichen waren auch andere Experten des Gefängniswesens von der Notwendigkeit der Verteilung von Literatur überzeugt. Der Arzt und spätere Direktor des Männerzuchthauses in Bruchsal, dem ersten Zellengefängnis Deutschlands, Julius Füesslin, betrachtete die Gefängnisbibliothek als eine Art Hausapotheke. Wie Pharmazeutika aus heimischen Beständen wirken Bücher laut Füesslin als diätetisches Verhaltensregulativ, das eine heilsame pädagogischseelsorgerische Therapie für die »trägen schläfrigen Seelen« der Verbrecher ermögliche: »Der verständige Seelsorger kann hier die Lektüre gerade so benützen, wie der verständige Arzt die Arznei bei seinen Kranken. Den trägen schläfrigen Seelen, die nie ein Buch zur Hand nehmen möchten, kann er jene unterhaltenden, lieblichen und auf die angenehmste Weise belehrenden Volks- und Jugendschriften anbieten. Der Lesetüchtige kann auf schmale Kost gesetzt und dadurch genötigt werden, dieselben Bücher öfter zu lesen, das Gelesene zu verarbeiten und darüber nachzudenken. Den Grüblern und Geheimniskrämern kann entzogen werden, was einem schlichten, lebendigen, in Liebe tätigen Glauben erzeugt. Tausch von Büchern, die für Angehörige einer anderen Konfession bestimmt sind, hört in Einzelhaft auf.«12

Eine per Lektüre dekretierte intellektuelle Mobilisierung der »schläfrigen Seelen« kann freilich nur funktionieren, wenn die Häftlinge überhaupt in der Lage sind zu lesen. Dies ist allerdings aufgrund der Klassenmatrix, die den Gefängnissen besonders Menschen aus den armen, ungebildeten Bevölkerungsschichten zuführte, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht überall der Fall. Wie italienische Verurteiltenstatistiken nahelegen, machte in einem Gefängnis mit 11.900 Häftlingen die Gruppe der Analphabeten mit 43 Prozent nahezu die Hälfte der Anstaltspopulation 10 Alfred Bienengräber, Die Wichtigkeit der Bibliothek und deren Handhabung, in: Blätter für Gefängniskunde 5 (1877) 321–337, hier 337. 11 Ebd. 12 Julius Füesslin, Die Einzelhaft nach fremden und sechsjährigen eigenen Erfahrungen im neuen Männerzuchthause in Bruchsal, Heidelberg 1855, 97.

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aus.13 Dieser Umstand schränkte die Reichweite des Einsatzes von Lektüre natürlich ein und mag zudem erklären, weshalb der Fachdiskurs über Gefängnisbibliotheken selbst weit über ein halbes Jahrhundert nach den fortschrittlichen Ansätzen der europäischen Aufklärer sowohl praktisch wie theoretisch noch in den Kinderschuhen steckte. Tatsächlich gewann die Gefängnisbibliothek als pädagogisches Drehkreuz des modernen Justizwesens erst nach einer Neustrukturierung des Strafvollzugs an Bedeutung. Literatur hatte bis zur Einführung der Einzelhaft, die in Deutschland 1848 mit der Eröffnung des von Füesslin geleiteten neuen Männerzuchthauses in Bruchsal zusammenfällt, keinen Platz in den theoretischen Überlegungen der Justiz. In Bruchsal hingegen erhielt sie auch in der architektonischen Realisierung des Neubaus (siehe Abb. 1) eine zentrale Position: In einem vierstöckigen Rundturm in der Mitte der quadratischen Anlage, von dem die vier Zellentrakte sternförmig abgingen, befand sich die Bibliothek auf einer Ebene zwischen der Kirche und den Büros der Gefängniswärter (siehe Abb. 2). Die neuen Zellengefängnisse waren penible Organisationsapparate, die sich von der permanenten Steuerung und Überwachung der Häftlinge eine Besserung versprachen. Seinen Niederschlag fand diese allgegenwärtige Kontrolle in einer Hausordnung, die den Alltag der Insassen einem straffen Regiment unterwarf. »Jeder hat die gleiche Zellengröße mit gleicher Einrichtung, jeder hat einen winzigen Hof, der in gleicher Weise vom Beobachtungsturm einsehbar ist, für jeden gilt die Hausordnung in gleicher Weise, wonach erst nach sechs Jahren Einzelhaft Arbeit in Gemeinschaftssälen vorgesehen ist, wonach jeder Versuch verboten ist, ›seine Mitgefangenen kennen zu lernen, und mit ihnen durch Wort, Zeichen oder Geberden oder sonst zu verkehren‹, und beim Verlassen der Zelle immer mindestens fünfzehn Schritte Entfernung vom Vor- und Nebenmann einzuhalten sind (§ 10), nur zwei Briefe monatlich gestattet werden und Besuche in einem durch ein Drahtgitter geteilten Besuchszimmer stattfinden. An die Stelle der Kontakte zu Mithäftlingen und Außenbeziehungen treten zahlreiche Besuche durch Funktionsträger der Institution – ›täglich wenigstens sechs Besuche von Beamten und Angestellten des Hauses in der Zelle‹ (§12), regelmäßige Besuche von Vorsteher, Verwalter, Geistlichen, Hausarzt, Hauslehrer, Ober- und Unteraufseher und gelegentliche Besuche von Mitgliedern der befaßten Staatsbehörden (§13).«14 13 Die Statistiken des Ministero dell’Interno, Direzione Generale delle Carceri, zitiert n. Guido Neppi Modona, Mit welchem Gefängnis hat es die Kriminalanthropologie Cesare Lombrosos zu tun?, in: Die Kriminalanthropologie Cesare Lombrosos. Vom 19. Jahrhundert zur aktuellen strafrechtlichen Debatte, hg. von Lorenzo Picotti / Francesca Zanuso, Münster 2015, 101–116, 111. 14 Ebd., 44 f. Aus der Hausordnung zit. n. Otto von Corvin, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 3, Leipzig 1880, 363.



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Abbildung 1: Lageplan des Neuen Männerzuchthauses in Bruchsal.

  Quelle: Julius Füesslin, Das neue Männerzuchthaus Bruchsal nach dem System der Einzelhaft in seinen baulichen Einrichtungen, Carlsruhe 1854, Anhang.

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Abbildung 2: Der Gefängnisturm (A) mit der Kirche und hoher Kuppel, darunter das Geschoss mit Bibliothek und Schulräumen.

  Quelle: Julius Füesslin, Das neue Männerzuchthaus Bruchsal nach dem System der Einzelhaft in seinen baulichen Einrichtungen, Carlsruhe 1854, Anhang.

Die räumliche Trennung der Insassen bildete den Kernbestandteil der neuen Besserungsideologie. Diese manifestierte sich wiederum direkt in der architektonischen Konzeptualisierung des Männerzuchthauses: Verschließbare Stühle separierten in



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der imposanten Simultankirche (siehe Abb. 3), dem Wahrzeichen der Bruchsaler Anstalt, die Häftlinge voneinander. Von einer Galerie aus überwachten die Wärter das Geschehen während des Gottesdienstes. Der strikte Isolationsgeist des modernen Gefängniswesens, der selbst die Sitzordnung in der Kirche prägte, fand auch in der konkreten Ausgestaltung der einzelnen Zellen (siehe Abb. 4) seinen Widerhall. Gemäß der Arbeits-, Essens-, Schul-, Lese- und Schlafzeiten differenzierten sich die einzelnen Zellen in Funktionseinheiten aus, deren Tätigkeiten auf der Pritsche und Werkbank bzw. an Schreibtisch und Bücherregal ausgeführt wurden. Dadurch integrierte die Zelle einen geschlossenen Handlungszyklus, der für die zu den verschiedenen Tageszeiten vorgeschriebenen Aufgaben eine bestimmte Vorrichtung bereitstellte. Durch Gucklöcher in der Tür überwachten die Wärter die Einhaltung des Zeitplans, den jeder Einzelne abgeschottet von seinen Mithäftlingen absolvierte. Die mittelalterliche Losung des ora et labora erweiterte das moderne Gefängniswesen u.a. durch die Einrichtung von Schulzimmern und Gefängnisbibliotheken, die über die religiöse Lehre hinaus die Besserung der Straftäter einem umfassenderen didaktischen Programm einschrieben. Die Geistlichen waren sich der Notwendigkeit dieser pädagogischen Bemühungen bewusst, für deren Umsetzung die Beschaffung passender Lektüre eine unabdingbare Voraussetzung darstellte. Die Reflexion über die Einrichtung, Verwendung und Überwachung von Gefängnisbibliotheken war von Anfang an eine Domäne der Kirche, obwohl auch die Lehrer Zugriffsrechte auf die Bibliotheken besaßen. Die Autorität, die den Geistlichen auf dem Feld der Erziehungsproblematik im Strafvollzug zukam, unterstreicht allein schon der institutionelle Rahmen, aus dem zwei der ersten systematischen Erörterungen des Themas stammen. Nachdem E.G.A. Hindberg in seinem aus dem Jahr 1866 stammenden Handbuch zur Berufsthätigkeit des Gefängnißgeistlichen in einem Passus auf den zielgerichteten Einsatz von Lektüre einging,15 fiel es in den 1870er Jahren zwei Theologen zu, in ihren in den Blättern für Gefängniskunde publizierten Vorträgen eine Übersicht über die konkrete Zusammensetzung und seelsorgerische Nutzung der Bibliotheken vorzulegen. Der Ton, in dem die Beiträge gehalten sind, kann dabei durchaus als kämpferisch bezeichnet werden. Statt einer nüchternen Bestandsaufnahme tritt gerade der Kölner Gefängnisgeistliche Rommel bemerkenswert fordernd auf. So prangert der Theologe das Fehlen einer Sammlung adäquater Bücher in manchen Gefängnissen als »unverantwortliche Verwahrlosung« an und appelliert an die Behörden, es als ihre »unerlässliche Pflicht zu erken-

15 E.G.A. Hindberg, Die Beurfsthätigkeit des Gefängnißgeistlichen. Ein Handbuch namentlich mit Rücksicht auf die verschiedenen Seelenzustände der Verbrecher, Leipzig 1866.

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nen […], dass sie selbst (und nicht Private aus Mitleid und Barmherzigkeit) […] auch für die Ausstattung mit der nothwendigen Lektüre […] sorgen«.16 Abbildung 3: Simultankirche des Männerzuchthauses Bruchsal mit isolierten Plätzen für die Häftlinge.

  Quelle: Julius Füesslin, Das neue Männerzuchthaus Bruchsal nach dem System der Einzelhaft in seinen baulichen Einrichtungen, Carlsruhe 1854, Anhang.

Die ideologische Stoßrichtung des Plädoyers ist klar: Rommel strebte stellvertretend für seine Kollegen aus der Gefängnissprediger-Conferenz eine möglichst klare Scheidung der Gefängnisbibliothek von den bürgerlichen Bildungsinstitutionen an – sowohl institutionell wie auch inhaltlich. Deshalb auch die Ablehnung privater Bücherspenden, deshalb auch das Insistieren auf einen Kanon, der fein säuberlich von der Sphäre des säkularen Büchermarkts abgetrennt war. Die Gefängnisliteratur habe sich nach Rommel abseits dieser modernen Literatur auf einen kirchlichen Dreiklang aus »erbauliche[n], belehrende[n] und unterhaltende[n]« Büchern zu fokus-

16 Pastor Rommel, Von der Einrichtung und Verwendung der Anstaltsbibliotheken, in: Blätter für Gefängniskunde. Organ des Vereins der deutschen Strafanstaltsbeamten, Bd. 5 (1871) 3–20, hier 6 f.



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sieren, um die Häftlinge von den Versuchungen des Hedonismus fernzuhalten.17 Rommel wie auch sein Plötzkauer Kollege Alfred Bienengräber, von dem die zweite theoretische Einlassung über die Die Wichtigkeit der Bibliothek und deren Handhabung stammt, wehrten sich mit Nachdruck gegen die bibliothekarische Bereitstellung von Romanen, Theaterstücken und Zeitungen, da diese, so die Befürchtung der Kirchenmänner, statt zu bessern, eine ungeregelte, lustvolle, affektive Lektüre fördern könnten.18 »Ausgeschlossen von der Anst[alts]-Bibliothek sind alle eigentlichen Romane und das Theater; alle Anekdotenjägerei zur Kurzweil; das ganze Genre von ›Du sollst und musst lachen‹ oder der ›Wachtstubenabenteuer‹; alle Tagespolitik und Zeitungen; ferner die vollständigen Werke oder auch nur die Gedichtesammlungen unserer Classiker, Schiller, Göthe, u.s.w. – alles Aufregende, Phantastische, Sentimentale; – und bei religiösen Schriften alles Weinerliche, Weichliche und forcirt Fromme (unter welchem Tadel so viele Traktate liegen); besonders aber alles Apokalyptische, alles Fanatische und alle Zänkerei über Confessionen.«19

Die Gefängnisbibliotheken verstanden sich dezidiert als institutioneller Kontrapunkt zu Leihbibliotheken, die nach Rommel und Bienengräber nicht umhin kamen,

17 Alfred Bienengräber, Die Wichtigkeit der Bibliothek und deren Handhabung, in: Blätter für Gefängniskunde. Organ des Vereins der deutschen Strafanstaltsbeamten, Bd. 11, (1877) 321–337, hier: 325. 18 Bienengräber nennt eine Reihe von Autoren, die hingegen für den Anstaltsgebrauch zu empfehlen sind: »Was die sogenannte Unterhaltungslectüre anbelangt, so muss dieselbe hauptsächlich Volksschriften umfassen; ich erinnere an die Namen eines Ahlfeld, Glaubrecht, Caspari, Gotthelf, Fries und Anderer. Auch Jugendschriften, etwa von Horn, Schupp, Wildermuth, Hoffmann lasse ich gelten, obwohl ich an den Hoffmann’schen Erzählungen das auszusetzen habe, dass dieselben fast alle über einen Leisten geschlagen sind«. Bienengräber, Die Wichtigkeit der Bibliothek und deren Handhabung (wie Anm. 17) 327. Ein aus dem Jahr 1888 stammender Handbucheintrag schlägt schon einen weitaus versöhnlicheren Ton bezüglich der Auswahl von belletristischer Literatur an. Er betrachtet die »Unterhaltung« durch Lektüre gar »als vorzüglichste[n] Zweck der Gefangenenbibliothek«. Nicht einmal vor der Verteilung von »Reiseliteratur« oder humoristischer Literatur scheut der Freiburger Gefängnisgeistliche Krauss zurück, denn »das Leben gestaltet sich in der Gefangenschaft oft so schwer, dass es vorübergehend Zerstreuung und humoristische Anwandlung gut vertragen kann. K. Krauss, Gefängnissseelsorge, in: Handbuch des Gefängnisswesens, hg. von Franz v. Holtzendorff / Eugen v. Jagemann, 2. Bd., Hamburg 1888, 131–161, 159. 19 Rommel, Von der Einrichtung und Verwendung der Anstaltsbibliotheken (wie Anm. 16) 12.

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auch die (niederen) Lesegewohnheiten des Normalbürgers zu bedienen.20 »Wenn wir in unseren Leuten den Sinn für das Lesen reichlich wecken möchten, so wollen wir doch keine Lesewuth in ihnen entzünden; die etwa vorhandene, durch Leihbibliotheken entzündete böse Lust nur ja nicht nähren und deshalb den wählerischen verdorbenen Geschmack nicht befragen.«21 Um Missbrauch vorzubeugen, schlugen die Theologen vor, die Anzahl und den Tausch von Büchern zu regulieren. Den Gefangenen sollten aus jeder der drei Sparten der Bibliothek Bücher, insgesamt aber nicht mehr als sechs bis sieben, als eine Art Zimmerbibliothek zur Verfügung gestellt werden, deren Auswechslung im Vergleich zu den Leihbibliotheken zu verlangsamen und das Mehrmallesen von Büchern nachdrücklich zu empfehlen sei. Die Auswahl der Titel trafen, wie bereits angedeutet, nicht die Leser, sondern die Geistlichen, um ihre pädagogischen und moralischen Ziele zu erreichen. Regelmäßige Gespräche stellten neben der Aushändigung der Pflichtlektüren eine weitere Eingriffsmöglichkeit der Pfarrer dar, um das Lesepensum der Häftlinge durch Denkanstöße und Leseaufträge zu steuern. Der Geistliche fungierte gerade durch den Einsatz der Gefängnisbibliothek tatsächlich als »Dreh- und Angelpunkt der Forderung und Anforderung eines neuen Strafsystems«.22 Bei der Lektüreauswahl hatte er jedoch alltäglich eine Gratwanderung zu vollführen. Weder durfte sich die Bibliothek allein auf Schulbücher und Jugendschriften beschränken, die Gefahr liefen, ihre erwachsenen Leser zu langweilen, noch sollte die Prosa zu antiquiert oder eskapistisch ausfallen, damit sie nicht die gesellschaftliche Isolation der Gefangenen verstärkte. Kurzum: Die geistlichen Bibliothekare standen vor der paradoxen Aufgabe, mit ihrer Lektüreauswahl auf der Höhe der Zeit zu bleiben, ohne auf jene Literatur zurückzugreifen, die der bürgerliche Kanon als zeitgemäß einstufte. Und doch schien es Rommel trotz dieser heiklen Lage unerlässlich, im Strafvollzug nicht auf Literatur zu verzichten: »Ohne Besuche und ohne Bücher wäre die Zelle ein grausames Attentat auf den Geist des Isolierten.«23 Der Drahtseilakt zwischen Reiz und Langeweile, Phantasie und Pragmatismus, Unterhaltung und Wissen müsse gelingen, um den Häftling durch das Lesen 20 Diese Auseinandersetzung zwischen einer extern gesteuerten oder intrinsisch motivierten Ausleihpraxis prägt auch den sog. »Richtungsstreit« im Bibliothekswesen, der sich rund um die Themen »Leselust« und »Bildungsauftrag« durch das Erstarken der Bücherhallenbewegung in den 1920er Jahren intensivierte. Vgl. hierzu Wolfgang Thauer, Die Bücherhallenbewegung, Wiesbaden 1970. 21 Rommel, Von der Einrichtung und Verwendung der Anstaltsbibliotheken (wie Anm. 16) 17. 22 Höcker, Gefängnisgeistliche (wie Anm. 8) 268; Zur Kritik der Leihbibliotheken vgl. Alberto Martino, Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756–1914), Wiesbaden 1990, 14 ff. 23 Ebd.



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als letztverbliebener Ressource der Welterschließung aus der »unendliche[n] Oede« und dem »Gefühl der Leere« herauszuführen.24 Abbildung 4: Arbeitszelle mit Werkbank, Pritsche und Bücherregal.

  Quelle: Julius Füesslin, Das neue Männerzuchthaus Bruchsal nach dem System der Einzelhaft in seinen baulichen Einrichtungen, Carlsruhe 1854, Anhang. 24 Ebd.

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Der Literatur schrieb Rommel dabei eine soziale und somit raumgebende Funktion zu. Kraft der Lektüre könne es gelingen, selbst in jenen Gefängnissen des alten Typs, in denen noch mehrere Häftlinge gemeinsam in einer Zelle hausten, durch die erzwungene Lektüre eine Wand des Schweigens zwischen den Zellengenossen zu errichten. Die Vereinzelung schien den Gefängnistheoretikern auch deshalb geboten, weil die absolutistischen Kerker- und Festungsanlagen im Ruf einer Schule des Verbrechens standen, da erfahrene Verbrecher an junge Insassen ihr Know-how weitergeben und mit ihnen für die Zeit nach der Haft gemeinsame Pläne schmieden könnten. Um diese Kriminalisierungsspirale zu durchbrechen, verschrieb sich das moderne Strafwesen der sozialen Isolierung der Gefangenen. Dort, wo diesem Anspruch aus infrastrukturellen Gründen nicht Genüge getan werden konnte, vermochte es laut Rommel die Literatur, das soziale Band zwischen den Häftlingen zu kappen. »Wie aber isolirt man darnach doch einiger Massen die übrigen Gefangenen, für welche man keine Zelle zur Verfügung hat? Antwort: wenn man ihnen ein Buch in die Hand gibt. Das macht sie taub und einsam mitten unter den sie beständig umschwirrenden Gesprächen, die es ihnen unmöglich machen, einmal einen eigenen ernsten Gedanken zu fassen.«25

Die Lektüre spannte unabhängig von den architektonischen Gegebenheiten in den Augen der Anstaltsgeistlichen Rommel und Bienengräber einen virtuellen Erziehungsraum auf, der sich gleich in zweifacher Hinsicht als ideal erwies: Erstens individualisierte er, d.h. er schottete die Gefangenen von den anderen Inhaftierten ab, zweitens brachte die Lektüre eine ganz spezifische Zeitökonomie mit sich, die einen Ausweg aus einem Problemkreis der Individualisierung wies – zuallererst dem personellen Engpass, der eine effektive Betreuung der Verurteilten verhinderte. Der schmal bemessene zeitliche Rahmen, den die Haftanstalt dem Einzelnen an persönlicher Betreuung widmen konnte, jene »einzelnen Vermahnungen, Ermunterungen und Belehrungen«, die den Gesetzesbrecher hie und da erreichten, selbst die zeitlich begrenzten »gemeinsamen Stunden des Religionsunterrichtes und des Gottesdienstes« reichten nach Rommels Einschätzung eigentlich nicht aus, um den Kriminellen wieder auf den rechten Weg zu führen. Gelinge es allerdings, den Häftling an eine Lektüre zu gewöhnen, die ihn sittlich fördert, dann ließe sich dieser Missstand leicht beheben. Die Bücher fungierten im Vorstellungsraum der Gefängnisgeistlichen als persistenter Lernkosmos, in den sich die Häftlinge durch das Aufschlagen ihrer Lektüre nach Belieben einklinken konnten, um sich für ihre schulische und moralische Selbstoptimierung zu engagieren. Die Gefängnisbibliothek stellte also ein Reservoir an lebensphilosophischen Metanarrativen bereit, durch die es laut Rommel und Bienengräber möglich war, selbst unter der Bedingung der Dosierung 25 Ebd., 4.



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von Interaktion einen sozialen Zusammenhang zu stiften. Die rituelle Verankerung von Lektüre in den Anstalten hatte nach Einschätzung der Gefängnisgeistlichen zudem eine Reihe von positiven Nebeneffekten auf das Betriebsklima in den Haftanstalten. Denn durch das Lesen von Büchern würden »die Strafen […] seltener, die Arbeit […] stetiger, die Haltung der Leute vernünftiger, ruhiger und botmässiger.«26 Der italienische Kriminalanthropologe Cesare Lombroso begegnete dem Thema Gefangenenlektüre wesentlich skeptischer. Seinen Zweifel gründete er auf die Befunde einer empirischen Untersuchung, die er zusammen mit seinem Team über vier Jahre in zwei Männergefängnissen durchführte. Statt mit den Gefangenen zu sprechen, durchkämmte der Kriminologe die Räume der Haftanstalten nach versteckten Botschaften. Von ihnen versprach sich Lombroso einen möglichst unverstellten Einblick in die Gedankenwelt der Kriminellen. Die Kommentare, die Lombroso und seine Mitarbeiter u.a. in Büchern fanden, zeugen – wohl zur Ernüchterung der Gefängnisgeistlichen – überwiegend von dem Unwillen der Häftlinge, sich auf die Inhalte der Bücher einzulassen. Die von den Gefängnisgeistlichen distribuierten Pflichtlektüren verfehlten, wie Lombrosos Studie über die KerkerPalimpseste (1899) zeigt, ihre Wirkung. Mehr noch: Anstatt sich durch die Lektüre dauerhaft in das Projekt einer vereinzelnden Selbstoptimierung verstricken zu lassen, nutzten die Häftlinge die Bücher, um das Kommunikationsverbot der Gefängnisse zu umgehen. Überall, auf den Seitenrändern von Büchern, auf Bettgestellen und Türrahmen, Mauern und Kirchenbänken, hinterließen die Häftlinge kurze Nachrichten, mit denen sie sich untereinander austauschten. Nicht nur für die Gefängnisgeistlichen Bienengräber und Rommel müsste diese Schattenkommunikation ein wahres Schreckensszenario gewesen sein, schließlich scheint es die gesamte Isolationslogistik der modernen Gefängnisse obsolet zu machen. Auch für Lombroso war die allgegenwärtige Kommunikation zwischen den Inhaftierten ein weiterer Beleg für die verwerfliche Natur der Kriminellen. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, hunderte von Gefangenenaussagen wissenschaftlich zu erfassen und auszuwerten.

L OMBROSOS KRIMINOLOGISCHE S EMIOTIK UND ( SUBVERSIVE ) L EKTÜRE DER G EFANGENEN

DIE

Lombroso nahm gegenüber Verbrechern eine durchweg diskriminierende Haltung ein. In seiner berüchtigten Schrift Der geborene Verbrecher (ital. L’uomo delinquente, 1876), die ihn weit über die Landesgrenzen Italiens bekannt machte, vertrat der Kriminologe die These von einer Vererbbarkeit kriminogener Eigenschaften. Devianz hatte nach Lombroso keine sozialen Ursachen, sondern war das Produkt 26 Ebd., 3.

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einer speziellen Veranlagung, die den geborenen Verbrecher zu kriminellem Handeln prädestiniere. Da Delinquenz in den Augen des Gerichtsmediziners körperliche Ursachen hatte, bestand die Aufgabe der Kriminologie darin, den kranken von dem gesunden Teil der Bevölkerung zu trennen. Hinweise auf die schlechten Erbanlagen ließen sich laut der Überzeugung von Lombroso zahlreich finden, z.B. abstehende Ohren, krumme Nasen oder voluminöse Schädel. Doch der Gefängnisarzt und Pathologe beschränkte sich nicht allein auf anatomische Merkmale, um den Verbrecher zu identifizieren, sondern suchte nach weiteren Erkennungszeichen, die zu seiner Ergreifung beitragen könnten. Im Fadenkreuz der kriminalanthropologischen Recherche erschienen damit auch kulturelle Artefakte wie Tätowierungen, Schriftproben, Kleidungsstücke und Werkzeuge, die laut Lombroso Rückschlüsse auf das Wesen des Verbrechers zuließen. Lombroso agierte auf seiner Spurensuche daher wie ein Ethnologe der Verbrecherkultur. Sein Fundus an interessanten Gegenständen wuchs über die Jahrzehnte auf die stattliche Zahl von 684 Schädeln, 183 menschlichen Gehirnen, 502 Verbrecherwerkzeugen, 100 Totenmasken sowie 475 Zeichnungen und 175 Artefakten an. In dem morbiden Reliquienkabinett, das heute das Museo di antropologia criminale Cesare Lombroso in Turin verwahrt, befinden sich auch kuriose Exponate wie Versinos Kleid (siehe Abb. 5), eine mehrteilige, insgesamt 43 Kilogramm schwere, aus Putzlumpen gefertigte Tracht, die der Demenzkranke Versino G. in der Psychiatrie von Collegno herstellte.27 27 Zu den heute bekanntesten Exponaten zählen die Möbelstücke des in der Heilanstalt in Lucca lebenden Eugenio Lenzi sowie Versinos Kleid, das der Demenzkranke Versino G. für sich aus Wäschereilumpen geschneidert hat. It. Orig.: »L’ammalato di demenza precoce Versino G., ricoverato nel manicomio di Collegno, essendo incaricato delle pulizie quotidiane, ogni giorno dopo essersene servito, lava accuratamente gli stracci, poi li sfilaccia, quindi ne forma dei cordoncini con quali intesse indumenti. […] Il peso di questo vestito è di Kg 43 e l’ammalato ben raramente, estate e inverno, si astiene dall’indossarlo. Un paludamento importantissimo per dare senso all’esistenza del ricoverato, e che […] è realizzato con materiali poverissimi, quando non squalificati. […] sembra rinviare latamente a certi costumi regionali storici della penisola, nell’accezione nobilitante del vestito da festa, se non del costume da parata.« Deutsche Übersetzung v. MP: »Der Demenz-Kranke Versino G., untergebracht in der psychiatrischen Klinik von Collegno, täglich in der Reinigung tätig, wäscht jeden Tag gründlich die genutzten Lumpen, zerfasert sie, windet die Fasern zu Schnüren, die er in seine Kleidung einflechtet. [...] Das Gewicht dieses Kleids beträgt 43 kg und der Kranke verzichtet sommers wie winters nur selten darauf, es zu tragen. Das Kostüm ist ihm wichtig, um sich – selbst mit minderwertigen Materialien in der Klinik Status zu verschaffen. Es scheint sich auf bestimmte traditionelle italienische Trachtenmuster oder sogar Paradeuniformen zu beziehen«. Silvano Motaldo / Paola Tappero, Il museo di antropologia criminale Cesare Lombroso, Torino 2009, 130 f.



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Abbildung 5: Versinos Kleid.

  Quelle: Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Museo di antropologia criminale Cesare Lombroso.

Artefakte wie dieses mögen dem Betrachter einen Eindruck von der Neugier und Sammelobsession der Kriminalanthropologen verschaffen. Der Italienischen Schule um Lombroso halfen die auratischen Gegenstände zweifelsohne bei der Popularisierung ihrer teils schon von Zeitgenossen als hanebüchen empfundenen Thesen.28 28 Anlässlich der Nationalausstellung 1884 in Turin (Exposition Nationale), dem italieni– schen Ableger der Weltausstellung, gewährt Lombroso einem breiten Publikum erstmals Einblicke in seine Bestände. Ein Jahr später gastiert die Ausstellung in Rom. Durch ihren öffentlichen Erfolg erhält Lombroso neben seinen eigenen Funden in Heilanstalten und Gefängnissen zahlreiche Schenkungen von internationalen Kollegen. Auch wenn Lombroso eher planlos sammelt, ist er sich der Bedeutung der Artefakte durchaus bewusst: »Ich komme nun an mein Lebensende und mit ruhiger Freude gehe ich [...] jene armen Trophäen, ab dem Jahr 1859 gesammelt, durch, Stück für Stück, die ich zuerst zum Schrecken meiner Vermieterinnen in einem Studentenzimmer aufbewahrte, dann in einer Art Kammer, die als Werkstatt in der Via Po in Turin diente, schließlich im Jahre 1899 in den geräumigen Sälen des psychiatrischen und kriminalistischen Museums der Universität Turin.« It. Orig.: »io ora al declinar della vita ripasso qui in rivista con calmo

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In puncto Hartnäckigkeit und Materialreichtum machte auch Lombrosos Studie über die Kerker-Palimpseste keine Ausnahme. Der »geborene Sammler«,29 wie seine Tochter Gina Lombroso-Ferrero ihren Vater in einer humorvollen Anspielung auf seine Theorie vom geborenen Verbrecher bezeichnete, archivierte zusammen mit seinen »Freunde[n] und Schüler[n] Ferrero und Olivetti, d[en] Professoren Tonnini und Frigerio, Rechtsanwalt Zerboglio und Andere[n]« in zwei Männergefängnissen insgesamt 809 Schriftsätze – »510 aus Büchern, 299 von Mauern, Trinkgefässen, Bettbrettern u. dgl.«30 Um eine statistische Vergleichsgruppe zu erheben, spürte der Recherchetrupp außerhalb der Haftanstalten nochmals 1229 Insignien auf, davon knapp die Hälfte in Büchern, die andere Hälfte auf Mauern, die sie vor allem in »Kasernern, [auf] Bahnhöfen und Straßen« registrierten.31 Lombroso und sein Team ordneten diese Aussagen gemäß der kriminalanthropologischen Hypothesen bestimmten Charaktermerkmalen zu. Daraufhin erstellten sie ein Diagramm (siehe Abb. 6), das die Werte der beiden Corpora einander gegenüberstellte. In ihrem Monitoring kamen die Kriminologen zu dem Ergebnis, dass sich die Texte und Zeichnungen der Häftlinge und der Vandalen, die außerhalb der Anstalten Wände und Buchseiten beschrieben, en gros zunächst wenig voneinander unterschieden, insofern die Kommentare »aus dem Gefängnis« mehrheitlich ein Gefühl der »Ungerechtigkeit«, »Eitelkeit«, »Sorglosigkeit«, »Bösartigkeit«, »Lüsternheit« piacere […] quei poveri trofei raccolti dal 1859 in poi, pezzo per pezzo, prima in una camera da studente, spauracchio continuo delle padrone di casa, poi in una specie di granaio che fungeva da laboratorio nella via Po di Torino, finalmente nel 1899 nelle ampie sale del Museo psichiatrico criminale dell’Università di Torino«. Cesare Lombroso, Il mio museo criminale. Illustrazione italiana 33, N. 13 (1. April 1906), in: Delitto, genio, follia. Scritti scelti, hg. von Cesare Lombroso, Torino 2000, 325. 29 Lombroso sei laut seiner Tochter ein »geborener Sammler« gewesen, der »beim Gehen, während eines Gesprächs, beim Reden; in Städten, auf dem Land, in den Gerichten, im Gefängnis, auf der Straße […] immer den Blick auf etwas, das niemand sah«, [richtete]. Dabei beobachtete er etwas, das sonst niemand sah, und sammelte und kaufte einen Haufen Kuriositäten, von dem niemand, manchmal er selbst nicht, sagen konnte, ob er einen Wert hat.« Übersetzung MP, italienisches Original: »era un raccoglitore nato – mentre camminava, mentre parlava, mentre discorreva; in città, in campagna, nei tribunali, in carcere, in viaggio, stava sempre osservando qualcosa che nessuno vedeva, raccogliendo così o comperando un cumulo di curiosità, di cui lì per lì nessuno, e neanche egli stesso, qualche volta avrebbe saputo dire il valore.« Gina Lombroso-Ferrero, Cesare Lombroso. Storia della vita e delle opere narrata dalla figlia, Bologna 1921, 355. 30 Cesare Lombroso, Kerker-Palimpseste. Wandinschriften und Selbstbekenntnisse gefangener Verbrecher. In den Zellen und Geheimschriften der Verbrecher gesammelt und erläutert, übers. und hg. von Hans Kurella, Hamburg 1899, 262. 31 Ebd., 254 bzw. 262.



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und »Ungeduld«, die »Palimpseste aus der Freiheit« ganz ähnlich »Eitelkeit«, »Unglaube«, »Schmutzereien«, »Lüsternheit«, »Ironie« und »Wuth« zum Ausdruck brachten. Auch die politischen Äußerungen demonstrierten in erster Linie den kritischen Geist, aus dem heraus überhaupt Sprüche auf Wänden und in Büchern platziert wurden: Das Spektrum innerhalb und außerhalb der Gefängnisse war gleichermaßen heterogen und schwankte zwischen (extrem) linken und (extrem) rechten Positionen. Signifikante Unterschiede ergaben sich aus einer Statistik in der Mitte des Datenblatts. In dem Diagramm verglichen die Kriminologen die »Buchinschriften«. Die Aussagen, die Personen »in Freiheit« über die Lektüre formulierten, fielen »wohlwollend« aus, »abfällige Kritik« und »allgemeine Schmähungen« landeten in der Auswertung hinter dem positiven Feedback auf Platz zwei und drei. Ein anderes Bild ergab sich aus der Evaluation der Buchinschriften von Häftlingen. Ihre Kommentare bezogen sich mehrheitlich überhaupt nicht auf das Gelesene. Wenn sie auf die Lektüre eingingen, dann, wie die weiteren Posten in der Aufstellung zeigen, in Form von »abfällige[r] Kritik«, durch »Gegensätze und Widerspruch« sowie »[l]usti[g]machende Kritik«. Ein »Lob guter Bücher«, wie es sich an der Spitze des Rankings der in Freiheit lebenden Personen findet, kam in den Kommentaren der Häftlinge so gut wie gar nicht vor. Diesen Befund spitzte Lombroso in seiner Interpretation der Statistiken bis zur Verfälschung zu: »Soweit im Gefängniss die Buchinschriften Beziehungen auf [sic] das Buch haben, handelt es sich in erster Linie um Widerspruch und absprechende Kritik, ausserhalb des Gefängnisses in erster Linie um wohlwollende Kommentierungen, Lob, Zustimmung«.32 Vor dem Hintergrund der im ersten Teil skizzierten Distributionsbedingungen von Literatur in den Gefängnissen ist die Ablehnung und der Spott gegenüber dem Gelesenen nur allzu verständlich: Während die in Freiheit lebenden Bürger sich ihre Lektüre aussuchen konnten und daher wohl eine gewisse Affinität zu den (präferierten) Autoren und Themen hatten, erhielt der Häftling von den Lehrern und Gefängnisgeistlichen ein speziell für ihn zusammengestelltes Sortiment an Sachbüchern und religiöser Literatur, das ihn wohl nur allzu offensichtlich in eine bestimmte Richtung lenken sollte. Die Kommentare in Büchern, die Lombroso zitiert, lassen den Frust der Häftlinge über den vorgelegten Lesestoff erahnen. In einer Ausgabe von Arpans Leben des Monsignore Guerin notieren drei Häftlinge: »Ich schreibe nicht gern in Bücher hinein, wenn ich aber das abergläubische Zeug lese, das von Dingen spricht, an die die Priester selbst nicht glauben, dann dreht sich’s mir im Kopfe und ich möchte schreien: Tod der niederträchtigen Rasse, die mit ihrem Aberglauben das Volk in Unwissenheit zu halten sucht. Ich bin Guiseppe Torchio.«

32 Ebd.

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Abbildung 6: Auswertung der Botschaften nach ihrer räumlichen Platzierung.

 



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  Quelle: Cesare Lombroso: Kerker-Palimpseste. Wandinschriften und Selbstbekenntnisse gefangener Verbrecher, Hamburg 1899, 319–320.

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»Ich habe es satt, dieses ekelhafte Buch weiter zu lesen. Wenn ich gute Bücher bekäme, würde ich ganz gern noch drei Monate länger sitzen.« »Dieses Buch ist was für Kopfhänger, aber nicht für uns, die wir mehr an unsere kleinen Mädchen als an Gott und die Heiligen denken.«33

Der Ärger über die publizistische Zwangsbeglückung durch die Gefäng– nisbibliothek und die Freude an dem Spiel mit der Polemik gegen die Autoren gehen in den Kommentaren Hand in Hand. Klopstocks Messias versah ein Gefangener mit dem Kommentar: »Wenn Du anstatt solchen Kohl zu schreiben, lieber Rüben gepflanzt hättest, wäre es besser gewesen, Du Esel.«34 Statt sich auf die theologischen und schulischen Inhalte einzulassen, nutzten die Häftlinge Bücher eher für kommunikative Zwecke. Lombroso bemerkte in seiner statistischen Auswertung eine Disbalance zwischen lektüre- und selbstbezogenen Kommentaren. »Im Gefängniss machen Inschriften in Büchern, die mit dem Buche selbst nichts zu tun haben, 870 von 1000, in der Freiheit 360 von 1000 aus.«35 Gleichwenn die Häftlinge durch die Lektüresteuerung der Gefängnisgeistlichen nicht wussten, wem die Bücher als nächsten in die Hände fielen, nutzten sie die weißen Flächen als eine Art Chat-Protokoll. Die Seitenränder der Bücher verwandelten sich dadurch in Kommentarspalten, in denen die Gefangenen Auskunft über ihre aktuelle Situation, die Umstände ihrer Inhaftierung sowie die Behandlung durch das Gefängnispersonal gaben. Am Rand von Leonardo da Vincis Buch der Liebe eröffnete beispielsweise der selbst ernannte »Dichter« Viglietti del Burgè eine kurze Sequenz von Bemerkungen, in denen die Häftlinge ihren Namen und den Grund ihrer Einsperrung nannten. Del Burgè notiert, er sei »am 10. September wegen einer Spionin«, hinter der sich seine Tante verbarg, verhaftet worden. Diese lieferte ihren Neffen wegen fünf Diebstählen den »Häschern« der Polizei aus, worauf der Überführte in die »feste[] Zelle« der Station verbracht und erst »nach sieben Tagen in die Untersuchungshaft überstellt worden war.«36 Die Nachricht, die del Burgè am Rand von da Vincis Buch hinterließ, endete mit der solidarischen Schlussformel: »Lebt wohl, Kameraden!« Der Nächste, der in dem Buch der Liebe auf del Burgès Bemerkungen antwortete, war der Häftling »Rupotin«. Seine lediglich aus einem Satz bestehende Replik diente, wie es den Anschein hat, vor allem dem Zweck, die Ausführungen seines Vorgängers nicht unkommentiert verhallen zu lassen und diesem durch eine kurze Wortmeldung seine Reverenz zu erweisen. »Und ich, Rupotin, bin vor fünf Monaten auch wegen Diebstahls verhaftet worden

33 Ebd., 73. 34 Ebd., 74. 35 Ebd., 257. 36 Ebd., 15.



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und weiss noch nichts.«37 Wenig später trug sich »Constantin Clerici, genannt: ›Der Mailänder‹«, in das Register ein. Dem »sechzehn Jahre alt[en] Clerici« stand für seinen Eintrag anders als seinen Vorgängern kein Stift oder Stück Kohle zur Verfügung. Daher bezeugte er die Umstände seiner Ergreifung durch vier Gendarmen »in Asti im Café S. Carlo […] wegen Stehlens von drei Seidentüchern im Laden von Boccioni in Turin«, wie Lombroso in einer Klammer festhielt: »[m]it Blut«.38 Ein seine Identität nicht weiter preisgebender Kommentator ging dann als erster auf da Vincis Tagebuch ein, nutzte das historische Verdienst des Malermeisters jedoch entgegen der Kalküle des Gefängnispersonals, um sich mit Seitenblick auf den Renaissancekünstler als Helden der Unterwelt zu profilieren. In seiner anonymen Selbstmystifizierung sprach er die anderen Gefangenen dann von seinem vorgeblich überlegenen Standpunkt aus auch nicht mehr als »Kameraden« an, sondern nur als »Leser«: »Lieber Leser! Sieh, dieser LIONARDO DA VINCI war wie ich in der Liebe unglücklich; aber er ist ein grosser Maler geworden, ich ein grosser Gauner, Fälscher und Raufbold. Deshalb hat LIONARDO einen grossen Namen in der Geschichte errungen, wie er auch diese kleine Geschichte erlebt hat, die nur ein Bruchstück seines Lebens ist, mit der schönen Angela Verrochio. Ich bin zwar kein Maler, aber ich bin auch berühmt, denn ich stehe in den Registern von mindestens vierzig Strafanstalten, die wohlwollend meine schönsten Thaten verzeichnet haben, die denen des Priesters Chelotti aus Vanchiglia nahe kommen. Meine erste Liebe habe ich aber mit zwei Geliebten gehabt, die eine hiess Adalgisa, die andre Adriana, die eine war aus Mantua, die andere aus Cremona.«39

Lombroso interpretierte die Selbstbezüglichkeit der Gefangenen vor dem Hintergrund seiner anthropologischen Überzeugungen als bis zum Narzissmus »gesteigerte[s] Ichgefühl«, das auf einer »organischen Anomalie« basiere und eine »Neigung zur Autobiographie« hervorrufe.40 Doch Lombroso nahm gegenüber den Ausdrucksformen der Häftlinge bei näherer Betrachtung eine wesentlich ambivalentere Haltung ein, als vielleicht zunächst zu vermuten wäre. Auch bei den in den Gefängnissen gesammelten Kommentaren kam er nicht umhin, manchen von ihnen einen »Hauch von Genialität« zu bescheinigen, wie er »bei der Masse der gewöhnlichen Menschen« nicht anzutreffen sei, »also auch nicht in Büchern ausserhalb der Gefängnisse«.41 Dieses Plus an Ausdruckskraft führte der Kriminologe auf die Leidenschaftlichkeit, Impulsivität und Ichbezogenheit der Verbrecher zurück, denen man37 Ebd. 38 Ebd., 16. 39 Ebd. 40 Ebd., 289. 41 Ebd., 290.

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che das Talent verdanken, ihr Schicksal mit besonderer poetischer Plastizität zu beschreiben. »Wovon das Herz voll ist, fliesst der Mund über, und deshalb excelliren die Verbrecher da, wo sie von ihren Verbrechen, den Gefängnissen oder ihren erotischen Gefühlen reden können. […] Auch die Worte der Dirne, die sich an ihre künftigen Klienten wendet und ihre Brunst aufdeckt, haben eine merkwürdige Gewalt.«42

Lombroso räumte den Häftlingen durch die Dokumentation ihres geheimen Austauschs in den Kerker-Palimpsesten einen stillen Triumph ein. Denn es ist natürlich nicht so, dass das Gefängnispersonal nicht schon früh um die kommunikative Umnutzung der Pflichtlektüren gewusst hätte. Schon Rommel und Bienengräber weisen nachdrücklich auf die Kontrolllücken hin, die sich für die Häftlinge durch die Bücher auftun. Nicht nur kompromittierende Stellen seien deshalb möglichst unauffällig aus den Büchern zu entfernen, beispielsweise indem »man ein Stück des Blattes oder das ganze Blatt« herausreiße, »dass es aussieht, als hätte ein Frevler sich an dem Buch vergriffen«, bei längeren Passagen sei ferner zu raten, »aus einem sonst nützlichen Buche Einen oder zwei Bogen nicht mit einbinden zu lassen, dass es aussah, als hätte der Buchhändler die Bogen nicht geliefert«.43 Der Gefängnisgeistliche habe ferner bei der Rückgabe genau auf mögliche Notizen und Einlagen zu achten und Vorkehrungen zu treffen, damit eine Zweckentfremdung der Bücher durch die Gefangenen unterbunden wird, z.B. indem die Seiten wiederum beschrieben oder herausgerissen und anderen Häftlingen beim Hofgang oder wähend der Arbeitsstunden zugesteckt werden. »Jeder Sträfling muss aber für das Buch, welches er empfangen hat, einstehen. Desshalb muss der Geistliche auch bei der Rückgabe genau nachsehen, ob nicht etwa ein Blatt herausgerissen, eine Seite beschrieben oder bemalt, überhaupt das Buch in irgend einer Weise muthwillig beschädigt ist. Ganz besonders erlaube ich mir, Sie hierbei noch darauf hinzuweisen, dass Sie ihrem Buchbinder verbieten, ein Blatt weisses Papier vorn und hinten einzuheften, wie es sonst der buchbinderische Anstand erfordert. Solch ein Blatt weisses Papier ist ein zu grosser Versucher zu heimlichen Correspondenzen; wir aber sollen unsere Sträflinge nicht in Versuchung führen. Also genau controliren!«44

Im britischen Pentonville, dem ersten Gefängnis, das in Europa nach dem pennsylvanischen System errichtet wurde und das dem Zellengefängnis in Bruchsal als Vorbild diente, gehörte das Stempeln, Nummerieren und Einbinden zu den gängi42 Ebd., 290. 43 Rommel, Von der Einrichtung und Verwendung der Anstaltsbibliotheken (wie Anm. 16) 13. 44 Bienengräber, Die Wichtigkeit der Bibliothek und deren Handhabung (wie Anm. 17) 335.



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gen Prozeduren der bibliothekarischen Inventarisierung von Büchern. In anderen Gefängnissen wurden weiße Blätter und Seitenränder ebenfalls mit Stempeln oder gar durch systematische Schwärzungen für vandalistische Einträge unbrauchbar gemacht. »This [das Stempeln] was not only for identification of the book as prison property but also to make sure there was no space left for the prisoners to write on. For example, at Wormwood Scrubs, every little bit of blank space, margins, blank half-leaves between chapters, etc, was impressed with a black circle with a broad arrow in the centre.«45 Selbst das Stempeln wurde teilweise so exzessiv betrieben, »that there was almost more stamping than text«.46

P ALIMPSESTE : L OMBROSOS G EFÄNGNISSZEITUNG

UTOPISCHE

Der frühe Diskurs der Gefängnisgeistlichen über die Bibliotheken und Lombrosos Studie entwickelten ganz offensichtlich zwei entgegengesetzte Utopien bzw. Dystopien des Buchs: Denn wo Rommel und Bienengräber noch auf die vereinsamende Wirkung von Lektüre setzten und Isolation als Ausgangspunkt der sittlichen Besserung imaginierten, bezog sich Lombrosos empirische Untersuchung maßgeblich auf Bücher, um die Intaktheit der kerkerinternen Kommunikationskanäle zu propagieren. Die Notizen auf Buchseiten waren dabei nur Teil einer hypertrophen KerkerSemiosis, die sich laut Lombroso über Seitenränder, Bettgestelle, Tonkrüge, Wände, Türrahmen und Kirchenbänke bis hinein in die ephemersten Zeichenaggregate ausbreitete, sodass sich die Botschaften der Kriminellen selbst »im Sande, im Schnee, an den beschlagenen Fensterscheiben im Winter« nachverfolgen ließen.47 Um diesen Typus der Gefängniszeichen von den bisherigen Spuren und Indizien der Kriminologie abzugrenzen, bezeichnete sie Lombroso als Palimpseste. Dieser kreative Wortgebrauch mag zunächst irritieren. Schließlich verstehen schon Lombrosos Zeitgenossen unter einem Palimpsest ein Pergament oder eine Schriftrolle, »die von ihrer Handschrift mehrfach nacheinander gereinigt« und erneut beschriftet wurde.48 Aus einem akuten Mangel an beschreibbarem Material »bildet 45 Fyfe, Books Behind Bars (wie Anm. 5) 169 f. 46 Ebd. 47 Ebd., 304. 48 Thomas de Quincey, Confessions of an English Opium-Eater [1821/22] and Other Writings, hg. v. Barry Milligan, London 2003. Palimpseste wurden bereits im 16. und 17. Jahrhundert gefunden. Eine entscheidende Dynamisierung nahm die Rekonstruktion der alten Handschriften einerseits durch die Kolonialisierung, die zahlreiche Bibliotheken zugänglich machte, andererseits durch den Einsatz chemischer Substanzen wie Gallussäure, Kaliumbisulfat oder Salzsäure, die das Entziffern erleichterten. Über die ersten

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sich im Mittelalter als beachtliche Aufgabe für die Chemie heraus, die Schrift von der Schriftrolle abzulösen und diese solcherart für eine Gedankenfolge aufnahmebereit zu machen« – so die auf den britischen Schriftsteller Thomas De Quincey zurückgehende klassische Definition des Palimpsests.49 Einen Boom erlebten die Palimpseste in den Intellektuellenkreisen des 19. Jahrhunderts, als der römische Mönch Angelo Mai 1820 in der Bibliotheca Vaticana bei der Lektüre eines Buchs von Augustinus unter dem Text des Kirchenvaters eine zweite Schrift entdeckte, die sich alsbald als ein Transkript von Ciceros als verschollen geltender Abhandlung De re publica herausstellte.50 Mit diesem Fund und der Veröffentlichung des antiken opus magnum sicherte sich Mai einen Platz in den Geschichtsbüchern und das Palimpsest stieg rasch zu einem stimulierenden Denkbild für die tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationen auf, die sich im 19. Jahrhundert ereigneten und u.a. Dichter wie Giacomo Leopardi, Ludwig Börne und Charles Baudelaire dazu anregten, dieses Muster der palimpsesthaften Verkehrung von Unten und Oben mit psychologischen, sozialen oder politischen Konnotationen zu versehen.51

Wiederentdeckungen von Palimpsesten heißt es bei Dillon: »The earliest recorded palimpsest discovery was made in 1692 by Jean Boivin, sub-librarian of the Royal Library in Paris, when he discovered an early and important Greek transcription of large portions of the New Testament [...]. Other significant palimpsest discoveries occured during the eighteenths century, but the full significance of these finds was often not realized until the nineteenth century, largely because eigtheenth-century scholars were ignorant of, or refused to employ, newly developed chemical methods of resurrection.« Sarah Dillon, The Palimpsest – Literature, Criticism, Theory, London 2007, 17. Ein italienisches Lexikon führt dazu bereits 1838 aus: »PALINSESTO Libricciuolo, o Sorta di carta in cui si può cancellare quello che si è scritto. Lat. palimpsestus, palinxestus. Gr. παλίμψηστος, παλίνξεστος«. Eintrag im: Vocabolario della lingua italiana. Già compilato dagli Accademici della Crusca, ed ora novamente corretto ed accresciuto dallʼAbate Giuseppe Manuzzi. Tomo Secondo parte prima, Firenze 1838, 351. 49 Die folgenden Ausführungen zur Kulturgeschichte des Palimpsests basieren – bis auf unsere Studie zu Lombroso – weitgehend auf Harald Weinrich, Schriften über Schriften – Palimpseste in Literatur, Kunst und Wissenschaft, in: Wie zivilisiert ist der Teufel? Kurze Besuche bei Gut und Böse, hg. von Harald Weinrich, München 2007, 23–34. Die erste Studie zur kulturgeschichtlichen Bedeutung des Palimpsests im 19. Jahrhundert stammt von Josephine McDonagh, Writings on the Mind. Thomas De Quincey and the Importance of the Palimpsest in Nineteenth Century Thought, in: Prose Studies 10/2 (1987) 207–224. 50 Ebd. 51 Vgl. Weinrich, Schriften über Schriften – Palimpseste in Literatur, Kunst und Wissenschaft (wie Anm. 50) 23–34.



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Für Lombroso machte der Terminus wohl aus zwei Gründen Sinn: Denn erstens ließen sich die Palimpseste hinsichtlich seiner Atavismustheorie ebenfalls als Zeichen deuten, durch die im Verhalten des geborenen Verbrechers stammesgeschichtliche Abgründe zum Vorschein kamen, die auf einen in der modernen Zivilisation verschüttgegangenen humanoiden Code verwiesen. Zweitens – und dies scheint im Zusammenhang dieses Aufsatzes relevanter – nutzte Lombroso das geflügelte Wort vom Palimpsest, um einen vollkommen neuen Kommunikationszusammenhang zu beschreiben, der sich im Gegensatz zu den Überlegungen zur Atavismustheorie eben gerade nicht mit dem herkömmlichen Vokabular beschreiben ließ. Dabei bediente er sich der semantischen Dimension des Begriffs, die seit der Antike mit den Palimpsesten verknüpft ist, nämlich »magisch-mystische Vorstellungen von Erneuerung, Neuschöpfung, Durchscheinen«.52 Konkret ging es Lombroso darum, das Gefängnis, das gemeinhin als stummer, kommunikativ zum Erstarren gebrachter Raum galt, mit seiner Studie zu verlebendigen. Dem toten Stein der Mauern hielt die Studie die vitale Kraft der Palimpseste entgegen, die selbst in der existentiellen Extremsituation der Einzelhaft noch einen Kommunikationszusammenhang zwischen den Häftlingen stifteten. »Man findet fast überall, auch in wissenschaftlichen Kreisen, die Meinung, dass die Gefängnisse, besonders die Zellengefängnisse, stumm und starr wären, weil das Gesetz ihren Insassen Schweigen und Unbeweglichkeit auferlegt. Aber kein Gesetz kann die Natur verändern, und so vermag auch das Gefängniss trotz aller Verordnungen zu sprechen, sich zu bewegen, ja manchmal zu verwunden und selbst zu tödten; nur dass das alles, wie bei jedem Konflikt zwischen den menschlichen Bedürfnissen und dem Gesetze, sich auf wenig bekannten oder verborgenen, unterirdischen Wegen vollzieht: das Gefängnis redet und schreibt auf den Wänden der Zellen, dem Thon der Gefässe, dem Holze der Bettstellen, den Büchern, welche die Moral der Gefangenen heben sollen, dem Papier, in das die Heilmittel eingewickelt sind, ja auf dem Sande der Wandelhallen, in Stickereien auf den Gefängniskleidern kommt sein Inneres zum Ausdrucke.«53

Lombroso ging in seinem Kampf, die verbreitete Vorstellung von der grauen Zelle zu widerlegen, sogar so weit, das Ensemble der auf den Oberflächen der Gefängnisse ausgestreuten Palimpseste als eine »Gefängnisszeitung« zu bezeichnen, die »anonym, aber ziemlich regelmässig dem Gefangenen vor die Augen kommt und

52 Jürgen Wolf, Palimpsest – Bücheroberflächen zwischen Literatur-, Material- und Wirtschaftsgeschichte, in: Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung, hg. von Christina Lechtermann / Stefan Rieger, Zürich / Berlin 2015, 93–106, hier: 93. 53 Lombroso, Kerker-Palimpseste (wie Anm. 30) III.

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ihm mittheilt, was vorgefallen ist, was ihm bevorsteht«.54 Die Palimpseste sind daher auf der einen Seite mikrographische »Selbstbiografien, die ohne jede Prätension verfasst, deshalb aber umso lehrreicher sind«,55 auf der anderen Seite bildeten sie, von Lombrosos (utopischer) Makroperspektive aus betrachtet, die verstreuten Meldungen einer sich ständig aktualisierenden, dezentral organisierten Gefängnisszeitung, in der die Häftlinge über ihre Verbrechen, ihre Gesundheit, andere Insassen, die Behandlung durch das Gefängnispersonal, aber auch über ihre Kindheit, über Fantasien, Wünsche und Leseeindrücke berichten. Zu einer Zeit, in der in Frankreich und den USA die ersten von Häftlingen herausgegebenen Gefängniszeitungen entstehen, versucht Lombroso den Nachweis zu erbringen, dass es diese Form der freien Meinungsäußerung trotz Isolationshaft in jedem Gefängnis gibt.56 Die Kerker-Palimpseste entwerfen daher eine zu Rommels und Bienengräbers Ausführungen über die Gefängnisbibliotheken diametrale Raumkonzeption: Denn die theologisch-philanthropische Utopie von einer räumlichen und sozialen Strukturierung des Gefängnisses durch Bücher, die einen persistenten Lern- und Reflexionskosmos eröffnen, in den sich die Häftlinge in Einzel- oder Gruppensituationen flexibel einklinken können, um sich unter diskreter Anleitung der kirchlichen Bibliothekare an ihrer Selbstoptimierung zu versuchen, konterte Lombrosos empirische Auswertung mit einer kommunikativ-semiotischen Utopie, in der das Buch als Einfallstor verbotener Interaktion fungierte, indem es dem Mitteilungsbedürfnis der 54 Ebd., III. 55 Ebd. 56 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gibt es bereits erste Gefängniszeitungen im Sinne von vollständig oder zumindest in Teilen von Häftlingen verfassten und redaktionell betreuten publizistischen Organen. Der Abbé Crozes zitiert in seinen Souvenirs de la Petite et de la Grande Roquette stichprobenartig aus Journalen wie dem Tam-Tam. Georges Moreau (Hg.), Souvenirs de la petite et de la grande Roquette. Recueillis de différents côtés et mis en ordre par. Avec un portr. de l’Abbé Crozes et plusieurs fac-s., Paris [um 1885]. Im zu New York gehörigen Elmira erscheint im unmittelbaren historischen Umfeld der Kerker-Palimpseste bereits die Summary, ein Blatt, das »grösstentheils von Gefangenen verfasst [...] und eine Zeitlang wenigstens von einem Sträfling geleitet wurde«. Havelock Ellis, Verbrecher und Verbrechen. Mit 7 Tafeln und Text-Illustrationen. Autorisierte, vielfach verbesserte, dt. Ausg. von Hans Kurella, Leipzig 1895, 195. Die Summary enthält »neben Originalbeiträgen und den Nachrichten aus Elmira […] auch allgemeine Mittheilungen und unterscheidet sich«, wie der britische Sexualforscher und Sozial– reformer Havelock Ellis den Verurteilten zugutehält, »in Tun und Wahl der Artikel günstig von mancher Zeitung, die nicht in einer Strafanstalt erscheint«, ebd., 196. Mit den Kerker-Palimpsesten kann Lombroso also nun unterstreichen, dass auch in Italien ein adäquates Kommunikationsorgan für Häftlinge zur Verfügung steht bzw. dass diese sich selbst ihren Weg zu bahnen verstehen, um ihren Ansichten Ausdruck zu verleihen.



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Häftlinge über Trennblätter und Buchränder Nischen für Botschaften feilbot, die selbst im Zeitalter der Isolationshaft den Austausch zwischen den Zelleninsassen und ihrer Außenwelt aufrecht erhielt. Die Häftlinge nutzten die weißen Flächen, wie Lombroso zeigt, vor allem, um sich als historische und kommunikative Subjekte hervorzubringen. Dieser Prozess konterkariert ganz offensichtlich die Vorgaben der Gefängnisgeistlichen. Er geht aber zugleich auch nicht in Lombrosos kriminalanthropologisch-deterministischer Diagnose eines chronischen Narzissmus der Gefangenen auf. Vielmehr dominiert in den Palimpsesten ähnlich wie in anderen vandalistischen, subkulturellen Schreibweisen des Tags oder Graffitis das Bedürfnis, der Tristesse der Lebensumstände möglichst prägnante Botschaften entgegenzuhalten. Abgeschnitten von ihrem Leben außerhalb der Haftanstalt verspürten manche Verurteilte den Drang, sich – und sei es in der denkbar einfachsten Form – zu artikulieren. Die Palimpseste nehmen sich daher – Lombrosos emphatischer Vision einer virtuellen Gefängnisszeitung widersprechend – mit aller Nüchternheit betrachtet, eher wie »[e]infache[ ] Geschichten« aus, »nicht mehr ausdrückend als historische oder philosophische Essenzen in dialektaler Form oder mit Zeichen und Symbolen der Alltagssprache.«57 Sie sind nicht mehr als »Worte und Bilder, […] von einer Minderheit ohne Hoffnung auf Freilassung verfasst, die sich aber gegen ihre Anonymisierung im Kerker wehren.«58

S CHLUSSBETRACHTUNG Wie in dem Aufsatz gezeigt wurde, ist schon Reformern und Kriminologen des 19. Jahrhunderts die Bedeutsamkeit der Gefängnisbibliotheken bewusst. Die Bibliotheken wuchsen im Ansehen der Justiz dabei umso mehr, je mehr sie sich dem Ziel einer Besserung oder gar Resozialisierung der Straftäter verschrieben. Die Lektüre der Gefangenen sollte Geistlichen und später Psychologen erste Anknüpfungspunkte für die seelsorgerische und therapeutische Arbeit liefern sowie aus den Verbrechern integre und reflektierte Persönlichkeiten machen. Wie Cesare Lombrosos Schrift über die Kerker-Palimpseste demonstriert, ist dieses Projekt der Erziehung erwachsener Menschen hochgradig problematisch. Viele der Kommentare und 57 »Storie semplici, espresso nell’essenzialità delle date o del motto, in forma dialettale o con segni e simboli di un linguaggio convenzionale condiviso. Parole e immagini che pur nella differenza dello stile e della forma rimando a un background comune, a una marginalità senza speranza di riscatto, ma che rifiuta di annullarsi nell’anonimato del carcere.« Pierpaolo Leschiutta, Le scritture, i segni, i manufatti del carcere, in: Il museo di antropologia criminale di Cesare Lombroso, hg. von Montaldo Silvano / Tappero Paolo, Turin 2009, 127–132, 129. 58 Ebd.

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Zeichnungen der Häftlinge, die der Kriminalanthropologe und sein Team sammelten, zeugen von dem Eigensinn der Gefängnisinsassen, der sich dem seelsorgerischen Zugriff des Gefängnispersonals verweigert. Lombroso dokumentierte in seiner empirischen Studie diese Ablehnungshaltung, die sich bisweilen sogar direkt gegen den Gefängnisarzt und sein wissenschaftliches Interesse an den Häftlingen selbst richtete: »Adieu, Lombroso, das nächste Mal sollst Du mir ganze, nicht halbe Diätportionen verschreiben. Aber auf meinen Schädel für deine Sammlung zu rechnen, kannst Du Dir schenken.«59 Es gehört zu den offensichtlichen methodischen Stärken der Kerker-Palimpseste, dass Lombroso die aufgezeichneten Kommentare der Häftlinge umfassend präsentierte und lediglich nach thematischen Gesichtspunkten ordnete, bevor er sie wissenschaftlich analysierte und d.h. vor allem: nach Maßgabe der kriminalanthropologischen Ideologie überformte. Mehr als in seinen Büchern über den Geborenen Verbrecher und das Verhältnis von Genie und Irrsinn räumte Lombroso den Straftätern in den Kerker-Palimpsesten Platz ein, um zu Wort zu kommen – wenngleich im Modus der äußersten Verknappung. Seine Methodik machte ihn dabei zu einem Vorreiter archäologischer Projekte, die in den vergangenen Jahrzehnten in mittelalterlichen und neuzeitlichen Burgen und Kerkeranlagen ein umfassendes Korpus an Wandinschriften erfasst haben.60 Dieser Aufsatz hat zwei ideologische Inanspruchnahmen der Gefängnisbibliothek und ihrer Bestände kontrastiv gegenüberstellt und in ihrer historischen Bedingtheit erläutert. Während die Gefängnisgeistlichen Rommel und Bienengräber in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts noch an eine sorgfältige Auswahl von Büchern und eine bestimmte Rhythmik und Systematik ihrer Distribution und Besprechung die Hoffnung knüpften, die Gefangenen durch eine vereinzelnde Lektürepraxis auf den rechten Weg zu führen, imaginiert Lombroso das Buch als eines von mehreren Einfallstoren der Gefangenenkommunikation, die sich in Form von Palimpsesten über die Oberflächen der Gefängnisräume ausstreuen. Auf die Kritik an der Repressivität des italienischen Strafvollzugs antwortete Lombroso mit der Utopie eines trotz Einzelhaft funktionierenden Kommunikationsnetzwerks, über das sich die Straftäter mitteilen konnten. Statt Vereinzelung, Ruhe und emanzipatori59 Lombroso, Kerker-Palimpseste (wie Anm. 30) 49. 60 Vgl. Giorgio Batini, L’italia sui Muri, Firenze 1968; Luoc Boucherie, Les graffiti de la Tour de la Lanterne à la Rochelle. Essai d’inventaire. La Rochelle 1978; E. A. Humphrey Fenn, The Writing on the Wall. The Tower of London Contains on its Walls an Extensive Collection of Prisoners’ Graffiti, in: History today 19 (1969) 419–423; Luisa Miglio, Graffi di storia, in: »Visibile parlare«. Le scritture esposte nei volgari italiani dal Medioevo al Rinascimento, hg. von Ciociola Claudio, Napoli 1997, 59–71. Zuletzt: Detlev Kraack, Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise. Inschriften und Graffiti des 14.–16. Jahrhundert, Göttingen 1997, 57 ff. Für den Hinweis auf die archäologischen Ausgrabungen danken wir Prof. Dr. Henry Keazor.



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scher Lektüre fügten sich die Kommentare in den Gefängnisbüchern zusammen mit den anderen Palimpsesten auf Wänden, Bettgestellen und Kirchenbänken in Lombrosos mediologischer Vision zu einer Gefängnisszeitung, die eine kommunikative Partizipation zuließ und die letztlich die Besserung der Verbrecher behinderte. Gerade weil der Kriminelle ein kommunikatives Wesen ist und sich über alle Schranken der für ihn vorgesehenen produktiven Vereinzelung hinwegsetzt, bleibt er in Lombrosos Augen ein geborener und unverbesserlicher Outlaw, bei dessen Disziplinierung alle Maßnahmen der Gesellschaft versagen – selbst die Lektüre von Arpan, da Vinci und Klopstock.

»… ich hätte alles getan, damit ich ja da nicht mehr reinkomme.« Karzer, Besinnungsstübchen, Therapiestation: Räume der Erziehung? F LAVIA G UERRINI

»Frau Hammerle brachte mich durch den langen halbdunklen Gang in den Karzer. Nachdem sie mir Haarspangen und Schuhbänder abgenommen hatte, ließ sie mich endlich allein. […] Ich stand am Fenster das durch ein feinmaschiges Gitter verschlossen war. Die Luft war kaum zu atmen, denn das Fenster war nur ein paar Zentimeter geöffnet. Dann legte ich mich auf die Pritsche und dachte wieder einmal, wie so oft in letzter Zeit, über meine hoffnungslose Lage nach. […] Als ich endlich das Grübeln aufgab, betrachtete ich den Isolierraum genauer. Außer dem Eisengestell, dessen Einsatz durchhing wie eine Hängematte, befand sich noch eine Clomuschel mit Deckel im Raum. Sieben Schritte lang und fünf Schritte breit. Trotz der ersehnten Ruhe wurde mir übel bei dem Gedanken, daß hier Mädchen oft tagelang hausten. Das Essen wurde in Blechschüsseln serviert und zu allen Speisen gab es nur einen Löffel. Die Wände waren mit Autogrammen und ordinären Zeichnungen beschmiert.«1

Diese Beschreibung des Karzers des Landeserziehungsheims St. Martin in Schwaz/Tirol entstammt dem Tagebuch von Eva Birkl. Zu Beginn der 1960er Jahre 1

Eva Birkl (Pseudonym), Tagebuch ca. 1961/62. Die handschriftlichen Notizen aus der Zeit im Erziehungsheim wurden von Eva Birkl einige Jahre nach ihrer Heimunterbringung mit der Schreibmaschine abgetippt. Diese Version ist am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck archiviert. Überlegungen zur wissenschaftlichen Nutzung von historischen Ego-Dokumenten finden sich im Beitrag von Christina Antenhofer in diesem Band. Namen und personenbezogene Daten aus mündlichen wie schriftlichen Quellen wurden zum Schutz der Personen hier und in folgenden Quellenzitaten pseudonymisiert bzw. anonymisiert.

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war die damals 18 Jahre alte Jugendliche im Heim untergebracht und hielt ihre Eindrücke und Gedanken in einem Tagebuch fest. Nach einem missglückten Suizidversuch war sie in den Karzer gesperrt worden, um – so die Heimleiterin – wieder »halbwegs vernünftig«2 zu werden. Im Karzer eingesperrt zu sein, beschreibt das Mädchen als ambivalente Erfahrung. Mit der Bemerkung, nun endlich einige Zeit allein in »diesem stillen Raum« sein zu können, verweist sie auf die fehlende Ruhe und Privatsphäre in der Großgruppenunterbringung des Erziehungsheims. Vor diesem Bezugshorizont kann sie der Isolierung auch etwas Angenehmes abgewinnen. Allerdings bringt Eva Birkl auch deutlich zum Ausdruck, dass ihr die Karzerstrafe die Ausweglosigkeit ihrer Situation deutlich vor Augen führt. Ohne Beschäftigung in einer kargen Zelle für eine unbekannte Zeitdauer ausharren zu müssen, machte dem Mädchen seine weitgehende Machtlosigkeit im Kontext des Erziehungsheims besonders bewusst. Vom Karzer, gelegentlich auch als Isolierzelle oder Besinnungsstübchen bezeichnet, erzählen nahezu alle Zeitzeuginnen, die für einen Teil ihrer Jugend im Erziehungsheim St. Martin untergebracht waren und im Rahmen des Forschungsprojektes Regime der Fürsorge. Geschichte der Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg (1945–1990) interviewt wurden.3 In oft mehrstündigen biographischnarrativen Interviews erzählten die Interviewpartnerinnen ihre Lebensgeschichte mit Fokus auf die Zeit im Erziehungsheim.4 Die Erinnerungen an die Karzerstrafe 2

Birkl, Tagebuch (wie Anm. 1).

3

Das Projekt wurde am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck von 2013–2015 unter der Leitung von Prof. Michaela Ralser durchgeführt (Projekthomepage: https://www.uibk.ac.at/iezw/heimgeschichteforschung/). Insgesamt wurden 48 Interviews mit ZeitzeugInnen geführt. Davon waren 37 selbst als Kind oder Jugendliche in einem Erziehungsheim untergebracht, sechs waren als ErzieherInnen, Heim- oder Schulleitung tätig und fünf weitere waren etwa als JournalistInnen, PraktikantInnen o.ä. mit dem Fürsorgeerziehungssystem konfrontiert. Insgesamt wurden elf Frauen befragt, die einen Teil ihrer Jugend in St. Martin verbringen mussten.

4

Bei biographisch-narrativen Interviews werden die auskunftgebenden Personen durch eine erzählgenerierende Frage zu einer spontanen, freien, autobiographischen Erzählung angeregt, welche einen umfassenden und strukturierten Zugang zur Erfahrungswelt der befragten Personen bieten. Ebenso wenig wie andere Quellen lassen biographischnarrative Interviews Schlüsse auf eine vermeintliche historische Wirklichkeit zu – auch da es sich bei den biographischen Erzählungen immer um Konstruktionsleistungen in der gegenwärtigen Situation handelt –, allerdings enthalten sie mehr als andere Quellen die Sicht der damaligen Kinder und Jugendlichen auf die historische Praxis der Heimerziehung. Zu biographisch-narrativen Interviews vgl. u.a. Fritz Schütze, Biographieforschung und narratives Interview, in: Neue Praxis 13 (1983) 283–293, Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibung,



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ICH HÄTTE ALLES GETAN , DAMIT ICH JA DA NICHT MEHR REINKOMME «

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und die Verarbeitungsweisen dieser Erfahrung sind dabei unterschiedlich. Sie reichen von einem ambivalenten Erleben der Isolierung bis hin zu Suizidgedanken oder auch Suizidversuchen im Karzer. Bei weitem überwiegt der mit der Strafe verbundene Schrecken: Die Isolierung wird von fast allen Zeitzeuginnen als Gewalterfahrung thematisiert. Wie sehr die Mädchen dem Heim, den Erzieherinnen und der Heimleitung ausgeliefert waren, wurde für sie im Zuge der Karzerstrafen besonders spürbar. Am Beispiel der Karzerräume des Erziehungsheims St. Martin in Schwaz in Tirol soll im Folgenden eine Annäherung an diesen besonderen Raum der Erziehung versucht werden. Wird Erziehung als intentionaler Akt der Zielbestimmung und Planung von Erziehungsschritten und den dazu nötigen Erziehungsmitteln aufgefasst, so können nach Carola Groppe als Erziehungsräume sowohl jene »Räume verstanden werden, in denen Erziehung stattfindet und die eigens dafür geplant und eingerichtet werden«, als auch jene Räume, »denen selbst erziehende Funktionen zugewiesen werden«.5 Zentral für die Konstituierung eines Raumes als Erziehungsraum bzw. erziehendem Raum sind neben der auf die Funktionszuschreibung bezogenen materiellen Ausgestaltung die in den Räumen vollzogenen Praktiken. Damit schließt Groppe an Martina Löws handlungstheoretischen Raumbegriff an, mit dem Raum als »eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten«6 verstanden wird. Zwei Prozesse sind für die Raumkonstitution relevant: Das Schaffen, Bauen, Arrangieren und Gestalten von Räumen durch AkteurInnen wird als spacing bezeichnet. Darüber hinaus ist für die Konstituierung eines Raumes die Interpretation durch die AkteurInnen notwendig: »[Ü]ber Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst.«7 Löw bezeichnet dies als Syntheseleistung. Darauf aufbauend definiert Groppe Erziehungsräume folgendermaßen: »Erziehungsräume […] sind also dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen nicht nur die Intention der Erzieher zum Ausdruck kommt, sondern dass auch die Aneignungsprozesse der zu Erziehenden

Frankfurt / New York 1995; Gabriele Lucius-Hoene / Arnulf Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Wiesbaden 2004. 5

Carola Groppe, Erziehungsräume, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16 (2013) 59–74, vgl. insb. 61. Zweitere bezeichnet Carola Groppe in Abgrenzung als erziehende Räume. Der Karzer ist Teil des Erziehungsheims, ein geradezu prototypischer Erziehungsraum. Gleichzeitig kann er als erziehender Raum gefasst werden, da er seine Wirkung allein schon durch die architektonische Gestaltung entfalten sollte.

6

Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 224 f.

7

Ebd., 159.

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Raum schaffen und synthetisieren, ihm Bedeutung zuweisen. Dieser Prozess und das Ergebnis müssen dabei nicht mit der Absicht der Erzieher konform gehen.«8 Beide Aspekte, die Intentionen der im Erziehungsheim bzw. in den verantwortlichen politischen Ämtern tätigen Personen wie die Praktiken und Bedeutungszuweisungen der untergebrachten Jugendlichen, sollen im vorliegenden Beitrag in den Blick genommen werden. Auf eine Skizzierung der Bedeutung des Erziehungsheims St. Martin im Kontext der Tiroler Heimlandschaft folgt eine Rekonstruktion der weit zurückreichenden Geschichte des Karzers in diesem Heim. Gefragt wird nach der Materialität des Karzerraums, nach seiner historischen Entwicklung, den jeweiligen Debatten um die Funktion des Raums sowie der daraus folgenden Ausgestaltung des Karzers. Gegenübergestellt wird dem sodann die Debatte rund um die noch in den 1980er Jahren eingeführte geschlossene Therapiestation im Tiroler Bubenheim Kleinvolderberg. Anschließend erfolgt eine Annäherung an den Karzer aus dem Blickwinkel der Zeitzeuginnen: Welche Art von Raum ist der Karzer in den Erinnerungen der Zeitzeuginnen und von welchen Erfahrungen und Praktiken im Rahmen der Isolierstrafe erzählen sie? Im Sinne einer multiperspektivischen Annäherung an den Karzer wird sowohl auf schriftliches als auch mündliches Quellenmaterial zurückgegriffen: Relevant sind zum einen das im Tiroler Landesarchiv (im Folgenden TLA) erhaltene Verwaltungsschriftgut des Landesjugendamtes sowie die Handakten von Klaus Madersbacher,9 dem Gründer des Arbeitskreises Heimerziehung. Die Mitglieder des Arbeitskreises übten in den späten 1970ern und frühen 1980ern starke Kritik an der Heimerziehung in Tirol und wiesen auf eine Reihe von Missständen hin. Zum anderen werden die im Rahmen des Forschungsprojektes Regime der Fürsorge geführten biographisch-narrativen Interviews mit Zeitzeuginnen analysiert.

S T . M ARTIN IM K ONTEXT DER H EIMLANDSCHAFT T IROLS

HISTORISCHEN

In der Zweiten Österreichischen Republik (ab 1945) zeichnet sich Tirol im gesamtösterreichischen Vergleich durch seine außerordentlich dichte Heimlandschaft aus. Mit Ausnahme der Bundeshauptstadt Wien verfügt kein Bundesland über eine derartig hohe Anzahl an stationären Einrichtungen für Kinder: drei konfessionelle Großheime in Scharnitz, Martinsbühel und Fügen, drei Heime der Stadt Innsbruck, eines davon in Westendorf gelegen, drei Landeserziehungsheime in Kramsach, Kleinvolderberg und Schwaz, zwei Säuglings- und Kleinkinderheime in Arzl und 8

Groppe, Erziehungsräume (wie Anm. 5) 62.

9

Der Bestand ist archiviert am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck.



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Axams, Heime für Kinder mit Behinderungen in Axams, Mils und Innsbruck, zwei SOS-Kinderdörfer in Imst und Lienz sowie weitere kleinere Heimstrukturen.10 Von großer Bedeutung für die Jugendfürsorgelandschaft Tirols war außerdem das Landeserziehungsheim für schulpflichtige Buben am Jagdberg in Schlins im westlich angrenzenden Bundesland Vorarlberg. Ein bereits 1926 geschlossenes Abkommen zwischen den beiden Bundesländern besagte, dass die Institution auch für Tiroler Buben zur Verfügung stehen sollte, und tatsächlich stammten über Jahre hinweg mehr als die Hälfte aller Jagdberger Zöglinge aus Tirol.11 Im Reigen dieser vielfältigen Anstaltsstrukturen beansprucht das Erziehungsheim St. Martin aus mehreren Gründen eine herausragende Stellung: Über mehrere Jahrzehnte war es in Westösterreich das einzige Erziehungsheim für schulentlassene Mädchen, sodass Jugendliche aus fast allen österreichischen Landesteilen zum Zweck der Fürsorgeerziehung in diese Anstalt eingewiesen wurden.12 Ferner war St. Martin das Erziehungsheim in Westösterreich mit der am längsten zurückreichenden Geschichte als Disziplinaranstalt. Das ehemalige Klostergebäude wurde ab 1825 vom damaligen Kronland Tirol als Zwangsarbeitshaus genutzt. Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert wurde in der Anstalt eine eigene Abteilung für Korrigendinnen eingerichtet. Als verwahrlost geltende weibliche Kinder und Jugendliche zwischen acht und achtzehn Jahren wurden zur Korrektion und Besserung nach St. Martin eingewiesen. Ab 1930 wurde das Gebäude ausschließlich als Erziehungsanstalt für Mädchen und junge Frauen genutzt, in der NS-Zeit als Gauerziehungsheim und von 1945 bis 1990 als Landeserziehungsheim.13 Hervorzuheben ist sein langer Bestand als geschlossen geführtes Großheim bis in die 1980er Jahre. Erst in den frühen 1980ern wurde die Reduzierung der maximalen Belegfähigkeit von über 100 10 Michaela Ralser / Anneliese Bechter / Flavia Guerrini, Regime der Fürsorge. Eine Vorstudie zur Geschichte der Tiroler und Vorarlberger Erziehungsheime und Fürsorgeerziehungssysteme der Zweiten Republik, Innsbruck 2014, 28 ff. 11 Michaela Ralser / Nora Bischoff / Flavia Guerrini / Christine Jost / Ulrich Leitner / Martina Reiterer, Das System der Fürsorgeerziehung. Zur Genese, Transformation und Praxis der Jugendfürsorge und der Landeserziehungsheime in Tirol und Vorarlberg, Innsbruck, 2015, 84 sowie 318 f. Forschungsbericht, online verfügbar unter: http://www.uibk.ac.at/ iezw/heimgeschichteforschung/dokumente/das-system-der-fuersorgeerziehung.pdf. Zum Erziehungsheim Jagdberg siehe auch den Beitrag von Nora Bischoff in diesem Band. 12 Ralser / Bechter / Guerrini, Regime der Fürsorge (wie Anm. 10) 144 ff. 13 Michaela Ralser / Nora Bischoff / Flavia Guerrini / Christine Jost / Ulrich Leitner / Martina Reiterer, Das Landeserziehungsheim für Mädchen und junge Frauen St. Martin in Schwaz, Innsbruck, 2015, 37 ff. Forschungsbericht, online: http://www.uibk.ac.at/iezw/ heimgeschichteforschung/dokumente/das-landeserziehungsheim-fuer-maedchen-undjunge-frauen-st.-martin-in-schwaz_web.pdf. Im Jahr 1968 erfolgte eine Umbenennung in Landesjugendheim, die jedoch nicht mit einer konzeptionellen Änderung einherging.

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Plätzen auf 50 tatsächlich erreicht und es kam zur konzeptionellen Öffnung des Heims – ohne jedoch auf die geschlossene Aufnahmegruppe zu verzichten.14 Es muss davon ausgegangen werden, dass die Vorgeschichte des Erziehungsheims als Kloster und Zwangsarbeitshaus in vielfacher Hinsicht langanhaltende Wirkung entfaltete. Ein Aspekt betrifft die baulichen Gegebenheiten, die trotz mehrfacher Kritik15 in ihren wesentlichen Zügen erhalten blieben. Bei Zwangsarbeitshäusern – ebenso bei Klöstern – war eine disziplinierende Wirkung der Architektur auf das Raumverhalten sowie auf die Körper der InsassInnen intendiert: »Die Architektur der Anstalt zielte auf ein neuartiges Raumverhalten der Insassen. Funktionale Raumaufteilung, Isolierung gegenüber der Außenwelt und gegeneinander, Möglichkeiten hierarchischer Raumkontrolle, das waren die Anforderungen der Raumdisziplin, denen das Anstaltsleben sich unterzuordnen hatte. Auch ein neues Verhältnis der Häftlinge zu ihrem Körper und ihrer Sexualität zählte zur Programmatik der Zucht- und Arbeitshäuser: detaillierte Reinigungsvorschriften, ärztliche Kontrolle, Kurzscheren der Haare, Trennung der Geschlechter, Unterdrückung aller Sexualität zielen auf eine Körperdisziplin, deren Kehrseite die Duldung härtester Arbeit und körperlicher Strafen war.«16

Dies trifft in vielerlei Hinsicht auch auf das Erziehungsheim St. Martin zu. Das Gebäude zeichnete sich durch einen hohen Grad an Geschlossenheit nach außen sowie im Inneren aus: Die Eingangstür wurde stets verschlossen gehalten, viele der Fenster waren vergittert, das Anstaltsgelände von einer Mauer umgeben, aber auch im Heim konnten sich die Jugendlichen nicht frei bewegen. Alle Räume des alltäglichen Lebens – Schlafsäle, Essraum, Arbeits- und Schulräume – befanden sich unter einem Dach. Sogar die Kirche konnte zum Besuch der sonntäglichen Messe durch einen Verbindungsgang direkt erreicht werden. Für alle Jugendlichen war ein gleichförmiger Tagesablauf, dessen Hauptbestandteil die umfassende Anhaltung zur Arbeit war, festgelegt. Die Möglichkeiten des körperlichen Ausdruckes waren bei-

14 Ralser / Bischoff / Guerrini / Jost / Leitner / Reiterer, Das Landeserziehungsheim für Mädchen (wie Anm. 13) 94 sowie 103. 15 Tatsächlich wurde bereits in den ausgehenden 1920ern das Gebäude als ungeeignet für ein Erziehungsheim erachtet und ein Neubau gefordert und noch in den 1970ern wurde im Zuge einer psychologischen Studie der gefängnisartige Charakter des Heims kritisiert. Vgl. Ralser / Bischoff / Guerrini / Jost / Leitner / Reiterer, Das Landeserziehungsheim für Mädchen (wie Anm. 13) 49 ff., 97 f. 16 Christoph Sachße / Florian Tennstedt, zitiert in: Friedhelm Peters, Strafe und Heimerziehung, in: Herbert E. Colla / Thomas Gabriel / Spencer Millham / Stefan Müller-Teusler / Michael Winkler, Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, Neuwied 1999, 931–943, vgl. insb. 932.



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spielsweise durch verpflichtendes Tragen von Heimkleidung limitiert, die Körperhygiene wurde kontrolliert etc. Abbildung 1: St. Martin um 1900 – Zwangsarbeitshaus für Frauen samt Korrigendinnenabteilung für Mädchen von 8 bis 18 Jahren.

  Quelle: Stadtchronik Schwaz.

Erziehungsinstitutionen wie das Heim St. Martin entstanden im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert an vielen Orten.17 Historisch gründet die Heimerziehung unter anderem in einer Kritik an den sozialen Umständen des Aufwachsens und der als mangelhaft erachteten Sozialisation insbesondere von Kindern aus deprivilegierten Bevölkerungsschichten. Lange Zeit kam es allerdings in der Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen zu einer Umdeutung der sozialen Frage in eine Frage der Moral und somit in eine Frage der Erziehung. Dementsprechend war eine Entfernung der Kinder aus dem als moralisch ungenügend erachteten Umfeld häufig das Mittel der Wahl. Die Heimerziehung benötigte daher einen »möglichst isolierten Handlungsraum« und stand unter »besondere[m] Institutionalisierungszwang«, der sich in der Errichtung »im Idealfall abgeschlossener […] Institutionen [äußerte], in denen sich der Erziehungsgedanke uneingeschränkt, und damit auch tendenziell ›totalitär‹, entfalten kann.«18 Tatsächlich wurde auch in St. Martin die »sorgfältige Trennung von der Umwelt« für die eingewiesenen Mädchen als »erste 17 Vgl. hier die Beiträge von Lina Edith Eckhardt und Mirjam Lynn Janett in diesem Band. 18 Friedhelm Peters, Strafe und Heimerziehung (wie Anm. 16) 940.

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und wichtigste«19 Maßnahme erachtet. Das wuchtige Gebäude und das von Mauern umgebene zugehörige Areal wurden in der Nachkriegszeit als Erziehungsraum für als verwahrlost geltende jugendliche Mädchen als besonders geeignet erachtet. Die Isolierung der Jugendlichen von der Gesellschaft fand im Heim noch zusätzliche Zuspitzung zum einen in der so genannten A-Gruppe (Anfangs-Gruppe). Für einen Zeitraum von mindestens sechs Wochen sollten sich die Jugendlichen zu Beginn ihres Heimaufenthaltes in einem abgeschlossenen Gebäudetrakt und ohne Kontakt zu den anderen Mädchen »an die Gepflogenheiten der Anstalt gewöhnen«.20 Zum anderen bestand die Möglichkeit der strafweisen Isolierung im Karzer. Die Notwendigkeit der Isolation wurde nicht zuletzt mit der Verhinderung von Fluchten aus dem Heim argumentiert. Die dokumentierten Zahlen der so genannten Entweichungen sowie wissenschaftliche Erhebungen zeigen jedoch, dass Mauern, versperrte Türen und vergitterte Fenster das Entfliehen aus der Einrichtung keineswegs zu verhindern vermochten.21 Eher im Gegenteil scheint mit einer Erhöhung der Geschlossenheit ein Ansteigen von Fluchten auch unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen einherzugehen: Vergleichende Untersuchungen von Erziehungsheimen, in denen Isolierstrafen zur Anwendung kamen, mit Heimen, die diese Maßnahme ablehnten, zeigten, dass in ersteren Fluchten aus dem Heim etwa drei Mal häufiger vorkamen.22 Dennoch wurde in St. Martin an der Notwendigkeit von Karzerzellen und der Maßnahme der Isolierstrafe bis 1980 festgehalten.

D IE LANGE G ESCHICHTE

DES

K ARZERS

IN

S T . M ARTIN

Die Isolierstrafe war bereits im Zwangsarbeitshaus St. Martin, der Vorgängereinrichtung des späteren Erziehungsheims, im Rahmen der »Disziplinarbehandlung der Zwänglinge« vorgesehen. Zur »Aufrechterhaltung der Zucht und Ordnung im Hause« konnten als schärfste Maßnahmen das Einsperren »in einer Correctionszelle in der Dauer von höchstens drei Tagen« sowie die »Dunkelhaft in der Dauer von höchstens 24 Stunden«23 verordnet werden. Auch in der 1897 eingerichteten Korri19 Tiroler Tageszeitung vom 12.5.1962, 3. 20 Christiane Mair, Negative Kontrolle und ihre Auswirkungen auf das Erleben verwahrloster weiblicher Jugendlicher in einer geschlossenen Fürsorgeerziehungsanstalt [Diss.] Salzburg 1974, 106. 21 Siehe dazu den Beitrag von Nora Bischoff in diesem Band. 22 Christian von Wolffersdorff, Geschlossene Heimunterbringung, in: Colla / Gabriel / Millham / Müller-Teusler / Winkler, Handbuch Heimerziehung (wie Anm. 16) 917–023, vgl. insb. 920. 23 TLA, Statut der Zwangsarbeitsanstalt für Weiber in St. Martin bei Schwaz in Tirol, 1889, §24. Inwieweit die Strafpraxis jeweils den Statuten, Heimordnungen etc. entsprach – also



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gendinnenabteilung war als »Disziplinarstrafe« das »Absperren in einem separaten Raume bei Gegenwart einer Schwester oder ohne eine solche bis zur Dauer von 10 Stunden«24 vorgesehen. Allerdings durfte diese Strafe nur tagsüber erfolgen und Dunkelarrest war dezidiert ausgeschlossen. Es ist nicht bekannt, welcher Raum zum Vollzug dieser Strafen verwendet wurde und wie er ausgestattet war. Erste überlieferte Zeugnisse von der Einrichtung eigener Karzerzellen stammen aus der NS-Zeit. In der mittlerweile als Gauerziehungsheim geführten Institution wurde im Jahr 1941 eine so genannte Besinnungszelle im zweiten Obergeschoß eingebaut. Anhand von erhaltenen Plänen und Beschreibungen können die Umbauarbeiten rekonstruiert werden: Vermutlich aus ressourcenschonenden Gründen wurde das tote Ende eines Ganges samt einer angrenzenden Toilette durch das Einziehen einer Mauer samt Futtertüre sowie das Verschließen eines Zuganges zum Treppenhaus abgetrennt. Die Fenster der Zelle und des angrenzenden Klos wurden vergittert.25 Laut einer überlieferten Hausordnung des Gauerziehungsheims sollten Jugendliche, »die gegen die Hausordnung verstoßen oder nicht erziehungswillig sind und sich den Anordnungen der Erzieher widersetzen«,26 eine Karzerstrafe von bis zu drei Tagen verbüßen, wenn weder »Belehrungen, Ermahnungen und Verwarnungen«27 noch die leichteren Strafen Wirkung erzielten. Zu den Rahmenbedingungen wurde festgehalten, dass die Höchstdauer der Strafe drei Tage betrug, eine Verdunkelung des Raums nicht erlaubt, allerdings »[b]ei schwerwiegenden Fällen [die] Abgabe einfacher Kost zugelassen«28 war. Soweit rekonstruiert werden konnte, wurde St. Martin nach Ende des Zweiten Weltkrieges als Erziehungsheim ohne größere Veränderungen zum vormaligen Gauerziehungsheim weitergeführt.29 Ab Beginn der 1950er Jahre wurde von der Heimleiterin der Bedarf nach baulichen Adaptionen der Karzerzelle gemeldet: Geob und mit welcher Häufigkeit der festgelegte Strafrahmen ausgeschöpft bzw. auch überschritten wurde –, ist aus den erhaltenen Dokumenten nicht ersichtlich. Insofern geben diese Dokumente keinen Einblick in eine etwaige Wirklichkeit der Strafen, sie sind jedoch interessante Quellen in Bezug darauf, welche Ordnung sich eine Institution zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt gab. 24 TLA, Statut für die Korrigenden-Abteilung der Zwangsarbeitsanstalt für Weiber zu St. Martin bei Schwaz als Anhangs zum Statute dieser Anstalt, §11. 25 TLA, Gauselbstverwaltung Tirol-Vorarlberg, GK-30/41, Anlage zum Schreiben an die Unterabteilung Vc-Hochbau vom 7.10.1941. 26 TLA, Gauselbstverwaltung Tirol-Vorarlberg, GH-III/R/1, Hausordnung für die Erziehungsheime des Reichsgaues Tirol und Vorarlberg, 15.12.1940, §27. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Vgl dazu Ralser / Bischoff / Guerrini / Jost / Leitner / Reiterer, Das Landeserziehungsheim für Mädchen (wie Anm. 13) 64 ff.

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fordert wurden »[s]plitterfreies oder bruchfestes Glas«,30 »gesicherte Möbel für das Besinnungsstübchen«31 und schließlich gar »4 neue Besinnungsstübchen zu oben.«32 Über Jahre hinweg fehlten die finanziellen Mittel für diese (sowie weitere) vom Heim gewünschte Baumaßnahmen, woraufhin 1956 das Landesjugendamt der Landesbaudirektion die Notwendigkeit von weiteren Karzerräumen zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin im Heim darlegte: »Die Bauwünsche der Anstalt Schwaz betreffen wirklich nur ganz dringende Dinge und ist insbesondere auch der endliche Einbau von 3 Besinnungszellen ein dringliches Erfordernis; zu der ›Zöglingsrevolte‹ im Feber 1953, welche seinerzeit auch die Presse beschäftigte, wäre es im Erziehungsheim Schwaz nie gekommen, wenn damals schon drei isolierte Besinnungszellen bestanden hätten, weil es dann gelungen wäre, die Rädelsführerinnen sofort zu isolieren.«33

Zudem wurde die ungünstige Lage der bisherigen Karzer bemängelt: »Die derzeit behelfsmäßig vorgesehenen Besinnungszellen liegen mitten im Anstaltsgebäude und dort untergebrachte randalierende Zöglinge verbreiten im ganzen Haus Unruhe und sind diese Räume auch keineswegs wirklich ausbruchs- bzw. fluchtsicher.«34 Tatsächlich zeigte das Urgieren der Heimleitung sowie der zuständigen Mitarbeiter im Landesjugendamt Wirkung: Im Winter 1956/57 wurden drei neue Karzer im Erdgeschoß eingebaut. Dabei wurden, hinsichtlich des spacings, um mit Löw zu argumentieren, zunächst zwei Aspekte als besonders wichtig erachtet. Einerseits die räumliche Lage in der Peripherie des Heims: Durch den Einbau der Zellen im Erdgeschoß waren sie sowohl von den im ersten und zweiten Obergeschoß gelegenen Schlaf- als auch den Essräumen weit genug entfernt, um den geregelten Heimalltag nicht zu stören. Andererseits wurden bauliche Maßnahmen getroffen, die eine Flucht aus dem Karzer verhindern sollten, gleichzeitig aber eine Überwachung erlaubten. Die Fenster wurden von innen vergittert und es wurden schwere Eisentüren mit Gucklöchern eingebaut. 30 TLA, ATLR, Abt. Vb-469 V 6 e, Schreiben des Erziehungsheims St. Martin an das Landesjugendamt vom 22.8.1950. 31 TLA, ATLR, Abt. Vb-469 V 6 e, Schreiben des Erziehungsheims St. Martin an das Landesjugendamt vom 22.8.1952. 32 TLA, ATLR, Abt. Vb-469 V 6 e, Schreiben des Erziehungsheims St. Martin an das Landesjugendamt vom 10.8.1953. Mit oben war aller Wahrscheinlichkeit nach die 1941 eingebaute Isolierzelle im 2. Stock der Anstalt gemeint. 33 TLA, ATLR, Abt. Vb-469 V 6 e, Schreiben des Landesjugendamtes an die Landesbaudirektion vom 22.3.1956. 34 TLA, ATLR, Abt. Vb-469 V 6 e, Schreiben des Landesjugendamtes an die Landesbaudirektion vom 15.6.1956.



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Bereits kurz nach Fertigstellung wurde die Einrichtung – ein fixierter Tisch, eine Sitzgelegenheit sowie das Bett – einer der drei neuen Karzerzellen von einem Mädchen »restlos demoliert« und das Fenster »durch das wohl zu weitmaschige Gitter hindurch«35 zerstört. Daraufhin wurde Maria Vogl, die Leiterin der psychiatrischen Kinderbeobachtungsstation in Innsbruck, zu einer Besichtigung der Karzer nach St. Martin eingeladen.36 Ihrer Einschätzung nach sei die Lage in St. Martin wesentlich ungünstiger als in einer Psychiatrie, da dort für »tobende Patienten« stets ein oder zwei Wärter sowie die »üblichen klinischen Maßnahmen« zur Verfügung stehen. Vogl sprach hier den Umstand an, dass die Psychiatrie als dritte geschlossene Institution neben Gefängnis und Erziehungsheim über mehr Mittel und geeigneteres Personal zur Disziplinierung und Wahrung der Ordnung verfügte. Damit sich derartige Vorfälle wie die genannte Demolierung des Karzerinventars nicht wiederholen, schlug Vogl eine spezielle Gestaltung der Karzer vor, die den Mädchen in »psychogenen Erregungszuständen« keine Angriffsfläche bieten sollten. Sie entwarf ein zum Liegen wie Sitzen geeignetes Möbelstück (vgl. Abb. 2). Es sollte aus Hartholz (Ahorn oder Buche) und ohne Nägel angefertigt werden und eine Seite des Raumes vollständig ausfüllen. Vorgesehen war eine Vertiefung von ein bis zwei Zentimetern für die Matratze, welche während des Tages aus der Zelle entfernt werden sollte. Zu überlegen sei, so Vogl, außerdem Folgendes: »Das Fenster des Raumes ist nur von außen zu öffnen. Vielleicht besteht die Möglichkeit, eine ebenfalls von außen und zwar leicht anbringbare Verdunkelungsplatte bereitzustellen, um ähnliche Erregungsausbrüche wie derjenige, der zur Demolierung führte, durch völlige Dunkelheit zumindest abzuschwächen.«37

35 TLA, ATLR, Abt. Vb-469 V 6 e, Aktenvermerk vom 29.8.1957. 36 Die Psychiaterin Maria Vogl (später: Nowak-Vogl) war eine zentrale Akteurin im System der Fürsorgeerziehung. Als Leiterin der psychiatrischen Kinderbeobachtungsstation (1954–1987) schlug sie Heimeinweisungen vor, nahm Kinder aus Erziehungsheimen zur Diagnosestellung in die Kinderbeobachtungsstation auf und war als Konziliarärztin sowie als Beraterin der Heimleitungen und des erzieherischen Personals in den Heimen selbst tätig. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Kinderbeobachtungsstation der Maria Nowak-Vogl wird an den Instituten für Erziehungswissenschaft, für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie sowie für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck durchgeführt (Projekthomepage: http://www.uibk.ac.at/iezw/forschungen-zur-kinderbeobachtungsstation/). 37 TLA, ATLR, Abt. Vb-469 V 6 e, Schreiben von Maria Vogl an das Landesjugendamt vom 17.9.1957, Skizze im Anhang.

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Abbildung 2: Karzermöbelstück – Skizze der Psychiaterin Maria Vogl. 

  Quelle: TLA, ATLR, Abt. Vb-469 V 6 e, Schreiben von Maria Vogl an das Landesjugendamt vom 17.9.1957.

Der große Einfluss, den die psychiatrische Wissensproduktion auf das Feld der Sozialpädagogik und im Besonderen auf das Feld der Fürsorgeerziehung seit etwa der Wende zum 20. Jahrhundert ausübte,38 wird auch am konkreten Beispiel des Erziehungsheims St. Martin sichtbar. Den Ideen zur Gestaltung der Karzer wurde vom Erziehungsheim St. Martin sowie vom Landesjugendamt bereitwillig zugestimmt. Auch dem Vorschlag der Verdunkelung wurde nachgekommen – aller Wahrscheinlichkeit nach allerdings entgegen den Regularien, denn in keiner der überlieferten Straf- und Heimordnungen ist Dunkelarrest zugelassen. Zur praktischen Umsetzung wurde folgendes Vorgehen erwogen: »Was die […] im Bedarfsfall von außen anzubringende ›Verdunkelungsplatte‹ anlangt, so müsste es vielleicht dem Hausmeister möglich sein, eine solche herzustellen, sofern nicht von der Zeit der Kriegsverdunkelung geeignete Behelfe vorhanden sind.«39 Die Legitimation der Karzerstrafe erfährt hier eine Modernisierung durch eine Verwissenschaftlichung der Funktionszuschreibung sowie der räumlichen Gestal38 Vgl. dazu Michaela Ralser, Anschlussfähiges Normalisierungswissen. Untersuchungen im medico-pädagogischen Feld, in: Fabian Kessl / Melanie Plößer (Hg.), Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen, Wiesbaden 2010, 135–153. 39 TLA, ATLR, Abt. Vb-469 V 6 e, Schreiben des Landesjugendamtes an das Erziehungsheim St. Martin vom 8.10.1957.



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tung. Neben der Bestrafung von Jugendlichen soll der Karzer als kurativer Raum zum Abbau »psychogener Erregungszustände« dienen. Das verhaltenspsychologische Argument der Sinnesdeprivation zum Schutz vor Reizüberflutung wurde verwendet, um eine vermutlich zuvor nicht zugelassene Verschärfung der Isolierstrafe durch die Verdunkelung der Zelle zu ermöglichen.

K RITIK AN DER S TRAFISOLIERUNG DIE A BSCHAFFUNG DES K ARZERS

UND

Deutliche Kritik an der Isolierstrafe und die Forderung nach deren Abschaffung sind im Fall von St. Martin erst aus den 1970er Jahren überliefert. Eine vom Land Tirol an das Psychologische Institut der Universität Salzburg vergebene Auftragsforschung bemängelte die »Unzulänglichkeiten der bisherigen Erziehungsmethoden.«40 In den Vorschlägen zur architektonischen, gruppen- und betriebsstrukturellen sowie erzieherischen Umgestaltung der Heime findet sich auf St. Martin bezogen die Forderung nach der »Abschaffung des Karzers in seiner gegenwärtigen Form, [denn] der Jugendliche [sic] darf nach schweren Verfehlungen oder nach einer Flucht nicht isoliert werden; in einer solchen Isolation würde er nicht lernen, über seine Probleme mit jemandem zu sprechen. Gerade dies zu fördern wäre aber Aufgabe des Heims.«41 Trotz dieser Empfehlung wurde noch 1976 eine neue »Vorschrift zur Durchführung der Strafisolierung im Landesjugendheim Schwaz« und eine »Strafordnung zur Durchführung der Strafisolierung im Landesjugendheim Schwaz«42 erlassen. Aus einer Vielzahl von Gründen konnten Jugendliche für die Dauer von bis zu 72 Stunden im Karzer eingesperrt werden: »Prügeleien unter den Zöglingen, tätlicher Angriff eines Zöglings gegen eine Erzieherin oder sonstige Aufsichtsperson, qualifizierte [d.h. vorsätzliche, Anm.] Arbeitsverweigerung, qualifizierter Diebstahl, Aufhetzung zum Ungehorsam und unerwünschten Verhalten, bewußte Demonstration einer Verhaltensweise, die eine erzieherische Tätigkeit sowohl im Einzelfall als auch in der Gruppe verhindert oder wesentlich behindert.«43 40 Erwin Roth / Elisabeth Ardelt / Meinrad Perrez / Hans Reinecker, Soll-Modell zur Reorganisation der Heime Kleinvolderberg und St. Martin, Salzburg, 1973, 2 (nicht veröffentlichter Forschungsbericht, erhalten in den Handakten Klaus Madersbachers, Privatarchiv Michaela Ralser). 41 Roth / Ardelt / Perrez / Reinecker, Soll-Modell (wie Anm. 40) 20. 42 Auszug aus: Vorschrift bzw. Strafordnung zur Durchführung der Strafisolierung im Landesjugendheim Schwaz, erhalten in den Handakten Klaus Madersbachers (Privatarchiv Michaela Ralser). 43 Ebd. Entweichungen wurden unter den letzten Punkt subsummiert.

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Insbesondere die letzten Punkte dieser Aufzählung ließen einen erheblichen Interpretationsspielraum seitens des Heimpersonals und somit eine Anwendung der Karzerstrafe aus einer Vielzahl von Gründen zu. Der Karzer in St. Martin wurde offiziell 1979 abgeschafft. Allerdings gibt es laut den Überlieferungen des Arbeitskreises Heimerziehung, der in den Jahren 1979–1982 in vielfältigen Aktionen scharfe Kritik an der Praxis der Heimerziehung in Tirol übte, noch zumindest aus dem Jahr 1980 Berichte über die Anwendung der Strafisolierung.44 Im selben Jahr erging eine parlamentarische Anfrage an den Bundesminister für Justiz. Unter anderem enthielt sie die Frage, ob Zwangsmaßnahmen in der Heimerziehung wie die strafweise Isolierung im Karzer mit der österreichischen Rechtsordnung im Einklang stünden.45 Zu Beginn des darauf folgenden Jahres langte eine Antwort mit folgender Feststellung ein: »Schon nach dem geltenden Jugendwohlfahrtsrecht können öffentliche Erziehungsträger Erziehungsrechte nur in dem Rahmen ausüben, innerhalb dessen sie auch den Eltern zustehen. […] Eltern und Jugendwohlfahrtsstellen dürfen daher die Kinder nicht einer quälenden und menschenunwürdigen Erziehung unterwerfen. […] Aus dem Gesagten ergibt sich, daß Maßnahmen, die den angeführten Grundsätzen widersprechen, mit der österreichischen Rechtsordnung nicht im Einklang stehen.«46

Ein differenziertes und abgestuftes Strafsystem, dessen schärfste Maßnahme das Einsperren in eine karge Zelle war, wurde lange Zeit als unumgänglich für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin im Heim erachtet. Eine autoritäre Pädagogik samt ihrer Auffassung, dass Kinder und Jugendliche »mit einer als notwendig erachteten Härte und strategischen Gefühlskälte erzogen werden müssen, um [sie] gesellschaftlich zu ›zähmen‹ und zu einem wertvollen, nützlichen und angepassten Mitglied der Gesellschaft zu machen«,47 überdauerte in Erziehungsheimen weitaus länger unwidersprochen als in anderen gesellschaftlichen Institutionen.48 Soweit aus den schriftlichen Quellen sowie den Interviews mit Zeit44 Brief vom 23.1.1981, erhalten in den Handakten Klaus Madersbachers (Privatarchiv Michaela Ralser). 45 Anfrage der Abgeordneten Dr. Reinhart u.a., erhalten in Handakten Klaus Madersbachers (Privatarchiv Michaela Ralser). 46 Schreiben an den Herrn Präsidenten des Nationalrates vom 13.2.1981, erhalten in den Handakten Klaus Madersbachers (Privatarchiv Michaela Ralser). 47 Benno Hafeneger, Strafen, prügeln, missbrauchen. Gewalt in der Pädagogik, Frankfurt am Main 2011, 27. 48 Eine Langzeitreihe des Meinungsforschungsinstituts Emnid zur Frage, welche Erziehungsziele bei Kindern in erster Linie verfolgt werden sollen, zeigt, dass in den 1950er Jahren über zwei Drittel der Befragten Ordnung und Fleiß sowie Gehorsam und Unter-



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zeuginnen bekannt ist, kam die Maßnahme der Strafisolierung in den 1980er Jahren nicht mehr zum Einsatz. Allerdings brachte die Tiroler Landesregierung ihre konservative Haltung noch 1987 in einer Stellungnahme zu einem kritischen Bericht des Landeskontrollamtes über das Erziehungsheim St. Martin mit der Feststellung zum Ausdruck, dass »den Erzieherinnen jede Art von Disziplinierungsmaßnahme entzogen ist«49 und als »›Erziehungsmittel‹ nur mehr der ›Beziehungsaufbau und das Gespräch‹«50 zur Verfügung stehen.

D IE GESCHLOSSENE T HERAPIESTATION E RZIEHUNGSHEIM K LEINVOLDERBERG

IM

Während in St. Martin die Strafisolierung ab den 1980er Jahren als Erziehungsmaßnahme nicht mehr zulässig war, wurde in St. Martins Pendant für männliche Jugendliche in Kleinvolderberg, das nur rund 15 Kilometer entfernt lag, eine geschlossene Therapiestation eingerichtet. Das Landeserziehungsheim Kleinvolderberg bestand von 1945 bis 1991. Durch seine abgeschiedene Lage waren die untergebrachten Jugendlichen zwar von der dörflichen Umgebung weitgehend isoliert, das Heim war jedoch nicht gleichermaßen architektonisch abgeschlossen wie St. Martin. Ein »ambivalente[s] Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit«51 zeigt sich deutlich in den Debatten um die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit des Einsperrens von einer bestimmten Gruppe von Jugendlichen. In den 1950ern und 1960ern etwa ist eine Zunahme der Bemühungen der beruflichen Integration der Jugendlichen durch vermehrte Unterbringung auf externen Arbeitsstellen zu verzeichnen, gleichzeitig erstarkte die Forderung nach der Einrichtung einer so genannten Isolierstation, der schließlich 1968/69 mit der Einrichtung zweier Karzer-

ordnung nannten, nur knapp 30 % Selbstständigkeit und freier Wille. In den 1970er Jahren stimmten nur noch etwa 10 % der Befragten den Erziehungszielen des Gehorsams und der Unterordnung zu. Vgl. Helmut Klages, Gesellschaftliche Werte in Deutschland im internationalen Vergleich, o.J. (Internetpublikation). Von den in St. Martin tätigen Erzieherinnen nannten 1973 auf die Frage nach ihren Erziehungszielen 90 % Sauberkeit und Ordnung als wichtigstes Ziel und 50 % Anpassung als zweitwichtigstes Erziehungsziel. Vgl. Mair, Negative Kontrolle (wie Anm. 20) 190 f. 49 TLA, Kontrollamtsbericht St. Martin 1987, Stellungnahme der Landesregierung, 5. 50 Ebd., 3. 51 Ralser / Bischoff / Guerrini / Jost / Leitner / Reiterer, Das System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 11) 489.

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räume nachgegeben wurde. Nahezu gleichzeitig, nämlich ab Anfang der 1970er Jahre, beschrieb sich Kleinvolderberg als konzeptionell offenes Heim.52 Insbesondere aufgrund der hohen Anzahl von Fluchten aus dem Heim wurde die Möglichkeit, Jugendliche geschlossen unterzubringen, gefordert. 1979/80 kam es schließlich zum Ausbau der Karzer zur so genannten Therapiestation, einer abgeschlossenen Abteilung im Heim, mit Platz für bis zu vier Jugendliche. Sie bestand aus vier Einzelzimmern, zwei Therapieräumen, von denen einer für Besprechungen, der andere zum Arbeiten, Basteln und für Freizeitaktivitäten verwendet wurde, sowie zwei Isolierräumen samt »Toilettanlagen, Waschgelegenheiten und den nötigen Sicherheitsvorkehrungen«.53 Laut Heimkonzept hatte die Therapie im Heim den Zweck, bei Jugendlichen, die als »nicht zur Mitarbeit bereit« galten, die »Motivation« zur Mitwirkung zu erreichen.54 Dazu konnten so genannte Dauerflüchter, also häufig aus dem Heim entwichene Jugendliche, bis zu vier Wochen in der Therapiestation angehalten werden – wenn es als notwendig erachtet wurde, auch mehrfach.55 Dass auf die Möglichkeit der geschlossenen Unterbringung nicht verzichtet werden könne, sondern im Gegenteil eine Öffnung des Heimes diese geradezu notwendig mache, wurde vom Landesjugendamt folgendermaßen argumentiert: »[Es] ergibt sich bei der ebenfalls von der Gesellschaft geforderten Öffnung der Heime nur die Alternative, durch noch größere Intensivierung der fachlichen Betreuung verhaltensgestört[e] Jugendlich[e] zu einer Änderung ihrer für sie selbst und auch für die Gesellschaft negativen Verhaltensweisen zu beeinflussen. Dies erfolgt im gegenständlichen Heimkonzept im Rahmen einer Therapiestation, in welcher eine derartige intensive Betreuung, unabhängig von den sonstigen Heimregeln, nach individuellen Bedürfnissen möglich gemacht werden kann.«56

52 Ralser / Bischoff / Guerrini / Jost / Leitner / Reiterer, Das System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 11) 487 f. 53 Abschrift der Konzeption der Therapiestation des Landesjugendheims Kleinvolderberg, erhalten in den Handakten Klaus Madersbachers (Privatarchiv Michaela Ralser). 54 TLA, Abt. Vb, ohne Signatur, Erziehungskonzept des Landesjugendheimes Kleinvolderberg, o.J., Anhang zum Schreiben an die Präsidialabteilung I vom 24.9.1981, 8. 55 Ebd., 9 f. 56 TLA, Abt. Vb, ohne Signatur, Schreiben an die Präsidialabteilung I vom 24.9.1981.



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Abbildung 3: Foto aus dem Artikel des Arbeitskreises Heimerziehung »Kann an der Heimerziehung in Tirol etwas verbessert werden?« – vergitterte Fenster der Therapiestation in Kleinvolderberg.

Quelle: betrifft: Sozialarbeit, Zeitschrift für Praxis und Ausbildung, 34/1980, 28.

Dass im Vordergrund jedoch weniger die intensive Betreuung nach individuellen Bedürfnissen, sondern die Möglichkeit des Einsperrens stand, wurde schon bald in Gesprächen von Mitgliedern des Arbeitskreises Heimerziehung mit Angehörigen der Erzieherschaft wie politisch Verantwortlichen deutlich. Unter anderem kritisierte der Arbeitskreis, »daß vom fachlichen Standpunkt aus eine Therapie unter Zwang – gegen den Willen des Zu-Behandelnden – kaum denkbar«57 sei, und schlug vor, Jugendliche nach einer Flucht aus dem Heim ohne Strafe wieder in ihre Gruppe aufzunehmen und allfällige therapeutische Maßnahmen in der Gruppe durchzuführen.58 Als Alternative könne für als besonders schwierig erachtete Jugendliche eine therapeutische Wohngemeinschaft außerhalb des Heimes eingerichtet werden. Dieser Vorschlag wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, »daß es die ›Flüchter‹ dort angenehmer hätten als im Heim«59 und somit das Fluchtverhalten verstärkt würde. An der Therapiestation und der Möglichkeit des Einsperrens und Isolierens von Jugendlichen wurde festgehalten, unter anderem mit der Begründung, sie sei als »abschreckende generalpräventive Einrichtung [notwendig], um Fluchten all-

57 Tiroler Arbeitskreis für Heimerziehung, Kann an der Heimerziehung in Tirol etwas verbessert werden?, in: bS – betrifft. Sozialarbeit, Zeitschrift für Praxis und Ausbildung 34 (1980) 26–28, vgl. insb. 27. 58 Protokoll der Besprechung vom 3.4.1980, erhalten in Handakten Madersbacher (Privatarchiv Michaela Ralser). 59 Ebd.

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gemein zu verhindern.«60 Der Arbeitskreis Heimerziehung sprach die Vermutung aus, dass die Bezeichnung Therapiestation im Wesentlichen eine rhetorische Modernisierung darstelle: »Der Karzer – eine aus einer überholten Konzeption der Fürsorgeerziehung noch praktizierte Erziehungsmaßnahme mit vollkommenem Ausschließen des Jugendlichen als Strafe, ohne sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeit – soll also bleiben, aber ›Therapiestation‹ heißen.«61 Dieser Kritik, dass die Therapiestation als »ein Ersatz für den ›Karzer‹ geführt«62 werde, schloss sich nur zwei Jahre später auch das Landeskontrollamt in einem Bericht an. Bereits in den 1970er Jahren wurde in US-amerikanischen Studien belegt, dass Programme bzw. Einrichtungen, die mit einer Kombination aus Einsperren und klinischer Betreuung und Therapie (custody/clinical model) arbeiteten, bei vergleichsweise hohen Kosten kaum positive Ergebnisse erzielen konnten.63 Problematisch an diesen Programmen – und auch an der Führung der geschlossenen Therapiestation in Kleinvolderberg – war die Grundannahme, dass abweichendes Verhalten und Delinquenz vorwiegend ein Ausdruck des psychischen Zustandes der Jugendlichen sei und nicht als soziales Phänomen gedeutet wurde. So wurden auch im Erziehungsheim Kleinvolderberg Fluchtversuche als problematisches Verhalten einzelner und nicht als verallgemeinerbare Kritik an den Verhältnissen im Heim verstanden. Dementsprechend gestaltete sich die Behandlung der Jugendlichen als Versuch, eine Lösung auf der Ebene der Individuen zu erwirken – den einzelnen Jugendlichen gleichsam zu bessern, und dies häufig in der ungünstigen und bisweilen inhumanen Umgebung einer abgeschlossenen Einrichtung oder Abteilung und nicht im sozialen Kontext.64

D IE KOLLEKTIVE R AUMERFAHRUNG S TRAFISOLIERUNG IM K ARZER

DER

Alle interviewten Zeitzeuginnen, die eine Zeit ihrer Jugend und Kindheit in St. Martin verbrachten, berichten vom Karzer, die meisten waren selbst zumindest ein Mal von der Isolierung im Karzer betroffen. Laut den Heimordnungen konnte

60 Ebd. 61 Tiroler Arbeitskreis für Heimerziehung, Heimerziehung (wie Anm. 57) 27. 62 TLA, Landeskontrollamt, Bericht über die Einschau beim Landesjugendheim Kleinvolderberg, 1982, 39. 63 Sam Ferrainola, Glen Mill Schools, in: Colla / Gabriel / Millham / Müller-Teusler / Winkler, Handbuch Heimerziehung (wie Anm. 16) 945–949 vgl. insb. 945 ff. 64 Ebd.



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die Karzerstrafe bis zu einer Dauer von drei Tagen und Nächten verhängt werden.65 Allerdings erinnern sich Zeitzeuginnen, dass dieser Zeitraum immer wieder überschritten wurde: So berichtet etwa Bettina Maurer, dass sie öfters ein bis drei Tage, manchmal aber auch für einen längeren Zeitraum – »einmal eine Woche, einmal 14 Tage«66 – in den Karzer gesperrt wurde. Darüber, wie die Isolierung im Karzer von den einzelnen erfahren und verarbeitet wurde und welche Bedeutung der Karzerstrafe im Kontext der Heimunterbringung sowie für den weiteren Verlauf des Lebens zugeschrieben wird, geben die biographischen Erzählungen in den Interviews wie den Tagebuchaufzeichnungen Auskunft. Die Gründe für eine Karzerstrafe waren vielfältig. »Strenges Rauchverbot (24 Stunden Karzer)«67 notierte etwa Eva Birkl Anfang der 1960er Jahre in ihr Tagebuch. Eine weitere Zeitzeugin, Irmgard Thöni, erinnert sich an zwei oder drei Karzerstrafen: Eine musste sie für die Dauer von drei Tagen verbüßen, weil sie sich derart vor der Gerstensuppe geekelt hatte, dass sie sich übergeben musste, eine weitere wurde verhängt, weil sie den Putzdienst in der Früh nicht ausreichend gründlich erledigt hatte.68 Unter anderem wurden auch gröbere Streitereien und Handgreiflichkeiten zwischen den Jugendlichen, unerlaubter Tauschhandel mit den wenigen privaten Besitztümern wie Kleidungsstücken oder kleinen Geschenken von Verwandten, Arbeitsverweigerung, Diebstahl von Essen aus der Küche oder dem Obstgarten und besonders Fluchtpläne und -versuche sowie die Beihilfe zur Flucht mit der Isolierung im Karzer bestraft. In den Erinnerungen der Zeitzeuginnen scheint die Verhängung der Strafe jedoch immer auch ein Stück weit von der Willkür der Erzieherinnen und der Heimleiterin abhängig: »Hie und da sind dann mal alle [Karzer] leer gewesen und dann waren wieder alle besetzt, ich glaube je nachdem wie sie gerade aufgelegt waren [wie die Erzieherinnen gelaunt waren, Anm.].«69 Nach dem Sozialpädagogen Christian von Wolffersdorff lassen sich anhand des Karzers besonders deutlich die Macht- und Herrschaftsverhältnisse zeigen, denen die Jugendlichen im Erziehungsheim ausgesetzt waren: »Isolierräume wirken wie stumme Botschaften, die sich, auch ohne dass sie benutzt werden, Gehör verschaf-

65 TLA, Gauselbstverwaltung Tirol-Vorarlberg, GH-III/R/1, Hausordnung für die Erziehungsheime des Reichsgaues Tirol und Vorarlberg, 15.12.1940; Auszug aus der Heimordnung, in: Christiane Mair, Negative Kontrolle (wie Anm. 20) 110; Vorschrift zur Durchführung der Strafisolierung im Landesjugendheim Schwaz, erhalten in den Handakten Klaus Madersbachers (Privatarchiv Michaela Ralser). 66 Interview Bettina Maurer (Pseudonym) 00:12. 67 Birkl, Tagebuch (wie Anm. 2). 68 Interview Irmgard Thöni (Pseudonym) 00:11, 00:27. 69 Interview Irmgard Thöni (Pseudonym) 02:42.

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fen. Sie prägen die Beziehung der Beteiligten durch ihr bloßes Vorhandensein.«70 Die Existenz dieses besonderen Raumes und Möglichkeit der Verhängung von Karzerstrafen regulierten das Verhalten der Jugendlichen. Auf die rückblickende Einordnung der Bedeutung ihrer Heimunterbringung für den Verlauf ihres weiteren Lebens hin befragt, reflektiert Irmgard Thöni: »Ich finde das extrem, du bist als Mensch in Schwaz nichts wert gewesen. […] Und du weißt ja nicht warum, weil mir wäre nie vorgekommen, dass ich irgendetwas angestellt hätte, ein Verbrechen begangen hätte. Aber du bist nichts wert gewesen und du hast müssen tun, was sie sagen und wehe, wenn du es nicht getan hast, dann bist [du] gleich bestraft worden. […] Außer es sind alle Karzer besetzt gewesen, dann bist [du] halt nicht reingekommen, da hast [du] halt warten müssen [bis einer frei war] und bist halt nachher reingekommen.«71

Das Gefühl von Geringschätzung und der Herabwürdigung durch das Heimpersonal wird von der Zeitzeugin damit in Verbindung gebracht, dass im Erziehungsheim absoluter Gehorsam gefordert wurde. Der Karzer diente dabei als Drohung und als Mittel, um Unterordnung und Anpassung der Jugendlichen zu erwirken. In diesem Sinne war allein die Existenz der Isolierzellen im Erziehungsheim eine wirkungsvolle Botschaft an die Jugendlichen. Es gibt aber auch Zeugnisse davon, dass die Jugendlichen diese Intention der Erzieherschaft zu unterlaufen vermochten und sich den Raum auf gewisse Art und Weise aneignen konnten. Der stummen Botschaft des Karzers fügten sie ihre eigenen Botschaften auf den Wänden der Karzerzellen hinzu. Dass einige dieser Inschriften überliefert sind, verdankt sich dem Umstand, dass in den 1970er Jahren der Sozialarbeiter Klaus Madersbacher, der Journalist und Komponist Bert Breit und der Fotograf Gert Chesi Zugang zum Erziehungsheim St. Martin erhielten, um eine Fotoreportage zu erstellen. Bei näherer Betrachtung der insgesamt 22 Fotografien der Karzerzelle zeigt sich, dass es sich nicht nur um »Autogramme und ordinäre Zeichnungen«72 handelt, die auf der Karzermauer zu sehen sind, wie dies Eva Birkl in ihrem Tagebuch festhielt. Die im Karzer eingesperrten Mädchen hinterließen auf den Wänden der Zelle auch eine Reihe von Botschaften, die von ihren Wünschen, Sehnsüchten, ihrem Ärger und ihrer Wut erzählen. »Ich hasse diesen elenden Zwang«, ritzte beispielsweise eine der Jugendlichen in die Wand und brachte damit ihren Zorn über die Karzerstrafe sowie vermutlich die Heimunterbringung insgesamt auf den Punkt. Andere Formen der Umdeutung des Raumes geschahen etwa in ironischen, offen provokanten aber auch freundschaftlich-

70 Wolffersdorff, Geschlossene Heimunterbringung (wie Anm. 22) 920. 71 Interview Irmgard Thöni (Pseudonym) 02:41. 72 Birkl, Tagebuch (wie Anm. 2).



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solidarischen Äußerungen. Die Mädchen brachten damit die Mauern auf eine Art und Weise zum Sprechen, die der intendierten Wirkung des Karzers entgegenstand. Die Inschriften auf den Karzerwänden können als ein machtvolles Mittel der Kommunikation unter den Jugendlichen und als eine kreative Möglichkeit des Widerstandes gelesen werden. Das wird beispielsweise in der Schlussszene des Filmes Bambule73 thematisiert, in der zwei jugendliche Mädchen eine Karzerstrafe verbüßen müssen und über die Möglichkeiten der Veränderung ihrer Situation nachdenken. Eine der beiden, Irene, überlegt, wie es trotz der Rahmenbedingungen, die systematisch dagegen wirken, möglich wäre, Solidarität unter den Jugendlichen zu erzeugen: »Dann muss man eben reden, viel mehr reden, warum wir das machen, was wir wollen – reden! Und den Bunker mit richtigen Sachen vollschreiben. Nichʼ ›Alles Scheiße‹ oder ›Peter, I love you‹. Nee! ›Heime sind Gefängnisse‹, ›Wir wollen richtig bezahlt werden!‹, ›Nieder mit dem Lajug [Landesjugendamt]!‹ So was.«74 Karzerinschriften konnten kraftvolle Botschaften sowohl an andere Jugendliche als auch an die Erzieherschaft sein. Dass dies dem Heimpersonal bewusst und von ihm gleichzeitig nicht erwünscht war, zeigt sich auch darin, dass die Wände des Karzers regelmäßig neu gestrichen wurden – auch kurz nachdem die genannte Fotoserie entstanden war.75

73 Der Fernsehfilm Bambule wurde 1970 gedreht, das Drehbuch stammt von Ulrike Meinhof. Bereits in den Jahren zuvor kritisierte Meinhof die Zustände im Bereich der Fürsorgeerziehung, berichtete darüber in Rundfunksendungen, beteiligte sich an Kampagnen zur Verbesserung der Zustände im Erziehungsheim Eichenhof und unterstützte so genannte Trebegänger, entflohene Fürsorgezöglinge. Der Film thematisiert die Situation im Westberliner Erziehungsheim Eichenhof und wurde mit den dort untergebrachten Mädchen gedreht. Die meisten Jugendlichen stellten sich selbst dar, die Erzieherinnen wurden von Schauspielerinnen gespielt. Der Spielfilm beruht auf Tatsachen. Kurz vor der geplanten Ausstrahlung im Mai 1970 wurde Ulrike Meinhof verdächtigt, an der Befreiung von Andreas Baader beteiligt gewesen zu sein, und der ARD setzte den Film ab. Vgl. Klaus Wagenbach, Nachwort, in: Ulrike Marie Meinhof, Bambule. Fürsorge – Sorge für wen?, Berlin 1980 [1971], 95–106, vgl. insb. 95 f. Nahezu 25 Jahre wurde Bambule unter Verschluss gehalten und war erstmals 1994 im Fernsehen zu sehen. 74 Ulrike Marie Meinhof, Bambule (wie Anm. 73) 94. 75 Mündliche Auskunft von Klaus Madersbacher, der die Negative der Fotografien dem Forschungsprojekt Regime der Fürsorge überließ. Insgesamt sind 36 Fotografien des Karzers, des so genannten Kinderzimmers, der Heimbibliothek sowie der Arbeitsräume – Wäscherei und Näherei – am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck archiviert.

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D IE I SOLIERUNG IM K ARZER BEDROHLICHE E RFAHRUNG

ALS EXISTENTIELL

Die Analyse der Interviews zeigt, dass das Erleben der Karzerstrafe, die Verarbeitung derselben und die rückblickende Bedeutungszuweisung von einer Vielzahl von Gründen abhingen. Relevant sind unter anderem die soziale Position der jeweiligen Jugendlichen im Heimkontext, die oft mit der familiären Situation und den Unterstützungsmöglichkeiten in Zusammenhang stand, sowie der Grund für die Verhängung der Karzerstrafe. Die Zeitzeugin Brigitte Fischer berichtet im Interview davon, eine relativ privilegierte Position innegehabt zu haben. Ende der 1950er Jahre veranlasste ihr Großvater die Einweisung ins Erziehungsheim, da sie der Schule mehrere Wochen ferngeblieben war. Im Interview erinnert sich Brigitte Fischer, dass die Heimunterbringung nicht erfolgte, »weil ich ein ›schlimmes Mädchen‹ war, [sondern] damit ich da unten die Haushaltungsschule mache.«76 Mehrere Zeitzeuginnen berichten davon, dass die Mädchen der so genannten Schulgruppe in St. Martin bevorzugt behandelt wurden. Brigitte Fischer erzählt von einer Karzerstrafe aufgrund eines von ihr ausgeheckten Streiches: »Also wir haben schon einige Spitzbübereien auch gehabt, weil mir ist allerhand eingefallen. Wir haben ja müssen fürs Militär Pullover einstricken [flicken], wenn da Löcher waren. Und da habe ich innen die Ärmel zugenäht. […] Und natürlich, als sie drauf gekommen sind, […] weil mich eine verraten hat, dass mir das eingefallen ist, bin ich wieder im Karzer gehockt [gesessen].«77

Die von ihr genannten Spitzbübereien können als kreative Art des Widerstandes gegen die umfangreiche Anhaltung zu eintönigen Arbeiten gedeutet werden. Damit setzte sich Brigitte Fischer bewusst dem Risiko von Sanktionen aus, welche in diesem Fall auch eintraten. Die Beschreibung der Strafe als wieder im Karzer hocken läßt vermuten, dass sie möglicherweise als unangenehm oder ärgerlich, nicht jedoch als existentiell bedrohlich wahrgenommen wurde. Das Erleben der Karzerstrafe wird allerdings von mehreren Zeitzeuginnen als extreme Gewalterfahrung beschrieben. Besonders deutlich wird das in den Erzählungen von Viktoria Baumgartner und Bettina Maurer, die beide in den frühen 1970ern im Erziehungsheim St. Martin untergebracht waren. Viktoria Baumgartner schildert die Karzerstrafe in unmittelbarem Zusammenhang mit den Auswirkungen der verwehrten Ausbildung im Erziehungsheim auf ihr Leben. Trotz eines psychologischen Gutachtens, das ihr eine hohe Intelligenz beschied und unbedingt die Ermöglichung eines Bildungsweges empfahl, wurden von Seiten des Erziehungsheims 76 Interview Brigitte Fischer (Pseudonym) 00:01. 77 Interview Brigitte Fischer (Pseudonym) 00:17.



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keine dahingehenden Schritte gesetzt. Auch eine Lehrstelle konnte sie aufgrund der stigmatisierenden Wirkung der Fürsorgeerziehung weder während noch nach der Heimunterbringung finden. Diese Erfahrung hatte eine vernichtende Wirkung auf ihr Selbstwertgefühl: »Ich war Abschaum, […] ich war asozial und ich habe es geglaubt, das war das Schlimmste daran: Ich habe es geglaubt.«78 An dieser Stelle schließt in der biographischen Narration unmittelbar die zweite Erfahrung an, die für Viktoria Baumgartner rückblickend die größte negative Auswirkung auf den Verlauf ihres weiteren Lebens hatte: »Dann ist noch etwas wahnsinnig Schlimmes gewesen, das mich dann wirklich psychisch gebrochen hat. Ich habe dann in meiner Verzweiflung versucht zu fliehen. Sie haben mich natürlich wieder erwischt und dann bin ich drei Tage in den Karzer gekommen.«79 Sie schildert das Eingesperrtsein in der kargen Zelle und die unzureichende Versorgung. Besonders bedrückend war für sie der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten: »Das Schlimmste war den ganzen Tag nichts zu tun, ich bin im Kreis gelaufen und habe die Sekunden gezählt. Wie ich danach rausgekommen bin, war ich psychisch gebrochen. Ich war fertig, ich hätte alles getan, damit ich ja da nicht mehr reinkomme. Ich hätte alles getan. Danach war ich brav. Ja und das Schlimme an dem Ganzen: Ich habe mich schuldig gefühlt. Ich habe gemeint, ich habe es verdient. […] Es war ja nicht nur das Heim, die ganze Gesellschaft hat am gleichen Strang gezogen. Es haben ja alle so gedacht.«80

Die Karzerstrafe markiert den Punkt, an dem Viktoria Baumgartner das Gefühl hat, psychisch gebrochen worden zu sein. Dieses Gefühl des Gebrochen(-worden-)seins erinnert sie als Schlüsselemotion in Bezug auf die Heimunterbringung und deren Auswirkungen auf ihren weiteren Lebensverlauf, den sie aufgrund der verwehrten Bildung und ihrer emotionalen und psychischen Verfassung als von großen Schwierigkeiten und Einschränkungen geprägt schildert. Auch Bettina Maurer musste unter anderem aufgrund eines Fluchtversuches eine mehrtägige Karzerstrafe verbüßen und sie empfand das Vorenthalten jeglicher Ablenkung oder jeglichen Zeitvertreibs ebenfalls als qualvoll. Die Zeitzeugin erzählt, wie sie begann, über ihre ausweglose Lage nachzudenken: »Und da habe ich mich dazumal schon gefragt, was ist denn eigentlich überhaupt das Leben wert? Wer bist Du überhaupt? […] Warum ausgerechnet ich? Ja, dann bin ich auf den Gedanken gekommen, der einzige Ausweg irgendwo ist ein Selbstmordversuch.«81 Diese Überlegungen bringt sie unmittelbar mit der Wirkung des Raumes und dem Erleben der Isolation in der Karzerzelle in Verbindung: »Teils war es eine Bedrän78 Interview Viktoria Baumgartner (Pseudonym) 00:09. 79 Interview Viktoria Baumgartner (Pseudonym) 00:09. 80 Interview Viktoria Baumgartner (Pseudonym) 00:10. 81 Interview Bettina Maurer (Pseudonym) 00:15.

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gung auf mich selber, auf meine Seele hin, dass ich mir gesagt habe: Ich will nicht mehr. Und teils: Ich will meine Ruhe haben. Das hat mich irrsinnig fertig gemacht.« Prägend für Bettina Maurer, die von einer sehr belasteten, von Armut und Gewalt geprägten Kindheit vor ihren mehrfachen Heimaufenthalten erzählt, ist die Erfahrung, dass auch in St. Martin niemand für sie da war: »Es war eine schwierige, schwierige Zeit in St. Martin. […] Man hat niemanden gehabt, mit dem man reden kann.«82 Dieses Gefühl des Alleingelassenseins erfährt seine Zuspitzung im Rahmen der Strafisolierung. Sowohl bei Viktoria Baumgartner als auch bei Bettina Maurer ging der Karzerstrafe ein Fluchtversuch aus Verzweiflung voraus. Dies wurde von den Erzieherinnen wie der Heimleitung allerdings keineswegs als Ausdruck einer emotionalen Notlage gedeutet, sondern vielmehr als Renitenz, Ungehorsam und Widersetzung gegen die strengen Heimregeln, was die schärfste zur Verfügung stehende Strafe nach sich zog. Aus dem Blickwinkel der jungen Frauen allerdings verstärkte sich das Gefühl der Perspektivenlosigkeit, des Ausgeliefertseins sowie des Alleinseins mit den eigenen Problemen und Nöten. In der Erinnerung der Zeitzeuginnen steht die Erfahrung des Eingesperrtseins im Karzer paradigmatisch für das Erleben der Unterbringungsmaßnahme im Erziehungsheim insgesamt. Derart gewaltsame Eingriffe in das Leben von Mädchen und jungen Frauen – die Einweisung in das geschlossen geführte Erziehungsheim sowie die dort angewandte restriktive und demütigende Strafpädagogik – werden lange Zeit als ein legitimer Umgang mit als verwahrlost geltenden Jugendlichen erachtet. Beiden Zeitzeuginnen ist gemein, dass sie diese Haltung der Gesellschaft und die degradierende Sicht auf Fürsorgeerziehungszöglinge internalisierten und dass es für beide erst spät in ihrem Leben möglich war, sich davon abzugrenzen und ein positives Selbstbild aufzubauen.

D ER K ARZER –

EIN

R AUM

DER

E RZIEHUNG ?

In geschlossenen Erziehungsheimen, wie St. Martin in Tirol eines darstellte, spiegelte sich das Erziehungsziel der (Unter-)Ordnung und Disziplin in den architektonischen Gegebenheiten wider: die Abgeschlossenheit nach außen sowie im Inneren, die umfassenden Möglichkeiten der räumlichen Kontrolle beispielsweise durch versperrte Türen oder Gucklöcher zu den Schlafräumen der Mädchen und jungen Frauen, die Großgruppenunterbringung etc. Einerseits sollte das Erziehungsheim den Raum für die Erziehung als verwahrlost geltender Jugendlicher bieten, gleichzeitig sollten die räumlichen Strukturen selbst erzieherische Wirkung auf die so genannten Zöglinge entfalten. Ein Element dieses räumlichen Arrangements waren die Isolierzellen. Bis zu ihrer Abschaffung, nur zehn Jahre vor der endgültigen Schlie82 Interview Bettina Maurer (Pseudonym) 00:16.



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ßung des Erziehungsheims St. Martin, waren die Karzerräume ein zentraler Bestandteil der geschlossen geführten Institution. Dabei »erfüllen Isolierräume in ohnehin schon geschlossenen Heimen eine ähnliche Funktion wie diese selbst im System der Jugendhilfe: Sie sollen, wenn überhaupt, nur als ›ultima ratio‹ benutzt werden. Zugleich verkörpert aber schon ihr bloßes Vorhandensein einen unübersehbaren Macht- und Strafanspruch der Institution.«83 Auch für St. Martin gilt, dass die Strafisolierung im Karzer als schärfste Strafe, als ultima ratio gedacht war. Vermutlich führte jedoch bereits die Verfügbarkeit der Karzerräume dazu, dass aus einer Vielzahl von Gründen darauf zurückgegriffen wurde, von denen bei weitem nicht alle als schwere Verstöße zu charakterisieren sind.84 Auch weil die Verhängung der Strafen aus der Perspektive der Jugendlichen ein Stück weit von der Willkür oder Laune der Erzieherinnen bzw. Heimleiterin abhängig war, wird durch die Karzerstrafe die Machtasymmetrie im Kontext der Heimerziehung besonders deutlich. Als Element einer »Erziehung zum Untertan« war mit dem Karzer das Ziel verbunden, den »Willen zu brechen« und die Jugendlichen an »Gehorsam zu gewöhnen«.85 Der Karzer wirkt auf vielfältige Weise: als Drohung, Abschreckung und Aufforderung, aber auch als Strafe und Disziplinierung. Die Wirkung des Karzers beschränkte sich weder auf jene Jugendlichen, die zur Strafe in die Isolierzelle eingesperrt wurden, noch auf den Zeitraum der jeweiligen Strafe. Der Raum selbst besaß einen dauerhaften Appellcharakter, sodass davon ausgegangen werden kann, dass das Vorhandensein von Karzerräumen das Verhalten aller im Erziehungsheim untergebrachten Jugendlichen beeinflusste – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Weise. Stellt der Karzer für viele Jugendliche eine körperlich wie psychisch spürbare Gewalterfahrung mit teilweise schwerwiegenden Folgen für den weiteren Lebensverlauf dar, so ist dennoch die Raumerfahrung im Karzer nicht auf das Erleiden der Strafe beschränkt. Überliefert sind auch widerständige Praktiken wie etwa das Beschriften der Wände oder das Demolieren des Mobiliars. Am Beispiel des Karzers werden prinzipielle Widersprüche der (geschlossenen) Heimunterbringung sichtbar. Besonders deutlich zeigt sich in der Praxis der Strafisolierung die grundlegende Problematik der Zwangs- und Fürsorgeerziehung, dass »die Paradoxie, dass Strafe und Erziehung wechselseitig füreinander eintreten kön-

83 Wolffersdorff, Geschlossene Heimunterbringung (wie Anm. 22) 920. 84 Die Anmerkung einer Erzieherin in den frühen 1970er Jahren, dass ihrer Ansicht nach für »Kleinigkeiten« keine Karzerstrafen verhängt werden sollen, verweist darauf, dass offensichtlich die Strafisolierung auch aus weniger gravierenden Gründen zur Anwendung kam. Vgl. Mair, Negative Kontrolle (wie Anm. 20) 193. 85 Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009, 63.

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nen, nie aufgehoben wurde.«86 Die Heimeinweisung selbst wurde von den davon betroffenen Kindern und Jugendlichen zumeist als Strafe wahrgenommen und war häufig auch als solche gedacht.87 Gleichzeitig war der unter Erziehung gefasste Umgang mit den Jugendlichen von rigiden Ordnungen und einem abgestuften Strafsystem zur Ahndung von Übertretungen geprägt. Der Karzer war manifester Ausdruck der im Erziehungsheim herrschenden Strafpädagogik. Allerdings verfehlen Strafen »die mit ihr verbundene Spekulation auf den guten Zweck […] in der Regel systematisch. Denn Strafen erzeugen Angst vor Bestrafung und steuern damit – wenn überhaupt – das Verhalten auf der untersten Stufe der Moralität.«88 Dieser Problematik waren sich zumindest einige der Erzieherinnen in St. Martin bewusst. Schon in den 1950er Jahren gab es Vermutungen, dass es sich bei dem veränderten Verhalten einiger Jugendlicher mehr um eine so genannte Scheinanpassung handelte als um das Ergebnis eines geglückten Erziehungsprozesses.89 Auch in den 1970er Jahren ging der Großteil der Erzieherinnen nicht davon aus, dass die Ziele der Heimerziehung in St. Martin erreicht werden konnten.90 Vertreter des Landesjugendamtes gaben um 1980 an, dass rund 50 Prozent der Mädchen und jungen Frauen als unerziehbar aus dem Erziehungsheim St. Martin entlassen wurden.91 Veränderungen wurden trotzdem erst spät und vergleichsweise langsam angegangen.92 86 Peters, Strafe und Heimerziehung (wie Anm. 16) 931. 87 Das wird noch in den 1980er Jahren in den Debatten um die geschlossene Therapiestation in Kleinvolderberg sichtbar. Der Vorschlag der Einrichtung einer therapeutischen Wohngemeinschaft für häufig flüchtende Jugendliche wird von den Vertretern des Landesjugendamtes als nicht gerechtfertigt erachtete Belohnung einer Gruppe von als besonders renitent erachteten Jugendlichen aufgefasst und somit abgelehnt. 88 Siegfried Müller, zitiert in: Peters, Strafe und Heimerziehung (wie Anm. 16) 935. 89 Dies wird in diversen Erziehungsberichten, die aus dem Heim an das Jugendamt gesendet und in den Fallakten der Jugendlichen abgelegt wurden, deutlich. Vgl. dazu Nora Bischoff / Flavia Guerrini / Christine Jost, In Verteidigung der (Geschlechter)Ordnung. Arbeit und Ausbildung im Rahmen der Fürsorgeerziehung von Mädchen. Das Landeserziehungsheim St. Martin in Schwaz 1945–1990, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 25/1+2 (2014) 220–247, vgl. insb. 232 ff. 90 »Die tun da herinnen nur, weil sie genau wissen, dass sie sonst Striche und Karzer bekommen.« So äußerte sich beispielsweise eine der zehn befragten Erzieherinnen in Christiane Mairs Studie. Mair, Negative Kontrolle (wie Anm. 20) 191. 91 Tiroler Arbeitskreis für Heimerziehung, Heimerziehung (wie Anm. 57) 27. 92 Eine Anpassung der Einrichtung an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen gelang auch in den 1980er Jahren nicht mehr, sodass das Heim letztlich insb. aufgrund mangelnder Zuweisungen durch das Jugendamt schließen musste. Vgl. Ralser / Bischoff / Guerrini / Jost / Leitner / Reiterer, Das Landeserziehungsheim für Mädchen (wie Anm. 13) 105 ff.



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Allgemein führt die Frage danach, inwieweit der Karzer ein Raum der Erziehung sein kann, zur Auseinandersetzung um die (Un-)Möglichkeit von Erziehung unter Bedingungen des Zwangs. Auch wenn sich das Feld der Jugendhilfe in den vergangenen Jahrzehnten parallel zu den gesellschaftlichen Entwicklungen und teilweise über sie hinausgehend wandelte und deutlich liberalisierte, so gehört das »Verständnis, dass Erziehung sein muss und es ohne Strafe nicht geht«,93 nach wie vor zu den weitgehend akzeptierten Grundannahmen. Auch gegenwärtig fällt es schwer, auf die Möglichkeit des Einschließens als erzieherische Maßnahme zu verzichten. Das zeigt nicht nur die Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung im Bereich der Jugendhilfe in Deutschland nur wenige Jahre nach dessen Abschaffung.94 Unter diesem Aspekt wären auch Bootcamps, intensivpädagogische Maßnahmen im weit entfernten Ausland oder auch als Erlebnispädagogik klassifizierte Maßnahmen, wie die Unterbringung auf einem Segelboot oder etwa in kanadischen Wäldern, zu diskutieren.95 Auch diese können nahezu unentrinnbare Situationen schaffen und muten den Kindern und Jugendlichen wie den erzieherischen Fachkräften zu, unter Bedingungen des Zwangs ein pädagogisches Arbeitsverhältnis zu etablieren.

93 Peters, Strafe und Heimerziehung (wie Anm. 16) 941. 94 In Österreich sind im Bereich der Jugendhilfe geschlossene Heime per Gesetz nicht zugelassen, es werden jedoch Einrichtungen des benachbarten Auslandes zur stationären Unterbringung genutzt. Inwieweit es sich dabei auch um geschlossen geführte Heime handelt, konnte nicht eruiert werden. 95 Auch der Jugendstrafvollzug ist an der problematischen Schnittstelle von Strafe und Erziehung situiert. Vgl. dazu den Beitrag von Mechthild Bereswill in diesem Band.

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Abbildung 4: Inschriften auf der Karzerwand.

  In den 1970er Jahren entstand eine Serie von Fotografien des Karzers in St. Martin. Der Sozialarbeiter Klaus Madersbacher, der Journalist und Komponist Bert Breit und der Fotograf Gert Chesi erreichten, dass ihnen für eine Fotoreportage Zugang zum Landeserziehungsheim St. Martin gewährt wurde. Neben den insgesamt 22 Fotografien des Karzers sind auch 14 weitere Bilder erhalten. Sie zeigen das Kinderzimmer, den Raum für jugendliche Mütter und ihre neugeborenen Babys, die Heimbibliothek sowie die Arbeitsräume: Wäscherei und Näherei. Auf den Bildern des Karzers sind das vergitterte Fenster, die massive Eisentür und die Inschriften der Jugendlichen auf den Wänden zu sehen. Bei diesen Fotografien handelt es sich um einzigartige historische Dokumente: Nur kurz nach ihrer Entstehung wurden die Wände der Isolierzelle neu gestrichen. Klaus Madersbacher überließ die Negative der Fotoserie dem Forschungsprojekt Regime der Fürsorge. Die Bilder sind am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck archiviert. Soweit bekannt ist, wurden die Bilder zuvor nicht publiziert. (Quelle: Foto von Gert Chesi)



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Abbildung 5: Die Metalltür des Karzers.

  Die Botschaften, die von den Mädchen auf den Wänden des Karzers hinterlassen wurden, können als widerständige Praxis der Raumaneignung gelesen werden, die die intendierte Wirkung des Karzers zu unterlaufen suchte. Dabei griffen die Jugendlichen auf unterschiedliche Strategien zurück, etwa auf Humor und Ironie. »Mir gefällt es sehr gut in [sic] Karzer«, vermerkte ein Mädchen auf der Tür des Karzers (Die Inschrift ist teilweise verwischt und nur schwer lesbar, insb. die Worte gut und Karzer). Diese höchstwahrscheinlich ironisch zu verstehende Äußerung, die an einen typischen Eröffnungssatz einer aus dem Urlaub verschickten Postkarte erinnert, kann als Distanzierung vom Ziel der Isolierung im Karzer, nämlich der Bestrafung, gelesen werden. Die Jugendliche nimmt damit eine eigene Definition des Raumes vor, die nicht der Intention der Erzieherschaft entspricht. Als Umdeutung der Situation kann auch die Botschaft über dem Guckloch in der Tür »Neugierige Leute sterben bald« verstanden werden. Mit diesem Satz wurde häufig Kindern, die nach Ansicht von Erwachsenen zu viele Fragen stellten, eine Antwort vorenthalten. Hier wird die infantilisierende Aussage gegen die umfassende Kontrolle durch Erzieherinnen und Heimleitung gewendet. (Quelle: Foto von Gert Chesi)

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Abbildung 6: Graffiti auf der Mauer des Karzers.

  Viele der Mädchen nutzten die Karzerwände, um ihre Wut über die Unterbringung im geschlossenen Erziehungsheim und die Karzerstrafe sowie ihren Wunsch nach Freiheit auszudrücken. »St. Martin ist noch viel ärger als man sich es draußen erzählt«, ist auf der schweren Eisentür zu lesen. »Ich hasse diesen elenden Zwang«, brachte ein Mädchen das Erleben der Unterbringungsmaßnahme in St. Martin auf den Punkt. Tatsächlich konnten die Jugendlichen die Rahmenbedingungen ihrer Heimunterbringung – etwa inwieweit der Schulbesuch oder eine Ausbildung ermöglicht wurde, welche Arbeiten im Heim oder im Rahmen des so genannten Außendienstes zu verrichten waren oder wie die Freizeit gestaltet wurde – kaum bzw. zum Teil gar nicht mitbestimmen. Über viele sie betreffende Entscheidungen und insbesondere über die weitere Dauer des Heimaufenthaltes wurden sie häufig im Dunkeln gelassen, sodass eines der Mädchen zu dem Schluss kam: »Alles Lügen was man Dir hier sagt.« In der Botschaft »It’s a long time ago, / I was happy, / happy in my love and in my freedom, / and now I am in jail« stellte eine der Jugendlichen ihrer als glücklich beschriebenen Zeit vor der Fürsorgeerziehung die als Gefängnis beschriebene Heimunterbringung gegenüber. Eine andere forderte schlichtweg: »Let me free!« (Quelle: Foto von Gert Chesi)



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Abbildung 7: Inschriften auf der Wand der Karzerzelle.

  Einige der Inschriften wirken auf den ersten Blick als bloße Provokation, können aber auch als Klassenwiderstand sowie als Widerstand gegen bürgerliche Geschlechtervorstellungen gelesen werden. Ähnlich wie dies die Soziologin Marina Fischer-Kowalski (Halbstarke 1958, Studenten 1968. Eine Generation und zwei Rebellionen, in: Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, hg. von Ulf PreussLausitz u.a., Weinheim 1990, 53–70, vgl. insbes. 63) bezogen auf den Protest der so genannten Halbstarken Ende der 1950er Jahre analysiert, kann auch hier das »Bestehen auf Körperlichkeit, körperliche Lust und Aggression« als subversive Praktik verstanden werden. »Zentrales Element des bürgerlichen Subjekts ist die Unterwerfung des Körpers. […] Das Benehmen der Halbstarken drückt einen Klassenwiderstand gegen die Degradierung körperlicher Kraft und Stärke durch die […] neue Mittelklasse aus, als auch das Beharren auf Körperlichkeit als zentrale Quelle von Lust und Leid.« (Ebd., 62 f.) Mit Äußerungen, die sich etwa auf Drogen und auf gelebte Sexualität beziehen, wiesen die in St. Martin untergebrachten Mädchen die an Sittlichkeit und Häuslichkeit orientierten Geschlechtervorstellungen zurück, die der Erziehung im Heim zugrunde lagen. (Quelle: Foto von Gert Chesi)

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Abbildung 8: Das vergitterte Fenster des Karzers.

  Mit manchen Aussagen stellten die Mädchen der Isolierung und dem Alleinsein im Karzer Ausdrücke von Freundschaft und Solidarität entgegen. »Marianne Engel und Gerda Ringler – Freundinnen für immer und ewig« (die Namen sind Pseudonyme), vermerkte etwa eine Jugendliche. Eine andere hinterließ eine aufmunternde und unterstützende Botschaft an zukünftig von der Karzerstrafe betroffene Mädchen: »Wenn ich es ausgehalten habe, haltet ihr es auch aus.« Die Raumpraktik des Hinterlassens von Sprüchen und Botschaften auf den Wänden des Karzers kann als Selbstpositionierung als handlungsmächtiges Subjekt verstanden werden, das die Erfahrung der Karzerstrafe nicht auf das Moment des Erleidens beschränkt. Mit manchen Äußerungen brachten die Mädchen zum Ausdruck, dass sie sich den Disziplinierungs- und Erziehungsbemühungen im Heim nicht beugen wollten. »Ich werde wieder so wie früher ich gewesen bin, ich werde machen was ich will«, beschreibt eine Jugendliche ihr Vorhaben für die Zeit nach der Entlassung aus St. Martin und nimmt damit eine Distanzierung von der Fürsorgeerziehung vor. Ein weiteres Mädchen bringt auch zum Ausdruck, dass der Einfluss der Erziehungsmaßnahme auf ihr Leben trotz allem begrenzt ist: »Ob sie mich lieben oder hassen, einmal müssen sie mich entlassen.« (Quelle: Foto von Gert Chesi)

II Übergangsräume

Healing Spaces Teresa von Avila: Eine Fallgeschichte aus dem 16. Jahrhundert I RENE B ERKEL »... unsere Seele als eine Burg zu betrachten, die ganz aus einem Diamant oder einem sehr klaren Kristall besteht und in der es viele Gemächer gibt, gleichwie im Himmel viele Wohnungen sind. Wenn wir es recht betrachten, so ist die Seele des Gerechten nichts anderes als ein Paradies, in dem der Herr, wie er selbst sagt, seine Lust hat.«1 TERESA VON AVILA, DIE INNERE BURG

In meinem Beitrag beziehe ich mich auf den Bettelorden der Karmeliter und Karmeliterinnen, den Teresa von Avila (1515–1582), die spanische Heldin und Protagonistin der Gegenreformation, ab dem Jahre 1562 reformiert und für den sie weitere Klöster gründet. Teresa von Avilas herausragende Bedeutung als charismatische Mystikerin lässt sich an ihrem literarischen Werk, ihren mystischen Schriften, ihren Traktaten, ihrer Autobiografie, einer Niederschrift ihrer Klosterstiftungen und ihrem Briefwechsel ermessen, die ihre Karriere innerhalb der katholischen Kirche – 1622 wird sie von Papst Gregor XV. heilig gesprochen und im Jahr 1970 von Papst Paul VI. zur Kirchenlehrerin ernannt – begründen. Obwohl der Renaissance zugehörig, entnimmt Teresa das Narrativ der erotisch gefärbten Brautmystik der mittelalterlichen Mystik, doch im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen wie Mechthild von Magdeburg (um 1208–1282/97) gelten die mystischen Schriften Teresas als

1

Teresa von Avila, Die innere Burg, hg. und übers. von Fritz Vogelgsang, Zürich 1979, 21.

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»erstes Manifest moderner Subjektivität«,2 als Ausdruck einer neuzeitlichen Subjektposition und als Manifestation einer tiefen Melancholie, »qui répond à lʼeffacement progressif de Dieu comme Unique objet dʼamour.«3 Unter psychoanalytischen Gesichtspunkten deute ich die religiöse Armutsbewegung, die hinter dem Gedanken der Gründung von Bettelorden und ihren Klöstern steht, als Massenphänomen mit ausgeprägten pathologischen Zügen, als getrieben von psychotischen Ängsten vor dem Zerfall des Ichs und zugleich als deren Therapie. »Psychosis is one of the phenomena of human life that take us to the edge of what is possible to experience .... Yet the psychotic individual also experiences himself as desperately trapped.«4 Eben weil die menschliche Psyche psychotische Anteile enthält, existieren unterschiedliche kulturelle Verarbeitungen des psychotischen Kerns, und zumeist sind es religiöse Formen, zumal im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, die es erlauben, mit den psychotischen Anteilen und Ängsten in Kontakt zu kommen. Beides, das In-Berührung-Kommen mit den psychotischen Anteilen und deren Überwindung, findet sich so eindrucksvoll wie anschaulich in Teresas berühmter Schrift Die innere Burg (El castillo interior) festgehalten, worin sie nachträglich ihre mystische Erfahrung literarisch verarbeitet und in einen Seelenführer transformiert. Teresa verfasst darin eine siebenstufige Anleitung zur seelisch-geistigen Vereinigung mit dem Objekt ihrer Liebe und ihres Begehrens, Jesus Christus, und verwendet hierfür eine räumliche Metapher von sieben Wohnungen, in die die innere Burg unterteilt ist. In meinem Beitrag werde ich neben den religiösen Implikationen vor allem die von Teresa beschriebene Qualität des Weges zur Unio Mystica als selbsttherapeutischen Prozess beleuchten, an dessen Ende sie sich als geheilt empfindet. Von der psychotischen Disposition der Armutsbewegung zeugen die schweren anorektischen, hysterischen und psychosomatischen Pathologien, die Carolyn Walker Bynum in ihrem Buch Fragmentation and Redemption untersuchte.5 Ich werde in meinem Beitrag weniger die ebenso befremdlichen wie faszinierenden Symptomatologien, die konkretistischen Symbolisierungen und zuweilen bizarr anmutenden psychosomatischen Phänomene wie z.B. die masochistisch autodestruktiven Manipulationen des Körpers thematisieren, sondern das ihnen zugrunde liegende Reinheitsfantasma, das sich im Verzicht auf Sexualität, materielle Güter und auf weltliche Privilegien zugunsten eines einzigen Begehrens artikulierte. Der 2

André Stoll, Die poetischen Paradiese des Ichs. Teresa von Avilas »Von der Liebe zu Gott«. Text und Erläuterungen, Weinheim 1994, 12.

3

Michel de Certeau, La Fable mystique. XVIe–XVIIe siècle, Paris 1982, 12. Dt. »die auf

4

Michael Eigen, The Psychotic Core, London 1986, 1 f.

5

Vgl. Caroline Walker Bynum, Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the

die fortschreitende Auslöschung Gottes als einziges Liebesobjekt antwortet.«

Human Body in Medieval Religion, New York 1992.



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zwanghafte Wunsch nach Keuschheit, Armut und Demut basierte auf dem Versuch, sich gegen die dämonischen Anfechtungen der diesseitigen Welt zu immunisieren. Um der durch die sich verändernde Welt ausgelösten namenlosen Angst6 neue heilsame Bedeutungen abzuringen, bricht die religiöse Laienbewegung mit den institutionalisierten, konventionellen und traditionellen Bestimmungen der mittelalterlichen Ordnung. Ohne Zweifel verdanken die aus ihr hervorgehenden religiösen Ordensgemeinschaften ihre Attraktivität sowohl den regressiven Tendenzen, der Spaltung der Welt in eine böse irdische und eine gute jenseitige, wie auch ihren emanzipatorischen, den inklusiven wie egalitären Impulsen. Beleuchtet man die Armutsbewegung und die Heilswege, die sie einschlug, als kollektive Therapie, so ist sie ohne die Gründung eines neuen Raums, des Klosters und dessen Substitute wie Beginenhöfe, Tertiarienklöster etc., nicht denkbar. Zwar haben Klöster nicht erst seit dem Aufkommen der Armutsbewegung Konjunktur, aber die ihnen nunmehr zugeschriebene Funktion birgt neue Facetten. Nicht von ungefähr wird eine beinahe unüberschaubare Anzahl an neuen Klöstern im gesamten europäischen Raum gegründet, die als Enklaven, als Rückzugsorte, als Fluchträume, als Orte der Hingabe, der Stille und Konzentration fungieren. Mit dem britischen Psychoanalytiker Donald W. Winnicott, der das Konzept des potential space und des transitional object entwickelte, deute ich das Kloster als intermediären, potentiellen Raum, als Übergangsraum zwischen psychischer Innenwelt und wirklicher Außenwelt. Nach Auffassung Winnicotts stellt der Übergangsraum die Grundlage der Religion dar. Am Beispiel der Heiligen Teresa nähere ich mich dem Verhältnis einer gelingenden individuellen Heilung und Selbstedukation zur therapeutischen Funktion des göttlichen Objektes und des Klosters, die es Teresa ermöglichen, zu sich zu kommen.

H ISTORISCHE R ÜCKBLENDE : D IE RELIGIÖSE A RMUTSBEWEGUNG Die religiöse Laienbewegung des Mittelalters ist getragen von der Suche nach einem neuen unmittelbaren Zugang zum Göttlichen unter streng asketischen Bedingungen. In hohem Maße unzufrieden mit einer an Macht orientierten, käuflichen und unglaubwürdigen kirchlichen Institution, verlassen zahlreiche Frauen und Männer ihre soziale Herkunft mit der festen Absicht, ihr Leben in radikaler Weise zu verändern. Die Identifikation mit Jesus Christus in der Imitatio Christi und die Via apostolica werden zu Schlüsselelementen der Konstruktion einer neuen Identität und eines neuen Glaubens. Auf diese Weise folgen sie ihrem drängenden 6

Vgl. Wilfred R. Bion, Eine Theorie des Denkens, in: Melanie Klein heute. Entwicklungen in Theorie und Praxis, Bd. 1, hg. von Elizabeth Bott Spillius, München / Wien 1990, 232.

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Wunsch nach einer unmittelbaren, ihre leidvollen Spannungen lösenden, Heil versprechenden Beziehung zu Gott. Was aber waren die Gründe für diese religiöse Bewegung, die den gesamten europäischen Raum seit dem Aufkommen der Bettelorden an der Wende zum 13. Jahrhundert erfasste und einen radikalen Wandel der Lebensweise zu erzwingen schien, um die Ängste vor dem Diesseits zu bannen? Epidemien, klimatische Katastrophen, durch Ernteausfälle hervorgerufene Hungersnöte sowie politisch-religiöse Konflikte führen im Spätmittelalter dazu, dass »das Volk«, so Johan Huizinga, »[…] sein eigenes Los und die Ereignisse jener Zeit nicht anders erfassen kann, denn als eine unaufhörliche Abfolge von Mißwirtschaft und Aussaugung, Krieg und Räuberei, Teurung, Not und Pestilenz. Die chronischen Folgen, die der Krieg anzunehmen pflegte, die fortwährende Beunruhigung von Stadt und Land durch allerlei gefährliches Gesindel, die ewigen Bedrohungen durch eine harte und unzuverlässige Gerichtsbarkeit und außerdem noch der Druck von Höllenangst, Teufels- und Hexenfurcht hielten ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit wach.«7

Ab dem 12. Jahrhundert profitiert eine wachsende Anzahl an Menschen vom ökonomischen Aufschwung und genießt zunehmend die Vorteile der expandierenden Wirtschaft. Neue Märkte bringen neue Güter in Umlauf, deren Konsum ebenso die Lebensweisen wie die bis dahin geltenden Werte und Identitäten in Frage stellt und verändert. Für eine große Mehrheit sind die heterogenen diskontinuierlichen Tendenzen Zeichen dafür, dass die irdische Ordnung brüchig wird, was Unsicherheit, Gefühle des Verfolgtseins und der Fragmentierung auslöst. Die an Macht, Reichtum und Einfluss orientierte kirchliche Institution steht selbst im Verdacht, korrumpiert zu sein, und ist nicht mehr in der Lage, die christliche Lehre glaubwürdig zu vermitteln. Diese Gemengelage generiert vielfältige religiöse Figurationen: WanderpredigerInnen, Mönche, Nonnen, Tertiarinnen, ReklusInnen, InklusInnen, EremitInnen, FlagellantInnen und charismatische MystikerInnen, die sich unterschiedlichen Regeln und teilweise extremen asketischen Praktiken unterwerfen, womit sie einerseits ihre kirchenkritischen Impulse artikulieren, andererseits auf die Modernisierungszwänge der mittelalterlichen Gesellschaft reagieren. Die neuen spiritualisierten Lebensformen und der unbedingte Anspruch, sich auf das wahre Leben in Christus zu besinnen, heben sich vom Klerus ab. Die religiöse Laienbewegung setzt etwa im 12. Jahrhundert ein, im Laufe des 13. Jahrhunderts werden die vier großen Bettelorden der Franziskaner, der Dominikaner, der Augustiner-Eremiten und der Karmeliter von den Päpsten Innozenz III.

7

Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 1987, 26.



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und Gregor IX. anerkannt. Der Karmeliter-Orden,8 der für meinen Beitrag relevant ist, trägt den Namen des Berges Karmel, eines Gebirgszugs im Heiligen Land. Anfänglich soll es sich um eine Eremitengruppe gehandelt haben, deren Gründer mangels einer verbürgten historischen Figur der Prophet Elija gewesen sein soll. 1226 definiert die erste formula vitae den anachoretischen, weltabgewandten Charakter des Ordens. Unter Leitung eines Priors leben die Mönche in getrennten Zellen schweigend, betend und fastend den Idealen Gehorsam, Keuschheit und Armut verpflichtet. Wenige Jahre später, Mitte des 13. Jahrhunderts, wird die Ordensregel gelockert, der Karmel-Orden wird den bestehenden Bettelorden gleichgestellt und 1247 von Innozenz IV. bestätigt.9 Durch die abgemilderte Ordensregel konnten die Karmeliter sich in Städten niederlassen, seelsorgerische Tätigkeiten übernehmen, ein Refektorium teilen, das Schweigegelübde teilweise aufheben. Mit dem aus kirchenpolitischer Perspektive strategisch raffinierten Schritt gelingt es, die Laienbewegung weitgehend in die Kirche zu integrieren und die von ihr ausgehende häretische Gefahr zu bannen. In der Hochphase schießen neue Klöster wie Pilze aus dem Boden, die den Ansturm religiös inspirierter Heerscharen zuweilen kaum zu bewältigen vermögen. Das gilt sowohl für Männer als auch für Frauen. Beispielsweise wurden von den Dominikanern im Zeitraum zwischen 1241 und 1252 etwa 32 Frauenklöster eingemeindet, wobei jedes Kloster ungefähr 100 Frauen beherbergen musste.

R EINHEITSFANTASMEN Sicherlich war der theologische Genderdiskurs das Medium, durch das normative Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit produziert und reproduziert wurden. Die christliche Tradition knüpfte anders als die jüdische an den volkstümlichen jahwistischen Text (Gen 2, 5–3, 24) über den Garten Eden an, der die Institution der Ehe, die historischen Konstruktionen und Formationen des Geschlechterverhältnisses mit der Schuldfrage verknüpft.10 Entgegen dem Anschein handelt die in der Paradiesgeschichte vom Urmenschenpaar, Adam und Eva, vorgetragene Anthropologie nicht von der Spannung zwischen den Geschlechtern, sondern von der subversiven Seite des Begehrens, in den Herrschaftsbereich Gottes einzugreifen. Evas Neugierde repräsentiert als Akt der Hybris die Ursünde, die sich im 4. Jahrhundert unter Augustinus zum Theologumenon der Erbsünde verdichtet. Indem die christliche Tradition Evas Übergriff mit Konkupiszenz identifiziert, gerät Sexualität als Ausdruck zweideutiger Verstrickung allgemein unter Verdacht, sodass von Beginn an 8

Vgl. Georg Schwaiger (Hg.), Mönchtum Orden Klöster, München 1993, 273–277.

9

Vgl. Schwaiger, Mönchtum Orden Klöster (wie Anm. 8) 274.

10 Vgl. Irene Berkel, Mißbrauch als Phantasma. Zur Krise der Genealogie, München 2006.

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Reinheit und Keuschheit als präweltlicher Zustand enorm aufgewertet und idealisiert werden. Gottes Fluch entlässt Adam und Eva mit der Bürde des Scheiterns in ein hierarchisches Geschlechterverhältnis und in einen entfremdeten Zustand. Die Geschlechterspannung ist demnach eine Folge des Sündenfalls, die Notwendigkeit des Begehrens eine Konsequenz des Scheiterns. Das Verhältnis der Geschlechter, die sexuelle Reproduktion und die damit unlösbar verbundene Sterblichkeit werden von den Kirchenvätern als vermeidbare Strafen konzeptualisiert. Obwohl Maria im Neuen Testament lediglich eine marginale Rolle spielt, gewinnt sie über die Jahrhunderte im Kult an Macht und Einfluss. Da die Jungfräulichkeit Marias sowohl die Göttlichkeit als auch Menschlichkeit ihres Sohnes garantiert, wird ihr auf dem Konzil von Chalkedon 451 die Eigenschaft immerwährender Jungfräulichkeit (aieparthenos) und dem Sohn die Partizipation an beiden Naturen attestiert. Auch dies ist ein entscheidendes Element der christlichen Lehre, in dem sich die ablehnende Haltung gegenüber Sexualität und Reproduktion widerspiegelt. Indem es aber die geschlechtliche, sexuelle Dimension nicht als Kern des Lebens interpretiert, sondern dämonisiert, steht das Christentum von Anfang an dem Paar und der Familie feindlich gegenüber. Begründet liegt dies in seinem weltablehnenden Gestus. So ist bei Johannes zu lesen: »Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist! Wenn jemand die Welt lieb hat, ist die Liebe zum Vater nicht in ihm. Denn alles, was in der Welt ist, die Lust des Fleisches und die Lust der Augen und die Prahlerei in der Lebensweise, stammt nicht vom Vater, sondern es stammt von der Welt. Und die Welt vergeht und ihre Lust, wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit.«11

Maria wird in Opposition zu Eva als Überwinderin der Schlange und des Todes gefeiert. Ihre Jungfräulichkeit bezeichnet demnach keinen zeitlichen Zustand oder eine Phase, sondern eine seelische Disposition. In der Folge werden genuin weibliche Vermögen spiritualisiert. Das Ideal der Reinheit ist also eng mit der christlichen Weiblichkeitsimago, der Jungfrau Maria, assoziiert, deren Anbetung im Mittelalter als asexueller Verkörperung von Reinheit mittels asketischer Praktiken beiden Geschlechtern offenstand. Wie überhaupt die Madonna als jungfräuliche Mutter nach Julia Kristeva »die raffinierteste symbolische Konstruktion darstellt, in der Weiblichkeit ... im Mütterlichen aufbewahrt wird«12 – eine Konstruktion, die wesentlich zur Humanisierung der Liebe und des Abendlandes beigetragen hat. Andererseits werden als Ausdruck der männlichen Ambivalenz gegenüber dem weiblichen Geschlecht Marina Warner zufolge in der Konstruktion der Madonna die Ängste 11 1 Joh. 2, 15–17; alle im Text vorkommenden Bibelzitate folgen der Übersetzung der Zürcher Bibel: Die heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, Zürich, 19. Aufl., 1987. 12 Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, Frankfurt am Main 1989, 226.



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vor der Frau, dem Verfall und dem Tod gebannt.13 Askese versprach, die auf Augustinus zurückgehende Idee einer Kluft zwischen dem irdischen materiellen Diesseits und dem immateriellen himmlischen Jenseits schon im Diesseits schließen zu können. Auch der Karmel-Orden bezog einen wesentlichen Teil seiner Anziehungskraft aus seiner intensiven Marienverehrung. Einer von Marias glühendsten Verehrern war im Übrigen der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153), dessen Exegese und Spiritualisierung des Canticum Canticorum der initiale Text für die weibliche Mystik14 gewesen zu sein scheint, denn die Frauen kannten nur noch ein Objekt des Begehrens – ihren Bräutigam Jesus Christus. Seine Auslegung der Begegnung zwischen dem Mensch gewordenen Gott und der Seele des Menschen in der Gestalt von Bräutigam und Braut schien den mystisch begabten Frauen Bilder und Vorstellungen und insofern einen symbolischen Kontext zu vermitteln, der sich in besonderer Weise eignete, ihre bis dahin nicht geworteten Erfahrungen zu artikulieren. Abgesehen von der idealen Grundstruktur der liebenden Zwiesprache zwischen sponsus (Bräutigam) und sponsa (Braut) wohnen den Texten weitere Identifikationsmöglichkeiten inne. In der Tat spielen die erogenen Zonen des Mundes und der Brüste als Metaphern der Vereinigung eine exponierte Rolle. Hier eine kleine Kostprobe aus der neunten Predigt: »Quod et probat ex eius uberum repletione. Tantae nempe efficaciae osculum sanctum est, ut ex ipso mox, cum acceperit illud, sponsa concipiat, tumescentibus nimirum uberibus, et lacte quasi pinguescentibus in testimonium. […] ›Habes, sponsa, quod petistit, et hoc tibi signum, quia meliora facta sunt ubera tua vino.‹«15

So sollen »die Brüste von Milch strotzen«, die Wirkung des heiligen Kusses ist gleichbedeutend mit der Empfängnis, die wiederum »die Brüste der Braut füllt und die Brüste anschwellen lässt«, oder es »ergießt sich plötzlich Gnade in uns, und es weitet sich unsere Brust. ... ›Braut, nun hast du, was du erbeten, ... deine Brüste [sind] besser geworden als Wein.‹« Neben dem Dialog scheinen die Mystikerinnen vor allem Mund und Brüste als Metaphern der Vereinigung mit Gott zu noch tieferem und brennenderem Verlangen stimuliert zu haben. In der Maske der Reinheit und Jungfräulichkeit konnten Mystikerinnen erotische Fantasien entfalten,

13 Vgl. Marina Warner, Maria. Geburt, Triumph, Niedergang – Rückkehr eines Mythos?, München 1982. 14 Vgl. Ulrich Köpf, Bernhard von Clairvaux in der Frauenmystik, in: Frauenmystik im Mittelalter, hg. von Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer, Ostfildern 1990, 48–77. 15 Bernhard von Clairvaux, Sermones Super Canticum Canticorum, in: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke V, hg. von Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1994, 140.

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ein sie liebendes Objekt imaginieren, bilden und libidinös besetzen – mit heilsamen Konsequenzen, auf die ich später zu sprechen kommen werde. Der Historiker Albrecht Diem betont hingegen an die Unisex-These von Thomas Laqueur anschließend: »There is something odd about the historiography of Christian monasticism. Historians tend to focus on female monasticism as a separate field of research or on the differences between male and female monastic life. […] All this makes us overlook that medieval monastic life emerged as a sequence of ›unisex‹ models. The long lasting experiment of shaping ideal religious communities and stable monastic institutions created forms of monastic life that were largely applicable to both genders (albeit usually in strict separation). Throughout the Middle Ages, male and female monastic communities largely used a shared corpus of authoritative texts and a common repertoire of practices.«16

Die von Diem vorgeschlagene Interpretation lässt allerdings den erotisch aufgeladenen Gestus der weiblichen Mystik wie die teilweise misogyne Haltung von Mönchen völlig beiseite. Vielmehr bot der klösterliche Raum in Verbindung mit dem Ideal der Jungfräulichkeit das geeignete Refugium für die Entfaltung einer weiblichen Subjektivität. Die Mystik eröffnete mithin jenen Übergangsraum, in dem Frauen in einer Weise Erfahrungen worten konnten, die nicht nur die Lösung ihrer Konflikte, sondern auch öffentliches Ansehen bedeutete, weshalb nach Auffassung von Walker Bynum die Ekstasen, Obsessionen als weibliche Domäne und die charismatische Ausstrahlung der Frauen das Pendant zu männlicher Berufung waren.17 Nach wie vor wird in der Forschung zwischen der männlich spekulativen geistlichen Mystik, etwa eines Meister Eckhardt (um 1260–1328), dessen Rezeption für den Deutschen Idealismus prägend war, und der affektiveren Frauenmystik differenziert. Aus dem Vergleich ging im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts der Begriff »Erlebnismystik«18 hervor. Obwohl Peter Dinzelbacher ihn zum Teil kritisiert, hat er sich bei vielen Autoren durchgesetzt: Der weibliche Duktus der überlieferten Quellen wird freilich idealisiert, zugleich die Opposition männlicher Geist / weibliche Sinnlichkeit reproduziert, sodass das idealisierende Moment mit dem entwertenden in eins fällt. Anders als die naturgemäß höher geschätzte intellektuellere Darstellungsform der Via negationis äußerte sich die weibliche Form des Liebesdiskurses in Über16 Albrecht Diem, The Gender Of the Religious: Wo/Men and the Invention Of Monasticism, in: The Oxford Companion on Women and Gender in the Middle Ages, hg. von Judith Benett / Ruth Marzo-Karras, Oxford 2013, 432. 17 Vgl. Walker Bynum, Fragmentation (wie Anm. 5) 195. 18 Vgl. Peter Dinzelbacher / Dieter R. Bauer (Hg.), Frauenmystik im Mittelalter, Ostfildern 1985, 14.



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schwänglichkeiten, Wortschöpfungen, Paradoxa, Minneliedern, Reimbriefen, Gedichten, Hymnen, Glossolalie, Jubilus bis hin zu Tanz und Musik. Manche erhielten einen göttlichen Schreibbefehl wie die Visionärin Hildegard von Bingen (um 1098– 1179), während Teresa von Avila von ihrem Beichtvater aufgefordert wurde, ihre mystischen Erfahrungen aufzuzeichnen. Da Niederschriften spätestens ab dem 14. Jahrhundert einer gefährlichen Gratwanderung gleichkamen, empfahl es sich, sich den Auspizien eines Beichtvaters anzuvertrauen, um vor dem Verdacht der Häresie und damit der Inquisition partiell geschützt zu sein. Denn nach Gershom Sholem ist das allgemeine Kriterium mystischer Erlebnisweisen die »amorphe Natur der mystischen Erfahrung« und ihre »prinzipiell unendliche Plastizität«, die er mit der Auflösung »formhaltiger Seinsstrukturen der Erfahrungswelt« gleichsetzt: »In sich selbst hat sie die mystische Erfahrung, Anm. keinerlei adäquaten Ausdruck; die mystische Erfahrung ist im Grunde gestaltlos. Das Wesen dieses ›vom Göttlichen Berührtseins‹ hat, in je größerer Intensität und auf je tieferer Stufe es erfahren wird, einen immer weniger klar umrissenen Sinn, noch kann es objektiv definiert werden, denn sein Gegenstand transzendiert seiner Natur nach jene Kategorien von Subjekt und Objekt, die jede Definition voraussetzt.«19

Daher rührt jede mystische Erfahrung an die »religiöse Autorität«, da ihr offenbarender, authentischer Charakter ein anarchisches, sprengendes Moment enthält, das in die symbolische Deutung der mystischen Erfahrung integriert werden muss. In historisch schwierigen Zeiten erlebten das Misstrauen gegenüber dem anderen Geschlecht und der Sexualität wie die damit verbundenen theologisch legitimierten Abwehrmechanismen, asketischen Techniken und Praktiken neuen Aufschwung. Die außergewöhnliche monastische Aufbruchsstimmung im Europa des 13. Jahrhunderts bezieht ihren Heilswunsch erneut aus einem Reinheitsfantasma: Verzicht auf familiäre Bindungen, auf Annehmlichkeiten, eine radikale Disziplinierung seelisch-körperlicher Leidenschaften zugunsten eines einzigen Liebesobjektes, um die Gegenwart zu transzendieren und in einer von intimer Nähe geprägten Beziehung zum Göttlichen das Heil zu erfahren. Indem Mönche wie Nonnen Sexualität und Reproduktion negieren, auf Ehe und Nachkommen verzichten, ihre Herkunft hinter sich lassen, schreiben sie sich in eine spiritualisierte religiöse Genealogie ein. Schon dem Urchristentum wohnt ein lebensfeindliches Moment inne, das sich aus der historisch bedingten apokalyptischen Stimmung speiste, daher den Bruch mit der genealogischen Ordnung forcierte und in einer asketischen Lebenspraxis das Heil suchte. »Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern und dazu auch

19 Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt am Main 1998, 15.

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noch sein Leben haßt, kann er nicht mein Jünger sein.«20 Davon zeugt noch das Ritual der Initiation, des Übergangs vom Noviziat zum lebenslang bindenden Gelübde, in dem das Ordensmitglied seinen Familiennamen ablegt und einen neuen Namen annimmt. Die christliche Agape und das asketische Ideal der Reinheit antworten auf die das Urchristentum bedingende historische Konfliktsituation mit der Transgression der Geschlechter- und Generationenordnung.21 Es sucht nicht in der Differenz, sondern in der mystischen Entgrenzung das Heil, was dem Christentum sein integrierendes Potential verleiht. »Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Weib, denn ihr alle seid einer in Christus.«22 Dieses Integrationspotential – in ihm vergehen alle Differenzen – ist von dem Motiv der Gotteskindschaft nicht zu trennen, das mit dem Mysterium der jungfräulichen Mutter korrespondiert. Darin kommt sowohl eine psychotische Verfassung als auch der Widerstand gegen den drohenden Realitätsverlust zum Ausdruck, der durch den Sprung Jesu Christi aus der irdischen in eine überirdische Genealogie abgewehrt wird. Diesen Neuanfang des Urchristentums bezahlt die christliche Tradition mit einer Entwertung der facts of life,23 ihrer angeblichen Vermeidbarkeit durch eine asketische Lebensführung, die die Erbschuld korrigiert und das ewige Leben sichert. Dafür begünstigt die christliche Lehre von Anfang an das Individuum und konstruiert zugleich den allgemeinen Menschen, der zum spirituellen Kind werden muss, um das Reich Gottes zu erlangen. »Wahrlich ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Reich der Himmel kommen.«24 Das Ideal der Reinheit, das die religiöse Laienbewegung motiviert, ist vermittelt über die immerwährende Jungfräulichkeit, die Einschreibung Jesu Christi in eine überirdische Genealogie und den Status der Gotteskindschaft, mit dem sich die Sehnsucht nach einem prägenealogischen, präweltlichen, unschuldigen Zustand verbindet, der in Krisenzeiten aufgrund steigender Schuldgefühle als besonders erstrebenswert beziehungsweise geradezu lebensnotwendig erscheint.

20 Lk 14, 26. 21 Vgl. Berkel, Mißbrauch als Phantasma (wie Anm. 10). 22 Gal 3, 28. 23 Diese werden von dem Psychoanalytiker Roger Money-Kyrle als »die Anerkennung der Brust als eines überaus guten Objekts, die Anerkennung des elterlichen Verkehrs als eines höchst schöpferischen Aktes sowie die Anerkennung der Unausweichlichkeit der Zeit und schließlich des Todes« beschrieben. Zit. nach: John Steiner, Orte des seelischen Rückzugs. Pathologische Organisationen bei psychotischen, neurotischen und BorderlinePatienten, Stuttgart 1998, 140. 24 Mt 18, 3.



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Doch kehren wir zurück zu Teresa von Avila. Die Motive der Laienbewegung zeigen sich besonders deutlich im Karmel-Orden, vor allem in der Reformierung durch Teresa von Avila, in der sich Tendenzen der Gegenreformation des 16. Jahrhunderts mit den Idealen der Armutsbewegung mischen und in ihren Schriften Gestalt annehmen. Teresas Erfahrungen verdichten sich in ihren Texten zu räumlichen Metaphern, in denen der Raum als wesentlicher Erfahrungsort des mystischen Subjekts erscheint. Abbildung 1: Peter Paul Rubens, Teresa von Avila, Kunsthistorisches Museum Wien.

  Quelle: Wikimedia Commons, Urheber: David Monniaux, Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0. 

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D IE K RISEN T ERESAS

VON

A VILA

Die spanische Nationalheilige Teresa von Jesu, so lautet ihr Ordensname, wird am 28. März 1515 als Teresa de Cepeda y Ahumada geboren.25 Die Rückeroberung Granadas, der letzten maurischen Bastion, liegt 23 Jahre zurück, doch die Schrecken des durch die Reconquista geeinigten Königreichs wirken nach. Teresa entstammt väterlicherseits einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie, die zum Christentum konvertierte, um der Inquisition sowie dem Verlust ihrer öffentlichen und politischen Privilegien zu entkommen. Mit dem Regierungsantritt des königlichen Paares Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien im Jahr 1479 wird das Kriterium der Glaubensreinheit mit dem protorassistischen Mythos Limpieza de sangre, der Reinheit des Blutes, assoziiert. Die auf diese Weise geadelten Altchristen werden von den Conversos unterschieden und ihre daraus abgeleiteten Ständeprivilegien legitimiert. Bemüht darum, Makel und Diskriminierung der Conversos, der getauften Juden, zu überwinden, verschreibt sich Teresas Vater einer tiefen asketischen Frömmigkeit. Dieser kulturelle Kontext und die familiäre Belastung, der frühe Tod der Mutter und die Schande unreinen Blutes mögen Teresas Wahl einer unerbittlichen Disziplin und strenger Reinheitsideale sowie ihre spätere Reform des Karmeliterordens beeinflusst haben. Bis zu letzterer vergehen freilich noch knapp dreißig wechselhafte Jahre. In ihrem autobiografischen Text Vida26 bekennt Teresa ihren zwei Jahrzehnte währenden Kampf gegen irdische Anfechtungen und das Ringen um innere Sammlung. Teresa tritt uns in ihrer Autobiografie zum einen als junge Frau mit einem lebhaften, gewinnenden Wesen entgegen, die sich von der Welt angesprochen fühlt, Genüssen nicht abgeneigt ist und ihre Zeit gerne plaudernd in angenehmer Gesellschaft außerhalb des engsten Familienkreises verbringt. Zum anderen als eine von psychotischen Krisen gepeinigte Person, gefangen in der Angst, sich in den weltlichen Annehmlichkeiten zu verlieren, zerrissen zwischen ihren Neigungen und ihren hohen moralischen Ansprüchen. Wie die meisten MystikerInnen leidet sie unter quälenden Stimmungsschwankungen, dissoziativen Zuständen, auf ekstatische Zustände folgen Phasen größter Niedergeschlagenheit, Verzweiflung und somatischer Erkrankungen. Die Hinwendung zur Welt ist schuldbeladen, das Wohlgefallen an den sinnlich-schönen Dingen des Lebens kollidiert mit der unerbittlichen kritischen inneren Instanz, vor der sich Teresa in eine beschämte entwertete Sünderin verwandelt. Ihre Beziehungen sind von einer tiefen Ambivalenz gezeichnet, in ihren Schriften klagt sie über schlechte Einflüsse, eine

25 Vgl. Stoll, Paradiese des Ichs (wie Anm. 2) 97 ff. 26 Ich beziehe mich im Folgenden auf die Übersetzung: Theresia von Jesu, Das Leben der Heiligen Theresia von Jesu, in: Theresia von Jesu, Gesammelte Schriften 1, übers. von P. Aloysius ab Immaculata Conceptione, München / Kempten 1992.



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defizitäre elterliche Erziehung, über die mangelnde Strenge der Institutionen sowie die fehlende Disziplin der Klosterinsassinnen. Teresa sucht in einem Zustand der Zerrissenheit nach dem Gefühl des Lebendigseins, das aber brüchig bleibt, und ihre Versuche, sich die Welt anzueignen, sind von Angst und Zwängen geprägt. Die Welt erlebt sie als verführerisch und vor allem als eine Überflutung von Reizen, als Chaos von Besitz- und Identitätsansprüchen, vor dem sie in die Askese flüchtet. Abbildung 2: Convento de la Encarnación, Avila um 1930.

  Quelle: https://www.flickr.com/photos/avilas, Ansichtskarte um 1930 aus der Sammlung von José Luis Pajares, Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 2.0. 

E INTRITT

INS

K LOSTER S ANTA M ARÍA

DE LA

E NCARNACÍON

1535 tritt Teresa als Novizin in das Karmeliterinnenkloster Santa María de la Encarnacíon, in das Kloster von der Menschwerdung vor den Stadtmauern Avilas ein. Während des 14. Jahrhunderts erfährt die Ordensregel des Karmels weitere Milderungen, unter denen Teresa im Kloster Encarnacíon zu leiden hat und die offensichtlich ihren Wunsch nähren, den Orden zu reformieren, ihn zu ursprünglicher Strenge zurückzuführen. Denn in Encarnacíon kann von Stille und Konzentration kaum die Rede sein, vielmehr herrscht große Unruhe, da es einerseits überfüllt, andererseits zum Teil von aristokratischen Töchtern bewohnt ist, die mehr oder weniger ihren weltlichen Lebensstil bruchlos fortsetzen und regelmäßig Besuche von Verwandten oder Freunden empfangen. Unter diesen Bedingungen ist es Teresa an-

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fänglich unmöglich, das Kloster als intermediären potentiellen Raum zu erfahren, der sie befähigt, ihre psychischen Zustände zu symbolisieren anstatt zu somatisieren. Im Gegenteil, der klösterliche Raum ist negativ konnotiert, nicht mehr als eine Projektion ihrer Innenwelt. Entsprechend evoziert Teresas Entscheidung, in das Kloster einzutreten, ein langwieriges psychosomatisches Leiden, das, obgleich keine medizinische Diagnose zu finden ist, sich bis zu einer todesähnlichen Paralyse steigern wird. Dramatische Krankheitsschübe, die sich nach überwundener Todesnähe in etwas ermäßigteren bulimischen Symptomen und Migräneanfällen fortsetzen. Etwa 1553 ist sie beim Anblick einer Ecce-homo-Darstellung derart bestürzt, Jesus so zugerichtet zu sehen, dass sie in Tränen ausbricht. Im Augenblick der Bekehrung vollzieht sich die Identifikation mit Jesus Christus als Liebesobjekt, auf das sich nun all ihr Begehren richten wird. Die Ecce-homo-Darstellung wird zum Initialerlebnis schlechthin, weil sie darin ihre eigene leidvolle Erfahrung gespiegelt sieht. Indem der Bräutigam Jesus Christus die Rolle des Übergangsobjektes und damit die Vermittlungsfunktion übernimmt, wird das Kloster für sie zum Übergangsraum. Doch wie sich in der Schilderung der unteren Wohnungen in ihrer Schrift Die innere Burg zeigt, dominiert in der ersten Zeit noch das störende Böse, das die Beziehung zum Übergangsobjekt immer wieder verdirbt und auch den Übergangsraum zusammenbrechen lässt. Für Winnicott ist die Denk- und Erfahrungskategorie des Übergangsobjektes nicht zu trennen »von den Übergangsphänomenen, dem Übergangsraum, der ›intermediate area‹, dem ›potential space‹, von ›original creativity‹ und vor allem … dem ›Paradox‹, Vorgefundenes in Selbsterschaffenes zu verwandeln.«27

D IE S EELE

ALS

F ESTUNG »Räumlichkeit mag die Projektion der Ausdehnung des psychischen Apparats sein. .... Psyche ist ausgedehnt, weiss nichts davon.«28 SIGMUND FREUD, SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS

Teresa verwendet – avant la lettre ließe sich mit Blick auf Freud konstatieren – eine räumliche Metapher, nämlich die der Burg mit sieben Wohnungen, in deren letztem Gemach – dem schönsten von allen – sich die Unio Mystica mit ihrem Bräutigam Jesus Christus vollzieht: Teresa nutzt die innere Burg, um ihre psychische Innen27 Caroline Neubaur, Übergänge. Spiel und Realität in der Psychoanalyse Donald W. Winnicotts, Frankfurt am Main 1987, 72. 28 Sigmund Freud, Schriften aus dem Nachlaß 1892–1939, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke 17, Frankfurt am Main, 7. Aufl., 1983, 152.



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welt zu fassen und zu strukturieren, wobei sie den Wohnungen unterschiedliche seelische Zustände zuordnet. In der siebten und letzten Wohnung endet das Ringen um ihre Liebesfähigkeit, die die Bedingung für die ersehnte Unio darstellt. Der Weg dahin ist ein (Selbst-)Heilungsprozess, in dessen Verlauf Teresa ihre Dissoziationsund Desintegrationszustände überwindet. Erst im Zusammenhang mit den zahlreichen pathologischen Phänomenen, die gedeutet, verglichen und wiederholt geprüft werden, erarbeitet sich Teresa in einem langwierigen Übersetzungsprozess ihrer emotional verwirrenden, ängstigenden Zustände, ihrer manisch-depressiven Stimmungsschwankungen und paranoiden Ängste das notwendige seismografische Instrumentarium, anhand dessen sie die Beziehung zum geliebten Objekt beurteilt, interpretiert und ihr positive Bedeutungen zuschreibt. Anfänglich wehrt Teresa das lebensfeindliche Moment, ihren Todeswunsch oder, psychoanalytisch formuliert, den Todestrieb paranoid-schizoid ab, indem sie das Objekt in ein über die Maßen idealisiertes gutes Objekt und in ein dämonisiertes Objekt spaltet. In den ersten Wohnungen muss sie sich immer wieder ihres Begehrens versichern, die Angst vor dem Verlust des guten Objekts ist allgegenwärtig, der sich eben im Einbruch des Bösen in der imaginären Gestalt von Schlangen und Gewürm äußert: Anfechtungen, die zum Repertoire jedes religiösen Lebens gehören. Teresa kämpft mit »Hindernissen, die in uns selbst zu finden sind« – und die sie als Entfernung / Entfremdung von Gott verstehen lernt, der in diesen Zuständen abwesend und unerreichbar ist. Zwar ist die Seele von einem heftigen Verlangen erfüllt, ihr seelischer Zustand ist freilich so labil, dass, sobald die Konzentration nachlässt, der Teufel eine Lücke findet, um sich ihrer Stimmung zu bemächtigen. Ab der vierten Wohnung lassen die Spaltungen in Gut und Böse nach: »Nur selten dringen die giftigen Wesen ein, und wenn sie hereingelangen, so richten sie doch keinen Schaden an, sondern bringen eher Gewinn. Und ich halte es für viel besser, wenn sie hereinkommen, um uns zu befehden …, denn wenn es keine Anfechtung gäbe, so könnte uns der Satan trotz der von Gott beschenkten Wonnen betrügen und uns sehr viel mehr Schaden zufügen.«29

Hier wird transparent, dass die Anfechtungen nicht länger angstbesetzt sind und integriert werden können, ohne dass Teresa in eine Depression verfällt. Die Internalisierung des guten liebenden Objekts durch die akribische Übersetzung der Erregungszustände gewinnt an Bedeutung und Stabilität. Noch verbleibende Irritationen sind darauf zurückzuführen, dass »die Seele hier noch nicht den Kinderschuhen entwachsen, sondern wie ein Kind ist, das eben zu saugen begonnen hat. Entfernt

29 Teresa von Avila, Die innere Burg (wie Anm. 1) 60.

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es sich von den Brüsten seiner Mutter – was hat es anderes zu erwarten als den Tod?«30 Teresa vertraut auf Introspektion als Bedingung der Selbsterkenntnis, worin sich eine neue Subjektposition artikuliert: Was heißt das für mich? – quid ad me. Ihr geht es also nicht darum, durch Askesetechniken ekstatische Zustände zu provozieren. Für viele andere Anhänger der religiösen Bewegung war das Ziel gerade die Ekstase, das Aus-sich-heraus-Stehen. Doch blieben derart intensive Gefühlszustände als vermeintlich mystische Erfahrungen leere Wahrheiten, die weder gedeutet noch versprachlicht wurden. Teresa ringt um eine Verwandlung im emphatischen Sinne, auch wenn sie gesteht, hin und wieder in der Nähe des geliebten und liebenden Objekts in einen hypomanischen bis manischen Zustand zu geraten, bei dem ihr die Sinne schwinden. Abbildung 3: Gianlorenzo Bernini, Die Verzückung der Hl. Teresa von Avila, Santa Maria della Vittoria, Rom.

Quelle: Wikipedia, Urheber: Welleschik, Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.

Sie eröffnet ihren Liebesdiskurs mit der Fantasie einer kostbaren inneren Welt, die ein Spiegelbild des göttlichen Himmels ist. Ehrfurcht, innere Sammlung, Übungen und das Einigungs-Gebet sind das Tor zur Burg; den psychischen Innenraum bringt 30 Teresa von Avila, Die innere Burg (wie Anm. 1) 78.



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die kontinuierliche Introspektion und Selbstartikulation nachträglich hervor. Darüber hinaus stoßen wir hier an das mystische Paradox der Ekstase als erhofftem Zustand höchster Empfänglichkeit für die Begegnung mit dem göttlichen Bräutigam und dem Wunsch, die Erinnerung daran bewahren zu können. Die Unio als leuchtender Kulminationspunkt mystischer Erfahrung, die letztlich für jede Erkenntnis unerreichbar bleibt, ist der Ort des Unaussprechlichen. In der siebten Wohnung findet die Unio statt, die lang ersehnte Vermählung zwischen Braut und Bräutigam. Teresa ringt mit der sprachlichen Vermittlung des Einsseins, die sich im Inneren der Seele vollzieht: Hier gibt es »keine Trennung mehr, denn immer bleibt die Seele mit ihrem Gott in jener Mitte. … Die Vereinigung gleicht zwei Wachskerzen, die man so dicht aneinanderhält, daß beider Flamme ein einziges Licht bildet.« Und dann: »Aus jenen himmlischen Brüsten, an denen Gott immer die Seele zu nähren scheint, schießen Strahlen von Milch hervor, die alle Bewohner der Burg laben.«31 So großartig die Erfahrung auch sein mag, so intensiv die Mystikerin sich darauf vorbereitet hat, die Gnade der Unio währt nur kurz. Doch erst der Durchgang durch die Unio, das Einswerden, das Verschmelzen und Einssein mit dem geliebten Objekt generieren einen haltbaren Übergangsraum. Von nun an ist Gott der »Seinsgrund«, die Matrix ihres Lebens. Teresa hat an Spielraum gewonnen, in dem sie Abwesenheit und Differenz ertragen und symbolisieren kann.

T ERESA

UND DIE

E RFAHRUNG

ZU SEIN

Die theoretische Bearbeitung des Gefühls zu sein teilt die Religion mit der Psychoanalyse. Analysiert man die Erfahrung der Unio Mystica als ein In-BerührungKommen mit den psychotischen Anteilen der psychischen Innenwelt, dann handelt es sich dabei um eine Regression auf frühkindliche Erfahrungen, die der MutterKind-Dyade entstammen. Die Annahme wird von den Mystikerinnen bestätigt, denn wie im Falle von Teresa – und sie ist nicht die einzige – erscheint Jesus Christus in der Unio als Bräutigam mit Brüsten.32 Winnicott entwickelte das psychoanalytische Konzept des Übergangsraumes und des Übergangsobjekts, um die Genese des wahren Selbst zu erfassen, das mit dem Grundgefühl einer als lebenswert empfundenen Existenz, dem Gefühl zu sein, einhergeht. Die Entstehung eines Übergangsraumes und das Gefühl zu sein sind für Winnicott unauflöslich miteinander verbunden und von der Qualität der frühen Mutter-Kind-Beziehung abhängig. Nach 31 Teresa von Avila, Die innere Burg (wie Anm. 1) 196 f. 32 Vgl. Walker Bynum, Fragmentation (wie Anm. 5) 93–100 und 157–165; Walker Bynum betont insbesondere die Darstellung Jesu in beiderlei Geschlecht. »W]e note at once that God is described in both masculine and feminine terms.« Ebd., 157.

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Winnicott gibt es am Anfang nichts als Identität, Mutter und Kind fühlen sich eins, ebenso wie das Kind Teil der Mutter ist, ist die Mutter Teil des Kindes. Der Zustand markiert den Beginn des intermediären potentiellen Raumes. Diese erste Erfahrung oder primäre Identifizierung ist die lebenswichtige Basis für alle weiteren Identifikationserlebnisse – vorausgesetzt, dass es der Mutter gelingt, sich unaufdringlich den Bedürfnissen des Kindes anzupassen und es intuitiv zu vermeiden weiß, das Kind zu überfordern. Sobald das Kind mit einer versagenden, überfordernden Umwelt derart konfrontiert ist, dass es sich als übermäßig bedürftig, hilflos oder gar verzweifelt erlebt, zerreißt das Gefühl von Kontinuität – the continuity of being. Ist die Mutter good enough,33 kann das Kind ungestört die Illusion von Omnipotenz erfahren, die die Bedingung des Übergangsraumes darstellt. Wie komplex die Psychologie des Selbstgefühls und der Identitätsfindung im Verlauf des frühkindlichen Entwicklungsprozesses immer sein mag, ein authentisches Selbstgefühl baut stets auf der Grundlage des Gefühls zu sein auf, welches die Vorstellung des Einsseins vorwegnimmt, das in der mystischen Unio gesucht wird. Erst, wenn diese Lebendigkeit garantiert ist, dann ist das Individuum fähig zu ertragen, dass es begehrlich und erregend auf andere wirkt, fähig auch, sich ebenso von seiner Umgebung, von der Welt erregen zu lassen und auf Askese zu verzichten.

D IE H EILUNG UND S ELBSTEDUKATION DER T ERESA VON A VILA Unmittelbar nachdem sich die mystische Vermählung ereignet hat, mischt sich in Teresas Bericht eine leise Trauer, da die ekstatischen wie euphorischen Gefühlszustände ihr Ende finden. »Mich selbst verwundert es, dass alle Entrückungen aufhören, sobald die Seele hierher gelangt, von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen, wobei es sich aber um keine gleich jenen früheren und um keinen Geistesflug handelt. Auch kommen sie sehr selten vor und dann fast nie in Gegenwart von anderen im Gegensatz zu früher, wo dies recht häufig geschah. Besondere Gelegenheiten … bewegen sie nicht mehr so wie früher: Sah sie ein frommes Bild oder hörte sie eine Predigt oder Musik – kaum hatte sie etwas vernommen, wie sehnsüchtig flatterte da der arme Falter auf, alles scheuchte ihn empor und trieb ihn zum Flug. Jetzt aber, sei es, weil die Seele ihren Ruheort gefunden oder weil sie in dieser Wohnung so viel gesehen hat, daß sie vor nichts mehr erschrickt, oder weil sie sich nicht mehr so einsam fühlt wie früher, jetzt ist die Plage von ihr genommen.«34

33 Vgl. Donald W. Winnicott, Playing and Reality, London 1971, 10 f. 34 Teresa von Avila, Die innere Burg (wie Anm. 1) 205.



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Mit Winnicott lässt sich Teresas Unternehmen als nachträglicher seelischer Reifungsprozess verstehen. Während in den ersten Wohnungen dualistische Vorstellungen, zwanghafte und stereotype Beschreibungen dominieren, gewinnt sie ab der fünften Wohnung zunehmend Zugang zu einem Gefühl des Selbst, das Winnicott als creative apperception (»more than anything else that makes the individual feel that life is worth living«) beschreibt. Die fixierten starren Fantasien weichen reicheren und vielfältigeren Vorstellungen, auch wenn sie innerhalb des christlich symbolischen Universums verbleiben. Teresas Beschreibung ihrer seelischen Zustände gewinnt größere Plastizität und Lebendigkeit. Die in der siebten Wohnung stattfindende Unio, das Einswerden und Einssein mit dem geliebten und liebenden Objekt, die erfahrene Verschmelzung, generiert einen haltbaren Übergangsraum und die Kontinuität des Seins. Die Unio mit Jesus in mütterlicher Gestalt mit Brüsten repräsentiert das Einssein von Mutter und Kind, mit dem Teresa in Kontakt kommt. Es ist nach Winnicott ein Stadium der Omnipotenz und Illusion. In der anfänglichen Entwicklungsphase, der Verschmelzung mit der Mutter und der Umgebung bis zur Trennung, wird dem Kind zugebilligt, das erschaffen zu haben, was da ist. Jesus als Übergangsobjekt ist an diese Stelle der Illusion getreten: »W]obei zu Illusion noch etwas hinzukommt, das sie zu verarbeiten gestattet und sie damit kulturfähig macht. Nun erst ist die Beschäftigung mit Illusionen möglich, nun erst nehmen sie Gestalt an, nun erst werden sie verhandelbar, und nun erst verlassen sie die Form der Erscheinung, in der sie zuletzt tödlich wären und der Grund psychischer Erkrankung.«35

Das Übergangsobjekt gehört weder dem Ich noch dem Nicht-Ich an, es ist das Zeichen, »daß eine für das Selbst annehmbare Beziehung zur Außenwelt begonnen hat.«36 Erst mit seiner Hilfe entsteht ein Übergangsraum, in dem Realität erzeugt wird. Teresa erfährt, was Winnicott im Zusammenhang mit der Spiegelungsfunktion der Mutter beschreibt: »When I look I am seen, so I exist. I can now afford to look and see. I now look creatively and what I apperceive I also perceive. ... Looking and being seen, are the focus of primary identification. In fact I take care not to see what is not there to be seen (unless I am tired).«37

35 Neubaur, Übergänge (wie Anm. 27) 84. 36 Madeleine Davis / David Wallbridge, Eine Einführung in das Werk von W. D. Winnicott, Stuttgart 1983, 99. 37 Winnicott, Playing and Reality (wie Anm. 33) 114.

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Das Kind muss von seiner Mutter gespiegelt werden, damit es sich lebendig und real fühlen kann. Teresas Erfahrung der Unio entspricht einer Transformation im Bionʼschen Sinne, einer Transformation von K als »wissen über« in das O der emotionalen Erfahrung der Transzendenz, nämlich »durch O ›Werden‹ zu sein«.38 In dem nunmehr stabilen Übergangsraum ist die subjektive Innenwelt mit der äußeren objektiven Realität vermittelt, was sich in dem Gefühl manifestiert, real, also wirklich, zu sein.

D IE

RÄUMLICHE M ETAPHER DER I NNEREN B URG UND DAS K LOSTER ALS Ü BERGANGSRAUM »Führt der Herr die Seele in diese seine Wohnung, welche die Mitte der Seele selber ist, so scheint es, als seien die Regungen der Seele die Dissoziationen und Stimmungsschwankungen, die mit dem Gefühl der Irrealität einhergehen, Anm, die für gewöhnlich in der Phantasie und den Fähigkeiten zu fühlen sind, plötzlich nicht mehr vorhanden .... So stören sie die Seele nicht und rauben ihr nicht den Frieden.«39

Ebenso wie die Die innere Burg, die von Teresa verfasste siebenstufige Anleitung zur seelisch-geistigen Vereinigung mit dem Objekt der Liebe und des Begehrens, ist auch ihre Autobiografie eine Schrift, die mehr sein will als nur ein Erfahrungsbericht ihrer Selbstheilung, Selbstdisziplinierung und Selbstedukation. Beide Schriften kennzeichnet ein programmatischer pädagogischer Charakter. Aus der reflexiven Distanz heraus versucht Teresa, die Interpretation ihrer Erfahrungen den LeserInnen als potentiellen NachfolgerInnen zu vermitteln und sie für ein gottesfürchtiges Leben zu gewinnen. Teresa verwendet räumliche Metaphern wie die Burg, aber auch räumliche Vorstellungen, wie das Allerinnterste, die Mitte und die Tiefe.40 Die Wahl der räumlichen Metapher der inneren Burg weist Konnotationen zur Ritterburg auf, an der die Abgeschlossenheit und Festigkeit, das protektive Moment, imponiert. Wie wir aus ihrer Vita wissen, war sie in jungen Jahren eine begeisterte Leserin von Ritterromanen. Vermutlich war sie auch mit der zweiten Predigt von Meister Eckhardt vertraut, in der er empfiehlt: »Dass wir so ein ›Bürglein‹ seien, in dem Jesus aufsteige und empfangen werde und ewig in uns bleibe«.41 Während sich Meister Eckhardt in

38 Vgl. Wilfred R. Bion, Transformationen, Frankfurt am Main 1997, 202. 39 Teresa von Avila, Die innere Burg (wie Anm. 1) 198. 40 Teresa von Avila, Die innere Burg (wie Anm. 1) 191 f. 41 Vgl. Meister Eckhart, Predigt 2, in: Meister Eckhart, Werke 1, Texte und Übersetzungen von Josef Quint, hg. und komm. von Niklaus Largier, Frankfurt am Main 1993, 37.



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seiner zweiten Predigt auf die Lukasperikope bezieht,42 entwickelt Teresa einen strukturierten psychischen inneren Raum, dessen Wohnungen sie unterschiedliche Beziehungsqualitäten zuschreibt. Zu dem protektiven Moment der inneren Burg treten produktive spielerische Momente hinzu, eine reichere Beschreibung des seelischen Innenraums, wie das Bild eines wunderschönen Gartens, in dem Gott lustwandeln kann: »Als gute Gärtner haben wir sodann mit der Hilfe Gottes dafür zu sorgen, daß die Pflanzen wachsen. Wir müssen sie darum fleißig begießen, damit sie nicht verwelken, sondern Blumen hervorbringen, die geeignet sind, durch ihren Wohlgeruch unseren Herrn zu erfreuen, auf daß er recht oft in den Garten komme, um sich zu ergötzen und unter diesen Tugendblumen seine Wonne zu finden.«43

Teresa fühlt sich nach der Unio »in allem gebessert«,44 also geheilt, was natürlich nicht bedeutet, dass Teresa das Kloster verlassen und eine weltliche Existenz führen könnte, aber von nun an verfügt sie über eine stabile Flexibilität. Winnicott konstatiert: »That the task of reality acceptance is never completed, that no human being is free from the strain of relating inner and outer reality, and that relief from the strain is provided by an intermediate area of experience which is not challenged (arts, religion, etc.). This intermediate area is in direct continuity with the play area of the small child who is ›lost‹ in play.«45

Die in ihrem selbsttherapeutischen Prozess gewonnene Realitätstüchtigkeit mündet ab 1562 in die Reform des Karmeliterinnenordens. Ihre Reform und Gründungsaktivität46 zeichnet Teresa im Auftrag des Jesuiten Garcia von Toledo in ihrem Buch über die Klosterstiftungen auf. Nachdem sich das Kloster Santa María de la Encarnacíon einer Reform verweigert, verbringt sie fünf Jahre in dem der Reform zugänglichen Kloster zum heiligen Joseph in Medina del Campo, in dem ihr sehr viele Tugenden begegnen, namentlich die Entsagung aller Eitelkeiten und alles Irdischen. Daraus schließt sie, dass kleinere Klostereinheiten wesentlich besser geeignet seien, um sich den strengen Idealen des Ordens der Unbeschuhten Karmeliterinnen in Gehorsam und Demut zu unterwerfen. Die Ordensregel der Unbeschuhten Karmeliterinnen nimmt alle zu einem früheren Zeitpunkt zugebilligten Milderungen zurück. 42 Lk 10, 38. 43 Theresia von Jesu, Das Leben der Heiligen Theresia von Jesu (wie Anm. 26) 108. 44 Teresa von Avila, Die innere Burg (wie Anm. 1) 193. 45 Winnicott, Playing and Reality (wie Anm. 33) 13. 46 Teresa reformiert nicht nur den weiblichen Zweig des Karmel-Ordens, sondern zusammen mit Johannes vom Kreuz auch den männlichen Zweig.

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Teresa hält darin allerlei Belehrungen für den Umgang mit jüngeren Nonnen bereit, die für Eitelkeiten und Hindernisse noch anfälliger seien. So rät sie Oberinnen, Nonnen übermäßiges Fasten und Selbstzüchtigungen zu verbieten und ihnen Aufgaben zu erteilen, die sie zerstreuen sollen. Auch manische oder depressive Zustände wie Verzückungen und Ohnmachten oder Hostiensucht gegen melancholische Verstimmungen seien des Teufels und zu untersagen. Teresas selbsttherapeutischer Prozess wäre ohne den Rückzug in ein Kloster nicht möglich gewesen. Nur intra muros, dem geliebten himmlischen Bräutigam nahe, ist sie fähig, den langwierigen schmerzhaften Weg zu gehen, auf dem sich das Kloster in einen Heilung ermöglichenden Übergangsraum, in einen Healing Space verwandelt.

Topographien des sterbenden Körpers Sakrale und profane Raumstrukturen in den Testamenten der deutschen Reichsfürsten des Mittelalters C HRISTINA A NTENHOFER

Am 28. Oktober 1467 ließ Kurfürst Friedrich der Siegreiche von der Pfalz (1425– 1476)1 in Heidelberg sein Testament aufsetzen, welches er mit folgenden Worten begann:2 »Wir Friderich von gottes gnaden pfaltzgraue by Rine, hertzog inn Beyeren, des heil. romischen richs ertztruchses vnnd kurfurst, bekennen vnd thun kunt offenbare mit disse brieff, das wir zu hertzen genommen vnnd innerlich in vnsern gemute bedacht vnnd betracht haben die wort vnnsers heylants, er gesprochen hatt, Sehent zu vnd wachent, wann ir nit wissent, zu welcher stunt, ob fru oder spadt der herre kommen wurtt, vnd daruß vermerckt onsicherheytt der stunde des dots, so doch nichts in dissem vergenglichen leben gewissers ist vnd sicherer dann der lyplich dot, vor des mechtig gewaltt vnd crafft nichts inn der weltt gehelffen mag. Wann wir sterben alle, als die wysse frauwe spricht inn dem anderen buche der konig, vnd verfliessen als die wasser, die nit widderkommen, dadurch bewegt vnnd, daz die stunde des

1

Vgl. Henny Grüneisen, Friedrich I. der Siegreiche, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5, Berlin 1961, 526–528.

2

Dieser Aufsatz ist im Zuge meiner Habilitationsschrift entstanden und entspricht in Teilen Passagen, die dort publiziert wurden, vgl. Christina Antenhofer, Mensch-ObjektBeziehungen im Mittelalter und in der Renaissance am Beispiel der fürstlichen Höfe des süddeutschen und oberitalienischen Raums (Habsburg – Tirol – Görz – Wittelsbach – Württemberg – Visconti – Sforza – Gonzaga), Universität Innsbruck [Ms.] 2014. Sie erscheint 2018 in überarbeiteter Form in der Reihe der Mittelalter-Forschungen bei Thorbecke. – Für die Zulassung zum Geheimen Hausarchiv im Bayerischen Hauptstaatsarchiv danke ich Seiner Königlichen Hoheit Herzog Franz von Bayern.

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ends vnsers lebens snelliglich, onbewarnt, onbedacht vnser selen heyle vnnd vngeordent vnsers lesten willens vns icht uberfalle vnnd begryffe, so haben wir mit wolbedachter vernunfftt, zyttlichem rate vnd rechter wissenn vnser testament […] gemacht […].«3

Friedrichs Worte, gleichwohl 550 Jahre alt, treffen uns noch heute: Wir verfließen alle wie die Wasser, die nicht wiederkommen. Wenngleich ich als Historikerin um eine kritische Distanz zu den Quellen bemüht bin, berührte mich kaum eine Quellengattung bislang so, wie es die Testamente taten, die ich im Zuge der Arbeiten an meiner Habilitationsschrift in den letzten Jahren in den Archiven suchte und sichtete. Dieses Interesse an den Testamenten gliedert sich in einen gewissen Trend ein, der in den letzten Jahren diese Quellengattung in den Fokus mittelalterlicher Forschungen gerückt hat. Während im Zuge der Hochphase der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre Testamente als serielle Quellen entdeckt und systematisch ausgewertet wurden, brachten die kulturgeschichtlichen Fragestellungen seit den 2000er Jahren etliche neuere Monographien zum Thema Tod, Sterben, Testamente und Grablegen hervor.4 Testamente bieten sich für eine Fülle an 3

Generallandesarchiv (GLA) Karlsruhe 67 Nr. 876, f. 303r-309v, zit. nach der Edition in Richard Lossen, Staat und Kirche in der Pfalz im Ausgang des Mittelalters (Vorreformationsgeschichtliche Forschungen 3), Münster i.W. 1907, 210–217, hier: 210. Kurz vor seinem Tod ließ Friedrich das Testament noch leicht ändern, siehe den Abdruck des Nachtrags ebd. 217–218. Vgl. Thorsten Huthwelker, Tod und Grablege der Pfalzgrafen bei Rhein im Spätmittelalter (1327–1508) (Heidelberger Veröffentlichungen zur Landesgeschichte und Landeskunde 14), Heidelberg 2009, 148–151.

4

Vgl. Cornell Babendererde, Sterben, Tod, Begräbnis und liturgisches Gedächtnis bei weltlichen Reichsfürsten des Spätmittelalters (Residenzenforschung 19), Ostfildern 2006; Helga Czerny, Der Tod der bayerischen Herzöge im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit 1347–1579. Vorbereitungen, Sterben, Trauerfeierlichkeiten, Grablegen, Memoria (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 146), München 2005; Markwart Herzog / Cecilie Hollberg (Hg.), Seelenheil und irdischer Besitz. Testamente als Quellen für den Umgang mit den »letzten Dingen« (Irseer Schriften NF 4), Konstanz 2007; Erhard Hirsch, Generationsübergreifende Verträge reichsfürstlicher Dynastien vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 10), Berlin 2013; Brigitte Kasten (Hg.), Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter (Norm und Struktur 29), Köln 2008; Gabriela Signori, Vorsorgen, Vererben, Erinnern. Kinder- und familienlose Erblasser in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 160), Göttingen 2001; Carola Fey, Die Begräbnisse der Grafen von Sponheim. Untersuchungen zur Sepulkralkultur des mittelalterlichen Adels (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 107), Mainz 2003; Huthwelker, Tod und Grablege (wie Anm. 3).



T OPOGRAPHIEN

DES STERBENDEN

K ÖRPERS | 175

Fragestellungen an. In letzter Zeit sind sie vor allem im Hinblick auf die Frage der Pflege der eigenen Memoria5 ausgewertet worden, wie auch der sozialen Netzwerke, die sich in ihnen erkennen lassen.6 Das Interesse galt dabei in erster Linie den frommen Legaten, also den Stiftungen an geistliche und karitative Einrichtungen, aber auch politischen Programmen, die sich in Herrschertestamenten abzeichnen.7 Im Zuge der Habilitationsschrift ging ich der Frage nach, ob in den mittelalterlichen Testamenten einzelne Objekte genannt und an Personen vermacht werden und inwiefern sich darüber emotionale Bindungen erkennen lassen, die über Objekte zwischen Menschen gestiftet werden.8 Doch diese Fragen sollen nicht im Zentrum dieses Beitrags stehen. Vielmehr wird einer anderen Beobachtung nachgegangen, die sich bei der Arbeit an den Testamenten einstellte. Etliche der eingesehenen Testamente bieten nicht nur Einblicke in das, was Menschen angesichts des Todes besonders wichtig war, sondern sie eröffnen darüber hinaus Einsichten in räumliche Strukturen, die sich in anderen mit5

Zur Memoria im Mittelalter vgl. in Auswahl Dieter Geuenich / Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 111), Göttingen 1994; Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2), München 1982; Mette Birkedal Bruun / Stephanie Glaser (Hg.), Negotiating Heritage. Memories of the Middle Ages (Ritus 4), Turnhout 2008; Arnoud-Jan A. Bijsterveld, Do ut des. Gift Giving, Memoria, and Conflict Management in the Medieval Low Countries (Middeleeuwse Studies en Bronnen 104), Hilversum 2007, dort vor allem den Forschungsstand 9–10.

6

Vgl. etwa Amalie Fößel, Testamente römischer Königinnen im mittelalterlichen deutschen Reich, in: Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, hg. von Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29), Köln 2008, 393–414; Julia Hörmann-Thurn und Taxis, Nos Alhaidis comitissa Tyrol(is) … fecimus testamentum. Das Testament einer Gräfin von Tirol, in: Der Schlern 86/10 (2012) 42–57.

7

Siehe hierzu insb. für die Neuzeit Susan Richter, Fürstentestamente der Frühen Neuzeit. Politische Programme und Medien intergenerationeller Kommunikation (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 80), Göttingen 2009.

8

Bereits Walter Benjamin attestierte den Testamenten eine besondere Aussagekraft in dieser Hinsicht und schloss aus einem bei Jan Huizinga zitierten Testament auf die enge Bindung, die mittelalterliche Menschen noch zu den einfachsten Dingen unterhielten. Walter Benjamin, Aura und Reflexion. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Hartmut Böhme und Yvonne Ehrenspeck, Frankfurt am Main 2007, 264–265. Zur Relativierung von Huizingas wie Benjamins Eindruck über die Verfügung von Dingen in mittelalterlichen Testamenten vgl. Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 2) 583–740.

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telalterlichen Quellen in dieser Form nicht greifen lassen. Die Beobachtung scheint nur auf den ersten Blick ungewöhnlich, denn es liegt nahe, dass man sich angesichts des Todes Gedanken über zu vererbenden Besitz macht und diesen oft in seiner örtlichen Situierung beschreibt. Darüber hinaus zeichnen sich in den Testamenten Strukturen von Räumen ab, die in diesem Beitrag mit den Begriffen der sakralen und profanen Raumstrukturen umrissen und als Topographien des sterbenden Körpers bezeichnet werden. Die Frage nach den sakralen Raumstrukturen führt in folgende Fragen über: Was erfahren wir über die letzte Ruhestätte des toten Körpers, also über den Begräbnisort? Lassen sich Strukturen räumlich verfestigter Memoria ausmachen und worin bestehen diese? Zu den profanen Raumstrukturen stellt sich die Frage, was wir über den Sterbeort und die räumliche Situation am Sterbebett erfahren und welche anderen Raumelemente sich in den letzten Verfügungen abzeichnen. Als Prämisse sei vorausgeschickt, dass Raum in diesem Kontext gemäß der Leitfrage dieses Bandes nach den Körpern zwischen Mauern durchaus materiell-dinghaft begriffen wird, im Sinne der Mauern, die um diese sterbenden oder ans Sterben denkenden Körper sichtbar werden.9 Dessen ungeachtet sind aber manche der betrachteten Raumstrukturen sozial konstituiert oder die Materialität löst sich in gleichsam ätherische Sphären auf, wie dem mittelalterlichen Denken insgesamt eine flexible Auseinandersetzung mit den Konzepten des Materiellen eigen ist.10 Bevor mit der Spurensuche in den Testamenten der deutschen Reichsfürsten begonnen wird, seien vorab methodisch-theoretische Prämissen erörtert, die für die Betrachtung des Themas von Bedeutung sind. Dies betrifft zum einen die Testamente als Quellengattung. Zum anderen wird über den Zusammenhang von Körper und Raum am Beispiel des Konzepts der distributed personhood von Alfred Gell nachgedacht.11

T ESTAMENTE

ALS

Q UELLEN

Alltagssprachlich scheint relativ klar zu sein, was unter einem Testament zu verstehen ist. Der Duden gibt als Bedeutungen an: »letztwillige schriftliche Erklärung, in der jemand die Verteilung seines Vermögens nach seinem Tode festlegt«.12 Unter 9

Zu Raumkonzepten siehe besonders Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt am Main et al. 2013.

10 Siehe hierzu besonders Caroline Walker Bynum, Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2011. Bynum attestiert darin dem Mittelalter zugleich eine sehr materielle Sicht auf die Dinge, ein Wörtlich-Nehmen des Materiellen, das dem modernen Denken eher fremd sei, vgl. ebd. 281–284. 11 Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford u.a. 1998. 12 http://www.duden.de/rechtschreibung/Testament, 2.4.2016.



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juristischen Gesichtspunkten betrachtet ist es fraglich, ob man aus rechtshistorischer Sicht überhaupt von Testamenten im engeren Sinn für das Mittelalter sprechen kann, da sich das mittelalterliche Testierrecht in seinen heterogenen Ausprägungen grundlegend von jenem des Römischen Rechts unterschied. Die Problematik gilt ebenso für die so genannten »letztwilligen Verfügungen«.13 In Anlehnung an Brigitte Kastens Herangehensweise scheint es jedoch gerechtfertigt, aus der Perspektive der Historikerin den Begriff Testament ebenso wie den der letztwilligen Verfügung allgemeiner und nicht im strengen juristischen Sinn zu verwenden und darunter Verfügungen zu verstehen, die Personen über ihre Habe in Hinblick auf den Tod verfassen.14 Ferner sind auch diese weit definierten Testamente einzubinden in eine Reihe weiterer Dokumente, die mit den Vorgängen des Vererbens in Zusammenhang stehen.15 Es war durchaus üblich, Erbangelegenheiten bereits in den Eheverträgen16 bzw. in so genannten Hausverträgen17 zu regeln, die alle männlichen Mitglieder eines Hauses betrafen. Im städtischen Bereich erneuerten Ehegatten in regelmäßigen Abständen »Mächtnisse«, in denen sie sich gegenseitig als Erben ein13 Vgl. zu diesen begrifflichen Erörterungen Adrian Schmidt-Recla, Frühmittelalterliche Verfügungen von Todes wegen – juristische Begriffe und Definitionen, in: Herrscherund Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, hg. von Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29), Köln 2008, 35–65; Diethelm Klippel, Herrschaft, Testament und Familie. Rechtsgeschichtliche Koordinaten von Herrscher- und Fürstentestamenten, in: Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, hg. von Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29), Köln 2008, 15–34. 14 »Historiker neigen dazu, das Motiv des erbrechtlichen Handelns gegenüber der formaljuristisch defekten Form stärker zu gewichten und alle im weitesten Sinne erbrechtlichen Verfügungen als Testamente zu bezeichnen, wohl wissend, daß die wenigsten im modernen Sinne tatsächlich solche waren.« Vgl. Brigitte Kasten, Einführung, in: Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, hg. von Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29), Köln 2008, 1–14, hier: 2. 15 Dies zeigt sich exemplarisch etwa am Testament des Gianfrancesco Gonzaga vom 23.9.1444. Im Archivio di Stato di Mantova (ASMn) Archivio Gonzaga (AG) befindet sich in der busta (b.) 330 ein ganzes Faszikel bestehend aus verschiedenen kleineren Papierdokumenten; dann folgt aus Papier geheftet das Hauptdokument. 16 Vgl. hierzu besonders Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts; mit 6 Tabellen (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte: Beihefte 111), Stuttgart 1993. 17 Vgl. hierzu besonders Heinz-Dieter Heimann, Hausordnung und Staatsbildung. Innerdynastische Konflikte als Wirkungsfaktoren der Herrschaftsverfestigung bei den wittelsbachischen Rheinpfalzgrafen und den Herzögen von Bayern. Ein Beitrag zum Normenwandel in der Krise des Spätmittelalters (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte [Görresgesellschaft] NF 16), Paderborn u.a. 1993.

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setzten.18 Schließlich war vieles auch gewohnheitsrechtlich geregelt, sodass häufig keine Testamente verfasst wurden, was durchaus erstaunlich sein mag. Wie alle schriftlichen Quellen sind auch Testamente erst ab dem Spätmittelalter in größerer Zahl überliefert, vor allem ab dem 15. Jahrhundert werden sie in städtischen Beständen so zahlreich, dass man sie als regelrechte Serien auswerten kann.19 In anderen Gebieten, beispielsweise Flandern, zeichnet sich diese bessere Quellenüberlieferung schon im späten 14. Jahrhundert ab.20 Diese hat generell mit der Zunahme der Schriftlichkeit zu tun, aber auch mit Änderungen im Erbrecht, die einerseits die Abwendung von der früheren Orientierung an der größeren Verwandtschaftsgruppe hin zu individuelleren Verfügungen für die Kernfamilie, Ehepaar und Kinder, betrafen; andererseits zeigt sich darin aber auch das Bemühen der städtischen Autoritäten, den Einfluss der Kirche, vor allem der Bettelorden, zurückzudrängen, die als Beichtväter oft einen großen Einfluss auf die Sterbenden am Sterbebett ausübten.21 Im fürstlichen Bereich, der hier interessiert, muss betont werden, dass es nicht von allen Fürstinnen und Fürsten Testamente gibt; das Testierverhalten variiert auch je nach Fürstenhaus. Bei den Grafen von Württemberg finden sich beispiels-

18 Vgl. Signori, Vorsorgen (wie Anm. 4) 68–71. 19 Vgl. Signori, Vorsorgen (wie Anm. 4); Katharina Simon-Muscheid, Die Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze. Reden und Objekte im Alltag (Oberrhein, 14.–16. Jahrhundert) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 193), Göttingen 2004; Gerhard Jaritz, Österreichische Bürgertestamente als Quelle zur Erforschung städtischer Lebensformen des Spätmittelalters, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 8 (1984) 249–264. 20 Vgl. Katherine Anne Wilson, ›In the Chamber, in the Garde Robe, in the Chapel, in a Chest‹: The Possession and Uses of Luxury Textiles. The Case of Later Medieval Dijon, in: Europe’s Rich Fabric. The Consumption, Commercialisation and Production of Luxury Textiles in Italy, the Low Countries and Neighbouring Territories (Fourteenth– Sixteenth Centuries), hg. von Bart Lambert / Katherine Anne Wilson, Surrey, Farnham, Burlington, VT 2016, 1–33; Françoise Piponnier, Usages et diffusion de la soie en France à la fin du Moyen Age, in: La Seta in Europa sec. XIII–XX. Atti della »Ventiquattresima Settimana di Studi«, 4–9 maggio 1992, hg. von Simonetta Cavaciocchi (Istituto Internazionale di Storia Economica F. Datini Prato 2 24), Firenze 1993, 785–800; Micheline Baulant / Anton Schuurman / Paul Servais (Hg.), Inventaires après-décès et ventes de meubles. Apports à une histoire de la vie économiqe et quotidienne XIVe–XIXe siècles, Louvain-la-Neuve 1988; Ad M. van der Woude / Anton Schuurman (Hg.), Probate Inventories. A New Source for the Historical Study of Wealth, Material Culture and Agricultural Developments, Papers Presented at the Leeuwenborch Conference (Wageningen, 5– 7 May 1980) (A.A.G. Bijdragen 23), Utrecht 1980. 21 Signori, Vorsorgen (wie Anm. 4) 6–17.



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weise erst ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert Testamente.22 Besonders ergiebig sind die Testamente der Pfälzer und Bayerischen Wittelsbacher, die im Folgenden das Hauptcorpus der Auswertung darstellen.23 Fürstliche Testamente stehen hier zum einen aufgrund der vergleichsweise guten Überlieferung im Fokus. Zum zweiten eignen sie sich wegen ihrer Ausführlichkeit und des Umfangs der Verfügungen als Quellen für die Frage nach den Körpern zwischen Mauern. Was die Formen des Testaments angeht, so ist zwischen zwei grundlegenden Arten zu unterscheiden. Als Testament bezeichne ich im Folgenden vor allem jene Verfügungen, die für den Todesfall ohne akuten Grund ausgestellt wurden. Wie es das Eingangszitat von Pfalzgraf Friedrich ausdrückte, war für den mittelalterlichen Menschen nichts wichtiger als der gute Tod, und dies bedeutete insbesondere, für den Todesfall gut vorbereitet zu sein.24 Vorausschauend musste für das eigene Seelenheil gesorgt werden, aber auch für die Schutzbefohlenen, jene Personen, die einem anvertraut waren. Ziel war es, mit möglichst reinem und beruhigtem Gewissen aus dem Leben zu scheiden. Entsprechend sah ein derart ausgestelltes Testament fast routinemäßig folgende Abschnitte vor: Ein erster Teil betraf das Seelenheil. Hier wurden Verfügungen für das Grab sowie Bestimmungen für die Sicherung des eigenen Seelenheils getroffen. Diese umfassten das Stiften von Jahrtagen, Kerzen und Gebeten am Grab. In einem weiteren Teil wurde die Versorgung des engeren Umfelds sichergestellt, die mittelalterliche familia, welche neben der Kernfamilie 22 Von den Grafen und späteren Herzogen von Württemberg ist erst das Testament des ersten Herzogs Eberhard in Bart überliefert. Erhalten ist heute lediglich sein zweites Testament vom 26.12.1492. HStA Stuttgart A 602 Nr. 363 = WR 363. Es handelt sich um ein Pergamentlibell aus 12 Bll., 39 x 29,4 cm mit 11 anhangenden Siegeln; nach Stephan Molitor / Klaus Graf / Petra Schön (Bearb.), 1495: Württemberg wird Herzogtum. Dokumente aus dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart zu einem epochalen Ereignis. Begleitbuch zur Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart vom 20.7. bis 3.10.1995, Stuttgart 1995, Dokument Nr. 4, 61–70; eine Transkription (nach der Edition bei Molitor) wurde von Peter Rückert verfasst und ist online beim Digitalisat einsehbar, Einstieg über https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olf/ startbild.php?bestand=3703, 3.4.2016. Vgl. Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 2) 670. 23 Vgl. hierzu besonders Czerny, Tod (wie Anm. 4); Huthwelker, Tod und Grablege (wie Anm. 3); Richter, Fürstentestamente (wie Anm. 7); Hirsch, Verträge (wie Anm. 4). 24 Zum guten Tod im Mittelalter, der ars moriendi, gibt es eine Reihe einschlägiger Titel, vgl. zum Sterben und Tod der Fürsten vor allem Babendererde, Sterben (wie Anm. 4) 76– 88; Arno Borst / Gerhart von Graevenitz / Alexander Patschovsky (Hg.), Tod im Mittelalter (Konstanzer Bibliothek 20, Geschichte), Konstanz 1993; Simon-Muscheid, Dinge (wie Anm. 19) 316–326; Lothar Kolmer (Hg.), Der Tod des Mächtigen. Kult und Kultur des Todes spätmittelalterlicher Herrscher, Paderborn 1997.

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vor allem auch Hofleute umfasste.25 Bei Herrschertestamenten finden sich darüber hinaus allenfalls noch politische Bestimmungen, die sich an der Schwelle zur Neuzeit zu einem regelrechten politischen Programm erweitern können.26 Derartige Testamente wurden insbesondere dann verfasst, wenn der eigene Tod zu befürchten war, etwa bei Anbruch einer Reise oder wenn ein Fürst in den Krieg zog. In diesen Fällen bemühte man sich, geregelte Verhältnisse für den Fall des Ablebens zu schaffen. Solche Fürstentestamente konnten auch Ermahnungen an die eigenen Kinder umfassen, Vormundschaftsregelungen, Verhaltensregeln während des Fernbleibens und ähnliche Maßnahmen. Testamente wurden zudem im Krankheitsfall verfasst, wenn ungewiss war, ob man die Krankheit überleben würde. Schließlich konnten Testamente auch schlicht in fortgeschrittenerem Alter verfasst werden. Kurfürst Friedrich war beispielsweise 42 Jahre alt, als er das Testament verfasste, und er starb neun Jahre später. Von diesen Testamenten zu unterscheiden sind Protokolle über den letzten Willen, die unmittelbar am Sterbebett diktiert wurden. Diese sind um einiges spannender, da sie sehr unterschiedliche Formen annehmen und entsprechend verlocken, sie als individuelle Dokumente anzusehen. Diese Beobachtung führt zur ersten methodischen Prämisse, nämlich der Frage, ob und inwiefern Testamente als EgoDokumente betrachtet werden können. Der Begriff Ego-Dokument wurde in den 1950er Jahren durch den niederländischen Historiker Jacques Presser eingeführt (egodocumente), um damit Quellen zu bezeichnen, in denen historische Subjekte zu Wort kommen, in denen »ein ego sich absichtlich oder unabsichtlich enthüllt oder verbirgt«.27 Er wurde insbesondere von Rudolf Dekker in die niederländische Diskussion der 1970er Jahre eingebracht.28 Winfried Schulze führte den Begriff in die deutsche Geschichtswissenschaft ein und erweiterte ihn um unfreiwillige und unbeabsichtigte Selbstaussagen historischer Ichs.29 Schulze setzt sich damit vom älteren

25 Vgl. hierzu beispielhaft die Auswertungen bei Fößel, Testamente (wie Anm. 6); Hörmann-Thurn und Taxis, Alhaidis (wie Anm. 6). 26 Vgl. hierzu die Darstellung bei: Gert Melville, Die zwei Körper und die Seele in der Fortschreibung des Letzten Willens eines Herrschers. Variationen zum Thema einer Tagung über mittelalterliche Testamente, in: Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, hg. von Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29), Köln 2008, 779–791. 27 Presser zit. nach Winfried Schulze, Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«, in: EgoDokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, hg. von Winfried Schulze (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, 11–30, hier: 14–15. 28 Vgl. Schulze, Ego-Dokumente (wie Anm. 27) 14. 29 Grundlegend Schulze, Ego-Dokumente (wie Anm. 27). Vgl. den neueren Forschungsüberblick bei Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als



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und engeren Begriff des Selbstzeugnisses ab, mit dem autobiographische Texte bezeichnet werden.30 Im engen Sinn wurden unter Selbstzeugnissen Quellengattungen mit autobiographischen Ansätzen wie Tagebücher, Autobiographien, aber auch Briefe subsumiert, die von den historischen Subjekten selbst verfasst worden waren. Die Idee war, in einer alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Lesart die Perspektive historischer Subjekte in den Blick zu bekommen und ihren Erfahrungen nachzuspüren. Schulze sieht dem gegenüber das Potential von juristischen und verwaltungsmäßigen Textsorten, in denen indirekt Aussagen über das Innere historischer Subjekte gewonnen werden, selbst wenn diese von Dritten verfasst werden. Diese fasst er gemeinsam mit den klassischen Selbstzeugnissen im übergeordneten Begriff der Ego-Dokumente, die es erlauben, auch illiterate Schichten in den Blick zu bekommen. »Wenn man die ›Schwelle der Geschichtsfähigen‹ tatsächlich weiter nach ›unten‹ absenken will, dann führt kein Weg an einer möglichst weitausgreifenden Quellensuche vorbei.«31 Für das Mittelalter ist dieser weite Begriff interessant, um den Mythos der Geburt des Individuums in der Renaissance zu brechen, der von Jacob Burckhardt geprägt wurde und sich nach wie vor hält.32

Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1/2 (2002) 1– 19, online http://www.zeitenblicke.de/2002/02/rutz/index.html. 30 Schulze, Ego-Dokumente (wie Anm. 27) 21 mit Literaturangaben in Fn 54. Wesentlich für die Auseinandersetzung und den Versuch einer Typologisierung der Selbstzeugnisse ist Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbtszeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994) 462–471; vgl. auch Rutz, Ego-Dokument (wie Anm. 29) 6–7. Zur Auseinandersetzung der Mediävistik mit den Selbstzeugnissen vgl. Heinz-Dieter Heimann / Pierre Monnet / Raphaela Averkorn (Hg.), Kommunikation mit dem Ich: Signaturen der Selbstzeugnisforschung an europäischen Beispielen des 12. bis 16. Jahrhunderts (Europa in der Geschichte 7), Bochum 2004. 31 Schulze, Ego-Dokumente (wie Anm. 27) 25–26. 32 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Frankfurt am Main 2009 [1860]; vgl. in diesem Sinn zum Potential der Selbstzeugnisforschung für die Entwicklung des Individualisierungsprozesses der Moderne Rutz, Ego-Dokument (wie Anm. 29) 4. Historische Ichs sprechen in mittelalterlichen Quellen oft von ganz unerwarteten Stellen und finden sich in unterschiedlichen Texten. Vgl. hierzu Heimann / Monnet / Averkorn (Hg.), Kommunikation (wie Anm. 30).

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Abbildung 1: Der letzte Wille Pfalzgraf Ruprechts II. 6. Jänner 1398, Heidelberg.

Quelle: Bayerisches Hauptstaatsarchiv Geheimes Hausarchiv Hausurkunden 2532 f. 1r. Zwei geheftete Papierbögen mit Pergamentumschlag. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des BayHStA.

Gerade dieser weite Quellenbegriff wie auch die implizit an Freud anklingende Formulierung des Ego, welche für die Vormoderne nicht einzulösende Erwartungshaltungen an die Innenschau und Selbstreflexion historischer Ichs hervorruft, hat zu



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Kritik an Schulzes Begriff des Ego-Dokuments geführt.33 Laut Rutz führte dies zu einer weiteren Favorisierung des Begriffs Selbstzeugnis in der Frühneuzeitforschung.34 Allerdings ist gerade die Idee der Authentizität, die mit diesem Begriff und einer autobiographischen Innenschau verknüpft wird, wiederum zu hinterfragen.35 Nicht zuletzt im Zuge der über den linguistic turn an den Literaturwissenschaften gewonnenen methodischen Ansätze sind historische Texte in den letzten Jahren vermehrt dekonstruiert worden.36 Unter der Perspektive der prinzipiellen narrativen Konstruiertheit von (historischen) Texten ist somit sowohl der Begriff des Ego-Dokuments wie auch des Selbstzeugnisses zu diskutieren, da falsche Erwartungen geweckt werden. Selbst augenscheinlich so authentische Quellengattungen wie Briefe arbeiten mit rhetorischen Strategien.37 Mit Umberto Eco ist davon auszugehen, dass auch in so genannten pragmatischen Textsorten, wie es historische Quellen sind, nicht anders als in literarischen Texten zwischen dem biographischen Ich, dem Autor, und dem Erzähler-Ich zu unterscheiden ist.38 Bereits Schulze war sich dieser Problematik bewusst, wenn er mit Verweis auf Natalie Z. Davis’ »fictions in the archives« auf die »Verstellung, Verschleierung der Wahrheit, Gegenstrategien also, die entschlüsselt werden müssen«,39 hinweist, die in den von ihm so geschätzten juristischen Quellen zum Tragen kommen. Demnach scheint sein weiter Begriff Ego-Dokument in dieser Hinsicht sogar weniger Angriffsfläche zu bieten als der verführerischere des Selbstzeugnisses.

33 Vgl. hierzu insb. Rutz, Ego-Dokument (wie Anm. 29) 4. 34 Rutz, Ego-Dokument (wie Anm. 29) 5. 35 Vgl. mit Blick auf die Frage nach authentischen Gefühlen in der Geschichte Christina Antenhofer, Emotionale Argumentationsmuster oder Gefühle als Pflicht? Ein Fallbeispiel aus dem 15. Jahrhundert, in: Kritik der Gefühle. Feministische Positionen, hg. von Agnes Neumayr, Wien 2007, 254–274; Christina Antenhofer, Emozionalità nella storia. Riflessioni sullo sfondo di Storia e Psicoanalisi e La scrittura della storia di Michel de Certeau, in: Discipline filosofiche XVIII/1 (2008) 83–99. 36 Grundlegend Hayden White, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore u.a. 1973. 37 Vgl. hierzu die methodischen Anmerkungen in Christina Antenhofer / Mario Müller, Briefe in politischer Kommunikation. Einführung, in: Briefe in politischer Kommunikation vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert. Le lettere nella comunicazione politica dall’Antico Oriente fino al XX secolo, hg. von Christina Antenhofer / Mario Müller (Schriften zur politischen Kommunikation 3), Göttingen 2008, 9–30, hier: 21–22. 38 Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, 3. Aufl., München 1998. Insofern schließt auch Rutz, dass Selbstzeugnisse (lediglich) Aussagen zu Ich-Konstruktionen erlauben, Rutz, Ego-Dokument (wie Anm. 29) 19. 39 Schulze, Ego-Dokumente (wie Anm. 27) 27.

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In seiner Auflistung der möglichen Ego-Dokumente nennt Schulze auch Testamente.40 Gerade im Fall der Testamente ist sich die Forschung jedoch keineswegs einig, inwieweit sie wirklich Einblick in die Persönlichkeit des Testierers erlauben. So hat Gabriela Signori vor allem auf die Interessenskonflikte hingewiesen, die sich durch den Einfluss der am Sterbebett anwesenden Geistlichen auf die letzten Verfügungen ergaben.41 Kadri-Rutt Hahn warnt mit Verweis auf Eamon Duffy davor, »die Individualität der Testamente zu überschätzen und in ihnen Zeugnisse persönlicher Religiosität zu erkennen. Statt dessen geben Testamente mehr über die äußeren Zwänge (›external constraints‹) und den gesunden Menschenverstand (›common prudence‹) Auskunft als über persönliche religiöse Überzeugung (›conviction‹).«42 Wie komplex sich das Ineinandergreifen verschiedener Sichtweisen in Testamenten darstellt, zeigt sich deutlich im letzten Willen des Johann von PfalzNeumarkt (1383–1443), Sohn König Ruprechts (1352–1410), den dieser 1443 am Sterbebett aufsetzen ließ.43 Es handelt sich um eine regelrechte Seelenbeichte, die am 14. März am Sterbebett aufgenommen und am 27. April von Conradt Wolff, der sich selbst nennt und diese Beichte als Augenzeugenbericht schildert, in Schrift gebracht wurde. Wolff gibt als Legitimation hierfür an, dass Johann ihn bereits am Sterbebett dazu aufgefordert habe. Diese Beichte wurde, wie das Protokoll schildert, nur im Beisein des Abts Jacob zu Kastl (Castell) und weiterer Mönche, die Johann explizit an sein Strebebett gebeten hatte, abgelegt, nachdem alle anderen Anwesenden hinausgeschickt worden waren. Es ist also nicht nachvollziehbar, inwieweit dieser Augenzeugenbericht in der Tat Johanns Willen dokumentiert oder inwiefern auf den Sterbenden durch die Anwesenden Druck ausgeübt wurde. Da Johann allerdings, ohne Beisein seiner Räte, etliche schwerwiegende politische Ent40 Schulze, Ego-Dokumente (wie Anm. 27) 21. 41 Vgl. Signori, Vorsorgen (wie Anm. 4) insb. 6–17. 42 Kadri-Rutt Hahn, Kirchliche und karitative Legate. Revaler Testamente in den ersten Jahrzehnten nach der Reformation (1524–1560), in: Seelenheil und irdischer Besitz. Testamente als Quellen für den Umgang mit den »letzten Dingen«, hg. von Markwart Herzog / Cecilie Hollberg (Irseer Schriften NF 4), Konstanz 2007, 125–137, hier: 133. Dem gegenüber sieht Konstantin Moritz A. Langmaier das Testament Erzherzogs Albrecht VI. als eines der wenigen »Selbstzeugnisse« an, das gleichzeitig ein »Selbstbekenntnis« sei, »eines der wenigen Dokumente […], in denen Albrechts Selbstverständnis unmittelbar greifbar wird«, auch wenn er einräumt, dass es »weitgehend dem machtpolitischen Kalkül entsprang«. Konstantin Moritz A. Langmaier, Erzherzog Albrecht VI. von Österreich (1418–1463). Ein Fürst im Spannungsfeld von Dynastie, Regionen und Reich (Regesta Imperii Beihefte 38), Köln u.a. 2015, 524, 530, 598. 43 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) Geheimes Hausarchiv (GHA) Hausurkunden (HU) 3388.



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scheidungen zu Protokoll gab, muss dies wohl zu Problemen im Nachfeld geführt haben, die das Verschriftlichen der Beichte verzögerten. An diesem Testament zeigt sich die methodische Schwierigkeit des Begriffs Ego-Dokument oder Selbstzeugnis: Es ist ein in Ich-Form verfasster Augenzeugenbericht über die Beichte eines anderen historischen Ichs. Welches Ich sich hier nun zeigt, muss offen bleiben, vielmehr gilt es die verschiedenen Erzählperspektiven aufzuschlüsseln. Selbst das Ich des Berichts bleibt ein Erzähler-Ich, das die Beichte Johanns und die Kommentare des Abts in einem Wechselspiel aus direkter Rede regelrecht protokolliert, mit mehr als einem Monat Abstand zu den Geschehnissen am Sterbebett.44

44 »[…] herr(e)n Jacob, abt czu Castell und czu im etliche müniche, der do drei woren, als ich dann gedenck bei guter / gewissen, die eltisten und gelerczten auss dem götzhause daselbs. Und seine gnade hiess und schüeff auff solche czukunfft des abts und der pruder meniglich(e)n / außgen auss der stuben, dorinnen dann seine gnade kranckh läg, und besunderlichen di hochgeboren furstinne und frawe, seine gemahel, seine paide ärczte, / auch alle di, die sein warten, in legten, huben und trugen. Dan(n) das seine furstliche gnade mit mir undengeschreben [!], maister Conradt Wolff, schüeff bei im / czu bleiben mit dem abte und andern seinen prudern, seine maÿnung und leczten willen czu vernemen, und sprach czu mir solchs schrifftlichen czu vermercken / und hüb an czu reden mit und bei den nachgeschreben württen. Er wolt sich nü cziehen von dieser werlt und furbasser mer dienen ainem h(err)n ewiglichen, der / im leib und sele geben hette, dann er hette vil pfanndtschafft innen von seinem swager, herczog Albrechten, und vermaÿnte, di nach dem und er und seine / vorfodern di langest genossen und innengehabt hetten, czu ringern und in den halben tail nachczulassen. Doch das sein swager, herczog Albrecht, solches / nachlassen gen seiner haußfrawen erchennen solt und sÿ des geniessen lassen und rufft mich an solchs aÿgenlichen czu beschreiben, wann er ÿez / das auff seiner sele nicht hinfuren wolt nach auff seiner gewissen legen lassen. Er hette auch seine haußfrawen auff solche pfanndtschafft dis/ter lieber genomen, des das sÿ auch ain erbe ware und wolt das also habg(e)n [!], wie wol er auff der schule czu Haidelberg von gross gelerten / lewten underweisunge genomen hette, damit er di billichen innenhalten mochte. Es hette auch sein swager czum nachsten und er czu Munich(e)n / bei im gewesen were auss den sachen mit im geredt. Er hette im aber daczumal nichtz czugesagt, und ermant mich, aber solche seine maÿnunge / schrifftlichen czu vermercken. Doch das seine haußfrawe des von seinem swager ergeczt wurde und sÿ des geniesen liesse. Da sprach der abt gnediger / herre, is wer wol, das bei solcher eẅ gnaden maÿnung eẅ trefflichen räte mer dabei weren. Da sprach er, is ist knüg, nü sind doch ir dabei. Er meldet / auch von seinem jungen vettern, herczog Ludweigen, wie er auch etwevil seiner sloss innenhette und di seinem vater abgewunnen. Aber der / alte hette in czu dem kriege genöt und gedrungen, damit er gegen im notwere hette tun müessen. Es hette auch der alte selbs vor kunig / Sigmunden bechannt, wie er im unrecht getan hette etc. […].« BayHStA GHA HU 3388.

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Der Bezug zwischen Raum und Körper, wie er sich in den Testamenten offenbart, stellt den zweiten methodischen Ansatz des Beitrags dar. Das Konzept der Verteilten Persönlichkeit, das der Oxforder Anthropologe Alfred Gell 1998 entwickelte, bietet hierfür wichtige Anknüpfungspunkte, die im Folgenden kurz skizziert seien. In seiner letzten Monographie Art and Agency versuchte Gell, eine Anthropologie der Kunst zu skizzieren, die es ermögliche, Trennlinien zwischen hoher westlicher Kunst und so genannter primitiver Kunst, die gerne mit den Attributen der Magie belegt wird, aufzulösen.45 Zweitens wollte er aus anthropologischer Sicht – und aus einer dezidiert atheistischen Haltung heraus – die Trennung zwischen Kunst und Religion aufheben und deutlich machen, dass letztlich den Museumsbesucher wie den Kirchgänger und den Ausübenden magischer Praktiken dieselben grundlegenden Prämissen antreiben.46 Für die Frage nach dem Bezug von Körpern, Raum und Dingen ist dabei aus einer mediävistischen Perspektive die Idee der distributed personhood besonders gewinnbringend, die Gell darlegt.47 Ausgehend von Frazers Magiekonzept48 weist Gell auf die Beziehung hin, die zwischen Menschen und Dingen über körperliche Schnittstellen erzeugt wird, wie sie sich am deutlichsten im Konzept der Reliquien fassen lassen. Am klarsten wird diese Vorstellung bei Vgl. Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 2) 640, Fn. 271. Die Schrägstriche kennzeichnen die Zeilenumbrüche im Original. 45 Alfred Gell, Art and Agency (wie Anm. 11). 46 Gell, Art and Agency (wie Anm. 11) 96–99. Das Programm wurde mittlerweile von deutschen Anthropologen und Kulturwissenschaftlern weiterverfolgt und -gedacht, vgl. KarlHeinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003; Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006; Stefan Laube, Von der Reliquie zum Ding. Materielle Kraftfelder zwischen Glauben und Wissen, Berlin 2011; vgl. auch Christina Antenhofer (Hg.), Fetisch als heuristische Kategorie. Geschichte – Rezeption – Interpretation (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld 2011. 47 Gell, Art and Agency (wie Anm. 11) 96–154. Ich verdanke diese Anregung dem Vortrag von Visa Immonen »The Distributed Personhood of the Elite: Medieval and Early Modern Heraldry in Finland as Material Culture« bei der European Social Science History Conference 2012 in Glasgow. Imonen bezieht sich auf Alfred Gell’s Idee von »distributional objects« als Indices für »distributed persons«. Siehe dazu auch das Abstract zum Vortrag http://www2.iisg.nl/esshc/, 25.3.2013. 48 Zu den Definitionsansätzen von Magie vgl. im Überblick Johannes Dillinger, Hexen und Magie. Eine historische Einführung (Historische Einführungen 3), Frankfurt am Main / New York 2007, 13–18.



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den vom Körper produzierten Dingen wie den Körperteilen selbst, aber auch den vom Körper erneuerten materiellen Produkten, beispielsweise Haare oder Nägel. Wir verteilen uns gleichsam alle täglich ständig über den Raum, indem wir Produkte unseres Körpers, etwa Hautschuppen, überall verstreuen. Deutlich gefasst wird dies im Bild der Schlange, die ihre tote Haut als Bild ihrer selbst in der Landschaft hinterlässt. Für Gell ist dies der Prototyp des Abbilds. Die Bedeutung und Wirkmacht, die diesen Körperdingen bis ins 19. Jahrhundert – und im Kontext magischer Praktiken bis heute – zugeeignet wurde, erklärte der Kirchenhistoriker Angenendt überzeugend mit der Virtus, der Energie, die auch noch dem toten Körper bis ins 19. Jahrhundert zugesprochen wurde.49 Sekundär wird diese Kraft auf alle Dinge übertragen, die mit dem Körper in Berührung kommen, was Frazer als Kontaktmagie bezeichnete.50 Gell geht nun einen Schritt weiter, indem er deutlich macht, dass diese Beziehung zwischen Körper und Dingen gleichermaßen auch über Bilder und Abbilder geschaffen wird, wobei er sich auf die Theorie der Emanationen beruft, die er bis auf Epikurs Konzept der Wahrnehmung zurückführt. Teile von Körpern oder Bilder von Körpern würden demnach auf dieselbe Weise funktionieren. Am deutlichsten sei dies von Lucretius formuliert worden: Die Bilder (simulacra) seien gleichermaßen Emanationen, die wir sehen, da sie in unsere Augen eindringen und wir sie dort fühlen können.51 »For the moment, though, I am interested in Hirn’s point that if ›appearances‹ of things are material parts of things, then the kind of leverage which one obtains over a person or thing by having access to their image is comparable, or really identical, to the leverage which can be obtained by having access to some physical part of them; especially if we introduce the notion that persons may be ›distributed‹, i.e. all their ›parts‹ are not physically attached, but are distributed around the ambience, like the discarded ›gossamer coats of cicadas‹ in Lucretius’ memorable instance, which are both images and parts of the living creature.«52

Gell führt die Beobachtung über philosophische Auseinandersetzungen mit der Frage der Wahrnehmung und dem Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören und Fühlen weiter. Der Position des indischen Philosophen Caraka zufolge sei der Tastsinn der höchste, und das Sehen und Hören seien nur andere Formen des Tastens.53 Ohne Gell hier weiter in seinen anregenden, wenn auch 49 Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, 155–158. 50 Vgl. Dillinger, Hexen und Magie (wie Anm. 48) 14. 51 Gell, Art and Agency (wie Anm. 11) 105. 52 Gell, Art and Agency (wie Anm. 11) 105–106. 53 Gell, Art and Agency (wie Anm. 11) 117.

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komplexen Überlegungen folgen zu können, möchte ich festhalten, dass Gells Vorstellung der über den Raum verteilten Körper ein Schlüsselkonzept zur Interpretation mittelalterlicher Testamente bietet, wie ich folgend ausführen werde. Ein zweiter wichtiger Punkt bei Gell ist seine Beobachtung der doppelten Semantik von Repräsentation, einem der Schlüsselbegriffe der letzten Jahre in den Geschichtswissenschaften.54 Repräsentation bedeutet zum einen darstellen, wie es über ein Bild geschieht, zum anderen aber auch an der Stelle von etwas anderem stehen, wie es etwa ein Botschafter ausübt, wenn er repräsentiert.55 Mit Gell lassen sich die beiden semantischen Stränge zusammenführen: Dingen, Bildern aber auch Körperteilen im eben diskutierten Sinn kann demnach die Funktion von Botschaftern zukommen, die die materielle Präsenz des Körpers zu vermitteln und vertreten vermögen, auch wo die Person nicht (mehr) anwesend ist.56 Diese Vorstellung ist für den Fall des Todes zentral, wenn der Körper endgültig verschwindet, in der christlichen Terminologie des Mittelalters gedacht verschwand er zumindest von der sichtbaren irdischen Präsentationsfläche, auch wenn weiterhin eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten bestand, die nachhaltig die gesamte Todesvorsorge des Mittelalters prägte.57 Viele Vorkehrungen, die in den Testamenten getroffen werden, lassen sich somit als eine Vorsorge entziffern, wie die Sichtbarkeit des Körpers für die Zukunft gewährleistet werden konnte, vor den Augen Gottes wie vor jenen der Gemeinschaft der Lebenden, die mit der Gemeinschaft der Toten in Verbindung stehend gedacht wurde.

54 Vgl. grundlegend Foucaults Bestimmung der Frühen Neuzeit als Zeitalter der Repräsentation. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Les mots et les choses), Frankfurt am Main, 14. Aufl., 1997 [1966], 78–113. Übergeführt in das Konzept der Symbolischen Kommunikation und Ritualforschung wurde die Erforschung der Repräsentation maßgeblich von Barbara Stollberg-Rilinger, vgl. etwa: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008; am Beispiel von Bildkonzepten Horst Bredekamp / Christiane Kruse / Pablo Schneider (Hg.), Imagination und Repräsentation: Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit. Kulturtechnik, München 2010. 55 Gell, Art and Agency (wie Anm. 11) 98. Zur Kritik an der politischen Repräsentation vgl. Bruno Latour, Von der »Realpolitik« zur »Dingpolitik« oder wie man Dinge öffentlich macht, Berlin 2005. 56 Gell, Art and Agency (wie Anm. 11) 98, 104–106. 57 Vgl. zur Bedeutung der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten Angenendt, Heilige und Reliquien (wie Anm. 49) 111–115; zur Todesvorsorge vgl. die Literatur in Anm. 3.



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S AKRALE R AUMSTRUKTUREN Nach diesen methodischen Prämissen sei nun der Blick in die Quellen gelenkt und anhand der Quellenbeispiele die Spurensuche des Zusammenspiels von Raum, Körpern und Dingen aufgenommen. Dem Aufbau der Testamente folgend stehen am Beginn die sakralen Raumstrukturen, denen im Mittelalter das größte Augenmerk galt. Typischerweise beginnen viele Testamente mit Bestimmungen über das eigene Grab und Grabmal und bieten mitunter recht genaue Hinweise, wie dies zu gestalten sei. Für den Fall Herzog Christophs von Bayern (1449–1493), der 1493 auf der Insel Rhodos verstarb, hat sich sogar eine Skizze des Grabmals erhalten, das auch deshalb interessant ist, weil es den toten Körper als Corpus intra muros inszeniert, als einen Körper zwischen Mauern.58 Visuelle Einblicke in die Art des Begräbnisses erlaubt beispielsweise der letzte Wille Pfalzgraf Ruprechts II. (1325–1398), den dieser an seinem Todestag, dem 6. Jänner 1398, im betagten Alter von 72 Jahren aufsetzen ließ.59 Ruprechts detaillierte Anleitung für sein Begräbnis entwickelt sich zu einem Skript, das die Begräbnissituation räumlich sichtbar werden lässt. 58 Vgl. hierzu den Beitrag Was von einem Leben bleibt. Herzog Christophs Reise nach Jerusalem. Eine historische Spurenlese in diesem Band. Er wurde bereits abgedruckt in: Ulrich Leitner / Stefan Hitthaler / Christina Antenhofer u.a., Corpus Intra Muros. Katalog zum Wissenschafts- und Kunstprojekt (Schriften zur Politischen Ästhetik 2), Innsbruck 2014, 15–20; vgl. auch den Beitrag im Katalogteil dieses Bandes. 59 BayHStA GHA HU 2532; 6.1.1398. BayHStA GHA HU 2533 beinhaltet einen Auszug aus einem alten Seelbuch bei Stift Neunstatt über besagtes Testament 1398; Edition bei Alois Gerlich, Seelenheil und Territorium. Testamentsrecht von Fürsten und Grafen im Spätmittelalter, in: Land und Reich, Stamm und Nation: Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, 1. Forschungsberichte Antike und Mittelalter, hg. von Andreas Kraus (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 78), München 1984, 395–414, hier: 412–414; vgl. ferner Adolf Koch / Jakob Wille (Hg.), Regesten der Pfalzgrafen am Rhein 1214–1508. Bd. 1: 1214–1400, Innsbruck 1894, 348, Nr. 5726; Huthwelker, Tod und Grablege (wie Anm. 3) 75–83; Heimann, Hausordnung (wie Anm. 17) 252–253; Karl-Heinz Spieß, Erbteilung, dynastische Räson und transpersonale Herrschaftsvorstellung. Die Pfalzgrafen bei Rhein und die Pfalz im späten Mittelalter, in: Die Pfalz – Probleme einer Begriffsgeschichte vom Kaiserpalast auf dem Palatin bis zum heutigen Regierungsbezirk. Referate und Aussprachen der Arbeitstagung vom 4.–6.10. in St. Moritz, hg. von Franz Staab (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer 81), Speyer 1990, 159–183, 174, Anm. 73a. Begraben wurde Ruprecht seinem Willen gemäß in Schönau bei Heidelberg, einer ehem. Zisterzienserklosterkirche, vgl. Volker Rödel, Art. Ruprecht II. der Jüngere, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 22, Berlin 2005, 289–290, hier: 289. Vgl. hierzu Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 2) 634–636.

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Das Testament ist in der dritten Person geschrieben, in der Art eines Protokolls des letzten Willens. Zunächst findet sich eine detaillierte Beschreibung darüber, wie Ruprechts Begräbnis stattfinden soll: »Item zum ersten hat er sin begrebnieß erwelet zu Schonauwe in dem closter, ob eß sy daz unßer heregot zu dießer zyt uber yn gebiete, daz man yn dann in demselben closter zu Schonauwe begraben solle zu sines vater seligen fußen.«60

Genaue Angaben gibt Ruprecht über die Anfertigung eines schwarzen Samtrockes, das erste Objekt, das sichtbar wird. Man solle ihn bis zum Grab in einer Lade transportieren, dann seinen Rock ausziehen und diesen der ärmsten Pfarre stiften, ihn selbst in ein Leinentuch wickeln und ohne Lade in das Grab legen. Damit lässt sich Ruprecht in der Demutshaltung des armen Büßers begraben.61 Es zeigt sich zudem, dass der Leichenrock eigens für das Begräbnis angefertigt wurde, um sodann gleich wieder gestiftet zu werden: »Und so er gestierbet, so sal man yn in ein wiße lynen duche bueßen und daruber sal man yme einen widen rocke machen von swarzem samit und sal yn daryne in eyner laden zu dem grabe tragen. Und so man yn zu syme grabe bracht hat, so sal / man yn uß der laden tun und sal yme den samit rock auch uß tůn und sal den gebe an die armsten pfarre, die er in syme lande hat und die syn ist, daz man dar uß mache zu derselben pfarre kirchen notdurfft. / Item sal man yn dann ane laden mit dem lynen duche, da er ynne verbußet ist, in daz grab legen und einen stein oder einen erden klumpen under sin heupt legen und dann erden off yn werffen. / Item sal man yn auch nit herheben von der erden, sunder man sal einen breiden stein uber sin grab legen gliche der erden und sal ein groß kruetze daroff hauwen und sin wapen by yn hencken an die muren.«62

Das Grab möge völlig schmucklos sein, nur ein Stein und ein Kreuz sollen es bedecken und an der Mauer soll Ruprechts Wappen an ihn erinnern. Der inszenierten Demutshaltung des armen Büßers im Grab widerspricht allerdings das überaus detaillierte Memorialprogramm, das Ruprecht für sich konzipiert hatte, und das mehrere Städte mit einbezieht. Hier wird nun der zweite Typ der sakralen Raumstruktur wirksam, nämlich jener des Gedächtnisortes.63 Ruprecht verfügte, dass vier kostba60 Zit. nach Gerlich, Seelenheil (wie Anm. 59) 412. 61 Vgl. Gerlich, Seelenheil (wie Anm. 59) 406. 62 Zit. nach Gerlich, Seelenheil (wie Anm. 59) 412. 63 Der Begriff Erinnerungsort verweist generell auf Träger von Erinnerung, es muss keineswegs ein räumlicher Bezugspunkt damit gemeint sein. Vgl. hierzu mit Bezug auf »objektbezogene Erinnerungspraktiken« der Antike: Andreas Hartmann, Zwischen Relikt und Reliquie. Objektbezogene Erinnerungspraktiken in antiken Gesellschaften (Studien



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re Bildteppiche mit einem genau bestimmten Bildprogramm ausgestattet und in vier Städten ausgestellt werden sollten. »Item er begerte auch, daz man an iglicher der obgenant vier stedte einer ein kosper duche bestelle solle und sal in dem duche zu Heidelberg steen ein swartze groß krutze durch und durch und in der mitte sal steen ein rod schield darynne sal steen ein lemlin, und uß des herzen sal blut gedrucket werden in eynen kelche. / Item in dem duche zur Nuwenstad sal steen unßer liebe frauwe in der sonnen und sal yr kynd an yrem arme han mit den fuenff zeichen. / Item an dem duche zu Altzey sal steen die heilge drifaltigkeid. / Item daz duche zu Bachearche sal sin von einem gantzen marter bielde.«64

Diese Orte des Gedächtnisses nehmen eine tragende Rolle in den Testamenten ein und spiegeln sich üblicherweise in frommen Legaten an geistliche und karitative Einrichtungen wider. Dies bedeutet, dass für den Todesfall Stiftungen an Kirchen, Klöster und karitative Institutionen vorgenommen wurden, die gewährleisteten, dass für den Verstorbenen gebetet und seine Memoria gepflegt wurde.65 Die Verfügungen darüber konnten sehr ins Detail gehen. Sie umfassten Stiftungen von Jahrtagen, aber auch von Kerzen, bis hin zu der genauen Bestimmung über deren Gewicht, Altarstiftungen, die Finanzierung von Priestern, die sich um den Altar und den Jahrtag kümmerten, sowie Verfügungen über das Instandhalten des Gotteshauses, in dem sich das Grab befand. Derlei Angaben lassen sich deutlich im ersten Testament der Isabel von Aragon (1300/1302–1330) nachzeichnen, Gattin des Habsburger Königs Friedrich des Schönen (1289–1330), vom 24. April 1328:66 zur Alten Geschichte 11), Berlin 2010, insb. 31–47. Der Begriff geht zurück auf die Prägung der Lieux de mémoire von Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998. Gemeint ist, dass sich das kollektive Gedächtnis an bestimmten Punkten, die nicht geographisch gedacht sein müssen, kristallisiert. Vgl. Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 2) 81, Fn. 413. 64 Zit. nach Gerlich, Seelenheil (wie Anm. 59) 413. 65 Vgl. die beispielhafte Darstellung bei Claudia Moddelmog, Königliche Stiftungen des Mittelalters im historischen Wandel. Quedlinburg und Speyer, Königsfelden, Wiener Neustadt und Andernach (Stiftungsgeschichten 8), Berlin 2012. 66 Fößel merkt hier fälschlich an, dass sowohl das Original wie die Abschriften dieser ersten testamentarischen Verfügung nicht überliefert seien, Fößel, Testamente (wie Anm. 6) 398. In der Tat hat sich die bereits in den Zimerman’schen Regesten erwähnte Abschrift im Diplomatar der Herzöge Albrecht IV., Albrecht V., Ernst, Leopold IV. und Wilhelm von Österreich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) Wien erhalten, sie ist aber durch Wasserschäden stark verderbt. HHStA HS W 8 (= olim Ms. 16), f. 178v–179v; Heinrich Zimerman (Hg.), Urkunden und Regesten aus dem k. u. k. Haus-, Hof- und Staats-Archiv in Wien, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchs-

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»Elisabeth […] bestimmt in ihrem Testament, sie solle bei den Minoriten in Wien begraben werden in sand Ludwiges chappellen, die wier gepawn haben; dem St. Clarastift zu Wien vermacht sie 400 Mark Silber: der soll man hundert march nemen von unser morgengab und drewhundert march von unsern silber[vazzen] und waz dez gepreste daz sol man erfuellen von unsern guldein chlainoden. Hievon seien guelt zu kaufen, die sol man dienen auf sand Ludwieges chappellen alz lang unz sie gar perait werde an maur an dach und an geleseren..Wier wellen awch daz die voergenanten vråwen alle jar geben vier phunt, domit man pezzer die glezer an unser chappellen und waz anders daran ze pezzern ist. Dem St. Clarastift zu Königsfelden vermacht sie 100 Mark aus ihrer Morgengabe, darzu unser guldein sch[apel, daz] wier prachten von Arragoni, daz do wigt drei march golt und zwai [lot]. Endlich disponirt sie eingehend über 400 Mark, die man nemen sol [von unser] guldein [chlainoten].«67

Isabels Testament folgt den auch an anderen Fürstinnentestamenten angestellten Beobachtungen.68 Sie erwähnt ihre goldenen Kleinodien und das Silbergeschirr als Geldreserve, über die sie verfügt, ebenso wie das Geld ihrer Morgengabe. Insbesondere drei Orte werden mit ihrer Memoria verbunden: die Minoriten in Wien, bei denen sie in der von ihr gestifteten Ludwigskapelle ihre Grablege haben möchte. Es folgt das junge Nonnenkonvent St. Clara in Wien, das mit 400 Mark aus ihrer Mitten Kaiserhauses 1.II (1883), I–LXXVIII, hier I, Nr. 3; Eduard von Lichnowsky, Geschichte des Hauses Habsburg. 3. Von der Ermordung König Albrechts bis zum Tode Herzog Albrecht des Weisen, Wien 1838, CCCC, Nr. 763. Vgl. hierzu und zum Folgenden Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 2) 597–599. 67 Hier werden die zentralen Passagen nach der Transkription der Zimerman’schen Regesten zitiert, da diese Stellen heute in der Abschrift im Diplomatar (HS W 8) verderbt sind und nur über die Zimerman’sche Abschrift rekonstruiert werden können. Zimerman, Urkunden und Regesten (wie Anm. 66) I, Nr. 3. Fößel wertet das Testament nach der Edition bei Maurer aus, Joseph Maurer, Zwei Wohlthäterinnen der Minoriten, in: Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien 26 (1889) 41–47, hier: 45. Eine weitere Edition findet sich im Urkundenbuch des Landes ob der Enns 5, Linz 1868, 505–509, Nr. 511; sowie in Bernhard Pez, Thesaurus anecdotorum novissimus 6, Augsburg 1729, 12– 14, Nr. 15. Regest: Lothar Gross (Bearb.), Regesta Habsburgica III. Die Regesten der Herzoge von Österreich sowie Friedrichs des Schönen als deutschen Königs von 1314– 1330 (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung [I]/3), Innsbruck 1924, 233–234, Nr. 1914. Der überlieferte Text des Diplomatars weicht deutlich von der bei Maurer gegebenen Fassung ab, der nach der Abschrift im Wiener Konsistorialarchiv vorging. Die Edition bei Pez folgt offensichtlich der Fassung des Diplomatars; diesem wiederum folgt die Edition im Urkundenbuch des Landes ob der Enns. 68 Vgl. hierzu am Beispiel der frühen Habsburger Testamente Antenhofer, Mensch-ObjektBeziehungen (wie Anm. 2) 591–596, ferner Fößel, Testamente (wie Anm. 6) 398; Hörmann-Thurn und Taxis, Alhaidis (wie Anm. 6).



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gift und ihrem Schatz versehen wird.69 Die Nonnen sollten davon eine Gült kaufen, sich um die Instandhaltung der Kapelle kümmern, aber auch den Minoriten Geld weiterleiten. Davon sollten die Minoriten eingekleidet sowie Jahrtage und ewiges Licht finanziert, aber auch die Gläser der Kapelle ausgebessert werden. Den Restbetrag mochten die Nonnen für sich verwenden.70 Schließlich gehen an die Klarissen in Königsfelden 100 Mark aus ihrer Mitgift sowie ein goldenes Kleinod (Schapel).71 Eine weitere Summe von 400 Mark, die ebenso aus ihren Kleinodien gewonnen wird, lässt sie in kleinen Beträgen an verschiedene Klöster, Pfarreien, Spitäler und Siechenhäuser im gesamten habsburgischen Gebiet, namentlich im Herzogtum Österreich verteilen – insgesamt 120 Institutionen, nach Amalie Fößel ein »›who is

69 St. Clara war eine junge Gründung, die von ihrem Schwager Herzog Rudolf III. gemeinsam mit seiner Gemahlin Blanche (Blanca) von Valois 1305 gegründet worden war. Vgl. Fößel, Testamente (wie Anm. 6) 402. Die Finanzierung über so genannte Gült folgte der gängigen Praxis, um damit die Armutsgebote der Franziskaner zu respektieren, siehe ebd. 400–401. 70 »Wïr [wollen auch], / daz dÿ vörgenanten vraẅen umb dÿ vïr hundert marchk gült chaẅffen und dÿ s[elben Guelt] / dÿ sol man dÿnen auff Sand Ludwïges chappellen, alz lang uncz sÿ gar peraÿt [werde an Maur] / an dach und an geleser(e)n furbas. So sol man der selben gult alle ïar vïrzk phunt phenning / Wÿenn(er) müncz geben den minner(e)n prüder(e)n an der selben stät ze Wÿnne, da wïr lign zu den / gewant, do ma(n) sÿ mit von chlaÿden sol, und czwaÿ phunt denselben prudern an Sand Ludwiges / tag umb ain mal und czwaÿ phunt umb ain mal wanne unser jartag ist. Und [zwai phunt] / umb czwaÿ ewige lïcht, dÿ tag und nach p(re)nnen, aÿnes vor Sand Ludwiges alter und ainez / ob unser(e)n grab. Wïr wellen awch, daz dÿ vörgenanten vräwen alle jar geben vïr phunt, domit / man pezzer dÿ glezer an unser chappellen, und waz anders dar an ze pezzeren seÿ ist, waz uber / [f. 179r] wirt uber daz, daz bevor [geschaft ist, d]az schullen dÿ [di]kche genanten vrawen von Sand Claren / zu ÿrem nucz cheren, da Got [für uns biten und] unseren jartag pegeen und daz sÿ dÿ pürde / mit den prudern dester paz mugen [getragen]«; hier zit. nach der Überlieferung HHStA Handschriften W 8 (= olim Ms. 16), f. 178v– 179r. Ergänzungen des verderbten Texts in eckigen Klammern nach dem Urkundenbuch des Landes ob der Enns 5 (wie Anm. 67) 505. 71 Es handelte sich wohl um einen Kopfschmuck, vgl. den einschlägigen Eintrag im Mittelhochdeutschen Handwörterbuch von Matthias Lexer »schápël scháppël […] kranz von laub, blumen (natürlichen od. künstlichen) als kopfschmuck bes. der jungfrauen. das künstl. sch. bestund aus einem bande od. einer schnur (oft auch aus einem goldreif), die einem kranze gleich um die stirn od. kreuzweis verschlungen um den kopf gieng u. häufig mit perlen besetzt war als schmuck für jungfrauen, frauen u. männer.« Lexer »schápël bis schappe« (Bd. 2, Sp. 659 bis 661), zit. nach der online Ausgabe www.woerter buchnetz.de, abgerufen am 3.12.2013.

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who‹ der Klosterlandschaft im Herrschaftsraum der Habsburger«.72 Abschließend verfügt Isabella noch über siebzig Mark, die sie ihrer verwitweten Schwägerin Agnes übergibt, welche als Leiterin von Königsfelden die dynastische Memoria pflegte. Sie sollte die Summe an diverse Klöster um Ravensburg verteilen, die einst durch sie Schaden erlitten hatten.73 Abbildung 2: Erstes Testament der Isabel von Aragon. 24. April 1328. Abschrift im Diplomatar der Herzöge Albrecht IV., Albrecht V., Ernst, Leopold IV. und Wilhelm von Österreich.

Quelle: Österreichisches Staatsarchiv Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Handschrift W 8 (= olim Ms. 16), f. 178v–179v, hier: f. 178v–179r. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des HHStA.

72 Fößel, Testamente (wie Anm. 6) 405. 73 »[…] dÿ chlost(er), / dÿ umb Ravelspürch ligent, den awch von uns schaden ge[sch]ech[en ist, di man] taÿlen sol nach / unser lieben swest(er) rat, vrawn Agnesen weilen chunigin ze Ung[ern, der Wir i]z enphehlen hincz / ïren trewn.« HHStA Handschriften W 8 (= olim Ms. 16), f. 179v. Ergänzungen des verderbten Texts in eckigen Klammern nach dem Urkundenbuch des Landes ob der Enns 5 (wie Anm. 67) 508.



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Abbildung 3: Testament Mechthilds von der Pfalz, 1. Oktober 1481.

Quelle: München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv Geheimes Hausarchiv Hausurkunde 2860 f. 2r. Pergamentlibell, Ausfertigung mit sieben Wachssiegeln (teilweise beschädigt) an Seidenschnur. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des BayHStA.

Am Beispiel des Testaments der Isabella zeigt sich, dass sich die Räume des Gedenkens wie ein Netz über das Herrschaftsgebiet ausdehnen können, wobei sich

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hier soziale Räume und materiell gedachte vermischen.74 Neben dem Gedächtnisraum zeichnen diese Stiftungen immer auch einen politischen Raum der Präsenz nach, in dem Fürst und Fürstin über ihren Tod hinaus gegenwärtig waren. Die derart skizzierten Gedächtnisräume sind jedoch keineswegs statisch zu sehen, sondern erfahren regelmäßige Aktivierung. Mit Gell gesprochen kommt hier das Konzept der distributed personhood zum Tragen, gleichermaßen aber auch das von Jan Assmann geprägte Konzept des kommunikativen Gedächtnisses.75 Memoria ist im mittelalterlichen Verständnis weder abgeschlossen noch statisch, Erinnerung muss vielmehr aktiviert und damit aufgeführt werden. An dieser Schnittstelle kommt nun in der Tat dem Raum besondere Bedeutung zu. Die Gedächtnisräume wie auch der Begräbnisort offenbaren sich als Flächen der Performanz, auf denen die Erinnerung inszeniert, wachgehalten und aufgeführt werden musste. Dies geschah über sinnliche Formen der Wahrnehmungen, in denen die materiellen Räume gleichsam sichtbar und hörbar die Erinnerung aktivierten. Ich möchte diese als Lichterräume und Gebetsräume bezeichnen. Durch das Anzünden von Kerzen wurde das Gedenken sichtbar, in den Gebeten, die für die Verstorbenen gesprochen werden, wurde es hörbar. Beide Formen, Lichter wie Gebete, arbeiteten zudem auf einer transzendenten Ebene daran, dass die Seele schneller in das Himmelreich gelangen konnte. Sie funktionierten damit als Mittler zwischen der irdischen und himmlischen Sphäre und stellten zugleich eine wahrnehmbare Verbindung zwischen der Gemeinschaft der Lebenden und Toten dar.76 Im Sinne der distributed personhood ist noch ein zweiter Aspekt herauszustreichen. In fast allen eingesehenen Testamenten werden Kleider der Verstorbenen dazu bestimmt, nach dem Tod in Messgewänder umgearbeitet und von den Geistlichen bei den (täglichen) Gottesdiensten getragen zu werden. Wir erinnern uns an Frazers Idee der Kontaktmagie, ebenso an die mittelalterlichen Reliquien: Hier wird das Konzept der distributed personhood im direkten Wortsinn greifbar. Die eigene Kleidung wird durch das Umschneidern gleichsam sakralisiert, indem sie zur Kirchenzierde wird. Der Verstorbene hat über seine Kleidung weiterhin Anteil am Geschehen, seine Erinnerung wird über die von ihm getragenen Kleider bei jedem 74 Vgl. zur Differenzierung von Räumen grundlegend Rau, Räume (wie Anm. 9) 122–191. 75 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, 4. Aufl., 2002, insb. 56. 76 Zur Entwicklung der Vorstellung des Fegefeuers im Mittelalter vgl. unter anderem Peter Dinzelbacher, Neues und Altes über das mittelalterliche Fegefeuer, in Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1999) 77–83; Peter Dinzelbacher, Das Fegefeuer in der schriftlichen und bildlichen Katechese des Mittelaters, in: Studi medievali Ser. 3, Bd. 38 (1997) 1–66; Peter Riedel, »Himmel, Hölle, Fegefeuer«. Jenseitsvorstellungen im Mittelalter, in: Weltbilder des mittelalterlichen Menschen, hg. von Heinz-Dieter Heimann u.a., Berlin 2007, 135–146.



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Gottesdienst vor aller Augen aufgeführt, sichtbar gemacht und damit vergegenwärtigt. Eine bemerkenswerte Steigerung erfährt diese Form des Gedenkens im Testament der Mechthild von der Pfalz (1419–1482), in zweiter Ehe Gattin Erzherzog Albrechts VI. von Österreich (1418–1463) und Schwägerin Kaiser Friedrichs III. (1415–1493).77 Sie ließ ihr repräsentatives Testament am 1. Oktober 1481 ausstellen, im Alter von 62 Jahren, ein Jahr später verstarb sie. Mechthild bestimmt nun explizit, dass man auf ihre Kleider, die zu Messgewand geschneidert werden, ihr Wappen zum Gedächtnis sticken möge, damit sie gegenwärtig sei. »Furo setzen, wöllen und ordnen wir, ob wir (36) sydin schuhen oder ander sydin klaider hinder unns verliessen, das die (37) in das closter gen Sindelfingen geben werden, meßgewand oder annder (38) ornatt und getzierd daruß ze machen, mitsampt der silbrin monstrantz, (39) die wir zu dem hailigen sacrament in unnser cappell im [!] dem sloß (40) zu Rottemburg gebrucht haben. Item uß allen unnsern wúllen röcken (41) und menteln, die wir nit verschafft haben, sol man och meßgewannd (42) machen und die tailen und geben, wa es am aller notdurfftigsten ist. (43) Und uff alle sydin meßgewand Frankfurter crútz ains fur dry guldin (44) und uff die wullin ains zu guldin kouffen und unnser wappen laßen (45) sticken uff alle meßgewand, zu gůter gedechtnuß unnser deby gegen Gott.«78

Mechthilds ausführliche Verfügung über die Verarbeitung ihrer Gewänder zu Messkleidern stellt das wohl eindrücklichste Beispiel personalisierter, verdinglichter Memoria dar und verdeutlicht zudem, dass die Fürstin sich dessen bewusst war und die Vergegenwärtigung ihrer selbst über die durch ihr Wappen ausgewiesenen Messgewänder als Ziel formulierte. Bei jeder Messfeier erneuern die aus den getragenen Kleidern Mechthilds geschneiderten Messgewänder ihr Gedächtnis und führen dies regelrecht auf.79 Auch wenn Mechthild diese »gute Gedächtnus« noch als 77 BayHStA GHA HU 2860; ediert in Joachim Fischer, Das Testament der Erzherzogin Mechthild von Österreich vom 1.10.1481, in: Eberhard und Mechthild. Untersuchungen zu Politik und Kultur im ausgehenden Mittelalter, hg. von Hans-Martin Maurer (Lebendige Vergangenheit, Zeugnisse und Erinnerungen), Stuttgart 1994, 111–163, hier 124– 163. Abbildung und Kommentar vgl. Amalie Fößel, Art. D2.18 Testament Mechthilds von der Pfalz, in: Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa. Katalog. 2 Bd., hg. von Alfried Wieczorek / Bernd Schneidmüller / Alexander Schubert / Stefan Weinfurter (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim 60), Regensburg 2013, 431– 432. 78 Zit. nach Fischer, Testament (wie Anm. 77) 130. Fischer kennzeichnet mit den kursiv gesetzten Ziffern in Klammern die Zeilenumbrüche im Original. 79 Vgl. im Detail die Edition und Auswertung von Fischer, Testament (wie Anm. 77). Vgl. zu dem hier erkennbaren performativen Aspekt im Detail das Kapitel Dinge und Prakti-

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fromme Geste gegenüber Gott deutet, so zeigt sich in ihren Verfügungen die profanierte Form der Memoria, wie sie unter Kaiser Maximilian I. (1459–1519) einen ersten Höhepunkt erreichen sollte.80 Bemerkenswert bleibt der individuelle körperliche Bezug, den die getragenen Kleider zur Stifterin herstellen. Deutlich sind hier Parallelen zu den Kontaktreliquien81 zu erkennen. Selbst die Anbringung von Wappen zur Identifizierung dieser Gewänder als von Mechthild herrührend lässt sich in eine Parallele zu den Reliquien bringen, die ähnlich durch Authentiken in Form von Siegeln oder Pergamentstreifen mit den Namen der Heiligen als echt ausgewiesen wurden.82

P ROFANE R AUMSTRUKTUREN Neben den sakralen Topographien, die im Fokus der Testierer standen und entsprechend ausführlich dokumentiert sind, lassen sich als unbeabsichtigtes Nebenprodukt mitunter auch profane Raumstrukturen erkennen. Von Interesse sind hier vor allem jene Testamente, die einen Einblick in die Situation am Sterbebett erlauben. Dies ist prinzipiell nur in jenen zu erwarten, die in Form der Erklärungen des letzten Willens am Sterbebett selbst formuliert wurden. Die Skizzierung der Raumausstattung kann zunächst eher indirekt erfolgen, insofern als gleichsam aus der Perspektive des Sterbenden heraus gesprochen wird und man Konturen der Szenerie nachzeichnen kann. Hier möchte ich erneut auf das Testament Ruprechts II. von der Pfalz zurück-

ken in Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 2) 882–909. Zur Vergegenwärtigung der Toten über die Stiftungen vgl. mit Literaturüberblick und Forschungsstand Moddelmog, Königliche Stiftungen (wie Anm. 65) insb. 11–17. 80 Müller, Gedechtnus (wie Anm. 5). Mechthild ist bereits zu Lebzeiten mit ihrem »Musenhof«, den sie in Rottenburg unterhielt, als große Mezänin in Erscheinung getreten, vgl. hierzu Langmaier, Albrecht VI. (wie Anm. 42) 333–334 mit weiterer Literatur; zum Musenhof insb. Christine Wand-Wittkowski, Pfalzgräfin Mechthild und ihr literarischer Zirkel. Ein Irrtum der Mediävistik, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30/1 (2005) 1–27; Bernhard Theil, Literatur und Literaten am Hof der Erzherzogin Mechthild in Rottenburg, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983) 125–144. 81 Vgl. Caroline Walker Bynum, Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2011, 136–139. 82 Vgl. Angenendt, Heilige (wie Anm. 49) 162; Kohl, Macht der Dinge (wie Anm. 46) 60; Patrick J. Geary, Furta Sacra. Thefts of Relics in the Central Middle Ages, Princeton, NJ 1978, 64.



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kommen.83 Einblicke in die Situation am Sterbebett ergeben sich bei jenen Verfügungen, in denen er über einzelne Objekte bestimmt, die er an Personen aus seinem Umfeld vermacht. Wir erfahren, dass er seinem Kammermeister und seinem Hofmeister Anweisungen gab, wie einzelne Objekte zu verteilen seien. Offenbar waren nur diese beiden anwesend, als er seinen Willen diktierte, und nicht seine Söhne und die Verwandtschaft. So bestimmte er, dass die vier goldenen Ringe, die er an seinen Händen trug, an seinen Sohn84 gehen sollten.85 Der Gräfin von Sponheim vermachte er ein Kleinod. Dieses sei in der Lade zu finden, sie solle sich dort eines aussuchen, das ihr dazu gut erscheine und hübsch sei. Ferner verwies er auf einen Schrank in Heidelberg, in dem 300 Gulden lagen.86 In Ruprechts Testament werden somit nur einzelne Möbel genannt. Sie erlauben seltene Einsichten in die Raumausstattung und die Verwahrungsorte von Wertsachen. Erkennbar wird zudem, dass die Fürsten ihre Preziosen über verschiedene Wohnorte verteilten, und es lässt sich eine konkrete Handlungsanleitung für die Zeit nach dem Ableben finden: das Durchsuchen der Möbel und Räume, die klassische Praktik der Bestandsaufnahme, die ihren deutlichen Niederschlag in den Nachlassinventaren fand, in denen mitunter ganze Häuser bis in die letzte Kammer detailliert aufgenommen wurden.87 Bemerkenswert

83 BayHStA GHA HU 2532. Vgl. Anm. 59. Vgl. Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 2) 634–363. 84 Ruprecht III. (1352–1410), römisch-deutscher König. 85 »Item hat auch der obgenant unßer here hertzog Ruprecht der Elter selige hern Rudolpf von Zeißenkeim, ritter, syme kamermeister, und Rafan von Helmstad, syme hoffemeister zu Heidelberg, befolhen als sie gesaget haben, daz sie nach syme tode geben sollen die vier gulden ringe, die er an sinen henden drug, und cleine gulden in einem secklin, die er sie gewiset hat, wie viel der sin des wießen sie doch nit, unßerm hern sinem sone.« Zit. nach Gerlich, Seelenheil (wie Anm. 59) 414. 86 »Item unser frauwen van Spanheym auch ein cleynot, als sie daz fynden in der laden, daz sie dann auch darzu duencket gut sin und daz hubsche sy. / Item ander cleynode, die sie uberig fynden, sollent sie unßerm jungen hern syme sone antworten. / Item hat er yn auch gesaget, daz in eynem schank [!] zu Heidelberg liegen off druhundert gulden, davon sollent sie geben Nese maren LX gulden. / Item einer anderen, ist auch sin bule gewest, XL / gulden. / Item aber einer anderen, auch sin bulen einer, XXX gulden und daz uberige gelt derselben summe sollent sie deilen in daz spietal zu Heidelberg und sust andern sinen armen luten zu Heidelberg, da daz aller bast bestalt ist unßerme heren gode zu lobe.« Zit. nach Gerlich, Seelenheil (wie Anm. 59) 414. 87 Vgl. hierzu van der Woude / Schuurman, Probate Inventories (wie Anm. 20); Baulant / Schuurman / Servais, Inventaires après-décès (wie Anm. 20); Simon-Muscheid, Dinge (wie Anm. 19); Edoardo Rossetti (Hg.), Squarci d’interni. Inventari per il Rinascimento milanese, Milano 2012.

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ist Ruprechts Hinweis, dass sich die genannte Gräfin selbst ein Schmuckstück aussuchen durfte, das ihr gefiel. Detaillierter zeichnet sich die Situation im Sterbezimmer im eingangs erwähnten letzten Willen Johanns von Pfalz-Neumarkt ab, seiner Seelenbeichte aus dem Jahr 1443, als er sechzigjährig im Sterben lag. Es handelt sich hierbei, wie erwähnt, um das Protokoll seines letzten Willens, das Conradt Wolff mehr als einen Monat nach seinem Tod aufzeichnete. Wohl auch zur Authentifizierung des Protokolls und des Augenzeugenberichts schildert Wolff die näheren Umstände, unter denen er es abgefasst hatte: »Und seine gnade hiess und schüeff auff solche czukunfft des abts und der pruder meniglich(e)n / außgen auss der stuben, dorinnen dann seine gnade kranckh läg, und besunderlichen di hochgeboren furstinne und frawe, seine gemahel, seine paide ärczte, / auch alle di, die sein warten, in legten, huben und trugen. Dan(n) das seine furstliche gnade mit mir undengeschreben [!], maister Conradt Wolff, schüeff bei im / czu bleiben mit dem abte und andern seinen prudern, seine maÿnung und leczten willen czu vernemen, und sprach czu mir solchs schrifftlichen czu vermercken / und hüb an czu reden mit und bei den nachgeschreben württen.«88

In seinem Sterbezimmer befanden sich seine Gattin, zwei Ärzte sowie verschiedene Pfleger, die sich um ihn kümmerten, die ihn, wie es heißt, »legten, hoben und trugen«. Bei der Stube ist zwar unklar, welcher Raum konkret gemeint ist, auf jeden Fall impliziert die Bezeichnung Stube, dass es sich um einen beheizbaren, also warmen Raum handelte.89 Ferner erfahren wir, wie auch oben beim letzten Willen Ruprechts II. angedeutet, dass er seinen letzten Willen nicht in Gegenwart seiner Gattin und anderer im Sterbezimmer anwesender Personen diktierte, da diese zuvor den Raum hatten verlassen müssen. Waren bei Ruprecht II. der Kammermeister und der Hofmeister, also seine Räte, zugegen, so sind es im Fall Johanns offensichtlich geistlicher Beistand, nämlich Abt Jacob zu Castell und weitere Mönche, sowie ein Schreiber, der alles aufzeichnen sollte.

88 BayHStA GHA HU 3388. Vgl. Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 2) 640, Fn. 271. 89 Vgl. den Eintrag stube im Mittelhochdeutschen Handwörterbuch von Matthias Lexer, stube bis stuben-heie (Bd. 2, Sp. 1257 bis 1258), zit. nach der online Ausgabe http:// woerterbuchnetz.de, 8.4.2016. Zu Stube und Kammer vgl. auch Josef Handzel / Gabriele Schichta / Christina Schmid, RaumOrdnungen – Raumfunktionen und Ausstattungsmuster auf Adelssitzen im 14. bis 16. Jahrhundert, in Raumstrukturen und Raumausstattung auf Burgen in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Christina Schmid u.a. (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 2), Heidelberg 2015, 15–66, hier: 50–66.



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Abbildung 4: Der letzte Wille Johanns von Pfalz-Neumarkt, 14. März/27. April 1443.

Quelle: München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv Geheimes Hausarchiv Hausurkunde 3388. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des BayHStA.

Verlassen wir damit die Einblicke in die Situation im Sterbezimmer. So spärlich sie erscheinen mögen, gehören sie doch zu den seltenen Details, die wir über das Geschehen am Sterbebett erfahren. Abschließend sei der Blick nochmals den Gemächern und der Ausstattung der Räume zugewandt, die in Testamenten sichtbar werden. Wieder ist es das reiche Testament Mechthilds von der Pfalz, das hier bemerkenswerte Details bietet. Von Interesse ist der Abschnitt, in dem Mechthild Verfügungen an ihre Familie trifft. Sie beginnt zunächst mit ihren beiden Töchtern: »Fúro setzen, ordnen und (31) verschaffen wir der hohgebornen fúrstin, unnser hertzlieben dochter, fraw (32) Mechthilten lanntgrefin zu Hessen etc., die zway unnser frawen gewúrckte (33) túcher und das beckin und silberin giesfaß, das uff unnserm silber-(34)tisch in der kamer pfligt zu ston, unnsern besten wagen, och das clayn (35) silbrin giesfäßlin, das sie unns zu einem núwen iar gegeben hat, und (36) dartzů, was linwatt zu unnserm lib gehorig hinder unns verlaßen (37) und funden wirtt.«90 90 BayHStA GHA HU 2860, zit. nach Fischer, Testament (wie Anm. 77) 132.

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Selbst aus Inventaren erfahren wir nur selten, wo Objekte wirklich standen und wie sie aufgestellt wurden. Mechthilds Testament gewährt dagegen Eindrücke ihrer Kammer, wenn sie von dem Becken und silbernen Gießfass spricht, das sie auf einem Silbertisch stehen hatte. Sichtbar wird hier nicht nur, wo die Objekte aufbewahrt wurden, sondern dass Mechthild noch die Anlässe wusste, zu denen sie diese erhielt: Das kleine silberne Gießfässlein war ein Neujahrsgeschenk ihrer Tochter Mechthild (nach 1436–1495), Landgräfin von Hessen, das diese nun als Erbstück wieder erhielt. Ihre Hofmeisterin, Elisabeth Vaistlin, wird ebenfalls mit einigen speziellen Dingen bedacht, deren Beschreibung Einblicke in die Kammern gibt: »Deßglichen sol man unnser hof- (24) maisterin Elizabeth Vaistlin geben hundert guldin, dartzů das klain (25) wägellin, ir deckbett, das köpfhus, das da stet oben uff in der kamer, und (26) das urlay vor unnserm gemach, auch den wasserbrennhůt.«91

Die Hofmeisterin erhielt hundert Gulden, einen kleinen Wagen, ihr Deckbett, einen Schrank (köpfhus), der oben in der Kammer stand, die Uhr vor ihrem Gemach und ein Gerät zum Schnapsbrennen. Allein die Nennung der Objekte erzeugt Szenerien und Bilder, die durchaus Erwartungshaltungen brechen, die wohl an die Ausstattungen der Gemächer einer Fürstin gestellt werden.92

91 Zit. nach Fischer, Testament (wie Anm. 77) 134. 92 So irritiert offensichtlich die ältere Forschung das Vorhandensein von Geräten zum Schnapsbrennen im Frauenzimmer der Fürstinnen. Fischer verweist auf den stattlichen Bestand an Destilliergeräten im Besitz Eleonores von Schottland (1433–1480), der ersten Gemahlin von Erzherzog Sigmund von Tirol (1427–1496). Mit Maleczek vermutet er darin – unbegründet – den Umstand, dass Eleonore möglicherweise Alkoholikerin gewesen sei, Fischer, Testament (wie Anm. 77) Anm. 217; Werner Maleczek, Die Sachkultur am Hofe Herzog Sigismunds von Tirol († 1496), in: Adelige Sachkultur des Spätmittelalters. Internationaler Kongress, Krems an der Donau, 22. bis 25.9.1980, hg. von Harry Kühnel (Veröffentlichungen des Instituts für Mittelalterliche Realienkunde Österreichs 5), Wien 1982, 133–167, hier: 157. Der Schluss auf den Alkoholismus scheint wohl eine anachronistische Projektion zu sein, da bekannter Weise im Frauenhof zahlreiche Menschen verköstigt wurden und der Hof Sigmunds zu einem der strahlendsten Höfe des Spätmittelalters zählte. Aus den Destilliergeräten auf Eleonores persönlichen Alkoholgenuss zu schließen, ist somit nicht begründet. Vgl. zum Innsbrucker Hof Margarete Ortwein, Der Innsbrucker Hof zur Zeit Erzherzog Sigmunds des Münzreichen. Ein Beitrag zur Geschichte der materiellen Kultur [Diss.] Innsbruck 1936.



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F AZIT : T ESTAMENTE ALS Q UELLEN FÜR DAS Z USAMMENWIRKEN VON K ÖRPER , R AUM UND D INGEN Dieser Beitrag war von der Frage ausgegangen, welche Bedeutung Raum und Raumstrukturen in den Testamenten der deutschen Reichsfürsten des Spätmittelalters einnehmen. Dabei habe ich von Topographien des sterbenden Körpers gesprochen und damit das spezielle Zusammenwirken von Körper, Raum und Dingen zu beschreiben versucht. Zunächst wurde festgehalten, dass zwischen sakralen und profanen Raumstrukturen zu unterscheiden ist. Unter sakralen Raumstrukturen sind die mit klerikalen und karitativen Institutionen verbundenen Räume gemeint, denen vor allem im Zuge der Sorge um das Seelenheil eine zentrale Rolle zukam. Diese sakralen Topographien nehmen zweifelsohne den größten Platz in den Testamenten ein. Bedeutung kommt hier vor allem dem Ort des Begräbnisses, der Grablege, aber auch den Gedächtnisorten zu, die sich zu Netzwerken ausweiten konnten. Als fruchtbar erwies sich Alfred Gells Konzept der distributed personhood. Dieses impliziert die Verteilung der Person über den Raum in Form von Körperteilen wie materiellen Dingen, die die Person repräsentieren. Man kann somit von einer Verdinglichung der Memoria sprechen, die sich am deutlichsten in der Wiederverwendung der Kleidung zeigt, welche der Verstorbene am Leib trug und die dazu bestimmt wurde, als Messgewand in verschiedenen Institutionen zu einem neuen Einsatz zu kommen. Über die Messgewänder wurde der Verstorbene bei jeder Messe wieder gegenwärtig und behielt seinen Platz; mehr noch, er hatte sich vervielfacht und über alle zentralen geistlichen Institutionen des Herrschaftsgebiets verteilt. Erinnerung wurde aber auch aktiviert über Lichter- und Gebetsräume, die das materielle Raumkonzept transzendieren und in neue Wahrnehmungsebenen überführen. Daneben offenbaren manche Testamente Einblicke in die profanen Räume, insofern als sie die Situation am Sterbebett nachzeichnen oder Einblicke in Wohnräume geben, die zu Lebzeiten genutzt wurden. Es zeigte sich hier, dass die Sterbenden umgeben waren von Familienangehörigen, Ärzten und Pflegepersonal, die sich um sie kümmerten. Gleichwohl gaben sie ihren letzten Willen nur in Gegenwart ausgewiesener Personen zu Papier, seien dies die politischen Vertrauenspersonen des Hofes oder ausgesuchte Geistliche. Als letzte Topographie wurde die mentale Repräsentation der Räume sichtbar, in denen die Sterbenden ihr Leben verbrachten. Hier tauchen nun sowohl Orte der Verwahrung auf, wie Laden oder Schränke, in denen man Objekte verwahrte, die man zu vererben gedachte und deshalb genauer beschrieb. Es zeigen sich aber auch szenische Einblicke darin, wie Kammern eingerichtet waren. Noch einmal nennen die Sterbenden jene Objekte, die ihnen wichtig waren, und schreiten in Gedanken ihre Wohnräume ab. Das eigentliche Anliegen jedoch war es, und das zeigt die überwiegende Anzahl der Testamente, für den Verbleib des eigenen Körpers zu sorgen, insofern als über die letzte Ru-

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hestätte und die Art des Begräbnisses im Detail verfügt wurde. Darüber hinaus galt es, die Erinnerung an die eigene Person wachzuhalten, an möglichst allen jenen Orten, die zu Lebzeiten den Handlungsradius der Person bestimmt hatten. Hierfür konnte nun die eigene Person vervielfältigt werden – verdinglicht in den am Körper getragenen Kleidern und entmaterialisiert in den Lichtern und Gebeten des Gedenkens.

Der Hermaphrodit als heteros topos und corpus illustre in der römischen Antike1 K ORDULA S CHNEGG »Masculus intravit fontis: emersit utrumque: pars est una patris, cetera matris habet.« »Männlich stieg er in die Quelle, doppelgeschlechtig tauchte er auf: Ein Teil stammt vom Vater, von der Mutter hat er den Rest.«2 MARTIAL, HERMAPHRODITUS MARMOREUS

Der römische Dichter Martial (1. Jh. n. Chr.) besingt in diesem Epigramm einen figürlichen Hermaphroditen aus Marmor. Die Beschreibung der Statue erfolgt mit indirektem Bezug auf den Mythos über die Entstehung der Zweigeschlechtlichkeit des Hermaphroditen, der als schöner Jüngling in eine Quelle gestiegen und, von einer lüsternen Nymphe umklammert, nicht mehr freigegeben worden sein soll, sodass die zwei Körper zu einem verschmolzen.3

1

Ich danke den Veranstalter_innen der Tagung Corpus intra muros für die Einladung so-

2

Martial 14,174 (lateinischer Text und deutsche Übersetzung werden zitiert nach: M. Va-

wie allen Diskussionspartner_innen vor Ort für Anregungen, insb. Ulrich Leitner. lerius Martialis, Epigramme, lateinisch-deutsch, herausgegeben und übersetzt von Paul Barié und Winfried Schindler, Berlin, 3. vollständig überarbeitete Aufl., 2013). 3

Dieser Mythos ist beim römischen Dichter Ovid (Lebensdaten: 43 v. Chr.–17 n. Chr.) überliefert, siehe dazu Ovid, Metamorphosen, 4,285–388. Die Metamorphosen werden zitiert nach: Puplius Ovidius Naso, Metamorphosen, in deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text herausgegeben von Erich Rösch, mit einem Nachwort versehen von Niklas Holzberg, München, 3. Aufl., 1964. Dass Martial Ovids Metamorphosen kannte, geht auch aus Martial 6,68 und 14,192 deutlich hervor.

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Zwei Aspekte werden aus dem Epigramm und seinem literarischen Kontext deutlich: Zunächst die Tatsache, dass eine indirekte Anspielung auf den Mythos reicht, um dem Leser, der Leserin des Epigramms klar zu machen, dass hier Hermaphroditos beschrieben wird. Der Mythos über die Entstehung des Hermaphroditen musste also einen gewissen Bekanntheitsgrad zur Zeit Martials gehabt haben. Darüber hinaus verweist die Beschreibung ebenso auf ein gewisses Interesse in der römischen Gesellschaft, Hermaphroditen figürlich zu formen und aufzustellen. Denn Martial bettet dieses Epigramm in eine Reihe von Statuen- und Bildbeschreibungen, die als Tischgeschenke behandelt werden.4 Der Hermaphrodit fungiert hierbei als attraktives Gastgeschenk. Gemäß einer Leitlinie des Projekts Corpus intra muros, welche den Verknüpfungen von Räumen, Körpern und Dingen besonderes Augenmerk schenkt, soll im vorliegenden Beitrag die Beziehung zwischen figürlichem Hermaphrodit und seiner Verortung sowohl im geographischen wie im sozialen Raum anhand eines konkreten Beispiels nachgegangen werden.5 Rückschlüsse auf den Besitzer der Hermaphroditen-Statue werden möglich, indem uns die Fragestellung von Christina Antenhofer, ob wir »Dinge als Reisegepäck vergangener Leben lesen« können,6 bei vorliegenden Überlegungen begleitet.

E INLEITUNG : E IN HISTORISCHER B LICK H ERMAPHRODIT , R AUM UND K ÖRPER

AUF

Den antiken Quellen zur Folge verfügt ein Hermaphrodit sowohl über weibliche als auch über männliche Geschlechtsmerkmale. Diese Zweigeschlechtlichkeit kann sich synchron darstellen, dann ist der Oberkörper zumeist weiblich und der Unterkörper männlich gestaltet.7 Diese Form des Hermaphroditen wurde vor allem für 4

Martial 14,170–182. Martial meint hier konkret die Gastgeschenke im Kontext des römi-

5

So im Vorwort Ulrich Leitner, Corpus Intra Muros. Zur politischen Ästhetik räumlich

schen Fests für Saturnus (gefeiert im Dezember). gebildeter Körper, in: Corpus Intra Muros. Katalog zum Kunst- und Wissenschaftsprojekt / Catalogo della mostra e del progetto scientifico / Catalogue for the Art and Science Project (Schriften zur politischen Ästhetik 2), hg. von Ulrich Leitner / Stefan Hitthaler / Christina Antenhofer / Andreas Oberhofer / Waltraud Mittich, Innsbruck 2014, 9. 6

Christina Antenhofer, Was von einem Leben bleibt: Herzog Christophs Reise nach Jerusalem. Eine historische Spurenlese, in: Corpus Intra Muros (wie Anm. 5) 16.

7

Siehe dazu Luc Brisson, Sexual Ambivalence. Androgyny and Hermaphroditism in Graeco-Roman Antiquity, translated from the French by Janet Lloyd, Berkeley 2002. Grundlegend dafür auch: Marie Delcourt, Hermaphrodite. Myths and Rites of the Bisexual Figure in Classical Antiquity, übers. aus dem Franz. von Jennifer Nicholson, London 1961.



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die bildliche Darstellung gewählt, wie das oben angeführte Epigramm bei Martial verdeutlicht.8 Die Zweigeschlechtlichkeit kann sich aber auch diachron zeigen, indem eine Person zunächst in einem konkreten Geschlecht sozialisiert wird und im Laufe ihres Lebens dann einen Wandel durchlebt, der das wahre bzw. ursprüngliche Geschlecht offenbart.9 Diese Transformation erfolgt, den antiken Berichten zufolge, stets von Frau zu Mann, sofern es sich nicht um mythische Figuren wie Teiresias handelt.10 So lesen wir zum Beispiel bei Gaius Plinius Secundus dem Älteren (1. Jh. n. Chr.) in seiner Naturkunde: »Ich selbst sah in Afrika den L. Consitius, einen Bürger aus Thysdrus, der an seinem Hochzeitstage in einen Mann verwandelt wurde.«11

Die Glaubwürdigkeit der Geschichte ist freilich kritisch zu hinterfragen, selbst wenn Plinius sich hier als Augenzeuge benennt, denn die literarischen Erzählungen über Geschlechtswandel und Hermaphroditen sind nicht als historische Tatsachenberichte zu lesen. Weder gibt es Fälle, die in verschiedenen Quellen unabhängig voneinander belegt sind, noch darf der zumeist fantastische literarische Kontext der Erzählung außer Acht gelassen werden. Was historisch jedoch festgehalten werden kann, ist die Tatsache, dass Geschlechter-Transgressionen im 1. Jh. n. Chr. in der Literatur thematisiert wurden. In diesem Zusammenhang ist der Hermaphrodit als Wunderzeichen (prodigium, miraculum) zu fassen, das von unterschiedlichen Deutungen zu bändigen gesucht wird (Vorstellungen vom Abnormen, Fantastischen bis

8

Siehe hierzu Stefanie Oehmke, Das Weib im Manne. Hermaphroditos in der griechisch-

9

In den literarischen Quellen sind einige Begriffe zu finden, wie zum Beispiel semivir (=

römischen Antike, Berlin 2004. Halbmann) oder androgynos (= Mannfrau), die synonym für Hermaphrodit gebraucht werden. Eine präzise Verwendung dieser Begriffe ist nicht zu eruieren. Zweigeschlechtlichkeit wird aber auch umschrieben, wie das folgende Beispiel von Plinius deutlich macht. 10 Der mythische Seher Teiresias durchlebt einen zweifachen Geschlechtswechsel (von Mann zu Frau und dann wieder zu Mann), um für Zeus und Hera klären zu können, ob Frauen oder Männer größere sexuelle Lust verspüren, siehe Theodor Heinze, Teiresias, in: Der Neue Pauly 12/1 (1997) 82. 11 Plinius, Naturkunde, 7,3,36. Im Lateinischen lesen wir: »ipse in Africa vidi mutatum in marem nuptiarum die L. Consitium, civem Thysdritanum«. (Deutsche Übersetzung und lateinisches Zitat erfolgen nach: C. Plinius Secundus d.Ä., Naturkunde / C. Plini Secundi, Naturalis Historiae, libri XXXVII / liber VII, lateinisch-deutsch, Buch: VII [Anthropologie], hg. und übers. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, Kempten 1975).

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hin zu Vorstellungen von schlimmen Vorzeichen speisen die Deutungsstrategien).12 Zeitgleich ist ein gewisses Interesse der Zurschaustellung figürlicher Hermaphroditen auszumachen. Nicht nur literarische Hinweise, wie das eingangs angeführte Epigramm von Martial, sondern auch archäologische Funde machen darauf aufmerksam, dass Hermaphroditen, plastisch oder auch bildlich dargestellt, einen attraktiven Platz in der römischen Antike fanden.13 Diesem Interesse gilt im Folgenden die Aufmerksamkeit. Anhand eines konkreten Beispiels, welches uns in das Pompeji des 1. Jhs. n. Chr. führt, werden die zwei Fragen behandelt: In welchem Raum kann eine handwerklich geformte Hermaphroditen-Statue Platz in der römischen Antike finden und welche Rückschlüsse lassen ihre Existenz und ihre Verortung auf den Besitzer, die Besitzerin zu? Dabei wird der Hermaphrodit zunächst als heteros topos (anderer Raum) im Sinne von Michel Foucaults Heterotopien betrachtet, also als ein Gegenraum, der in diesem Fall den klar definierten römischen Geschlechterraum in Frage stellt.14 Aus diesem theoretischen Blickwinkel verkörpert der Hermaphrodit die Transgression von Geschlechtergrenzen. Gleichzeitig verkörpert der Hermaphrodit aber auch die Andersartigkeit des Ortes, in dem er aufgestellt wird (hier: Garten als heteros topos). Darüber hinaus wird der Hermaphrodit als Kunstgegenstand (artificium) betrachtet, der zum Vergnügen ausgestellt wird – die Kunstfigur Hermaphrodit als ansehnlicher Körper, als corpus illustre.

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INSZENIERTE

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde bei Ausgrabungen eine Statue des Typs Schlafender Hermaphrodit (siehe Abb. 1–2) im Garten des Octavius Quartio (im Folgenden mit Quartio abgekürzt) in Pompeji gefunden.15 Die Produktion der Statue

12 Dargelegt in der derzeit entstehenden Habilitationsschrift zu Geschlechter-Transgressionen in der frühen römischen Kaiserzeit von Kordula Schnegg. 13 Einen guten Einblick dazu bietet der Katalog von Oehmke, Das Weib im Manne (wie Anm. 8). 14 Michel Foucault, Die Heterotopien / Les hétérotopies. Der utopische Körper / Les corps utopique. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, übers. von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert, Berlin 2013, 19. Die Radiovorträge wurden 1966 gesendet. 15 Ausgegraben von Vittorio Spinazzola (1916–1921), zu diesen frühen Forschungen siehe Thomas D. Price / Albert W. Van Buren, The House of Marcus Loreius Tiburtinus at Pompeii, in: Memoirs of the American Academy in Rome 12 (1935) 151 ff. Zur Ausgrabungsgeschichte siehe auch Francesca C. Tronchin, The Sculpture of the Casa di Octavi-



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wird in das 1. Jh. n. Chr. datiert.16 Der Blick wird auf die Vorderseite der Statue konzentriert, die im Detail bearbeitet ist; nicht so die Rückseite, was die Aufstellungsposition festlegen lässt. Abbildung 1: Hermaphrodit, Pompeji, Antiquarium, Inv. 3021.

  Quelle: © Soprintendenza Archaeologica di Pompei (su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e die Turismo – Soprintendenza Pompei. Reproduction or duplication by any means is forbidden).

us Quartio at Pompeii, in: Pompeii. Art, Industry and Infrastructure, hg. von Eric Poehler / Miko Flohr / Kevin Cole, Oxford 2011, 33–49 (hier speziell 33). 16 Eine genaue Beschreibung des Erhaltungszustandes der Statue sowie ihrer Fundgeschichte bietet Oehmke, Das Weib im Manne (wie Anm. 8) 143 f.

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Der unterlebensgroße Hermaphrodit ist in liegender Position entworfen, die Arme verschränkt über den Kopf, ruhend auf einem Sockel. Es hat den Anschein, als ob der Schlafende sich dem Betrachter, der Betrachterin entgegen räkeln wollte. Abbildung 2: Hermaphrodit, Pompeji, Antiquarium, Inv. 3021.

  Quelle: © Soprintendenza Archaeologica di Pompei (su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e die Turismo – Soprintendenza Pompei. Reproduction or duplication by any means is forbidden).

Auf den ersten Blick erkennbar ist der weiblich gestaltete Oberkörper (Kopf, Schulter, Brüste und Taille), da das Kleid diesen nicht bedeckt. Fällt dann der Blick auf die Raffung des Kleides, wird er auf den männlich gestalteten Unterkörper (das männliche Glied) gelenkt. Der Hermaphrodit zeigt sich in seiner ästhetischen Vollkommenheit. Was hat Quartio wohl veranlasst, diese Statue in seinem Garten aufzustellen? Wir wollen das Domizil des Besitzers nun etwas genauer betrachten.



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P OMPEJI

Quartio besaß ein Haus in Pompeji,17 einer wirtschaftlich gut florierenden Stadt in Kampanien, deren geschäftiges Treiben ein jähes Ende fand, als 79 n. Chr. der Vesuv ausbrach und Pompeji vernichtete.18 Dieses tragische Ereignis für die Menschen jener Zeit hat der Forschung zahlreiche Spuren antiken römischen Lebens hinterlassen. Durch den Ausbruch des Vesuvs wurden die umliegenden Gebiete mit Asche verschüttet und als Momentaufnahmen konserviert. Damit ist uns auch das Domizil des Quartio relativ gut erhalten. Mit Blick auf die archäologisch strukturierte Ausgrabungsstätte Pompeji befindet sich das Haus des Quartio im südlichen Stadtteil, an der Via dellʼAbbondanza.19 Straßenseitig waren zwei cauponae (Schänken) eingerichtet, die über einen Trakt mit dem Atrium des Hauses verbunden sind.20 Diese direkte Verbindung von Geschäft und Wohnraum führt in der Forschung zur Vermutung, dass der Besitzer des Hauses gleichzeitig Besitzer der Schänken gewesen war.21 Das eigentliche Wohnhaus ist ein typisch italisches Atrium-Haus, welches die verschiedenen Lebensräume für den Besitzer und für seine Hausgemeinschaft aufweist, inklusive dem Atrium als Repräsentations- und Empfangsraum für Besucher_innen und Klienten. Erweitert wird das Wohnhaus durch ein Peristyl (ein rechteckiger Hof, umgeben von Säulen, die das Licht durchfluten lassen; dieses Bauelement wurde aus der hellenistischen Architektur übernommen) sowie eine relativ große Gartenanlage, die etwas tiefer liegt als das Peristyl und das Wohnhaus.22 Was bei der Betrachtung des Ge-

17 In der Forschung zunächst als das Haus des Loreius Tiburtinus geführt, wird es nun aufgrund aktueller Funde (Bronzeplakette) nach seinem letzten Besitzer (vor der VesuvKatastrophe 79 n. Chr.) namens Octavius Quartio benannt, siehe dazu Salvatore Ciro Nappo, Houses of Regions I and II, in: The World of Pompeii, hg. von John J. Dobbins / Pedar W. Foss, London / New York 2007, 347–372 (hier speziell 362 ff.); ebenso Tronchin, The Sculpture (wie Anm. 15) 33. 18 Ein breites Spektrum an historischen und archäologischen Einblicken in die antike Stadt Pompeji, deren Einwohner_innen sowie der Forschungsgeschichte bietet der Sammelband von John J. Dobbins / Pedar W. Foss, The World of Pompeii (wie Anm. 17). 19 Tronchin, The Sculpture (wie Anm. 15) 33. 20 Nappo, House (wie Anm. 17) 362 f. 21 Bernard Andreae, »Am Birnbaum«. Gärten und Parks im antiken Rom, in den Vesuvstädten und in Ostia (Kulturgeschichte der antiken Welt 66), Mainz am Rhein 1996, 36 f. 22 Der Höhenunterschied ist gut erkennbar in der räumlichen Darstellung von Christiane Kunst, Leben und Wohnen in der römischen Stadt, unter Mitarbeit von Bettina Kunst, Darmstadt 2006, 142 f.

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samtkomplexes auffällt, ist die große Gartenanlage, die inklusive des Peristyls drei Viertel des gesamten Komplexes ausmacht.23 Quartio war keine Ausnahme im antiken Pompeji, was den Besitz von einer Gartenanlage anbelangt. Tatsächlich haben Ausgrabungen in Pompeji und Umgebung mittlerweile weit mehr als 600 Gärten freigelegt, die in Größe und Design variieren.24 Quartio scheint ein Vertreter der reicheren Mittelschicht des antiken Kampaniens gewesen zu sein, denn sein Garten ist relativ groß, das Peristyl mit zahlreichen Statuen und großen Wandgemälden ausgestattet (ebenso die Wohnräume, die in vorliegender Betrachtung jedoch vernachlässigt werden). Wir können auch festhalten, dass er einigen finanziellen Aufwand für die Renovierung der Hausanlage aufbrachte.25 Blicken wir zunächst auf das Peristyl, so fällt der kleine künstliche Wasserkanal (euripus) auf, der von einer Pergola gesäumt und mit Statuen geschmückt war.26 Das Statuen-Programm im Peristyl umfasst sowohl griechisch-römische Themen (Dionysos, Herakles, Musen, Jagdszenen mit Hund und Löwe – all diese Figuren haben den Wasserkanal gesäumt) als auch ägyptische Motive (Gott Bes, Sphinx, Pharao, Vogel eventuell als Reiher zu identifizieren).27 Dort wo das Peristyl mit der großen Gartenanlage verbunden ist, wurde ein zweistöckiges Nymphaeum (eine Tempelnische für die Nymphen) angebracht, welches zur größeren Gartenanlage führt. Auch die große Gartenanlage verfügt über einen künstlichen Wasserkanal, der sich fast bis zum Ende des Gartens Richtung Süden erstreckt und ebenso von einer Schatten spendenden Pergola gesäumt war. Bernard Andreae hält fest, dass der Blick des Besuchers, der Besucherin durch dieses längs gerichtete Design bewusst gelenkt wird;28 was in unserem Zusammenhang von Bedeutung ist, führt doch die Blickrichtung zum Südende des Gartens hin zur Hermaphroditen-Statue, die dort ausgegraben wurde. Archäobotanische Funde machen deutlich, dass Bäume und Hecken die große Gartenanlage säumten.29 Dieser

23 Dies ist aus dem Plan bei Nappo, House (wie Anm. 17) 363 und Kunst, Leben und Wohnen (wie Anm. 22) zu entnehmen. 24 Wilhelmina Jashemski, Gardens, in: The World of Pompeii, hg. von John J. Dobbins / Pedar W. Foss (wie Anm. 17) 487–497 (hier speziell 487 f.). 25 Es lassen sich Umbauarbeiten archäologisch nachweisen, die kurz vor dem Vesuvausbruch vorgenommen wurden, siehe dazu Nappo, House (wie Anm. 17) 362. 26 Jashemski, Gardens (wie Anm. 24) 487. 27 Tronchin, The Sculpture (wie Anm. 15) 34 ff. und 47 f. 28 Andreae, »Am Birnbaum« (wie Anm. 21) 40. 29 Andreae, »Am Birnbaum« (wie Anm. 21) 35 ff.



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Gartenteil war wohl großflächig grün angelegt. Es wurden nur wenige Artefakte darin gefunden, eines davon ist die Hermaphroditen-Statue.30

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Verdeutlicht man sich die Gestaltung des Peristyls und der Gartenanlage, so erkennt man die mythische Welt, die Quartio an diesen Ort holte. Dies erfolgt über Bildwerke von Herakles, Dionysos, den Musen – und etwas abseits davon im Grünen ruhend auch von Hermaphrodit. Das heißt, betritt man das Peristyl und den Garten des Quartio, betritt man einen Ort fernab vom geschäftigen Treiben des Alltags. Die Weitläufigkeit der Gartenanlage bietet dem Besucher, der Besucherin die Möglichkeit, eine besondere Welt zu begehen. Es sind nicht nur die Statuen, welche die mythische Welt herbeizaubern, sondern auch die Motive, die auf den Wandgemälden im Peristyl abgebildet sind, wie z.B. Narziss an der Quelle (mit nacktem Körper die Ambiguität von Selbstliebe imaginierend) oder Pyramus und Thisbe (die Gefahren des blinden Sich-Begehrens symbolisierend).31 Diese Bilder erzählen von Liebe, Begehren und Erotik und greifen hierfür auf gängige Mythen zurück.32 Die Gespräche darüber werden also den Besucher_innen des Quartio leichtgefallen sein. Peristyl und Garten sind als ländliches Idyll gestaltet, das Raum und Zeit auflöst. Diese Eigenschaft bietet die Möglichkeit, den römischen Garten (hier inklusive des Peristyls) als eine Form von Heterotopie nach Foucault zu begreifen. Heterotopien sind im Gegensatz zu Utopien reale, von Menschen geschaffene Räume, die in nicht konventionelle Zeiträume führen.33 Heterotopien können mehrere Räume am

30 Tronchin, The Sculpture (wie Anm. 15) 39 f., mit Hinweis auf die Dokumentation der Funde während der Ausgrabung, die in manchen Fällen sogar die einzige Quelle für die Rekonstruktion der Ausstattung der großen Gartenanlage bildet, da Fundstücke zwischenzeitlich verloren gingen. 31 Zu dieser inszenierten ländlichen Idylle passt das gesamte Statuen-Programm des Quartio, siehe die Studie von Tronchin, The Sculpture (wie Anm. 15). Zur Komposition der Bilder Narziss an der Quelle und Pyramus und Thisbe im Kontext der Gestaltung des Peristyls siehe Verity Platt, Viewing, Desiring, Believing: Confronting the Divine in a Pompeian House, in: Art History 25/1 (2002) 87–112 (hier speziell 91–96). 32 Siehe dazu allgemein Jürgen Hodske, Mythologische Bildthemen in den Häusern Pompejis. Die Bedeutung der zentralen Mythenbilder für die Bewohner Pompejis (Stendaler Winckelmann-Forschungen 6), Stendal 2007. 33 Foucault, Heterotopie (wie Anm. 14) 11–16.

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selben Ort bündeln.34 Und genau das tut auch dieses Beispiel einer pompejischen Gartenanlage. Demnach finden Besucher_innen im Garten des Quartio:35 





einen erholsamen Ort durch Wasseranlagen, Schatten spendende Hecken und grüne Bepflanzung, die den Straßenlärm etwas abhalten. Der Garten fungiert somit als Erholungsraum. Sie werden darüber hinaus noch in eine mythische ländliche Idylle geführt, die auffordert, haltzumachen und zu verweilen. Eingerichtete Speisesofas luden darüber hinaus noch zum gemütlichen Essen und Trinken im Freien ein.36 Die mythische Welt kann jedoch nur von Insidern geöffnet werden, von all jenen, die über die mythische Szenerie Bescheid wissen. Der Garten ist aus dieser Perspektive als Schauraum konzipiert. Schließlich ist die Gartenanlage auch ein Repräsentationsraum, der den Besitzer als gebildet, gewiss auch als (relativ) vermögend ausweisen mag. Zutritt erhält man nur mit Einladung. Der Gastgeber entscheidet über Einlass und Ausschluss.37 (Wir als Forschende aus der Zukunft sind damit eigentlich ungeladene Gäste an diesem vergangenen Ort).

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Alle drei Erlebnisräume, welche diese Gartenanlage erfüllt haben mag, lassen sich ebenso gut in einen größeren historischen Kontext setzen: Das römische Bedürfnis nach rus in urbe (Land in der Stadt) ist vor allem für die antike Metropole Rom und für das antike Kampanien gut belegbar. Martial drückt in seinen Epigrammen immer wieder die Sehnsucht aus, über ein Stück Land in der Stadt (rus in urbe) verfügen zu wollen, um dem Lärm, der Enge und der Großstadtanonymität zu entkommen; um Ruhe und Erholung finden zu

34 Foucault Heterotopie (wie Anm. 14) 14. 35 Ähnlich auch Karl-Wilhelm Weeber, Alltag im Alten Rom. Das Landleben. Ein Lexikon von Karl-Wilhelm Weeber, Düsseldorf 2000, 285–288. Weeber differenziert den römischen Garten als Raum zum optischen Genuss, für den Spaziergang, für die Speisung und fürs Vergnügen. 36 Nappo, House (wie Anm. 17) 363. 37 Heterotopien verfügen mitunter über ein »System der Öffnung und Abschließung«, Foucault, Heterotopie (wie Anm. 14) 18, zu dem nur Auserwählte Zugang haben. Außerdem ist dieser Zugang durch die Besitzer_innen des Gartens zeitlich reguliert, Foucault, Heterotopie (wie Anm. 14) 18.



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können.38 Mit der Redewendung rus in urbe war ein Garten gemeint, der das eigene Haus umgibt – ein Haus mit Garten in der Stadt Rom war aber nur wenigen Reichen vorbehalten.39 Für die Großstadt geplagten ärmeren Menschen, wie Martial, mag der Garten vor allem das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung stillen. Für die Mittel- und Oberschicht, für die sozialen Aufsteiger wird der hortus aber auch zum Schau- und Repräsentationsraum, der kultiviert wird und mitunter in den bewohnten Raum (Haus) integriert wird. Dann befinden sich im Garten nicht nur Bäume, Hecken, Kräuter, Pflanzen, die man reguliert, sondern auch Wasserspiele, Wandmalereien, kleinere Tempel und vielerlei Dinge wie Statuen, die verschiedene Phantasien beim Betrachter, bei der Betrachterin auslösen – sei es, dass aufgestellte Philosophenstatuen lebendig wirken und zum Disputieren einladen, wie Cicero in einem seiner Briefe an seinen Bruder Quintus festhält;40 sei es, dass Hermaphroditen-Statuen als perfekte Inszenierung einer bukolischen Welt die Menschen in den Mythos führen. Die Installation größerer privater Gartenanalgen, so wie sie Quartio auch hatte, geht mit der Etablierung wohlhabender Schichten einher. Die Gärten können damit als Ausdruck für Wohlstand und als Zeichen für das soziale Prestige seiner Eigentümer_innen gesehen werden.41 Dieser Trend setzte mit dem 2. Jh. v. Chr. ein,42 einem Jahrhundert, in dem die Römer besonders intensiv mit dem griechischhellenistischen Osten in Berührung kamen. Die hellenistische Bilderwelt findet damit Eingang in die Welt der Reichen des römischen Reiches. Der private Garten scheint der perfekte Ort dafür zu sein, hellenistische Bildthemen zur Schau zu stellen. Während nämlich im politischen Leben am konservativen altitalischen Werteideal (mos maiorum) festgehalten wird,43 kann man sich im eigenen Garten als weltoffen und gebildet zeigen.44 Der römische Garten in seiner Form als Kunstgarten wird am Ende der römischen Republik und in der frühen Kaiserzeit zu einem anderen Ort, der Sehnsüchte in sich vereint und aufnimmt, der Menschen Illusionen bietet. Der Garten als Ge38 Weitere Hinweise dieser Art in seinen Epigrammen: Martial 12,57,21 und 4,64, siehe allgemein dazu Andreae, »Am Birnbaum« (wie Anm. 21) 9. 39 Einen ähnlichen Eindruck von der lärmenden Großstadt, die schlaflos und krank macht, vermittelt Juvenal (ca. 58 v. Chr.–138 n. Chr.) in seinen Satiren (speziell 3,231), siehe allgemein dazu auch Andreae, »Am Birnbaum« (wie Anm. 21) 9 f. 40 Weeber, Alltag (wie Anm. 35) 221 mit Verweis auf Cicero, An Bruder Quintus, 3,1,5. 41 Weeber, Alltag (wie Anm. 35) 67. 42 Weeber, Alltag (wie Anm. 35) 285. 43 Weeber, Alltag (wie Anm. 35) 286 f. und Tronchin, The Sculpture (wie Anm. 15) speziell 47 ff. 44 Mit verschiedenen Göttern- und Philosophenhermen »demonstrierte man Bildungsniveau«, so Weeber, Alltag (wie Anm. 35) 286.

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genraum ist jedoch nicht beliebig definierbar, sondern wird vom Besitzer, von der Besitzerin einem bestimmten Konzept unterworfen, welches durch Design des Gartens ebenso wie durch das Bild- und Statuen-Programm bestimmt ist.45

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Der Garten des Quartio ist einerseits ein individueller Ausdruck seines Besitzers, was sich z.B. in der Auswahl des Bild- und Statuen-Programms ausdrückt, andererseits auch ein repräsentatives Beispiel für die Selbstdarstellung der reicheren Menschen im Pompeji des 1. Jh. n. Chr. Im Arrangement der Statuen und Wandmalereien folgt Quartio zwar keinem fixen Kanon, das Ensemble spiegelt jedoch zeitgenössische Trends wider. Im Aufgreifen der hellenistischen Elemente und ägyptischer Traditionen wird einer Mode gefolgt, die sich in Pompeji für diese Zeit nachweisen lässt.46 Quartio verfügte über genügend Geld, sich diesen Lebensstil zu leisten.47 Mit Blick auf das Statuen- und Bild-Programm ist festzuhalten, dass Quartio einen Ort schuf, der zum vergnüglichen Dasein einlud; wo man vielleicht weniger tiefsinnige politische Gespräche führte, sondern den Dionysos-Hermen zuprostete, sich über die Liebesmühen oder die Heldentaten des Herakles unterhielt. An einem solchen Ort passt der schlafende Hermaphrodit ausgezeichnet. In der bukolischen Welt, in Bereichen, wo man etwas Distanz zu den alltäglichen Verpflichtungen nehmen kann, in einer Zeit, in der Begehren, Nacktheit, Körperlichkeit gerne verbildlicht wurden, da kann der Hermaphrodit als corpus illustre verortet werden.48 Als Symbol für das ländliche Idyll kann der Betrachter, die Betrachterin den Hermaphrodit selbst gleich als heteros topos erkennen; als eine visuelle Einla45 Kunst, Leben und Wohnen (wie Anm. 22), macht auf die mitunter strenge Regulierung der Anlagen aufmerksam, die sich auch darin ausdrückt, dass die Natur in ihrer künstlichen Abbildung in den Wohnraum geholt wird. 46 Tronchin, The Sculpture (wie Anm. 15). 47 Selbst wenn man mit Tronchin, The Sculpture (wie Anm. 15) 47 ff., davon ausgeht, dass Quartio einen Teil der Statuen vom Vorbesitzer des Hauses übernommen hat, so zeugt doch die Hausanlage insgesamt vom Bemühen des Quartio, sich auf bestimmte Art zu repräsentieren. Die in der Forschung heiß diskutierte Frage, wie geschmackvoll Quartio dabei vorgeht, kann das Bemühen des Besitzers – unabhängig von der Antwort – nicht minimieren. Siehe zur Forschungsdiskussion ebenso Tronchin, The Sculpture (wie Anm. 15) 35–38 und 47 ff. 48 Hodske, Mythologische Bildthemen (wie Anm. 32) 50 ff., und Oehmke, Das Weib im Manne (wie Anm. 8), machen deutlich, dass der Hermaphrodit zu den beliebten Darstellungsmotiven in Pompeji unmittelbar vor dem Vesuvausbruch zählte. In verschiedenen Kompositionen ist er als Skulptur oder auch in Wandgemälden zu finden.



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dung, um in die mythische Welt einzutauchen. Damit stellt die Figur in mehrfacher Hinsicht eine Transgression dar: eine Geschlechter-Transgression, ein Überschreiten des realen Zeitraums, ein Übergehen vom streng regulierten Alltag hin zum vergnüglichen Leben. All diese Grenzdurchquerungen verkörperte Hermaphrodit am südlichen Ende des Gartens, der Quartio gehörte.

Flucht aus dem Heim Das enfant vagabond im Raum der Erziehungsanstalt zwischen Nichtsesshaftigkeits- und Verwahrlosungsdispositiv (1950–1980) N ORA B ISCHOFF

»Eines Tages kam mir der Gedanke, vom Heim ›abzuhauen‹.«1 So beginnt der Erlebnisbericht des 14-jährigen Gerhard, der im Juli 1975 in der Heimzeitung2 des Vorarlberger Landeserziehungsheimes Jagdberg unter der Überschrift Flucht veröffentlicht wurde. Diesem Bericht folgte ein Auszug aus dem Buch Die Praxis des

1

Gerhard, Flucht, in: Einblick. Heimzeitung des Landes-Erziehungsheimes Jagdberg /

2

Die Heimzeitung wurde 1969 durch die Heimleitung ins Leben gerufen, um »die Kontak-

Schlins 12 (1975) 50 f. te zwischen den Eltern und Angehörigen unserer Buben und dem Heim« zu vertiefen. So sollten durch die Heimzeitung »neben allen Möglichkeiten der Aussprache und der persönlichen Begegnung [mit den Eltern der im Jagdberg untergebrachten Kinder] auch über eine Heimzeitung Berichte und Informationen über das Geschehen in Heim und Schule [...] überbracht werden«. Vgl. Heimzeitung Landesjugendheim Jagdberg. Berichte – Mitteilungen – Termine 1 (1969) 2. Nach Goffmans Analyse totaler Institutionen gehören die Heimzeitungen zu den gemeinschaftsstiftenden institutionalisierten Praktiken, in die die erlaubten Übertretungen der herrschenden Stab-Insassen-Grenze eingebettet werden. Als Mitarbeiter der Heimzeitung gelingt es den Insassen für kurze Zeit Subjektstatus zu erreichen, indem sie die offizielle Sprache und den offiziellen Standpunkt der Institution kompetent handhaben. Dennoch wohnt den Beiträgen der Insassen subversives Potential inne, indem die Grenzen der Zensur des Personals mit jeder Ausgabe neu ausgehandelt werden. Vgl. Erving Goffman, Asyle. Über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973, 97 f.

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Heimerziehers3 von Erich Kiehn, der das Problem der »Entweichungen«4 aus Erziehungsheimen aus der Perspektive des Heimpädagogen beleuchtete, Ursachen und Motive anführte und Vorschläge zum Umgang mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen machte.5 Dass dieses Thema in der Heimzeitung aufgegriffen wurde, verweist einerseits auf die wahrgenommene Problemhaftigkeit der Fluchten in der Heimerziehungspraxis und in der (sozial-)pädagogischen, psychiatrischen sowie seit den 1960er Jahren zunehmend auch sozialwissenschaftlichen und psychologischen Fachliteratur. Andererseits können die Beiträge als ein Hinweis darauf interpretiert werden, dass in dieser Zeit der Diskurs über und der Umgang mit Kindern, die sich unerlaubt aus den Erziehungsheimen entfernten, einem Wandlungsprozess unterlag. Diesen Wandel in Diskurs und Praxis nimmt der Beitrag am Beispiel des Landeserziehungsheims Jagdberg6 in Schlins/Vorarlberg in den Blick. Im Jahr 1886 wurde hier eine katholische Rettungsanstalt für »sittlich verwahrloste Kinder« eröffnet, die 1936 das Land Vorarlberg übernahm. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg stellte das Landeserziehungsheim Jagdberg eine Schlüsseleinrichtung für die Unterbringung schulpflichtiger Buben aus den verschiedenen Bundesländern

3

Erich Kiehn, Die Praxis des Heimerziehers, Freiburg 1965. Für die Heimzeitung wurde sehr wahrscheinlich die dritte, überarbeitete Auflage von 1972 verwendet.

4

Der Begriff der Entweichungen ist als der gebräuchliche zeitgenössische Terminus technicus anzusehen, mit dem die Fluchten der Kinder aus Erziehungsheimen bezeichnet wurden. Aufgrund der Entlehnung aus dem Strafrechtsdiskurs, in dem Gefängnisausbrüche als Entweichungen bezeichnet werden, entfaltet der Begriff im Kontext der Heimerziehung eine deutlich kriminalisierende Wirkung.

5

Entlaufen aus dem Heim, in: Einblick (wie Anm. 1) 51 ff.

6

Im Forschungszusammenhang Regime der Fürsorge. Geschichte der Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg (1945–90), in dem auch die Autorin mitgewirkt hat, wurde von 2013 bis 2015 am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck die Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in den Landeserziehungsheimen von Tirol und Vorarlberg untersucht. Die Ergebnisse der Forschungsprojekte stehen als Onlinepublikation unter http://www.uibk.ac.at/iezw/heimgeschichteforschung/ zur Verfügung: Michaela Ralser / Nora Bischoff / Flavia Guerrini / Christine Jost / Ulrich Leitner / Martina Reiterer, Das System der Fürsorgeerziehung. Zur Genese, Transformation und Praxis der Landeserziehungsheime in Tirol und Vorarlberg, Innsbruck 2015, sowie Michaela Ralser / Nora Bischoff / Flavia Guerrini / Christine Jost / Ulrich Leitner / Martina Reiterer: Das Landeserziehungsheim für Mädchen und junge Frauen St. Martin in Schwaz, Innsbruck 2015. Vgl. vertiefend zur Geschichte des Erziehungsheimes Jagdberg den ausführlichen Abschnitt hierzu im Forschungsbericht Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung, 259–397.



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Westösterreichs dar.7 Die Unterbringung in dieser Einrichtung der institutionalisierten Ersatzerziehung erfolgte aufgrund der gerichtlich angeordneten jugendfürsorgerischen Maßnahmen8 der Fürsorgeerziehung sowie der Erziehungshilfe. Die Zöglingszahlen war dementsprechend hoch, durchschnittlich war das Heim während der 1950er Jahre mit etwa 100 Buben belegt. Während der 1960er und besonders während der 1970er Jahre verringerten sich die Belegungszahlen, bis in den 1980er Jahren nur mehr durchschnittlich etwa 40 Buben im Heim untergebracht waren. Während der 1990er Jahre halbierte sich diese Zahl abermals, trotz der Öffnung des Heims für die Aufnahme von Mädchen.9 Aufgrund der nicht nur in den sinkenden Belegungszahlen deutlich werdenden, abnehmenden Akzeptanz des Jagdbergs als Erziehungseinrichtung, der hohen Kosten für Betrieb und Instandhaltung sowie der zunehmend vorhandenen sozialpädagogischen Alternativen beschloss die Vorarlberger Landesregierung 1998 die Aufgabe des Heims.10 Um die mit den Fluchten verbundenen Diskurse und Praktiken in der Heimerziehung der historisch gewachsenen Wohlfahrtsregion Tirol und Vorarlberg11 näher 7

Vgl. auch Michaela Ralser / Ulrich Leitner / Martina Reiterer, Die Anstalt als pädagogischer Sonderort. Das Vorarlberger Landeserziehungsheim am Jagdberg, in: zeitgeschichte 3 (2015) 179–195, hier 183, sowie zur Zusammensetzung der Belegungszahlen Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 318.

8

Bis zur NS-Zeit gab es in Österreich keine einheitliche gesetzliche Regelung zur Jugendfürsorge im Allgemeinen sowie zur Fürsorgeerziehung im Speziellen. Die Jugendwohlfahrt war Ländersache. In Tirol und Vorarlberg wurden die Agenden der Jugendfürsorge in Kooperation vom Jugendfürsorgeverein, vom Kinderrettungsverein, von der Caritas sowie von den Vormundschaftsgerichten besorgt. Erst durch die Verordnung über die Jugendwohlfahrt in der Ostmark von 1940 wurde eine dem deutschen Reichsjugendwohlfahrtsgesetz ähnliche gesetzliche Regelung für das Gebiet Österreichs eingeführt. In entnazifizierter Form war diese Verordnung nach dem Kriegsende noch bis 1954 in Kraft und wurde dann vom österreichischen Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) sowie den dazu gehörigen Ausführungsgesetzen auf Länderebene (Tirol 1955, Vorarlberg 1958) abgelöst. Diese Bestimmungen blieben bis 1989 in Kraft. Vgl. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 80–82, 95 f., 157 ff., 240 f., 242 ff.

9

Vgl. zu den Belegungszahlen Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 316 ff.

10 1999 übernahm der Verein Vorarlberger Kinderdorf die Trägerschaft der Einrichtung, in der heute unter dem Namen Paedakoop rund 35 Buben und Mädchen leben. Vgl. ebd., 385–390, zu den Versuchen der Umstrukturierung während der 1990er Jahre sowie zur Übernahme und Umwandlung durch den Verein Vorarlberger Kinderdorf. 11 Zum einen lassen sich für diese beiden österreichischen Bundesländer ähnliche Entwicklungslinien bei der Etablierung der Jugendwohlfahrt und Heimerziehung in öffentlicher Trägerschaft nachzeichnen. Zum anderen bestanden seit den 1920er Jahren wechselseiti-

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zu beleuchten, kommen zwei Fallakten zur Auswertung, anhand derer der Wandlungsprozess von der Mitte der 1960er bis zur Mitte der 1970er Jahre veranschaulicht werden kann. Ergänzend und vergleichend werden darüber hinaus Informationen zu den Tiroler Landeserziehungsheimen in Kramsach (schulpflichtige Mädchen), Schwaz (schulentlassene Mädchen) sowie Kleinvolderberg (schulentlassene Buben) herangezogen. Abbildung 1: Der Raum der Anstalt – hier repräsentiert aus der Perspektive eines Buben. Die Zeichnung war 1975 Teil eines Artikels in der Heimzeitung über die Geschichte der Anstalt.

Quelle: Einblick. Heimzeitung des Landes-Erziehungsheimes Jagdberg/Schlins, 13. Ausgabe, Dezember 1975, 15. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der paedakoop, Schlins.

ge Kooperationen zwischen den Landesverwaltungen bei der Zuweisung von Tiroler und Vorarlberger Kindern und Jugendlichen in die öffentlichen Erziehungsheime. Vgl. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 51–241.



F LUCHT

AUS DEM

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In den Akten der Jugendfürsorge12 stellt sich die Figur des entflohenen Zöglings als eine in zweifacher Hinsicht problematische dar: Zum einen galten Fluchtwunsch, Fluchtversuche und Fluchten als mangelnde innere Einsicht und daraus abgeleitet (noch) nicht gegebene Erziehungsfähigkeit der so genannten Zöglinge. Es zeigt sich hierin deutlich der Rückgriff auf die psychiatrisch-pädagogische Verwahrlosungsdiagnostik, welche sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts formiert hatte.13 Zum anderen wird deutlich, dass die so genannten Entweicher als bedrohlich für die Ordnung des Heims betrachtet wurden, indem sie als gefährliche Infektionsherde des Aufruhrs imaginiert wurden.14 Zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung dieser Ordnung wurde in der Heimerziehung lange Zeit auf Strategien der Bestrafung und Absonderung zurückgegriffen. In Anlehnung an die Überlegungen Erving Goffmans zu totalen Institutionen15 wurde in der Forschung zur Heimgeschichte vorgeschlagen, die Erziehungsanstalt als umkämpften Raum16 zu betrachten. Innerhalb der Anstalten kann die Flucht als eine von verschiedenen typischen Handlungsstrategien angesehen werden, mit denen die Insassen ihre Ablehnung des Zwangs der sozialen Regeln totaler Institutionen ausdrücken und die Eigenständigkeit ihrer Handlungsökonomie zumindest teilweise wiederherstellen können. Obwohl auf die Überwindung der Handlungslogiken der Anstalt gerichtet, werden die Fluchten als Handlungsrepertoire durch ebenjene Logik der Anstalt erst hervorgebracht und sind 12 Die am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck 2013 bis 2015 ausgewerteten personenbezogenen Aktenbestände umfassen die von den zuständigen Jugendämtern geführten Mündel- bzw. Jugendwohlfahrtsakten und die heimintern angelegten Zöglingsakten. Hinzu kommen die aus der Verwaltungsarbeit der Jugendämter stammenden Aktenbestände. Zu den personenbezogenen Akten der Jugendwohlfahrt gehören zudem die Krankenakten der Kinderbeobachtungsstation am Landeskrankenhaus Innsbruck, die im Forschungszusammenhang Psychiatrisierte Kindheiten. Zur Geschichte der Kinderbeobachtungsstation ebenfalls an der Universität Innsbruck von 2014 bis 2016 untersucht wurden. 13 Vgl. z.B. Anna Bergmann, Genealogien von Gewaltstrukturen in Kinderheimen, in: ÖZG 1+2 (2014) 82–116 sowie Michaela Ralser, Anschlussfähiges Normalisierungswissen. Untersuchungen im medico-pädagogischen Feld, in: Fabian Kessl / Melanie Plößer, Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen, Wiesbaden 2010, 135–153. 14 Die Verwendung einer medizinischen bzw. hygienischen Terminologie spiegelt sich auch in der nach 1945 geführten Debatte über die Definition der Unerziehbaren, welche beispielsweise als Infektionsquelle der Verwahrlosung bezeichnet wurden. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 168–170. 15 Goffman, Asyle (wie Anm. 2). 16 Vgl. Sven Steinacker, Der Staat als Erzieher. Jugendpolitik und Jugendfürsorge im Rheinland vom Kaiserreich bis zum Ende des Nazismus, Stuttgart 2007, 401–403.

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durch sie strukturell bedingt.17 In dieser Perspektive rückt die Handlungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund. Zugleich können die Grenzen dieser Handlungsfähigkeit präziser ausgeleuchtet werden. Die Flucht aus dem Heim bedeutete mithin nicht nur die konkrete Überwindung der physischen Grenzen der Anstalt. Vielmehr vollzog sich mit dem Verlassen des physischen Raumes der Anstalt auch das Überwinden sozialer Grenzen, die durch diesen Raum konstituiert wurden. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, wie die so genannten Ausreißer am Kreuzungspunkt der Dispositive der Nichtsesshaftigkeit und der Verwahrlosung durch ein Netz von Diskursen, Reglementierungen, Praktiken und Institutionen umgeben wurden. Am Beginn des Beitrags werden erste Konturen des Phänomens durch eine kritische Reflexion statistischer Aufbereitungen der Entweichungen umrissen. Dem folgt ein Überblick über die Genese des enfant vagabond am Schnittpunkt von Verwahrlosungs- und Nichtsesshaftigkeitsdispositiv. Anhand eines ersten Fallbeispiels werden die spezifischen diskursiven Verdichtungen erfasst, die sich in der Kommunikation zwischen den Akteuren und Agenturen der Jugendwohlfahrt manifestierten und einer psychiatrischen Deutung der Fluchten Geltung verschafften. Daran anschließend werden in einem zweiten Fallbeispiel die Handlungsspielräume der Kinder und Jugendlichen ausgelotet. Die Flucht wird als widerständige Strategie beschrieben und die institutionellen Grenzen dieses Handelns werden aufgezeigt.

»M AN RECHNET ETWA 10 P ROZENT ALS ERTRÄGLICH «: 18 F LUCHT IN DEN S TATISTIKEN DER H EIMERZIEHUNG Fluchten als Problem in der Heimerziehung lassen sich bis in die Anfangsjahre der institutionalisierten Ersatzerziehung der vermeintlich schwierigen Kinder nachweisen.19 In der zeitgenössischen deutschsprachigen Fachliteratur zur Heimerziehung 17 Goffman bezeichnete diese Interaktionsdynamiken in totalen Institutionen als »messingup«. Eine Handlungsstrategie der Insassen bestehe im »kompromißlosen Standpunkt«, bei dem sie Regeln der Institution bewusst herausfordern und somit deren Ordnung bedrohen. Goffman, Asyle (wie Anm. 2) 59, 66. 18 Kiehn, Praxis (Ausg. v. 1967, wie Anm. 3) 205. 19 Laut Steinacker, Staat als Erzieher (wie Anm. 16) 405 f., avancierten Fluchten und Fluchtversuche »seit der Jahrhundertwende zu einem alltäglichen Phänomen in den Anstalten«. Auch die breitere Öffentlichkeit nahm über Presseberichte teilweise Kenntnis von solchen Fluchten. Davon zeugen in Tirol etwa kurze Pressemitteilungen über geflohene Zöglinge, z.B. im Tiroler Tagesanzeiger vom 4.7.1910 »Ein flüchtiger Zögling aufgegriffen«. Vgl. http://www.tirolensien.at/index.php/kontakt/item/19810-1910-07-04.



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finden sich daher immer wieder Beiträge, welche dem Thema der Entweichungen gewidmet sind.20 Oftmals werden die Statistiken vorgelegt, um anhand des quantitativen Ausmaßes der Fluchten auf eine besondere Problemhaftigkeit der Fürsorgeerziehung – oder besser der Fürsorgeerziehungszöglinge – hinzuweisen. So sei nach der Einführung des preußischen Jugendwohlfahrtsgesetzes im Jahr 1900 die jährliche Fluchtrate der preußischen Fürsorgezöglinge innerhalb des ersten Jahrzehnts von etwa 3 Prozent auf 30 Prozent angestiegen.21 Als Fluchtursache rückte neben äußerlichen Ursachen wie schlechter Verpflegung, fluchtbegünstigenden Kontrolllücken im Tagesablauf oder politischer Beeinflussung durch Außenstehende zunehmend auch die Persönlichkeit der Jugendlichen ins Blickfeld der Experten: Die hohen Fluchtzahlen ergäben sich vornehmlich aus der psychopathischen Konstitution vieler Fürsorgezöglinge, aus der ein abnormer Hang zum Weglaufen resultiere.22 Diese Argumentation erwies sich als erfolgreiche Strategie zur Legitimation der repressiven Beantwortung von Fluchten in den Heimen sowie der Aussonderung der vermeintlich besonders Schwererziehbaren in speziellen Abteilungen oder Einrichtungen.23 Im Zuge der Krise der Heimerziehung und im Zusammenhang mit dem Erstarken des sozialwissenschaftlichen Paradigmas um 1970 finden sich wiederum vermehrt statistische Aufbereitungen der verschiedenen Aspekte der Heimerziehung, so unter anderem zu den Entweichungen. Der eingangs erwähnte Kiehn führte an, dass eine Fluchtrate von etwa 10 Prozent für den Heimbetrieb gewöhnlich als erträglich angesehen würden.24 Die tatsächliche Rate – so zeigten andere Untersuchungen aus Erziehungsheimen für Buben auf – lag in der Praxis jedoch eher bei 45 bis 55 Prozent.25 Als neue diskursive Strategie zur Erklärung der hohen Flucht20 Die nachfolgend zitierten Studien beziehen sich zwar auf die Verhältnisse in Deutschland. Die große Ähnlichkeit in den Entwicklungslinien der Heimerziehungspraxis und der Austausch der deutschsprachigen ExpertInnen über die Ländergrenzen hinweg (Deutschland, Österreich, Schweiz) rechtfertigen jedoch die vergleichende Betrachtung. 21 Das JWG in Preußen wurde 1900 erlassen, die Statistik erfasste die Jahre 1901 bis 1911. Vgl. Wilhelm Backhausen, Das Entweichen der Zöglinge, in: Zentralblatt für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung (1911) 241–247, hier 242 f. Zit. nach Heike Schmidt, Gefährliche und gefährdete Mädchen. Weibliche Devianz und die Anfänge der Zwangs- und Fürsorgeerziehung, Opladen 2002, 269. 22 Vgl. z.B. Steinacker, Staat als Erzieher (wie Anm. 16) 406. 23 So drehte sich die Diskussion in den Fachpublikationen besonders während der 1920er, 1930er und 1950er Jahre um die Einrichtung von besonderen Abteilungen oder Heimen für so genannte Schwererziehbare sowie um die Einbindung der Psychiatrie zur Diagnosestellung und Behandlung. 24 Kiehn, Praxis (Ausg. v. 1967, wie Anm. 3) 205. 25 Werner Weiland, Das Davonlaufen, in: Soziale Arbeit 11 (1969) 474–482, hier: 477, untersuchte in zwei zeitlichen Blöcken die Neuzugänge der Jahre 1950 bis 1953 sowie 1959

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zahlen und zur Entlastung der Heime von der Verantwortung hielt nun die Rede von der »Risikoprämie [...], die dafür zu zahlen [sei], dass der überwiegende Teil der Heime heute in größerer Offenheit erzieht, als das früher der Fall war«,26 Einzug in die Fachdiskussion. Auch das Erziehungsheim Jagdberg berief sich 1975 im Rahmen der Artikel zu den Entweichungen in der Heimzeitung auf diese Risikoprämie und sah sich somit vermutlich selbst in diesem Diskurs repräsentiert.27 Zum Ausmaß der Fluchten am Jagdberg lassen sich aufgrund der Quellenlage nur punktuell Aussagen treffen. Dennoch sind schlaglichtartige Befunde möglich. Bereits im Jahr der Gründung verzeichnete man den ersten geflüchteten Zögling und bis 1893 folgten ihm 12 weitere Kinder.28 Für die Nachkriegszeit liegen – obgleich nur lückenhaft – eigene Statistiken des Landeserziehungsheims Jagdberg vor, die in Tabelle 1 zu einem Überblick zusammengeführt wurden.29 Daraus wird deutbis 1962 im hessischen Jugendheim Karlshof für schulpflichtige und schulentlassene Buben. Hermann Wenzel, Fürsorgeheime in pädagogischer Kritik. Eine Untersuchung in Heimen für männliche Jugendliche und Heranwachsende (Sozialpädagogik 3), Stuttgart 1970, 10 f., 129–140, befasste sich mit drei Heimen für schulentlassene Buben in Württemberg und erstellte die Statistiken auf der Basis der Zöglingsakten (Stand Oktober 1966 bis April 1967) sowie der Jahresberichte der Heime. 26 Kiehn, Praxis (Ausg. v. 1972, wie Anm. 3) 163. An anderer Stelle heißt es, die Entweichungen seien »ein gewisser Zins, welcher bezahlt werden muss, daß wir in größerer Freiheit als in früheren Zeiten erziehen und umerziehen, und daß wir den Anachronismus der Erziehung in geschlossenen Heimen für das Leben in der Freiheit überwinden können.« Vgl. Forschungsbericht des Instituts für Kriminologie der Rechtsfakultät Ljubljana 1974, 3, in: Tiroler Landesarchiv (TLA), Amt der Tiroler Landesregierung (ATLR), Abt. Vb, Allgemeines 471 h. 27 Vgl. Heimzeitung (wie Anm. 1) 51. 28 Vgl. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 264. 29 Die Belegungszahlen für den gesamten Zeitraum sowie die Fluchtstatistik der 1950er Jahre sind den an das Landesjugendamt gerichteten Jahresberichten der Heimleitung entnommen. Vgl. Vorarlberger Landesarchiv (VLA), Landesjugendheim Jagdberg, Allgemeines, A69 Rechenschaftsberichte 1947–1979 und A70 Rechenschaftsberichte 1980– 1991. Bei der Zahl der dem Landesjugendamt mitgeteilten Fluchten ist jedoch unklar, ob es sich bei den Angaben um sämtliche Fluchten des Zeitraums handelt oder lediglich um jene Fluchten, welche polizeilich gemeldet und die Buben damit zur Fahndung ausgeschrieben wurden. Die Angaben für die 1970er und 1980er Jahre stammen aus dem heiminternen Verzeichnis, das über alle polizeilich gemeldeten Entweichungen angelegt wurde und für den Zeitraum Oktober 1973 bis Oktober 1981 erhalten ist. Vgl. VLA, Landesjugendheim Jagdberg, Allgemeines, A 68 Fluchtberichte. Über die polizeilich gemeldeten Fluchten hinaus ist eine gewisse Zahl von Fluchtversuchen anzunehmen sowie eine Zahl von Fluchten, welche bereits vor der polizeilichen Meldung (durch freiwillige Rückkehr



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lich, dass es zwischen 1950 und 1980, gemessen an der Zahl der insgesamt untergebrachten Kinder, zu einem kontinuierlichen Anstieg der flüchtigen Kinder kam. Die Zahl der durchschnittlich von einzelnen Kindern jeweils durchgeführten Fluchten stieg hingegen erst um 1980 deutlich an. In den 1950er Jahren setzte die deutliche Mehrheit (jeweils mindestens die Hälfte) der als Entweicher erfassten Buben nur eine Flucht in die Tat um, andere hingegen entliefen zwei, drei, vier oder fünf Mal im Jahr. Manche Buben kamen im Verlauf ihres gesamten Heimaufenthalts auch auf noch mehr Fluchten. Die Fluchten aus dem Erziehungsheim Jagdberg fallen also statistisch betrachtet geringer aus als bei den in der Fachliteratur angeführten Beispielfällen. Dennoch lieferte der deutliche Anstieg in den verzeichneten Entweichungen einen soliden Anknüpfungspunkt zum Risikoprämien-Diskurs. Tabelle 1: Fluchten aus dem Landeserziehungsheim Jagdberg (1950er–1980er).

  Quelle: Eigene Zusammenstellung.

Ein Vergleich mit den Tiroler Landeserziehungsheimen Kleinvolderberg in Volders bei Innsbruck, St. Martin in Schwaz sowie in Kramsach erweist sich aufgrund der wesentlich bruchstückhafteren Datenlage als schwierig. Als Gemeinsamkeit lässt sich immerhin feststellen, dass in allen Heimen Kinder sowohl einmalig als auch in ähnlicher Anzahl mehrfach flohen. Darüber hinaus scheinen die Fluchtzahlen in den Heimen für schulentlassene Jugendliche relativ ähnlich zu sein.30 Dies ist gerade oder Rückführung durch die Heimangestellten) beendet wurden. Deren Zahl lässt sich nicht genau feststellen, deren Vorkommnis kann jedoch auf Grundlage einzelner Zöglingsakten ebenso wie Zeitzeugeninterviews als gesichert betrachtet werden. 30 1967 verzeichnete die Heimleitung in Kleinvolderberg 170 Fluchten, die von 89 Buben (entspricht einem Anteil von 43 % aller Buben sowie jeweils Ø 1,9 Fluchten) durchgeführt wurden. 1968 gab es 78 Fluchten von 48 Zöglingen (entspricht 24 % sowie Ø 1,6).

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aufgrund der Unterschiede in den Fluchtmöglichkeiten, die sich durch die geschlechterspezifischen Erziehungsarrangements ergaben, ein interessanter Befund. So waren die Heime für Buben tendenziell eher offen was ihre bauliche Anlage und Kontakte mit der Umwelt des Heimes betraf. Diese Offenheit ist von besondere Relevanz für die schulentlassenen Buben, bei denen es die Anforderung der Berufsausbildung oder doch allenfalls Anlernung im Rahmen der Arbeitserziehung gab.31 Ganz anders die Mädchenheime: Sowohl baulich als auch im Hinblick auf Kontakte mit der Außenwelt zeigten sie sich lange Zeit als überaus abgeschlossen und in ihrer räumlichen Konzentration als typische totale Institutionen.32 So schwierig die Interpretation solch disparater Daten sein mag, sie scheinen doch immerhin darauf hinzuweisen, dass die Bestrebungen, bei den Mädchen und jungen Frauen im Rahmen der Heimerziehung eine Verinnerlichung einer besonderen Häuslichkeit zu erreichen, offenbar wenig erfolgreich waren.

Die meisten Buben (die Hälfte bis zwei Drittel) flüchteten nur einmal aus dem Heim, aber auch mehrfache Fluchten – in wenigen Fällen fünf oder sechs Fluchten im Jahr – kamen hier vor. Vgl. Kleinvolderberg. Zöglingsbewegung und Erfolgsstatistik für das Jahr 1967 (vom 4.11.1968) und 1968 (vom 17.11.1969), in: TLA, ATLR, Abt. Vb, 466 h. Aus dem etwas kleineren Mädchenheim in Kramsach liegen die Zahlen für das Jahr 1969 – 12 Fluchten bei insgesamt 63 anwesenden Mädchen – sowie für das Jahr 1970 – 10 Fluchten bei insgesamt 50 anwesenden Mädchen – vor. Vgl. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 663. In St. Martin gab es zwischen Juni 1975 und Oktober 1976 96 Fluchten bei insgesamt rund 100 im Heim anwesenden Mädchen. Es gab auch hier Mädchen, die nur einmal flohen, und Mädchen die bis zu »fünf und mehr Fluchten« umsetzten. Vgl. St. Martin. Bericht über die Auswertung der Flucht-verhandlungen für den Zeitraum 1.6.1975 bis 30.10.1976 (vom 22.11.1976), in: TLA, ATLR, Abt. Vb, 474h. Wie viele Mädchen sich genau an den Fluchten beteiligt haben, geht aus den erhaltenen Unterlagen der beiden Mädchenheime nicht hervor, so dass hier keine Aussage zu einer prozentualen Verteilung der Fluchten oder Tendenzen in der Häufigkeit von Fluchtversuchen getroffen werden kann. Rechnerisch möglich wäre immerhin, dass die prozentuale Verteilung in St. Martin sich derjenigen des Heims in Kleinvolderberg angleicht. Aufgrund der leichten zeitlichen Verschiebung und besonders des fehlenden Vergleichsmaterials über einen längeren Zeitraum hinweg verleihen dieser Interpretation – vorerst – jedoch nur geringe Belastbarkeit. 31 Vgl. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 481–490. 32 Vgl. Guerrini in diesem Band.



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Lʼ ENFANT VAGABOND : 33 A M K REUZUNGSPUNKT ZWEIER D ISPOSITIVE Um das Davonlaufen der Kinder formierte sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein spezifisches »Set von Machtverhältnissen und Formen des Wissens, die sich gegenseitig bedingen und verstärken.«34 In diesen spezifischen diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken überkreuzen sich, so die Argumentation dieses Beitrags, zwei Dispositive: Das Dispositiv der Verwahrlosung und das Dispositiv der Nichtsesshaftigkeit. Ein Dispositiv im Sinne Michel Foucaults »umfasst Diskurse, Institutionen, architektonische Vorrichtungen, Gesetze, Verwaltungsmaßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, Moral, Philantropie. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft wird, und [...] die Formation, deren Hauptfunktion darin besteht, auf einen Notstand zu antworten.«35 Sowohl in der Wandererfürsorge als auch in der Kinder- und Jugendfürsorge und den ihnen zugehörigen Diskursen und Regulierungen, Akteuren und Agenturen verwirklichte sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein solches Netz.36 Zu strategischen Kernbegriffen für die Einhegung unerwünschter Verhaltensweisen avancierte im Kontext der Wandererfürsorge, die sich mit durch Wohnungslosigkeit und Erwerbslosigkeit37 gekennzeichneten Personen befasste, der Wandertrieb sowie in der Kinder- und Jugendfürsorge, die sich zuvorderst den mit vermeintlichen Erziehungsmängeln38 behafteten Kindern der Unterschichten zuwandte, der Begriff der Verwahrlosung. Beide Begriffe zeichnen sich durch eine gewisse inhaltliche Unschärfe aus. Gerade dadurch eigneten sie sich 33 Guy Néron, Lʼenfant vagabond, Thèse, Paris 1928, Druckfassung erschienen in Paris 1952. 34 Florian Oberhuber, Die Erfindung des Obdachlosen. Eine Geschichte der Macht zwischen Fürsorge und Verführung (Kultur als Praxis 2), Wien 1999, 31. 35 Elena Wilhelm, Rationalisierung der Jugendfürsorge. Die Herausbildung neuer Steuerungsformen des Sozialen, Bern / Stuttgart / Wien 2005, 109. Wilhelm bezieht sich in ihrer Definition auf Michel Foucaults 1978 in deutscher Übertragung erschienenes Werk Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin. 36 Vgl. Oberhuber, Erfindung (wie Anm. 34) und Wilhelm, Rationalisierung (wie Anm. 35) 87–110. 37 Wobei zu Recht darauf hingewiesen wurde, dass unter die Begriffe Wohnungslosigkeit und Erwerbslosigkeit auch Wohn- und Erwerbsverhältnisse zusammengefasst wurden, die nicht den im hegemonialen Diskurs legitimen und/oder den legalen Praktiken entsprachen. Vgl. Oberhuber, Erfindung (wie Anm. 34) 37 f., 73–79. 38 Solche Erziehungsmängel wurden auf zwei Ebenen verortet: einerseits in der mangelhaften Erziehungstätigkeit oder -fähigkeit der Eltern sowie andererseits in der fehlerhaften, d.h. nicht bürgerlich-konformen Entwicklung der Erziehung.

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jedoch, als eine relativ flexible Worthülse zu fungieren, die mit Interpretationen gefüllt werden musste, um bestimmte Verhaltensweisen zu beschreiben, zu beurteilen sowie daran anschließende Maßnahmen festzulegen. Zugleich zeigt sich, dass sich trotz der Variabilität der Interpretationen spezifische diskursive Muster verfestigten. Die angeordneten Maßnahmen ihrerseits unterliegen einer hohen Gleichförmigkeit: In der Regel erfolgte zunächst die Exklusion (z.B. durch Heimeinweisung oder Einweisung in eine Arbeiterkolonie), zugleich zielten sie auf Re-Inklusion durch normalisierende Praktiken der individuellen Verhaltensanpassung.39 In der Figur des vagabundierenden Kindes überkreuzen sich diese beiden Dispositive. So schrieb Alfred Spitzner in seinem 1911 in Reins Handbuch der Pädagogik erschienenen Artikel über Verwahrlosung:40 »Die hervorstechendste Eigenart verwahrloster Knaben ist das Vagieren. […] Die Entwicklung dieses bedenklichen Zuges verläuft gewöhnlich so: Erst handelt es sich um unregelmäßigen Schulbesuch, dann allmählich um vollständiges ›Schwänzen‹. Die Knaben bummeln während der Schulstunden zwecklos in der Stadt oder in Wald und Flur umher und treiben allerhand Unfug. Von der Polizei aufgegriffen und der Schule zwangsweise zugeführt, benutzen sie die erste beste Gelegenheit, ein Stück weiter zu entweichen. Sie werden Landstreicher und kommen nun auch nachts nicht mehr nach Hause. Wiederum werden sie eingefangen und abgestraft; aber zur Schule gehen sie beharrlich nicht, sodaß die Unterbringung in eine Besserungsanstalt zur unabweisbaren Notwendigkeit wird. Hier erstirbt die Neigung zum Entweichen keineswegs so ohne weiteres. Vielmehr gebärden sich derartige Knaben oft ganz sinnlos und entfliehen auf jede Gefahr hin, sobald sich irgend eine Möglichkeit bietet.«41

Bei Buben erscheint die Vagabondage also als ein Verwahrlosungssymptom, dem eine klare Verlaufskurve zugeordnet wurde. Verschiedene äußere und innere Ursachen kommen laut Spitzner in Betracht: Zunächst gebe es die »pathologische Steigerung und Verwilderung des Freiheitsgefühls«,42 das bei ungünstigen sozialen Verhältnissen vagabundierend ausgelebt werde, daneben seien als weitere Ursachen »krankhafte, psychopathische Zustände (Epilepsie, Zwangsangst)«43 und schließlich die »sog. ›Schulangst‹ überbürdeter Kinder«44 zu betrachten. Bei Mädchen wurde die gleiche Verhaltensweise hingegen ausschließlich durch sexualisierte Interpretationsmuster erklärt: Wie bei Mädchen überhaupt das bedeutendste Symptom der 39 Vgl. Oberhuber, Erfindung (wie Anm. 34) 21–36. 40 Alfred Spitzner, »Verwahrlosung« in: Wilhelm Rein (Hg.), Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Langensalza, 2. Aufl., 1911, 618–631. 41 Ebd., 619 f. 42 Ebd., 620. 43 Ebd., 623. 44 Ebd., 623.



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Verwahrlosung in »sexueller Erregbarkeit und Ausschreitungen«45 gefunden werden könne, so ziele auch das Vagabundieren bei Mädchen lediglich auf die Erfüllung eines vermeintlich fehlgeleiteten und übersteigerten Geschlechtstriebes.46 Dieses geschlechtlich codierte Verwahrlosungsnarrativ weist eine lange Wirkmächtigkeit für die Anordnungs- und Heimerziehungspraxis bis weit in die 1970er Jahre auf.47 Vor allem die Psychiatrie befasste sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Untersuchung des pathologischen Fortlaufens, des Wandertriebs bzw. der Poriomanie.48 Ihr gelang es, sich mit ihren Deutungen tief in den Diskurs der Heimerziehungsexperten und Praktiker einzuschreiben.49 Der Heimleiter des hessischen Bubenheims Karlshof 1969 hielt beispielsweise fest: »Jede fachliche Untersuchung über […] die ›Soziabilität erziehungsschwieriger Jugendlicher‹ […] stößt auf das Faktum des Davonlaufens, Streunens, Ausreißens, Entweichens, Schul- und 45 Ebd., 623. 46 Der Psychiater Karl Leonhard (1904–1988) bezeichnete die Poriomanie noch 1964 als »typisch männlichen Trieb«, wohingegen das Weglaufen der Mädchen als eine »Sexomanie« zu betrachten sei, bei der die Mädchen sich »in einem fortdauernden Drangzustand mit tagelangen poriomanen Zuständen bis zur [sexuellen] Trieberfüllung« befänden. Zit. nach Heiner Burkhardt, Poriomanie [Diss.] München 1969, 26 f. 47 Vgl. Guerrini in diesem Band. 48 Vgl. zur Etablierung der Poriomanie als Geisteskrankheit im psychiatrischen Diskurs: Ian Hacking, Mad Travelers. Reflections on the Reality of Transient Mental Illnesses, Cambridge / Massachusetts 1998. Alternative Bezeichnungen sind z.B. Fugue, automatisme ambulatoire, pathologisches Fortlaufen, Vagabondage. Dabei blieb es eine Streitfrage, ob die Poriomanie als eine Krankheit sui generis oder nur als zu einem übergeordneten Krankheitsbild gehörig aufzufassen sei. Zudem standen neben der klinischen Zuordnung auch psychologische Erklärungsansätze. Vgl. Burkhardt, Poriomanie (wie Anm. 46) 3, 14, 24. 49 Dies gelang mittels vielfältiger Überschneidungspunkte und Austauschprozesse, die zwischen Kinder- und Jugendwohlfahrt und Kinder- und Jugendpsychiatrie seit den 1910er Jahren aufgebaut wurden, so beispielsweise durch die Einrichtung psychiatrisch und heilpädagogisch arbeitender Kinderbeobachtungsstationen, durch die Einstellung von Kinder- und Jugendpsychiatern bei den (Landes-)Jugendämtern, durch die Teilnahme von Psychiatern an den Fachtagungen der Kinder- und Jugendwohlfahrt oder der Wohlfahrtsfachleute an den Fachtagungen der Psychiatrie, Kriminologie oder der Hygienebewegung und durch die Publikation von Artikeln in den einschlägigen Fachzeitschriften. Michaela Ralser spricht von einer engen Allianz von Psychiatrie und Jugendwohlfahrt im Fürsorgeerziehungsregime. Vgl. Michaela Ralser, Psychiatrisierte Kindheit – Expansive Kulturen der Krankheit. Machtvolle Allianzen zwischen Psychiatrie und Fürsorgeerziehung, in: ÖZG 1+2 (2014) 128–155.

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Berufsschwänzens, periodisch auftretenden Wandertriebs.«50 Die Beweggründe für das Davonlaufen seien dabei vielschichtig51 und individuell zu ergründen, jedoch lägen sie »häufig in den anlagemäßig gegebenen Charakterdispositionen begründet – in Haltschwäche, Impulsivität, Einzelgängertum, Sensitivität, innere Unrast und Hyperthymie, Gemütsarmut.«52 Dem Symptom des Davonlaufens komme daher in jedem Fall eine beträchtliche diagnostische und prognostische Bedeutung hinsichtlich des möglichen Erziehungserfolgs zu, und damit natürlich auch dem pädagogischen Handeln in der Heimerziehung. Dieser Diskurs, der Entweichungen als Ausdruck eines vermeintlich pathologischen Verhaltens als antisozial in Bezug auf die Heimgemeinschaft wie auch die weitere Gesellschaft einstufte, fand seine Entsprechung auf der Ebene der heimerziehungsrelevanten Praktiken und Gesetze. Bis zum Ende der 1960er Jahre erwies sich der Umgang mit den Kindern und Jugendlichen, welche sich der vormundschaftsgerichtlich angeordneten Fürsorgeerziehung durch Flucht aus dem Heim entziehen wollten, als ausgesprochen repressiv. Durch die Verwendung der Terminologie von Entweichung und Entweicher, die dem Strafrechtsdiskurs entlehnt ist, wurden die Flüchtigen bereits auf der sprachlichen Ebene kriminalisiert.53 Zudem 50 Weiland, Davonlaufen (wie Anm. 25) 474. 51 Genannt werden z.B. »konstitutionelle Auffälligkeiten und Hirnschädigungen, pubertätsspezifische Merkmale, sowie verfehlte Kompensation von Kontaktstörungen im sozialen Bereich« oder Fortlaufen aus Angst, Renommiersucht, Schuldgefühl oder Langeweile, aufgrund von Bindungslosigkeit, Erlebnishunger oder dem Gefühl der Einengung, infolge motorischer Gehemmtheit oder Fortlaufen nach einem ersehnten Ziel hin. Ebd., 474 f. 52 Ebd., 476, 478. Die hier aufgezählten Ursachen zählen meistenteils zu den üblichen charakterlichen Beurteilungen (Haltlosigkeit, Gemütsarmut, Einzelgängertum), die in den mit der Fürsorgeerziehung verbundenen Dokumenten zur Beschreibung von Verwahrlosung und Erziehungsfähigkeit verwendet wurden. Besonders die in der pädagogischen Pathologie von Ludwig Strümpell aufgestellten Kategorien der Kinderfehler scheinen sich in der Praxis der Berichtverfassung fest verankert zu haben (z.B. Ungehorsam, Lügenhaftigkeit, Heimtücke, Gefallsucht, Trotz, Naschsucht, Trägheit, Unreinlichkeit, Schwatzhaftigkeit, Denkfaulheit, Gedächtnisschwäche). Vgl. Gustav Siegert, Kinderfehler, in: Rein, Handbuch (wie Anm. 40) 866–872, hier: 868; und Ina Schönberger, Kindernaturen und Kinderfehler. Der Entwurf einer pädagogischen Pathologie des Herbartianers Ludwig Strümpell, in: Sabine Hering / Wolfgang Schroer, Sorge um die Kinder. Beiträge zur Geschichte von Kindheit, Kindergarten und Kinderfürsorge, Weinheim / München 2008, 101–115. 53 Von Kriminalisierung kann gesprochen werden, wenn »ein Verhalten, eine Handlung oder eine Person bzw. eine Gruppe als kriminell definiert, registriert und etikettiert wird oder wenn jemand dazu angeregt oder gezwungen wird, eine Handlung zu begehen, die



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wurden sie zur polizeilichen Fahndung ausgeschrieben und zur weiteren Durchführung der Fürsorgeerziehung mithilfe der Polizeiorgane wieder in die Heime überstellt. Um die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen durch ihre Angehörigen oder Bekannten zu verhindern, beinhaltete das österreichische Jugendwohlfahrtsgesetz von 1954 die Androhung einer Geldbuße oder Arreststrafe bei »Verhinderung oder Störung einer behördlich angeordneten Erziehungsmaßnahme«.54 Dies bedrohte entweder Angehörige, die zur Hilfe bereit waren, oder leistete einer weiteren Kriminalisierung der Geflüchteten Vorschub. Denn den Fürsorgezöglingen wurden während des Heimaufenthaltes Geldmittel weitestgehend vorenthalten. So war es ihnen kaum möglich, auf der Flucht Lebensmittel und andere Bedarfsgüter (auf legalem Wege) zu besorgen. Dies führte dazu, dass die meisten Fluchten aus Erziehungsheimen nur kurze Zeit währten.55 Mit der Rückführung ins Heim war in der Regel ein Repertoire von Abschreckungs- und Strafmaßnahmen zur Sanktionierung der Flüchtigen und zur Verhinderung weiterer Fluchtversuche verbunden: Verbreitete Maßnahmen waren Karzerstrafen, das Glatze-Scheren, stigmatisierende Bekleidung oder auch Prügelstrafen.56 als kriminell eingestuft wird [sowie] wenn jemand eine Behandlung erfährt, mit welcher gewöhnlich nur Handlungen bestraft werden, die als kriminell im Sinne des Strafrechts eingestuft werden.« Vgl. Sara Galle / Thomas Meier, Stigmatisieren, Diskriminieren, Kriminalisieren. Die Assimilation der jenischen Minderheit in der modernen Schweiz, in: Claudia Opitz / Brigitte Studer / Jakob Tanner (Hg.), Kriminalisieren – Entkriminalisieren – Normalisieren, Zürich 2006, 279–295. 54 JWG 1954, § 15, Abs. 5. 55 Manchen Jugendlichen gelang es allerdings beispielsweise, sich bis zu mehrere Monate auf einer entlegenen Arbeitsstelle (meist gegen Kost und Logis) zu verbergen. 56 Für die frühe Fürsorgeerziehung hat dies unter anderem herausgearbeitet Schmidt, Mädchen (wie Anm. 21) 274. Im Handbuch der Heimerziehung (erschienen 1952–1966) nennt der Beitrag über die »Behandlung der Ausreißer« Karzer und Prügel sowie Stigmatisierung durch Kopfrasur oder Kleidung als typische Praktiken. Der Autor wendet sich jedoch gegen diese Tradition der »völlig unpsychologischen Bestrafungen« und plädiert für die Bindung der Jugendlichen an das Heim durch die Förderung des Selbstvertrauens sowie größere Mitgestaltungsmöglichkeiten. Vgl. Gotthilf Vollert, Die erziehliche Behandlung der Ausreißer, in: Hans Scherpner / Friedrich Trost (Hg.), Handbuch der Heimerziehung, Frankfurt am Main u.a. 1966, 523–527. Die in den letzten Jahren erschienenen Studien zur Heimerziehung der Nachkriegszeit in Deutschland und Österreich zeigen, dass die Umsetzung in die Praxis vielfach erst wesentlich später und nur unter dem Druck öffentlicher Aufmerksamkeit erfolgte. In den Landesheimen von Tirol und Vorarlberg lassen sich solche Wiederaufnahmerituale für die Nachkriegszeit ebenfalls nachweisen. Bis in die 1960er Jahre sind die gewaltvollen, körperinvasiven Praktiken der Bestrafung und Abschreckung Teil des Erziehungsalltags. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung

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Die sich allmählich wandelnden Leitvorstellungen in der Heimerziehung erforderten jedoch ab den 1970er Jahren die Umsetzung neuer Erziehungsmethoden, die sich auch auf den Umgang mit den Entweichern auswirkten. Nun wurde den Entweichungen mit einem eher psychologisch orientierten pädagogischen Programm begegnet. Eine der daraus entstehenden Maßnahmen war es beispielsweise, den in das Landeserziehungsheim Jagdberg rückgeführten Buben die Aufgabe zu stellen, einen Fluchtbericht57 zu verfassen, und damit auf die Selbstdisziplinierung der Buben zu zielen. So enthalten diese Aufsätze nicht nur Schilderungen, wie die Flucht jeweils bewerkstelligt wurde, sondern stets auch eine – sehr wahrscheinlich in der Aufgabenstellung geforderte – Reflexion der Ursachen und Konsequenzen der Flucht. Typische Motive wie die Verleitung durch andere, ein zwanghafter Drang oder Abenteuerlust als Auslöser der Fluchten und Einsicht oder Reue hinsichtlich des verderblichen Charakters der Handlung ziehen sich durch die Texte. Zugleich zeigt sich, dass die Abkehr von einer reinen Strafpädagogik mit verstärkten Forderungen nach Absonderung und gesonderter Behandlung in heimeigenen, geschlossenen Therapiestationen der nun als Dauerflüchter bezeichneten wiederholt entlaufenden Kinder und Jugendlichen einherging.

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Die beiden nun folgenden Fallbeispiele werden anhand der von den zuständigen Jugendämtern geführten Mündel- und der heimintern angelegten Zöglingsakten rekonstruiert. Mündelakten und Zöglingsakten zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Vielzahl von Dokumenten unterschiedlicher Provenienz und Funktion vereinen, welche den Verlauf der behördlich angeordneten Maßnahme der Fürsorgeerziehung dokumentieren.58 Die Mündelakten wurden von den Bezirksjugendämtern zumeist

(wie Anm. 6) 206–208, 488–490 (Kleinvolderberg), 377–379 (Jagdberg), 602 (St. Martin), 660–662 (Kramsach). 57 Erhalten sind die Fluchtberichte verschiedener Buben aus dem Zeitraum 1974–1981. Sie sollten darin in Aufsatzform über die Fluchtgründe und den Verlauf der Flucht referieren. Vgl. VLA, Landesjugendheim Jagdberg, Allgemeines, A 68 Fluchtberichte. 58 So finden sich hier beispielsweise Erhebungsberichte und Anträge der Jugendämter, Gerichtsbeschlüsse, Führungsberichte aus den Erziehungsheimen oder psychologische bzw. psychiatrische Gutachten. Der Ensemblecharakter dieser beiden Aktentypen erlaubt daher eine Untersuchung des Zusammenwirkens der unterschiedlichen beteiligten AkteurInnen und Agenturen, während der Längsschnittcharakter eine Rekonstruktion der Arbeitsweise der Jugendwohlfahrt und deren Interventionen in die Biographien der befürsorgten Min-



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in ihrer Funktion als Vormund59 über Kinder und Jugendliche angelegt. Die Zöglingsakten hingegen wurden heimintern und lediglich für die Dauer des Heimaufenthalts eines Kindes oder Jugendlichen geführt. Sie beinhalten jedoch stets auch Kopien der wichtigsten Dokumente, die im Verfahren der Fürsorgeerziehung bei anderen Behörden wie Jugendamt oder Gerichten entstanden. Als Grundlage und Legitimierungsinstrument administrativer und gerichtlicher Entscheidungen nahmen die Akten im Kontext der Sozialbürokratie und Heimverwaltung entscheidenden Einfluss auf Lebensverläufe und Lebenschancen der befürsorgten Kinder und Jugendlichen. Somit entfalteten sie eine Wirkung, die über ihre unmittelbare Gedächtnisfunktion in administrativen Zusammenhängen hinausgeht: Sie offenbaren sich als Machtquellen in einer asymmetrischen sozialen Beziehung.60 Obgleich den Akten ein Objektivitätsanspruch innewohnt, »geben sie meist viel mehr Auskunft über die ›Verfassung ihrer Verfasser‹, über die in den jeweiligen Institutionen etablierten Deutungsmuster und -routinen sowie über zweckorientierte Objektivierungen von prinzipiell noch interpretations- und ergebnisoffenen Sachverhalten, als über die beschriebenen Wirklichkeiten selbst.«61 Folglich lassen sich Wirklichkeitskonstruktionen und Normalitätsvorstellungen der im administrativen Verfahren sprach- und handlungsmächtigen Akteure aufspüren, bestehende Interdependenzen und Wege des Informationstransfers zwischen den Akteuren und Agenturen identifizieren sowie diskursive Strategien zur Durchsetzung von Deutungen und Prozesse der Verdichtung von Deutungsmustern offenlegen.62 Die folgende Betrachtung der Akte von Rudi offenbart vielfältige Anknüpfungspunkte zum enfant vagabond. Der 1954 geborene Rudolf63 war erstmals 1963 in einem Erziehungsheim untergebracht worden, da er, wie es im Erhebungsbericht derjährigen über einen längeren Zeitraum hinweg ermöglicht. Vgl. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 20 ff. 59 Seltener auch in ihrer Funktion als Sachwalter oder Kurator. Vgl. ebd. 60 Besonders den Mündelakten kommt eine handlungsunmittelbare Stellung zu, insofern als das Jugendamt den entscheidenden Knotenpunkt im Fürsorgeerziehungsregime darstellte. So kommunizierte das Jugendamt als Behörde mit allen anderen in Angelegenheiten der Jugendwohlfahrt involvierten Institutionen (Heime, Schulen, Psychiatrische Klinik, Gerichte) und Personen (leibliche Eltern, Pflegeeltern, Fürsorgerinnen, ErzieherInnen, HeimleiterInnen, selten die Befürsorgten selbst) und veranlasste und/oder koordinierte die wesentlichsten diesbezüglichen Interventionen. Vgl. ebd. 61 Michaela Ralser / Anneliese Bechter / Flavia Guerrini, Regime der Fürsorge. Eine Vorstudie zur Geschichte der Tiroler und Vorarlberger Erziehungsheime und Fürsorgeerziehungssysteme der Zweiten Republik, Innsbruck 2014, 59. 62 Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 20 ff. 63 Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes handelt es sich um ein Pseudonym. VLA, Landesjugendheim Jagdberg, Zöglingsakten. Z 797.

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der Fürsorgerin heißt, angefangen hatte »zu streunen« und »mit Vorliebe als blinder Passagier mit dem Zug« zu fahren. Zudem lüge er »hartnäckig« und habe auch versucht, »bei verschiedenen fremden Leuten zu betteln.«64 Im Sommer 1965 hatten ihn seine Eltern zurück nach Hause geholt, bald jedoch habe Rudi wieder angefangen »zu lügen und zu streunen.« Nun versuchte man es mit der Unterbringung auf einem Pflegeplatz in der Nähe von Frankfurt am Main.65 Aber auch dort habe Rudi große Schwierigkeiten bereitet, so dass das Bezirksjugendamt nach kurzer Zeit den Antrag auf vorläufige Fürsorgeerziehung »wegen Gefahr im Verzug« stellte. Nur noch durch eine »straffe Heimerziehung« könne nun eine Besserung von Rudis Verhalten erreicht werden, so dass er Anfang 1966 im Landeserziehungsheim Jagdberg untergebracht wurde.66 In einem Brief an die Heimleitung gab Rudis Mutter ihrer Hoffnung Ausdruck, »dass aus unserem Rudi doch noch ein folgsamer Bub wird, der endlich einsieht, dass das Herumstreunen u. Fahren zu nichts führt!«67 Mit Ende des Schuljahres 1968 wurde Rudi probeweise zu seinen Eltern entlassen. Die Erziehungsberichte spiegeln, dass er sich für das Heim als schwieriger Fall erwiesen hatte. In Folge einer schweren Infektionskrankheit war Rudi körperlich beeinträchtigt. Zudem entsprach er nicht den Erwartungen, die in schulischer Hinsicht an ihn gestellt wurden. Es scheint, dass er sowohl bei den anderen Buben als auch bei den Erziehern und Lehrern kaum Anerkennung finden konnte. Die persönliche Beurteilung in den Erziehungsberichten erfolgte mit abfälligen Beschreibungen, indem der Bub als »hinterhältig«, »verschlagen«, »geltungssüchtig«, »schleimig« und »abstoßend« bezeichnet wurde.68 Hieß es am Beginn seines Heimaufenthaltes noch, Rudi werde wegen häufiger Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten »von den Buben seiner Gruppe zur Seite gestellt und zum Einzelgängertum 64 Erhebungsbericht der Bezirksfürsorgerin, Dezember 1965. 65 Eine Unterbringung in möglichst weiter räumlicher Entfernung vom Heimatort diente der Isolierung der Kinder von ihren Herkunftsfamilien. Von Vertretern der Jugendwohlfahrtsbehörden wurde diese Unterbringungspraxis teilweise auch als »Kilometertherapie« bezeichnet. Vgl. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 442. 66 Beschluss des Bezirksgerichts zur Einleitung der vorläufigen Fürsorgeerziehung, Dezember 1965. 67 Brief der Mutter an den Heimleiter, Januar 1966. 68 Führungsbericht April und Dezember 1966. Nach den Erkenntnissen des Forschungszusammenhangs Regime der Fürsorge handelt es sich hierbei um durchaus typische Charakterisierungen, die in den meisten Erziehungsberichten vorkommen. Erst ab den 1970er Jahren schwächt sich die extrem negativ gefärbte Sichtweise zugunsten eines weniger herabwürdigenden Vokabulars ab. Diesen Befund bestätigen auch viele andere Studien, deren AutorInnen ein Studium der Jugendwohlfahrtsakten möglich war. Es sei verwiesen auf die Forschungsbibliographien in Ralser u.a., Regime (wie Anm. 61) 163–177 und Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 724–744.



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verurteilt«,69 so führte der Bericht nach zwei Jahren Heimaufenthalt an, Rudi »neige zum Einzelgängertum [Herv. d. Verf.]« und suche »auch die ausgefallensten Arbeiten, um so den Problemen des Zusammenlebens in der Gruppengemeinschaft zu entgehen.«70 In der Argumentation der Erziehungsberichte verkehrten sich folglich Ursache und Wirkung in ihr Gegenteil. Nicht die Gemeinschaft konnte in der Logik der Institution fehlerhaft sein, sondern nur der Einzelne. Dass Rudi auch nach zwei Jahren noch keinen Freund gefunden habe, erkläre sich darüber hinaus »aus dem einfachen Grunde, weil er in körperlicher Hinsicht nicht in diese Gemeinschaft«71 passe. Schon mehrfach zuvor war in den Erziehungsberichten Rudis »körperliche und auch geistige Unzulänglichkeit«72 als Erziehungshindernis hervorgehoben worden. Es wurde die probeweise Entlassung eingeleitet. In einer Beschwerde an das Heim wurde von Rudis Vater allerdings ausgesprochen, was die Erziehungsberichte allenfalls andeuten: Seiner Ansicht nach werde Rudi nicht gegen gewaltsame Übergriffe anderer Jungen aus dem Heim geschützt, obwohl er sich wegen seiner Behinderung kaum wehren könne und darunter seelisch sehr stark leide. Er habe sich von den Erziehern mehr Verständnis erwartet, zumal man seinem Sohn abgesehen von der »krankhaften Anlage […], mit dem Zug herumzufahren, […] nichts zur Last legen [könne]!«73 Diskursive Bausteine für die Verdichtung zur Diagnose des pathologischen Fortlaufens wurden in den Erziehungsberichten also schon bereit gestellt: sein vermeintliches Einzelgängertum, die körperliche Beeinträchtigung (die eine Interpretation nach dem Schema des Weglaufens aufgrund sogenannter motorischer Gehemmtheit ermöglichte), das Schulschwänzen und das Schulversagen sowie das wiederholte Davonlaufen von zu Hause und aus dem Heim, das als Fahrsucht interpretiert wurde. Ausschlaggebend wurde jedoch schließlich die angeforderte psychiatrische Expertise. Denn bald nach seiner probeweisen Entlassung begann Rudi wieder von zu Hause wegzulaufen und verweigerte insbesondere den Schulbesuch. Daher wurde er nun im Dezember 1968 auf der Kinderbeobachtungsstation am Landeskrankenhaus Innsbruck74 untersucht. Aus dem dortigen Gutachten erfahren wir:

69 Führungsbericht, Dezember 1966. 70 Führungsbericht, April 1968. 71 Ebd. 72 Führungsbericht, April 1966. 73 Brief des Vaters an den Heimleiter, Juni 1968. 74 Vgl. zur Geschichte der Institution: Bericht der Medizin-Historischen ExpertInnenkommission, Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl, Innsbruck 2013. Der Bericht ist online verfügbar unter der Adresse https://www.i-med.ac.at/pr /presse/2013/Bericht-Medizin-Historische-ExpertInnenkommission_2013.pdf.

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»Der Bub […] kam im Anschluß an eine Flucht zu uns. Der Vater holte den Buben selber ab […]. Er ist der Meinung […], dass es sich um böse Verleumdungen handle, wenn Rudolf sich über den Vater beklagt. [Seine] Schwester [, die einmal auf Besuch kam,] gab an, daß der Bub schon einen Grund haben müsse, wenn er es daheim nicht aushalte. Bei uns erzählte der Bub nichts über die häuslichen Verhältnisse im Elternhaus, eher machte er nach wie vor den Eindruck eines Wanderlustigen. Er begrüßte den Vater sehr nett und fuhr sichtlich gerne mit ihm nach Hause, wobei der Vater allerdings meinte, es gehe ihm nur um die Bahnfahrt. Daß die Wanderlust aber einen epileptischen Ursprung hat, glauben wir [aufgrund des durchgeführten EEG75] nicht mehr [...]«.76

Das psychiatrische Gutachten sprach einer sozialpsychologischen Deutung, die mögliche Ursachen des Weglaufens in der Beziehung Rudis zu seinen Eltern verortete, kaum Glaubwürdigkeit zu. Somit erscheint das Weglaufen stets als sichtbares Zeichen einer eingetretenen Verwahrlosung, niemals jedoch als legitimer Versuch, die eigene Person zu schützen. Abschließend empfahl das psychiatrische Gutachten, Rudi ein weiteres Jahr im Erziehungsheim Jagdberg unterzubringen. Dies würde sich »selbst dann günstig [auswirken], wenn keine Erfolgsaussichten [gemeint ist ein Erziehungserfolg] mehr bestehen,« denn dort könne die »aufgebaute Disziplinierung [...] soweit stabilisiert werden [...], daß eine Arbeitsunterbringung sinnvoll ist.«77 Daraufhin wurde Rudi im Januar 1969 abermals eingewiesen, entwich aber nun aus dem Heim Jadgberg in kürzester Zeit mehrmals. So schrieb der Gruppenerzieher im abschließenden Führungsbericht über Rudi: »Seit seiner 2. Einweisung ist Rudi sechsmal geflüchtet. Die Fluchten führten ihn nach: Schlins, Feldkirch, Innsbruck, Ravensburg, Heidelberg und Frankfurt am Main. Von der Flucht nach Frankfurt a. Main kehrte er nicht mehr zu uns ins Heim zurück. Die Fluchten führte er per Eisenbahn durch […].«78 Etwas weiter heißt es zur Motivation des Jungen: »Vor allem aber glaubte er andauernd und von Jedem verspottet zu werden. Jedenfalls gab er dies auch jedesmal als Fluchtgrund an. Doch dem war nicht so. Er hat sich versucht in der Gruppe, die sich aus lauter jüngeren zusammenfügt, aufzuspielen. […] Dazu kommt noch der Drang zum Zugfahren.«79 Abschließend stellte der Erzieher fest: »Da er in eine normale Gruppengemeinschaft kaum hineinpasst und seelisch so stark gestört ist, wäre es für Rudi angebracht, psychiatrisch behandelt zu werden.«80 Die Deutung 75 Das Elektroencephalogramm (EEG) ist eine typische Methode zur Feststellung von Epilepsie durch die Messung elektrischer Hirnaktivitäten. 76 Psychiatrisches Gutachten der Kinderbeobachtungsstation, Dezember 1968. 77 Ebd. 78 Führungsbericht, Dezember 1966. 79 Abschließender Führungsbericht, [ohne Datum] 1969. 80 Ebd.



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des Weglaufens als Krankheit und pathologische Veranlagung setzte sich endgültig durch. Die Deutungshoheit lag bei den Heimerziehern, Jugendamtsmitarbeitern und Kinderpsychiatern. Das deviante Verhalten des flüchtenden Rudi galt ihnen schließlich nicht nur als Persönlichkeitsdefizit aufgrund fehlerhafter Sozialisation, welches durch pädagogische Maßnahmen auszugleichen sei, sondern vielmehr als mangelnde Sozialisationsfähigkeit, welche nur mittels medizinisch-therapeutischer Maßnahmen abgemildert werden könne. Nach nur anderthalb Monaten im Heim und sechs Fluchten teilten die Eltern dem Heimleiter im März 1969 mit: »Nun haben wir beschlossen, ihn so bald als möglich nach Wien in die Klinik zu bringen, damit er gründlich untersucht u. endlich das Übel an der Wurzel gepackt wird. Ich hoffe sehr, dass Sie unser Anliegen unterstützen werden, denn so kann es auf die Dauer nicht weiter gehen. Es ist ja krankhaft bei ihm und Strafen nützen da nichts. Er wird die Gelegenheit auszubüchsen, immer wieder wahrnehmen.«81 Die Haltung der Eltern erscheint in Rudis Fall ambivalent. Einerseits gab es Bemühungen, den Sohn zu verteidigen. Andererseits wiesen sie jeden Verdacht über häusliche Missverhältnisse als Ursache des Verhaltens ihres Sohnes zurück, schlossen sich vielmehr im Umgang mit der Jugendwohlfahrt der psychiatrischen Deutung an und veranlassten eine entsprechende Behandlung ihres Sohnes. Somit wurden sie selbst Teil jener Allianz, die zur Einhegung von Rudis jedenfalls unangepasstem Verhalten schon bereitstand. Rudis Schwester gelang es nicht, als Auskunftsperson eine legitime Sprecherposition einzunehmen und eine gegenläufige Interpretation des Weglaufens geltend zu machen.82 Rudi kam in seiner Akte an keiner Stelle selbst zu Wort.

81 Ebd. 82 Die Schwester war aus der Perspektive der Jugendwohlfahrtsvertreter vermutlich diskreditiert, da sie selbst ebenfalls in Fürsorgeerziehung gewesen war. Dies dürfte der psychiatrischen Gutachterin anhand der Zöglings- oder Mündelakte Rudis bekannt gewesen sein, da die Akten bei Fürsorgezöglingen im Zuge der Einweisung eines Kindes an die Kinderbeobachtungsstation übermittelt wurden. Die Angaben zu Rudis Schwester finden sich im Erhebungsbericht der Bezirksfürsorgerin.

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Zur Flucht-Motivation Rudis kann auf Grundlage seiner Akte nichts gesagt werden. Anders bei Berthold:83 Der 13-Jährige, der aufgrund schwieriger Familienverhältnisse seit seinem dritten Lebensjahr fast durchgängig in Erziehungseinrichtungen, zuletzt jedoch bei seinen Eltern untergebracht gewesen war, wurde 1975 in das Erziehungsheim Jagdberg eingewiesen. Bis dahin war Berthold aus keinem Heim geflohen, war jedoch dem Jugendamt als Ausreißer von zu Hause aufgefallen. Berthold setzte das Flüchten gezielt ein, um sich der Heimerziehung am Jagdberg zu entziehen. Bei der polizeilichen Vernehmung im Zuge seiner zweiten Flucht gab er an: »Da ich nicht im Heim sein wollte, hatte ich schon von allem Anfang an den Vorsatz, bei nächster Gelegenheit abzuhauen.«84 Sein Ziel war dabei stets seine Familie, obwohl er einige Konflikte mit den Eltern erwarten konnte. Doch wie tragfähig war das wiederholte Entlaufen als widerständige Handlungsstrategie? Durch seine Fluchten gelang es Berthold, die Geschlossenheit des Erziehungsarrangements der Anstalt zeitweise zu überwinden. In der Folge war es ihm möglich, Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum zu erregen. Berthold handelte dabei so, dass er fast zwangsläufig die der Logik des Fürsorgeerziehungssystems innewohnenden Repressionsmaßnahmen hervorrief. Dies erscheint als Teil einer überlegten Strategie Bertholds, die auf ein sich wandelndes gesellschaftspolitisches Klima gestützt war. Denn immer weniger wurde eine repressive, auf Zwang beruhende Pädagogik als legitim wahrgenommen und die Öffentlichkeit richtete ihre Aufmerksamkeit auf die gewaltvollen und stigmatisierenden Praktiken der Heimerziehung.85 So machte

83 Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes handelt es sich um ein Pseudonym. TLA, Bezirkshauptmannschaft Reutte, Mündelakten, 28/65a. 84 Niederschrift der Bundespolizeidirektion Innsbruck, Juli 1975. 85 Im Rahmen der Heimkampagne, die ab 1969 in Deutschland und Teilen Österreichs auf Missstände in der Heimerziehung hinwies und grundlegende Veränderungen in der Jugendwohlfahrt und Heimerziehung einforderte, waren die Fluchten aus Erziehungsheimen Gegenstand einer besonderen Politisierung. So galten sie als legitimer Widerstandsakt gegen ein autoritäres und die Jugendlichen benachteiligendes Regime der bürgerlichen Klassen. Teilweise wurden die Jugendlichen zur Flucht aus den Erziehungsheimen aufgerufen und flüchtige Heimzöglinge wurden in Wohngemeinschaften aufgenommen und unterstützt. In Tirol befasste sich der Musiker und Schriftsteller Bert Breit als einer der ersten mit der Aufklärung der Missstände in Tiroler Heimen und versuchte mit Bildern und Zeitungsartikeln die Öffentlichkeit über die Erziehungsrealitäten und ihre Fol-



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Berthold in der Öffentlichkeit sehr offensiv deutlich, dass die Heimunterbringung gegen seinen Willen zwangsweise aufrechterhalten wurde: Bei den verschiedenen Rückführungen durch die Gendarmerie oder Heimangestellte machte er durch lautes Schreien und Hilferufe auf sich aufmerksam und drohte damit, sich selbst zu verletzen. Er weigerte sich, freiwillig in die Fahrzeuge einzusteigen, die für den Rücktransport vorgesehen waren. Bei seiner ersten Flucht verletzte sich Berthold am Fuß und entfernte in der Folgezeit wiederholt den Gipsverband, um für seine Fluchten mobil zu sein. Obwohl ihm immer stabilere Verbände angelegt wurden, konnte man nicht verhindern, dass Berthold sich wieder auf den Weg machte. So wurde Berthold schließlich unter die permanente Aufsicht eines Erziehers gestellt. Doch Berthold ließ »sich nicht gefallen, wie ein Hund neben dem Erzieher herlaufen zu müssen.« Am Besuchssonntag schrie er daher »aus Leibeskräften, man möge ihn doch töten, wälzte sich und schlug seinen Kopf öfters auf den Boden und sagte, er werde nun allen erzählen er sei dumm, weil die Erzieher ihn mißhandelt hätten.« Nachdem ihm durch dauerhafte Überwachung der Weg zur Flucht verstellt war, nutzte Berthold also den Moment der Öffnung des Heimes nach außen, um vor Besuchern des Heims den Zwangscharakter seiner Unterbringung zu demonstrieren. Damit drohte Berthold nicht nur, das Ansehen des Heims zu beschädigen. Auch die Wirkung seines Handelns nach innen wurde nun zusehends problematisch für das Heim. Infolgedessen wurde Berthold zur Untersuchung in die Psychiatrie eingewiesen, da er »unter diesen Umständen für eine normale Gemeinschaft [im Heim] nicht mehr tragbar« sei.86 Der Befund des Arztes lautete jedoch nach fast einmonatiger Beobachtung, Berthold sei »nicht geisteskrank«. Vielmehr benehme er sich »ziemlich normal«.87 Nach Auskunft des Psychiaters stellten Bertholds »abnorme Verhaltensweisen im Heim [...] für ihn lediglich ein bewußt eingesetztes Mittel dar, um von dort wegzukommen.«88 Daher helfe bei Berthold »nur ein intensives persönliches Gespräch und wenn nicht, dann [müsse] er eben eingesperrt werden.«89 Somit wurde Berthold zurück in die Hände der Pädagogen überwiesen. Nach seiner Rückkehr in das Landeserziehungsheim Jagdberg floh er sofort wieder mehrmals. Die jeweils folgenden Rückführungen spitzten sich zu: Berthold drohte öffentlich mit Selbstmord, lief in den Straßenverkehr, versuchte sich den Kopf mit einem Stein einzuschlagen, verletzte sich beim Zerschlagen einer Fensterscheibe, um aus dem Fenster ins Freie zu entkommen, und verweigerte nach der Rückführung das Essen. Zunehmend zeigte gen aus der Perspektive der betroffenen Jugendlichen zu informieren. Vgl. Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 248–250. 86 Abschlussbericht der Heimleitung, September 1975. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Ebd.

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sich bei Berthold, dass er die Regeln der Institution bewusst herausforderte – eine Handlungsstrategie, die Goffman als »kompromißlosen Standpunkt«90 bezeichnet hat. Er zog alle ihm verfügbaren Register des »messing-up« – der Techniken der Unbotmäßigkeit und Verweigerung, die durch die Struktur der Anstalt gerahmt werden –, wie ein Bericht des Heimleiters über Bertholds letzte Rückführung nach Jagdberg zeigt: »Kaum hatten sich die Gendarmeriebeamten aus dem Heim entfernt, begann Berthold neuerdings regelrecht zu toben und zu schreien: ›Ich bleibe nicht mehr im Heim, ich hasse diese Räume, ich hasse alle diese scheiß-Heime und diese Schweine von Erziehern; mir ist alles egal; schlagt mich zusammen, ich will nicht mehr leben!‹ […] Als er [daraufhin] in einem improvisierten ›Isolierzimmer‹ eingesperrt wurde, verhielt er sich anfangs ziemlich ruhig. Um ca. 15 Uhr begann er zu poltern und abwechselnd zu singen und zu schreien. Er trieb dies solange, bis man ihn wieder ausließ.«91

Ein Erzieher habe mit Berthold dann ein langes Gespräch geführt, um ihn von der »Notwendigkeit und Nützlichkeit eines Heimaufenthaltes zu überzeugen«.92 Anschließend habe er Berthold frei entscheiden lassen, »ob er hierbleiben oder gehen wolle. Kurze Zeit später war Berthold weg.«93 Wie die spätere polizeiliche Vernehmung Bertholds zeigt, war er hierzu allerdings aus einem Fenster der dritten Etage gesprungen. Die Heimleitung erklärte, es sei »vollkommen sinn- und zwecklos, den Minderjährigen noch einmal zurückzubringen, da er in unserem offen geführten Heim einfach nicht gehalten werden kann.« Das Landesjugendamt bestimmte daher nach insgesamt nur drei Wochen Heimaufenthalt, in denen er achtmal auf die Flucht ging, die probeweise Heimentlassung Bertholds, brachte ihn allerdings nicht zu Hause, sondern bei einer Pflegefamilie unter. Das erfolgreiche renitente Verhalten Bertholds wurde als eine Provokation und Bedrohung der Ordnung des Heims aufgefasst, da es die Grenzen der Macht der Fürsorgeerziehungsinstitutionen offenbarte. Der Heimleiter des Jagdbergs appellierte darum an das Landesjugendamt: »Wo bleibt die geschlossene Einrichtung, die wir so dringend brauchen würden, um unsere ›Dauerflüchtlinge‹ und SchwerstErziehbare, die im Rahmen eines offen geführten Jugendheimes nicht gehalten werden können, einer adäquaten Heil- und Sondererziehung zuzuführen?« Seine Forderung nach einer geschlossenen sonderpädagogischen Abteilung repräsentiert eine in den 1970er Jahren von den Praktikern der Heimerziehung vermehrt hergestellte diskursive Verknüpfung. Sie verband die Vorstellung von den Fluchten als 90 Goffman, Asyle (wie Anm. 2) 59, 66. 91 Abschlussbericht der Heimleitung, September 1975. 92 Ebd. 93 Ebd.



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Risikoprämie für die größere Freiheit, die im Zeichen einer liberaleren Erziehungspolitik den Heimen zu eigen sein sollte, mit der älteren Idee der Bewahrung und Besserung durch Absonderung nun unter dem Dach einer psychologischpädagogisch fundierten Erziehungsideologie. Die Ursachen des Weglaufens blieben in dieser Argumentation beim Individuum verortet. Trotz eines diskursiven Wandels löste sich die Heimerziehung damit nicht von der für totale Institutionen typischen Logik, deviantes Verhalten dem Individuum als inhärentes, fehlerhaftes Charaktermerkmal zuzuschreiben, statt dieses Verhalten als ein Ausdruck des Handelns in Reaktion auf die Bedingungen der Institution zu interpretieren.94 Dies geschah trotz vorliegender zeitgenössischer Forschungsergebnisse, die zu der Erkenntnis kamen, »daß die wesentlichen Bedingungen für die Entweichungen aus dem Heimen nicht so sehr bei den Zöglingen liegen, sondern vielmehr in den Verhältnissen, die wir ihnen in den Heimen bieten.«95 Das Bubenheim in Kleinvolderberg erhielt 1980 eine solche Therapiestation unter der Leitung eines fest angestellten Psychologen, während die anderen Heime der Region auf ambulant tätige Psychologen zurückgriffen, welche die Heime regelmäßig aufsuchten. Diese geschlossene Station diente ausschließlich zur Aufnahme der Dauerflüchter, um diese durch eine Therapie für die eigentliche Erziehungsarbeit zugänglich – d.h. ohne Fluchten im Heim verbleibend – zu machen. Kritiker monierten zu Recht, dass diese Therapiestation sowohl räumlich als auch historisch zur Gänze an die vorherigen Karzer anschließe, und betonten den weiterbestehenden Straf-, Abschreckungs- und Zwangscharakter der Einrichtung.96 Berthold, dessen Geschichte sich genau an diesem Wendepunkt in der Diskursivierung der Heimfluchten ereignete, war mit seiner widerständigen Handlungsstrategie nur begrenzt erfolgreich, gerade weil in dieser Zeit das pädagogische Paradigma erstarkte und zu einer Entgrenzung des Erziehungsanspruchs führte. Bei seiner Pflegefamilie blieb Berthold nur kurze Zeit. Im Winter 1975/76 wurde er in drei verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen untersucht: An der Kinderbeobachtungsstation am Landeskrankenhaus Innsbruck, in der Universitäts-Kinderklinik Wien sowie im Landesnervenkrankenhaus Hall in Tirol. Auch von dort lief Berthold mehrfach davon, um sich zu seiner Familie zu begeben. Nun wurde zwar diagnostiziert, Berthold sei ein »jugendlicher Psychopath mit Erethismus«.97 Dies führte 94 Goffman, Asyle (wie Anm. 2) 59, 78. 95 Bronislav Skabernè, Entweichungen aus Erziehungsheimen. Forschungsbericht des Instituts für Kriminologie der Universität Ljubljana, 11, in: TLA, ATLR, Abt. Vb, 471 h. 96 Ralser u.a., System der Fürsorgeerziehung (wie Anm. 6) 488 f; vgl auch Guerrini in diesem Band. 97 Gerichtliche Anordnung der Fürsorgeerziehung Juli 1976. In der Neurologie bezeichnet Erethismus »krankhaft gesteigerte Erregbarkeit, ruhelose[n] Bewegungsdrang«, als verwandt betrachtet wird die Hyperkinese, d.h. »übermäßige Bewegungsaktivität [oder] see-

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jedoch nicht zum Ausschluss Bertholds aus der Fürsorgeerziehung, sondern zu einer weiteren Heimeinweisung im Sommer 1976, diesmal in das Tiroler Landeserziehungsheim in Kleinvolderberg. Möglicherweise wurden hier Chancen der erzieherischen Einwirkung gesehen, da dieses Heim seit einiger Zeit von einem Psychologen geleitet wurde. Der erste Erziehungsbericht hielt fest, die Unterbringung Bertholds in Kleinvolderberg sei ein bewusster »letzter Versuch« auf diesen »schwer verwahrlosten Jugendlichen« einzuwirken, der »gemäß [der psychiatrischen] Fachgutachten […] als nicht mehr erziehungsfähig beschrieben und eine kriminelle Entwicklung als gegeben angenommen«98 werde. Gleichwohl schien Berthold sich zunächst in den weiteren Heimaufenthalt zu fügen. So heißt es weiter, er zeige »positive Ansatzpunkte« und verhalte sich »bisher nicht wie ein Dauerflüchter«. Doch je länger der Heimaufenthalt andauerte, desto öfter griff Berthold zu seiner alten Strategie des Weglaufens. Bis zum Ende des Jahres 1977 begab er sich fünf Mal unerlaubt von Kleinvolderberg zu seiner Familie. Dabei beging er – wie bereits bei seinen früheren Fluchten – eine Reihe der typischen Delikte, die sich als logische Folgen der Flucht erweisen, um besonders seine Verpflegung, Bekleidung und Beförderung sicherzustellen. Dies schien die Diagnose eines »besonderen Grads der Gestörtheit«99 und die prognostischen Vorhersagen der Gutachten zu bestätigen. In Anbetracht der Strukturierung der Handlungsoptionen durch das Fürsorgeerziehungssystem wurde hier jedoch der Effekt der self fulfilling prophecy100 wirksam – und brachte Berthold in eine aus seiner Sicht ausweglose Situation. Eine baldige Entlassung war nicht abzusehen und rückte mit jeder Flucht weiter in die Ferne. Hinzu kam seine inzwischen erreichte Strafmündigkeit, die die Kosten von Bertholds widerständigem Verhalten erhöhte.101 Bis zur Volljährigkeit, dem quasi natürlichen Ende der Fürsorgeerziehung, verblieb allerdings noch eine lange Zeit. So entschloss sich der nun 15-jährige Berthold zu einer drastischen Auflösung der Situation. Ende 1977 flüchtete er abermals aus dem Heim und begab sich zu seiner Familie, denn »er wolle nie

lisch bedingte Bewegungsunruhe« bei Kindern. Vgl. hierzu online: http://www.gesund heit.de/lexika/medizin-lexikon/erethismus, 12.2.2016. 98 Führungsbericht, September 1976. 99 Ebd. 100 Vgl. Robert K. Merton, The Self Fulfilling Prophecy, in: Antioch Review 2 (1948) 193– 210, hier 195: »The self-fulfilling prophecy is, in the beginning, a false definition of the situation evoking a new behavior which makes the original false conception come true. This specious validity of the self-fulfilling prophecy perpetuates a reign of error. For the prophet will cite the actual course of events as proof that he was right from the very beginning.« 101 Wegen der Delikte auf seinen Fluchten erhielt er eine Bewährungsstrafe.



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mehr in das Heim zurückkehren.«102 Mehrmals entging er der Festnahme durch die Gendarmerie, indem er sich bei deren Ankunft in einen nahen Wald flüchtete. Schließlich setzte ihn seine Familie, die sich der strafrechtlichen Androhungen bei Fluchthilfe sicher bewusst war, in den Zug, damit er sich freiwillig nach Kleinvolderberg zurück begäbe. Doch Berthold kam nie dort an: Er zog es vor, seinem Leben ein Ende zu setzen. Damit griff er zur offenbar einzigen verbliebenen Möglichkeit, sein Ziel unmittelbar zu erreichen, und überschritt eine weitere, letzte Grenze – die Grenze zwischen Leben und Tod.

F AZIT Die Entweicher, Ausreißer, Durchgeher und Dauerflüchter – sie alle sind Varianten der Figur des enfant vagabond, die – am Kreuzungspunkt von Nichtsesshaftigkeitsund Verwahrlosungsdispositivs gelegen – besondere Wirkmächtigkeit in der Fürsorgeerziehung entfaltete. Es wurde gezeigt, dass das Weglaufen aus dem Erziehungsheim in Kombination mit dem Weglaufen von zu Hause als Ausdruck besonderer, nämlich pathologischer Unstetigkeit interpretiert wurde. Soziale Ursachen vermochten sich bis in die 1980er Jahre nicht als Erklärungsmuster durchzusetzen. Trotz eines Wandels im Diskurs – so wurde aus dem enfant vagabond in einer Neuauflage des Buchs von Guy Néron im Jahr 1968 das enfant fugueur, aus den Entweichern wurden die Dauerflüchter – und trotz eines Wandels in den Umgangsformen – statt mit Strafe und Abschreckung sollte nun mit Therapie verfahren werden – zielten alle Maßnahmen im Kern weiterhin auf eine Absonderung der Unruhestifter innerhalb des Heims, auf den Ausschluss der Öffentlichkeit aus dem Erziehungsgeschehen und auf die Aufrechterhaltung der Ordnung im Heim, was als Schutz der Gemeinschaft deklariert wurde. Hier sind Anschlussstellen an das Normalismuskonzept von Jürgen Link zu finden, der für die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert eine Verschiebung von überwiegend protonormalistischen, d.h. disziplinierenden hin zu mehr flexibelnormalistischen, d.h. auf die Selbstadjustierung der Subjekte gerichteten Strategien beschrieben hat, wobei betont wird, dass beide in einer unauflösbaren Interdependenz stehen.103 So repräsentiert Rudi erstere Strategie und musste dieser Logik folgend aufgrund seiner Nichtanpassung aus dem Heim ausgeschlossen und einer Institution zur Behandlung der Anormalen – der Psychiatrie – überwiesen werden. Bei Berthold hingegen deutete sich bereits an, dass letztere Strategie in den Vordergrund 102 Bericht der Kriminalpolizei an die Staatsanwaltschaft, Dezember 1977. 103 Vgl. Ute Weinmann, Normalität und Behindertenpädagogik. Historisch und normalismustheoretisch rekonstruiert am Beispiel repräsentativer Werke, Wiesbaden 2013, 49, 53 f.

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tritt. Hier reklamierten die in den Erziehungsheimen tätigen Sonderpädagogen gesteigerte Kompetenzen und Zuständigkeiten. Demgemäß wirkten sie auf eine Erweiterung des Anstaltsraums um einen therapeutischen Raum hin, der insbesondere für Kinder und Jugendliche wie Berthold im Heim zur Verfügung stehen sollte. Die Verschiebung von der Strafkultur zur Therapiekultur in Bezug auf die Heimfluchten wird dabei auch im Mittel der Fluchtberichte deutlich, mithilfe derer die Normalitätsanforderungen verinnerlicht werden sollten. Dabei erfolgte ein besonderer Zugriff auf die Körper der Kinder und Jugendlichen, die an dem durch das Jugendfürsorgeregime bestimmten normalen Ort – dem Heim im doppelten Sinn von zu Hause und Erziehungsanstalt – verstetigt und der pädagogischen Formung zugänglich gemacht werden sollten. Die Anstalt als spezifischer Erziehungsraum etablierte dabei nicht nur materielle Grenzen zwischen dem Innen des Heims (dem zugewiesenen Raum) und dem Außen (dem verwehrten Raum), sondern auch soziale Grenzen: Heimkind zu sein – besonders in den hier vorgestellten Erziehungsheimen für sogenannte Schwererziehbare – hatte einen deutlich stigmatisierenden Effekt für das Leben außerhalb der Heime. Teilweise wurde diese Stigmatisierung auch durch das Fürsorgeerziehungssystem forciert, indem etwa eine bestimmte Kleiderordnung herrschte, und wirkte darüber hinaus im täglichen Erziehungsalltag selbst, wie anhand der oftmals abwertenden Sprache der Erziehungsberichte beispielhaft deutlich gemacht werden konnte. Diejenigen, welche sich durch Fluchtverhalten als widerständig gegen die Anforderungen des Heims zeigten, gerieten durch das Weglaufen in eine besonders marginalisierte und zugleich subversive Position des Grenzverletzers.104 Diese von Horn / Kaufmann / Bröckling als Dialektik des Grenzverletzers bezeichnete Ambivalenz, welche die Infragestellung der durch eine (soziale oder politische) Ordnung konstituierten Grenze und zugleich eine Verstärkung bzw. Verfeinerung der Befestigungsmechanismen sowie eine Aktualisierung der Legitimität dieses Grenzregimes beinhaltet, bestätigt sich am Beispiel der enfants vagabonds in exemplarischer Weise.

104 So heißt es bei Horn / Kaufmann / Bröckling: »Jedes Grenzregime und jede KontrollTechnologie findet ihre Grenzverletzer, jene Figuren, die nicht nur die Lücken in der Demarkationslinie entdecken und nutzen, sondern auch die Techniken der Überwachung für einen entscheidenden Moment außer Kraft setzten können. […] Man mag es die Dialektik des Grenzverletzers nennen, daß seine Überschreitung das Gesetz nicht nur in Frage stellt, sondern auch affirmiert. […] Jenseits von allem Funktionalismus der Macht ist der Grenzverletzer unverzichtbar als imaginärer Feind, dessen Bekämpfung die Ordnung sichtbar hält«. Eva Horn / Stefan Kaufmann / Ulrich Bröckling (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, 8 f.

III Zwischenräume

Von Räumen und Klüften der Bildung Wilhelm von Humboldts anthropologische Erkundungen in Spanien und im Baskenland R UPRECHT M ATTIG

I Während die Bildungsvorstellungen Wilhelm von Humboldts in der Erziehungswissenschaft noch vor einem halben Jahrhundert mit Skepsis gesehen wurden, wird seit einiger Zeit ihre Anschlussfähigkeit und Aktualität auch für heutige erziehungswissenschaftliche Fragen und Forschungen betont.1 Im Laufe der Zeit hat sich die In-

1

Aus der Menge an aktuellen erziehungswissenschaftlichen Schriften, in denen Humboldts Theorien ein wichtiger Bezugspunkt sind, seien hier herausgegriffen: Dieter Lenzen, Bildung statt Bologna, Berlin 2014; Hans-Christoph Koller, Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft, Eine Einführung, Stuttgart, 6. Aufl., 2012; HansPeter Gerstner / Martin Wetz, Einführung in die Theorie der Schule, Darmstadt 2008; Christoph Wulf, Einführung in die Anthropologie der Erziehung, Weinheim / Basel 2001; Andreas Dörpinghaus / Andreas Poenitsch / Lothar Wigger, Einführung in die Theorie der Bildung, Darmstadt 2006; Gymnasiale Bildung zwischen Kompetenzorientierung und Kulturarbeit, hg. von Dorit Bosse, Wiesbaden 2009; Cornelie Dietrich, Zur Sprache kommen, Sprechgestik in jugendlichen Bildungsprozessen in und außerhalb der Schule, Weinheim / München 2010; Hans-Josef Wagner, Die Aktualität der strukturalen Bildungstheorie Humboldts, Weinheim 1995; Atanur Kara, Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wirksamkeit der Bildungstheorien Wilhelm von Humboldts im internationalen und insb. türkischen Kontext, Hamburg 2014. Auch in der Sprachforschung wird die bildungstheoretische Bedeutung der Überlegungen Humboldts herausgestellt. Vgl. Jürgen Trabant, Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen, München 2014.

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terpretation dabei geradezu ins Gegenteil verkehrt. So befindet beispielsweise Roth in den 1960er Jahren, dass in Humboldts Bildungsidee »ohne Zweifel […] der Gedanke einer Geisteselite und Geistesaristokratie« zu sehen sei, »der heute fast rührend anmutet«;2 im Jahr 1990 stellt dagegen Benner in einer umfassenden und bis heute Standards setzenden Monographie heraus, dass die Bildungstheorie Humboldts einen liberal-humanistischen Impetus habe, der auf die »Überwindung der Ständegesellschaft«3 abziele. Der vorliegende Aufsatz vertritt die These, dass neue Aufschlüsse über diese sozialpolitische Dimension in Humboldts Bildungsidee erarbeitet werden können, wenn nach dem Zusammenhang von Bildung und Raum bei Humboldt gefragt wird. Dafür wird eine in der erziehungswissenschaftlichen Humboldt-Rezeption bislang kaum erprobte Perspektive eingenommen, aus der Humboldt nicht nur als Theoretiker, sondern auch als empirischer Erforscher der Bildung erscheint. In den Mittelpunkt der Betrachtungen werden Humboldts Berichte über seine Reisen nach Spanien und ins Baskenland gestellt, die in der Erziehungswissenschaft bis heute kaum Beachtung finden.4 Dabei wird gezeigt, dass Humboldt in diesen Ländern erstens gezielt und theoriegeleitet Bildung untersucht, dass dabei zweitens der Zusammenhang von Bildung und Raum eine wichtige Rolle spielt und dass Humboldt drittens zu neuen bildungstheoretischen Einsichten gelangt, die nicht nur Spanien und das Baskenland, sondern im Rückschluss auch sein Heimatland betreffen: Im Vergleich mit diesen Ländern wird ihm klar, wie groß in Deutschland die, wie er sagt, »Scheidewand« oder »Kluft« zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ist und wie abträglich sich diese Kluft auf die gesamte Bildung in Deutschland auswirkt. Die Pointe liegt dabei darin, dass Humboldt diese Kluft in räumlicher Hinsicht problematisiert, nicht aber in Bezug auf soziale Unterschiede generell, wie es in heutigen sozialpolitischen Debatten üblich ist. 2

Heinrich Roth, Pädagogische Anthropologie, Bd. 1, Bildsamkeit und Bestimmung, Hannover, 3. Aufl., 1971, 293.

3

Dietrich Benner, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, Weinheim / München 1990, 203.

4

Als Arbeiten, die sich dezidiert mit Humboldts Reisebeschreibungen auseinandersetzen, lassen sich nennen: Klaus Giel, Aufklärung und Volkskultur, Der Beitrag Wilhelm von Humboldts zum Diskurs der Moderne, in: Sprache und Bildung, hg. von Rudolf Hoberg, Darmstadt 1987, 257–292 und Ruprecht Mattig, Wilhelm von Humboldts »Die Vasken«. Anmerkungen zu Theorie, Methode und Ergebnissen eines Klassikers kulturanthropologischer Bildungsforschung, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15/4 (2012) 807– 827. Ernst Benz, Geist und Landschaft, Stuttgart 1972, 45 ff. thematisiert die Bedeutung des Raumes in Humboldts Reisebeschreibung Der Montserrat bei Barcelona, lässt dabei aber das bildungstheoretische Fundament, auf dem dieser Text steht, außer Acht.



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Humboldt lebt in einer Zeit großer sozialer Veränderungen. Er wird Augenzeuge der französischen Revolution und lässt sich selbst als Vertreter des Bildungsbürgertums oder, wie es damals heißt, der »gebildeten Stände« ansehen, einer eher heterogenen sozialen Gruppierung, die während des 18. Jahrhunderts zunehmend an gesellschaftlicher und politischer Bedeutung gewinnt.5 Die Beamten, Hauslehrer, Professoren und freien Künstler, die zu den »gebildeten Ständen« gezählt werden, orientieren sich an aufklärerischen und humanistischen Ideen und vertreten den Anspruch, dass nicht mehr Herkunft und Besitz, sondern Bildung als Legitimation für politische und gesellschaftliche Rollen dienen soll. Sie entwickeln neue Formen der sozialen Praxis, in denen Wissenschaft, Literatur, Kunst und Musik eine zentrale Rolle spielen. So entstehen z.B. Lesegesellschaften, die sich der Diskussion der Ideen liberaler Politik und umfassender Menschenbildung widmen. Auch Reisen und fremde Nationen sind ein wichtiges Thema der bürgerlichen Zirkel. Im Jahr 1798, kurz vor Humboldts Spanienreise, wird Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht veröffentlicht, die ein Kapitel über die nationalen Charaktere der Franzosen, Engländer, Spanier, Italiener und Deutschen enthält.6 Durch Spanien schmuggelt Humboldt ein Exemplar von Rousseaus 1762 veröffentlichtem Erziehungsroman Emile, in dem ein ganzes Kapitel der Bedeutung des Reisens gewidmet ist.7 Rousseau ist der Auffassung, dass jede Nation einen eigenen Charakter hat, der durch induktives Schlussfolgern gefunden werden kann: »Wer zehn Franzosen gesehen hat, hat alle Franzosen gesehen«,8 so Rousseaus Formel. Rousseau stellt auch Überlegungen über den Zusammenhang von Nationalcharakter und Raum an, wenn er ausführt, dass die verschiedenen nationalen Charaktere sich auf dem abgeschiedenen Land am besten erhalten hätten, während sie sich ansonsten zunehmend vermischten. Seinem Zögling Emile soll das Reisen vor allem deshalb eine Bildungserfahrung ermöglichen, weil Emile in den verschiedenen Ländern neue Einsichten in politische Zusammenhänge und letztlich in den Gesellschaftsvertrag gewinnen könne. Die »gebildeten Stände« verbinden mit dem Begriff der Nation die politische Hoffnung, die feudalistisch verfasste Kleinstaaterei hinter sich

5

Zum Folgenden vgl. Hans Erich Bödeker, Die »gebildeten Stände« im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert: Zugehörigkeit und Abgrenzungen, Mentalitäten und Handlungspotentiale, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, hg. von Jürgen Kocka, Stuttgart 1989, 21–52.

6

Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. von Reinhard Brandt, Hamburg 2000, 243 ff.

7

Dass er das Buch schmuggelt und auch ziemlich erleichtert ist, dass es nicht entdeckt wird, geht hervor aus: Albert Leitzmann, Wilhelm von Humboldts Tagebücher, Bd. 2, Berlin 1918, 138.

8

Jean-Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung, Stuttgart 2006, 900.

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zu lassen und die Nation als eine neue, auf einer gemeinsamen Kultur und Sprache sowie einer freiheitlichen Verfassung basierende Gesellschaftsform zu schaffen. In der Forschung über das Bildungsbürgertum wird allerdings herausgestellt, dass die gebildeten Stände sich zwar einerseits an politischer Emanzipation durch Bildung orientieren, dass ihnen ihre Bildung andererseits aber auch zunehmend dazu dient, sich gegen das einfache Volk abzugrenzen und ihre erkämpften gesellschaftlichen Privilegien durch diese »Bildungsbarriere«9 abzusichern. Vor diesem sozial- und geistesgeschichtlichen Hintergrund wird im Folgenden untersucht, wie Humboldt, der regen Anteil am intellektuellen Leben seiner Zeit nimmt und im Austausch mit vielen der bedeutendsten Denker steht, zu dem Verhältnis von Volk und Gebildeten steht. Humboldt reist von September 1799 bis April 1800 mit seiner Familie durch Spanien und fährt dann im Jahr 1801 noch einmal für zwei Monate ins Baskenland, welches er schon auf der Spanienreise kurz kennengelernt hat. Seine vielfältigen Beobachtungen hält er in Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Beschreibungen fest. Es entstehen Texte wie Der Montserrat bei Barcelona,10 Über das antike Theater in Sagunt11 oder Die Vasken.12 Die meisten dieser Texte verzichten auf methodologische oder konzeptionelle Reflexionen, so dass im Folgenden in einem ersten Schritt Humboldts Forschungskonzept, gleichsam der suchende Blick, mit dem er auf Reisen geht, unter Rückgriff auf Schriften, die vor den Reisen entstanden sind, herausgearbeitet wird. Anschließend werden seine Beobachtungen und Reflexionen aus Spanien, danach diejenigen aus dem Baskenland betrachtet, um sowohl seine reservierte Haltung gegenüber der Bildung in Spanien als auch seine Begeisterung für die baskische Bildung aufzeigen und da-

9

Hans-Ulrich Wehler, Deutsches Bildungsbürgertum in vergleichender Perspektive – Elemente eines »Sonderwegs«?, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert Teil, IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, hg. von Jürgen Kocka, Stuttgart 1989, 215–237, vgl. insb. 223.

10 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904, 30–59. 11 Wilhelm von Humboldt, Über das antike Theater in Sagunt, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904, 60–113. 12 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken, oder Bemerkungen auf einer Reise durch Biscaya und das französische Basquenland im Frühling des Jahrs 1801, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 13, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1920, 1–195.



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bei außerdem die Entwicklung seiner bildungstheoretischen Erkenntnisse rekonstruieren zu können.13 Noch zwei Vorbemerkungen in methodischer Hinsicht: Der Begriff des Raumes selbst hat in Humboldts Forschungskonzept keine besondere Bedeutung. Er wird hier in einem heuristischen Sinne verwendet, der geographische, landschaftliche, architektonische und sozialstrukturelle Gegebenheiten umfasst. Am ehesten kommt diesem Verständnis Humboldts Begriff der Lage nahe, wie gezeigt werden wird. Weiterhin wird bei der Rekonstruktion der Humboldt’schen Forschungen die Frage nach der Gültigkeit seiner Aussagen, insbesondere in Bezug auf die Charaktere der Spanier und der Basken, ausgeklammert.

II In seinem Bericht über den Montserrat schreibt Humboldt über den Zweck seiner Reise: »Mir von fremdartiger Eigenthümlichkeit einen anschaulichen Begriff zu verschaffen, war, was ich vorzüglich bei meinem Reisen beabsichtigte.«14 In diesem Satz sind weitreichende anthropologische und bildungstheoretische Vorüberlegungen impliziert. So verfolgt Humboldt schon in seinen ersten Schriften den Plan, eine Anthropologie zu entwickeln, die dazu dienen soll, »die Eigenthümlichkeiten des moralischen Charakters der verschiedenen Menschengattungen neben einander aufstellen und vergleichend beurtheilen«15 zu können. Ziel seiner anthropologischen Forschungen soll es sein, menschliche Charaktere empirisch zu erfassen, ihre bisherige Entwicklung nachzuzeichnen und zu überlegen, wie sie so gefördert werden können, dass sie ihre individuellen Fähigkeiten so hoch wie möglich entfalten. Der Charakterbegriff bezieht sich dabei, wie im damaligen Diskurs üblich, nicht nur auf Einzelmenschen, sondern eben auch auf »Gattungen«, wobei damit so Unterschiedliches wie z.B. die Geschlechter, die Zeitalter oder auch die Völker und Nationen gemeint sein kann. Jede Nation hat demnach, genau wie jeder einzelne 13 Die Reisen nach Spanien und ins Baskenland sind freilich nicht Humboldts erster Kontakt mit dem Ausland. Er reist schon während der französischen Revolution nach Frankreich, und im Jahr 1798 zieht er mit seiner Frau und den drei bis dahin geborenen Kindern nach Paris. Wenn im Folgenden nur die Spanien- und die Baskenreise betrachtet werden, dann deshalb, weil darin nicht nur der Zusammenhang von Bildung und Raum besonders markant herauskommt, sondern auch, weil Humboldt hier beginnt, über die räumliche Kluft zwischen Volk und Gebildeten in Deutschland nachzudenken. 14 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 30. 15 Wilhelm von Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903, 377–410, vgl. insb. 378.

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Mensch oder die beiden Geschlechter, einen individuellen Charakter, den es zu bilden gelte. Humboldt geht es damit grundlegend um die Entfaltung der Vielfalt individueller Anlagen, womit er sich gegen eine seiner Auffassung nach allzu verbreitete Haltung seiner Zeit wendet, die »gern alle Völker in Eine Form giessen und die Weiber zu Männern umschaffen möchte«.16 Da der Charakter »das ursprüngliche Ich, die mit dem Leben zugleich gegebne Persönlichkeit«17 ist und auf Freiheit beruht, ist Freiheit auch die wichtigste Bedingung dafür, dass Charaktere ihre eigentümliche Individualität voll ausbilden können. Schon hier wird klar, dass Bildung in Humboldts anthropologischem Konzept eine fundamentale Rolle spielt. Der Mensch ist demnach ein auf Bildung ausgerichtetes Lebewesen, Bildung ist für Humboldt der »lezte Zwek jedes Menschen«.18 Sie sollte nicht nur zu besonderen Zeiten und in besonderen Institutionen stattfinden, sondern immer, wenn Menschen mit Menschen oder mit »der Welt« interagieren, wenn also »Wechselwirkungen« stattfinden: »So wie jeder Mensch neben allem, was er noch sonst seyn kann, zugleich immer noch Mensch ist, so hat er auch die Obliegenheit auf sich, neben allen Geschäften, die er sonst immer betreiben mag, zugleich auf die intellectuelle und moralische Bildung seiner und andrer praktische Rücksicht zu nehmen«.19 Allerdings sieht Humboldt, dass die empirischen Menschen oft aus weit geringeren Beweggründen miteinander umgehen und dabei sogar unter Einsatz von Zwang oder auch Gewalt aufeinander einwirken, so dass sie ihre Individualität gerade nicht frei entfalten können. Gerade bei den gesellschaftlich-politischen Zuständen seiner Zeit sieht Humboldt, wie eng Freiheit und Unfreiheit miteinander verknüpft sind. Ein Kennzeichen des Feudalismus sei, dass »niemand selbst frei sein« kann, »der nicht zugleich Unterdrükker der Freiheit der andren«20 ist. Freie Bildung, so die Schlussfolgerung, bedarf deshalb auch sozialer und politischer Strukturen, die sie erst ermöglichen. Weiterhin geht Humboldt davon aus, dass jeder Charakter seine individuelle Gestalt dadurch erhält, dass eine Reihe verschiedener »Kräfte« in ihm in einer je 16 Wilhelm von Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904, 1–112, vgl. insb. 100. 17 Wilhelm von Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert (wie Anm. 16) 90. 18 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903, 97–254, vgl. insb. 246. 19 Wilhelm von Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie (wie Anm. 15) 380. 20 Wilhelm von Humboldt, Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlaßt, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903, 82.



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spezifischen Konfiguration angelegt sind. Diese Kräfte nennt Humboldt (nicht immer der gleichen Systematik folgend) die »Lebhaftigkeit der Sinnlichkeit«, das »Feuer der Einbildungskraft«, die »Wärme des moralischen Gefühls«, die »Stärke des Willens« und die »Kraft der prüfenden Vernunft«.21 In jedem Charakter sind bestimmte dieser Kräfte besonders stark, andere weniger stark ausgeprägt. So gibt es z.B. den »kalten, bloss nachdenkenden Mensch« im Gegensatz zu dem Menschen, in dem »die Fähigkeit zu empfinden sehr stark ist«.22 Die Idee der Menschenbildung umfasst demzufolge die doppelte Aufgabe, dass jeder Charakter auf der einen Seite alle seine allgemein-menschlichen Kräfte und gleichzeitig seine Individualität so hoch wie möglich entfalten soll. Als weitere Bedingung für eine gelingende Bildung setzt Humboldt neben die Freiheit noch die »Mannigfaltigkeit der Situationen«,23 denn nur durch vielfältige Wechselwirkungen mit der sozialen und materialen Welt ist es seiner Auffassung nach zu gewährleisten, dass nicht nur einzelne Kräfte, sondern möglichst viele angeregt werden. Gleichzeitig erkennt er allerdings, dass die empirischen Menschen immer in spezifischen »Lagen«, also in bestimmten sozialen, politischen, historischen und physisch-materiellen Umständen leben, welche, genau wie auch die Charaktere selbst, wiederum spezifische Eigenschaften aufweisen. Diese Einseitigkeit der jeweiligen Lage wirkt wiederum auf den Charakter ein, der in ihr lebt. Dementsprechend ist Humboldts Bildungsdenken von folgender Grundspannung geprägt: Zum einen sollen alle Charaktere sich so frei und weit wie möglich entfalten, zum anderen sind sie in je spezifische, die potenzielle Mannigfaltigkeit der Welt in bestimmter Weise eingrenzende Lagen eingebettet, welche ihnen ihrerseits ihre Eigentümlichkeiten aufdrücken.24 Mehr noch, die körperlich-sinnlichen Kräfte des Menschen »streben« Humboldt zufolge von sich aus danach, sich das Äußere anzueignen, »alles zu assimiliren, alles in Habitus und Natur zu verwandeln«.25 Eine Anthropologie, die die verschiedenen Charaktere zu erfassen sucht, muss also der Tatsache, dass individuelle Charaktere in spezifischen Umgebungen leben, Rechnung tragen. Im Bericht über den Montserrat heißt es dementsprechend: »Denn darauf gerade kommt es an, jede Sache in ihrer Heimath zu erblicken, jeden Gegenstand in Verbindung mit den andern, die ihn zugleich halten und be-

21 Wilhelm von Humboldt, Über Religion, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903, 45–76, vgl. insb. 61. 22 Wilhelm von Humboldt, Über Religion (wie Anm. 21) 68. 23 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch (wie Anm. 18) 106. 24 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie (wie Anm. 15) 380. 25 Wilhelm von Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie (wie Anm. 15) 399.

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schränken«.26 Hier deutet sich bereits auf der konzeptionellen Ebene an, wie wichtig der Raum in Humboldts anthropologischer Erforschung der Charaktere und ihrer Bildung ist: Ihm geht es darum, »den Menschen in seiner grössesten Mannigfaltigkeit, und in dieser lebendig und wahr zu sehen« und dabei zu erfassen, was einerseits die »Gestalten der Natur« wirken und wozu andererseits die »Gestalten der Menschheit« sich »ausbilden können«.27 Nun geht Humboldt weiterhin davon aus, dass die unterschiedlichen Kräfte des Menschen keinesfalls in einem konfliktfreien Verhältnis zueinander stehen, sondern oft gleichsam in unterschiedliche Richtungen streben. Insbesondere die sinnlichen und die geistigen Kräfte sind seiner Auffassung nach nur schwer miteinander in Einklang zu bringen. Dementsprechend zielt sein bildungstheoretisches Denken auf die Frage nach dem richtigen Verhältnis der verschiedenen Kräfte zueinander ab. In seiner Schrift Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen von 1792 heißt es über die sinnlichen und die geistigen Kräfte: »Ewiges Streben, beide dergestalt zu vereinen, dass jede so wenig als möglich der andren raube, schien mir immer das wahre Ziel des menschlichen Weisen«.28 Die ästhetischen und moralischen Kräfte sieht er nun gleichsam als Vermittler zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen, denn die Einbildungskraft macht es möglich, »sinnliche Vorstellungen mit aussersinnlichen Ideen zu verknüpfen«,29 und die Moral hat die Aufgabe, das richtige »Verhältniss« zu bestimmen, »welches diese beiden Seiten gegen einander haben müssen«.30 Indem Humboldt sein anthropologisches Projekt auf den moralischen Charakter der Menschengattungen richtet, fragt er also danach, wie hoch ein Charakter seine verschiedenen Kräfte entfaltet hat und in welchem Verhältnis sie dabei zueinander stehen. Diese Frage nach dem Verhältnis der Kräfte zueinander steht insofern in Verbindung mit der Spannung zwischen der möglichst freien Entfaltung eines Charakters auf der einen und seiner spezifischen Lage auf der anderen Seite, als die sinnlich-körperlichen Kräfte eng an die Umwelt gebunden sind, während die Bildung der geistigen Kräfte unabhängiger vom Raum ist. So lässt sich z.B. über Kants Philosophie nicht nur in Deutschland, sondern, wie Humboldt es vor seiner Spanienreise ausgiebig in Paris tut, auch in Frankreich diskutieren. Schon dabei allerdings bemerkt Humboldt, dass seine französischen Gesprächspartner Kant auf andere Weise interpretieren, als er es aus Deutschland kennt. Er hat den Eindruck, dass die Franzosen und er »immer in zwei verschiednen Welten«31 sind, was er in ver26 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 32. 27 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 32. 28 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch (wie Anm. 18) 169. 29 Wilhelm von Humboldt, Über Religion (wie Anm. 21) 56. 30 Wilhelm von Humboldt, Über Religion (wie Anm. 21) 57. 31 Albert Leitzmann, Wilhelm von Humboldts Tagebücher, Bd. 1, Berlin 1916, 486.



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einzelten Reflexionen auch mit dem französischen Nationalcharakter in Verbindung bringt.32 Sinnliche und geistige Bildung haben in räumlicher Hinsicht also zwar unterschiedliche Reichweiten, es stellt sich für Humboldt aber die Frage, inwieweit die eine Bildung mit der anderen verknüpft ist. Die Frage nach dem proportionierlichen Verhältnis von Sinnlichem und Geistigem hat in erkenntnistheoretischer Hinsicht auch Konsequenzen für die anthropologische Forschung selbst. Humboldt ist der Auffassung, dass Wissen nicht allein philosophisch-spekulativ, also mit Hilfe der rein geistigen Kräfte, gewonnen werden darf, sondern dass es auch der empirischen, auf sinnlicher Erfahrung basierenden Erkenntnis bedarf. Erst wenn beide Erkenntnisweisen ineinandergreifen, wird die Forschung für ihn fruchtbar. Im Text über den Montserrat unterscheidet Humboldt dementsprechend zwischen zwei Arten des Wissens über fremde Länder: »Um das Ausland wissenschaftlich zu kennen«, so Humboldt, »ist es nur selten nöthig, es selbst zu besuchen«.33 Über Bücher und Briefwechsel könne solche »wissenschaftliche« Kenntnis viel zuverlässiger erlangt werden als durch »eignes Einholen immer unvollständiger und selten zuverlässiger Nachrichten.«34 Doch auch wenn das »eigne Einholen« von Wissen der Zuverlässigkeit ermangele, so habe es doch gegenüber dem aus Büchern gewonnenen Wissen einen entscheidenden Vorteil, denn echtes Verstehen fremder Charaktere könne nur auf der Basis sinnlicher Erfahrung hervorgebracht werden: »[U]m eine fremde Nation eigentlich zu begreifen, um den Schlüssel zur Erklärung ihrer Eigenthümlichkeit in jeder Gattung zu erhalten, ja selbst nur um viele ihrer Schriftsteller vollkommen zu verstehen, ist es schlechterdings nothwendig, sie mit eignen Augen gesehen zu haben«.35 Da die in Büchern dargebotenen Informationen und Charaktere notwendigerweise von vielen Kontextvariablen abstrahieren, besteht die Gefahr, dass diejenigen, die den Kontext nicht kennen, in diesen Charakteren »nur Carricaturen sehen«.36 Mit einem exemplarischen Verweis auf Don Quixote von Cervantes macht Humboldt dies deutlich: »Wer nie einen Spanischen Eseltreiber mit seinem Schlauch auf einem Esel sah, wird sich immer nur ein unvollständiges Bild Sancho Pansaʼs machen; und Don Quixote […] wird doch nur immer demjenigen ganz verständlich sein, der selbst in Spanien war, und sich selbst unter Personen der Classen befand, welche ihm Cervantes schildert«.37 Dieses Zitat macht klar, dass Menschen Humboldt zufolge nicht losgelöst von dem Raum, in dem sie leben, und den Dingen, mit denen sie leben,

32 Z.B. Albert Leitzmann, Wilhelm von Humboldts Tagebücher, Bd. 1, Berlin 1916, 493. 33 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 30. 34 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 30. 35 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 30. 36 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 31. 37 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 31.

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verstanden werden können. In heutigen Worten gesprochen plädiert Humboldt hier für eine teilnehmend beobachtende, ethnographische Forschung.38 Humboldt hat nicht zuletzt aufgrund seiner privilegierten finanziellen Situation die Möglichkeit, ein Leben zu führen, welches er ganz seiner Bildung widmen kann. Dazu gehören auch die Reisen, die für ihn ebenfalls zur Bildung beitragen. Denn durch das Reisen ist es den Reisenden möglich, aus ihrem gewohnten Umfeld, aus ihrer »Lage«, herauszutreten und ein anderes Umfeld kennenzulernen, was für sie wiederum die »Mannigfaltigkeit der Situationen« erhöht. Er sieht freilich, dass es nicht allen so gut geht wie ihm. Der größere Teil des Volkes sei so sehr mit der »Sorge für die physischen Bedürfnisse des Lebens« belastet, dass ihm keine Zeit für die geistige Bildung bleibe. Und doch sei die Vermittlung der Ideen der Aufklärung auch an das einfache Volk wichtig: »Es liegt schon an sich etwas die Menschheit Herabwürdigendes in dem Gedanken, irgend einem Menschen das Recht abzusprechen, ein Mensch zu sein. Keiner steht auf einer so niedrigen Stufe der Kultur, dass er zu Erreichung einer höheren unfähig wäre […]«.39 Eine solche Vermittlung müsste zwar wohl mehr zur Einbildungskraft als zur »kalten Vernunft« sprechen, wäre aber wichtig für »den Geist und den Charakter der ganzen Nation«,40 weil dadurch die Kräfte des nationalen Charakters insgesamt höher entwickelt würden. Diese Passagen machen deutlich, dass die eingangs zitierte Aussage Roths, Humboldt ziele auf die Bildung einer »Geisteselite und Geistesaristokratie« ab, nicht haltbar ist. Vielmehr ist Humboldts Vorstellung von Menschenbildung so umfassend, dass sie auch die Bildung des Volkes notwendig mit einschließt. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Wenn Humboldt sich auf seinen Reisen einen »anschaulichen Begriff« von »fremdartiger Eigenthümlichkeit« verschaffen will, geht es ihm nicht um Folklore oder um die Exotik des Fremden. Im Hintergrund steht vielmehr ein komplexer anthropologischer Forschungsplan, der darauf ausgerichtet ist, menschliche Charaktere in ihrer jeweiligen historischen, sozialen, politischen und räumlichen Umgebung empirisch zu erfassen und dabei darüber zu reflektieren, wie sie zu dem, was sie sind, wurden, und wie sie sich in Zukunft weiter entfalten können. Humboldts Interesse für Bildung richtet sich dabei nicht nur auf das intellektuelle, künstlerische und politische Leben, sondern auch auf die nationalen Charaktere in der Wechselwirkung mit ihrer räumlichen Umgebung, wobei es ihm darum geht, beide Seiten der Bildung in ihrem Zusammenhang zu betrachten. Insofern Humboldt zwar durchaus für die Verbreitung der Aufklärung plädiert, die Aufklärung aber mit den je verschiedenen nationalen Charakteren vermitteln

38 Vgl. z.B. Georg Breidenstein / Stefan Hirschauer / Herbert Kalthoff / Boris Nieswand, Ethnografie, Die Praxis der Feldforschung, Konstanz / München 2013. 39 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch (wie Anm. 18) 162. 40 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch (wie Anm. 18) 162.



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möchte, fällt er weder in die Falle des Universalismus noch in die des Relativismus, was seinen Ansatz bis heute so faszinierend und bedeutend macht.

III Humboldt arbeitet seine Beobachtungen nicht in einer der heute üblichen, systematischen Darstellungsweisen aus, die sich an Kategorien, Mustern oder Typen orientieren, sondern folgt meist dem damals geläufigen Vorgehen der Nacherzählung der Reiseroute, wobei theoretische Reflexionen immer gleichsam an Ort und Stelle eingeschaltet werden. Im Folgenden werden – zunächst mit Blick auf seine Reise durch Spanien, dann auf die durch das Baskenland – seine Überlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Raum, wie sie an verschiedenen Stellen seiner Texte zu finden sind, herausgestellt. Charakter und Bildung der Spanier sind für Humboldt insgesamt enttäuschend. Hinsichtlich der intellektuellen Bildung beklagt er sich in einem Brief an seinen Schwiegervater, dass in Spanien »fast gar kein Buchhandel« existiere, weil zum einen »noch immer großer Druck und gar keine Freiheit« herrsche und zum anderen »das Publikum im ganzen weder aufgeklärt noch gebildet genug« sei; auch die Universitäten machten, obwohl vom König gefördert, »schlechterdings keine Fortschritte«.41 An Graf von Schlabrendorff, einen in Paris lebenden Freund, schreibt er, den »Vorwurf der Roheit« könne man der spanischen Nation »mit Recht machen«, und zwar selbst den »weniger Ungebildeten«, denn diese seien »oberflächlich und seicht«, verachteten ihre eigene Nation und beteten Frankreich an. Dabei werde allerdings allem, was aus Frankreich komme, ein »Stempel« des Vorurteils aufgedrückt, was »nur zum oberflächlichen Nachbeten« führe. Zwar kenne man in Spanien auch ausländische Literatur, doch der Umgang mit ihr gefällt Humboldt dann doch nicht: So »liebt« man in Spanien Goethes Werther, »aber in der französischen Übersetzung«. Auch über die spanische Sprache hat er nicht viel Positives zu sagen: »Ihre Sprache ist noch wenig, vorzüglich zum philosophischen Gebrauche gebildet«.42 Im hier betrachteten Zusammenhang ist nun bemerkenswert, dass Humboldt auch über die Ursachen des von ihm wahrgenommenen »Mangel an feiner Kultur«43 in Spanien nachsinnt und dabei die geographische Lage Spaniens zur Sprache 41 Theodor Kappstein, Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden, Eine Auslese seiner Briefe, Berlin 1917, 134. 42 Theodor Kappstein, Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden (wie Anm. 41) 137 ff. 43 Theodor Kappstein, Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden (wie Anm. 41) 137.

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bringt. Im Brief an Schlabrendorff heißt es: »Das Unglück für die spanische Kultur scheint mir, so sonderbar es klingt, die geographische Lage des Landes. Von ganz Europa sind sie allein mit Frankreich zu Lande verbunden, alles, auch die Produkte Englands und Deutschlands, kommen ihnen durch Frankreich zu, und gerade ist die französische Kultur die, die ihnen am wenigsten taugt«.44 Humboldt erkennt, wie bedeutend die jeweils konkrete geographische Positionierung der Nationen zueinander für die Möglichkeiten, in diesem Fall aber auch für die Beschränkungen der gegenseitigen Wechselwirkungen ist. Da Spanien nur Frankreich als direkten Nachbarn habe, seien die Wechselwirkungen, in die die spanische Nation eintreten könne, weitgehend durch Frankreich vermittelt. Angesichts der Einsiedeleien auf dem Berg Montserrat denkt Humboldt auch über den spanischen Charakter nach. Er fragt sich, weshalb das eintönige und einsame Einsiedlerleben in kleinen Behausungen in einer felsigen, durch »jähe Abgründe« gekennzeichneten Gegend für so viele Menschen so attraktiv sei, und meint, der Beweggrund, Einsiedler zu werden, sei im spanischen Charakter zu finden: »Der Spanier«, so Humboldt, habe eine »Gemüthsstimmung«, die »sehr gut« zum Leben in der Einsiedelei passe: »Der Spanier ist sinnlicher, aber nicht so materiell, als der Nordländer, und bei weitem reizbarer; es liegt ihm also mehr daran, ungestört zu leben«.45 Auch wenn die Spanier in Gesellschaft durchaus »aufgeweckt und witzig«46 seien, bedürften sie ihrer aber nur wenig. Zudem gehe ihr Charakter mehr in die Tiefe als in die Weite: »Durch ihren Charakter nur auf einige wenige Punkte, aber auf diese mit aller Energie gerichtet, können sie eigentlich vom Nichtsthun nur zu einer auf diese Punkte Bezug habenden Thätigkeit übergehen, nur zu einer grossen und wichtigen«.47 Wenn Humboldt schließlich sagt »Häufiger als in andern Ländern, glaube ich, findet man in Spanien Menschen, die bereit sind, Unabhängigkeit mit Einsamkeit zu erkaufen«,48 so heißt das, dass die Spanier in seinen Augen zwar einerseits nach Freiheit streben, andererseits aber nicht in der Lage sind, diese Freiheit zu verwirklichen, ohne auf die Mannigfaltigkeit der Wechselwirkungen zu verzichten.49 Ihnen gelingt es damit seiner Auffassung nach

44 Theodor Kappstein, Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden (wie Anm. 341) 138. 45 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 55. 46 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 55. 47 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 55. 48 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 55. 49 Hier wird deutlich, dass auch Humboldts Konzept letztlich zu einer Form von Universalismus tendiert, denn er nimmt an, dass Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen für alle Menschen die Bedingung von Bildung darstellen, selbst wenn er feststellt, dass die Spanier keinen Wert auf Mannigfaltigkeit legten.



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nicht, die verschiedenen Kräfte und Strebungen in ein proportionierliches Verhältnis zu bringen. An dieser Stelle wird sehr deutlich, wie eng Humboldt Charakter und Raum aufeinander bezieht, denn seine Hauptthese lässt sich auch so formulieren, dass die »gleich Adlernestern am Felsen«50 hängenden Einsiedeleien einzelnen Individuen die Möglichkeit bieten, einen inneren Konflikt des kollektiven spanischen Charakters in räumlicher Hinsicht durch Rückzug zu bearbeiten, ohne ihn allerdings, wie Humboldt meint, in bildungstheoretischer Hinsicht auch zu lösen. In Spanien macht Humboldt eine weitere, und für ihn erstaunliche, Beobachtung, die ihn dann später im Baskenland noch besonders beschäftigen wird. In einem Brief an Goethe schreibt er, dass in Spanien im Vergleich zu Deutschland »in Sprache, Sitten und Gebräuchen […] weniger Unterschied zwischen dem Volk und den höheren Ständen herrscht«.51 Während das Volk und die höheren Stände in Deutschland durch eine »Scheidewand« voneinander getrennt seien, existiere diese Wand in Spanien nicht. Diese Beobachtung interpretiert Humboldt in einem bildungstheoretischen Rahmen: »Es gibt doch keine größere Scheidewand unter den verschiedenen Ständen, als die, welche die feinere intellectuelle Bildung errichtet«.52 Im Vergleich zwischen Spanien, Frankreich und Deutschland sieht Humboldt diese »Scheidewand« in Spanien als am geringsten an, in Frankreich etwas größer und in Deutschland als »unendlich groß«. Diese Reflexion führt ihn letztlich von Spanien fort und zu einer Kritik an der sozialen Struktur in Deutschland: »[B]ei uns ist in der That eine intellectuelle Aristokratie, wer nicht zur Kaste gehört, kann auch selbst unsere leichtesten Schriftsteller kaum verstehen«.53 Humboldt erkennt durch seine vergleichend-anthropologische Forschung in Spanien also bereits das Problem, dass die neuhumanistische Bildung eben nicht, wie von vielen ihrer Protagonisten erhofft, zur Emanzipation des ganzen Volks führt, sondern zur Entwicklung der »gebildeten Stände« als einer sozialen Gruppierung, die sich gerade mit Hilfe der Bildung gegen andere Bevölkerungsgruppen abschottet. Die Formulierung »intellectuelle Aristokratie« enthält dabei auch schon den Gedanken, dass Bildung in Deutschland auch als Mittel der Distinktion nach unten dient. Humboldt, so viel wird hier deutlich, ist gerade kein Proponent einer »Geistesaristokratie« (um noch einmal das Wort Roths aufzugreifen), sondern er erweist sich als ein früher Kritiker gebildeten Dünkels. Humboldt entwickelt diesen Gedankengang in diesem Brief nicht in Bezug auf konkrete Räume, allerdings verwendet er, wie das Wort der »Scheidewand« deut50 Wilhelm von Humboldt, Der Montserrat bei Barcelona (wie Anm. 10) 51. 51 Frantisek Tomas Bratranek, Goethe’s Briefwechsel mit den Gebrüdern von Humboldt, Leipzig 1876, 150 f. 52 Frantisek Tomas Bratranek, Goethe’s Briefwechsel (wie Anm. 51) 151. 53 Frantisek Tomas Bratranek, Goethe’s Briefwechsel (wie Anm. 51) 151.

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lich macht, räumliche Metaphern zur Reflexion über seine Beobachtung. Weiter schreibt er in dem Brief, wieder auf eine räumliche Metaphorik zurückgreifend: »Jetzt, wo alle Wissenschaften enger verbunden sind, geht auch die Philosophie mehr in alle über, und hat einer einmal mit Beifall ein System aufgestellt, so tönt es dem armen Laien aus allen Ecken wieder, und er muß, wie vor einem verschlossenen Schrank, davor stehen bleiben. Gerade was hätte dazu beitragen sollen, die Wissenschaften populär zu machen, hat die entgegengesetzte Wirkung gehabt.«54 Diese Metaphorik wendet er dann im Folgenden schließlich ins Konkrete, indem er als Grund für die »Scheidewand« die verschiedenen Sprachen, die das Volk und die Gebildeten sprechen, und die fehlende Vermittlung zwischen diesen Sprachen ausmacht: »Sonst schrieb man, was schwerer war, lateinisch, und was man in der Muttersprache schrieb, machte man auch für das Volk verständlich. Jetzt fällt diese letzte Bemühung fast ganz hinweg«.55 Das heißt: Auch wenn die neuen Philosophen auf Deutsch schreiben und damit eigentlich die Sprache des Volks verwenden, schreiben sie doch auf eine solche Art und Weise Deutsch, dass sie dem Volk unverständlich bleiben. Humboldt entwickelt hier somit den Gedanken, dass durch die Verwendung verschiedener Sprachen unterschiedliche, voneinander abgetrennte soziale Räume geschaffen werden und dass selbst innerhalb von Nationen auch dann noch unterschiedliche sprachlich-soziale Räume existieren können, wenn auf das Lateinische als Gelehrtensprache verzichtet und (vermeintlich) nur eine nationale Sprache verwendet wird. Aus diesen Stellen, die aus verschiedenen Texten herausgegriffen wurden, lässt sich also zusammenfassend in Bezug auf Bildung und Raum folgendes SpanienBild Humboldts nachzeichnen: Zum einen reflektiert Humboldt über den seiner Auffassung nach beklagenswerten Zustand der intellektuellen Bildung in Spanien, wobei er die von ihm wahrgenommene Abhängigkeit dieser Bildung von Frankreich auf die geographische Lage Spaniens zurückführt. Zum Weiteren drückt sich seiner Auffassung nach ein Konflikt innerhalb des spanischen Charakters zwischen dem Streben nach Unabhängigkeit und der regsamen Auseinandersetzung mit der Welt und anderen Menschen im räumlichen Rückzug einzelner Individuen in die Einsiedeleien auf dem Berg Montserrat aus. Schließlich bemerkt Humboldt in Spanien insbesondere hinsichtlich der Sprache eine geringere Trennung zwischen Volk und höheren Ständen, was ihn zur kritischen Reflexion darüber anregt, dass Volk und Gebildete in Deutschland in zwei verschiedenen, gleichsam durch eine »Scheidewand« getrennten Sprachräumen leben.

54 Frantisek Tomas Bratranek, Goethe’s Briefwechsel (wie Anm. 51) 151. 55 Frantisek Tomas Bratranek, Goethe’s Briefwechsel (wie Anm. 51) 151.



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IV Das Bild, welches Humboldt von den Basken zeichnet, ist ein vollkommen anderes als das von den Spaniern. Anders als die Spanier, die ihre Nation verachteten, hätten die Basken durch alle verschiedenen Bevölkerungsgruppen hindurch einen »edlen Nationalstolz« und eine »feste Anhänglichkeit an einander«.56 Selbst die intellektuell Gebildeten hätten sich durch ihren Kontakt mit dem Ausland nicht von ihrer Nation entfremden lassen, nirgends sonst in Spanien könne der Reisende »so viele von aufgeklärtem patriotischem Verbesserungsgeiste beseelte Männer finden«.57 Zudem staunt Humboldt, wie aufgeklärt im Baskenland auch das Volk ist. Diese Aufklärung lässt sich seiner Auffassung nach auf die große Nähe zwischen intellektuell Gebildeten und Volk zurückführen, die eine direkte Vermittlung von Wissen möglich macht: »So z.B. ist, besonders um Marquina, die Einimpfung der Blattern so gewöhnlich, dass auch einzelne Hausbewohner im Gebirge sie selbst an ihren Kindern verrichten. Die Verbreitung derselben verdankt man vorzüglich dem rastlosen Eifer des Vaters des damaligen GeneralDeputirten von Vizcaya D. Josef Maria Murga’s, einem aufgeklärten und edeln Manne […]«.58 Doch nicht nur die intellektuellen Kräfte, auch die sinnlich-körperlichen Kräfte sind nach Humboldt im Baskenland in eigentümlicher Weise und sehr hoch ausgebildet. Besonders schön lässt sich dies an der Beschreibung zeigen, die er seiner Frau in einem Brief über das Fest »Romeria« gibt, welches er in einem Dorf in der Nähe von Bilbao miterlebt: »Der Tanz ist der natürlichste Ausbruch der Lustigkeit, den ich je gesehen habe […]. Eine Reihe von Tänzern gehen nach dem Takt angefaßt im Kreise herum, und nur der Vortänzer macht eine Art mit vielen Kapriolen untermischte Pas. […] Nun geht es geschwinder, die ganze Reihe zerrt und reißt sich herum, und jeder Tänzer und jede Tänzerin geben sich von Zeit zu Zeit Stöße mit dem Hintern. […] Die Hauptsache aber sind immer beim ganzen Tanz die Culadas, die Stöße mit dem Hintern. Wenn die Lustigkeit lebhafter wird, so verbreitet sich dieser Geschmack auch unter die Zuschauer, und niemand ist mehr dieser Partie seines Leibes sicher. Mich haben ganz unbekannte Damen im Vorbeigehn mit solchen Stößen beehrt, und es ist eine Art allgemeine Begeisterung, und noch den Abend in der Tertulia, wo ich war, machten die ausgeteilten Culadas einen Teil des Gesprächs aus«.59

56 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 13) 181. 57 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 13) 140. 58 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 13) 83. 59 Anna von Sydow, Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Von der Vermählung bis zu Humboldts Scheiden aus Rom 1791–1808, Bd. 2, Berlin 1907, 102 f.

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Bemerkenswert für Humboldt auch: An derartigen Veranstaltungen im Baskenland nähmen sowohl »Vornehme« als auch »Geringe« teil, wobei gerade bei Tanz und Ballspiel »aller Unterschied wegfällt«, alle gemeinsam »von Herzen lustig sind und sich aus Grund der Seele amüsieren«.60 Zur Bildung des nationalen Charakters der Basken zählt Humboldt schließlich auch den von ihm bei ihnen wahrgenommenen Sinn für Freiheit, der sich insbesondere in den politischen Verfassungen im Baskenland manifestiere. So rühmt er die Verfassung Biscayas, »die, gleich weit von Despotismus und Anarchie entfernt, durchaus einen edlen Freiheitssinn athmet, und deren wohlthätige Folgen auf die Sitten und den Charakter noch jetzt unverkennbar sind«.61 Zudem bezeichnet er die Abstimmungspraktiken, mit denen die Angelegenheiten in der Provinz Guipuzcoa geregelt werden, als »eine reine und vollkommene Demokratie«, denn niemand lasse »seinen Willen durch einen Fähigeren vertreten, jeder entscheidet jede Sache selbst, und der Deputirte ist nur das Organ der Stimmenmehrheit in jeder Gemeinde«.62 In einem umfassenden Sinne also nimmt Humboldt die Basken als eine hoch ausgebildete und starke Nation wahr. Ein Blick auf seine Ausführungen über die geographische Lage des Baskenlandes ist nun allerdings zunächst irritierend, denn er beschreibt das Baskenland als weitgehend abgeschottet von anderen Völkern und Nationen: »[Z]wischen dem Gebirge und dem Ocean« stehe der baskische Völkerstamm »in seinem kleinen Bezirk« »allein und inselmässig da«.63 Von Wechselwirkungen der Basken mit anderen Nationen weiß Humboldt kaum etwas zu berichten, historisch gesehen hätten die Basken sogar bemerkenswert wenig Kontakt zu anderen Völkern gehabt. Während das übrige Spanien in der Antike von den Schiffen anderer Mittelmeervölker angesteuert worden sei und infolgedessen »das heutige Andalusien, Valencia und Catalonien, von Gades bis Emporium hinauf, von Pflanzstädten verschiedener Völker«64 gewimmelt habe, sei damals niemand ins Baskenland gekommen. Und auch während der Völkerwanderung und der Zeit der Mauren seien die Basken »abgesondert und unabhängig«65 geblieben. So hätten sich »die Ueberbleibsel des Vaskonischen Stammes« letztlich in den durch die Natur gebildeten Grenzen festsetzen können, »wo sie gegen Norden das Meer, gegen Osten die Kette der Pyrenaeen, und gegen Westen und Süden das Gebirge einschliesst […]«.66

60 Anna von Sydow, Wilhelm und Caroline von Humboldt (wie Anm. 59) 103. 61 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 48. 62 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 50. 63 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 13. 64 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 7. 65 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 8. 66 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 9.



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Nun ist es allerdings gerade diese Abgeschiedenheit, die es den Basken Humboldt zufolge ermöglichte, einen so starken nationalen Charakter auszubilden. Denn nur aufgrund dieser geographischen Abgeschiedenheit sei es möglich gewesen, dass die Basken in Zeiten, als »ueberall Unterdrückung und Gewaltthätigkeit herrschte«,67 sich solch freiheitliche Verfassungen zu geben vermochten. Insbesondere sei das Baskenland vor der Ausbreitung feudaler Strukturen geschützt gewesen: »Keine Art der Feudalverfassung hat sich in diesen glücklichen Winkel Europas eingeschlichen«.68 So habe sich der baskische Volksstamm bis zu Humboldts Tagen weitgehend unvermischt und ohne die negativen Einwirkungen durch andere Länder als »reiner Stammcharakter«69 erhalten können.70 Einwirkungen von Menschen aufeinander, das wird hier deutlich, sind für Humboldt nicht notwendig positiv. Das Baskenland erscheint dadurch, dass es von den anderen europäischen Ländern weitgehend abgeschieden war, gleichzeitig auch geschützt vor schlechten Einflüssen aus Europa. Jetzt, zur Zeit der Aufklärung, gelinge es den Basken allerdings sehr gut – und viel besser als anderen kleinen Völkern –, »viele der wohlthätigsten Früchte Europaeischer Aufklärung glücklich mitten in ihre Einöden zu verpflanzen, ohne darum doch ihre Eigenthümlichkeit und ihre ursprüngliche Einfachheit aufzugeben«.71 Die Basken wirken hier geradezu wie ein Paradebeispiel für die Frage, wie Aufklärung und Volkskultur fruchtbar miteinander verknüpft werden können,72 was in Humboldts Augen eben sehr grundlegend mit ihrer geographischen Lage verbunden ist.

67 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 48. 68 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 121. Ob Humboldt mit der Einschätzung Recht hatte, dass im Baskenland eine »vollkommene Demokratie« und keine feudalen Strukturen herrschten, kann angesichts der heutigen Baskenforschung allerdings angezweifelt werden. Vgl. Carlos Collado Seidel, Die Basken, Ein historisches Porträt, München 2010, Kap. II, III und IV. 69 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 13. 70 Humboldts Ausführungen über die Basken klingen an vielen Stellen sehr ähnlich wie das, was Rousseau im Emile im Kapitel über das Reisen schreibt, hier in Bezug auf die Ursprünglichkeit der in Abgeschiedenheit lebenden Völker, welche sich noch nicht mit ihren Nachbarn vermischt hätten. An anderer Stelle zeige ich, dass Humboldt diese Auffassung über die Ursprünglichkeit der Basken später revidieren wird. Vgl. Ruprecht Mattig, Zur Forschungslogik in Wilhelm von Humboldts Baskenstudien, in: Theorien in der qualitativen Bildungsforschung – Qualitative Bildungsforschung als Theoriegenerierung, hg. von Anja Tervooren / Robert Kreitz / Ingrid Miethe, Opladen / Berlin / Toronto 2016, 137–156. 71 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 7. 72 Vgl. hierzu auch Klaus Giel, Aufklärung und Volkskultur (wie Anm. 4).

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Im Bericht über die Basken fällt auf, dass Humboldt besonders viel über Tänze, Ballspiele, Dorffeste, politische Versammlungen oder auch den Stierkampf schreibt und seine Beobachtungen dazu in Bezug zum baskischen Charakter reflektiert. Er entwickelt hier eine neue Herangehensweise an den Nationalcharakter, die sich von der oben dargelegten Rousseau’schen insofern unterscheidet, als der Charakter, wenn er sich in »Sitten« und »Gebräuchen« im Sinne von kollektiven Handlungsmustern ausdrückt, nicht induktiv an mehreren Einzelmenschen, sondern eben nur an den kollektiven Handlungen selbst studiert werden kann. Damit vollzieht er einen Schritt in Richtung zu einem Denken, welches heute als kulturanthropologisches bezeichnet wird.73 Humboldt bemerkt im Baskenland offenbar zum einen, wie wichtig die kollektive Praxis für die Kraft jedes Einzelmenschen ist, zum anderen aber auch, dass der Nationalcharakter nicht nur in bestimmten wiederkehrenden Eigenschaften von Individuen besteht, sondern wie ein moralisches Band gesehen werden muss, welches die Einzelmenschen zusammenhält, wobei dieses Band eben in der kollektiven Praxis besteht. So sagt er, dass es in Biscaya »eigentlich volksmässig« sei, »dass Dinge, die anderwärts (wie Tanz und Vergnügungen) der Privatneigung eines jeden überlassen bleiben, dort gewissermassen Theile der Verfassung werden« und dass eben darauf »offenbar grossentheils das, was man am Charakter des Biscayers, vorzugsweise vor andern Nationen, rühmt«, beruhe. Tänze, Vergnügungen etc. befestigten »die Bande, die ihn an sein Land und seine Mitbürger knüpfen, und im wohlthätigen Einfluss auf die Stärke und die biedre Rechtlichkeit des Charakters kann nichts die Festigkeit dieser Bande ersetzen.«74 Humboldt beschreibt die kollektiven Handlungsmuster immer auch sehr genau mit Blick auf die Räume, in denen sie stattfinden, und stellt dabei architektonische und symbolische Details heraus. Bemerkenswert sind beispielsweise seine Ausführungen zum Baum von Guernica. So führt er aus, dass es im Baskenland alte Sitte sei, Versammlungen im Wald oder unter Bäumen abzuhalten. Dies komme nicht nur in alten Dokumenten,75 sondern auch in einer rituellen Formel zum Ausdruck, die sich auf den Baum von Guernica beziehe, denn alle öffentlichen Verhandlungen fingen »immer mit den Worten: so el arbol de Guernica, unter dem Baum von Guernica«76 an. Da die Verfassung Biscayas unter diesem Baum ausgerufen worden

73 Rosenblatt zufolge geht es in der Kulturanthropologie um »Patterns of Practice«. Vgl. Daniel Rosenblatt, An Anthropology Made Safe for Culture, Patterns of Practice and the Politics of Difference in Ruth Benedict, in: American Anthropologist 106/3 (2004) 459– 472. 74 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 136. 75 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 10) 105. 76 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 159.



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sei, habe diese in Guernica auch »ihren eigentlichen Sitz und Mittelpunkt«.77 So habe der Baum von Guernica eine zentrale symbolische Bedeutung, er bilde »gleichsam den bildlichen Repräsentanten der ganzen Verfassung«78. Zudem fänden auch aktuelle Versammlungen der Deputierten immer noch bei diesem Baum statt, »und wenn sie auch jetzt nicht mehr dort, sondern in der dabei erbauten Kapelle ihre Berathschlagungen halten, so übergeben sie doch hier unter freiem Himmel ihre Vollmachten, und fangen allemal unter dem Baume selbst die Feierlichkeit an«.79 Die Versammlungen selbst laufen dann so ab, dass die versammelten Personen auf »einer Bank mit sieben, durch steinerne Zwischenlehnen abgesonderten Plätzen« sitzen, wobei diese Plätze genau aufgeteilt seien. Die Türen blieben offen stehen, und »der Saal ist mit Zuhörern angefüllt«, die »ohne Unterschied unter den Deputirten selbst« säßen. Nur die Frauen hätten »ihren Platz immer zunächst an der Thür«. Selbst die Kleidung der Menschen ist Humboldt der Erwähnung wert: »Die Deputirten haben kein besondres Costüm und man sieht die alte ländliche Nationaltracht mit unsrer gewöhnlichen städtischen in buntem Gemisch neben einander«.80 Im Zuge seiner Beobachtungen und Reflexionen über Raum, Charakter und kollektive Handlungsmuster gelangt Humboldt im Baskenland schließlich noch zu einer weiteren bedeutsamen Entdeckung. Wie Vick zeigt, entwickelt Humboldt die Einsicht, wie wichtig föderale Strukturen für die Entstehung nationaler Charaktere sind.81 So bemerkt Humboldt, dass das Baskenland in viele kleine, sich auf den ersten Blick teilweise schroff voneinander abgrenzende »Orte« aufgeteilt ist, wobei zwischen diesen Orten auf mehreren Ebenen eine ausgeprägte »LocalEifersucht«82 herrsche. Beispielsweise würden benachbarte Ortschaften aufgrund dieser »Rivalität« verschiedene Worte zur Bezeichnung derselben Gegenstände verwenden;83 zudem stritten sich die Ortschaften darüber, wer das reinste Baskisch spreche. Die »häufigste Gelegenheit«, die Eifersucht und den Wetteifer der Ortschaften untereinander zu beobachten, sei das Ballspiel.84 Gelegentlich gebe es auf Festen sogar handgreifliche Auseinandersetzungen, nämlich »wenn ein Dorf das andre, oder eine Stadt ihre um sie herum liegenden Landbewohner bei einigen Schläuchen Wein

77 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 159. 78 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 161. 79 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 160. 80 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 160 f. 81 Vgl. Brian Vick, Of Basques, Greeks, and Germans, Liberalism, Nationalism, and the Ancient Republican Tradition in the Thought of Wilhelm von Humboldt, in: Central European History 40 (2007) 653–681. 82 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 71. 83 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 73. 84 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 69 f.

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zum Tanze einladet«.85 Und doch, so staunt Humboldt, hängen die Basken fest aneinander. So deutet er diese lokalen Eifersüchteleien letztlich als Steigerung der Kräfte des nationalen Charakters durch Wechselwirkungen innerhalb der baskischen Nation selbst: »Nie habe ich ein Beispiel anführen hören, wo diese kleine, unbedeutende Eifersucht nicht augenblicklich vor dem allgemeinen Interesse geschwiegen hätte; dagegen habe ich mehr als einmal bemerkt, wie sie zu einem nützlichen und anspornenden Wetteifer führt«.86 Und so werden Humboldts bisherige theoretische Überlegungen zur Bedeutung von Wechselwirkungen durch das empirische Beispiel neu angeregt: »So wie ich das Innere des Landes durchreiste, und mit den Sitten desselben vertrauter ward, kam mir das ganze Ländchen in eine Menge von kleinen Kreisen zerschnitten vor, deren absondernde Grenzen sich manchmal grell zeichneten, aber immer wieder in grösseren Kreisen verschwanden, und ich fand in der gegenseitigen Ein- und Rückwirkung dieser verschiedenen Massen, zum Theil auch in politischer, vorzüglich aber in sittlicher Hinsicht, ein so natürliches, so durch sein eignes Schwanken ins Gleichgewicht gekommenes Verhältniss, dass ich erst da lebendig erkannte, wie ohne eine solche, immer rege Wechselwirkung kein wahrer Volkscharakter möglich ist […]«.87

Es zeigt sich also nicht nur, wie genau Humboldt darauf achtet, den Charakter als Gegenstand seiner Forschung in seiner räumlichen Umgebung zu erfassen, sondern auch, wie er mit seiner neuen Betrachtungsweise, die die Wichtigkeit kollektiver Handlungsmuster einbezieht, auch neue Erkenntnisse über die Bildung des Charakters entwickelt. Diese neue Betrachtungsweise konnte Humboldt allerdings erst im Baskenland gewinnen, denn dort sieht er zum ersten Mal in seinem Leben einen kräftigen Volkscharakter und ebenso kraftvolle kollektive Handlungen. In der Beschreibung der allgemeinen Begeisterung, die während des Tanzes mit den Culadas aufkommt, klingen dabei schon Gedanken an, die dann gut 100 Jahre später von Durkheim ausbuchstabiert werden.88 Wie aus dem Gesagten schon hervorgegangen ist, nimmt Humboldt im Baskenland, wie auch schon im übrigen Spanien, eben keine »Scheidewand« zwischen den intellektuell Gebildeten und dem Volk wahr, seiner Auffassung nach fällt die Verschiedenheit der Stände »in den Augen des ächten Vizcayers sogar gänzlich hinweg«89. Dies beobachtet Humboldt wiederum insbesondere hinsichtlich der kol85 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 70. 86 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 69. 87 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 68. 88 Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1994. 89 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 13.



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lektiven Praxis und des Raumes, denn die Menschen verschiedener sozialer Gruppen halten sich gemeinsam im Raum auf und interagieren dort miteinander. Dies wurde schon beim Culadas-Tanz deutlich und zeigt sich auch in folgender Passage: »Tief im Lande […] sieht der Fremde, und in Vergleichung mit andern Ländern in der That nicht ohne Verwunderung mit welcher vollkommenen Gleichheit […] der Vornehme und Geringe, Arme und Reiche mit einander umgehen. Mehr als einmal begegnete es uns, dass man uns in einer Gruppe von Leuten, die alle gleich und ganz gewöhnlich gekleidet waren, einen von einer sehr bekannten Familie, oder der einen Titel in Castilien hatte, zeigte«.90 Im Baskenland treibt Humboldt seine Reflexionen zu diesem Thema nun allerdings noch weiter als in Spanien. Er gelangt zu dem Schluss, dass die Kraft des baskischen Charakters unter anderem auf eben dieser Nähe zwischen den Ständen basiert und dass eine »Kluft« zwischen gebildeten Ständen und Volk letztlich der Bildung der ganzen Nation schaden muss. Nicht nur, dass das Volk durch diese Nähe profitiert, indem es von den Gebildeten das Denken der Aufklärung vermittelt bekommt. Auch die Gebildeten, so Humboldts neue Einsicht, bedürfen der sinnlichen Kraft des Volkes, um nicht in einem blutleeren Intellektualismus steckenzubleiben, wie Humboldt wiederum hinsichtlich der Sprache ausführt, die seiner Auffassung nach an »Energie und Reichthum« verliert, wenn sie »den Händen des Volks entrissen« wird.91 Im Baskenland erkennt Humboldt, dass das Volk seine sinnlichen Kräfte so hoch ausgebildet hat, dass es – »[b]ei der Gemeinschaft in der beide dort beständig mit einander leben«92 – auch den intellektuell Aufgeklärten davon gleichsam etwas geben kann. Unter Einbezug auch anderer Länder formuliert Humboldt vor diesem Hintergrund dann wiederum eine Kritik an der Bildung in Deutschland, denn dort sei aufgrund der Absonderung der Stände weder ein starker Volkscharakter noch eine wahrhafte intellektuelle Bildung zu finden: »Wer Frankreich, Spanien und Italien durchreist hat, wird mit Verwunderung bemerkt haben, dass, in den meisten Gegenden dieser Länder, das Landvolk gar nicht eine so durch Wohnung, Kleidung und Sitten abgeschiedene Classe als in Deutschland ausmacht, und wer den Ursachen und den Folgen dieser Erscheinung nachdenkt, der wird finden, dass der Nachtheil davon nicht bloss unmittelbar in dem Volkscharakter, sondern selbst in der gebildetsten Gesellschaft der Nation, in der Sprache und der Litteratur fühlbar ist«.93

90 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 83. 91 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 11. 92 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 60. 93 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 128.

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Bildung im umfassenden Sinne, so Humboldts Schlussfolgerung, kann nur gelingen, wenn die räumliche Trennung zwischen den Ständen aufgehoben wird: »Ohne einen entschiednen, festen und kräftigen Volkscharakter erwartet man daher vergebens auch in der feinsten Bildung einer Nation Wahrheit, Stärke und Haltung. Je unermesslicher aber die Kluft zwischen dem Volk und den gebildeten Ständen der Nation wird, desto seltner wird auch die Erscheinung von Volkscharakteren«.94 Humboldt findet hier im sozialen Raum eine Lösung für sein eingangs herausgestelltes moralisches Problem, auf welche Weise die sinnlichen und die geistigen Kräfte in ein fruchtbares Verhältnis gebracht werden können, so dass jede Seite »so wenig als möglich der andren raube«. Denn für ihn repräsentiert das Volk die sinnlichen Kräfte, die gebildeten Stände hingegen repräsentieren die geistigen Kräfte. Nationale Charaktere, so Humboldts Einsicht im Baskenland, können sich nur stark ausbilden, wenn Volk und gebildete Stände in einem so engen Kontakt stehen, dass beide von der Wechselwirkung profitieren – eine Voraussetzung, die er in Deutschland als nicht gegeben ansieht. So kann er letztlich Deutschland keineswegs als eine »wahrhaft cultivirte Nation« ansehen, denn in einer solchen müssten »die am sorgfältigsten ausgebildeten Individuen in fortwährender und gegenseitiger Berührung mit dem schlichten, aber gesunden Theile des Volks«95 stehen. Wenn Humboldt sich also gegen die »Kluft« zwischen Gebildeten und Volk ausspricht, so meint er dies in einem räumlichen Sinne: Es soll eine »fortwährende und gegenseitige Berührung« zwischen ihnen geben, ihre Lebensräume sollen sich, wie beim Tanz oder beim Plausch auf dem Ballplatz, durchdringen. Bemerkenswert ist nun allerdings, dass Humboldt zwar einerseits meint, dass die Verschiedenheit der Stände im Baskenland gleichsam verschwindet, er aber trotzdem immer wieder »Vornehme und Geringe, Arme und Reiche« sieht. Er nimmt also durchaus soziale Unterschiede im Baskenland wahr. Und an diesen Unterschieden stört er sich an keiner Stelle seiner Ausführungen. Der scheinbare Widerspruch, der hier zutage tritt, löst sich, wenn in Betracht gezogen wird, dass Humboldt auch die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im Rahmen seiner bildungsanthropologischen Grundkonzeption interpretiert. Demnach haben Volk und Gebildete je verschiedene Charaktere, und nur in der Wechselwirkung beider bildet sich der Nationalcharakter aus. Da es Humboldt um die Erhaltung und Weiterentwicklung der je individuellen Charaktere geht, hat der Gedanke der sozialen Gleichheit keinen Platz in seinem Konzept. In diesem Sinne bleibt Humboldts Bildungsdenken, trotz aller Forderungen nach Freiheit und Wechselwirkung, ständischem Denken verbunden.96 Nachdem schon Roths Formulie94 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 12. 95 Wilhelm von Humboldt, Die Vasken (wie Anm. 12) 11. 96 Dies wird auch deutlich in: Klaus Hammacher, Die Philosophie des deutschen Idealismus. Wilhelm von Humboldt und die preußische Reform, Ein Beitrag zum Problem von



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rung, wonach Humboldt die Bildung einer »Geistesaristokratie« anstrebe, zurückgewiesen wurde, muss nun auch Benners eingangs zitierte Aussage, Humboldt gehe es um die »Überwindung der Ständegesellschaft«, abgelehnt werden. Denn eine Aufhebung der ständischen Ordnung müsste im Denken Humboldts zur Nivellierung der Vielfalt individueller Charaktere führen. Menschenbildung bedeutet für Humboldt eben die höchste Entfaltung der Kräfte – auch der gesellschaftlichen Kräfte – in einer ausdifferenzierten, wohl proportionierten und charakteristischen Mannigfaltigkeit. Sie ist für ihn nicht mit einer Verbesserung des sozialen Status verbunden, ihr Ideal ist vielmehr eine innere Freiheit und Unabhängigkeit, die seiner Auffassung nach in jeder sozialen Lage entwickelt werden kann. Zusammenfassend festzuhalten ist also, dass Humboldt auch im Baskenland differenziert über den Zusammenhang von Bildung und Raum reflektiert, wobei seine Überlegungen denjenigen über Spanien in systematischer Hinsicht teilweise gleichen, die empirischen Ergebnisse aber durchaus andere sind, wodurch wiederum seine bildungstheoretischen und anthropologischen Einsichten vorangetrieben werden. Wie in Spanien denkt Humboldt auch hinsichtlich des Baskenlandes über die geographische Lage nach; während er die Lage Spaniens allerdings als nachteilig ansieht, schätzt er sie für das Baskenland als sehr positiv für die bisherige Bildung der Basken ein. Da Humboldt im baskischen Charakter keine ungelösten Konflikte wie in Spanien bemerkt, stellt er im Baskenland auch keine Überlegung an, die diejenige über die Einsiedeleien auf dem Montserrat parallelisieren würde. In den Basken meint er, im Gegenteil, sogar einen äußerst kräftigen Nationalcharakter vorzufinden, was er unter anderem mit den von ihm (immer im räumlichen Kontext) beobachteten »Sitten« und »Gebräuchen« in Verbindung bringt. Die in Spanien begonnenen Reflexionen über die »Scheidewand« zwischen höheren Ständen und Volk, die Humboldt nun mit der räumlichen Metapher der »Kluft« weiterführt, gewinnen im Baskenland hinzu, insofern Humboldt nun zu der Auffassung gelangt, dass ein enger Kontakt der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte in geteilten Lebensräumen von zentraler Bedeutung für die Bildung nationaler Charaktere ist.

V Die eingenommene Perspektive auf den Zusammenhang von Bildung und Raum in Humboldts Reiseberichten bringt ein differenziertes Ergebnis hinsichtlich der sozialpolitischen Dimension in Humboldts Bildungsidee zutage: Humboldt plädiert für die Überwindung von Standesgrenzen, ohne dabei die Überwindung der Ständegesellschaft anzustreben. Denn die Standesgrenzen möchte er gerade im räumlichen Theorie und Praxis, hg. von Klaus Hammacher, Universalismus und Wissenschaft im Werk und Wirken der Brüder Humboldt, Frankfurt am Main 1976, 136–144.

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Sinne überwunden sehen, so dass Volk und Gebildete sich in der Wechselwirkung zu einer starken Nation ausbilden können, ohne dabei ihren je eigenen Charakter aufgeben zu müssen oder gar zu sollen. Vor diesem Hintergrund muss auch über die Aktualität der Bildungsvorstellungen Humboldts reflektiert werden. Humboldts konsequente Orientierung an Individualität wird im Prinzip zwar noch heute breite Zustimmung finden, erweist sich aber an der Stelle als äußerst problematisch, wo sie dazu tendiert, sozioökonomische Ungleichheiten anthropologisch und bildungstheoretisch zu legitimieren. Das ständisch geprägte Individualitätsdenken Humboldts, welches in den betrachteten Reiseberichten zum Ausdruck kommt, kann dem heutigen, an Bildungsgerechtigkeit und Aufhebung sozialer Ungleichheiten orientierten Bildungsdenken keinen Anschluss bieten. In vielen aktuellen Referenzen auf Humboldt wird dies nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. In anderen, ebenfalls bisher kaum zur Kenntnis genommenen Hinsichten allerdings erweisen sich Humboldts Forschungen als äußerst anregend auch für den heutigen erziehungswissenschaftlichen Diskurs. So ist schon sein ethnographischer Ansatz bemerkenswert, arbeitet die deutschsprachige Erziehungswissenschaft doch erst in jüngerer Zeit mit Methoden der qualitativen Bildungsforschung.97 Auch Humboldts differenzierte Überlegungen und Forschungen zum Zusammenhang von Bildung, »Sitten« und »Lage« können weiterführende Impulse geben. Sie gehen bereits in die Richtung dessen, was in jüngerer Zeit mit sozialwissenschaftlichen Begriffen wie Habitus, sozialer Praxis und sozialem Raum thematisiert wird, und stehen dabei auf einem expliziten bildungstheoretischen Fundament (welches aber, wie gezeigt wurde, auch kritisch hinterfragt werden muss). Schließlich kann Humboldt uns darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, Bildung auch in ihren körperlichen Dimensionen und in ihrem räumlichen Kontext zu sehen. Gerade seine Reflexionen zur »Kluft« zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und zu sozial bedingten Sprachräumen vermögen Fragen und (ethnographische) Forschungen zur räumlichen und sprachlichen Differenzierung sozialer Gruppen im Horizont bildungstheoretischer Überlegungen anzuregen.

97 Winfried Marotzki / Sandra Tiefel, Qualitative Bildungsforschung, in: Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, hg. von Barbara Friebertshäuser / Antje Langer / Annedore Prengel, Weinheim / München 2010, 73–88.

Corpus Extra Muros Der Heimatforscher Paul Tschurtschenthaler (1874–1941) und seine Erkundung von Kleinarchiven in der ländlichen Peripherie A NDREAS O BERHOFER

Dieser Beitrag betrachtet den Titel des Bandes Corpus intra muros insofern aus einem anderen Blickwinkel, als er nicht den menschlichen Körper in den Mittelpunkt stellt, sondern den Begriff Corpus auf Bestände von historischen Dokumenten und Büchern überträgt, welche durch die Umstände ihrer Entstehung und Überlieferung als Einheiten erscheinen und somit dem Korpusbegriff der Archiv- und Bibliothekswissenschaften entsprechen. Die Körper, die im Folgenden vorgestellt werden, sind Archive und Bibliotheken in der ländlichen Peripherie, das heißt Produkte des Archivierens und Sammelns abseits größerer Institutionen (Bibliotheken, Archive, Museen): dörfliche Haus- und Familienarchive, die in Schränken, Kisten und Laden verwahrt wurden und nie Eingang in ein größeres Ganzes, sprich das Gerichts-, Gemeinde- oder Pfarrarchiv, gefunden haben. Die Frage nach dem Grund für das Verbleiben dieser teilweise mikroskopisch kleinen Archive und Bibliotheken extra muros wird uns im Folgenden ebenso beschäftigen wie ihre Charakterisierung und die Analyse der Räume, welche sie einnehmen. Als weitere Frage ist jene nach dem Umgang mit diesen Beständen sowohl durch ihre Eigentümer als auch durch Außenstehende im Kontext von Erinnern und Vergessen zu stellen. Den Anstoß für die Analyse gaben die Schriften eines Tiroler Sammlers, anhand dessen Berichte wir die Kleinarchive und Büchersammlungen erkunden werden. Wir begeben uns im Folgenden auf die Spuren des Juristen Paul Tschurtschenthaler, der am Anfang des 20. Jahrhunderts Objekte für ein Heimatmuseum sammelte, das er in seiner Heimatstadt Bruneck im Pustertal im heutigen Südtirol gründete. Tschurtschenthalers Dokumentationen über seine Reisen (Wanderungen), welche neben zahlreichen anderen Aspekten auch den Kontakt zwischen Bauern und Beamten und den bäuerlichen Umgang mit Schriftlichkeit beschreiben, haben –

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zumindest was den süddeutsch-alpinen Raum betrifft – Seltenheitswert. Die teilweise anekdotisch ausgeschmückten Episoden können, lässt man das Augenzwinkern beiseite, in einen archiv- bzw. kulturwissenschaftlichen Kontext gestellt werden, da die vorgefundenen Sammlungen von Schriftgut und Buchbeständen aus dem Blick einer noch ganz der nationalistisch geprägten Herangehensweise des späten 19. Jahrhunderts begutachtet wurden. Tschurtschenthaler, dem zum 70. Todestag im Jahr 2011 eine Ausstellung gewidmet wurde,1 kann als Vorkämpfer einer konservierenden Heimat- und Traditionspflege und als Kulturpessimist bezeichnet werden, der – angesichts der Unmöglichkeit der Konservierung einer guten alten Zeit – zumindest wertvolle Kulturgüter zusammentragen und damit der Nachwelt erhalten wollte. Er war der Auffassung, dass dieses Substrat von Volkstum innerhalb der schützenden Mauern eines Museums besser aufgehoben wäre als im Zustand der Verteilung auf viele kleine Depots, die von den Nachkommen der früheren Besitzer oftmals nicht genügend wertgeschätzt würden. Mit der Gründung des Brunecker Museumsvereins im Jahr 1912 entspricht er einer Tendenz seiner Zeit, welche in den Hauptstädten Nationalmuseen und -archive entstehen ließ, zugleich aber auch auf sekundäre, d.h. regionale und lokale Zentralorte abfärbte. Die in der Epoche des Historismus entstehenden Institutionen verstanden sich dabei als Verwahrer nationalen Kulturgutes und Orte, in denen kollektives Gedächtnis (Speichergedächtnis2) räumlich fixiert und wie in einem Brennglas fokussiert sein sollte. Wir können aus Tschurtschenthalers Aufzeichnungen darauf schließen, dass er die Korpora, die er antraf, nicht nur begutachten, sondern physisch mitnehmen und in seine Sammlungen integrieren wollte. Die Provenienz zahlreicher Dokumente, die sich noch heute im Bestand des ehemaligen Heimatmuseums befinden, ist nach wie vor unbekannt, kann aber wohl auf Übernahmen oder Ankäufe durch den Heimatforscher zurückgeführt werden. Im Stadtarchiv Bruneck (Serie V, Nr. 4) befindet sich heute ein Hofinventar von 1773, das als Besitzervermerk auf dem Titelblatt (in Bleistift) Eduard Tschurtschenthaler ausweist. Eduard, Gutsbesitzer und »Geschichtsforscher« in Kiens, war Paul Tschurtschenthalers Bruder.3 Ein Beitrag Paul Tschurtschenthalers in der Südtiroler Kulturzeitschrift Der Schlern bestätigt die Herkunft des Inventars aus seinem Besitz. Darin schreibt der Sammler: »Vor eini1

Vgl. Stadtgemeinde Bruneck (Hg.), Paul Tschurtschenthaler und seine Zeit. Eine Veranstaltungsreihe im Zeichen Brunecker Zeitgeschichte, Bruneck 2011; Josef Gasteiger u.a. (Bearb.), Nirgends mehr daheim. Paul Tschurtschenthalers Brunecker Chronik 1935– 1939, Bozen 2000.

2

Vgl. Aleida Assmann, Archive im Wandel der Mediengeschichte, in: Knut Ebeling / Stephan Günzel (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten (Kaleidogramme 30), Berlin 2009, 156–175, hier insb.: 168–172.

3

Reimo Lunz, Pfalzen – Ur- und Frühgeschichte, in: Stefan Lechner (Hg.), Pfalzen: Landschaft, Kultur, Geschichte, Brixen 2010, 33–55, hier: 36.



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ger Zeit überbrachte ein Bauer einen ganzen ›Schüppel‹ Urkunden und meinte, das seien noch lange nicht alle, er könne einen ganzen ›Zegger‹ (Korb, Anm.) voll bringen.« In demselben Text rekurriert Tschurtschenthaler auch auf ein »Gemeindearchiv, das ich einmal unter Nüssen und Äpfeln bei einer Obsthändlerin zum Verkaufe gestellt fand.«4 Gerade Tschurtschenthalers Schrift Es lebt ein Volk an Rienz, Eisack und Etsch aus dem Jahr 19365 bringt das nationalromantische Gedankengut des Juristen zum Ausdruck: Sie beschreibt die Bevölkerung des 1919 an Italien gefallenen südlichen Teils des ehemaligen Kronlandes Tirol in der Zwischenkriegszeit als Volk und sollte damit zur Etablierung eines Gefühls der Zusammengehörigkeit des durch politische Entscheidungen konstruierten Alto Adige beitragen (das Buch konnte aufgrund eines Verbots der faschistischen Machthaber nicht mehr in Südtirol erscheinen6). Abseits dieser politischen Implikation fällt auf, dass Tschurtschenthaler gerade in dieser Schrift zahlreiche Bestände in bäuerlichen (Klein-)Archiven beschreibt, die sein Interesse weckten und die er während seiner Aufenthalte in den Dörfern seines Arbeitsbereiches in Augenschein nehmen konnte. Diese Corpora extra muros wollen wir im Folgenden in den Blick nehmen. Dabei fragen wir nach einem spezifischen Zugang der bäuerlich-ländlichen Bevölkerung zur Schriftlichkeit ebenso wie nach dem Umgang mit der Schriftlichkeit, die gerade im Fall von rechtssetzenden Dokumenten weit mehr darstellte als historische Erinnerung, was dem Juristen Tschurtschenthaler durchaus bewusst war. Durch die Einbeziehung der Frage nach dem Besitz und der Lektüre von Büchern (die anhand der derzeit vorhandenen Forschung noch keineswegs zuverlässig beantwortet werden kann) erhalten wir Einblick in die Literalität einer im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert noch weitgehend autark und agrarisch geprägten Bevölkerung in der ländlichen Peripherie, der sich mangels vergleichbarer Quellen als durchaus wertvoll herausstellt. Das Lesenund Schreiben-Können und die Haltung der einheimischen Bevölkerung gegenüber der eigenen schriftlichen Überlieferung erschließt sich ebenso wie die Haltung gegenüber einem städtisch sozialisierten Gebildeten, wie es Tschurtschenthaler war. Der Analyse der Erlebnisberichte sei eine kurze Biographie vorangestellt, die die Person Tschurtschenthaler vorstellt, nicht zuletzt aber auch allen in (Süd-)Tirol Ortsunkundigen als Orientierung dient.

4

Paul Tschurtschenthaler, Ein altes Hausinventar aus dem Pustertale, in: Der Schlern, 11 (1930) 108–111, hier 108.

5

Paul Tschurtschenthaler, Es lebt ein Volk an Rienz, Eisack und Etsch, Innsbruck 1936.

6

Stefan Lechner, Laudator temporis acti und Heimatschützer. Der Brunecker Bürger Paul Tschurtschenthaler. Eine Lebensskizze 1874–1941, in: Der Schlern 85/12 (2011) 38–53, hier: 48.

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Abbildung 1: Kundmachung (»Warnung«) des k.k. Bezirkshauptmannes, Bruneck 1851 Juni 24.

  Quelle: Stadtarchiv Bruneck, Magistratsakten 1851/VI (Normalien), Nr. 255.



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P AUL T SCHURTSCHENTHALER : K URZBIOGRAPHIE Paul Tschurtschenthaler wurde 1874 als Sohn des Gottfried und der Anna Stemberger in Bruneck geboren. Als Angehörige des wohlhabenden Bürgertums konnten die Eltern dem Sohn eine akademische Laufbahn ermöglichen, die durch den Besuch des Knabenseminars Vinzentinum in Brixen grundgelegt wurde. Da der Schüler allerdings nicht mit dem Heimleben zurechtkam, wechselte er auf das städtische Gymnasium in Brixen über. Nach der Reifeprüfung studierte Tschurtschenthaler Natur- und Rechtswissenschaften an der Universität Innsbruck und trat danach in den Justizdienst ein. Er war zunächst Richter in Imst im Oberinntal. Bereits 1909 gründete er dort gemeinsam mit dem Künstler Thomas Walch (1867–1943) ein Ortsmuseum und sammelte Ausstellungstücke, die davon bedroht waren, von Antiquitätenhändlern außer Landes verkauft7 zu werden (siehe Abb. 1). Noch vor dem Ersten Weltkrieg war Tschurtschenthaler Bezirksrichter im Sarntal, Landesgerichtsrat beim Kreisgericht Bozen und Grundbuchsanlegungs-Kommissär. In dieser Zeit hatte er Gelegenheit, im südlichen Tirol weit herumzukommen, was sich in seinen zahlreichen Publikationen niedergeschlagen hat, von denen das Brunecker Heimatbuch8 und Das Bauernleben im Pustertal9 die bekanntesten sind. 1912 gründete Tschurtschenthaler den Museumsverein Bruneck mit anfänglich 38 Mitgliedern als »Ort der Sammlung, Sicherung und Erinnerung«.10 Nach der Versetzung des Juristen nach Landeck aber begann, nachdem die Aufbauarbeit sogar durch ein gedrucktes Periodikum begleitet worden war,11 der Niedergang des Museums, der durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges noch weiter beschleunigt wurde. In der Zeit des italienischen Faschismus wurde Tschurtschenthaler nach Turin versetzt und eröffnete danach eine Rechtsanwaltskanzlei in Bozen. 1933/34 zog er 7

Am 24.6.1851 erließ der Brunecker k.k. Bezirkshauptmann Brenn eine Kundmachung, in welcher vor Händlern gewarnt wird, die »das Gebieth dieser Bezirkshauptmannschaft in der Absicht [durchstreifen], um auf Pergament geschriebene Urkunden einzukaufen, und sonach selbe gegen doppelten Profit in das nahe Ausland wieder abzusetzen. […] Gelegenheitlich des Einhandelns von Pergament-Urkunden nehmen jene Sammler auch Gemälde, alterthümliche Waffen, Münzen, oder andere Natur- oder Kunstseltenheiten mit in den Kauf, zahlen aber hiefür ein Spottgeld, wenigstens niemals den wahren Werth.« Stadtarchiv Bruneck, Magistratsakten 1851: Normalien, Nr. 255.

8

Paul Tschurtschenthaler, Brunecker Heimatbuch, Bozen 1928.

9

Paul Tschurtschenthaler, Das Bauernleben im Pustertal, Bozen 1935.

10 Hans Heiss, Abschied von der Vergangenheit: Paul Tschurtschenthaler und Bruneck 1912, in: 100 Jahre Museumsverein Bruneck / 100 anni Associazione Pro Museo di Brunico, hg. vom Museumsverein Bruneck, Bruneck [2012], 23–29, hier: 24. 11 Mitteilungen des Museumsvereines Bruneck, 15.3.1913 (1/1), Bruneck; Mitteilungen des Museumsvereines Bruneck, 15.2.1914 (2/2), Bruneck.

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mit seiner Familie nach Bruneck, wo er ebenfalls eine Kanzlei eröffnete. Das Brunecker Stadtmuseum fristete in dieser Zeit ein Schattendasein, bis die Bestände in den 1930er Jahren nicht mehr zugänglich waren. Im Zuge der Option, d.h. der Wahl der Südtirolerinnen und Südtiroler, in das Deutsche Reich auszuwandern oder in der italianisierten Heimat zu bleiben, entschied sich Tschurtschenthaler 1939 für die Auswanderung, und er setzte sich auch für die Überführung der Bestände des Museums in das Reich ein. Gleichzeitig arbeitete er mit den Umsiedlungsbehörden zusammen und sammelte in den Dörfern der Umgebung von Bruneck Archivmaterial. 1940 übersiedelte er gemeinsam mit seiner Tochter nach Bregenz, wo er eine Stelle als Oberlandesgerichtsrat erhielt, bereits am 19. Dezember 1941 aber starb.12 Tschurtschenthalers Brunecker Museumsprojekt ist gescheitert. Die Sammlungen wurden nach Bozen geliefert, wo sie in einem projektierten Museo dell’Alto Adige zusammengetragen werden sollten.13 Diese Zentralisierung diente zwar ebenfalls einem nationalen Zweck, allerdings nicht der Veranschaulichung des kulturellen Erbes eines deutsch- und ladinisch-sprachigen Volkes »an Rienz, Eisack und Etsch«, sondern vielmehr dem Beweis der italianità des »Hoch-Etsch« (Alto Adige). Viele Dokumente, Handschriften, Urkunden und Akten wurden – neben den wertvollen Artefakten aus der Brunecker Tinkhauser-Sammlung14 – erst 1983 nach Bruneck zurückgebracht, wo sich 1990 ein neuer Museumsverein konstituierte.15 Im Rahmen seiner Tätigkeit als Grundbuchsanlegungs-Kommissär hatte Tschurtschenthaler sowohl vor dem Ersten Weltkrieg als auch in den Jahren nach 1933/34 Gelegenheit, in direkten Kontakt mit der ländlichen Bevölkerung zu treten. In seinem bereits erwähnten Buch Es lebt ein Volk an Rienz, Eisack und Etsch nimmt vor allem die Episode über einen Aufenthalt im Tauferer Ahrntal, einem nördlichen Seitental des Pustertals, breiten Raum ein, aber auch die Arbeiten im ladinisch-sprachigen Gadertal (Enneberg) werden ausführlich behandelt. Hieraus können wir schließen, dass Tschurtschenthaler diese Kapitel ab 1933/34 oder später aus einer rückblickenden Perspektive geschrieben hat. Deutlich kommt darin zum Ausdruck, wie sich der Beamte, der trotz zeitlebens empfundener Empathie mit der 12 Vgl. zur Biographie: Lechner, Heimatschützer (wie Anm. 6). Zum literarischen Werk vgl. Anton Unterkircher, Poetischer Landstreicher – der Schriftsteller Paul Tschurtschenthaler, in: Der Schlern 85/12 (2011) 54–62. 13 Vgl. Edoardo Arslan, Il Museo dell’Alto Adige a Bolzano, Rom 1942. 14 Vgl. Barbara Rubele, Zwischen Kunstwerken und Kuriositäten: die Privatsammlung des Johann Nepomuk Tinkhauser, in: An der Schwelle einer neuen Zeit: Der Brunecker Goldschmied, Sammler und Forscher Johann Nepomuk Tinkhauser (1787–1844), Katalog zur Ausstellung »Johann Nepomuk Tinkhauser: Kunst- und Wunderkammer«, hg. von Museumsverein Bruneck und Stadtarchiv Bruneck, Bruneck 2015, 82–106. 15 Marco Pellizzari, Breve storia dell’Associazione Pro Museo di Brunico a 100 anni dalla sua costituzione, in: 100 Jahre Museumsverein Bruneck (wie Anm. 10) 45–65, hier: 53.



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bäuerlichen Bevölkerung stets Städter war, den Landbewohnerinnen und -bewohnern angenähert hat, als er sich mehrere Wochen oder sogar Monate im Feld aufhielt; wie er ihre Lebensweisen beschrieb und teilweise selbst annahm, wie er mit ethnographischer Genauigkeit ihren Umgang mit Schriftlichkeit charakterisierte. Er begegnete Vertreterinnen und Vertretern der ländlichen Bevölkerung, die am Anfang des 20. Jahrhunderts noch weitgehend unberührt von touristischer Erschließung, Industrialisierung und Mobilität in einer vornehmlich agrarisch und katholisch geprägten Umgebung lebten, die Tschurtschenthaler romantisierend als heile Welt beschrieb. Dieser Welt hing er als Suchender nach einer verloren gegangenen Idylle nostalgisch nach, da ihm sogar das inmitten von Bergen liegende Städtchen Bruneck (das 1929 3.280 Einwohner zählte16) zu fortschrittlich, beschleunigt, laut, und – in negativer Hinsicht – weltoffen erschien.

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Machen wir uns nun mit Paul Tschurtschenthaler auf den Weg und werfen einen genaueren Blick auf seine Dienstreisen, bei denen er im Zuge seiner Tätigkeit als Grundbuchsanlegungs-Kommissär die Möglichkeit hatte, mit dem Auge des Beamten, Sammlers und Archivars Kleinarchive in Augenschein zu nehmen, die sich ihm mal leichter, mal weniger leicht öffneten. Inwiefern er bereits in der ersten Phase seiner Karriere die Absicht hatte, vor Ort überlieferte Corpora und Einzeldokumente für die Wissenschaft zu sichern und seinem Brunecker Heimatmuseum einzuverleiben, ist schwer zu sagen. Er nahm sie zunächst zur Kenntnis, machte sich Notizen über die Besitzer, beobachtete Menschen und Archive und die Interaktion zwischen beiden. Auf einer anderen Ebene können wir als Leserinnen und Leser von Tschurtschenthalers Werken die Interaktion zwischen dem Archiv, seinen Besitzern und dem Beobachter untersuchen, d.h. die Spannung zwischen dem ländlichbäuerlichen Menschen, der noch weit davon entfernt ist, jedes Schriftstück lesen und vor allem verstehend lesen zu können, und dem schreib- und lesekundigen Beamten aus der Stadt. Letzterer wirkt wie ein Sonderling, und man begegnet ihm mit Respekt, aber auch so lange mit prüfender Vorsicht, bis er sich als einer von uns bewährt und zeigt, dass er sich mit den örtlichen Lebensweisen zumindest für die Zeit seines Aufenthaltes arrangieren kann. Tschurtschenthalers Berichte müssen dabei als Quellen gelesen werden, d.h. es ist die Vorsicht der Historikerin, des Historikers gegenüber jedem Ego-Dokument angebracht, zumal der Blick des Heimatforschers auf die Bauern und ihre Lebenswelt stark von einem romantisierenden 16 Stefan Lechner, Extreme Zeiten. Bruneck 1918–1945, in: Der lange Weg in die Moderne. Geschichte der Stadt Bruneck 1800–2006, hg. von Stefan Lechner, Innsbruck 2006, 109– 155, hier: 129.

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und idealisierenden Einschlag mit einer starken Zuneigung zu allem Althergebrachten und Deutschen geprägt ist. In seinen Büchern erzählt er als Autor Episoden, Erlebnisse, die ihm erinnerungswürdig erscheinen. Wir lesen deshalb Geschichten, die statt Selbstzeugnisse auch Kalendergeschichten eines Sebastian Rieger alias Reimmichl (1867–1953) oder Heimatgeschichten eines Peter Rosegger sein könnten. Als Beispiel sei eine Episode erwähnt, die sich im Widum (Pfarrhaus) in Matsch im Vinschgau abgespielt haben soll, als Tschurtschenthaler in der »Hauschronik« (wohl eher einer Dorfchronik) gestöbert haben will, während in einem Nebenraum der Pfarrer am Harmonium gespielt, der Lehrer den Taktstock geschwungen und ein Knabenchor gesungen habe.17 Die erste Begegnung zwischen dem Grundbuchsanlegungs-Kommissär und den Bauern aus dem Ahrntal kommt in einer Episode zum Ausdruck, die in Es lebt ein Volk an Rienz, Eisack und Etsch niedergelegt ist: Als der Beamte in der Postkutsche von Bruneck nach Taufers fährt, unterhalten sich zwei Bauern aus St. Johann, die vom Brunecker Markt heimkehren, über den neuen »Kumissär«, also über Tschurtschenthaler selbst: »›Wird wieder so a hocher Loter [Mann, Bursche, Anm.] sein, daß du dich fürchten mußt ohne Handschuhe hinzugehen‹, sagt der eine. ›Sell kannst dir denken. Aber i hob schun a Mittele, und da kriegst diese Herrchen alle in die Steige [Kiste, Käfig, Anm.]. Brauchst sie lei recht hoch anzuröden, lei nöt zu wenig, und Herr Doktor hören sʼsovl gern.‹ Da griff der Stabeler [der Postillon, Anm.] ein. ›Was Doktor? Meinst, der kommt mit Medizinflaschen zu euch? Euer Hochwürdiger ist’s wenigste, was ös zu sagen hab’s.‹ ›Sell sagen wir sonst lei zum Techant [Dekan, Anm.], und sell nöt gern‹, meinte das Gruberbäuerlein. ›Dann geb ich euch den Rat und redet’s den Noidn (neuen Herrn) mit Eminenz an. So steht im Titelbuch,18 das ich daheim habe. Mander, aber sell sag’ ich euch: sein tut’s a hantiger (scharfer). Ich kenne ihn gut, den Herrn, der wird euch schon herumlassen [herumschleudern, Anm.].‹ Dem Stabeler floß bei dieser Lüge das Grinsen über das ganze Gesicht und nun flixte er tüchtig auf die Gäule ein.«19

Als sich der Kommissär beim Entladen der Kutsche zu erkennen gibt, ist alles halb so schlimm, die Bauern legen relativ rasch ihre Berührungsängste ab. In einem anderen Werk, Auf Wanderungen, schildert Tschurtschenthaler ebenfalls eine Begeg-

17 Tschurtschenthaler, Es lebt ein Volk (wie Anm. 5) 77. 18 Gemeint ist wohl ein so genannter Briefsteller, ein Hilfswerk zum Verfassen und richtigen Adressieren von Briefen, das auch die korrekten Titel der Angehörigen höherer Stände enthalten konnte. Ein derartiges Werk könnte dem Berufsstand der Postkutscher durchaus von Nutzen gewesen sein. 19 Tschurtschenthaler, Es lebt ein Volk (wie Anm. 5) 103.



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nung zwischen Bauern und Beamten, in diesem Fall zwischen dörflicher Lebenswelt und Gericht: »Sie [die Bauern, Anm.] sitzen an langen, grünen Tischen, die von der Sonne gestreift und vom Rauche der Pfeifen wie von Feuerbatterien umqualmt sind. Einige erheben sich beim Eintreten der Gerichtsherren und ziehen ihr glattes Hütlein, andere schauen die Herren voll Vorsicht und Neugier an, als wären sie Gesandte, die Krieg und Frieden in ihren Taschen haben. Ein Trupp Bauern in der Ecke hat die Köpfe eng beisammen und sie sind so in gegenseitigen Meinungsaustausch verstrickt, daß sie nichts um sich merken. Es sind die Dorfpolitiker, die Männer, die gerne Reden hören und in den Wintertagen Zeitungen lesen [!]. Eine Amtshandlung am Berge, im tiefen Winter ist ein Ereignis, das die Leute schon lang hinter dem Ofen besprechen, und das ihnen in der lähmenden Ruhe des Bergwinters ein kleines Schauspiel verspricht.«20

Der Hinweis auf Zeitung lesende Bauern ist interessant, da er ein Beleg für extensives Lesen ist, das im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert vor allem in den bürgerlichen Schichten Einzug gehalten hatte, die genügend Geld für den Medienkauf und Zeit für den Medienkonsum zur Verfügung hatten.21 Kehren wir aber in das Ahrntal zurück. Tschurtschenthaler schlägt nach seiner Ankunft seine Kanzlei in St. Peter auf, wobei ihm ein Herr Steidlmair, den er einmal als Aktuarius bezeichnet – es dürfte sich um den Schreiber handeln –, zur Seite steht: »Die Arbeit der Grundbuchsanlegung war nicht beliebt bei meinen Kollegen. Man fürchtete die vielen Unannehmlichkeiten, die vielen Gänge über Berg und Tal, oft von Hof zu Hof, man war viel den Wettern ausgesetzt und lag manchmal in krachenden Betten. Mir kam der Auftrag gerade recht. Des Kanzleidienstes gleichgestellte Uhr war nicht meine Sache. Wie kaum ein zweiter Auftrag verschaffte er mir Einblick in Land und Leute, in ihre innersten Verhältnisse, und das alles aus unmittelbarster Nähe. […] Die Ordnung der Grundverhältnisse erforderte Genauigkeit, Geduld, guten Blick. Aber damit war es nicht getan. Man mußte sich einfach in diese alten, uralten Rechtsordnungen und Rechtsbegriffe einleben.«22

Noch ein zweites Mal wird die Einrichtung der behelfsmäßigen Kanzlei beschrieben: »Jetzt erscheint Herr Steidlmair, mein Aktuarius, in seiner ganzen Rechtschaffenheit und Gelassenheit, lüftet sein Hütchen so wenig als möglich und berichtet, er habe mit Hilfe von fünf 20 Paul Tschurtschenthaler, Auf Wanderungen. Reisebilder und Fahrten, Bozen 1910, 29. 21 Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, München, 3. Aufl., 2011, 187. 22 Tschurtschenthaler, Es lebt ein Volk (wie Anm. 5) 104.

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starken Kerlen die großen Wäschekästen und Betten aus der hinteren Kammer verplündert [verräumt, Anm.] und nun eine ganz standesgemäße Kanzlei daraus gemacht. […] Meine Kanzlei ist fertiggestellt. Sie hat nichts außerordentliches, ist samtbraun wie eine Bauernstube, hat eine ›Flucht nach Ägypten‹ unter Goldrahmen, drei kleine Fenster voll hübscher Blumenstöcke, in der Ecke einen Ofen, der hersieht, als hätten Baumstämme in ihm Platz, und in der Mitte eine große Tischtafel, die sonst für Nigelen und Krapfen, Kraut und Knödel bei Hochzeiten und Taufmahlen bestimmt ist, und die sich nur ächzend und stöhnend von Steidlmair mit Folianten und Schriften bestücken läßt. Überhaupt, die feine Stube […] hat sich seufzend dareingefügt, ein Tummelplatz von Wald- und Feldparzellen zu werden.«23

Es ist also eine Wirtsstube, die für die Zeit der Grundbuchsanlegung zu einer Kanzlei umfunktioniert wird. Sobald diese fertig eingerichtet ist, betreten die Akteure die Bühne. Ein alter Bauer, der Brandlechner, kommt herein: »An der großen Mappe, die an die Wand geheftet ist und auf der sein Haus als roter Fleck und der Spitzacker und die Egartwiese und der Bodenwald alle schön als Parzellen eingezeichnet und numeriert sind, wacht das alte Bäuerlein völlig auf. ›Akkurat, ganz genau‹, wiederholt er in einemfort und lacht fröhlich vor sich hin. Hat er doch gedacht, daß mit Ausnahme vom Pfarrer und vom Steuereintreiber kein Mensch eine Ahnung habe, es hause auch noch ein Brandlechner am Schattenberg. […] Dann setzte er sich hinunter in die Gaststube, trank ein Gläschen Wein und schüttelte dabei weiter den Kopf vor Freude, daß sein schöner Hof nun in der großen Mappe stehe.«24

An dieser Stelle verlassen wir vorerst Tschurtschenthalers Kanzlei und nutzen das Erstaunen des Brandlechner-Bauern über die Darstellung seines Hofes in der Katastermappe, um die Frage nach dem Verhältnis zwischen der ländlich-bäuerlichen Bevölkerung in der Peripherie und der Schriftlichkeit zu stellen.

B AUER

UND

S CHRIFT 1: D IE F ÄHIGKEIT

DES

L ESENS

Der Grad der Alphabetisierung ländlicher Gesellschaften ist nach wie vor nur in Ansätzen erforscht.25 Wir wissen, dass durch den Buchdruck die Anzahl von Bü23 Ebd., 115–118. 24 Ebd., 119. 25 Vgl. Alfred Messerli / Roger Chartier (Hg.), Lesen und Schreiben in Europa, 1500–1900. Vergleichende Perspektiven, Basel 2000. Als Überblick über Forschungen zum Buchbesitz im bäuerlichen Umfeld vgl. Reinhart Siegert, … neugierige und nachdenkende Leute giebt es unter den Bauern und Handwerkern genug. Handwerker und Bauern der Goethezeit als Leser, Büchersammler und Autoren, in: Selbstlesen Selbstdenken Selbstschrei-



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chern, die in privaten Haushalten verwahrt und gelesen wurden (mit der Verzögerung der allgemeinen Alphabetisierung), nicht zuletzt durch die Volksaufklärung rapide anstieg. Spätestens im 18. Jahrhundert wurde zumindest in den Städten überall gelesen; die allgemeine Fähigkeit zum Schreiben trat erst mit einer weiteren Verzögerung hinzu. Eine Studie von Hans Medick über das Dorf Laichingen in Württemberg hat zwar nachgewiesen, dass sich in jedem Haus mehrere Bücher befanden, es handelt sich aber nicht um ein Dorf von Haupterwerbsbauern, sondern einen gewerblich (und protestantisch26) geprägten Flecken, dessen Bewohner zugleich Weber waren;27 die Vergleichbarkeit mit Tirol ist also nicht unbedingt gegeben.28 Der Befund, dass in Tiroler Dörfern, in denen Bauern nebenberufliche Weber waren, bereits im 16. Jahrhundert Webbücher geschrieben wurden,29 weist zudem darauf hin, dass der pauschalisierende Begriff Tiroler Dorf für die Alphabetisierungsforschung problematisch ist. Es bestanden etwa wesentliche Unterschiede in der Schreib- und Lesefähigkeit zwischen einem beinahe städtischen borgo im italienischsprachigen Tirol, einem Knappendorf (wie beispielsweise Prettau im hinteren Ahrntal, in dem es zudem bis in das 19. Jahrhundert Protestanten gab30), einem Weindorf zwischen Bozen und Meran oder einem gewerblich geprägten Ort im Oberinntal, in dem sich – wenn auch zögerliche – Ansätze der Industrialisierung herausbildeten (selbst der Begriff Dorf bzw. dörflich bedürfte einer weiteren Klärung). Es scheint zumindest im deutschsprachigen Teil Tirols so zu sein, dass nur bei bäuerlichen Behausungen, die einen überdurchschnittlichen Standard aufwiesen, Kunstgegenstände, sprich Heiligenbilder oder auch Pendeluhren, in den Hausinven-

ben. Prozesse der Selbstbildung von »Autodidakten« unter dem Einfluss von Aufklärung und Volksaufklärung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert (Philanthropismus und populäre Aufklärung: Studien und Dokumente 10), hg. von Holger Böning u.a., Bremen 2015, 11– 68, hier: 21 Anm. 28. 26 Zum Unterschied im Buchbesitz zwischen katholisch und evangelisch geprägten Haushalten vgl. Siegert, Handwerker (wie Anm. 25) 14. 27 Hans Medick, Ein Volk mit Büchern. Buchbesitz und Buchkultur auf dem Lande am Ende der Frühen Neuzeit, Laichingen 1748–1820, in: Ronnie Po-Chia Hsia / Robert W. Scribner (Hg.), Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe (Wolfenbütteler Forschungen 78), Wiesbaden 1997, 323–367. 28 Der Begriff Tirol bezeichnet das historische Tirol, d.h. das Territorium des österreichischen Bundeslandes Tirol sowie der italienischen Autonomen Provinzen Bozen-Südtirol und Trient. 29 Josef Ringler, »Gweggeltes Tischzeug«. Ein Beitrag zur Geschichte der tirolischen Leinenweberei, in: Der Schlern 30 (1956) 158–159, hier: 159. 30 Vgl. Diemut Wessiak, Die Protestanten im Ahrntal von der Reformation bis ins 19. Jahrhundert [Dipl.] Wien 2011.

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taren verzeichnet sind.31 Die zunehmende Alphabetisierung und Bildung auch der bäuerlich-ländlichen Schichten, die Stephan Wannewitz für das 18. und 19. Jahrhundert feststellt,32 schlägt sich im Besitz von Büchern der Tiroler Bauern nur sehr zögerlich nieder. Paul Tschurtschenthaler fand in dem eingangs erwähnten Hofinventar von 1773 aus dem Mühlwalder Tal, einem Seitental des Tauferer Ahrntals, unter anderem »Drei Bücher des Leiden Christi, Legent der Heiligen und der Pater Prugger« und »4 schwarze Aufschreibtäfeler« aufgelistet, letzteren Posten interpretierte er als »das damalige Schreibmaterial«.33 Der aus Schönau im Passeiertal nördlich von Meran stammende spätere Universitätsprofessor Josef Ennemoser (1787– 1854) beschrieb in seiner 1855 erschienenen Autobiographie Mein Leben eine Bauernstube: »Vor dem Tische steht eine kleinere tragbare Bank, die Wände sind mit Brettern aus Zimmerholz getäfelt und mit einigen Heiligenbildern auf Glas oder Papier und etwa mit einem Christus am Kreuze behangen. Stellenweis läuft unter der Decke eine Stellage hin, worauf ein paar Gebetbücher, eine Legende der Heiligen oder ein Kalender liegen«.34

Der bäuerliche Besitz von Büchern, sowohl handgeschriebenen als auch gedruckten, war eine Randerscheinung und beschränkte sich wie auch das Lesen im Wesentlichen auf Kalender- und Erbauungsliteratur.35 Gelesen wurde dabei nicht intensiv, sondern die Leserinnen und Leser repetierten einen begrenzten Kanon von Werken, die unmittelbar praxisbezogen konsultiert und durch »wildes Lesen« erschlossen wurden.36 In dieser Hinsicht scheint uns auch die volkstümliche Überlie31 Zu bäuerlichen Hausinventaren vgl. Harald Toniatti, Tiroler Hausinventare [Dipl.] Innsbruck 1993; Harald Toniatti, Tiroler Hausinventare des 18. Jahrhunderts, in: Der Schlern 69 (1995) 386–422. Zu Inventaren mit lokalem Schwerpunkt als Quellengrundlage für Höfegeschichte: Thea Reichegger, Höfe- und Häusergeschichte von Lappach ab dem Jahre 1770: Besitzstand und Inventare [Dipl.] Innsbruck 2000; Rudolf Fischer, Höfe- und Häusergeschichte von St. Peter in Ahrn ab dem Jahre 1630 [Diss.] Innsbruck 1987. 32 Stephan Wannewitz, »Anno 1809. Was dieses Jahr die Geschichte der Welt anbetrifft …«. Bäuerliche Schreibebücher als Quellen zur Alphabetisierung, http://wannewitz.de/ resources/alphabet.html, 4.6.2015. 33 Tschurtschenthaler, Hausinventar (wie Anm. 4) 110. 34 Joseph Ennemoser, Mein Leben. Mitgetheilt von Ernst Förster, in: Hausblätter, 3. Bd., hg. von Friedrich Wilhelm Hackländer und Edmund Höfer, Stuttgart 1855, 139–152, 209–240, 313–320, hier 142. 35 Norbert Bachleitner / Franz M. Eybl / Ernst Fischer, Geschichte des Buchhandels in Österreich (Geschichte des Buchhandels 6), Wiesbaden 2000, 199. 36 Wittmann, Geschichte (wie Anm. 21) 187. Zur Kritik an der Auffassung, im Gefolge einer »Leserevolution« im 18. Jahrhundert hätte sich die Leseweise von der intensiven



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ferung Recht zu geben, die sich bisweilen nicht erklären konnte, wie Bauern in den Besitz von Büchern kamen bzw. was sie mit diesen anfangen hätten können. Im Fall des Schwarzkünstlers Oberleitner, der im Dorf Terenten am Pustertaler Mittelgebirge sein Unwesen trieb, glaubte die örtliche Sage, er hätte mit dem Teufel einen Bund geschlossen und ihm seine Seele verschrieben, um so an eine »Menge Bücher, aus welchen er vielerlei Zauber lernen konnte«, zu gelangen. Die Erzählung legt Wert darauf, auf den Umfang dieser Bauernbibliothek, die in einem Kasten (Schrank) aufbewahrt wurde, hinzuweisen: »Der Bücher aber waren so viele da, dass nicht einmal der Curat so viele hatte.«37 Die Bibliothek des Dorfgeistlichen wurde somit als Maßstab herangezogen, um Gelehrsamkeit eine Dimension zu geben, die den Rezipientinnen und Rezipienten der Erzählung gleich wenig geläufig war wie der/dem Erzählenden selbst. Der Besitz zahlreicher Bücher wurde in der frühen Neuzeit zumeist argwöhnisch betrachtet, sollte das Wissen doch obrigkeitlich diszipliniert und die Ausbildung selbständiger Urteilskompetenz (Selbstaufklärung) steuerbar bleiben.38 Der Heimatdichter Peter Rosegger (1843–1918) beschreibt den Buchbestand in einem Bauernhaus, der den Kindern als Spielzeug diente: »Wir schleppten das alte Leben-Christi-Buch herbei, das Heiligen-Legenden-Buch, die vorfindlichen Gebetbücher, unsere Schulbücher, das Vieharzneibuch und jegliches Papier, das steif gebunden war.«39 In Die Älpler stellt Rosegger einen verschrobenen Bauernheiler vor, der »mehrere dickbauchige Bücher mit roten Schnitten und ledernen Klappen« in seinem Haus verwahrt. Sein gesamtes Wissen über die Heilkunde aber bezieht dieser »Winkeldoktor« aus einem »alten Buch, dessen gelbe Blätter an den Rändern und zwischen den Abschnitten mit weißen oder grauen Papierschnitzchen sorgsam ausgeklebt und beschlagen sind, denn der Zahn der Zeit und wohl auch Hände der Menschen haben an dem Buche schon arg gewirtschaftet.«40 Das Buch, ein Kräuterbuch, scheint besonders wertvoll und seit Generationen in Ehren gehalten worden zu sein. Es ist äußerlich und den Inhalten nach völlig veraltet, der Doktor aber verwendet es, um Menschen zu heilen. Implizit kommt zum Ausdruck, dass er ein neues, aktuelleres Buch weder besorgen will noch kann – zu stark scheint er an sei-

Wiederholungslektüre zur modernen extensiven Lektüre umgestellt vgl. Helmut Zedelmaier, Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung (Historische Wissensforschung 3), Tübingen 2015, 6 f. 37 Johann Adolf Heyl, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, 665. 38 Zedelmaier, Werkstätten (wie Anm. 36) 12–15. 39 Peter Rosegger, Als ich noch der Waldbauernbub war, Genehmigte Sonderausgabe, Rosenheim 2006, 361. 40 Peter Rosegger, Die Älpler in ihren Wald- und Dorftypen (Gesammelte Werke 3), Leipzig [1912], 178 f.

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nen Hof gefesselt, zu stark scheint seine Bindung an altes Wissen ohne Anspruch auf neuere Erkenntnisse der Medizin zu sein. Das Unverständnis wenig gebildeter Beobachterinnen und Beobachter gegenüber dem geschriebenen Wort erinnert bisweilen an ethnologische Forschungen, wonach dieses Respekt und sogar Angst vor einer Gefahr auslöst, die es mit sich bringen kann.41 Paul Tschurtschenthaler erzählt über einen Mann im Ahrntal, den sein übertriebenes Studieren ins Unglück gestürzt habe: »Er war einmal ein flotter Studio, der mit Auszeichnung seine Reifeprüfung am Gymnasium in Brixen ablegte. Dann ging er in ein Jesuitenkloster, wo es ihn aber nicht litt. Und nun studierte er alles, Theologie und Geschichte, Philosophie, sparte sich das Brot vom Munde, studierte, bis er mit allen Kräften zu Ende war und nun in der Welt stand, ohne etwas zu nutzen. Die Geldmittel waren längst zu Ende, er mußte eine Beschäftigung suchen und fand sie im hintersten Winkel einer Kanzlei als Schreiber. Wie oft er sich auch aufraffte, es ging nicht mehr, er hatte kein Glück, alles schlug fehl, seine Existenz war begraben […].«42

Sehen wir von diesen literarischen Zeugnissen ab, so bestätigen auch andere Quellen, dass Buchbesitz in der Tiroler ländlichen Gesellschaft rar war. Die Erwähnung des geschriebenen Wortes in bäuerlichen Hausinventaren ist selten. Kaum werden Bücher explizit erwähnt: Sie wurden allein wegen ihres pekuniären Wertes verzeichnet, weshalb Kalender und ähnliches Gebrauchsschrifttum wohl durch den Rost fielen,43 was vielleicht die noch seltenere Verzeichnung der Hausbriefe, d.h. der Familienarchive, erklärt.44 41 Vgl. beispielsweise: Jack Goody, Funktionen der Schrift in traditionellen Gesellschaften, in: Jack Goody / Ian Watt / Kathleen Gough, Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt am Main, 2. Aufl., 1992, 25–61, hier: 42. 42 Paul Tschurtschenthaler, Das Ahrntal, Land und Leute, in: Zeitschrift des deutschen und österreichischen Alpenvereins 66 (1935) 135–147, hier: 145. 43 Siegert, Handwerker (wie Anm. 25) 22. Ein Tiroler Forschungsprojekt unter der Ägide von Michael Span und Peter Andorfer befasst sich derzeit mit der Frage nach der Erwähnung von Büchern in Hausinventaren: Privater Buchbesitz in Tirol zwischen 1750 und 1850. Eine Pilotstudie zu den Möglichkeiten und Grenzen der systematischen Auswertung von Inventaren am Beispiel der Landgerichte Stubai und Steinach. http://digitalarchiv.at:8081/exist/apps/buchbesitz-collection/index.html, 26.8.2015. 44 Das Inventar des Sandhofs, des Geburts-, Wohn- und Wirtshauses Andreas Hofers von 1754, nennt an erster Stelle die »brieflichen Gerechtigkeiten«, d.h. das Hausarchiv, das nicht näher beschrieben wird. Die prominente Erwähnung weist darauf hin, dass dem bäuerlichen Kleinarchiv großer Wert beigemessen wurde. Vgl. Andreas Oberhofer, Der Andere Hofer. Der Mensch hinter dem Mythos (Schlern-Schriften 347), Innsbruck 2009, 185.



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OFFENBAREN SICH

Bei der Grundbuchanlegung im Ahrntal spielte vor allem die Frage der Wälder und Teilwälder eine Rolle, die Tschurtschenthaler Kopfzerbrechen bereitete; bei den sogenannten Teilwäldern handelte es sich um Grund und Boden der Gemeinde, der Holznutzen aber gehörte den Bauern.45 Tschurtschenthaler schreibt zu dieser juristisch heiklen Frage: »Ohne Zweifel, der Theorie nach haben die Rechtsgelehrten recht, aber praktisch, auch ohne Zweifel, die Bauern. […] Im Ahrntal gab es zum Glück wenig Teilwälder. Denn hier hat der Bergbau zu Prettau die Frage entschieden. Die Wälder blieben schon im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert gegen Abgabe von Holz an die Hochöfen den Bauern überlassen. Fast jeder Bauer hat noch seinen prächtigen Pergamentbrief in der Tasche. Mein Auge freut sich immer, wenn sich ein solcher Brief mit den ehrwürdigen Schnörkelzügen auf dem Tisch entfaltet.«46

Damit sind wir im Kern unseres Themas angelangt, bei der Wahrnehmung der archivalischen Überlieferung durch ihre Besitzer und deren Interpretation durch den ortsfremden Beamten. Tatsächlich findet Tschurtschenthaler im Ahrntal am meisten Grund zur Freude, was wohl mit seinem relativ langen Aufenthalt dort zu erklären ist. Er selbst aber scheint diese Landschaft als besonders reich an originaler Schriftlichkeit erlebt zu haben, da er schreibt: »Von alten Urkunden habe ich gesprochen. Ahrntal ist das klassische Land dafür. Da bringt wohl jeder sein Bündel alter Briefe wie einen Butterknollen und lauert verschmitzt, ob’s der Kommissär wohl ›derpackt‹, dies Zeug zu entziffern. Und wenn man sie dann entrollt47 und sie wie Liebesbriefe herunterliest, wozu einige Übung gehört, so schmunzelt so ein Bäuerlein bis zu seiner Glatze hinauf und meint: ›Schau, schau!‹ Und dann kommen vielleicht noch andere aus der hintern Leibltasche heraus, die ganz alten, die der Bauer wie ein Heiligtum hütet. Mancher hat eine ganze Truhe voll.«48

Es wird hier eine Art Initiationsritus beschrieben, der Beamte wird auf seine Integrität und Tauglichkeit hin untersucht, erst danach öffnet sich ihm das Allerheiligste: »Bei einem Bauern fand ich ein wohlgeordnetes Archiv in einem Kasten, den mir der Bauer mit den Worten öffnete: ›Da habʼ ich noch keinen hineinschmecken [hineinriechen, Anm.] 45 Tschurtschenthaler, Ahrntal (wie Anm. 42) 134. 46 Ebd. 47 Urkunden werden in der Regel nicht »entrollt«, sondern aufgefaltet. Die Aufbewahrung in gerollter Form ist zumindest im deutschsprachigen Raum selten. 48 Tschurtschenthaler, Es lebt ein Volk (wie Anm. 5) 135.

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lassen.‹ Da saß ich einen ganzen Nachmittag über diesen Urkunden, aus denen ich mir die Geschichte des Bauernhofes seit etwa vierhundert Jahren leicht zusammenstellen konnte.«49

Über eine weitere Begegnung erzählt Tschurtschenthaler: »Der Eppacher, ein junger Mann, war vor einigen Tagen in unserer Bergkanzlei; hoch von Gestalt, eine Adlernase im scharfgeschnittenen Gesicht, die Augen übermütig, leichten Spott um den Mund. So stand er vor uns in seinem grauen Lodenrock. Er brachte ein ganzes Bündel abgegriffener Urkunden über Hof und Ahnen mit, die seit vielen Geschlechterfolgen da oben saßen. Der Großvater war ein reicher Mann. Die Leute erzählen, er habe Truhen voll Geld in seinem Hause gehabt. Jedenfalls berichtet seine Verlaßabhandlung von Dukaten und Talern.«50

Und noch eine Episode sei erwähnt: »Ein andermal brachte mir ein Bauer einen riesigen Pergamentbrief, den er in seinem praktischen Hausverstande zu einem Lederstulpensack umgestaltete, um damit Mehl ins Zillertal hinüber zu liefern. Der Zillertaler war ein ehrlicher Mann und schickte den Brief wieder zurück. In der Tat erwies er sich für die Besitzrechte an dem Hof als sehr wichtig. Mit welch umständlichem Fleiß und mit welcher Sachkenntnis haben diese alten Pfleger und Hofrichter die Urkunden abgefaßt!«51

Hier kommt Tschurtschenthalers Respekt vor der Präzision historischer rechtssetzender Schriftlichkeit und allgemein vor der Verwaltung des Ancien Régime zum Ausdruck, und umgekehrt die Ablehnung gegenüber der neuen, wie er es formuliert, »recht wässerige[n] Gemeindeordnung«.52 Einmal mehr wird der Fortschrittspessimismus erkennbar, der ihn Zeit seines Lebens begleitet hat und der etwa auch in seinen Klagen über die Veränderung der Stadt Bruneck weg von einem biedermeierlichen »Klein-Weimar« hin zu einer aufstrebenden Kreis-, Tourismusund Dienstleistungsstadt offenkundig wird. Tschurtschenthaler sehnt sich nach einer Rückkehr zur alten Gemütlichkeit und Überschaubarkeit, zugleich aber auch zu provinzieller Kleinräumigkeit, Enge und Rückständigkeit.53 Er übt sogar Kritik an 49 Ebd. 50 Ebd., 154. 51 Ebd., 135. 52 Ebd., 135 f. 53 Stefan Lechner, Herr Rat und die Stadt Bruneck im Faschismus, in: Gasteiger, Chronik (wie Anm. 1) 10–22, besonders 18 f. Stefan Lechner, Gegen den Ausverkauf Tirols: Der Museumsgründer Paul Tschurtschenthaler, in: 100 Jahre Museumsverein Bruneck (wie Anm. 10) 31–44, besonders 33 f.



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seinem eigenen Berufsethos, das sich mit einer expandierenden Staatlichkeit und staatlichen Kontrolle arrangiere: »Es wäre Zeit, daran zu denken, dem Volke selbst wieder einmal den Zutritt zu seinen Rechtsquellen zu eröffnen und es in manchen Dingen selbst mitschaffen [mitbestimmen, Anm.] zu lassen.«54 Ein ähnliches Konzept kommt in einer Rezension zum Ausdruck, in der Tschurtschenthaler zwischen der Tiroler Geschichte bis 1816, die »ausgefüllt ist von einem Volksheldentum, das wiederholt die halbe Welt mit seinen Taten in Atem hielt«, und der Geschichte seit 1816, die sich »in Papier und wieder Papier, in Protokollen, in Sitzungsberichten, in einer fabelhaft papierenen Beamten- und Parteiwirtschaft« erschöpfe, unterscheidet.55 Der Grundbuchsanlegungs-Kommissär konnte im Ahrntal nicht nur die Hausarchive in Augenschein nehmen, sondern er brachte – dies ist für das von ihm gegründete Brunecker Stadtmuseum von Interesse – auch Souvenirs mit. Über das Dorf Weißenbach etwa schrieb er: »Er [der alte Eder, Anm.] hatte mir noch ein Bündel Urkunden übergeben, prachtvoll geschriebene Pergamente, Handfesten für Waldbefreiungen und Weiderechte. Sein Adlergesicht wandte sich mit einem köstlichen Gemisch von Ehrlichkeit und Schlauheit zu mir: ›Wenn Sʼ wieder kommen, dann gehen wir auf die Gamsen. Selm [Da, Anm.] tu ich mich leichter als bei euch in der Schreibstube.‹«56

Mit der Einladung zur Jagd erhielt Tschurtschenthaler gewissermaßen einen Ritterschlag. Der enge Kontakt und ungezwungene Umgang mit den Bauern gewährte ihm Zugriff auf Archive, die – sofern sie noch existieren – heutigen Archivarinnen und Archivaren bisweilen vorenthalten werden. Am Ende des Ahrntal-Kapitels schildert Tschurtschenthaler noch wehmütig das Ende seiner Tätigkeit, d.h. den Abbau der provisorischen Kanzlei: »So geht der Sommer zu Ende. Dörfchen und Katastergemeinden sind fein sauber fertiggestellt. Berg, Wald, Weide und Eishöhen, kurz ein Stück herrlicher Gotteswelt ist in Parzellen und Nummern eingeteilt. Die samtbraunen Bauernhäuser sind Bauparzellen geworden. […] Dann gehe ich hinunter in die Kanzlei, hole Erhebungsprotokoll um Erhebungsprotokoll heraus, sehe, daß jeder Bauer zu seinem Haus und Hof, jedes Höfchen zu seiner Weide und jeder herrliche Berggrat zu seiner Unberührtheit kommt, frei von Tinte und Klex. Jetzt habe ich den

54 Tschurtschenthaler, Es lebt ein Volk (wie Anm. 5) 136. 55 Paul Tschurtschenthaler, Von der Ehre und Freiheit des Tiroler Bauernstandes, I. Teil, in: Der Schlern 15 (1934) 432. 56 Tschurtschenthaler, Es lebt ein Volk (wie Anm. 5) 152.

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Schlußstrich gezogen und das Schlußwort über alle Akten gesprochen. Morgen ziehen wir fort.«57

Abbildung 2 und 3: Hofarchiv aus dem Südtiroler Pustertal, 17.–20. Jahrhundert. Privatbesitz.

 

  Fotos: Andreas Oberhofer.

57 Ebd., 136–138.



B AUER

UND

S CHRIFT 2: H AUSBRIEFE

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UND

H AUSARCHIVE

Tschurtschenthaler zeigte ein besonderes Interesse für den Umgang der Menschen mit ihrer schriftlichen Überlieferung. Die Beschreibung dieser Überlieferung, sprich von kleineren oder größeren Sammlungen von Archivalien (Handschriften und Drucken) und Büchern, die – was die Handschriften betrifft – vor allem Rechtsdokumente enthielten und sich deshalb für den berechnenden, katalogisierenden und kategorisierenden Beamten als besonders reizvoll erwiesen, ist heute nicht zuletzt von archivarischem Interesse, da die Bestände in manchen Fällen vermutlich nicht mehr existieren. Sie bzw. Teile von ihnen fielen dem Vergessen anheim, wurden verlegt, verloren, verkauft, verschenkt oder – im schlimmsten Fall – durch Feuer, unsachgemäße Lagerung, alternative Verwendung oder mutwillige Zerstörung vernichtet. Wie ein Erlass des Pustertaler k.k. Bezirkshauptmannes von 1851 zeigt, war sich die Obrigkeit durchaus bewusst, dass sich der »unerfahrene schlichte Bürger und Landmann« durch die Veräußerung von Urkunden »selbst oft der unersetzlichen Beweismittel für Besitz und Eigenthum, für Grund-, Gränze-, Weide-, Waldund andere Rechts-Verhältnisse« beraubt.58 Das ursprüngliche Vorhandensein von älterem Schrifttum auch in ländlichen Gegenden ist vielfach nachgewiesen.59 Ein besonderer Glücksfall war die Entdeckung eines Kleinarchivs in Kastelruth,60 das auf einem Hof die Jahrhunderte überdauert hat und zumindest im Jahr 1950 noch in einer »gotischen Truhe« verwahrt wurde. Lili Walter-Pawlik hat nach den »alten Schriften« (das älteste Dokument ist aus dem Jahr 143461) in dieser Truhe die Geschichte des Bergbauernhofes rekonstruiert. Interessant ist das Vorwort von Leopold Langhammer, der über die Benutzung des Archivs und somit über Praktiken im Umgang mit historischer Schriftlichkeit schreibt: 58 Wie Anm. 7. 59 Vgl. etwa den Sammelband: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 156), hg. von Werner Rösener, Göttingen 2000. 60 Herzlichen Dank für den Hinweis an Mag. Franz Jäger vom Steiermärkischen Landesarchiv! 61 Die Truhe enthält 43 Dokumente aus dem Zeitraum von 1434 bis 1813, 19 stammen aus der Zeit vor 1676. Im Vorwort weist Leopold Langhammer vor allem auf einen Wappenbrief, Toten- und Taufscheine sowie ein Verlassenschaftsbuch aus »der Andreas HoferZeit« hin. Im Nachwort schreibt der Verlag, dass »die Erhaltung einer solchen Anzahl von Dokumenten, die sich alle auf eine einzige Bauernsippe beziehen, eine große Seltenheit« darstelle. Lili Walter Pawlik, Die Chronik des Sonnleitenhofes. Die Geschichte eines Südtiroler Bergbauernhofes, alten Schriften nacherzählt und bis in die jüngste Zeit fortgesetzt. Einer alten Truhe entnommen und niedergeschrieben, Wien 1950, 186 f.

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»Dann sind Aufzeichnungen eines Sonnleitensohnes vorhanden, der Korporator [sic] und später Pfarrherr in Kastelruth war. Er hat damals schon alte Kaufverträge, Tauf- und Totenscheine, Rechnungen und weitere Pergament- und Papierblätter für seine Aufzeichnungen, den Hof betreffend, benützt und alle, sauber gefaltet, in die Truhe gelegt. Seit dem Ableben dieses Pfarrherrn hat wohl durch Generationen die Truhe niemand geöffnet, sie blieb vergessen, denn die Menschen auf diesen einschichtigen Höfen leben ihr hartes, von den Jahreszeiten bedingtes Arbeitsleben. Sie sind hart wie die Berge, die sie umstehen. Sie haben nicht ›Derweil‹, in alten Truhen zu stöbern […].«62

Das Hofarchiv besteht aus einer Truhe, die als Depot alle wichtige Schriftlichkeit »den Hof betreffend« enthält, in jüngerer Zeit aber offenbar in Vergessenheit geraten war. Während der Hinweis auf den »harten« Bergmenschen eindeutig dem Klischee zuzurechnen ist,63 ist das Problem, welches jenes im Zitat erwähnte »Derweil haben« beschreibt, wohl weniger das »Zeit zum Stöbern haben« als vielmehr – wie bereits gezeigt – das fehlende Lesen-Können. In den Tiroler Nachlassinventaren kommen Hausbriefe oder Ähnliches, also Urkunden und Akten, normalerweise überhaupt nicht vor. Der Befund von Markus Friedrich, dass in den Inventaren spätestens im 18. Jahrhundert eigene thematische Rubriken für »Briefschaften« angelegt wurden,64 wird sich daher eher auf bürgerliche und adelige Haushalte beziehen. Hier mögen die persönlichen Papiere zunehmend als Teil des Erbes interpretiert und als solches von Notaren inventarisiert worden sein. Dennoch wurde es auch im ländlich-bäuerlichen Umfeld (wenn auch später) häufiger, dass in Wohnungen Verstorbener Schriftgutsammlungen vornehmlich mit rechtsrelevanten Dokumenten in Schränken, Kisten und Schubladen vorgefunden wurden.65 Für die zeitliche Einordnung der Entstehung dieser Kleinarchive sind wir in den meisten Fällen auf die Datierung der ältesten Dokumente als termini ante quos non angewiesen. Auch Markus Friedrich bleibt – obwohl er einige konkrete Beispiele aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts nennt, in dem »selbst ein62 Ebd., 7. 63 Vgl. etwa: Andreas Oberhofer, Der Berg und die Freiheit – Wie der Tiroler Aufstand von 1809 mit der Entdeckung der Alpen zusammenhängt, in: Berg & Leute. Tirol als Landschaft und Identität (Schriften zur Politischen Ästhetik 1), hg. von Ulrich Leitner, Innsbruck 2014, 274–301. 64 Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013, 70. 65 Ebd. Zu bürgerlichen Inventaren aus Brixen vgl. Johannes Andresen, Frühneuzeitliche Inventare als Quelle zur Erforschung bürgerlicher Lebenswelten. Das Fallbeispiel Brixen, in: Stadt und Hochstift / Città e Principato (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 12), hg. von Helmut Flachenecker / Hans Heiss / Hannes Obermair, Bozen 2000, 249–259. Andresen weist auf eine eigene Rubrik »Bücher« in einem Inventar von 1588 hin (257).



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fache Menschen« im ländlichen Raum mit Archiven konfrontiert worden wären – sehr allgemein mit der Angabe, dass im Lauf von Spätmittelalter und früher Neuzeit zunehmend soziale Akteure die Notwendigkeit und den Willen erkannt hätten, abseits der obrigkeitlichen Archivpolitik Archive zu besitzen.66 Seit dem 13. Jahrhundert war es üblich, dass Lehensbeziehungen durch geschriebene Urkunden formalisiert waren und durch die Konsultation von Pergamenten und Papieren überprüft werden konnten. Der Zugriff auf die originale Überlieferung, das »primäre Material, die steingewordene Realität selbst«67 bzw. die Schriften, die »in dubio pro authenticis gehalten« werden konnten,68 sicherte damit mehr denn alle Studien späterer Aktenläufe Einsicht in die ursprüngliche rechtliche Situation. Durch das sorgfältige Aufbewahren alter Unterlagen konnte wachsenden Machtansprüchen der Landesherren rechtswirksam entgegengetreten werden, was zu sozialer Eigenständigkeit verhalf.69 Nicht nur im adeligen, sondern zunehmend auch im bürgerlichen Umfeld finden sich seit der frühen Neuzeit Definitionen von Archiven als »Haus-Cantzley«, »Hauß-Registratur« oder »Schrifft-Kasten«, in denen der »Hausvater« die ökonomisch und juristisch relevanten, zum Gut gehörigen Schriften aufbewahren konnte.70 Im Fall des Sonnleitenhofes in Kastelruth schildert Lili Walter-Pawlik, wie »Michele«, der kleine Sohn der Familie, neugierig in die »gotische Truhe« schaut und die Pergamente sieht, mit denen er freilich nicht viel anfangen kann. Die Erzählerin ermahnt ihn: »Michele, laß es gut sein. Jetzt ist das alles nichts für dich. Aber wenn du groß bist, wenn du Bauer bist auf deinem Hof, dann soll das alles dir gehören. Dir und deinem Geschlecht. In allen diesen Tauf- und Totenzetteln, in den alten Inventarbüchern, im Wappenbrief, in den Kaufverträgen und alten Briefen, steht die Geschichte deines Hofes aufgeschrieben bis zum heutigen Tag. Es ist eine lange Geschichte, für den, der sie lesen kann.«71

Hermann Wopfner (1876–1963), Universitätsprofessor in Innsbruck und Gründer der Zeitschrift Tiroler Heimat, der in ähnlich ethnographischer Manier wie Tschurtschenthaler Tirol bereist und erwandert hat, um das Leben der Bauern, vornehmlich der Bergbauern, zu erforschen, und dessen Schrift Von der Ehre und Freiheit des Tiroler Bauernstandes von Tschurtschenthaler sehr wohlwollend rezensiert

66 Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 59, 70 f. 67 Knut Ebeling / Stephan Günzel, Einleitung, in: Archivologie (wie Anm. 2) 7–26, 19. 68 Vgl. Wolfgang Ernst, Das Archiv als Gedächtnisort, in: Archivologie (wie Anm. 2) 177– 200, hier: 192. 69 Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 65 f. 70 Ebd., 68. 71 Walter Pawlik, Chronik (wie Anm. 61) 33 f.

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wurde,72 entwirft wie auch Tschurtschenthaler ein Bild der konservierenden Archivpflege durch die ländlich-bäuerlichen Besitzer. Die zahlreich vorhandenen Dokumente, namentlich die Hausbriefe (Baurechtsverleihungen, Kauf- und Tauschbriefe, Verlassenschaftshandlungen mit Inventaren und anderen Urkunden, die sich auf den Besitz beziehen), würden dabei in Ehren gehalten. Während die bäuerlichen Kleinarchive allerdings bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts sorgfältig verwahrt worden wären, zeigt sich Wopfner (wie Tschurtschenthaler) als Fortschrittspessimist, wenn er für das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert feststellt, dass mit einer Abnahme des »Familiengefühls« auch das Interesse an der Familiengeschichte und ihren schriftlichen Zeugnissen schwinde, wobei natürlich auch die »verminderte Bedeutung der Besitzurkunden in der Zeit nach der Grundentlastung von 1848« eine Rolle spiele.73 Durch den Wegfall der alten ständischen Ordnung waren die alten Urkunden und Rechtstitel wie auch ganze Archive in der Tat ihrer patrimonialen Funktion beraubt worden und hatten ihre gegenwartsbezogene juristische Bedeutung verloren; alle ehemals rechtlich relevanten Dokumentensammlungen waren historische Archive geworden.74 Wopfner führt zudem ins Feld, dass ältere Urkunden zunehmend nicht mehr gelesen werden konnten, »während früher gelegentlich sogar in der Schule ältere Lehrer, wie mir von Bauern mitgeteilt wurde, die Kinder Urkunden lesen ließen.«75 Damit beklagt er einen allgemein grassierenden Analphabetismus, was das Lesen historischer Handschriften betrifft: »Die Bauern waren auch nicht mehr fähig, ihre älteren Urkunden zu lesen. In früherer Zeit, etwa noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte, wie mir von älteren Leuten berichtet wurde, so mancher Lehrer an einer Landschule gelegentlich mit seinen Schülern Hausbriefe und Gemeindeurkunden gelesen. Eine gewisse Vertrautheit der Lehrer mit den Gemeindeschriften ergab sich daraus, daß die Lehrer oftmals mit der Aufgabe als Gemeindeschreiber betraut wurden. […] Die alten Gemeindearchive haben leider infolge der Verwahrlosung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedauerliche Verluste erlitten; die erhalten gebliebenen Reste verzeichnen die ›Archivberichte aus Tirol‹«.76 72 Wie Anm. 55. 73 Hermann Wopfner, Bergbauernbuch. Von Arbeit und Leben des Tiroler Bergbauern, 2. Bd.: Bäuerliche Kultur und Gemeinwesen, hg. von Nikolaus Grass (Schlern-Schriften 297, Tiroler Wirtschaftsstudien 48), Innsbruck 1995, 51 f. 74 Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 277. 75 Wopfner, Bergbauernbuch, 2. Bd. (wie Anm. 73) 51 f. 76 Ebd., 266. Gemeint ist das Standardwerk: Archiv-Berichte aus Tirol (Mittheilungen der dritten [Archiv-] Section der k.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale 1, 3, 5, 7), hg. durch Emil von Ottenthal und Oswald Redlich, Wien 1888–1912.



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Der Hinweis, dass im 19. Jahrhundert in der Schule Handschriften gelesen wurden, ist insofern wichtig, als in dieser Zeit noch zwischen dem Lesen von Gedrucktem und dem Lesen von Handschriften unterschieden wurde: Peter Rosegger etwa weist an einer Textstelle explizit darauf hin, dass seine Mutter »Drucklesen« konnte, was sie von einem Köhler gelernt hätte.77 Das Lesen von Handschriften galt als schwieriger, mitunter wurde aber anhand alter Handschriften, eventuell aus Mangel an gedruckten Büchern, der Leseunterricht erteilt.78 Es ist wohl davon auszugehen, dass es sich hierbei um jüngere Texte in deutscher Sprache handelte, zumal bisweilen sogar Archivare noch im 18. Jahrhundert große Schwierigkeiten mit dem Entziffern mittelalterlicher (vor allem lateinischer) Texte hatten.79 Besonders interessant ist das Beispiel eines Mannes aus Tösens, einem Ort im Oberinntal, der in einem Haus auf den Hausvater gewartet und gefragt habe, ob er für die Langeweile nicht in einem Brief, d.h. in einer Urkunde, lesen könne. Wopfner bezieht sich mit dieser Anekdote auf den Bericht eines Dekans Lorenz, der dieses Ereignis im Jahr 1588 situiert hat, und fährt fort: »Der Bub gibt ihm eine alte Urkunde. Der Tösner liest dieselbe und kann später bei der [...] Gerichtsverhandlung über den Inhalt Aufschluß geben. Das wird in einer Weise erzählt, daß man zur Meinung kommt, die Übung im Lesen sei schon damals etwas Gewöhnliches gewesen.«80

Abgesehen davon, dass es bemerkenswert erscheint, dass der Tösener im ausgehenden 16. Jahrhundert des Lesens alter Schriften mächtig war,81 ist es ebenso bemerkenswert, dass die Urkunde offenbar im Haus vorhanden und greifbar war, sodass sie der Junge gleich finden konnte. Eine ähnliche Episode, allerdings aus späterer 77 Rosegger, Waldbauernbub (wie Anm. 39) 237. 78 Alfred Messerli, Das Lesen von Gedrucktem und das Lesen von Handschriften – zwei verschiedene Kulturtechniken?, in: Messerli / Chartier, Lesen und Schreiben (wie Anm. 25) 235–246. 79 Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 129 f. 80 Wopfner, Bergbauernbuch, 2. Bd. (wie Anm. 73) 266. 81 Dekan Lorenz gab Informationen zur Schreibfähigkeit der bäuerlichen Bevölkerung im Gericht Laudeck im 17. Jahrhundert, wonach bereits in dieser Zeit wie auch Anfang des 18. Jahrhunderts die meisten Hausbesitzer fähig waren, zumindest ihre Unterschrift zu schreiben (ebd., 321). Heute geht man davon aus, dass die Fähigkeit, den eigenen Namen zu schreiben, nicht unbedingt auf einen höheren Grad an Alphabetisierung bzw. auf Lesen und Schreiben als kulturelle Kommunikationstechniken hinweisen muss, siehe etwa Alexander Schunka: Rezension zu Rösener, Kommunikation (wie Anm. 59) in: H-SozKult, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-519, 5.8.2000; auch Wittmann, Geschichte (wie Anm. 21) 190.

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Zeit, findet sich bei Tschurtschenthaler. Ihm wurde von einem Ahrntaler Bauern, der ihn in seiner provisorischen Kanzlei heimsuchte, ein »altes Schriftstück« über den Kauf einer Mühle hingehalten mit der Aufforderung: »da lesen’s«. Der Bauer kannte den Inhalt des Briefes und verlangte die Eintragung des Geschäftes seines Großvaters (»Nön«) in das Grundbuch.82 Hermann Wopfner geht es nicht nur um die schriftliche Überlieferung, sondern auch um die mündliche Tradition innerhalb der bäuerlichen Familien, und um die orale Weitergabe der Familiengeschichte.83 Er stellt einen Müller aus Sexten namens Blasius Tschurtschenthaler (der kein direkter Vorfahre des Paul war) vor, der 1742 eine Familienchronik in Angriff genommen und sich sowohl auf ein umfassendes Familienarchiv als auch auf die Berichte des »lieb gewesten Vattern« gestützt hätte.84 Damit ist – neben dem Bestand an Archivalien und jenem von Büchern im bäuerlichen Haushalt – eine dritte Gruppe von Corpora, jene der mündlichen Überlieferung, angesprochen. Die Bedeutung der Tradition des Erzählens betont auch Tschurtschenthaler, sobald er das Changieren zwischen schriftlicher und mündlicher Tradition der »Rechtsanschauungen des Volkes« thematisiert. Diese hätten sich nicht selten in den Bereich der Sage verflüchtigt, um fortzuleben, wo sie in einer staatlich reglementierten Verfassung und Rechtsauslegung keinen Platz mehr hätten.85 Es ist sicher kein Zufall, dass es gerade im 19. Jahrhundert zu den groß angelegten Sammlungen der »verlorenen Mündlichkeit«, sprich von Liedern, Märchen und Sagen durch Herder, Arnim, Brentano und die Brüder Grimm kam.86 Für den alpinen Raum sind in dieser Hinsicht Ignaz und Joseph Zingerle, Johann Adolf Heyl und Karl Felix Wolff zu nennen. Ihre Vorhaben sind durchaus vergleichbar mit jenen von Museumsmachern, Bibliothekaren und Archivaren, die bemüht waren, kulturelles Erbe (der Begriff wird erst viel später geprägt werden) zu zentralisieren, um es damit besser schützen und erhalten zu können. Auch ein Interesse für nichtschriftliche Überlieferung in schriftlosen Gesellschaften etablierte sich bereits seit der frühen Neuzeit und speiste sich nicht zuletzt aus der Entdeckung außereuropäischer Kulturen, welche sich entweder auf rein mündlich organisierte Archive oder aber auf originelle Methoden der Erinnerungsspeicherung (wie

82 Tschurtschenthaler, Ahrntal (wie Anm. 42) 145. 83 Wopfner, Bergbauernbuch, 2. Bd. (wie Anm. 73) 52. 84 Hermann Wopfner, Bergbauernbuch. Von Arbeit und Leben des Tiroler Bergbauern, 1. Bd., Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte, hg. von Nikolaus Grass (SchlernSchriften 296, Tiroler Wirtschaftsstudien 47), Innsbruck 1995, 329. Ausführlich zur Chronik vgl. Anonym, Die Tschurtschenthaler. Die Geschichte eines Bergbauerngeschlechtes, in: Der Schlern 14 (1933) 266–270. 85 Tschurtschenthaler, Es lebt ein Volk (wie Anm. 5) 136. 86 Heinz Schlaffer, Einleitung, in: Goody, Entstehung (wie Anm. 41) 7–23, hier: 13.



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die geknüpften Schnüre der Inkas) stützten, die in eigenen Depots aufbewahrt wurden.87 Abbildung 4: Lili Walter-Pawlik, Die Chronik des Sonnleitenhofes, Titelblatt.

Quelle: Verlag Paul Kaltschmid, Wien. 87 Vgl. Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 109–111.

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Abbildung 5: Wandschrank in der ehemaligen Wohnstube des Ansitzes Mairamhof in Dietenheim, heute Ausstellungsraum des Südtiroler Landesmuseums für Volkskunde. Die Bestückung mit Urkunden und anderen Handschriften sowie Büchern wurde durch das Museum arrangiert. Über dem Schrank ist der Schriftzug »+ IACOW MVTSHLECHNER 1798« eingeschnitzt.

  Foto: Südtiroler Volkskundemuseum.

D AS A RCHIV ALS K ÖRPER ZWISCHEN Ö FFENTLICHKEIT UND P RIVATHEIT Die Erkundungen Paul Tschurtschenthalers werfen Schlaglichter auf verschiedene Aspekte, die für eine neue Archivkunde mit ihrem Fokus auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen aussagekräftig sein können. An erster Stelle interessiert etwa die Auswahl von für den Juristen, Beamten und Sammler relevanten Beständen. Für Tschurtschenthaler waren sowohl private als auch Dorf-, Landgemeinde- oder Gerichtsarchive, die bisweilen in speziellen Räumen oder sogar Häusern verwahrt



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wurden,88 von Interesse. Keine Beachtung hingegen schenkte er anscheinend den Pfarrarchiven, die auf dem Gebiet des historischen Tirol seit dem ausgehenden 16. bzw. beginnenden 17. Jahrhundert in Truhen und Schränken im Pfarrhaus oder in Nebenräumen in den Kirchen untergebracht waren. Sie finden jedenfalls in seinen Aufzeichnungen keinen Niederschlag. Pfarrarchive enthalten die herrschaftlichen Instrumente (Mandate, Dekrete, Verordnungen), die in den ländlichen Siedlungen vielleicht kopiert, auf jeden Fall aber auf den Kanzeln und in den Wirtshäusern verlesen und somit publiziert wurden und den Weg in private Dokumentensammlungen in der Regel nicht gefunden haben. Was die Typologie der von Tschurtschenthaler beschriebenen Archivalien betrifft, so fällt auf, dass er Produkte des eigenständigen bäuerlichen Schreibens, etwa im Sinne der Ein- und Ausgabenrechnung, des Schreibkalenders mit Wetter- und Chronikaufzeichnungen oder des reflektierenden Schreibens,89 im extremen Fall in der Form einer »Weltbeschreibung«,90 nicht thematisiert (was keineswegs bedeutet, dass sie in den bäuerlichen Schriftsammlungen nicht enthalten waren).91 Der Beamte richtete sein Augenmerk vielmehr auf Dokumente, die aus dem täglichen Gebrauch bereits ausgeschieden und in Kästen, Truhen, Regalen, Fächern und Schubladen aufeinander gelegt bzw. nebeneinander gestellt (geschichtet) worden waren. Das Anlegen von – wenn auch kleinen – Archiven war und ist stets mit »Raumpraktiken der Ordnungsstiftung« (Markus Friedrich) verbunden, zu denen in erster Linie die Absonderung der als wertvoll und für die Überlieferung geeigneten Papiere und Pergamente von allgemeinem, ständig anfallenden und als wertloser erachteten Alltagsschrifttum, aber auch von in Verwendung stehenden Medien wie Schreibkalendern, Rechnungsbüchern, Gebetsbüchern oder Chroniken gehört(e). Während (gedruckte) Bücher im ländlichen Raum bevorzugt auf Bücherbrettern in den Stuben standen, griffbereit waren und auch von Besucherinnen und Besuchern gesehen

88 Klaus-J. Lorenzen-Schmidt, Schriftliche Elemente in der dörflichen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit: das Beispiel Schleswig-Holstein, in: Rösener, Kommunikation (wie Anm. 59) 169–187, hier: 176 f. 89 Vgl. zu dieser Strukturierung und zu Beispielen bäuerlicher (Auf-)Schreibebücher: Jan Peters, Bäuerliches Schreiben und schriftkulturelles Umfeld, in: Messerli / Chartier, Lesen (wie Anm. 25) 87–106. 90 Als Beispiel für letzteren Typus, das aufgrund seines Seltenheitswertes sogar Anlass für ein Dissertationsprojekt gab, vgl. Peter Andorfer (Hg.), Die Weltbeschreibung des Leonhard Millinger (Editiones Electronicae Guelferbytanae 12), http://diglib.hab.de/wdb.php? dir=edoc/ed000223, 26.8.2015. 91 Reinhart Siegert nennt eine Bauernfamilie, die zumindest im 18. Jahrhundert »über den Hofbetrieb genau Buch führte und einen beträchtlichen Geschäftsbriefwechsel unterhielt«. Siegert, Handwerker (wie Anm. 25) 20.

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werden konnten,92 war der Ort der Aufbewahrung der Archive zumeist ein verschließbares Behältnis. Die Separierung diente dabei zum Schutz des Archivkörpers, der aus empfindlichen Materialien (Papier, Pergament, Fotomaterial) bestand, in erster Linie vor Feuer, Wasser, Moder und Ungeziefer;93 gleich wichtig aber war das gesonderte Aufbewahren des als wertvoll erachteten Materials als symbolischer Akt. Als »Gründungsgeste« (Michel de Certeau) kann das Ablegen des ersten als erhaltenswürdig erscheinenden Dokumentes oder Gegenstandes in einem dafür vorgesehenen Raum oder Behältnis betrachtet werden.94 Das 18. Jahrhundert brachte die Herausbildung des Konzeptes des (Urkunden-) Archivs (im Gegensatz zur Akten-Registratur) mit sich, welches dazu führte, dass die Urkunden als rechtssetzende und Besitztitel garantierende Dokumente bisweilen als besonders wertvoll und aufbewahrungswürdig eingeschätzt wurden (wobei natürlich auch der optische Reiz und die Haptik prachtvoller Urkunden wie etwa der Wappenbriefe eine wichtige Rolle gespielt haben wird), was ihnen auch physisch einen besonderen Stellenwert im Archiv zuwies.95 Nicht zuletzt durch diese höhere Wertschätzung von Urkunden im Vergleich zu jener der Akten enstanden in jedem Archiv Lücken, die nicht nur aus Platznot oder anderen kontingenten Bedingungen, sondern eben auch durch die Bewertung des Materials durch die archivführende Institution zu erklären sind. Das Vorhandensein von Lücken bestätigt den Charakter des Archivs als aktiver Generator für Wissen, als Summe von Tätigkeiten und Handlungen, mehr denn als passiver Ort der Aufbewahrung (Michel Foucault). Erst durch den Eingriff des Archivars bzw. der archivbildenden Person oder Körperschaft entsteht aus der wahllosen Ablage von Material das Archiv als Wissensort.96 Das Archiv ist räumlich in der Nähe des Archivträgers verortet. Im Fall der bäuerlichen Kleinarchive ergibt sich damit das Problem der Öffentlichkeit und Privatheit (bzw. Offenheit und Verschlossenheit97). Der Ursprung eines Archivs liegt in der Sphäre der Verwaltung, in welcher es die Funktion der Ablage übernimmt.98 Auch die bäuerlichen Archive waren in erster Linie Orte der Verwahrung juristisch relevanter Texte und entsprechen damit dem ursprünglichsten Begriff des Archivs als Gesetzessammlung, der häufig von arché (Anfang, Gebot) sowie Archaion, dem Wohnsitz der griechischen Gesetzeshüter (Archonten), abgeleitet wird.99 Die admi92 Vgl. ebd., 14 f. 93 Vgl. Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 160. 94 Ebd., 171. 95 Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 112. 96 Ebd., 17 f.; 121 f. 97 Ebd., 251. 98 Ernst, Archiv (wie Anm. 68) 178. 99 Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, in: Archivologie (wie Anm. 2) 29–60, 32; Knut Ebeling, Das Gesetz des Archivs, in: Ebd., 61–88, hier: 61–63.



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nistrative Funktion des Archivs bedinge, so Knut Ebeling, bis heute seine strenge Unterscheidung von Bibliothek und Sammlung und kopple es unmittelbar an die Bereiche von Gesetzgebung und Politik.100 Der Begriff Archiv bezeichnete somit ursprünglich nicht das (öffentliche) Archivgut oder das Archiv an sich, sondern nur den Ort seiner Aufbewahrung, das (private) Haus des árchon, den (fiktiven) Standort aller Gesetztestexte, der durch seine Öffentlichkeit die ständige Zugänglichkeit und somit die Praxis der Demokratie erst ermöglichte.101 Cornelia Vismann bevorzugt eine für die bäuerlichen Archive und eine materiale Archivgeschichte eher passende Herleitung des Begriffes Archiv von arca = Truhe, Kiste, Lade, Keller oder Zelle, die im Mittelalter gängig war und den Ursprung des Begriffes Archiv in die Nähe zu arcanum (Geheimnis) rückte.102 In Oberwielenbach im Pustertal ist im Pfarrhaus bis heute eine historische Urkundentruhe überliefert, die nur durch das gleichzeitige Drehen dreier Schlüssel zu öffnen ist.103 Die Sicherheit des Inhalts mag ausschlaggebend für die Wahl des Schließmechanismus gewesen sein; zweifelsohne wurden dadurch aber auch die Frequenz der Öffnung der Truhe und die Möglichkeit zur Inspizierung ihres Inhaltes stark eingeschränkt. Während kirchliche Archive allerdings – zumindest was die Thesaurus-Bestände (Urkunden) betrifft – relativ früh geöffnet wurden und heute relativ gut aufgearbeitet und verzeichnet sind, sind bäuerliche Kleinarchive zumeist unter Verschluss geblieben und standen der historischen Forschung nur in seltenen Fällen zur Verfügung. Das Archiv des Historismus hat wie auch das Museum und die Bibliothek den Auftrag, seine Bestände zugänglich zu machen und diese Zugänglichkeit zu garantieren. Haus- oder Hofarchive, die noch ganz dem frühneuzeitlichen Konzept der geheimen Sammlung von arcana verhaftet sind, können diesen Auftrag nicht erfüllen. Was in konservatorischer Hinsicht ein Glücksfall ist, stellt den Sinn des Archivs in Frage: Cornelia Vismann stellt fest: »Das unbenützte Archiv ist das perfekte Archiv. Sein Versprechen der Unveränderlichkeit hält es ein. Es hat sich gegen die Zeit verschlossen.« Auf dieses Statement folgt aber gleich die relativierende Frage: »Was ist daran noch Archiv? […] Es ist ein Nicht-Archiv.«104 Vismann schildert in diesem Zusammenhang einen absoluten Extremfall, in welchem eine (vergessene) Sammlung von beschriebenen Bleirollen quasi als Zeitkapsel über Jahrhunderte erhalten blieb. Das Beispiel der bäuerlichen Kleinarchive ist nicht in diesem Maße eklatant, da diese Sammlungen oft bis in das 19. oder 20. Jahrhundert hinein angereichert wurden und zum Teil heute noch angereichert werden. Umge100 Ebeling, Gesetz (wie Anm. 99) 64 f. 101 Ebd., 79. 102 Cornelia Vismann, Arché, Archiv, Gesetzesherrschaft, in: Archivologie (wie Anm. 2) 89–103, 103. Vgl. auch: Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 112. 103 Vgl. zur Praxis mehrerer Schlüssel: Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 167–170. 104 Vismann, Arché (wie Anm. 102) 100 f.

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kehrt wurden (und werden) als nicht mehr relevant erachtete Bestandteile des Archivs immer wieder aussortiert, vernichtet oder in den »profanen Raum außerhalb des Archivs«105 rückgeführt. Aleida Assmann sieht die Entstehung des Archivs im passiven Erinnern (Ansammeln, Speicher-Gedächtnis) begründet, jene des Museums hingegen im aktiven Erinnern (Sammeln, Funktionsgedächtnis).106 Dem Typus Sammlung entlehnen wir in unserem Fall die Eigenschaft, dass das betroffene Material »aus der Gebrauchssphäre«107 herausgeschnitten und einer neuen Verwendung zugeführt wurde (wie es etwa bei der Anlegung von Briefmarken-, Grafik- oder Autographensammlungen geschieht). Das erwähnte Bleirollen-Archiv ist in Assmanns Systematik dem aktiven Vergessen zuzuordnen, während die bäuerlichen Kleinarchive der Sphäre der – wenn auch passiven – Erinnerung, dem Speicher-Gedächtnis, zugehören, das aufnimmt, »was seinen Gebrauchswert, seine Relevanz und Bedeutung in einer Gesellschaft verloren hat«, Überreste, die »fremd und unverständlich geworden sind«.108 Diese Definition bereitet insofern Unbehagen, als – wie wir gesehen haben – die im bäuerlichen Kleinarchiv verwahrten Rechtsdokumente über Jahrhunderte weder ihren Gebrauchswert verloren haben noch unverständlich geworden sind. Es ist deshalb notwendig, hier eine zeitliche Zäsur mitzudenken. Wie Hermann Wopfner richtig erkannte, war der Umgang mit den bäuerlichen Archiven vor und nach der Mitte des 19. Jahrhunderts grundlegend unterschiedlich. Das Funktions-Gedächtnis, das sich am Beginn des 19. Jahrhunderts in viel stärkerem Maße auch noch aus der oralen Tradition speiste und das Archiv als Ansammlung hatte entstehen lassen, wandelte sich zunehmend zum Speicher-Gedächtnis, welches das Archiv eher zur Sammlung werden ließ und es in die Nähe von musealen Beständen und historisch wertvollem Kulturgut rückte.109 Die bäuerlichen Kleinarchive sind somit in einem Graubereich zwischen öffentlicher und privater Sphäre angesiedelt (ungenau ist die Gleichsetzung von öffentlich mit »auf das Gemeinwesen bezogen«110). Sie enthalten in der Regel Schriftstücke, die der Rechtssicherung dienen, von öffentlich autorisierten Personen wie Notaren und Gerichtsschreibern verfasst (oder abgeschrieben) sind und deshalb als öffentlich

105 Boris Groys, Der submediale Raum des Archivs, in: Archivologie (wie Anm. 2) 139– 151, hier: 139. 106 Aleida Assmann, Archive im Wandel der Mediengeschichte, in: Archivologie (wie Anm. 2) 165–175, hier: 170. 107 Michel de Certeau, Der Raum des Archivs oder die Perversion der Zeit, in: Archivologie (wie Anm. 2) 113–121, hier: 113. 108 Vgl. Assmann, Archive (wie Anm. 106) 170 f. 109 Ebd., 172 f. 110 Vgl. Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 147.



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gelten.111 Markus Friedrich weist darauf hin, dass es in Frankreich regelmäßige Bestandsaufnahmen gab, bei denen alle Lehensnehmer ihre Rechtstitel zu einem festgelegten Zeitpunkt offenzulegen hatten und somit ihre Archive öffnen bzw. die Schriftensammlungen offenbaren mussten.112 Sah sich eine der beiden Parteien in ihrem sozialen Status quo in Frage gestellt, konnte die Archivrecherche, d.h. das Hervorholen alter Schriftstücke, durch einen Abgleich der aktuellen Situation mit den ursprünglichen Rechtsverhältnissen Klarheit schaffen und die soziale Ordnung stabilisieren.113 Moderne Archivgesetze verlangen eine ähnliche Offenlegung (wenn auch mit gänzlich anderer Zielsetzung). Sie streichen die Bedeutung der historischen Überlieferung heraus und stellen auch kleine Archivbestände und sogar einzelne Dokumente unter besonderen Schutz (etwa hinsichtlich ihrer Unverkäuflichkeit ins Ausland), womit der vermeintlich private oder geheime Charakter der Archive seit einigen Jahrzehnten stark relativiert wird. Die Kleinarchive gelten heute als historische Archive von öffentlichem Interesse, die kein Input aus der Gegenwart mehr erfahren, als kulturelles Erbe im engeren Sinn einzustufen und somit Gegenstand der Kultur- und Geschichtswissenschaften sind.114

O RTE UND R ÄUME : M ENSCHEN IN B EWEGUNG

UND

A RCHIVE

Wopfners und Tschurtschenthalers Beschreibungen geben Einblick in zwei Ereignisebenen: Zum einen jene des Verhältnisses zwischen Bauer und Schriftlichkeit als Objekt, das gelesen, verwahrt, in neuen untypischen Konnotationen (die zum Tragsack umfunktionierte Urkunde) verwendet wird. Wir finden Hinweise auf Orte des Lesens, Schreibens und Archivierens allgemein und ihre Einrichtung, und somit auf kulturelle Normen und Praktiken. Im Fokus stehen dabei immer die gemeinen Männer, Frauen und Kinder. Zum anderen ist die Begegnung zwischen Bauern und Beamten als Trägern staatlicher Autorität von Interesse, die sich in der Spannbreite zwischen völliger Ablehnung und völligem Unverständnis bis zur Akzeptanz als einer von uns (Einladung zur gemeinsamen Jagd) vollzieht. Zwischen den archivverwahrenden Bauern (die als einzige ihre Schätze kennen) und dem interessierten Beamten Tschurtschenthaler, der sein städtisches Wissen in die Peripherie trägt und 111 Ebd., 92. 112 Ebd., 201. Die königlichen Delegierten waren nicht nur mit dem Recht ausgestattet, Einsicht in die Archive zu nehmen, sondern sie konnten auch ausgewählte Dokumente abtransportieren und einem zentralen Archiv zuführen (202). 113 Ebd., 198–200 f. 114 Ernst, Archiv (wie Anm. 68) 180.

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die Archive an Ort und Stelle inspizieren will, herrscht gewissermaßen ein Machtgleichgewicht. Dass die Orte von Produktion, Verwahrung und Gebrauch der Schriftstücke nicht übereinstimmen, war nichts Ungewöhnliches. Obwohl größere frühneuzeitliche Archive zumeist durch ihre Architektur Statik und Sesshaftigkeit suggerieren, waren Akten im Prinzip mobil und wurden routinemäßig verpackt (bevorzugt in Kisten oder Fässern) und zwischen Archiven und Regierungsbehörden hin- und herbewegt.115 Akten wurden bisweilen auch vom Zentrum in die Peripherie gebracht, um vor Ort zur Klärung benutzt werden zu können.116 Es darf also keineswegs verwundern, wenn die bäuerlichen Archive zu den Beamten gebracht wurden oder aber die Beamten ein eigenes mobiles Archiv mit sich führten, wenn sie ihre Kanzlei behelfsmäßig aufschlugen. Es war zudem gängige Praxis, dass Gelehrte die Archivalien, die sie für ihre aktuellen Forschungen benötigten, aus den Archiven mitnahmen und – im besten Falle – zurückbrachten. Im konkreten Fall aber kippt dieses Gleichgewicht in dem Moment, in dem der Beamte die Archive, die eigentlich »das Leben außerhalb der Archivräume« repräsentieren sollten,117 in das Heimatmuseum überführen will, sie damit in einen öffentlichen, fremden Kontext stellt und sie vor allem ihrem lokalen oder regionalen Zusammenhang entzieht. Im Museum des Fin de Siècle werden nur besondere, ausgewählte Stücke gezeigt, nach einem Prinzip der Pertinenz gelagert und verzeichnet, das Archiv wird eventuell nicht in der originalen Schichtung (Tektonik) aufbewahrt und dadurch zerstört bzw. zur Sammlung umfunktioniert. Sowohl Paul Tschurtschenthaler als auch Hermann Wopfner zeigen sich pessimistisch gegenüber dem Fortschritt, der Modernisierung, beklagen das Aufhören einer alten zugunsten einer neuen Form der Verwaltung. Wopfner glaubte durch die Stärkung des Heimatsinnes der Landflucht, der kulturellen Krise oder – wie er es nennt – dem Siechtum des Bergbauerntums einen Riegel vorschieben zu können, wofür die alten Überlieferungen vor Ort ein wichtiges Werkzeug wären. Die Übergabe der peripheren Archive in zentrale Archive scheint damit eher nicht gewünscht zu sein, wenngleich Wopfner der Anregung des Heimatforschers Karl Maister, Hausbriefe im Kirchenarchiv unter Vorbehalt des Eigentums zu hinterlegen, aufgeschlossen gegenüberstand.118 Tschurtschenthaler äußerte sich zur Frage der Zentralisierung der Archive zwar nicht explizit, seine Hinweise auf die Übernahme von Hausarchiven aber legen nahe, dass er in dieser Frage weniger Bedenken hatte als Wopfner. Als Gründer zweier Heimatmuseen war es ihm wichtig, die Bestände intra muros, und zwar in der Obhut geschulter Archivare bzw. Museumsangestellter, zu wissen. 115 Friedrich, Geburt (wie Anm. 64) 184. 116 Ebd., 198–200 f. 117 Groys, Raum (wie Anm. 105) 139. 118 Wopfner, Bergbauernbuch, 1. Bd. (wie Anm. 84) 329.

Verkehrswege zwischen den Zentren Straßen, Wege, Flüsse im vormodernen Tirol* R OLAND S TEINACHER

»Die zunehmende Kommunikation von Menschen und Gütern zwischen der Mitte und dem Süden des europäischen Kontinents – und damit im wesentlichen durch die Täler der trennenden Alpen hindurch oder über das Gebirge hinweg –, diese Kommunikation bewegte sich in Bahnen, die primär von der Natur vorgegeben waren. Flussläufe und Pässe bestimmten seit jeher die Routen der Menschen. Daran vermag auch die berühmte im Jahre 1991 zufällig gefundene Gletschermumie des sogenannten Ötzi nichts zu ändern.«1

Denn, so führt Josef Riedmann weiter aus, dieser Mann wählte einen beschwerlichen Übergang in über 3000 Meter Seehöhe, um vom Schnals- in das Ötztal zu gelangen. Für die beginnende Metallzeit und die Epochen davor kennen wir keine Funde vom Reschen und Brennerpass und den anderen Wegen über die Berge. Nun sollte man dieses Schweigen der Bodenfunde nicht überbewerten. Denkbare Überreste werden häufig durch eine spätere dichte Nutzung überlagert – und zwar sowohl an Verkehrswegen wie auch in Siedlungen.2 Weiter steht zu bedenken, dass mit der langsam einsetzenden Verwendung von Metallen Tauschgeschäfte – und damit auch der überregionale Verkehr – deutlich zunahmen. Im südlichen Mitteleuropa wird der Beginn der Frühen Bronzezeit mit der Mehrheit der Forschung zwischen 2300 und 2200 v. Chr. angesetzt. In diesen *

Dieser Beitrag konnte durch ein Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ver-

1

Josef Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel, in: Kommunikation und Mobilität im

fasst werden. Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.–14. Jahrhundert), hg. von Siegfried de Rachewiltz / Josef Riedmann, Sigmaringen 1995, 61–76, hier: 61. 2

Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel (wie Anm. 1) 61.

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Jahrhunderten entwickelten unsere Vorfahren die neue Technologie, durch die Legierung von Kupfer und Zinn Bronze herzustellen. Im östlichen Mittelmeerraum und der Ägais bestanden bereits städtische und überregionale politische Strukturen mit einer entsprechenden Bevölkerungsdichte, die einen großen Bedarf an den Rohstoffen Kupfer und Zinn entwickelt hatten. Nun verfügten Mittel- und Westeuropa über die benötigten Bodenschätze und entsprechend gewannen Kontakte auch über erhebliche Distanzen an Bedeutung. Im heutigen Böhmen etwa konnte nicht nur Kupfer, sondern auch das seltene und deshalb begehrte Zinn abgebaut werden. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die überregionale Bedeutung der Tiroler Kupferlagerstätten. Die Überquerung oder Umgehung der Alpen war relativ schnell Teil eines einträglichen Geschäfts geworden, das neue soziale, ökonomische und politische Entwicklungen bedingte. Der Bronzeguss erlaubte aber ebenso den Austausch einigermaßen genormter Rohstoffmengen und Waren. Mit den Metallbarren entstand somit erstmals eine Form von Handel. Wirtschaftsarchäologisch kann man mit Otto Urban vom »Einsetzen prämonetärer Zahlungsmittel« sprechen. Selbst eine gewisse – und eben auch überregionale – Normierung von Ringen, Spangen und Barren lässt sich seit der Frühbronzezeit feststellen. Im Gegenzug führte dieser Handel zum verstärkten Austausch auch anderer Sach- und Kulturgüter, zum Transfer von Kenntnissen, Wissen und religiösen Vorstellungen.3 Wie aber dürfen wir uns die Verkehrswege über die Alpen in der Bronzezeit vorstellen? Es handelte sich meist um Fußwege oder Saumpfade für Tragtiere. Hier sei schon angemerkt, dass Saumwesen und Fußmarsch bis in das frühe Mittelalter beim Alpenübergang dominierten. Wertvolle Reitpferde auf den Höhen zu belasten vermied man. Allerdings machte der römische Ausbau mancher der alten Wege zu Straßen und die gut organisierte Folge von Rast- und Zugtierwechselstationen die Reise in der römischen Kaiserzeit komfortabler, zumindest für Angehörige der Eliten und der Armee. Jedenfalls wurde der Grad des römischen Ausbaus oft erst im späten Mittelalter oder gar in der Neuzeit erreicht. Es ist nur selten möglich, die vorrömischen Verkehrswege archäologisch nachzuweisen. Wir wissen jedoch etwa aus einer Stelle bei Livius, dass es am Beginn des 2. Jahrhunderts vor unserer Zeit Wege, viae, über die Alpen gab, die es berittenen römischen Gesandtschaften ermöglichten, relativ rasch die Kelten im heutigen bairischen Alpenvorland zu erreichen. Auch kennen wir sogenannte Passfunde. Vereinzelt wurden Bronzedolche oder andere Gerätschaften an Pässen oder Bergübergängen gefunden. Diese belegen nicht nur verstärkte Handelskontakte über die Alpen, sondern sind ein Zeugnis von

3

Otto H. Urban, Der lange Weg zur Geschichte. Die Urgeschichte Österreichs (Österreichische Geschichte bis 15 v. Chr.), Wien 2000, 139–141, 145.



V ERKEHRSWEGE ZWISCHEN

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Weihe- bzw. Dankopfern, die vielleicht anlässlich einer gut verlaufenen Passage niedergelegt wurden.4 Ein gut erforschtes Beispiel für einen solchen Hortfund der mittleren Bronzezeit (zwischen 1550 und 1300 v. Chr.) an der Strecke der späteren Via Claudia Augusta sei kurz vorgestellt. Bei dem bronzezeitlichen Schatzfund vom Moosbruckschrofen am Piller (Gemeindegebiet Fließ) »handelt es sich um einen der größten und vielfältigsten Depotfunde der Bronzezeit in Europa.«5 Die Menschen der Bronzezeit bargen in einem keramischen Gefäß in einer Felsnische 167 Sicheln und Sichelfragmente, 80 Beile, drei Vollgriffschwerter, die Hälfte eines der ältesten bekannten Metallhelme überhaupt, Rohmaterial, Schmucknadeln und andere Kleidungs- und Schmuckbestandteile. Die Menge an Rohmaterialien in Form von Gusskuchen, also »Reste von ausgeschmolzenem raffiniertem Kupfererz«, und Gussrohlingen, »portionierte, schmiedefertige Bronzestücke«, macht es wahrscheinlich, dass in der Gegend Bronze verarbeitet wurde. Die einzelnen Stücke wurden thesauriert, also in einem Heiligtum verwahrt, wie wir das aus dem antiken Griechenland kennen. Mehrere Details verdeutlichen einen solchen kultisch-religiösen Hintergrund der gesamten Deponierung. Zunächst fällt auf, dass viele Objekte willentlich gebogen oder zerbrochen worden waren. Solche absichtlichen Zerstörungen an eigentlich wertvollen Gegenständen kennt man von vielen Funden der Bronzezeit in Europa. Die Archäologie deutet dieses Vorgehen als Maßnahme, um einer alltäglichen Nutzung geheiligter, religiös genutzter Gegenstände vorzubeugen. Zusätzlich konnten Brandspuren nachgewiesen werden, was wiederum den Votivcharakter der Deponierung unterstreicht. Zu den Beilen ist zu sagen, dass diese wahrscheinlich in einen religiösen Kontext gehören und zum Töten von Opfertieren vorgesehen waren. Gerhard Tomedi hat zudem betont, dass die Stücke vor ihrer Deponierung regelmäßig gereinigt und gepflegt worden waren. Zuletzt spricht der vergleichsweise lange

4

Urban, Der lange Weg zur Geschichte (wie Anm. 3) 187; Margot Klee, Lebensadern des Imperiums. Straßen im römischen Reich, Stuttgart 2010, 30–31 betont, es habe kein grundsätzlich neues Wegenetz durch den römischen Straßenbau gegeben, sondern es sei eine Anpassung an römische Standards erfolgt. Ludwig Pauli, Die Alpen in Frühzeit und Mittelalter. Die archäologische Entdeckung einer Kulturlandschaft, München 1980, 222– 225.

5

Gerhard Tomedi, Der mittelbronzezeitliche Schatzfund vom Piller und seine überregionalen Bezüge, in: Von der Via Claudia Augusta zum Oberen Weg. Leben an Etsch und Inn. Westtirol und angrenzende Räume von der Vorzeit bis heute. Vorträge der landeskundlichen Tagung veranstaltet vom Verein Via Claudia Augusta Tirol, Landeck und dem Südtiroler Kulturinstitut, Bozen / Landeck 16.–18.6.2005, hg. von Rainer Loose (SchlernSchriften 334), Innsbruck 2006, 31–46, hier 31.

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Zeitraum – etwa 250 Jahre –, während dem deponiert wurde, für genannten Hintergrund.6 Mit großer Wahrscheinlichkeit besteht ein Zusammenhang zwischen dem Schatzfund vom Moosbruckschrofen und dem nahe gelegenen Brandopferplatz auf der Piller Höhe, der seit der späteren Mittelbronzezeit bis in die La-Tène-Zeit – und dann noch bis in die Spätantike, insgesamt über einen Zeitraum von 2000 Jahren – in Verwendung stand.7 Gut denkbar, dass der Hintergrund dieses Fundes und des Brandopferplatzes die in der Bronzezeit stark frequentierte Verkehrsroute war, die den Vinschgau mit dem Inntal verband.

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RÖMISCHEN

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BIS IN DAS

6. J AHRHUNDERT

Die römische Geschichte der Alpen und des Alpenvorlands beginnt mit dem Feldzug der beiden Augustussöhne Drusus und Tiberius im Jahre 15. v. Chr. Mit mehreren kleineren Truppenabteilungen versuchten diese römische Feldherren durch Zangenbewegungen und militärische Schläge an mehreren Orten einen schnellen Erfolg zu erzielen. Drusus marschierte von Oberitalien nach Norden und schlug an der Etsch beim heutigen Trient Venosten und Isarcen. Nach diesen Siegen zogen wahrscheinlich zwei Truppensäulen sowohl über den Vinschgau und den Reschen als auch über den Brenner Richtung Inntal gegen Breonen und Genaunen. Tiberius dagegen kam von Gallien ins Alpenrheintal und den Rhein entlang bis zum Bodensee. Im westlichen – heute bayrischen – Alpenvorland besiegte er die Vindeliker.8

6

Gerhard Tomedi / Siegfried Nicolussi Castellan / Johannes Pöll, Die Bergung des Schatzfundes vom Moosbruckschrofen am Piller, Gem. Fließ (Archaeotirol, kleine Schriften 3) (2002) 62–75; Gerhard Tomedi, Gedanken zur Interpretation des Schatzfundes vom Moosbruckschrofen am Piller, in: Archäologische Forschungen und Grabungsberichte aus Tirol, hg. von Josef Zeisler / Gerhard Tomedi (Archaeotirol, Kleine Schriften 3), Wattens 2001, 76–90; Gerhard Tomedi, Der bronzezeitliche Schatzfund vom Piller (Schriften Museum Fließ 1), Fließ 2004.

7

Michael Tschurtschenthaler / Ulli Wein, Das Heiligtum auf der Pillerhöhe, in: Kult der Vorzeit in den Alpen. Opfergaben, Opferplätze, Opferbrauchtum = Culti nella preistoria delle Alpi 1/2, hg. von Liselotte Zemmer-Plank (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer 10–11), Bozen 2002, 1, 635–674; vgl. zudem die Beiträge in: Der Brandopferplatz auf der Pillerhöhe bei Fliess, hg. von Walter Stefan / Gerhard Tomedi (Schriften Museum Fließ 3), Fließ 2010.

8

Karl Christ, Zur römischen Okkupation der Zentralalpen und des nördlichen Alpenvorlandes, in: Historia 6 (1957) 416–428; Franz Schön, Der Beginn der römischen Herrschaft in Rätien, Sigmaringen 1986.



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Die römische und griechische ethnographische Literatur – etwa eines Poseidonios, der bei Strabon überliefert ist – kennt im Alpenraum Räter, Venosten und Isarcen, Vindeliker und Noriker, Breunen/Breonen und Genaunen.9 In La Turbie oberhalb des heutigen Monaco wurde wenige Jahre nach den Siegen des Jahres 15 v. Chr. ein Siegesdenkmal errichtet, dessen Inschrift ebenfalls die besiegten Alpenvölker aufzählt. Durch eine Abschrift bei Plinius kennen wir den Text auf dem so genannten Tropaeum Alpium. »Dem Imperator, Sohn des göttlichen [Julius] Caesar, Augustus, Pontifex Maximus, zum 14. Mal als Imperator akklamiert, in seinem 17. Jahr der Tribunizischen Gewalt [7/6 v.u.Z.], der Senat und das Volk von Rom, zur Erinnerung daran, dass unter seiner Führung und den Auspizien, alle Alpenvölker vom oberen zum unteren Meer, gentes alpinae omnes quae a mari supero ad inferum pertinebant, dem Gebot des römischen Volkes unterworfen wurden.« Wer war erobert worden? Auf dem Tropaeum Alpium erscheinen insgesamt 46 Ethnonyme, also Völkernamen. Für das heutige Nord- und Südtirol kommen fünf dieser Gruppen in Betracht. Die Venosten dürften im Vinschgau, die Isarci im Bozner Becken, die Breu(o)nen im Inn-, Wipp- und Eisacktal, die Genaunes im Gebiet der oberbayrischen Seen und schließlich die Focunates im alpinen Lechtal gelebt haben. Es fehlen die Bewohner des Pustertals, Saevaten und Lainanken, die im Zusammenhang mit der norischen Föderation des 1. Jahrhunderts v. Chr. bekannt sind. Verschiedene Erklärungen für diese Lücken sind denkbar. Entweder die betreffenden Gruppen waren nicht unterworfen worden, sondern durch einen Vertrag – gemeinsam mit dem Regnum Noricum – unter römische Kontrolle getreten, oder man schlug sie einem der auf dem Tropaeum genannten Großverbände zu.10

9

Karl Strobel, Der Alpenkrieg und die Eingliederung Noricums und Raetiens in die römische Herrschaft, in: Thiasos. Festschrift für Erwin Pochmarski zum 65. Geburtstag, hg. von Christiane Franek (Veröffentlichungen des Instituts für [klassische] Archäologie der Karl-Franzens-Universität Graz 10), Wien 2008, 967–1004; Peter Haider, Antike und Frühes Mittelalter, in: Geschichte des Landes Tirol 1, hg. von Josef Fontana / Peter W. Haider / Walter Leitner / Georg Mühlberger / Rudolf Palme / Othmar Parteli / Josef Riedmann, Innsbruck 1990, 133–290, hier 134–143.

10 Plin. nat. 3, 136–137 = C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde 37 Bde., hg. von Roderich König, Zürich 1990–2004; vgl. Strobel, Der Alpenkrieg (wie Anm. 9); Karlheinz Dietz, Zur vorrömischen Bevölkerung nach den Schriftquellen, in: Spätlatènezeit und frühe römische Kaiserzeit zwischen Alpenrand und Donau. Akten des Kolloquiums in Ingolstadt am 11. und 12.10.2001, hg. von Claus-Michael Hüssen / Walter Irlinger / Werner Zanier (Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 8), Bonn 2004, 1–23; Verena Gassner / Sonja Jilek / Sabine Ladstätter, Am Rande des Reiches. Die Römer in Österreich 15 v. Chr.– 378 n. Chr. (Österreichische Geschichte 2), Wien 1995, 31–47; Haider, Antike und Frühes Mittelalter (wie Anm. 9) 134–143; Richard Heuberger, Rätien im Altertum und

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Jedes einzelne der Ethnonyme auf dem Tropaeum und in der literarischen Überlieferung ist ein Problem für sich, da bei der Überlieferung und Verwendung solcher Bezeichnungen über die Jahrhunderte verschiedenste Interessen, Interpretationen und Deutungen zusammenwirkten. Die Betroffenen selbst haben vor der Eingliederung ins Römerreich keine oder kaum Schriftquellen verfasst. Unmittelbar greifen wir diese Menschen (mit wenigen Ausnahmen) nur in ihrer materiellen Hinterlassenschaft. Die vorhandene antike Literatur wiederum verfolgte entweder ganz bestimmte Interessen, wollte also etwa eine militärische Unterwerfung rechtfertigen, oder operierte mit traditionellen Stereotypen, die Fremde und Barbaren in ähnlicher Weise kategorisierten und klassifizierten.11 Warum drangen die Römer in die Alpen vor und was hat das mit der Frage nach den Verkehrswegen zu tun? Die antike und mittelalterliche Geschichte zeigt die Bedeutung der Kontrolle der Alpenpässe und des Alpenvorlands für die Beherrschung Italiens, des Zentralraums des römischen Westens. Ziel der Feldzüge war also sicherlich die Sicherung der Nordgrenze Italiens. Man sollte diesen Aspekt jedoch nicht zu stark betonen. Die Alpen als beeindruckende Naturlandschaft eigneten sich für starke Metaphern von Grenze, Bollwerk und Sicherheit. So schrieb Cassiodor im 6. Jahrhundert dem Militärbefehlshaber der beiden rätischen Provinzen zur Ermutigung, sein Verwaltungsbereich sei »Bollwerk und Mauer Italiens«. Dem dux wird aufgetragen »mit den ihm unterstellten Einheiten unsere Grenzen sorgsam zu bewachen«. Cassiodor nahm mit seiner Wortwahl – munimina und claustra – einen schon seit Cicero bekannten literarischen Topos wieder auf, der die Alpen als Sperrriegel zeichnet.12 Gleich nach der Eroberung der Westalpen im Jahr 15. v. Chr. begann ein umfangreicher Straßenbau, war doch die Kontrolle von Fernverkehrswegen ein weiteFrühmittelalter (Schlern-Schriften 20), Innsbruck 1932 (Neudruck 1971, Aalen 1981 mit einem Register von Gerhard Winkler), 1–51. 11 Greg Woolf, Tales of the Barbarians. Ethnography and Empire in the Roman West, Malden 2011; Räter: Peter W. Haider, Zur römisch-kaiserzeitlichen Raumordnung und regionalen Verwaltung auf Tiroler Boden (vom 1. Jahrhundert bis zur diocletianischen Reichsreform), in: Tirol – Österreich – Italien: Festschrift für Josef Riedmann zum 65. Geburtstag, hg. von Klaus Brandstätter / Julia Hörmann (Schlern-Schriften 330), Innsbruck 2005, 321–333; Robert Rollinger, Zum Räterbild in der Vorarlberger Landesgeschichtsschreibung, dargestellt an ausgewählten Beispielen, in: Ostarrichi – Österreich. 1000 Jahre – 1000 Welten. Innsbrucker Historikergespräche 1996, hg. von Hermann J. W. Kuprian, Innsbruck, 179–242. 12 Cassiod. var. 7, 4; 203 = Cassiodorus, Variae, hg. von Theodor Mommsen, Cassiodori Senatoris Variae, MGH Auct. ant. 12, Berlin 1894, Neudruck 1981; vgl. Katharina Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter. Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800, Wien / Köln / Weimar 2012, 62–72.



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rer wichtiger Grund für den römischen Vorstoß. Gallien sollte eine bessere und schnellere Verbindung entlang der Donau mit den östlichen Reichsteilen erhalten. Gut organisierte Alpenübergänge ermöglichten eine schnellere militärische Bewegung und erleichterten den Handel. Gleichzeitig ermöglichten die Reichsstraßen eine wirtschaftliche Belebung und eine wachsende Bevölkerung in den Alpentälern. Nicht zuletzt konnte sich die römische Staatsmacht nur dort durchsetzen, wo Beamte und Militärs relativ einfach hingelangen konnten. Zwischen 183 und 181 v. Chr. war Aquileia als Militärkolonie latinischen Rechts gegründet worden. Die Stadt fungierte als Verkehrsknotenpunkt und als Startpunkt für die Alpenübergänge. Es verwundert also nicht, dass Jahrhunderte später auch das kirchliche Zentrum des östlichen Alpenraums in Form eines Bischofssitzes in Aquileia entstehen wird.13 Aquileia sicherte aber von Anfang an auch die Verbindungen in den heutigen Kärntner Zentralraum, der in der Antike Noricum hieß. Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. wurde hier auf friedlichem Wege eine Provinz mit Virunum auf dem Zollfeld als Vorort des östlichen Alpenraums eingerichtet. Zunächst aber war Noricum ein sogenanntes Klientelkönigreich. Solche Rechtsformen gab es häufig an den östlichen Grenzen des Reichs. Schon seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert bestand ein reger Handel mit Leder, Wolle, Honig, Käse, Holz und den alpinen Metallvorkommen Eisen, Gold, Blei und Zink und nicht zuletzt Salz zwischen Italien und Noricum. Im heutigen Oberkärnten mit dem antiken Teurnia als Ausgangspunkt kam es zu einem regelrechten Goldrausch in den Hohen Tauern. Ebenfalls im zweiten vorchristlichen Jahrhundert, so berichtet uns Strabo, der diese Informationen aus Polybios gezogen hatte, sollen italische Goldsucher fündig geworden sein. Man habe nur wenige Fuß tief graben müssen, um Gold in bester Qualität zu finden. Die Ausbeute sei so reich gewesen, dass der Goldpreis in Italien fiel.14 Wichtige Quellen für den Verlauf der römischen Verkehrswege über die Alpen sind Meilensteine und zwei schriftliche Quellen, nämlich das sogenannte Itinerarium Antonini aus dem 3. Jahrhundert und die Tabula Peutingeriana.15 13 Gerhard Dobesch, Die Kelten in Österreich nach den ältesten Berichten der Antike. Das norische Königreich und seine Beziehungen zu Rom im 2. Jahrhundert v. Chr., Wien / Köln / Graz 1980 (Nachdruck 1993), 80–90; Aquileia e Grado. Guida breve, hg. von Giovanni Brusin (Antichità altoadriatiche 1), Udine 1972, 27–35. 14 Goldpreis in Italien: Polyb. 34, 10, 10 = Strab. 4, 6, 12 = Strabon, Γεωγραφικά – Geographika, hg. von Stefan Radt, Strabons Geographika 1–10 (Göttingen 2002–2010); vgl. Elisabeth Walde, Die Römer erobern die Alpen, in: Veldidena. Römisches Militärlager und Zivilsiedlung, hg. von Liselotte Zemmer-Plank, Innsbruck 1985, 68–78, hier 68–70; Géza Alföldy (Übersetzung Anthony Birley), Noricum (The provinces of the Roman Empire), London 1974, 33–47. 15 Michael Rathmann, Untersuchungen zu den Reichsstraßen in den westlichen Provinzen des Imperium Romanum (Beihefte der Bonner Jahrbücher 55), Mainz 2003, 16–19.

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Abbildung 1: Tabula Peutingeriana, Segmentum IV Mediolanum: Italia/Mauretania (Ausschnitt).

  Österreichische Nationalbibliothek Codex Vindobonensis 324. Mittelalterliche Kopie des 12. oder 13. Jhs. einer Vorlage des 4. Jhs.; benannt nach Konrad Peutinger (1465–1547); Pergamentrolle 680 x 33 cm, elf Einzelblätter: Im Tiroler Raum wird der Alpenübergang über Wipptal, Brenner und weiter über den Seefelder Sattel beschrieben. Auf der Tabula Peutingeriana werden, um den Verlauf der Straßen zu markieren, die Ortsnamen Tredente (Trient), Pons Drusi bei Bozen, die Zollstation Sublavione – heute Kollmann, Vepiteno, also Vipitenum/Sterzing und schließlich Matreium (Matrei) genannt (Quelle: Wikimedia Commons).



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Weitere Informationsquellen zum römischen Straßenbau sind Grabungen, die aber bei weitem nicht flächendeckend durchgeführt wurden, auch sind römische Straßen oft unter modernen verbaut. Hinzu kommen Meilensteine und archäologische Befunde. Insgesamt zeigt sich eine hierarchische Ordnung von Haupt- und Nebenstraßen durch Etsch-, Eisack, Wipp-, Inn- und Pustertal. Doch zunächst zu den schriftlichen Quellen: Das Itinerarium provinciarum Antonini Augusti verzeichnet die Staatsstraßen, viae publicae. Trotz vieler Ungenauigkeiten, Verwechslungen und Fehler sind die 17 beschriebenen Hauptstrecken durch das römische Reich für die heutige Rekonstruktion eine wichtige Grundlage. Die Forschung nimmt an, es habe sich nicht um ein offizielles Staatshandbuch gehandelt, sondern um eine private Initiative, wobei die Vorlage, auf die unsere Überlieferung zurückgeht, wohl zu Beginn der Herrschaft Kaiser Diokletians (284–305 n. Chr.) geschrieben wurde.16 Bei der Tabula Peutingeriana handelt es sich um eine kartenähnliche Darstellung. Das in Wien verwahrte einzige Exemplar ist eine mittelalterliche Kopie des 12. oder 13. Jahrhunderts und geht seinerseits wahrscheinlich auf eine Vorlage des 4. Jahrhunderts zurück. Diese wiederum dürfte sich auf Quellen und Vorlagen gestützt haben, die bis in die Zeit der flavischen Kaiser im 1. Jahrhundert zurückreichten. Benannt ist die Karte schließlich nach dem ehemaligen Eigentümer, dem Humanisten Konrad Peutinger aus Augsburg, der 1547 verstorben ist. Die Pergamentrolle misst 680 mal 33 Zentimeter und umfasst elf Einzelblätter. Nach diesen Segmenten und den jeweils fünf Teilspalten können die Einträge auf der Rolle zitiert werden. Die gebotenen Informationen reichen von Britannien im äußersten Westen des Kartenbildes bis nach Indien. Ein zwölftes Blatt mit Irland und Spanien ist nicht überliefert. Das Land ist in der uns überlieferten mittelalterlichen Version in einem Gelbton gezeichnet, das Meer dagegen wie die Flüsse grünlich, die Gebirge dann grau oder rosa. Verzeichnet sind Provinzen, Regionen und Völkernamen. Bedeutende Orte wurden mit abgestuften Symbolen je nach ihrer Bedeutung in der römischen Verwaltung gekennzeichnet, weniger wichtige erscheinen lediglich als Haken 16 Jan Burian, Itinerare, in: Der Neue Pauly 5 (1998) 1178–1182, hier 1180–1181; Wilhelm Kubitschek, Itinerarien, in: RE 9/2 (1916) 2308–2363. Edition: Itineraria Romana 1: Itineraria Antonini Augusti et Burdigalense. Accedit Tabula Geographica Teubner, hg. von Otto Cuntz, Leipzig 1929 (Neudruck Stuttgart 1990); Bernd Löhberg, Das Itinerarium provinciarum Antonini Augusti. Ein kaiserzeitliches Straßenverzeichnis des Römischen Reiches. Überlieferung, Strecken, Kommentare, Karten 1–2, Berlin 2006. Der zweite Band dieser Arbeit besteht aus Karten. Die Rekonstruktion der Strecken ist problematisch, denn weitgehend ohne weitere Quellenbelege rekonstruiert. Dazu: Michael Rathmann, Rezension zu: Löhberg, Bernd: Das »Itinerarium provinciarum Antonini Augusti«. Ein kaiserzeitliches Straßenverzeichnis des Römischen Reiches. Überlieferung, Strecken, Kommentare, Karten. Berlin 2006, in: H-Soz-Kult, http://www.hsozkult.de/publication review/id/rezbuecher-8820, 14.2.2008.

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in den roten Linien, die die Straßen wiedergeben. Insgesamt werden etwa 4.000 Ortsnamen genannt. Wichtig und viel diskutiert ist nun, dass Entfernungsangaben zwischen Städten und Straßen- bzw. Pferdewechselstationen, mansiones, angegeben wurden.17 »Dem Kaufmann, Offizier oder Verwaltungsbeamten genügte es zu wissen, auf welchen Routen er am besten von einem Ort zum anderen gelangen konnte, welche Entfernungen er dabei überwinden musste und wo er übernachten konnte. Diese Informationen bietet die Tabula. Insofern steht sie den schriftlichen Wegebeschreibungen, die ihre praktischen Routeninformationen in eindimensionaler Reihung bieten, näher als den uns geläufigen maßstabsgetreuen Karten.«18 Ob die Antike überhaupt Karten im uns geläufigen Sinn kannte, ist in der Forschung umstritten.19 Verzeichnet sind in beiden genannten Quellen für die Westalpen die Wege über den Col de Montgenèvre, den Großen und den Kleinen St. Bernhard sowie die Bündner Pässe. Im Tiroler Raum wird der Alpenübergang über Wipptal, Brenner und weiter den Seefelder Sattel beschrieben. Auf der Tabula Peutingeriana werden, um den Verlauf der Straßen zu markieren, die Ortsnamen Tredente (Trient), Pons Drusi bei Bozen, die Zollstation Sublavione – heute Kollmann, Vepiteno, also Vipitenum/Sterzing und schließlich Matreium (Matrei) genannt. Bei der Schreibweise mancher dieser Namen ist die lange Überlieferungszeit zu berücksichtigen, spätantike und mittelalterliche Schreiber haben die Namen teilweise variiert oder nicht gekannt. Interessant ist, dass die Via Claudia Augusta über Vinschgau und Reschenpass weder im Itinerar noch auf der Tabula eingetragen wurde. Diese in der römischen Kaiserzeit wichtige Straße verband Oberitalien über Verona, den Vinschgau und das Reschenscheideck wie den Fernpass mit Augusta Vindelicum (Augsburg) und somit der Donaugrenze. In Trient vereinigten sich zwei Zubringerstraßen. Eine verlief durch das Etschtal, die andere von Altinum (heute nahe des Geländes des Flughafens von Venedig) an der Adriaküste durch das Tesino und die 17 Ulrich Fellmeth, Tabula Peutingeriana, in: Der Neue Pauly 11 (2002) 1197–1198; Die antike Welt auf elf Blättern – Die Tabula Peutingeriana. Begleitbuch zur Ausstellung des Projektseminars »Die Tabula Peutingeriana als Historische Quelle«, hg. von Ulrich Fellmeth / Eckart Olshausen, Stuttgart 2010; Klee, Lebensadern des Imperiums (wie Anm. 4) 115–124 zu römischen Itineraren und der Tabula wie zum Schema der Stadtvignetten 118. Editionen: Konrad Miller, Itineraria Romana. Römische Reisewege an der Hand der Tabula Peutingeriana, Stuttgart 1916, Nachdruck Bregenz 1988; Tabula Peutingeriana. Codex Vindobonensis 324, Österreichische Nationalbibliothek, Wien. Kommentiert von Ekkehard Weber, Graz 1976. 18 Fellmeth, Tabula Peutingeriana (wie Anm. 17) 1197. 19 Vgl. die konträren Positionen bei Kai Brodersen, Terra Cognita. Studien zur römischen Raumerfassung (Spudasmata 59), Hildesheim, 2. Aufl., 2003 und Oswald A. W. Dilke, Greek and Roman Maps (Aspects of Greek and Roman life), London 1985.



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Valsugana. Seit dem 1. Jahrhundert verlief eine Straße durch das Pustertal, deren Namen wir nicht kennen. Diese führte zum Brenner, war aber südwärts bei Pons Drusi (Bozen) auch mit der Via Claudia verbunden. Von Meilensteinen wissen wir, dass Kaiser Claudius (41–54) in den Jahren 46 und 47 die Straße hatte ausbauen lassen. Sein Vater Nero Claudius Drusus soll den Verkehrsweg im Rahmen der Eroberung des Alpenraums im Jahr 15 v. Chr. anlegen haben lassen.20 Warum ist aber diese so bedeutende Straße in den spätantiken Verzeichnissen nicht mehr aufgenommen worden? Spätestens seit der Regierungszeit des Kaisers Septimius Severus (193–211) scheint der Brennerpass dem Reschenscheideck als Verkehrsweg vorgezogen worden zu sein. Anfang des 3. Jahrhunderts baute man die Brennerroute zur Hauptstraße, via publica, aus. Das wissen wir von einem Meilenstein aus Amras bei Innsbruck, der davon berichtet, dass unter der Regierung des Kaisers Septimius Severus Straßen und Brücken auf dem Weg nach VeldidenaWilten erneuert worden waren.21 Die Station Veldidena wird mehrfach im Itinerarium Antonini als Station des Weges über den Brenner genannt und dürfte als Vetonia auf der Tabula verzeichnet sein.22 Seit dem 1. Jahrhundert nimmt die Archäologie eine Siedlung im Bereich des heutigen Prämonstratenserstifts an. Um 330/340 n. Chr. wurden drei dreischiffige horrea, also Speicherbauten, errichtet und einige Jahrzehnte später befestigt.23 Das Kastell, das die Vorräte und den Ausgang der Brennerstraße schützen sollte, wurde gegen Ende des 5. oder Anfang des 6. 20 CIL V 8002; 8003; vgl. Rathmann, Untersuchungen zu den Reichsstraßen (wie Anm. 15) 11–15; Michael Rathmann, Meilensteine, in: Der Neue Pauly 7 (1999) 1156–1158; Via Claudia Augusta, in: Der Neue Pauly 12/2 (2002) 161; Viae publicae, in: Der Neue Pauly 12/2 (2002) 164–171; Klee, Lebensadern des Imperiums (wie Anm. 4) 46–49, Karte auf 49; Walther Cartellieri, Die römischen Alpenstraßen über den Brenner, ReschenScheideck und Plöckenpaß mit ihren Nebenlinien (Philologus Suppl.-Bd. 18), Leipzig 1926; Johannes Pöll / Kurt Nicolussi / Klaus Oeggl, Die römische Reichsstraße Via Claudia Augusta bei Lermoos (Tirol). Ergebnisse der archäologischen, dendrochronologischen und palynologischen Untersuchungen, in: Archäologie Österreichs 9/1 (1998) 55–70. 21 CIL XVII 4,1 Nr. 6–29: vias et pontes restituerunt. Vgl. Rathmann, Untersuchungen zu den Reichsstraßen (wie Anm 15) 19–20: Bedeutungsverlagerung unter Septimius Severus von der via Claudia zum Brenner; Richard Heuberger, Zur Geschichte der römischen Brennerstraße, in: Klio 27 (1934) 311–336. 22 Itinerarium provinciarum Antonini Augusti 256, 258–259, 275, 279–280, hg. von Otto Cuntz (wie Anm. 16); Tab. Peut. 4,2. 23 László Borhy, Non castra sed horrea. Zur Bestimmung einer der Funktionen spätrömischer Binnenfestungen, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 61 (1996) 207–224; Michael Mackensen, Die Innenbebauung und der Nordvorbau des spätrömischen Kastells Abusina-Eining, in: Germania 72 (1994) 479–513, hier 507–508.

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Jahrhunderts zerstört. Es bleibt festzustellen, dass das 1138 von Brixen aus begründete Kloster der Prämonstratenser von Wilten auf dem Gelände des Kastells errichtet wurde.24 Im Inntal bestand eine Ost-West-Verbindung in das Alpenvorland. Bei Veldidena – also dem heutigen Stadtteil Wilten in Innsbruck – trafen sich die Brennerstraße und diese Route. Neben den nachweisbaren Verkehrswegen ist mit kleineren Alpenübergängen und schlechteren Straßen zu rechnen. Nicht vergessen sollte man die bis in die Zeit des Eisenbahnbaus wichtige Binnenschifffahrt auf den Flüssen Inn und Etsch und dem Gardasee, inschriftlich belegt durch eine römische Gilde der Seeleute, ein collegium nautarum, im heutigen Riva.25 Vor der römischen Okkupation gab es Pfade und Wege, aber keine Straßen. Elisabeth Walde hat das so zusammengefasst: Die römischen Ingenieure betrieben ein sorgfältiges Geländestudium und eine genaue Vermessung, um die bestmögliche Trasse zu wählen. Gerade sollte die Straße verlaufen und im Gebirge mit gleichmäßiger Steigung. Kunstbauten wie Brücken, Galerien und Tunnels wurden angelegt, Sumpfgebiete mit hölzernen Prügelwegen durchquert. Einen solchen Prügelweg konnten die Innsbrucker Klassischen Archäologen vor einigen Jahren im Leermooser Moos nachweisen. Bei exponiertem felsigem Gelände wurden Spurrillen in den Fels geschlagen. Damit konnte ein seitliches Abrutschen der Wagen verhindert werden. An manchen Stellen wurden Trittstufen für die Zugtiere in den Fels geschlagen. Der Straßenkörper war als feste Fahrbahn aus Schotter und Kies sorgfältig ausgebaut, so dass Regenwasser abfließen konnte. Neben der Straße verlaufende Rinnen sammelten das abfließende Wasser, und so verhinderte man ein Aufweichen der Straße. Und schließlich sorgte man links und rechts der Straße für eine gerodete

24 Veldidena. Römisches Militärlager und Zivilsiedlung, hg. von Liselotte Zemmer-Plank, Innsbruck 1985; Liselotte Zemmer-Plank, Die neuen Ausgrabungen in Innsbruck-Wilten, dem römischen Veldidena, in: Die Römer in den Alpen = I Romani nelle Alpi. Historikertagung in Salzburg 13.–15.11.1986, hg. von Elisabeth Zacherl / Giuseppe Richebuono (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer N.F. 2), Bozen 1989, 131–138; Anton Höck, Römerzeit und Frühmittelalter in Innsbruck, in: Ur- und Frühgeschichte von Innsbruck. Katalog zur Ausstellung im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, hg. von Wolfgang Meighörner / Wolfgang Sölder, Innsbruck 2007, 89–126; Anton Höck, Der Fundplatz »Südwestecke Innsbruck-Wilten-Veldidena«, in: Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum 75/76 (1995/1996) 167–218. 25 Haider, Antike und Frühes Mittelalter (wie Anm. 9) 161–171; Peter W. Haider, Gab es während der römischen Kaiserzeit eine Innschiffahrt auf Tiroler Boden?, in: Tiroler Heimat N.F. 54 (1990) 5–24.



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Freifläche, dies auch aus Sicherheitsgründen: Räuber sollten rechtzeitig entdeckt werden.26 Ein zentral organisiertes System sicherte nicht nur Straßen und Pässe vor Räubern und sonstigen Übergriffen, es stellte auch im Abstand von 25 bis 40 Kilometern – einer Tagesreise also – Raststationen, mansiones, mit Herbergen, die Wärme und Verpflegung boten, Ställen und Remisen mit frischen Pferden und Ochsen, Bädern und anderen Anlagen zur Verfügung. Vipitenum-Sterzing, Matreium-Matrei und Sebatum-St. Lorenzen waren solche mansiones, bei denen durchaus auch herkömmliche Siedlungen bestanden haben werden. Das Reisen unterschied sich durch einen höheren Komfort und eine dichtere Organisation vom mittelalterlichen Zustand. Zumindest der Weg über den Reschen war für Wagen passierbar. Reichere Menschen und Beamte ohne Eile nutzten solche Wägen. Der jüngere Plinius berichtet von gut gefederten Wagen, in denen ein reicher Mann lesen, schreiben und schlafen konnte.27 Neben den Truppenbewegungen und dem staatlichen wie privaten Güterverkehr diente dieses komplexe und aufwändige System seit der Regierungszeit des Augustus (30 v.–15 n. Chr.) dem cursus publicus. Der Provinzstatthalter hatte dafür Sorge zu tragen, dass den berechtigten zivilen und militärischen Funktionsträgern Reit- und Zugtiere sowie Fahrzeuge zur Verfügung gestellt werden konnten. Pferdewechselstationen, mutationes, und mansiones dürften an den Alpenübergängen wegen des schwierigen Geländes im Abstand von 20 bis 25 Kilometern betrieben worden sein. Mit einer solchen Organisation konnten nicht nur Nachrichten und Befehle rasch im gesamten Reich verbreitet werden, man verfügte auch über die Möglichkeit, Transporte schnellstmöglich und sicher durchzuführen. Mit großer Wahrscheinlichkeit bestanden der cursus publicus und das System der Stationen zumindest teilweise auch im bairischen Dukat und dem merowingischen bzw. karolingischen Reich fort, wenn sich auch die Qualität der Straßen selbst geändert haben mag.28 26 Elisabeth Walde, Neues Leben entlang der Straße, in: Loose, Von der Via Claudia Augusta zum Oberen Weg (wie Anm. 5) 47–50; Gerald Grabherr, Die Via Claudia Augusta in Nordtirol: Die Überwindung von Pässen und Steilstufen, in: von Loose, Von der Via Claudia Augusta zum Oberen Weg (wie Anm. 5) 51–65. 27 Plinius minor epist. 3, 5, 15, hg. von Helmut Kasten, Plinius: Briefe. Lateinisch-Deutsch, Zürich 1995. 28 Anne Kolb, Transport und Nachrichtentransfer im Römischen Reich (Klio Beihefte Neue Folge 2), Berlin 2000; Klee, Lebensadern des Imperiums (wie Anm. 4) 105–159; Haider, Antike und Frühes Mittelalter (wie Anm. 9) 161–164; 171; Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter (wie Anm. 12) 115–160; Irmtraut Heitmeier, Das Inntal. Siedlungs- und Raumentwicklung eines Alpentales im Schnittpunkt der politischen Interessen von der römischen Okkupation bis in die Zeit Karls des Großen (Schlern-Schriften 324), Innsbruck 2005, 59–82, 89, 124–126, 290–300; Joachim Jahn, Ducatus Baiuvariorum. Das

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D AS FRÜHE M ITTELALTER , S TRASSEN , S PEZIALISTEN M INDERHEITEN IM A LPENRAUM

UND

Großteils blieb das römische Straßennetz die Grundlage des mittelalterlichen. Schon wegen der geographischen Verhältnisse wurden Routen, Pässe und Flussübergänge kontinuierlich benutzt. Meist wurden römische Straßen einigermaßen erhalten, nicht aber weiter ausgebaut. Einige römischen Brücken wurden weiter genutzt.29 Insgesamt ist mit Karl Brunner festzustellen, dass die Verkehrswege funktionierten. In den frühmittelalterlichen Quellen liest man im Zusammenhang mit Alpenübergängen von mancherlei politischen und militärischen Schwierigkeiten, aber sehr selten von Versorgungsproblemen. Gruppen von Pilgern und Reisenden gingen ständig über die Alpen, die Hauptverbindung über Mittel- und Osteuropa, zu den italienischen Häfen mit ihren Routen über das Mittelmeer in den Orient und die kirchlichen Zentren. Während großer Heerzüge nach Italien waren Verbände mit oft hunderten oder gar tausenden Pferden meist an die zwei Wochen in den Alpen. Die Nahrung für die Menschen und Heu für die Tiere standen zur Verfügung, und das war für die mittelalterliche Wirtschaft in den Bergen eine bemerkenswerte Leistung.30 Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass es Anlass dafür gibt, Elemente der spätantiken Straßendienste auch im Frühmittelalter vermuten zu dürfen. Menschen, die Transport- und Botendienste leisteten, und Stationen, die Reisende versorgten, bairische Herzogtum der Agilolfinger (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 35), Stuttgart 1991, 55, 553. 29 Pauli, Die Alpen (wie Anm. 4) 220–222 zu Geologie, Pässen und Klausen, 254–256 mit einer Betonung von Untergang und Bruch mit der römischen Antike. Thomas Szabó, Der Übergang von der Antike zum Mittelalter am Beispiel des Straßennetzes, in: Europäische Technik im Mittelalter 800–1400. Tradition und Innovation. Ein Handbuch, hg. von Uta Lindgren, Berlin 1998, 25–43, hier 25: »Das Straßennetz, auch des Westens, fiel weitgehend in einen vorzivilisatorischen Naturzustand zurück, in dem der einzelne Weg nicht mehr das von den Bewohnern der Gegend präparierte und befestigte endlose Band durch die Landschaft war, sondern [...] nur der Ort, wo man ging.« 30 Karl Brunner, Herzogtümer und Marken. Vom Ungarnsturm bis ins 12. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 907–1156), Wien 1994, 197. Immer noch wichtig für die folgenden Ausführungen: Otto Stolz, Geschichte des Zollwesens, Verkehrs und Handels in Tirol und Vorarlberg von den Anfängen bis ins XX. Jahrhundert (Schlern-Schriften 108), Innsbruck 1953. Pilger: Gioia Conte, Pilgerwege des späten Mittelalters im Alpenraum, in: Die Erschließung des Alpenraums für den Verkehr im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Historikertagung in Irsee, 13.–15. IX. 1993 = L’apertura dellʼarea alpina al traffico nel medioevo e nella prima era moderna, hg. von Erwin Riedenauer (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer Neue Folge 7), Bozen 1996, 145–196.



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gab es kontinuierlich. Die Debatte um solche Kontinuitäten ist komplex, und hier kann nur auf die Arbeiten etwa von Joachim Jahn und Stefan Esders verwiesen werden. Die frühmittelalterlichen Quellen nennen tabernae und stabula. Es gab also Stationen mit Herbergen, Wohnraum für das Personal, Ställen für die Pferde und Saumtiere sowie Schuppen für die Wägen. Man darf an solchen Plätzen annehmen, dass Handwerker auch Reparaturwerkstätten für Zaumzeug und Wägen unterhielten. Hospize und Klöster übernahmen ähnliche Aufgaben wie in der Antike der cursus publicus.31 Der Bedarf an hoch qualifiziertem Personal, das den Verkehr sicherte, war in den Alpen immer vorhanden. Solche Experten standen seit der Antike unter besonderem Schutz und verfügten über Prestige und Freiheiten. Das erklärt spezifische soziale Entwicklungen im Alpenraum und die Existenz sprachlicher und ethnischer Sondergruppen. Manche dieser Gruppen beriefen sich auf römische Traditionen. Die ältere Forschung betonte stets, dass Romanen und Ladiner in Rückzugsgebieten gelebt haben sollen. Aber viele dieser Gebiete wurden erst seit dem ausgehenden Mittelalter zur Peripherie.32 Während des Früh- und Hochmittelalters war etwa der Vinschgau eine Verkehrszone mit einer besonders personenintensiven Organisation. Da der technische Standard der teilweise aufwendigen römischen Straßenbauten, 31 Brunner, Herzogtümer und Marken (wie Anm. 30) 198–199; Stefan Esders, ›Öffentliche‹ Abgaben und Leistungen im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter: Konzeptionen und Befunde, in: Von der Spätantike zum Frühmittelalter: Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde, hg. von Theo Kölzer / Rudolf Schieffer (Vorträge und Forschungen 70), Ostfildern 2009, 189–244; Otto Clavadetscher, Verkehrsorganisation in Rätien zur Karolingerzeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 5 (1955) 1–30 machte für das Bündner Gebiet Kontinuitäten zur römischen Organisation des Verkehrs über die Pässe wahrscheinlich. Für Tirol sind die Quellen deutlich weniger. 32 Brunner, Herzogtümer und Marken (wie Anm. 30) 196 und die Karte auf 201; Friedrich Schürr, Die Alpenromanen, in: Die Alpen in der europäischen Geschichte des Mittelalters. Reichenau-Vorträge 1961–1962 (Vorträge und Forschungen 10), hg. von Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Sigmaringen 1964, 201–220; Volker Bierbrauer, Zwei romanische Bügelfibeltypen des 6. und 7. Jahrhunderts im mittleren Alpenraum. Ein Beitrag zur Kontinuitäts- und Siedlungsgeschichte, in: Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Institutes für Ur- und Frühgeschichte der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck, hg. von Andreas Lippert / Konrad Spindler (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 8) Bonn 1992, 37–73, hier: 52–57; Volker Bierbrauer, Die germanische Aufsiedlung des östlichen und mittleren Alpengebietes im 6. und 7. Jahrhundert aus archäologischer Sicht, in: Frühmittelalterliche Ethnogenese im Alpenraum, hg. von Helmut Beumann / Werner Schröder (Nationes. Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter 5), Sigmaringen 1985, 9–48.

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die den Alpenübergang über Reschen und Brenner mit Wägen ermöglicht hatten, nicht aufrechterhalten werden konnte, dominierte wieder der Verkehr mit Reit- und Saumtieren. Grob gesagt wurden seit der Zeit um 1200 die großen Alpenstraßen wieder ausgebaut. Die im hohen Mittelalter zunehmenden Verkehrsströme konzentrierten sich immer mehr auf Brenner und Reschen. Kaufleute bevorzugten die für den Wagenverkehr nutzbaren und immer besser ausgebauten Straßen. So traten andere Pässe wie der vom hinteren Passeier- in das Ötztal über das Timmelsjoch und der Jaufen, der Meran und Sterzing verbindet, in die zweite Reihe. Diese Konzentration der Verkehrsströme führte auch dazu, dass die von Ladinern und Romanen bewohnten Gebiete an Bedeutung verloren.33 Zuerst zwei Beispiele für Romanengemeinden im frühen Mittelalter und dann ein Wort zum Saumwesen: Sie erinnern sich an die auf der bei Plinius überlieferten Inschrift auf dem Tropaeum Alpium genannten Breonen? Eine Breonengemeinschaft gab es noch Jahrhunderte später, und sie erscheint in der Vita des heiligen Corbinian. Als der Leichnam des Heiligen um 725 von Freising nach Mais bei Meran überführt wurde, ereignete sich im Gebiet der Talbewohner, Vallenensium partes, ein kleines Wunder. Der in Gestalt und Abkunft edle Römer Dominicus, nobilis tam genere quam forme Romanus Dominicus, wird von einer Krankheit geheilt. Dieser Dominicus ist nicht nur ein Römer, sondern auch ein breonischer Bürger, Preonensium plebes concives. Nun war der Mann wohl kein in Tirol lebender Römer, Arbeo meinte, er spreche Latein, sei aber eben ein breonischer Mitbürger, concives.34 Ein Jahrhundert später kann man diese ein romanisches Idiom sprechenden Breonen erneut greifen. Nach Weihnachten 827 übereignete ein gewisser Quartinus, der als zu den Norikern und Breonen gehörig bezeichnet wird, nationis Noricorum et Pregnariorum, Besitzungen bei Thaur, Stans, in der Sterzinger Gegend 33 Brunner, Herzogtümer und Marken (wie Anm. 30) 196–197; Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel (wie Anm. 1) 66, 70–71. 34 Arbeonis episcopi Frisingensis vitae sanctorum Haimhrammi et Corbiniani 37 (Arbeos, des Bischofs von Freising, Viten der Heiligen Emmeram und Korbinian), hg. von Bruno Krusch (MGH Scriptores rerum Germanicarum) 13, Hannover 1920, 226; Heitmeier, Das Inntal (wie Anm. 28) 241–245; Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 31, Wien 1995, 30, 34 mit Anm. 119; Heinz Löwe, Die Herkunft der Bajuwaren, in: Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte 15/1 (1949) 5–67, hier 53–55; Richard Heuberger, Natio Noricorum et Pregnariorum. Beiträge zur Frühgeschichte der Baiern und der Alpenromanen des Eisacktales und des Vinschgaus, in: Veröffentlichungen des Museums Ferdinandeum 10 (1930) 1–52, hier 34–36 meint, es handle sich um einen bei den Breonen lebenden Römer. Heuberger wollte ein »deutsches Tirol« und romanische Minderheiten hätten dessen Genese gestört.



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und Bozen an das Kloster Innichen. Dieses Kloster Innichen/Inticha, so berichtet uns die Urkunde weiter, wird in der Volkssprache Eisfeld genannt, ad Inticha, quod dicitur Campo Gelau.35 Die beiden Beispiele sollen genügen, um festzustellen, dass es in den Tiroler Tälern im 9. Jahrhundert Sprecher einer romanischen Sprache gab. Im bairischen Dukat lebte der Name der von den Römern 15 v. Chr. besiegten Breonen weiter. Genauer gesagt bestand die römische Organisation, civitas, der Breonen in irgendeiner Form weiter.36 Die Bevölkerung an den Passübergängen lebte neben der Landwirtschaft vom Warentransport. Da die Straßen- und Passbenutzung mit Wagen einen großen technischen Aufwand voraussetzte, den nach dem Ende der römischen staatlichen Bautätigkeit kaum jemand finanzieren konnte, stellten die Spezialisten in den Bergen Tragtiere zur Verfügung. Der Warentransport durch geführte Tragtiere wird als Saumwesen, der dafür benutzte Weg als Saumpfad bezeichnet. Das Wort Saum stammt vom mittellateinischen salma, sauma in der Bedeutung von Traglast. Meist wurden Esel, Maultiere, Maulesel und Packpferde eingesetzt, in Nordafrika auch Kamele. Das Wissen der Spezialisten an den Übergängen umfasste nicht nur den richtigen Weg und Kenntnisse des Wetters und der Natur, sondern auch bestimmte Packtechniken, die lange tradiert wurden. 98 bis 160 Kilogramm konnte ein Maul-

35 Tr. Freising No. 550 a–c = Die Traditionen des Hochstifts Freising 1 (744–926), hg. von Theodor Bitterauf (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte 4), München 1905, Neudruck Aalen 1967, 471–474; vgl. Heitmeier, Das Inntal (wie Anm. 28) 19–27; 246–247, 305, 332; Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich (wie Anm. 34) 34–39; Löwe, Die Herkunft d. Bajuwaren (wie Anm. 34) 55–58; Heuberger, Natio Noricorum et Pregnariorum (wie Anm. 34). 36 Stefan Esders, Nordwestgallien um 500. Von der militarisierten spätrömischen Provinzgesellschaft zur erweiterten Militäradministration des merowingischen Königtums, in: Chlodwigs Welt. Organisation von Herrschaft um 500, hg. von Mischa Meier / Steffen Patzold (Roma Aeterna. Beiträge zu Spätantike und Frühmittelalter 3), Stuttgart 2014, 339–361 kann in einer detaillierten Untersuchung zeigen, wie spätantike Verwaltungsstrukturen in veränderter, kleinteiligerer Form fortbestanden. »Mit dem Auseinandertreten von kirchlicher und weltlicher Raumordnung, der Ausgliederung vieler pagi aus den civitates, der Vervielfachung der Grafschaften, der Emanzipation der ländlichen Gebiete, der leihweisen Wiederausgabe von Militärgütern, der aufkommenden Rechtsvielfalt, der ersten Immunitätsverleihung und dem über mehrere Teilreiche verstreuten Besitz kirchlicher und weltlicher Magnaten kündigte sich in Nordwestgallien in vielen Hinsichten bereits um 500 eine typisch ›mittelalterliche‹ Konstellation an.« Für den Alpenraum bleiben solche Überlegungen ein Desiderat. Aufbauen könnte man auf Heuberger, Rätien im Altertum und Frühmittelalter (wie Anm. 10).

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tier transportieren, Packpferde schafften bis zu 195 Kilogramm.37 So bewältigte man die Alpenübergänge zu Fuß mit Saumtieren. Das ermöglichte häufig viel kürzere und direktere Routen, als die wenig ausgebauten Passstraßen erlaubt hätten. Selbst bei ausgebauten Straßen war der Wagen oft eine schlechte Wahl, denn ein solcher fasste nur etwa das Doppelte dessen, was ein kunstvoll bepacktes Tragtier transportieren konnte. Karl Brunner stellte fest, dass der Saumverkehr die Zersplitterung des transalpinen Handels in eine Vielzahl von kleinen Übergängen begünstigte. Erst im Verlauf des späteren Mittelalters änderte sich das wieder. Als wegefreundlich erwiesen sich in den Alpentälern vor allem die eiszeitlichen Talschultern, denn die Talsohlen waren von mäandrierenden Flusssystemen durchzogen und sumpfig. Die alten Straßen führten daher oft hoch an den Hängen entlang, wie man noch heute an der Lage vieler Orte sehen kann.38 Nach dem Ende der römischen Staatlichkeit wurde die Versorgung der Reisenden zunehmend von geistlichen Institutionen übernommen. Für diese Aufgaben vergaben Kaiser und Grafen Privilegien und Einkünfte an Klöster und Bischöfe. Ein Netzwerk von bischöflichen Besitzungen Freisings, Augsburgs und Brixens war entlang der Tiroler Verkehrswege entstanden. Das Bistum Freising kontrollierte wichtige Stationen auf dem Weg hin zum Brenner – den Seefelder Sattel und den Zirler Berg hinunter ins Inntal – durch das Kloster Scharnitz. Die Grenze zwischen den Diözesen Brixen und Freising lag im Gaistal und ging über Leermoos an den Plansee. Zudem verfügte Freising über das Kloster Innichen und hatte auch weiteren Besitz im Pustertal, einer wichtigen Ost-West-Achse im alpinen Verkehr. Das Bistum Augsburg dagegen dominierte den Weg über den Reschen und hatte seinen Besitz entlang der alten Via Claudia konzentriert.39 Ein Beispiel, das Josef Riedmann anführt: Im Jahr 1211 übertrug Bischof Friedrich von Trient dem Spital des Deutschen Ordens zu Lengmoos die Pfarre Ritten mit der expliziten Weisung ad re-

37 Thomas Szabó, Saumtiere, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995) 1406 auch zur Etymologie aus τό σάγμα in der Bedeutung von Last; vgl. weiter Albert C. Leighton, Transport and communication in early medieval Europe: AD 500–1100, Newton Abbot 1972, 62– 70; Pio Caroni, Zur Bedeutung des Warentransportes für die Bevölkerung der Passgebiete, in: Histoire des Alpes, perspectives nouvelles: Geschichte der Alpen in neuer Sicht, hg. von Jean-François Bergier (Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Sonderband 29/1), Stuttgart 1979, 84–100; Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel (wie Anm. 1) 74–75. 38 Brunner, Herzogtümer und Marken (wie Anm. 30) 197. 39 Brunner, Herzogtümer und Marken (wie Anm. 30) 205–207; Othmar Hageneder, Die kirchliche Organisation im Zentralalpenraum vom 6. bis 10. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Ethnogenese im Alpenraum, hg. von Beumann / Schröder (wie Anm. 32) 201– 235.



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fectionem pauperum per stratam de Riten transeuntium, also für die Erholung der armen Reisenden auf der Rittenstraße zu sorgen.40 Der Brenner ist mit 1371 Metern über dem Meer der niedrigste Pass über die Alpen und somit eine verhältnismäßig einfache Verbindung zwischen dem Norden und Italien. Die Sicherung der Pässe war ein wichtiger Bestandteil der Politik der Kaiser, die ja Herrschaftrechte in Italien ausübten und zur Kaiserkrönung nach Rom mussten. Heinrich II. (1002–1024) benutzte nachweislich sowohl 1013/14 als auch 1020/21 den Brenner. Von den Alpenüberquerungen wissen wir, da die Herrscher in Augsburg oder Regensburg ihr Heer sammelten und in diesen Städten und dann wieder in Verona Urkunden ausstellten. Zur Sicherung des Brenner- und Reschenweges kam es unter Konrad II. (1024–1039) zur königlichen Verleihung von Grafschaftsrechten an die am Weg gelegenen Bistümer. 1027 wurden drei Grafschaften eingerichtet. Jene im Inn- und Eisacktal ging an Brixen, die Grafschaften um Bozen und im Vinschgau an Trient. Diese Entwicklung ist eine der Grundlagen für die Entstehung des mittelalterlichen Landes Tirol.41 Um 1200 begann eine neue Epoche des transalpinen Verkehrs. Der Güteraustausch und der Handel nahmen im Rahmen gesamteuropäischer wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen zu. Und nun wurden – in kontinentalen Dimensionen – die Straßen wieder ausgebaut. Alle passbeherrschenden Mächte setzten im hohen Mittelalter verkehrspolitische Maßnahmen und gerieten in Konkurrenz zueinander. 40 TUB 2, Nr. 614 = Tiroler Urkundenbuch I. Abteilung: Die Urkunden des deutschen Etschlandes und des Vintschgaus II. Bd.: 1200–1230, hg. von Franz Huter, Innsbruck 1949, 87–89; vgl. Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel (wie Anm. 1) 65. 41 Verleihung der Grafschaften an Brixen und Trient: MGH D K II 101 (comitatus Tridentinum), 102 (comitatus Uenustensis/Bauzanum), 103 (vallis Eniana cum clausa sub Sabione sita) = MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 4. Die Urkunden Konrads II., hg. von Harry Bresslau / Hans Wibel / Alfred Hessel, Hannover 1909, Neudruck 2009, 143–147; vgl. Heinz Dopsch / Karl Brunner / Maximilian Weltin, Die Länder und das Reich. Der Ostalpenraum im Hochmittelalter (Österreichische Geschichte 1122– 1278), Wien 1999, 376–398; Brunner, Herzogtümer und Marken (wie Anm. 30) 207– 210, 216–218. Vgl. das umfangreiche einschlägige Material in Carlrichard Brühl, Fodrum, Gistum, Servitium Regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts 1/2 (Kölner historische Abhandlungen 14), Köln / Graz 1968, 396–418, 460–472. Bd. 2 bietet ein Register und die Karten I–VI zum Weg nach Italien wie die seltene Nennung von Orten zwischen Bayern und Verona. Wilhelm Störmer, Die Brennerroute und deren Sicherung im Kalkül der mittelalterlichen Kaiserpolitik, in: Alpenübergänge vor 1850. Landkarten, Straßen, Verkehr, hg. von Uta Lindgren (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beiheft 83), Stuttgart 1987, 156–162.

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Bauliche Verbesserungen zielten darauf ab, den Transit auf die eigenen Pässe zu ziehen. Der überregionale Handel und Verkehr konzentrierten sich immer mehr auf wenige Pässe, während andere an Bedeutung verloren. Die französischen Dauphins hielten den Col de Montgenèvre, die Savoyer den Mont Cenis, den Großen und Kleinen Sankt Bernhard, die Habsburger den Stankt Gotthard, der Bischof von Chur die Bündner Pässe und schließlich die Tiroler Grafen den Brenner. Um die Kontrolle zu erhalten setzten diese Mächte politische und militärische Maßnahmen, um Einnahmen zu generieren hoben sie Zölle ein.42 Die daraus erzielten Einkünfte waren erheblich. Um 1300 sorgten Zölle für ein Achtel der Jahreseinkünfte der Tiroler Landesherren. Die wichtigsten Zollstellen standen am Brenner, in Bozen und an der Töll bei Meran. Auswärtige Klöster sowie einige Bischöfe waren vom Zoll befreit. Auch einheimische Adelige, Städte und einzelne Bürger, Gerichte und Gemeinden genossen Zollfreiheiten. Klaus Brandstätter schätzte aufgrund der Höhe der Zolleinnahmen die transportierten Warenmengen. Um 1300 wurden mindestens 4.000 Tonnen Güter durch Tirol transportiert und 40 Jahre später bis zu 5.000 Tonnen. Auch für die Bevölkerung war der Transitverkehr ein gutes Geschäft. Der bestehende Straßenzwang konzentrierte den Warentransport auf jene Routen, an denen die landesfürstlichen Zollstätten lagen. Privilegierte Orte – Städte und Märkte – an diesen Straßen verfügten über das Niederlagsrecht. Das bedeutet, die Kaufleute hatten ihre Waren gegen Entgelt zu lagern und Quartier zu nehmen. Ähnlich wie beim Saumwesen ergaben sich auch beim sogenannten Rodfuhrwesen Verdienstmöglichkeiten für die Anrainer. Ein zahlenmäßig beschränkter und berechtigter Personenkreis bot Fuhrdienste als Nebengewerbe zur Landwirtschaft an. In einer bestimmten Ordnung, der Rod, durfte dieses Gewerbe ausgeübt werden.43 Die Tiroler Rechnungsbücher vermerken Posten für den Ausbau, um Wege auch für Wagen nutzbar zu machen. Die Brennerroute war bereits um 1300 auf weiten Strecken als Fahrstraße nutzbar. Andere Pässe dagegen blieben noch länger nur mit Saumtieren begehbar. So war der Weg über den Reschen erst ein Jahrhundert nach dem Brenner wieder mit Wagen befahrbar. Schwachstelle auf dem Brennerweg blieb lange die beinahe unpassierbare Eisackschlucht zwischen Klausen und Bozen. In römischer Zeit verlief dort ein Weg, der aber bereits verfallen war. Erst durch den Bau einer Straße durch die Eisackschlucht zwischen Waidbruck und Bo42 H. C. Peyer, Alpenpässe, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980) 453–455; Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel (wie Anm. 1) 67 und Anm. 29 mit weiterer Literatur; FranzHeinz Hye, Mittelalterliche Sekundärverbindungen und Gebirgsübergänge in Tirol, in: Erschließung des Alpenraums, hg. von Riedenauer (wie Anm. 30) 129–144. 43 Klaus Brandstätter, Verkehr und Handel, in: Eines Fürsten Traum. Meinhard II. Das Werden Tirols. Tiroler Landesausstellung 1995 im Schloß Tirol und im Stift Stams, hg. von Josef Riedmann, Innsbruck 1995, 267–273.



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zen wurde der Brennerweg endgültig zur besseren Verbindung. Zuvor musste man über den Ritten. 1314 war dem Bozner Bürger Heinrich Kuntner vom Landesfürsten das Recht gewährt worden, eine neue Straße, genauer gesagt einen Saumweg, zu bauen. Diese hieß dann auch Kuntnerweg. Der Graf von Tirol gewährte diesem frühen bürgerlichen Unternehmer das Recht, die Zölle einzustreichen und zwei Tavernen zu errichten. Mit Wagen befahrbar wurde der Kuntnerweg erst seit dem 15. Jahrhundert.44 Tirol bot im Norden und im Süden zwei gute Wasserwege. Der Wasserweg war vor dem Bau von Eisenbahnstrecken im Laufe der Industrialisierung die mit Abstand einfachste Transportmöglichkeit. Im Norden verband der Inn auf einigen Abschnitten den Alpenraum mit der Donau, im Süden befuhr man wie schon in römischer Zeit den Gardasee und die Etsch. 1188 verfügte der Bischof von Trient, dass eine societas, eine Gemeinschaft, in Mori im Lagertal bei Rovereto die Schifffahrt auf der Etsch organisieren sollte. Diese Gesellschaft stand in Konkurrenz zu den Veronesern, die eine eigene Schifffahrt von Branzoll die Etsch abwärts unterhielten. Oberes Ende war Bozen bzw. Neuhaus und Terlan. Die eigentliche Frachtschifffahrt ab Branzoll und von hier nach Verona benötigte 2,5 Tage. Für den Rückweg brauchte man jedoch 6 Tage. Bei dieser Bergfahrt hatten Pferde vom Ufer aus die Schiffe flussaufwärts zu ziehen. Der Inn war ab Telfs schiffbar. Seit Anfang des 14. Jahrhunderts jedoch wurde diese Strecke durch einen Holzrechen unterbrochen, der die Saline Hall und ihr Sudhaus mit Holz zu versorgen hatte, das man auch aus dem Inn entnahm. Von hier bis nach Kufstein konnte man in lediglich 6 Stunden gelangen, für den Rückweg brauchte man 5 Tage. Der Wein für die Klöster und Hochstifte im nördlichen Voralpengebiet aus dem Trentino und Südtirol wurde so transportiert.45 Römische Brücken selbst sind nicht erhalten, auch wenn mancher Name dies glauben macht. Die so genannte Römerbrücke in Grins etwa stammt aus dem späten 16. Jahrhundert. Wir dürfen römische Brücken über den Inn bei Brixlegg, Landeck, Pontlatz und Finstermünz annehmen, über die Sill bei Wilten und Matrei und über die Drau. Diese Brücken waren – wie Franz Caramelle angenommen hat – wohl Holzkonstruktionen, denn dieser Baustoff hat ideale Eigenschaften für freischwebende Konstruktionen.46 So wie grob nach 1200 die Straßen ausgebaut wurden, 44 Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel (wie Anm. 1) 67; Brandstätter, Verkehr und Handel (wie Anm. 43) 268. 45 Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel (wie Anm. 1) 71–72 und die Anm. 45–49; Brandstätter, Verkehr und Handel (wie Anm. 43) 270–272; Helmut Gritsch, Schiffahrt auf Etsch und Inn, in: Alpenübergänge vor 1850, hg. von Lindgren (wie Anm. 41) 47–63. 46 Franz Caramelle, Historische Brückenbauten in Nord- und Osttirol, in: Industriearchäologie: Nord-, Ost- Südtirol und Vorarlberg, hg. von Christoph Bertsch, Innsruck 1992, 79– 93; vgl. viele allgemeine Hinweise auch auf Brückeninschriften bei Franz-Heinz Hye,

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kümmerte man sich auch um neue Flussübergänge. Orte an solchen neu errichteten Brücken erlangten schnell zentrale Bedeutung. Ortsnamen zeugen davon, etwa Bruck an der Mur oder Bruck an der Leitha und Innsbruck. Aber auch die Eisackbrücke bei Bozen, die Etschbrücke bei Trient und jene über die Avisio bei Lavis wurden vor 1250 errichtet. Die Bürde der Instandhaltung der wichtigen Wege und Brücken trugen die angrenzenden Gemeinden. Details sind etwa aus dem Bozner Brückenweistum von 1239 bekannt.47 Der nach 1200 zunehmende Warenaustausch begünstigte das Wachstum der Siedlungen an zentralen Punkten der Verkehrslinien. Die Tiroler Städte profitierten von diesen Entwicklungen. Und nicht zuletzt ist auch anzunehmen, dass das hohe Verkehrsaufkommen Auswirkungen auf Lebensweise und Weltanschauungen der ansässigen Bevölkerung hatte, wie Josef Riedmann zu Recht immer wieder betont hat. Grundlegend änderten sich die beschriebenen Strukturen erst mit der Industrialisierung und dem Bau der Eisenbahnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus Platzgründen muss jedoch an dieser Stelle ein Punkt gesetzt werden, denn im 13. Jahrhundert nahm nicht nur der Verkehr über die Alpen zu, auch die Menge an zur Verfügung stehenden Quellen wuchs an.

Grundzüge der alten Tiroler Verkehrsgeschichte – dargestellt anhand von Relikten in Sammlungen und im Gelände, in: Alpenübergänge vor 1850, hg. von Lindgren (wie Anm. 41) 147–155. 47 Otto Stolz, Geschichtskunde der Gewässer Tirols (Schlern-Schriften 32), Innsbruck 1936, 386–461; Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel (wie Anm. 1) 66.

»Woher kommen Sie?« Marginalisierung aus postmigrantischer Perspektive M ARC H ILL »Ich träume nun von einer Wissenschaft – und ich sage ausdrücklich Wissenschaft –, deren Gegenstand diese verschiedenen Räume wären, diese anderen Orte, diese mystischen oder realen Negationen des Raumes, in dem wir leben. Diese Wissenschaft erforschte nicht die Utopien, denn wir sollten diese Bezeichnung nur Dingen vorbehalten, die tatsächlich keinen Ort haben, sondern die Heterotopien, die vollkommen anderen Räume. Und ganz folgerichtig hieße und heißt die Wissenschaft Heterotopologie.«1 MICHEL FOUCAULT, DIE HETEROTOPIEN

In meinem Artikel geht es um Räume, die es eigentlich gar nicht gibt. Michel Foucault spricht in diesem Zusammenhang von Heterotopien und diese Idee verstehe ich als eine Einladung, über marginalisierte Räume, Grenzregime und Machtverhältnisse neu nachzudenken. Im vorliegenden Text betrachte ich Stadträume, welche per se als Orte einer sogenannten Parallelgesellschaft abgewertet werden. Zumindest in der öffentlichen Meinung und in wissenschaftlichen Publikationen. Auch in Filmen tauchen Stadtviertel wie die New Yorker Bronx oder die Pariser Banlieues routinemäßig als »[a]ndere Räume, Räume der Anderen«2 auf. Im Laufe der 1

Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt

2

Mark Terkessidis, Andere Räume. Räume der Anderen, in: Bildpunkt. Zeitschrift der IG

am Main 2005, 11. Bildende Kunst, Raum greifen (2005) 24–27.

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Zeit hat sich dadurch ein Wissen über marginalisierte Stadtviertel in den Köpfen der Menschen festgesetzt, welches die problematische Unterscheidung zwischen Stadtvierteln mit hohem und niedrigem Migrationsanteil legitimiert. Darüber hinaus erweckt das real existierende Marginalisierungswissen den Eindruck, dass es normal ist, von bürgerlichen Bezirken der Mehrheitsgesellschaft und Ausländervierteln zu sprechen. Im deutschsprachigen Raum ist beispielsweise die Rede von der Parallelgesellschaft in Bezug auf Stadtviertel, in denen mehrheitlich muslimische Bürgerinnen und Bürger leben, zu etwas Alltäglichem geworden. Dabei ist die Parallelgesellschaft eine wissenschaftliche Erfindung und ein gewöhnungsbedürftiges Konzept. Normalerweise käme niemand einfach so auf die Idee, von einer Parallelgesellschaft zu sprechen, nur weil es eine höhere Dichte an kleingewerblichen Geschäften der Migrationsökonomie in einem Straßenzug gibt und hier und dort die Menschen vom hegemonialen Sprachenkonzept abweichen. Im Gegensatz zu unspektakulären Alltagsdeutungen und näher an der Wirklichkeit liegenden Interpretation, nämlich dass das völlig normal in einer Stadt ist, zeigen sich wissenschaftlich angelegte Integrations- und Bildungsberichte schon besorgt, wenn in Stadtvierteln und auf Schulhöfen zwischen den Sprachen hin- und hergewechselt wird. Grund genug für die Autorin Ingrid Brodnig im Wiener Stadtmagazin Falter kritisch auf solche hegemonialen Panikattacken zu antworten und eine Entwarnung auszusprechen: »Bilinguale Menschen hupfen häufig zwischen den Sprachen hin und her. Ein Satz beginnt in der Muttersprache und endet auf Deutsch. Wenn das französische Diplomatenkind so etwas macht, finden das alle charmant. Wenn der türkische Migrant das tut, wird es fast schon als Anschlag auf den ganzen deutschsprachigen Kulturkreis gedeutet. Dabei sind solche neuen Mischformen ganz normal.«3

Urbane Räume, in denen sich beispielsweise die bewegte Geschichte der Gastarbeitermigration eingeschrieben hat, stellen bei genauerer Betrachtung eine städtische Banalität dar. Erol Yildiz bringt diesen Aspekt auf den Punkt, wenn er sagt: »Stadt ist Migration«.4 Darüber hinaus ist Migration ein Entwicklungsmotor von Städten und die Attraktivität einer Stadt zeigt sich mitunter dadurch, dass Menschen dort hinziehen. Problematisch erscheinen eher Orte, die von großen Abwanderungsbewegungen betroffen sind und zunehmend schrumpfen, wie dies beispielsweise bei ländlichen Gegenden durchaus der Fall ist. Aus diesem Grund ist es paradox, wenn bei Zuzug von Stadtkrisen gesprochen wird, da die Stadt durch Migration sich weiterentwickelt und ihre Anziehungskraft unter Beweis stellen kann. 3

Ingrid Brodnig, Du bist Bombe!, in: Falter vom 5.5.2010, 12.

4

Erol Yildiz, Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht, Bielefeld 2013, 45.



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Nachfolgend werde ich erläutern, warum die Frage nach der Herkunft problematisch ist und was ich unter Marginalisierung im Kontext von Stadt und Migration verstehe. Insbesondere lege ich dar, wie sich diesbezügliche Abwertungsspiralen aus einer postmigrantischen Perspektive durchkreuzen lassen. Daraufhin werden zwei Lebensentwürfe von jungen Menschen aus einem marginalisierten Stadtviertel vorgestellt. Sie unterstreichen, wie Jugendliche und junge Erwachsene Stigmatisierungen wahrnehmen bzw. welche Ressourcen sie nutzen, um aus der Marginalisierung eine Zukunft zu gestalten. Abschließend münden meine Ausführungen in einem marginalisierungskritischen Fazit.

D IE F RAGE

NACH DER

H ERKUNFT

Auffällig bei politischen Integrationsdebatten ist, dass Migration marginalisiert wird, obwohl sie in vielerlei Hinsicht konstitutiv für die Stadtentwicklung ist und eine gesamtgesellschaftliche Ressource darstellt. Zu fragen ist daher, warum und wie aus Migration eigentlich ein diskursives Problem gemacht wird. Ein Grund liegt darin, dass ein Marginalisierungswissen erzeugt wird, welches sich normalisiert hat. Damit ist die Frage nach der Herkunft immer auch eine Frage, wie man gesellschaftlich eingestuft wird und ob damit ethnisch-zentrierte Auf- und Abwertungsprozesse verbunden sind. Je nach Situation und Kontext geht die neugierig gestellte Frage über das reine Interesse hinaus und bettet sich in ein von Ungleichheit strukturiertes Feld ein, in dem Migration sowohl unter idealisierten als auch problematisierten Vorzeichen verhandelt wird. Damit verbunden ist vor allem die Konsequenz, dass Migration reflexartig als spektakuläre Normabweichung wahrgenommen wird. Für Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund, die mit einer solchen Zugehörigkeitsdramaturgie permanent konfrontiert sind, stellt sich zwangsläufig die Frage, wie sie auf solche Deplatzierungen antworten sollen. Die Rede von der Parallelgesellschaft ist jedenfalls adressiert an Musliminnen und Muslimen, die in der Mitte Europas in Städten leben, und zwar in Bezirken mit einem negativen Image, zum Beispiel in Bahnhofsgegenden, oder die auf der umgangssprachlich falschen Seite der Stadt liegen. Gemeint sind Stadtviertel, die im Nachhinein eingemeindet wurden und unter widrigen Bedingungen entstanden sind. Dazu zählen jüngere Stadtviertel mit einem hohen Migrationsanteil, die historisch bedingt schlechter ausgestattet sind. Häufig befindet sich in solchen Stadtbezirken eine Vielzahl von sozialen Einrichtungen, Friedhöfen und Anlaufstellen für stigmatisierte Bevölkerungsgruppen. Weiterhin lassen sich dort vermehrt ausgelagerte Räume der Gesellschaft vorfinden, wie zum Beispiel Wettbüros und Bordelle. Durch rechtspopulistische Diskurse wird aktuell unterstellt, dass in solchen Vierteln der Nährboden für den islamischen Fundamentalismus besonders fruchtbar ist, und

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in weiterer Folge werden die Menschen dort öffentlich kriminalisiert. Zu lesen ist von schwer durchschaubaren Parallelgesellschaften mit mafiaähnlichen Strukturen, teuren Sportwagen und zwielichtigen Gestalten hinter verdunkelten Scheiben.5 Auch das Thema der Hinterhofmoscheen wird in diesem Zusammenhang erwähnt. Die alltagsferne Verräumlichung von Stadtvierteln zu kriminellen Ghettos wird begleitet von mangelhaften und historisch unzulässigen Vergleichen mit den Pariser Banlieues, so dass sich am Ende entsprechende »Marginalisierungsdispostive«6 herauskristallisieren, die sich für politisch-mediale Effekte flexibel ausnutzen lassen. Die Marginalisierung ist also eine bewusste Abwertung von Menschen und deren Räume, die sich aus einem ganzen Diskursensemble zusammenfügt und die sich scheinbar mühelos in den Köpfen der Menschen aktivieren lässt. Wenn Stadtviertel erst einmal in den Verdacht geraten, Parallelgesellschaften zu beheimaten, dann haftet ihnen sofort ein ganzes Wissensrepertoire an diskreditierenden Bezeichnungen an und die Menschen, die dort leben, werden öffentlich stigmatisiert. Bewohnerinnen und Bewohner sowie ihr Stadtraum werden ab diesem Zeitpunkt nur noch durch die Brille deskreditierender Stereotype betrachtet. In der negativen Außenbetrachtung des marginalisierten Stadtviertels spielen dann die tatsächlichen Lebensverhältnisse in dem Bezirk eine untergeordnete Rolle und es beginnt ein Teufelskreis. Es ist dann so, als hätte sich durch Marginalisierungsdiskurse eine getönte Glasfront um den Bezirk herum gebildet, deren Funktion darin besteht, eine distanzierte Öffentlichkeit davon abzuhalten, in die Alltagswirklichkeit des konstruierten Ghettos einzusehen. Im Gegensatz dazu sehen die stigmatisierten Bewohnerinnen und Bewohner sehr wohl, dass sich die Außenwelt abwertend zu ihnen verhält, und suchen nach Optionen, andere Erzählungen ins öffentliche Bewusstsein zu transportieren. Aus einer marginalisierungsreflektierenden Position heraus liegt es nahe, die Außenwelt von der Bedeutung des Viertels zu überzeugen und diskursiv hergestellte Mauern zwischen Menschen und Stadträumen zu durchbrechen. In diesem Artikel wird nach den Optionen von Jugendlichen gefragt, die sich der wirkungsmächtigen Rede von der Parallelgesellschaft und den Ghettodiskursen entziehen möchten. Anhand von zwei biografischen Fallportraits zeigt sich, wie es möglich ist, aus der Marginalisierung heraus eine Zukunft zu gestalten, und wie sich binäre Trennungen im Sinne von »Wir und die Anderen«7 subjektiv auflösen lassen. 5

Vgl. Ulrich Gineiger, Idyll mit Rissen. Ethnische Konflikte und dubiose Interessensvertreter – die Sorge einer türkischen Straße mitten in Nordrhein-Westfalen, http://pdf.zeit. de/2008/12/LS-Keupstrasse.pdf, 3.6.2016.

6

Marc Hill, Nach der Parallelgesellschaft. Neue Perspektiven auf Stadt und Migration,

7

Elisabeth Beck-Gernsheim, Wir und die Anderen. Kopftuch, Zwangsheirat und andere

Bielefeld 2016, 85 ff. Mißverständnisse, Frankfurt am Main 2007.



M ARGINALISIERUNG

VON

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S TADTVIERTELN

Ein Stadtviertel gilt als marginalisiert, wenn es sich um ein infrastrukturarmes Gebiet mit einer sozial benachteiligten Bevölkerung handelt. Zuständige Ämter, Stadtentwicklerinnen und Stadtentwickler sowie soziale Einrichtungen begründen ihre Einschätzung darüber, ob ein sogenannter Problembezirk vorliegt oder nicht, mit Hilfe von statistischen Daten über Arbeitslosigkeit, Bildungsabschlüsse, Infrastruktur, Zu- und Abwanderung etc. Hohe Arbeitslosenzahlen, schlechte Bausubstanz usw. sollen die soziale Benachteiligung und Probleme der Menschen vor Ort belegen und werden für die politische Legitimierung von sozialen Stadterneuerungsprogrammen herangezogen. Andreas Pott kritisiert an diesen zahlenmäßigen Marginalisierungseinschätzungen die Ungenauigkeiten, die bei rein statistischen Auswertungen von Stadtvierteln auftreten müssen, da sie keine Aussagen über die Lebenszusammenhänge machen können. Oftmals sei die Datenlage ungenügend, um einen differenzierten Einblick in die Situation der Stadtviertel zu bekommen.8 Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass die behördliche Praxis existiert, Stadtviertel, in denen im Vergleich zu anderen Bezirken überdurchschnittlich viele Migrantinnen und Migranten aus demselben Herkunftsland leben, als problematisch einzustufen. Teilweise nimmt dieser Punkt einen sehr hohen Stellenwert in den Anträgen von Verwaltungsapparaten und Institutionen für soziale Stadterneuerungsprogramme ein. Vereinzelt wird diese Marginalisierungspraxis in der Fachliteratur kritisiert und als zu undifferenziert zurückgewiesen.9 In theoretischer Hinsicht lässt sich die Marginalisierung von Migrationsvierteln in Anlehnung an Markus Ottersbach in zwei grundlegende Teilprozesse zerlegen: erstens in die Stigmatisierung von Menschen (Sozialstatus, Zugehörigkeitskonstruktionen etc.) und zweitens in die Polarisierung von Sozialräumen, worunter hier die Unterscheidung zwischen autochthonen und allochthonen Gebieten zu verstehen

8

Vgl. Andreas Pott, Räumliche Differenzierung und Bildungsaufstieg in der zweiten Migrantengeneration, in: Differenzierung des Städtischen, hg. von Martina Löw, Opladen 2002, 91.

9

Vgl. Heidede Becker, »Besonderer Entwicklungsbedarf« – die Programmgebiete der Sozialen Stadt, in: Strategien für die Soziale Stadt. Erfahrungen und Perspektiven – Umsetzung des Bund-Länder-Programms »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt«, hg. von Deutsches Institut für Urbanistik im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Berlin 2003, 57–73; vgl. Hartmut Häußermann / Walter Siebel (2004), Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2004, 146.

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ist.10 Mit dieser Unterscheidung geht eine Verräumlichungspraxis einher. Darunter ist eine starke Reduktion des Gebietes auf bestimmte Merkmale wie autochthon oder allochthon zu verstehen. Erst durch das Herunterbrechen eines Gebietes auf eine bestimmte Symbolik ist es möglich, Sozialräume öffentlichkeitswirksam zu unterscheiden und dann im Falle der Marginalisierung von Stadtvierteln in negativer Weise über ganze Stadtgebiete zu sprechen. Bei der Marginalisierung wird das als einheimisch-alteingesessene identifizierte Viertel privilegiert und das als kulturell-abweichend ausgemachte Migrationsviertel abgewertet. Letztendlich zielen die Stigmatisierungen von Menschen mit Migrationsgeschichte in Verbindung mit der Polarisierung ihrer Wohn-/Stadtgebiete darauf ab, einen Sozialraum zu sondieren, um ihn in einem weiteren Schritt zu diskreditieren oder, anders formuliert, dauerhaft in Verruf zu bringen. Bei der Unterscheidung zwischen autochthonen und allochthonen Gebieten werden im öffentlichen Diskurs immer nur bestimmte allochthone Stadtviertel negativ bewertet. In der Regel handelt es sich dabei um Bahnhofsviertel, ehemalige Arbeiter- bzw. Industrieviertel, Hochhaussiedlungen des sozialen Wohnungsbaus und generell wenig prestigeträchtige Gebiete mit einer geringen Infrastruktur, in denen gegenwärtige Migrationsprozesse besonders sichtbar werden. Die Marginalisierung spiegelt gesellschaftliche Machtverhältnisse und soziale Ungleichbehandlungen sowie Diversitätshierarchien wider. Im Speziellen ist die Marginalisierung ein stadtsoziologischer Fachterminus, der die zirkulär verbundenen Prozesse der Stigmatisierung, Verräumlichungspraxen, Polarisierung und Diskreditierung von Stadtraum und Migration umfasst. Erfahrungsgemäß kann ein Marginalisierungsprozess einsetzen, ohne dass überhaupt nach der Alltagswirklichkeit in betroffenen Stadtvierteln gefragt wird. In den meisten Fällen reichen vorerst Sozialstatistiken aus, um über die Köpfe der Menschen hinweg zu entscheiden, dass es sich etwa um einen so genannten sozialen Brennpunkt handelt. Allerdings stellen die Zahlen keinen Bezug zu den Menschen in den Stadtvierteln selbst her, sondern verdichten das Viertel auf dem Zeichenbrett zu einem gesellschaftlichen Risiko. Besonders problematisch ist dabei die Rede von der Parallelgesellschaft im deutschsprachigen Raum, da sie die Bevölkerung aufteilt in zu- und nichtzugehörige Gesellschaftsmitglieder und auf einer kommunalen Ebene Stadtviertel abwertet, in denen der Anteil von Bewohnerinnen und Bewohnern mit Migrationshintergrund und/oder ausländischer Staatsangehörigkeit im Vergleich zu den übrigen Gebieten über dem Durchschnitt liegt. Eine solche Marginalisierungspraxis wirkt sich zwangsläufig erkenntnishemmend aus, da sie die Gesellschaft polarisiert und auf der Grundlage eines ethnisch-kulturell-religiös10 Vgl. Markus Ottersbach, Jugendliche in marginalisierten Quartieren Deutschlands, in: Jugendliche im Abseits. Zur Situation in französischen und deutschen marginalisierten Stadtquartieren, hg. von Markus Ottersbach / Thomas Zitzmann, Wiesbaden 2009, 51–73.



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territorialen Differenzdenkens soziale Ein- und Ausschlusskategorien produziert. Beispiele dafür ist folgende Gegenüberstellung, wobei die jeweils erstgenannte Kategorie im deutschsprachigen Marginalisierungsdiskurs positiv und die zweitgenannte negativ konnotiert ist: inländisch vs. ausländisch, deutschsprachig vs. fremdsprachig, christlich vs. nicht-christlich, hochqualifiziert vs. geringqualifiziert. Hinter solchen binären Reduktionsketten verbirgt sich eine undemokratische Bewertungslogik, welche mehrheimische Lebensentwürfe und migrationsgesellschaftliche Realitäten ausklammert. Wenn also von Parallelgesellschaften die Rede ist, dann werden zwar wissenschaftliche Mythen und mediale Bilder über vermeintliche ethnische Segregationsprozesse reproduziert, es wird aber nicht über real existierende Menschen, Räume und Lebensverhältnisse gesprochen. Aus diesem Grund ist es von bildungswissenschaftlicher Relevanz, Marginalisierungsdiskurse aus einer biografischen Perspektive zu betrachten und die Innenansichten von Bewohnerinnen und Bewohnern diskreditierter Stadtviertel hervorzuheben. In einer dadurch herbeigeführten Umkehrung hegemonialer Betrachtungsweisen liegt das Potenzial, weltoffene Ortsentwürfe aufzuzeigen und Einblicke in die urbane Logik imaginierter Parallelgesellschaften zu gewähren.

A US

EINER POSTMIGRANTISCHEN

P ERSPEKTIVE

Wie stellt sich die Marginalisierung von Migrationsvierteln aus einer postmigrantischen Perspektive dar? Diese Frage stellt sich, da aufgrund herrschender Marginalisierungsdispositive ein Umdenken stattfinden muss. Die Abwertung von Migrationsvierteln in der Öffentlichkeit hat zahlreiche negative Folgen für das Leben von betroffenen Menschen und wertet ganze Stadtbezirke ab. In der Folge entwickeln sich marginalisierte Viertel nur noch schleppend und werden in der Regel sozial abgehängt. Allzu häufig ist es der Fall, dass der hegemoniale Blick auf solche Viertel das revitalisierende Potenzial der Migration außer Acht lässt. In weiterer Folge werden die Entstehung von kleingewerblichen Migrantenökonomien und urbanen Bildungsräumen in marginalisierten Stadtvierteln eher behindert anstatt gefördert.11 Eine postmigrantische Perspektive auf Stadt und Migration zielt in dieser Hinsicht auf die Entwicklung eines anderen Geschichts- und Stadtbewusstseins ab.12 In Anlehnung an postkoloniale Diskurse wird in kritischen Studien zum Thema Migration danach gefragt, wie sich Migrationsprozesse gesellschaftsanalytisch betrachten 11 Vgl. Wolf-Dietrich Bukow, Urbanes Zusammenleben. Zum Umgang mit Migration und Mobilität in europäischen Stadtgesellschaften, Wiesbaden 2010, 182. 12 Erol Yildiz, Postmigrantische Perspektiven. Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit, in: Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, hg. von Erol Yildiz / Marc Hill, Bielefeld 2015, 19 ff.

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und Migrationsgeschichten anders erzählen lassen, als dies bisher getan wurde. Bisher ist die Migrationsforschung eher ein Sonderforschungsbereich geblieben, da sie primär das Leben von Migrantinnen und Migranten beforscht hat. Gilt jedoch die Prämisse, dass Migration ein normaler Bestandteil der Gesellschaft ist, d.h. dass alle Menschen in irgendeiner Form mobil sind und in einer Migrationsgesellschaft leben, dann muss Migrationsforschung sich mit der Analyse der Gesellschaft beschäftigen. Integrationsfragen, die sich direkt an Migrantinnen und Migranten richten, im Sinne von Fühlen Sie sich integriert, weichen bei einer gesellschaftsanalytisch orientierten Migrationsforschung den Fragen nach Anerkennung sowie gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen. Durch diese kontrapunktische Verschiebung verändert sich das Bewusstsein und es werden plötzlich weltoffenere Fragen an die Menschen und den wissenschaftlichen Gegenstand gestellt. Regina Römhild fordert in diesem Zusammenhang eine Entmigrantisierung der Migrationsforschung und spricht im nachfolgenden Zitat von einer zu überwindenden »Migrantologie«: »Ein ursächliches Problem dabei ist, dass Migrationsforschung vielfach als Forschung über Migrant*innen verstanden wird, mit dem Effekt einer sich immer wieder nur selbst illustrierenden und reproduzierenden ›Migrantologie‹, die ihren vermeintlichen Gegenpart – die Gesellschaft der weißen, nationalen, sesshaften Nicht-Migranten – gleich mitkonstruiert. Dieses perspektivische Verhältnis müsste jedoch umgekehrt werden: Im Berliner Labor haben wir dafür die Formel abgeleitet, dass die Migrationsforschung ›entmigrantisiert‹ und die Forschung über Gesellschaft und Kultur dagegen ›migrantisiert‹ werden muss.«13

Die Umkehrung der Perspektive ist ein Herzstück der postmigrantischen Idee. Im Fall der Marginalisierung von Stadtvierteln bedeutet dies, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die von der Marginalisierung direkt betroffen sind. Es bedarf einer stärkeren Subjektzentrierung und Einbindung des Alltagswissens von Bewohnerinnen und Bewohnern. Dies gilt umso mehr in Bezug auf marginalisierte Stadträume, da statistische Daten einen wenig verlässlichen Einblick in das stadtgesellschaftliche Leben bieten können. Ein als marginalisiert klassifiziertes Viertel kann unter Umständen über ein inneres Potenzial verfügen (z.B. die Bildung von einer kleingewerblichen Migrantenökonomie, soziale Netzwerke, eine mehrsprachige Schule etc.), welches von statistischen Analysen leicht verdeckt wird. Vielmehr als am Zahlenmaterial sollte sich die öffentliche Förderung von infrastrukturschwächeren und vom Wegzug bedrohten Stadtvierteln an der Lebenswirklichkeit der Men-

13 Regina Römhild, Jenseits ethnischer Grenzen. Für eine postmigrantische Kultur- und Gesellschaftsforschung, in: Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, hg. von Erol Yildiz / Marc Hill, Bielefeld 2015, 39.



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schen vor Ort orientieren und gesellschaftliche Machtverhältnisse mitberücksichtigen. Durch eine postmigrantische Programmatik, wie ich sie hier anspreche, ergeben sich intendierte Spannungsfelder und Irritationen. Schließlich zielt sie auf die Erzeugung eines neuen Migrations- und Stadtbewusstseins und tatsächlich lässt sich aus dieser Perspektivenumkehr ein neues Wissen der Migration generieren. Plötzlich werden aus marginalisierenden Kategorien wie Ghetto analytische Begrifflichkeiten, wie ich an einer marginalisierungskritischen Videoaktion von Kanak Attak verdeutlichen möchte. Kanak Attak ist eine Gruppe von Menschen, die sich zusammengeschlossen hat und sich in ihrem Manifest folgendermaßen beschreibt: »Kanak Attak ist ein selbstgewählter Zusammenschluss verschiedener Leute über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter ›Identitäten‹ hinweg. Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder nach der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft. / Unser kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen. Kanak Attak ist anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnt jegliche Form von Identitätspolitiken ab, wie sie sich etwa aus ethnologischen Zuschreibungen speisen.«14

Kanak Attak richtet sich gezielt gegen eindeutige Festschreibungen von Menschen aufgrund ihrer Herkunft und bedient sich kreativer Mittel, um die Absurdität von Identitätspolitiken, wie sie es im Manifest selbst nennen, aufzuzeigen und zu durchbrechen. Bereits der Name Kanak Attak weist darauf hin, dass Formen der Selbstethnisierung gezielt und provokativ von dem losen und selbstorganisierten Zusammenschluss eingesetzt werden, um auf Rassismus in der Gesellschaft aufmerksam zu machen.15 Häufig wird der hegemoniale Spieß durch das rassismuskritische Bündnis einfach umgedreht und nach kreativen Strategien gegen ethnisch-zentrierte Deutungsmuster gesucht, wie es in einem Video von Kanak Attak mit dem programmatischen Titel Weißes Ghetto besonders deutlich wird. Gezeigt wird, wie Mitglieder in einem Kölner Veedel16 eine Umfrage starten, welches der imaginierten Norm einer einheimisch-bürgerlichen Gegend entspricht. Sie stellen den Bewohnerinnen und Bewohnern sinngemäß folgende Fragen:

14 Kanak Attak, Manifest, http://www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html, 13.2.2016. 15 Ulrich Steuten, Provokative Selbstethnisierung: Kanak Attak, in: Migration in der metropolitanen Gesellschaft. Zwischen Ethnisierung und globaler Neuorientierung, hg. von Markus Ottersbach / Erol Yildiz, Münster 2004, 167–179. 16 Kölsches Wort für Stadtviertel.

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   

Wie lebt es sich im weißen Ghetto? Haben Sie eine Identitätskrise? Wie kommen Sie mit den parallelgesellschaftlichen Strukturen in Ihrem Viertel zurecht? Was würden Sie vorschlagen, damit sich die Deutschen besser in die Kölner Gesellschaft integrieren können?

Abbildung 1: Screenshot einer Videoszene aus »Weißes Ghetto«.

  Quelle: Kanak Attak.17

Die Einheimischen des Veedels reagierten teilweise einfach sprachlos auf diese Fragen und sind auf banale Art und Weise sehr irritiert. Normalerweise werden solche vermeintlich absurden Fragen immer nur Migrantinnen und Migranten aus marginalisierten Migrationsvierteln gestellt. Exemplarisch möchte ich an dieser Stelle einige Reaktionen aufführen:   

»Moment mal … die Deutschen? Ich denke, wir sind integriert?« »Ich finde, das ist eine sehr doofe Frage.« »Die Anderen haben die Aufgabe, sich zu integrieren.«

Die verdichteten Reaktionen zeigen, dass sich die Einheimischen daran gewöhnt haben, wie mit Migrantinnen und Migranten umgegangen wird, und dass nur Men17 Kanak

Attak, Weißes

13.2.2016.

Ghetto,

http://www.kanak-tv.de/popup/weisses_ghetto.html,



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schen mit Migrationshintergrund Zielgruppe von stigmatisierenden Fragen zur Integration sein können. Dabei ist Migration ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Diejenigen beispielsweise, die die Fragen in dem Video gestellt haben, leben bereits in der zweiten, dritten oder vierten Generation in Deutschland. Auffällig ist auch, dass Menschen selbst in großstädtischen Kontexten über mehrere Generationen hinweg als Migrantin und Migrant gelten können. Dies hat meines Erachtens mehr mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu tun als mit Fragen zur kulturellen Integration.

A US

DER

M ARGINALISIERUNG

EINE

Z UKUNFT

GESTALTEN

Wie die oben geschilderte Video-Umfrage-Aktion von Kanak Attak zeigt, ist es notwendig, ethnisch-zentrierte Deutungsmuster mit größerer Distanz zu betrachten und darüber nachzudenken, wie sie entideologisiert und für eine kritische Analyse von Gesellschaftsverhältnissen nutzbar gemacht werden können. Der in den Alltag eingezogene Mythos über die Entstehung von Parallelgesellschaften ist dafür ein Beispiel par excellence. In der Umkehrung der hegemonialen Bedeutung vorgenannter wissenschaftlicher Überlieferung ergeben sich neue Perspektiven auf Stadt und Migration und ein entdramatisiertes Verhältnis zu den vielfach proklamierten Warnungen vor sozialer Segregation. In der Studie Lebensentwürfe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus marginalisierten Stadtvierteln18 habe ich 30 junge Menschen und Heranwachsende zu ihren alltäglichen Erfahrungen mit der Diskreditierung ihrer Wohngegend befragt. Von besonderem Forschungsinteresse war die Frage, welche neuen Erzählungen sich über Stadt und Migration ergeben, wenn Bewohnerinnen und Bewohner zu ihren Lebensentwürfen direkt befragt werden. Im Konkreten waren folgende Forschungsfragen leitend, um einen Einblick in die Alltagspraxen der jungen Menschen im marginalisierten Stadtteil zu gewinnen. 



Was sind die Erfahrungen der jungen Menschen vor Ort und was können sie über das Aufwachsen und Leben in einem marginalisierten Stadtviertel sagen? Werden von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen Strategien entwickelt, um der Marginalisierung zu entkommen?

18 Die Realisierung des Forschungsprojektes fand in den Jahren 2012 bis 2014 in Klagenfurt am Wörthersee statt (Projektleitung: Erol Yildiz / Projektmitarbeiter: Marc Hill). Es wurde mit Mitteln aus dem Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank gefördert und in die Projektdatenbank mit der Projektnummer 1472 eingetragen.

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Wie lassen sich durch die Erzählungen räumliche Vielfalt bzw. Gegenräume zum hegemonialen Diskurs über Stadt und Migration sichtbar machen?

Anhand der Interviews habe ich biografische Fallportraits erstellt, welche Einblick in die soziale Praxis der Menschen und den Umgang mit Marginalisierung im Alltag geben. Mithilfe der Rekonstruktion von Biografien und damit verbundenen Wanderungsbewegungen kann die migrationsbedingte Diversität von ländlichen Regionen und Städten wie Klagenfurt visuell erfasst werden. Biografien sind in der Lage die einheimischen Marginalisierungspraxen als realitätsfern zu dekonstruieren und die urbane Logik einer Region oder eines Bezirks wiederzugeben. Biografische Narrationen dienen dem sozialwissenschaftlichen Blick in die mobilen Lebenswelten, aber auch der Anregung zur Selbstreflexion der jeweiligen Interviewpartnerinnen und Interviewpartner. Die Befragten erzeugen im Gespräch eine Theorie über sich selbst. Sie blicken dabei zurück, erzählen und ergänzen, deuten um und wenden sich ihren Lebensentwürfen zu. Es sind Re-/De-/Konstruktionen, in denen Erlebnisse mit Menschen und Orten verflochten werden sowie erworbene urbane Kompetenzen zum Vorschein kommen. Das Interviewformat mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Klagenfurt war halbnarrativ angelegt, d.h. die befragten Bewohnerinnen und Bewohner erzählten möglichst frei, jedoch durfte ich als Interviewer das Gespräch immer wieder in den Kontext des Forschungsprojektes zurückholen. Diese Vorgehensweise bei der Erhebung der verbalen Daten basiert auf dem Interview-Konzept des »verstehenden Interviews«19 und enthält Elemente des »problemzentrierten Interviews«.20 Auf diese Weise ist es möglich, sowohl biografische Erzählungen zu generieren als auch das Thema der Marginalisierung ausreichend zu fokussieren. In der Auswertung fand eine weitgehende Orientierung an der »Grounded Theory«21 statt.

V IELFALT

AUF DEN ZWEITEN

B LICK

Normalerweise wird das Thema Migration überwiegend im großstädtischen Kontext behandelt, insbesondere, wenn es um die zweite und dritte Generation geht. Allerdings sind Migrationsbewegungen für ländliche oder kleinstädtische Gebiete ebenfalls von hoher Relevanz, wie das Beispiel Klagenfurt am Wörthersee zeigt. 19 Jean-Claude Kaufmann, Das verstehende Interview. Theorie und Praxis, Konstanz 1999. 20 Andreas Witzel, Das problemzentrierte Interview, http://www.qualitative-research.net/ index.php/fqs/article/view/%201132/2519, 14.2.2016. 21 Barney G. Glaser / Anselm L. Strauss, Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern 2010.



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Kärnten wird assoziiert mir Bergen, Sonne und Seen. Darüber hinaus ist das Land ein fester Bestandteil des Alpen-Adria-Raumes und stellt sowohl in geografischer als auch kultureller Hinsicht einen transnationalen Knotenpunkt dar. Aber: Aufgrund einer restriktiven Migrations- und Minderheitenpolitik gilt das Land als heimatorientiert und weltverschlossen. Insbesondere kommt dieser Umstand in dem Phänomen Jörg Haider – Mythenbildung und Erbe22 zum Ausdruck. Somit wird die Vielfalt von Kärnten häufig erst auf den zweiten Blick offensichtlich, da rechtspopulistische Diskurse und ein weltverschlossenes Image dazu geführt haben, dass die Normalität von Migration in diesem Land verdeckt, ignoriert und ausgeklammert wurde.23 Aus diesem Grund ist es notwendig, sich in bildungswissenschaftlicher Hinsicht mit der Diversität des Landes zu befassen und das Stadtgeschehen näher zu betrachten. Beispielsweise liegt der Bevölkerungsanteil mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit im Klagenfurter Stadtteil St. Ruprecht bei 18,9 Prozent.24 Hinzuzuzählen sind noch eingebürgerte Bewohnerinnen und Bewohner. Auch diejenigen, welche zeitweise im Ausland gelebt haben oder ab und zu woanders ihren Lebensmittelpunkt haben, vom Land kommen oder erst in zweiter Generation in Österreich leben, bringen ihre Migrationserfahrungen in das städtische Leben ein. Die migrationsbedingte Vielfalt in St. Ruprecht lässt sich auch daran ablesen, dass an der dortigen Neuen Mittelschule bis zu 18 Sprachen vertreten sind, darunter Kumykisch, Indonesisch und Tadschikisch. Das Bahnhofsviertel St. Ruprecht repräsentiert in Klagenfurt die Normalität von Migrationsbewegungen. Es handelt sich dabei um ein idyllisches Viertel mit urbanem Flair. Besonders ein Ort wie die St. Ruprechter Schule macht dies im bewegten Stadtbezirk deutlich. Die Jugendlichen aus St. Ruprecht bewegen die lokale Neue Mittelschule, darin sind sich auch interviewte Pädagoginnen und Pädagogen, Trainerinnen und Trainer, Soziologinnen und Soziologen sowie Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftler einig. Nachfolgend stelle ich zwei biografische Fallportraits von Interviewpartnerinnen vor, um exemplarisch aufzuzeigen, wie es jungen Menschen möglich ist, aus der Marginalisierung eine Zukunft zu gestalten. Die Fallportraits handeln von Migrationserfahrungen, Problemen mit der Marginalisierung und weisen auf selbst entwickelte marginalisierungskritische Haltungen hin.

22 Klaus Ottomeyer, Jörg Haider – Mythenbildung und Erbe, Klagenfurt am Wörthersee 2009. 23 Vgl. Marc Hill, Mehrheimisch am Wörthersee. Biografieprotokolle aus Kärnten, in: Vorsicht Vielfalt. Perspektiven, Bildungschancen und Diskriminierungen, hg. von Georg Gombos / Marc Hill / Valdimir Wakounig / Erol Yildiz, Klagenfurt 2015, 88–113. 24 Vgl. Magistrat der Landeshauptstadt Klagenfurt 2010, 3.

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A NJA 25 – K OPFTUCH

ALS POSTMIGRANTISCHE

S TRATEGIE

Anja ist 30 Jahre alt, kommt aus Bosnien und ist in St. Ruprecht aufgewachsen. Dort lebt sie nach wie vor. Ihr wurde früher in der St. Ruprechter Schule26 augrund ihrer bosnischen Herkunft davon abgeraten, zu studieren. Sie sollte besser eine Lehre machen, da man in Bosnien für den Wiederaufbau angeblich keine Studierten bräuchte. Diese Äußerungen machten sie sehr unglücklich, da sie gerne ein Studium aufnehmen wollte. Anja machte jedoch zunächst eine Lehre und war einige Zeit berufstätig, bevor sie ihre Matura absolvierte. Heute bestreitet sie ein Studium aus dem Bereich der Sozialwissenschaften, auch um in ihrem späteren Arbeitsbereich Jugendlichen aus Migrationsfamilien in marginalisierten Stadtvierteln bessere Bedingungen zu ermöglichen. In Kärnten trägt Anja demonstrativ ein Kopftuch, um zu zeigen, dass sie sich vom unterdrückenden Ausländerdiskurs emanzipiert und für die Religionsfreiheit eintritt. Sie ist zwar eine gläubige Muslimin, aber die Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen, resultierte ebenso aus dem Bedürfnis heraus, die kulturellen Mythen der Gesellschaft zu irritieren und zum Nachdenken anzuregen. Die Wirkung ihres Kopftuches ist kontextabhängig. Beispielsweise arbeitet sie in einem angesehenen Geschäft in einem Klagenfurter Nobel-Viertel. Dort hat sie keine Probleme mit ihrem Kopftuch. Es wird akzeptiert und es gilt dort eher als chic und weltoffen. Auf der Straße im marginalisierten Stadtviertel St. Ruprecht wurde sie jedoch beim Joggen mit ihrer Schwester von einem Polizeiwagen angehalten. Sie sollte sich ausweisen. Eine Erklärung dafür gab es nicht. Dadurch, dass sie das Kopftuch auch als eine Form des Protestes trägt, kann sie inzwischen solche schwierigen Situationen souverän meistern. Ihre Reaktion auf die oben genannte Polizeikontrolle schildert sie im Interview folgendermaßen: 25 Alle Namen wurden anonymisiert. 26 Nach meinen ethnografischen Recherchen ist mittlerweile die Einsicht an der Schule gewachsen, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben. Weiterhin wurden an der St. Ruprechter Schule zahlreiche Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt: Vergrößerung der Räume, eine bessere Betreuung durch zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer und die Etablierung verschiedener Schwerpunkte wie Kunst, Theater und Life Kinetik. Anja ist aber aufgrund eigener Erfahrungen weiterhin skeptisch gegenüber der Praxis dieser Schule und dies zeigt, dass stattgefundene Diskriminierungen in der Schule über Generationen hinweg in Erinnerung bleiben und Lebensentwürfe nachhaltig beeinträchtigen können. Gerade eine Schule wie die in St. Ruprecht lebt jedoch von Migration und ist auf die Kinder der dritten und vierten Generation angewiesen. Die gegenwärtige Situation belegt, dass sich diese Schule durch Migration und urbane Bildungsprozesse weiterentwickelt hat und sich vermehrt an den mehrheimischen Lebensrealitäten im Stadtviertel und weltoffenen Konzepten orientiert.



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»[...] ich war vor zwei Monaten mit meiner Schwester laufen. Sie trägt kein Kopftuch. Es war spät, es war sicher elf oder so. Sie ist hinter mir gelaufen und dann ist ein Polizeiauto gekommen. Fährt vorbei und hat dann umgedreht und fährt bei mir langsam vorbei und ich habe die bemerkt, dass die stehen bleiben. Aber ich nehme ihn nicht wahr, solange er mich nicht anspricht. Dann hat der so laut geschrien: ›Warum bleiben Sie nicht stehen?‹ Dann habe ich mich umgedreht und habe gesagt: ›Guten Abend, Sie reden mit mir?‹ Dann hat er zu mir gesagt: ›Wo kommen Sie her?‹ Ich habe dann gesagt, dass er genauer fragen muss, ob er meint ursprünglich oder eben jetzt. Das war nur wegen dem Kopftuch, eindeutig, weil meine Schwester hat er nicht angesprochen. Dann habe ich mich angeschaut und habe gesagt: ›Turnschuhe und Jogginghose, also ich denke, vom Joggen.‹ Dann habe ich bemerkt, dass er ein bisschen betrunken ist. Daneben war auch noch ein Kollege und dann hat er gemeint: ›Warum gehen Sie so spät laufen?‹ Dann habe ich gesagt: ›Wie Sie schon sagen, es ist spät und morgen ist ein Arbeitstag und deswegen wünsche ich einen guten Abend und auf Wiedersehen.‹ Meine Schwester hat so gelacht und hat gesagt: ›Ja, das hast du von deinem Kopftuch.‹ Dass der neben mir fährt und mich anschreit, warum ich nicht stehen bleibe, das war nur wegen dem Kopftuch. Aber gut, darüber lache ich nur.« (Anja: 703–720)

Die oben dargestellte Auseinandersetzung zwischen Anja, die beim Joggen von der Polizei angehalten wird, mutet an wie eine Theaterinszenierung und zeigt, auf welch triviale Art und Weise Unterschiede zwischen Menschen gemacht werden. Eine Frau mit Kopftuch beim Joggen, ein auf Anja betrunken wirkender Beamter, der die zwei jungen Frauen anhält, und ein Dialog darüber, warum man draußen joggt. Die Situation endet für Anja mit dem Eindruck, ein weiteres Mal aufgrund ihres Kopftuches kontrolliert worden zu sein. Im Übrigen trägt sie möglichst bunte Kopftücher und bevorzugt ein sportliches Auftreten, womit sie auch bei Musliminnen und Muslimen aneckt. Sie möchte damit ihre marginalisierungskritische und bildungsorientierte Einstellung unterstreichen. Das Bild der ungebildeten und unterdrückten Frau wird damit ebenfalls infrage gestellt. Anja hat sich bewusst für diesen anstrengenden Weg entschieden, nachdem sie häufig Diskriminierungserfahrungen machen musste. Es ist eine reflexive Form des Umganges mit ethnischkulturell-religiös-territorialen Kategorien, die ich als postmigrantische Alltagspraxis interpretieren möchte.

S OFI 27 – M IGRATIONSCOMMUNITY ALS M IGRATIONSERFAHRUNG Sofi kam als Dreijährige nach Österreich und lebte mit ihren Eltern zunächst in einem Heim für Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Ihre Familie musste fliehen 27 Alle Namen wurden anonymisiert.

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und kann bis heute nicht zurück ins Herkunftsland. Auf die Frage »Weißt du, warum ihr nach Österreich gekommen seid?« gab sie zuerst die Antwort: »Nein.« Im weiteren Verlauf des Gesprächs erklärt sie aber, dass ihre Familie geflüchtet sei. Sofi selbst erinnert sich kaum noch an die Flucht und die damit verbundenen Ereignisse, allerdings denkt sie gerne an die Zeit in der Asylbewerberunterkunft zurück. Dort gefiel es ihr gut. Sofi berichtet über ihre fürsorglichen Eltern, die vielen anderen Flüchtlingskinder und die Landschaft. Diese Dinge waren ihren Erzählungen nach die Grundlage für eine schöne und behütete Kindheit, ungeachtet der schwierigen Lebenssituation. Auf die Frage, was ihr im Flüchtlingsheim gefallen habe, geht sie schließlich näher auf ihre Migrationsgeschichte ein und antwortet: MH (Marc Hill): Was hat dir in dem Heim so gut gefallen? S (Sofi): Da waren alle Freunde gleich so wie Nachbarn. Wir waren jeden Tag draußen und haben Fußball gespielt und so. […] MH: Die Freunde, von denen Du gesprochen hast, die kamen von? S: Rumänien, Brasilien, Russland, Kroatien. MH: Ihr habt alle Deutsch gesprochen? S: Ja. MH: Hast du noch Kontakt? S: Ja, über Facebook und wir telefonieren. Ich wusste die Namen noch und die haben mich im Internet gesucht und dann gefunden. MH: Schön. Wo sind die jetzt? S: Die meisten in Wien. Andere sind noch drüben geblieben, aber umgezogen vom Heim. MH: Seht ihr euch mal? S: In den Sommerferien habe ich ein paar getroffen. MH: Wo habt ihr euch getroffen? S: In einem Camp in Linz, so ein Sprachen-Camp. MH: Was ist das genau? S: So ein Camp, da sind wir hin. So in den Ferien, ein Feriencamp. Das war jedes Jahr.«

Sofis Antworten veranschaulichen die hohe Relevanz einer Migrationscommunity in schwierigen Zeiten. Sofi hält den Kontakt zu ihren früheren Weggefährtinnen und Weggefährten aufrecht, obwohl mittlerweile fünf Jahre vergangen sind und die damaligen Flüchtlingskinder inzwischen über ganz Österreich verteilt leben. Ihr gleicher Status in der Flüchtlingsunterkunft, die positiven Kindheitserinnerungen und die Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte stellen für sie eine soziale und wichtige Bildungsressource dar, um ihrer Marginalisierung als Flüchtlingskind etwas entgegenzusetzen und eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegen Diskriminierungen aufzubauen.



»W OHER

KOMMEN

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An das Stadtleben in einem marginalisierten Klagenfurter Stadtbezirk hat sich Sofi inzwischen gewöhnt, aber sie meidet die Orte in ihrem Viertel, die sie in irgendeiner Weise beängstigen. Ähnlich wie die stigmatisierende Berichterstattung in den Zeitungen über ihren Wohnort kommen ihr ad hoc diesbezüglich ebenfalls nur negative Aspekte in den Sinn, wie folgende Passage zeigt: »S: Hier sind viele Einbrecher oder wie das heißt. Beim Verein hat jemand eingebrochen. MH: Wann? S: Letztens. Das Fenster war eingeschlagen. Meine Räder wurden gestohlen. Zwei und von meiner Freundin auch. Die Räder waren bei uns zu Hause halt draußen, aber nicht abgesperrt. Dann waren sie weg. In der Nähe vom großem Platz, da gefällt es mir gar nicht. Da sind immer ältere Männer, die rauchen. Wenn ich in die Stadt gehe, fahre ich mit dem Bus oder gehe über den Bahnhof. Ich gehe Umwege, weil ich nicht unter der Unterführung durch möchte.«

An dem Interview mit Sofi fällt auf, dass sie sich stets von marginalisierenden Faktoren abgrenzt. Darüber hinaus zeigt Sofis Beispiel, wie es möglich ist, mithilfe von Peers und der Rekonstruktion von positiven Erinnerungen prekäre Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrungen zu überwinden. Sofi wird bald auf das Gymnasium wechseln und dabei sowohl von der Schule als auch von ihrer Familie unterstützt.

M IGRATION

DEMOKRATISIERT UND URBANISIERT !

Marginalisierungsdiskurse betreffen die Erfahrungswelt der Bewohnerinnen und Bewohner unmittelbar. Dies wurde insbesondere am Fallbeispiel von Anja deutlich. Damit auf einmal etwas Triviales, wie das Joggen mit einem Kopftuch, zu einem Problem werden kann, bedarf es eines historisch gewachsenen Marginalisierungswissens, welches tief in der Gesellschaft verankert sein muss. Das existente Marginalisierungswissen in einer Gesellschaft entscheidet darüber, welche Vielfalt erlaubt und anerkannt wird und welche nicht. Ein aus dieser Wissenspraxis hervorgehendes Diversitätsregime zieht Grenzen durch eine Stadtgesellschaft, und diese sozialkonstruierten Mauern gilt es durch marginalisierungskritische Diskurse zu überwinden. Die beiden Fallportraits zeigen, dass auch die Befragten den Marginalisierungsdiskursen nicht ohnmächtig ausgeliefert sind. Sie entwickeln Gegenstrategien, um der Marginalisierung etwas entgegensetzen zu können. Die Joggerin Anja zeigt, wie Jugendliche und junge Erwachsene hegemoniale Bilder ins Absurde umkehren und damit der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten können. Diese postmigrantische Praxis findet demnach nicht nur Einlass in eine ästhetisierte Medienwelt, sondern ist ebenso in der Alltagspraxis von Jugendlichen

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und jungen Erwachsenen vorzufinden. Die Befragten fordern aus ihrer Migrationserfahrung heraus einen bewussteren Umgang mit Religionsfreiheit, bringen andere Sprachen mit und setzen transnationale Diskurse in Gang. Migration irritiert die einheimische Gesellschaft und bringt neue Themen sowie marginalisierungskritische Beiträge ein. Indem Jugendliche und junge Erwachsene aus Migrationsfamilien ihre Erfahrungen artikulieren, werden demokratische Prozesse und urbane Perspektiven ins Leben gerufen. Postmigration irritiert und erzeugt urbane Landschaften, lautet hier die Botschaft – eine, die sich anhand der weltoffenen Logik von marginalisierten Stadtvierteln jederzeit ablesen lässt.

IV Sonderräume

Gemeinsam im Seminar Die körperlich-räumliche Herstellung eines Interaktionsereignisses in der Universität C ORDULA S CHWARZE

Der vorliegende Beitrag ordnet sich den Überlegungen zu gebautem Raum zu, in die Reihe von Kloster, Schule und Heim kann auch die Universität gestellt werden. Wie die genannten Räume auch, ist die Universität stark institutionalisiert, hoch spezialisiert durch ihre Aufgaben und funktional dreifach – Forschungs-, Bildungsbzw. Lehr- sowie Verwaltungsfunktion – charakterisierbar. Ein wesentliches Merkmal der Universität, das auf die beiden ersten Funktionen rekurriert, ist der teils fachspezifisch ausdifferenzierte Umgang mit Wissen und Können. Dabei kann die Universität eine lange Tradition für sich reklamieren, die in Europa mit der Universität Bologna im 11. Jahrhundert beginnt. Die Benennung einer Universität durch die Zuordnung zur Stadt, in der sie sich befindet und mit deren Entwicklung sie selbst eng verbunden ist, wie beispielsweise an der Bezeichnung mancher Städte als Universitätsstadt sichtbar ist, weist auf eine enge Ortsbindung der darin stattfindenden Interaktion hin.1

1

Ein Beispiel dafür ist die von der Stadt Wien als ein städtisches Ereignis gefeierte Wiedereröffnung des Audimax der Universität Wien im Jahr 2006. Die darin zum Ausdruck kommende Auffassung von Universität und Öffentlichkeit zeigt Zugehörigkeit und Verantwortlichkeit, wobei das Audimax als Ort angesehen wird, an dem sich die Universität der Öffentlichkeit stellt. Die im Audimax zur feierlichen Wiedereröffnung gehaltene Ringvorlesung fasst den Ort über seine Funktion: »Ein solcher Saal ist nichts ohne die Vitalität jener Form, die spezifisch ist für die Institution Universität: die Vorlesung« und konzipiert diese als Schnittstelle zwischen akademischem und öffentlichem Leben, also zwischen innen und außen. Vgl. Arno Dusini / Lydia Miklautsch, Vorwort, in: Vorlesung, hg. von Arno Dusini / Lydia Miklautsch., Göttingen 2007, 7–8. Vgl. zur Verbindung der

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Neben dieser statischen lokalen Verortung hat der Zusammenhang von Universität und Raum aber auch eine dynamische Komponente. Die Ausgangsfrage des Buches sowie des zugrundeliegenden Projekts – Wie werden Räume gebildet und wie bilden sie den Menschen? – ist selbstverständlich auch auf die Universität beziehbar. Dass sich im gebauten Raum der Universität Körper bewegen, also Menschen unterrichten, forschen, lehren, lernen und miteinander sprechen, ist unstrittig. Räume, vor allem gebaute Räume, speichern, wie Ulrich Leitner schreibt,2 die Präsenz von Menschen. Dabei sind Körper und Raum wechselseitig aufeinander bezogen: Körper ist ohne Raum nicht zu denken und umgekehrt, erst der Körper macht Raumerfahrung möglich.3 Bei der Herstellung von situierter Interaktion in einem besonderen Raum, wofür sich der vorliegende Beitrag interessiert, stehen die Interaktionsbeteiligten in einem raum-zeitlichen Bezugssystem.4 Körper und Raum sind darin eng verschränkt und diese Verschränkung muss durch Wahrnehmbarkeit auffallen: »In einer konkreten Situation kann Raum als interaktive Ressource nur durch die in der Körperlichkeit der Beteiligten verankerten Wahrnehmungs- und Ausdrucksressourcen und nur durch eine aktive Bezugnahme auf Aspekte der gegebenen physikalischen Räumlichkeit in Form eines Blicks, der Handhabung eines Gegenstandes oder durch die Begehung einer freien Fläche realisiert werden.«5

Corpus intra muros heißt daher für den vorliegenden Beitrag: Menschen in ihrer leiblichen Verfasstheit, funktional differenziert als Studierende und Lehrende, befinden und bewegen sich an einem durch spezifische Zugangsbedingungen ausgezeichneten Ort, der Universität, und interagieren miteinander in ortstypischen Situationen und Rahmungen, also denen des Lehrens und Lernens im Seminar. Die speUniversitäten mit ihren Städten: Gastone Ave, University Cities. A Strategic Resource of Small and Medium-Sized Cities in Europe, in: Cities as Multiple Landscapes. Investigating the Sister Cities Innsbruck and New Orleans (Interdisciplinary Urban Studies 21), hg. von Christina Antenhofer / Günter Bischof / Robert Dupont / Ulrich Leitner, Frankfurt am Main / New York 2016, 61–82. 2

Ulrich Leitner in der Einleitung zu diesem Band.

3

Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen, Frankfurt am Main, 4. Aufl., 2012; Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt, Raum als interaktive Ressource. Eine Explikation, in: Raum als interaktive Ressource. hg. von Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt, Tübingen 2012, 7–36.

4

Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt, Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes, in: Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion, hg. von Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt, Tübingen 2007, 15–54, 29.

5

Reinhold Schmitt, Körperlich-räumliche Aspekte der Interaktion, Tübingen 2013, 52.



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zifische Ordnung von Körper und Raum bei der Herstellung einer Seminarsituation ist rekonstruierbar. Das wird im vorliegenden Beitrag aus der Perspektive der linguistischen multimodalen Interaktionsanalyse präsentiert. Dabei werden insbesondere das Konzept der Interaktionsarchitektur6 und das der Benutzbarkeitshinweise7 angewendet, um zu zeigen, wie Interagierende in spezifischer Weise mit räumlichen und mobiliaren Benutzbarkeitshinweisen umgehen, um eine lehr-/lernorientierte Praxis zu konstituieren. Nach rahmengebenden Erläuterungen zu interaktionslinguistischen Perspektiven auf Raum sowie zum Seminar wird exemplarisch an drei Fällen gezeigt, wie eine räumlich zunächst gegebene Seminarsituation als Interaktionssituation von den Beteiligten körperlich und räumlich hergestellt wird. Die empirische Basis hierfür bildet das Korpus Auswertungsgespräche, ein systematisch erhobenes Videokorpus von Lehr-/Lerninteraktionen in universitären Seminaren einer österreichischen Germanistik.8 Die Kombination von Standbild- und Interaktionsanalysen, repräsentiert durch Transkripte, ermöglicht, die »Ordnung des Nebeneinanders«, die den Raum kennzeichnet, und die »Ordnung des Nacheinanders«,9 die die Zeit kennzeichnet, aufeinander zu beziehen.

I NTERAKTIONSANALYTISCHE P ERSPEKTIVEN

AUF

R AUM

Ein Zugang zu Raum, der dessen soziale Konstruiertheit durch individuelles und soziales Handeln betont, stellt für die Frage der räumlich-körperlichen Konstellation im Seminar den passenden theoretischen Rahmen dar. Ein relationaler Raumbegriff betont »die kreativen Möglichkeiten und Chancen der Akteure bei der Konstituierung, dem Aufbau und der Gestaltung von Räumen«10 und fokussiert, dass Raum entsteht, gebaut und genutzt wird durch die Verknüpfung mit Objekten und 6

Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt, Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie: Umrisse einer raumlinguistischen Programmatik. Arbeitspapiere des UFSP Sprache und Raum SpuR 01, Zürich 2013.

7

Heiko Hausendorf, Über Tische und Bänke. Eine Fallstudie zur interaktiven Aneignung mobiliarer Benutzbarkeitshinweise an der Universität, in: Raum als interaktive Ressource, hg. von Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt, Tübingen 2012, 139–186.

8

Eine ausführlichere Beschreibung des Korpus findet sich im Abschnitt Datenbasis sowie in: Cordula Schwarze, Das Auswertungsgespräch in der kompetenzorientierten Hochschullehre. Eine interaktionsanalytische Untersuchung, in: Sprechwissenschaft. Bestand, Prognose, Perspektive, hg. von Ines Bose / Baldur Neuber, Frankfurt am Main / New York 2014, 137–147.

9

Begriffe nach Schroer, Räume (wie Anm. 3).

10 Schroer, Räume (wie Anm. 3) 175.

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mit Handlungen, er wird so zu einem Ort (topos).11 Diese handlungstheoretische Ausrichtung zeichnet auch das relationale Raumkonzept der multimodalen Interaktionsanalyse aus. In der Perspektive der linguistischen multimodalen Interaktionsanalyse12 sind Raum und Räumlichkeit nur als interaktive Ressource (interactive achievement) von Bedeutung.13 Es geht darum, welchen Beitrag Körperlichkeit14 und Räumlich11 Eine Verbindung zur antiken Konzeption des Topos in der Rhetorik ist offenkundig: Das Topos-Konzept umfasst Vorstellungen und Handlungen, was an einem Ort zu tun sei. Das akzentuiert die Lehre von den Produktionsstadien einer Rede für die Inventio-Phase als Begriff des topischen Denkens, eine aspekt- und themengeleitete systematische Suche nach Argumenten, sowie als produktiven Bestandteil von Mnemotechniken, wonach »das Gedächtnis dadurch gestützt wird, dass man feste Plätze bezeichnet, an denen die Vorstellungen haften […]. Denn wenn wir nach einer gewissen Zeit an irgendwelche Örtlichkeiten zurückkehren, erkennen wir nicht nur diese selbst wieder, sondern erinnern uns auch daran, was wir dort getan haben«. Quintilian, Ausbildung des Redners, XI, 2.17., hg. von Helmut Rahn, Darmstadt 1995. 12 Deren Basis bildet Konversations- bzw. Gesprächsanalyse. Danach wird soziale Praxis durch Miteinandersprechen hergestellt, die zur Verfügung stehenden routinisierten Gesprächspraktiken werden durch Aufzeige-(display-)Leistungen der Interagierenden sequenziell verstehbar. Ein Gespräch ist in diesem Paradigma durch die Merkmale Konstitutivität, Prozessualität/Sequenzialität, Interaktivität, Methodizität und Pragmatizität gekennzeichnet. Vgl. Arnulf Deppermann, Gespräche analysieren, Wiesbaden 4. Aufl., 2008, 8. Multimodale Interaktionsanalyse erweitert demgegenüber den Gegenstandsbereich: »Wir verstehen Interaktion als multimodale Hervorbringung aller Beteiligten und gehen davon aus, dass alle den Interaktionsbeteiligten zur Gestaltung der Interaktion zur Verfügung stehenden Modalitäten theoretisch zunächst einmal gleichwertig sind.« Vgl. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt, Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes, in: Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion, hg. von Reinhold Schmitt, Tübingen 2007, 15–54, 21. Ausführlicher vgl.: Arnulf Deppermann, Multimodal Interaction from a Conversation Analytic Perspective, in: Journal of Pragmatics 46 (2013) 1–7; Reinhold Schmitt, Positionspapier. Multimodale Interaktionsanalyse, in: Ko-Konstruktionen in der Interaktion. Die gemeinsame Arbeit an Äußerungen und anderen sozialen Ereignissen, hg. von Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft, Bielefeld 2015, 43–51. 13 Heiko Hausendorf, Interaktion im Raum. Interaktionstheoretische Bemerkungen zu einem vernachlässigten Aspekt von Anwesenheit, in: Sprache intermedial, hg. von Arnulf Deppermann / Angelika Linke, Berlin 2010, 163–197. 14 Der Anhaltspunkt räumlicher Orientierung ist dabei der Körper selbst und dessen Positionierung. Die Origo (Begriff nach Karl Bühler) als »Navigationszentrum« vereint alle situationsbezogenen Elemente des Sprechens. Andreas Mahler, Topologie, in Jörg Dünne /



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keit zur Interaktionskonstitution leisten, die sich als Aufgabe der Situierung von Interaktion stellt. Diese zeigt sich in der Verschränkung mehrerer Aspekte von Raum, der sich als Wahrnehmungsraum, als Bewegungsraum, als Handlungsraum sowie als Spielraum ausdifferenzieren lässt.15 Raum als Wahrnehmungsraum stellt die Interaktionsaufgabe, aus der Fülle des Wahrnehmbaren die für die Interaktion relevanten Wahrnehmungen auszuwählen und zu etablieren (in Hausendorfs Terminologie »Ko-Orientierung« herstellen). Raum als Bewegungsraum stellt die Aufgabe, die Interaktion auch mittels Motorik und Kinesik zu konstellieren, zu eröffnen und zu beenden, es ist »Ko-Ordinierung« herzustellen. Raum als Handlungsraum fügt die Sprache hinzu, da es notwendig ist, sich auf etwas zu beziehen, was im sozialen Handlungsraum sinnvoll ist, somit wird »Ko-Operation« zur relevanten interaktiven Anforderung. Raum als Spielraum lässt sich als Bühne verstehen, hier werden Benutzbarkeitshinweise16 relevant. Raum als Ressource für die Interaktion anzusehen, heißt auf der analytischen Ebene17 ihn gleich zu behandeln wie alle anderen Ressourcen, also Sprache und Körper18 auch. Raum ist auch eine Ressource für die Interaktion als sozial institutiAndreas Mahler, Berlin 2015, 17–29, insb. 21. Das Ich-hier-jetzt-System als deiktisches Zentrum der Sprechsituation kennzeichnet jede Interaktion als durch ein Ich-(Du), die Anwesenheit von Personen, durch den Raum als ein Hier sowie durch die Zeit als ein Jetzt bestimmt. Vgl. Anja Stukenbrock, Deixis in der face-to-face-Interaktion, Berlin 2015, 12. 15 Hausendorf, Interaktion im Raum (wie Anm. 13) 172, 175–190. 16 Vgl. zum Konzept der Benutzbarkeitshinweise ausführlicher im Abschnitt Fallanalysen. 17 Dass das Miteinandersprechen immer von Raum umgeben ist, ist in gesprächsanalytischen Arbeiten wegen seiner Unumgänglichkeit oft vorausgesetzt worden. Die technische Entwicklung der Aufzeichnungsmittel von Gesprächen bzw. Interaktion brachte hierzu die Veränderung: Erlaubten traditionelle Audioaufzeichnungen – lange Zeit das alleinige Erhebungsformat – raumbezogene Aspekte allenfalls als Kontextualisierungshinweise zu fassen, wird mit der Videoaufzeichnung als Standard bei der Korpuserhebung in interaktionsanalytischen Studien Visualität wichtig. Dabei entspricht in der Gesprächsanalyse der Zeit – anders als dem Raum – eine eigene Analysekategorie, die Sequenzialität, womit die zeitlich-prozessuale Organisation von Gesprächspraktiken im Sinne einer konstitutionslogisch relevanten Abfolge von Aktivitäten gemeint ist. Vgl. zur Analysekategorie der Sequenzialität Deppermann, Gespräche (wie Anm. 12). Videodaten hingegen zeigen, dass Sequenzialität nur ein Mechanismus zur Herstellung von komplexer, multimodaler Interaktion ist, sie muss um den Mechanismus der Simultaneität ergänzt und mit ihm verbunden werden. Vgl. Deppermann / Schmitt, Koordination (wie Anm. 4) 30. 18 Der analytische Blick auf den (kommunizierenden) Körper ist selbst immer kulturell und historisch eingebettet und unterliegt so der Veränderung, worauf Linke in ihrer Untersuchung von Konversationsbüchern und Schriften zur praktischen Rhetorik hingewiesen

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onalisierter Raum, wie er sich aus der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ableitet. Dessen Voraussetzung ist die Wirksamkeit räumlicher Arrangements, sie weisen Affordanzen19 bzw. Valenzen auf. So gibt es Räume, »die Verhalten und Handlungen sowie Kommunikationen prägen und vorstrukturieren: etwa in der Kirche, auf Behörden, in Seminarräumen oder Wartezimmern. […] Die Vorlesung des Professors entfaltet keineswegs überall ihre Wirkung, sondern muss durch räumliche wie zeitliche Arrangements entsprechend vorbereitet und flankiert werden.«20 Hausendorf und Schmitt sprechen in diesem Zusammenhang von Interaktionsarchitektur: »Interaktionsarchitektur steht für die Frage, wie die Architektur von Räumen Interaktion (wenn auch nicht determinieren und verhindern, so doch) ermöglichen und nahelegen kann und wie man diese interaktionsarchitektonischen Implikationen empirisch rekonstruieren kann. Unter ›Architektur‹ verstehen wir dabei heuristisch all das, was vom gebauten Raum (aus Stein, Beton, Holz, …) über den gestalteten Raum (›Innenarchitektur‹) bis zum ausgestatteten Raum (z.B. Technik, Dekoration) reicht.«21

Für die Interaktion kommt dem Raum die Funktion einer Entscheidungshilfe in Bezug auf die Art der Situation, die erwartbaren Handlungen und Interaktionsabläufe zu, da bestimmten Räumen im gebauten Raum bestimmte Tätigkeiten zuordenbar sind wie beispielsweise schlafen im Schlafzimmer oder lernen im Seminarraum, was nicht heißen muss, dass sie auch nur dort durchgeführt werden.22 Durch diese Handlungen wird Räumen Bedeutung zugeschrieben, die nicht jedes Mal neu vorgenommen wird, es gilt vielmehr, dass »vorgegebene räumliche Arrangements gehat. Vgl. Angelika Linke, Historische Semantik des Leibes in der Kommunikation. Zur Dynamisierung von Körper und Sprache im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert, in: Sprache intermedial, hg. von Arnulf Deppermann / Angelika Linke, Berlin 2010, 129– 162; ähnlich: Lily Tonger-Erk, Actio. Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre, Berlin 2012. 19 Das ursprünglich aus der Biologie stammende, von Bildwissenschaft und UsabilityForschung adaptierte Konzept der Affordanz pointiert den Angebotscharakter von Erscheinungsweisen der situativen Umgebung für kommunikative Handlungsmöglichkeiten. Vgl. Hausendorf / Schmitt, Interaktionsarchitektur (wie Anm. 6) verknüpfen das mit dem Konzept der Benutzbarkeitshinweise. 20 Schroer, Räume (wie Anm. 3) 176. 21 Hausendorf / Schmitt, Interaktionsarchitektur (wie Anm. 6) 3. 22 Schroer, Räume (wie Anm. 3) 176, 288. Gerade die effektive Umnutzung eines Seminarraums zu einem Filmvorführraum akzentuiert, welche Aspekte von Räumlichkeit verändert werden müssen, um die neue Nutzung zu gestalten. Vgl. Hausendorf, Tische und Bänke (wie Anm. 7).



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rade von Situationsdefinitionen [entlasten], weil die Bedeutungen und Wertigkeiten der Akteure bereits in sie eingeschrieben sind.«23 Diese Entscheidungshilfe kann der Raum für die in der Institution handelnden Körper aber nur dann sein, wenn soziale und interaktive Routinen geprägt worden sind, d.h. körperliche Fertigkeiten durch Habitualisierung zu Gewohnheitswissen geworden sind, dem Routinisierung zugrunde liegt.24 Im Seminarraum findet sich also ein spezielles räumliches Arrangement, das ein bestimmtes Verhalten nahe legt, ein anderes unterdrückt und zugleich funktional prägt bzw. geprägt wird, zugleich haben die darin handelnden Menschen zumeist eine Institutionenbiografie. Das ist Wissen, auch habitualisiertes Körper- und Raumwissen, das zur Interaktionskonstitution zur Verfügung steht.

H ANDELN IM GEBAUTEN R AUM D AS S EMINAR

DER

U NIVERSITÄT :

Die Bildungs- und Lehrfunktion der Universität realisiert sich in Lehrveranstaltungen. Dieser Funktion entsprechend dienen sie durch Erkenntnisdiskussion, Wissenspräsentation und -evaluation der Wissensvermittlung. Gespräche als eine Form der institutionellen, öffentlichen und weitgehend festgelegten Kommunikation in der Universität haben als Lehrgespräch bzw. als maieutischer Dialog eine lange Geschichte, die in Platons Akademie ihren Anfang nimmt. In diesen Gesprächen lassen sich Handlungen und Rahmenbedingungen, die direkt der Wissensvermittlung dienen, von solchen Handlungen und Rahmenbedingungen unterscheiden, die die Bedingungen für gelungene Wissensvermittlung herstellen.25 Die dominanten Formate universitärer Lehre sind die Vorlesung und das Seminar. Letzteres ist die akademische Lehrform, die sich durch Gesprächshaftigkeit sowie studentische Partizipation auszeichnet. Das Seminar wird zumeist doppelt bestimmt: »Ein Seminar ist ein Ort zur Ausbildung junger Menschen, die entsprechende Institution sowie die in ihr praktizierte, auf Nachhaltigkeit angelegte Form der Lehre.«26 Danach geht es um einen Ort, der zu einer Aktivität einlädt bzw. verpflichtet, gleichzeitig wird durch diese Hand-

23 Schroer, Räume (wie Anm. 3) 177. 24 Hubert Knoblauch, Kulturkörper, in: Soziologie des Körpers, hg. von Markus Schroer, Frankfurt am Main, 2. Aufl., 2012, 92–113, 102. 25 Wolfgang Sucharowski, Gespräche in Schule, Hochschule und Ausbildung, in: Text- und Gesprächslinguistik, hg. von Klaus Brinker / Gerd Antos / Wolfgang Heinemann / Svend F. Sager, Berlin 2001, 1566–1576. 26 Ulrich Breuer / Matthias Emrich, Seminar, in: Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens, hg. von Ute Frietsch / Jörg Rogge, Bielefeld 2013, 376–381, 376.

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lungen der Ort konstituiert und erkennbar. Die Bezeichnung Seminar geht auf lat. semino: säen und das Seminarium als Pflanzschule zurück: »seminar, n., nach WEIGAND4 2, 695 im 17. jahrh. aus lat. seminarium, pflanzstätte, entlehnt, anstalt für geistige ausbildung, so von lehrern, schullehrerseminar, dazu seminarist, besucher, zögling eines solchen schullehrerseminars, seminardirector, – lehrer, die an solchem seminar angestellt sind. seminare an universitäten, einrichtungen zu methodischer wissenschaftlicher ausbildung von studenten in persönlichem verkehr mit professoren: classisch – philologisches, deutsches, englisches, romanisches, historisches seminar.«27

Betont wird bereits im Grimm’schen Wörterbuch, wie auch später immer wieder, die anwesenheitsbasierte Gemeinschaft von Studierenden und Lehrenden. Diese Gemeinschaft zeichnet eine besondere Verbindung aus und die auf Nachhaltigkeit angelegten Bemühungen sind Ausdruck derselben. Seminare sind in diesem Sinn »Veranstaltungen, die als Pflanzstätten, als Stätten der Aussaat zu verstehen sind, wo der Samen des lebendigen Geistes ausgebracht wird, und zwar in kollektiven Lernprozessen an einem Ort, an dem in solidarischer Arbeit Erkenntnis voranschreitet.«28 Das akademische Seminar ist der Raum des innovativen Tätigkeitstyps und des forschenden Lernens und kann als »problem- und forschungsorientierter, institutionell abgestützter Modus intensivierender Wissenskommunikation«29 verstanden werden. Es kommt in dieser Art fast ausschließlich in den Geisteswissenschaften vor, wobei das philologische Seminar – eine deutsche Erfindung aus dem 19. Jahrhundert – zugleich lange als Modellfall der Verbindung von Forschung und Lehre galt.30 Der thematische Zuschnitt eines Seminars ist problemorientiert und vertiefend, das erlaubt, das Seminar den Fachdisziplinen zuzuordnen. Ausdruck dieser Zuordnung ist ferner, dass im Seminar die Fähigkeiten im Umgang mit fachspezifischem 27 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis, Leipzig 1971, Online-Version vom 5.6.2016. 28 Ulrich Wyss, Zur Tradition der Vorlesung, in: Dusini / Miklautsch, Vorlesung (wie Anm. 1) 177–192, 186. Solche hyperbolisch anmutenden Gärtnerei- bzw. Naturmetaphern für das Lernen sind tradiert, wie überhaupt Raumsemantiken die Bilder von Erziehung und Lernen prägen: der Erzieher als Gärtner, das Führen und Wachsenlassen oder auch das Unkrautbeseitigen; vgl. Martin Nugel, Erziehungswissenschaftliche Diskurse über Räume der Pädagogik, Wiesbaden 2014, 103 ff. 29 Breuer / Emrich, Seminar (wie Anm. 26) 376. 30 Gert Schubring, Kabinett – Seminar – Institut. Raum und Rahmen des forschenden Lernens, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000) 269–285, vgl. 269; Thomas Finkenstaedt, Der Universitätslehrer, in: Geschichte der Universität in Europa, hg. von Walter Rüegg, Bd. 4, München 2010, 153–189, insb. 177.



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Wissen sowie mit fachspezifischen Methoden geschult werden. Auf diese Weise werden Studierende in einen forschenden Habitus eingeübt: Die viel beschworene Einheit von Forschung und Lehre realisiert sich stark im Seminar. Wenngleich das Seminar aus diesem Grund zwar als wichtiger als die Vorlesung angesehen wird, sind beide Veranstaltungstypen jedoch mit unterschiedlich hoher akademischer Wertschätzung verknüpft.31 Aus der folgenden Definition lassen sich die für die Interaktionsanalyse wesentlichen Merkmale eines Seminars ableiten: »Das Seminar führt eine limitierte Anzahl von Studierenden mit einer examinierten Lehrkraft über einen begrenzten Zeitraum in einem mit Medien (Tafel, Projektor, Beamer etc.) ausgestatteten Unterrichtsraum zusammen, wo sich die Teilnehmer während der gemeinsamen → Sitzungen in frei gewählter Form über ein vorab angekündigtes fachliches Thema austauschen.«32

Diese Merkmale sind denen der Vorlesung33 entgegengesetzt. Das Merkmal des Zugangs bedeutet für das (zumeist semestral andauernde) Seminar nicht Offenheit, sondern quantitative Beschränktheit in der Anzahl der Studierenden. Der Zugang ist auch qualitativ beschränkt, indem er sich auf Mitglieder der Universität bezieht, die zudem in der Lage (nachgewiesen durch verschiedene Voraussetzungen und den Besuch vorgängiger Lehrveranstaltungen) sein müssen, thematisch-fachlich folgen zu können. Über den Zugang als Aufnahme oder Ablehnung entscheidet die Lehrperson. Zugehörigkeit zum Seminar wird indes durch leiblich-persönliche Anwesenheit hergestellt, wobei Abwesenheit erlaubt ist. Die Interagierenden im Seminar sind Studierende und Lehrpersonen in Funktionsrollen der Institution Universität. Für die Studierenden gilt, dass es sich hier um den dritten Bildungsschritt ihrer Bildungsbiografie handelt, sie sind als bildungs-, wenn auch zunächst nicht als universitätserfahren zu kennzeichnen. Mit diesen 31 So gilt die Vorlesung als ungleich glorioser, was auch mit dem institutionellen Zugang, eine Vorlesung halten zu dürfen, zu tun hat (hingewiesen sei auf Lehrstuhl und venia legendi). Vgl. Werner Michler, Die Vorlesung als soziales Ereignis, in: Dusini / Miklautsch, Vorlesung (wie Anm. 1) 23–40, insb. 24. 32 Breuer/Emrich, Seminar (wie Anm. 26) 376. 33 Die Vorlesung erfolgt zumeist vor einer großen Gruppe, der dafür tradierte Ort ist der Hörsaal, dessen Einrichtung klare, eindeutige Benutzbarkeitshinweise macht. Das Rederecht ist institutionell geregelt, d.h. die Lehrperson hat es durchgehend. Der thematische Zuschnitt ist eher breit und überblicksmäßig. Dabei wird die Vorlesung verschieden konzeptualisiert, beispielsweise als »säkularisierte Predigt«, Wyss, Tradition der Vorlesung (wie Anm. 28) 188. Sie kann auch als performative Gattung mit Unterhaltungspotenzial angesehen werden. Vgl. Sybille Peters, Der Vortrag als Performance, Bielefeld 2011.

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Funktionsrollen sind außerdem verschiedene Arten der Interaktionsbeteiligung verbunden. Die Lehrperson hat, neben der moderativen Gesprächsleitung, auch die permanente Zielorientierung – die Erreichung von Bildungszielen – der gemeinsamen Arbeit im Seminar abzusichern. Idealtypisch gilt im Seminar als einer akademischen Praxis jedoch die Gleichstellung der am Seminar Beteiligten, d.h. »Autorität kann im wissenschaftlichen Seminar allein die schärfere Beobachtung, die präzisere Beschreibung und das überzeugendere Argument beanspruchen.«34 Der Raum in der Universität, in der ein Seminar stattfindet, zeichnet sich durch fixierte und mobile Erscheinungsformen des Mobiliars aus, erwartbar sind typische Objekte wie Tafel, Computer, Beamer und Tische/Stühle. Die Einrichtung des Raums hat den Zweck, die Interagierenden in einen den Bildungszielen förderlichen Kontakt zu versetzen. Der gebaute Raum ist hergerichtet für diesen Zweck und verändert sich durch die Interaktion zunächst nicht. Die Bewegungsmöglichkeiten und die Bewegungsdynamik im Seminar sind für die Studierenden zumeist eingeschränkt, d.h. sie (müssen) sitzen. Die Lehrperson hingegen kann zwischen Sitzen, Stehen und Gehen wählen. Nach der Darstellung des theoretischen Rahmens sowie einem Blick auf das Seminar in der Perspektive der Hochschulforschung soll im Folgenden das empirische Material vorgestell und der Interaktionstyp Auswertungsgespräch, der Teil der seminarbezogenen Interaktionstypen ist, näher erläutert werden.

D ATENBASIS Die empirische Basis der Fallanalysen bildet das Korpus Auswertungsgespräche (im Folgenden: K_Awg), ein von der Autorin über den Zeitraum eines akademischen Jahres systematisch erhobenes Korpus authentischer Lehr-/Lerninteraktion in universitären Seminaren einer Germanistik.35 Es umfasst drei Datenarten: erstens ca. 120 Stunden videographierte36 Auswertungsgespräche aus germanistischen 34 Breuer / Emrich, Seminar (wie Anm. 26) 376–377. 35 Schwarze, Auswertungsgespräch (wie Anm. 8); Cordula Schwarze, Angemessenheitsverhandlungen in Auswertungsgesprächen in der Hochschullehre, in: Aptum 2 (2015) 190– 199. 36 Genutzt wird die in der soziologisch informierten Interaktionsanalyse entwickelte Form der Videographie, die »Verbindung von Videoanalyse und Ethnographie, also die interpretative Analyse von Videodaten kommunikativer Handlungen, die im Rahmen eines ethnographischen Erhebungsprozesses aufgezeichnet werden.« René Tuma / Bernt Schnettler / Hubert Knoblauch, Videographie, Wiesbaden 2013, 10. Interpretativ ist dabei als explizierend und rekonstruierend zu verstehen, insofern ist die Anschlussfähigkeit zum Vorgehen der multimodalen Interaktionsanalyse gegeben.



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Lehrveranstaltungen, zweitens das gesamte ethnografische Zusatzmaterial zu diesen Lehrveranstaltungen sowie Feldnotizen und drittens eine mehrstündige Fokusgruppendiskussion mit sieben Lehrpersonen aus den videographierten Auswertungsgesprächen. Die videographierten Lehrveranstaltungen haben Themen der Rhetorik sowie Textproduktion zum Gegenstand und den Erwerb professionsbezogener kommunikativer Kompetenz als Qualifikationsziel. Als Interaktionstyp ist das Auswertungsgespräch durch sprachreflexives und sprachanalytisches Handeln gekennzeichnet, dabei stehen die reflexive Bearbeitung von Konvergenzen und Divergenzen auf der Ebene der wahrnehmungs- und wissensgestützten Beobachtung, Analyse und Beurteilung sowie das Aufzeigen von Handlungsalternativen anhand eines Schreibproduktes oder mündlichen rhetorischen Ereignisses eines anwesenden Lernenden durch die Seminargruppe im Mittelpunkt. Der konstituierende Faktor eines Auswertungsgesprächs ist das Vorliegen eines Auswertungsobjekts, auf das sich die auswertenden Handlungen beziehen lassen. Das Auswertungsobjekt der nachfolgenden Fallanalysen wurde in einem Seminar zur wissenschaftlichen Rhetorik generiert, es ist dies eine Rede,37 in der eine germanistisch-linguistische Theorie medienunterstützt mit dem Ziel der umfassenden Information des Publikums vorgestellt wurde. Da Raumanalysen auf Videodaten beruhen, kommt dem Kamerahandeln in den Daten eine wesentliche Rolle zu. Die Kamera in dieser Erhebungssituation ist zwar eine fixierte Kamera, wird aber mobil und subjektiv eingesetzt. Sie fokussiert Handlungszentren und agiert zunächst sprecher_innenzentriert, indem sie sich auf den/die primäre_n Sprecher_in richtet, zugleich rücken aber auch diejenigen Beteiligten in den Blick, die sich in diesem Moment nicht an der Interaktion beteiligen. An diesem Vorgehen – obwohl in der Erhebungssituation wegen der Invasivität der aufzeichnenden Kamera sowie Gruppen- und Raumgröße unumgänglich – zeigt sich ein Problem wissenschaftlicher Raumbeschreibung: »Als Beobachter und Involvierter ist der Mensch immer schon Teil des von ihm beschriebenen Raums, immer schon im Raum verortet wie vom Raum abhängig, und er erscheint unweigerlich als dessen Element.«38 Die Daten aus dieser Erhebungssituation sind also 37 Eine solche Rede kann rhetorisch-gattungsbezogen dem genus didascalicum (Gattung der Lehrrede) zugeordnet werden. Darin stehen das Einsichtigwerden in einen Sachverhalt, also Verstehen und Erkenntnis, im Mittelpunkt der rhetorischen Bemühungen, nicht jedoch Handlungsaufrufe oder die Bewertung eines Sachverhalts. Das genus didascalicum wurde von Philipp Melanchthon in das rhetorische System eingefügt. Vgl. Martin Leiner, Genus didascalicum, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Bd. 10: Nachträge A–Z, hg. von Gert Ueding, Berlin 2012, 329–333, insb. 329. Die Gattung der Lehrrede kann heute, nachdem sie einige Jahrhunderte wenig Aufmerksamkeit erhielt, produktiv an rhetorische Formate im akademischen Feld angeschlossen werden. 38 Mahler, Topologie (wie Anm. 14) 17.

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einperspektivisch, die Standort- und Perspektivengebundenheit von Videoaufnahmen ermöglicht nicht, den Raum im Ganzen zu erfassen, sondern lediglich selektierte Ausschnitte. Das methodische Vorgehen in den Fallanalysen des vorliegenden Aufsatzes besteht neben der Transkription der Daten39 und der Sequenzanalyse auch in einer Standbildanalyse. Das ist ein in der multimodalen Interaktionsanalyse vielfach genutztes Verfahren.40 Standbilder werden aus den Videodaten des Korpus extrahiert, ihre Auswahl beruht auf Selektionsentscheidungen der Analysandin. Standbilder frieren Interaktion ein, aber »erzählen aus dieser Perspektive Interaktionsgeschichten: Sie sind retrospektiv (Was ist passiert? Was war hier los?) wie prospektiv (Wie wird es weitergehen? Was kommt als Nächstes?) lesbar.«41 Insbesondere für die Analyse von räumlichen und mobiliaren Benutzbarkeitshinweisen scheint das Verfahren ergiebig, denn im Standbild wird die Gestaltung des Raums besser sichtbar und Benutzbarkeitshinweise offerieren deutlicher ihr Potenzial und somit mehrere Lesarten, Interaktionsfortsetzung nahe zu legen. Im nächsten Schritt werden die 39 Die Daten sind sowohl in den Transkripten als auch auf den Bildern anonymisiert worden. Die Transkripte sind an GAT 2 orientiert, zu den Transkriptionskonventionen vgl. Margret Selting et al., Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2), in: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10 (2009) 353–402. 40 Diese Art der Standbildanalyse wurde etabliert von Reinhold Schmitt (z.B. Körperlichräumliche Aspekte, wie Anm. 5) und Heiko Hausendorf (z.B. Tische und Bänke, wie Anm. 7). Ähnlich auch: Stukenbrock, Deixis (wie Anm. 14) 25 ff. Dazu muss jedoch darauf verwiesen werden, dass das Problem der Transkription, Vertextung und angemessenen Repräsentation von visuellen Daten in der Analyse derzeit breit und kontrovers diskutiert wird, wobei vor allem das Verhältnis von Transkript und Bild/Video als noch nicht hinreichend methodologisch durchdrungen gilt. Konkret werden auch gute Gründe vorgebracht, um das Verfahren der Nutzung des stehenden Bildes bei der Analyse laufender Bilder (Videos) wegen ihres kategorialen Unterschieds als unzureichend abzulehnen. So z.B. Jo Reichertz, Das vertextete Bild. Überlegungen zur Gültigkeit von Videoanalysen. in: Transkription von Video- und Filmdaten in der Qualitativen Sozialforschung, hg. von Christine Moritz, Wiesbaden 2014, 55–72; oder auch: Christine Moritz, Vor, hinter, für und mit der Kamera: Viergliedriger Video-Analyserahmen in der Qualitativen Sozialforschung, in: Transkription von Video- und Filmdaten in der Qualitativen Sozialforschung, hg. von Christine Moritz, Wiesbaden 2014, 17–54; Christian Heath / Jon Hindmarsh / Paul Luff, Video in Qualitative Research. Analyzing Social Interaction in Everyday Life, Los Angeles 2010; Ulrike Bohle, Approaching Notation, Coding, and Analysis from a Conversation Analysis Point of View, in: Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction, Bd. 1, hg. von Cornelia Müller et al., Berlin 2013, 992–1007. 41 Hausendorf, Tische und Bänke (wie Anm. 7) 145.



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Standbilder mit den Transkripten bzw. den Sequenzanalysen verknüpft, da die dokumentierte Interaktion der gemeinsame Bezugspunkt ist.

F ALLANALYSEN Im nachfolgenden Abschnitt werden exemplarisch drei Fallanalysen präsentiert. Dabei wird das Augenmerk auf alle drei Interaktionsbeteiligten des Seminars – Raum, Lehrperson und Studierende – gerichtet. Die erste Frage an die Daten ist die nach der Art des Zusammenhangs der Lösung interaktiver Aufgaben durch relevant gesetzte Aspekte von Raum. Zu spezifizieren sind die Fragen folgendermaßen:  



Was wird durch räumliche Benutzung und Begrenzung ermöglicht oder verhindert? Wie werden Benutzbarkeitshinweise im Sinne einer räumlichen Ressource für die Situierung als ein Seminar mit spezifischen pädagogischen Zielen ausgenutzt? Welchen Benutzbarkeitshinweisen folgen Studierende und Lehrperson? Wie verschränkt sich das mit der Interaktion? Welcher Zusammenhang besteht zwischen körperlichen und räumlichen Konstellationen und wie ist er beschreibbar?

In den Analysen zeigt sich die Raumnutzung zunächst unauffällig und vertrautheitskonform, mobiliare Benutzbarkeitshinweise werden die Interaktion fördernd und unterstützend verwendet, es greifen verschiedene Ressourcen ineinander. Dennoch sind sie interessant und aussagekräftig, weil solche Fälle etwas über die produktive Alltäglichkeit solcher Situierungen der Interaktion offenbaren.42 Im ersten Beispiel wird als Grundlage aller weiteren Standbild- und Interaktionsanalysen die Interaktionsarchitektur43 des Seminarraums nachgezeichnet. Es soll gezeigt werden, welche Benutzbarkeitshinweise der (Seminar-)Raum und seine Möblierung zunächst unabhängig von der Interaktion machen. Benutzbarkeitshinweise stellen »Anknüpfungspunkte für Wahrnehmung, Bewegung und Handlung zur Verfügung. Im Alltag werden sie häufig wie selbstverständlich verstanden und körperlich ›beantwortet‹«.44 Während das erste Beispiel zeigt, was durch Architek42 Zweifellos ist eine solche Aussage kulturrelativ: Beispielsweise zeigen Videodaten aus Lehr-/Lernsituationen an einer Universität in Laos (Korpus des Projekts Mündlichkeit und Interaktionskompetenz im DaF-Unterricht, Leitung: Cordula Schwarze und Ines Bose), dass permanentes Sitzen seitens der Studierenden während der Lehrveranstaltung keine zwingende und ausschließliche Handlungsweise sein muss. 43 Hausendorf / Schmitt, Interaktionsarchitektur (wie Anm. 6) 3. 44 Hausendorf, Tische und Bänke (wie Anm. 7) 139.

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tur erwartbar gemacht wird, rekonstruieren die Beispiele zwei und drei die stattgehabte Interaktion. Die Basiskonzepte der Interaktionsarchitekturanalyse wie Sichtbarkeit, Hörbarkeit, Begehbarkeit, Begreifbarkeit und Verweilbarkeit,45 die zunächst unabhängig von der Interaktion sind, strukturieren erkenntnisleitend die Auswahl des ersten Beispiels vor. Die Implikationen des Raums und seiner Benutzbarkeitshinweise kommen nur vertrautheits- und wissensabhängig zur Geltung46 und müssen mit sozialer Praxis verknüpft werden, was in den nachfolgenden Beispielen gezeigt werden soll. Im zweiten Beispiel soll der Fokus auf die Lehrperson und deren Handeln gelegt werden. Es kann gezeigt werden, wie die Lehrperson aus dem Angebot an technischen Objekten gestisch auswählt und damit der interaktiven Aufgabe der Koorientierung der Interagierenden sowie der Kohärenzherstellung für das Seminar versucht nachzukommen. Im dritten Beispiel wird gezeigt, wie aus der Gruppe der Studierenden heraus eine Binnendifferenzierung des Raums als Interaktionsraum hergestellt wird, indem eine Interaktionsdyade eröffnet wird. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar einerseits klar als Dyade sichtbar wird, es andererseits aber den Interagierenden gelingt, die Dyade als Teil der Lehr/Lerninteraktion im Seminar und speziell als Auswertungsaktivität zu markieren.

Fallanalysen Beispiel 1: Der Raum Der gebaute Raum ist in diesem Fall auch ausgestatteter Raum und liefert damit die Kandidaten für eine räumliche, im nächsten Schritt auch räumlich-körperliche Konstellationsanalyse. Die »genuine Lesbarkeit des Raumes«47 ist die Voraussetzung für die Interaktionsaufgabe der Situierung. Es reicht aber nicht aus, auf die materielle Ausformung des Raums nur zu verweisen. Diese muss vielmehr präzise analysiert werden: »Es geht nicht nur darum zu sehen, wie der Raum sozial hergestellt wird, sondern auch darum zu berücksichtigen, was der Raum selbst vorgibt. Das hat nun nichts mit Raumdeterminismus zu tun, sondern damit, dass räumliche Arrangements nicht ohne Wirkung auf unser Verhalten bleiben. Die Fülle möglicher Verhaltensweisen wird durch Raum selektiert und damit Kontingenz bewältigt.«48 Die Abbildung 1 zeigt den Grundriss des Raums, in dem das videographierte Seminar stattfand, sie zeigt auch die Möblierung zum Zeitpunkt der Erhebung.

45 Hausendorf / Schmitt, Interaktionsarchitektur (wie Anm. 6) 12 und 17. 46 Hausendorf / Schmitt, Interaktionsarchitektur (wie Anm. 6) 13. 47 Hausendorf, Interaktion im Raum (wie Anm. 13) 172. 48 Schoer, Räume (wie Anm. 3) 178; ähnlich auch Hausendorf / Schmitt / Mondada, Raum (wie Anm. 3).



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Abbildung 1: Grundrissskizze des Raums in der Erhebungssituation.

  Quelle: Graphik von der Autorin (K_Awg: R_EP_2_1).

Türen sind unter dem Aspekt der Begehbarkeit wichtig, sie stellen eine »Betretbarkeits- und Verlassbarkeitsschwelle« dar.49 Der Raum hat zwei gegenüberliegende Türen. Beide Türen sind während des Seminars geschlossen. Als Ein- und Ausgang wird nur eine Tür genutzt, das ist die, vor der die Kamera steht, die andere Tür ist unbenutzt und bekommt daher den Charakter eines Hintereingangs. Die zum Betreten genutzte Tür ist von außen beschriftet. Daran ist der wochenaktuelle Plan mit der Raumbelegung befestigt, der Plan enthält den Lehrveranstaltungsnamen und -nummer, den Namen der Lehrveranstaltungsleitung sowie die exakten Zeiten der Lehrveranstaltung. Von außen und bei geschlossener Tür ist also feststellbar, was im Raum gerade passiert, d.h. wie es institutionell bezeichnet wird und wer die handelnde Lehrperson ist. Dieser Plan, an die Zeit gekoppelt, dient der Regelung der Betretbarkeit und bekräftigt so die geschlossene Tür in dem Sinne, dass während der Lehrveranstaltung das Betreten nicht (einfach so) erlaubt ist.50 49 Hausendorf, Tische und Bänke (wie Anm. 7) 158. 50 Der Raumplan als Beschriftung des Seminarraums weist Ähnlichkeiten mit der Beschriftung von Kunstwerken im Museum auf, deren Merkmale von Heiko Hausendorf, Kunst-

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Im Raum befinden sich mehrere Tische, bis auf einen sind es mobile, hellgraue, rechteckige Tische mit vier Beinen an den Ecken. Ein Großteil der Tische ist in UForm gestellt, zwei Tische sind an den Innenseiten des U nach innen gestellt und zwei weitere Tische stehen mit einem kleinen Abstand davor. Der Abstand markiert eine Trennung und macht damit Territorien sichtbar, die mit unterschiedlichen Begehbarkeitsmöglichkeiten ausgestattet sind. Die U-Form richtet auf ein Vorn im Raum aus, auf ein zentrales Element, was dort sichtbar sein soll. Das ist zum einen die Lehrperson und deren Territorium (Tisch, technische Geräte), zum anderen die für alle sichtbare Projektionsfläche sowie die Tafel. Der Benutzbarkeitshinweis der flexiblen Aufstellbarkeit der Tische wird hier genutzt, um eine zweckdienliche Tischaufstellung zu schaffen. Die Stellung der Tische kann demzufolge als eine Antwort auf Anforderung des Seminars angesehen werden, sie ermöglicht gemeinsame Aufmerksamkeitsausrichtung und damit Koorientierung (und ggf. Koordination) auf die Lehrperson51 sowie auf Projektionsfläche, Redeort und Tafel/Whiteboard. Das Potenzial in Bezug auf die Benutzung der mobilen Tische besteht darin, dass sie durch ihre Höhe die Handlung des Sitzens nahe legen und durch ihr Vorhandensein das Herumlaufen eher ausschließen. Zugleich offerieren sie Flächen zum Ablegen und Schreiben; in Bezug auf die Sitzplatzwahl ermöglichen sie die Zuordnung zu präferierten Gruppen. In dem als Vorn bezeichenbaren Territorium stehen zwei Tische nebeneinander, die wissensabhängig als Tische der Lehrperson bezeichnet werden können. Sie haben durch ihre Platzierung die höchste Sichtbarkeit von allen. Einer der beiden Tische ist der einzige am Boden fixierte Tisch und kommunikation, in: Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen, hg. von Stephan Habscheid, Berlin 2011, 499–535, herausgearbeitet wurden. Beim Raumplan an der Tür zum Seminarraum ist vertrautheitsabhängig offensichtlich, dass es eine Schild-TürRelation gibt, welche die kommunikative Handlung des Bezugnehmens, also eine Antwort auf die Frage Worum geht es?, ermöglicht. Das Schild an der Tür ist jedoch nur lesbar und erfüllt, wie die Beschriftungen von Kunstwerken auch, seine Funktion nur genau an dieser Tür, also bei geteilter Wahrnehmung. Damit nimmt das Türschild eine den Kunstwerksbeschriftungen ähnliche Zwischenstellung von Schriftlichkeit ein, denn es dient gerade nicht in erster Linie der Verdauerung. 51 Diese Anordnung der Tische sowie der sich auch daraus ergebenden territorialen Aufteilung im Raum macht das Konzept der Fokusperson und deren Anwendung auf die Lehrperson nachvollziehbar. Eine Fokusperson ist »eine[n] Interaktionsbeteiligte[n], die/der aufgrund von Status, Funktion oder Rolle in bestimmten Kontexten kontinuierlicher Bezugspunkt von Monitoring-Aktivitäten anderer Beteiligter ist.« Deppermann / Schmitt, Koordination (wie Anm. 4) insb. 35. Der Lehrperson steht in der konkreten Unterrichtssituation die Gesamtheit der Studierenden gegenüber (teils räumlich unterstützt), daher ist sie als fokussierte Person stets im Wahrnehmungsfeld der Studierenden und zugleich Mittelpunkt ihrer Wahrnehmung.



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der einzige mit fest montierten Geräten (Computer mit Bildschirm und Tastatur, Bedieneinheit des Beamers, zwei Lautsprecherboxen) darauf. So wird er als Arbeitstisch sichtbar gemacht, lädt zum Verweilen, hier funktional im Sinne des Arbeitens, ein. Dieses mobiliar-technische Arrangement legt eine spezifische Art der Arbeit nahe, d.h. sollte die Lehrperson etwas anderes als das durch den Tisch und die darauf befindlichen technischen Geräte Vorgegebene arbeiten wollen, muss sie den Platz wechseln. Der fixierte Tisch der Lehrperson gibt daher eher eine Benutzung vor, als dass er ein breites Potenzial hinsichtlich der Benutzbarkeit offeriert. Darüber hinaus befinden sich auf den beiden Tischen eine Kamera, verschiedene Kabel, Papiere, Stifte sowie ein Moderationskoffer, der aufgeklappt und somit zur schnellen Benutzung vorbereitet liegt – mitgebrachte mobile Objekte also, die aktiv so angeordnet worden sind.52 Im Raum befinden sich Stühle, die mit den Sitzflächen zum Tisch ausgerichtet an den Tischen stehen. Sie geben den eindeutigen Benutzbarkeitshinweis, dass und wo gesessen werden soll. Tische und Stühle zeichnen sich durch ein Ergänzungsverhältnis (Valenz) aus, sie treten zumeist in Kombination auf.53 Die Stühle sind genau wie die Tische mobil, sodass zugleich deren Umstellbarkeit und Nutzung beispielsweise für Gruppenaktivitäten offeriert wird. Die Stühle an den Tischen in der U-Form sind Holzstühle und sind alle gleich, während ein Stuhl anders aussieht: größer, gepolstert, höhenverstellbar und mit verstellbaren Armlehnen sowie einer ergonomischen Anmutung, er befindet sich am Tisch der Lehrperson. Tisch und Stuhl für die Lehrperson sind also in ihrer interaktionsarchitektonischen Gestaltung herausgehoben, sie sind es auch durch ihre Singularität. Die anderen, mehrfach vorkommenden Tische und Stühle sind alle gleich gestaltet, was damit interaktionsarchitektonischer Ausdruck des zahlenmäßigen sowie funktionsrollenbezogenen Verhältnisses zwischen Studierenden und Lehrperson ist. Zur Möblierung kommt, neben der unbenutzten Tür stehend, ein Sideboard hinzu, auf dem ein Fernseher steht. Er steht mit der Bildschirmseite zur Wand und zeigt sich als dysfunktional, denn die Nutzung des Fernsehers wäre mit erheblichen Räumarbeiten verbunden. Neben dem Sideboard mit Fernseher steht ein beweglicher Overheadwagen mit Overheadprojektor. Auch er steht mit der zur Nutzung vorgesehenen Seite zur Wand, seine Benutzung wäre ebenfalls mit einigem Aufwand verbunden. Diese Aufstellungen im Raum fungieren als ein deutlicher Hinweis zur Nicht-Benutzung.54 Der Overheadwagen mit Overheadprojektor machen die Nutzung des Raums für Lehr-/Lerninteraktionen sichtbar, das gilt auch für das 52 Zum Umgang damit ausführlicher im Abschnitt Fallanalysen Beispiel 2: Die Lehrperson. 53 Hausendorf, Tische und Bänke (wie Anm. 7) 167. 54 Dafür spricht auch die Überholtheit dieser beiden technischen Geräte in moderner Hochschullehre, sie sind unüblich und nach institutionellen Vorgaben für die Lehre auch unerwünscht. Dennoch sind sie als Objekte Teil der relevanten Interaktionsarchitektur.

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frei stehende, beschreibbare Whiteboard sowie ein Flipchart. Das Flipchart befindet sich deutlich im Territorium der Lehrperson und macht damit Beschreibbarkeitsrechte sichtbar. Es ist von der Lehrperson weg gerichtet und damit lesbar für diejenigen, die an den Tischen sitzen, es zeigt über die gesamte Zeit der Videographie an diesem Tag einen handschriftlichen Guten-Morgen-Gruß. Durch die Schriftlichkeit in der multimodalen Interaktion wird die konditionelle Relevanz55 der Gruß- und Gegengrußsequenz verändert, sie bleibt aber ein Hinweis darauf, dass in diesem Raum derzeit soziale Interaktion stattfindet. Ein Mülleimer, in der Ecke an der benutzten Tür stehend, und zwei Kübelpflanzen (von eher trauriger Gestalt), jeweils in den Ecken am Fenster, komplettieren die Möblierung des Raumes. Funktional lassen sie sich dem Aspekt der Verweilbarkeit zuordnen. Die Flächen im Raum sind teils sichtbar markiert als funktionale Fläche für etwas. Es laufen Kabelkanäle auf einer Seitenwand entlang und an der Wand hinter der Lehrperson befindet sich eine fixierte Projektionsfläche. Ihre Funktionalität wird durch den an der Decke angebrachten Beamer und die Richtung, in die er zeigt, sichtbar gemacht. Zu den Benutzungshinweisen der Projektionsfläche gehört nicht nur die eindeutige technische Funktion, auch der Verweilbarkeit ist sie zuzuordnen. Beamer und Projektionsfläche schränken den Bereich der Begehbarkeit im Raum deutlich ein. Der Grund liegt darin, dass gewährleistet werden muss, dass es alle sehen können, und das wiederum stuft das zu Sehende in seiner Wichtigkeit sehr hoch. Die Flächen auf dem Boden werden nur durch Objekte sichtbar, sie markieren das Territorium der Studierenden und das der Lehrperson. Das persönliche Terrain der Lehrperson ist zwar nicht exklusiv für sie – hier befand sich beispielsweise der Redeort für die Studierenden, an dem sie das Auswertungsobjekt produzierten –, aber es ist bevorzugt und interaktiv unaufwändig von der Lehrperson begehbar. Das zeigt, dass Territorien nicht gleichermaßen und von allen begehbar sind. Vertrautheitsbasiert werden sie identifiziert, sie müssen jedoch auch verstanden werden, da sie über die Regelung ihrer Betretbarkeit ins Handeln eingreifen. In diesem Sinn sind sie »in einer stabilen Sozialtopografie des Klassenzimmers gewissermaßen kulturell verankert und besitzen dadurch eine gewisse Dauerhaftigkeit und Stabilität.«56 55 Bei diesem typischen Merkmal gesprochener Sprache, den Paarsequenzen (neben GrußGegengruß auch z.B. Frage-Antwort), werden lokale Folgeerwartungen konstituiert, d.h. die erste Äußerunge schafft Bedingungen, die einen bestimmten Typ von Anschlusshandlungen erwartbar macht. Dieses Bedingungsgefüge wird als konditionelle Relevanz bezeichnet. Vgl. Deppermann, Gespräche (wie Anm. 12) 68. 56 Schmitt, Körperlich-räumliche Aspekte (wie Anm. 5) 20. Daran zeigt sich etwas für Klassenzimmer in Schule und Hochschule gleichermaßen Gültiges. Schmitt stellt seine Fallanalysen in einen »größtmöglichen Kontrast« (ebd., 17) und untersucht dazu die Ko-



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Gegenüber der Projektionsfläche befinden sich Fenster über die gesamte Breite des Raumes. Sie machen Außenwelt sichtbar, die für die Interaktion im Seminarraum nicht relevant ist, was sich auch an der Stellung der Tische und Stühle zeigt, die weitgehend von den Fenstern abgewandt sind. Allenfalls die Lehrperson könnte aus dem Fenster hinausschauen und die Außenwelt wahrnehmen. Als Fazit kann zunächst die ausgeprägte Parzellierung des Raums festgehalten werden: Die Flächen sind funktional belegt, die Territorien sind markiert, es gibt wenig freien, ungenutzten Platz und es stehen viele Objekte herum, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Lediglich ein Objekt, der alte Fernseher, weist nur eine lose Verbindung als funktionaler Gegenstand für den Unterricht auf, alle anderen Objekte sind zweckdienlich (sogar die Pflanzen) im Hinblick auf das Lehren und Lernen sowie Gesprächeführen. Hinzu kommt, dass durch ein Überangebot an Tischen und Stühlen die Studierenden teils lose zu Gruppen verbunden, teils vereinzelt sitzen. Um in diesem Raum Lehr-/Lerninteraktionen herstellen zu können, greifen Interagierende auf institutionell geprägtes Raumnutzungswissen zurück, um nicht jedes Mal Interaktion im und genau in diesem Raum neu zu »erfinden«, sozialtopographisches Wissen erweist sich somit als »gesellschaftliches SpezialWissen«.57 In einem solchermaßen parzellierten Raum ist es eine pädagogische Herausforderung, zu zentrieren sowie einen Aufmerksamkeitsfokus zu schaffen und zu erhalten, anders als es in klassischen Hörsälen der Fall ist, in denen Lehrform58 und Raum stark korrelieren. Zugleich – und das ist der Sinn der Form Seminar – muss die Lehrperson ein lebendiges Gespräch als zentrierte Interaktion initiieren sowie studentische Partizipation ermöglichen und leiten. Das hat für die Lehrperson in der Gestaltung der Interaktion Verknüpfungsleistungen zur Folge, wie sich im nächsten Beispiel zeigen wird.

Fallanalysen Beispiel 2: Die Lehrperson Das nachfolgende Beispiel aus dem Seminar fügt dem Raum zunächst die Körper hinzu und zeigt, wie die Lehrperson als Fokusperson59 durch die Nutzung eines gesoperation am Filmset und im Unterricht in der Schule. Nach Schmitt sind Unterricht bzw. das Klassenzimmer in Bezug auf die körperlich-räumlichen Aspekte ein vergleichsweise überschaubares Geschehen. 57 Hausendorf / Schmitt, Interaktionsarchitektur (wie Anm. 6) 16. 58 Vgl. die Ausführungen zu den Merkmalen von Vorlesung und Seminar im Abschnitt Handeln im gebauten Raum der Universität: Das Seminar. 59 Wenn von der Lehrperson im Interaktionsereignis gesprochen wird, wird der Terminus Fokusperson (wie Anm. 51) verwendet, um die Wahrnehmungsverhältnisse und die Interaktionskonstellation zu betonen. Wenn jedoch nur die institutionelle Rolle als Lehren-

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tischen Verweises auf ein technisches Objekt zum einen koordinativ und aufmerksamkeitszentrierend interaktiv handelt. Zum anderen stellt sie auf der Ebene des Sachbezugs globale Kohärenz der verschiedenen Hinsichten des gerade begonnenen Auswertungsgesprächs her. Die Fokusperson eröffnet nach dem Anschauen der Videoaufnahme des Auswertungsobjekts das plenare Gruppengespräch mit einem Fragenbündel, in dem an eine offene Frage nach Rückmeldung drei spezifizierende, teils normaufrufende, Fragen angeschlossen werden: »okAY (-) was kÖnnen sie NAME sAgen; was ist ihnen Aufgefallen dabei; konnte man fOlgen, waren sie dabEI,«.60 Daraufhin beginnt der erste Student (= S1) mit einer Rückmeldung, die das erfragte Auffällige aufgreift (Zeile 06: mir ist nur grAde aufgefallen bei dem video dass (.) ähm du gerne U:nd sagst?//). Aufgefallen ist S1 also der einförmige Gebrauch des Konnektors und zur Kohärenzherstellung, S1 schließt eine Bewertung dessen an und verweist danach auf einen Unterschied in der eigenen Wahrnehmung, wonach ihm das im Vortrag kaum, im Video jedoch sehr stark aufgefallen sei. Die Studentin, deren Rede gerade ausgewertet wird (= AS),61 stimmt dieser Wahrnehmung zu, an dieser Stelle beginnt der Transkriptausschnitt: R_EP_2_1, 00:00:54:12-00:01:03:18 13

AS:

eh klar?

14

Lp:

hm_hm? es ist Eher (.) äh mIr bei der

16

gAr nicht bewUsstsein gedrungen;= AS:

=mIr ist lei [extrE:m AUfgefallen]

de gemeint ist, wird der Terminus Lehrperson verwendet. Zu den Interaktionsorganisationsaufgaben einer Lehrperson als Fokusperson in einer solchen Mehrpersoneninteraktion gehören auch die Organisation bzw. Zuteilung des Rederechts sowie die thematische Orientierung als Absicherung der Wissensvermittlung. Interaktionstypspezifische Aktivitäten von Auswertungsgesprächen kommen hinzu, das ist das Verhandeln von Aspekten der Wahrnehmung, der Beurteilung und der Intersubjektivierung eines Urteils. Eine interaktive Aufgabe für die Lehrperson besteht darin, diese Aspekte auf die zugrundeliegende Konvention oder fachlich relevante Wissensbestandteile hin zu befragen. 60 Transkriptionskonventionen vgl. Selting, GAT (wie Anm. 39). 61 AS kann wegen der Kameraperspektive im Bild nicht gesehen werden, da sie, von der Lehrperson aus gesehen, in der gegenüberliegenden linken Ecke des Raumes sitzt.



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Abbildung 2: Lehrperson als Fokusperson.

Quelle: K_Awg, R_EP_2_1, 00:01:03:18.

Um das Auswertungsgespräch als Gespräch sowie als Seminargespräch mit dem Ziel der Wissensvermittlung weiterzuführen, muss die Fokusperson auf den Beitrag von S1 sowie die Bestätigung durch AS reagieren. Dazu ratifiziert sie zunächst per hm_hm? den Beitrag von S1 retrospektiv, markiert im Nachfolgenden jedoch Differenz, indem sie gerade nicht das Kritisierte, also den einförmigen Gebrauch des Konnektors und zur Kohärenzbildung, aufgreift. Vielmehr bearbeitet die Fokusperson den Aspekt der Differenz der Wahrnehmung in Abhängigkeit von der medialen Darbietung, indem sie die eigene Wahrnehmung anführt, wonach sie diese Differenz nicht feststellen konnte (Zeilen 14–17). AS insistiert durch erneute Zustimmung zur Rückmeldung von S1 (Zeile 18). Während der Äußerung in den Zeilen 14–17 hält die Fokusperson, wie im Standbild ersichtlich, Blickkontakt zu AS und nicht zu S1, an dessen Beitrag sie anknüpft. Hier zeigen sich die Herausforderungen für die Koordination in einem Mehrpersonengespräch, denn der Blickkontakt erfordert eine Entscheidung. An dieser Stelle gäbe es dafür zwei Kandidat_innen: derjenige, auf dessen Beitrag geantwortet wird, sowie diejenige, deren Leistung ausgewertet wird. Die Haltung der Fokusperson im Bild besteht während der gesamten Äußerung, sie gibt den Rahmen für die beiden illustrierenden Gesten in den Zeilen 14 und 16 ab. Die Blickrichtung samt Kopfposition findet ihre Entsprechung in der Körperpositur62 als der Körper62 Die Kandidaten für die Analyse der körperlich-räumlichen Aspekte sind a) Körperliche Konstellationen, b) Körperpositur / Körperdrehung, c) Bewegung und Mobilität, d) Koordination und e) Gegenstände und Objekte. Die Auswahl ist keinesfalls erschöpfend. Vgl. Schmitt, Körperlich-räumliche Aspekte (wie Anm. 5) 32–42.

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drehung im Raum. Der Körper ist nicht gedreht, sondern mit durch die Arme geöffneter Körpervorderseite ausgerichtet auf AS. Die Studierenden, soweit sichtbar, schauen zur Fokusperson, sie sind (erwartbar) nicht in Bewegung, sondern sitzen; sie schreiben jedoch nicht mit. Letzteres zeigt sich häufig in den Daten, ist jedoch im Sinne des Qualifikationsziels des Seminars dysfunktional, da in den Auswertungsgesprächen reichlich fachbezogenes Wissen generiert und methodisch die germanistisch informierte Analyse von Texten bzw. Reden geschult wird. Auf die erneute Zustimmung zur Rückmeldung von S1 durch AS (Zeile 18 im folgenden Transkript) folgt eine längere Sequenz der Fokusperson (Beginn in Zeile 19, die Äußerung geht weit über den präsentierten Ausschnitt hinaus), in der sie erklärt, wie diese Wahrnehmungsdifferenz zustande kommt. Den fachspezifischen Aspekt der Tauglichkeit verschiedener Konnektoren in Bezug auf die Kohärenzherstellung greift sie nicht auf. Interaktiv ist es für die Fokusperson erforderlich, eine detailliertere Erklärung zu geben, da ihre eigene Wahrnehmung als eine Expertenwahrnehmung (siehe Zeilen 14–17) argumentativ nicht ausreichend war. Ausgehend von der Ruheposition, mit der die Fokusperson ihre Äußerung in Zeile 17 beendet und beibehält, ist in der ersten Äußerung (Zeile 19–20) der längeren Erklärsequenz folgende Bewegung zu sehen: Der Kopf wird weg von AS hin zum Bildschirm des Computers rechts auf dem Tisch gedreht, dabei zeigt die Hand des angewinkelten rechten Arms auf den Bildschirm. Die Finger sind zum Bildschirm hin geöffnet und mäßig gespannt, sie sind parallel mit dem Blick.63 Der Oberkörper dreht leicht mit und wird im oberen Bereich nach vorn rechts geschoben, er folgt also der Bewegung des Kopfes, und die Position des unteren Körpers bleibt unverändert.64 Die Bewegung des Körpers wird nach dem Kern der Gestenphrase in die Ruheposition zurückgeführt.

63 Die Geste hat formal und funktional starke Ähnlichkeit mit der von Stukenbrock so bezeichneten oHHv-Geste (= offene Hand Handfläche vertikal-Geste), deren Funktion zumeist das Präsentieren bzw. Anbieten von Objekten ist. Vgl. Stukenbrock, Deixis (wie Anm. 14) 149 ff. Grundsätzlich ist Gestik selbstverständlich weitaus präziser klassifizierbar (und analysierbar), als es hier vorgenommen wird, dies steht aber nicht im Fokus der Arbeit. Für einen Überblick vgl. Ulrike Bohle, Contemporary Classification Systems, in: Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction, hg. von Cornelia Müller et al. Bd. 2, Berlin 2014, 1453–1461 oder: Cornelia Müller, Redebegleitende Gesten: Kulturgeschichte, Theorie, Sprachvergleich, Berlin: 1998. 64 Diese Körperpositur wird als body torque beschrieben und meint: »different or diverging orientations of the body segments above and below two major points of articulation – the waist and the neck.« Emanuel A. Schegloff, Body Torque, in: Social Research 65/3 (1998) 535–596, insb. 540. Die Funktion ist das Verbinden zweier Interaktionsbeteili-



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IM

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R_EP_2_1, 00:01:03:18-00:01:11:10 18

AS:

19

Lp:

=mIr ist lei [extrE:m AUfgefallen] [also das war

] das ist dann

20

fokussIErung auf ein vIdeo

21

weil man dA (.)denk ich (-)

22

ä: ja n wEniger abgelenkt ist; auch von Anderen sAchen;

Abbildung 3: Geste der Fokusperson.

Quelle: K_Awg, R_EP_2_1, 00:01:04:24.

Die Bewegung erfolgt in Richtung des Bildschirms des Computers auf dem Tisch der Fokusperson, die Studierenden können jedoch den benutzbaren Teil, die Bildschirmvorderseite, nicht sehen. Durch diese Bewegung, die nicht kombiniert ist mit deiktischen Ausdrücken, aber verbunden mit Blickwechsel und gestischem Verweis, wird Koorientierung für die bzw. mit den Studierenden hergestellt und Aufmerksamkeit für das relevante Phänomen, das Video, etabliert. Damit die Geste als Erinnerungsaufruf an das Anschauen der Videoaufnahme im Wahrnehmungsraum der Studierenden eindeutig verortet ist, hätte die Fokusperson auf die – nun aber leere – Projektionsfläche zeigen müssen. So koorientiert die Fokusperson für sich, stellt fachliche, globale Kohärenz für das Seminar her und macht diese Kohärenzherstellung sichtbar. Diese Aufmerksamkeitslenkung ist nötig wegen der Differenz zwischen dem Beitrag von S1, auf den die Fokusperson Bezug nimmt, der sequenziellen Relevanz des Beitrags von AS sowie der eigenen thematischen Relevantset-

gungen, wobei eine als weiterhin bestehend gehalten wird – im Beispiel die Verbindung zu AS – und eine weitere temporär aufgemacht wird.

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zung. Interaktionsbezogen reagiert sein Handeln darauf, die thematische Differenz zu markieren. Dies gelingt dadurch, eine Verbindung von reden über Video und zeigen auf etwas Technisches in der eigenen Reichweite sowie zeigen auf etwas, das groß genug ist, um im Seminarraum von allen wahrnehmbar zu sein (diese Anforderung hätte bspw. die Kamera als Zeigekandidat nicht erfüllt), herzustellen. Die im Ausschnitt sichtbaren Studierenden machen die Koorientierung weitgehend mit, im Video zeigen sich kleine Mitbewegungen, es werden Köpfe gereckt, als gäbe es (auch für sie) etwas zu sehen. Die Funktion dieser Körperbewegung, die in ihrer Flüchtigkeit und Kleinheit kaum bemerkbar ist, lässt sich in einer bestimmten Auffassung von Deixis als das »Sichtbarmachen des Sehens«65 bezeichnen, denn das tut die Fokusperson an dieser Stelle für alle Interaktionsteilnehmenden: Sie macht ihr eigenes Sehen und thematisches Fokussieren sichtbar, die Körperbewegung kann als den Wahrnehmungsraum strukturierende und damit Aufmerksamkeit bündelnde Geste gewertet werden. Aufmerksamkeitsbindung darf im Seminar nicht abreißen, dafür muss eindeutig sein, worauf sich die Aufmerksamkeit zu richten hat. Zugleich kann der Verweis auf das Objekt auch dazu dienen, mit der Flüchtigkeit mündlicher multimodaler Interaktion umzugehen und damit zum einen thematische Kohärenz herzustellen sowie zum anderen eine Verbindung zum Raum herzustellen, also zu situieren. Im Raum als Wahrnehmungsraum erfüllt die Fokusperson an dieser Stelle die interaktive Aufgabe, aus der Fülle des Wahrnehmbaren, wie im ersten Beispiel analysiert wurde, die für die laufende Interaktion relevanten Wahrnehmungen auszuwählen und interaktiv zu etablieren.

Fallanalysen Beispiel 3: Die Studierenden Das folgende Beispiel aus demselben Auswertungsgespräch wenige Minuten später zeigt, wie interaktionsanforderungsbezogen Binnendifferenzierung in der Gruppe der Studierenden hergestellt wird, die sich in einem als Dyade gestalteten Interaktionsraum zeigt. Das dynamische Konzept des Interaktionsraums fokussiert die »räumlichen Arrangements der Körper der Interaktanten und ihre wechselseitige Ausrichtung und damit auf die Verfahren, mit denen sie sich im Hinblick auf ihr gemeinsames Handeln im Raum koordinieren.«66 Die sprachlichen Handlungen sowie die Eigenheiten, die der Raum offeriert, können darin miteinander verknüpft werden. 65 Hausendorf, Interaktion im Raum (wie Anm. 13) 177. 66 Lorenza Mondada, Interaktionsraum und Koordinierung, in: Deppermann / Schmitt (wie Anm. 4) 55–94, insb. 55. Zu Interaktionsdyaden vgl. auch Schmitt, Körperlich-räumliche Aspekte (wie Anm. 5) 54 ff.



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R_EP_2_1, 00:01:25:03-00:01:48:27 24

Lp:

25

fühlen sie sich (.) informIErt, jetzt darÜber,

26 27

ja,> aber noch wEItere, (.) sAchen, (.) oder hat das was so funktionIErt hat,

S2:

i hab mi gUt informIErt gefunden von dir

28

ähm u:nd ähm i find AU

30

Also

32

wie besser als wie wenn ma dA steht

33

und macht;//

Abbildung 4: Interaktionsdyade.

Quelle: K_Awg, R_EP_2_1, 00:01:25:03.

Eine der interaktiven Anforderungen, vor denen die Studierenden in einem plenaren Auswertungsgespräch stehen, ist die aus dem Mehrpersonengespräch sowie den Spezifika des Seminars erwachsende Mehrfachadressierung der Beiträge. Für die Interagierenden heißt diese Adressierungsaufgabe, dass sie deutlich machen müssen, wer (zunächst) angesprochen ist und diese Adressierung muss sowohl für den/die Student_in, dessen/deren Leistung ausgewertet wird, als auch für die anderen Studierenden sowie für die Lehrperson klar erkennbar sein. In Bezug auf das Gespräch als Seminargespräch mit Bildungszielen kommt hinzu, dass etwas inhaltlich-fachbezogen Relevantes gesagt werden muss, was von der Lehrperson, wie in unterrichtlicher Interaktion üblich, gegebenenfalls evaluiert, ergänzt oder richtiggestellt wird. In diesem Beispiel löst die Studentin (= S2) das Adressierungsproblem

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in erster Linie räumlich-körperlich, indem sie eine Interaktionsdyade mit der Studentin, deren Arbeit gerade ausgewertet wird (AS), vor den anderen etabliert. Nachdem die Lehrperson (Zeilen 24–26) einen neuen Impuls zu Weiterführung der Auswertung gibt und explizit dazu einlädt (ja,> aber noch wEItere, (.) sAchen,), schlägt sich S2 per Handzeichen vor und bekommt durch eine auf sie weisende Geste das Rederecht erteilt. S2 fängt sofort an zu reden und startet die Rückmeldung ohne Hesitationen. Sie bezieht sich darin thematisch präzise auf die zweite Frage (Zeile 25: fühlen sie sich (.) informIErt, jetzt darÜber,), indem sie die Formulierung aufgreift und die Frage bejahend beantwortet (Zeile 27), sie reagiert also auf die konditionelle Relevanz des Frage-Antwort-Schemas. Danach schließt sie eine Begründung dafür an, bewertet diese Handlungsweise als positiv (Zeile 29: du hasch das mit der gE:schtik immer gut unterstÜtzt) und markiert diese positive Bewertung explizit als eine persönliche Einschätzung und spezifiziert, was ihr in Bezug auf den Gegenstand redebegleitende Gestik nun genau gefalle. Die von S2 initiierte Interaktionsdyade wird durch die zueinander positionierten Oberkörper von AS und S2 konstelliert, sie nutzen dafür ihre räumlich nahe Sitzposition nebeneinander über Eck. Die Dyade zeichnet sich in der Körperpositur durch die symmetrische Drehung und Ausrichtung der Oberkörper sowie der beiden Köpfe zueinander aus, sodass der Blickkontakt auf einer Linie von beiden gehalten werden kann. AS und S2 sind koorientiert und koordiniert aufeinander, kooperierend im Zuhören bzw. Geben einer persönlichen Rückmeldung. Während AS nahezu unbeweglich zuhört und Blickkontakt hält, zeichnet sich das Handeln von S2 durch vermehrte Bewegung aus. Zum einen sind es Gesten in den Zeilen 28–29 und 30–31. An diesen Stellen vollführt S2 Bewegungen beider Hände, die in Brusthöhe mit offenen Handflächen und als iterative, parallel ausgeführte, einen Kreis von unten am Körper nach oben und vom Körper weg nach außen zeichnende Handbewegungen durchgeführt werden. Zum anderen ist das die Position des Oberkörpers. Die Zuwendung von S2 zu AS durch die Drehung des Oberkörpers wird durch das Aufstützen der rechten Hand auf dem rechten Bein unterstützt und unterstrichen, der linke Arm liegt auf dem Tisch, dreht aber in die gleiche Richtung mit.67 Der Oberkörper ist leicht zurückgelehnt, Kopf und Nacken sind in einer Linie dazu. Somit ist der Beitrag (Zeile 27–33) körperlich-räumlich klar an AS adressiert.

67 Ob auch hier ein body torque (wie Anm. 64) vorliegt, kann aus dem Video nicht hinreichend sicher erschlossen werden, es wäre jedoch funktional naheliegend.



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Abbildung 5: Ruheposition nach der Interaktionsdyade.

Quelle: K_Awg, R_EP_2_1, 00:01:48:27.

Eine Entsprechung der körperlich-räumlich hergestellten Interaktionsdyade auf der prosodisch-stimmlichen Ebene ist die für ein universitäres Seminar als relativ stark zu bezeichnende Dialektverwendung von S2, die im Vergleich zu ihren anderen Redebeiträgen in diesem gesamten Auswertungsgespräch klar markiert ist. Die nähesprachliche, Distanz reduzierende Dialektverwendung ist funktional für das Herstellen der Dyade. Zugleich zeigt jedoch der gesamte Beitrag von S2 auf der prosodischen Ebene Merkmale der Adressierung gerade nicht für die räumliche Nähe, sondern für die Distanz: er ist ausreichend laut, schnell, mit hoher Artikulationspräzision und Artikulationsspannung gesprochen. All das sind formale Merkmale der Adressierung des Beitrags an alle, er ist gesprochen für einen großen Raum, in dem alle verstehen können müssen. Damit reagiert S2 zum einen auf die Sitzposition über Eck, zugleich schafft sie durch das Zurücklehnen ausreichend Distanz, um nicht in sogenanntes privates Sprechen zu fallen, sondern so, dass es für alle anderen wahrnehmbar bleibt. Das funktioniert, denn die anderen Studierenden sind per Blick auf diese Dyade gerichtet. Auch die Blickrichtung von S2 entspricht der primären Adressierung an AS, der Blick zu AS besteht durchgängig, mit Ausnahme der Hesitationspartikel (ähm u:nd ähm) in Zeile 28 sowie in Zeile 31 (auf jemand), da erfolgt ein Blick zur Lehrperson. Die Veränderungen im Blickverhalten zeigen die funktionale Bewältigung der Mehrfachadressierung. S2 beendet die Dyade während der Äußerung in Zeile 33 (und macht;//), dabei geht der Blick weg von AS, der Oberkörper dreht in die durch Tisch/Stuhl und U-Form nahegelegte Ausrichtung zurück, die Arme werden angewinkelt auf den Tisch gestützt und der Kopf wird mit kurzer, nachdrückli-

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cher Bewegung genau auf der Akzentuierung von nIx auf den verschränkten Händen abgelegt. AS bleibt zunächst in der dyadischen Position und dreht erst mit Beginn der nächsten Äußerung der Lehrperson zurück in die plenare Anordnung. AS und S2 sind koordiniert beim Beginn der Dyade, sie sind es aber nicht bei deren Beendigung, also der Rückführung in die körperlich-räumliche Ruheposition des plenaren Auswertungsgesprächs (Ruheposition: siehe Abbildung 5). Beendet ist das Thema der Angemessenheit von redebegleitender Gestik mit dem präsentierten Ausschnitt keineswegs, es folgen mehrere Minuten Gespräch darüber mit der gesamten Gruppe. Die Interaktionsdyade ist funktional für diese Rückmeldesequenz und ermöglicht S2 eine deutliche Adressierung ihres Beitrags. So wird auf die interaktive Anforderung im Auswertungsgespräch, demjenigen, dessen Arbeit ausgewertet wird, eine persönliche, konkrete und relevante Rückmeldung zu geben, reagiert und zugleich angezeigt, dass der eigene Beitrag sachbezogen für das Seminar relevant und also verallgemeinerbar ist. Die Herstellung einer Dyade, wie im präsentierten Beispiel, ist eine gemeinsame, interaktionsbezogene Antwort auf eine interaktionsbezogene Anforderung und somit ein dynamisches, darauf zugeschnittenes Geschehen. Die Interagierenden greifen also zur Herstellung von Interaktionsraum auf den ausgestatteten Raum zurück.

F AZIT In den Fallanalysen wurde der Fokus im ersten Schritt auf den Raum und dessen Potenziale für die Interaktion gelegt, im zweiten Schritt auf die Interaktionsbeteiligten des Seminars, Lehrperson und Studierende. Der Grund für diese Auswahl liegt in der vielfach angeführten wechselseitigen Bezogenheit von Körper und Raum, wonach erst der Körper Raumerfahrung möglich macht. Es wurde das interaktive Handeln der Interaktionsbeteiligten in Bezug auf den Raum als Ressource, die Art des Zusammenhangs der Lösung interaktiver Aufgaben durch relevant gesetzte Aspekte von Raum analysiert und der Zusammenhang zwischen körperlichen und räumlichen Konstellationen in diesem speziellen Interaktionstyp aufgezeigt. Der Interaktionstyp Auswertungsgespräch zeigt sich als integraler Bestandteil des übergeordneten Lehrveranstaltungstyps universitäres Seminar, wobei die spezifischen Eigenschaften der Daten als Lehrveranstaltungstyp Seminar in der tertiären Bildung herausgestellt werden müssen. Das Merkmal der Lehr-/Lerninteraktion teilen die Daten zwar mit schulischer Interaktion, aber universitäre Interaktion im Seminar unterliegt anderen institutionstypischen, kontextualisierenden Besonderheiten und Einflussfaktoren. Es zeigt sich, dass Raumnutzung und die körperlichen Konst-



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ellationen fachspezifisch sind bzw. auf fachspezifische Anforderungen reagieren.68 Welche Merkmale für ein germanistisches Seminar mit dem Schwerpunkt Rhetorik gelten, ist noch nicht abschließend geklärt. Bislang ist jedoch deutlich, dass das Vorliegen eines Auswertungsobjekts, unabhängig von der medialen Darbietungsweise als ein Text oder als Videoaufzeichung einer Rede, fachspezifische Interaktionsaufgaben stellt, die spezifische räumlich-körperliche Konsequenzen haben. Die – selbstverständlich in verschiedenen Hinsichten verfeinerbaren – Analysen von Mikrophänomenen der Interaktionen zeigen die Alltäglichkeit des Lehrens und Lernens, sie zeigen, wie unproblematisch solche Situierungen der Interaktion sein können. Das erste Beispiel konzentrierte sich auf den gebauten und gestalteten Raum sowie auf das, was durch die Architektur in Bezug auf die Interaktionskonstitution erwartbar gemacht wird und welche Ergebnisse die Perspektiven der Sichtbarkeit, Hörbarkeit, Begehbarkeit, Begreifbarkeit und Verweilbarkeit auf die räumlichen Arrangements erbringen. An diesem Beispiel zeigt sich zugleich, wie architektonische Erscheinungsformen Lösungen für interaktive Probleme der Lehr/Lerninteraktion darstellen, beispielsweise die Platzierung der Projektionsfläche als gut sichtbar oder die Anordnung von Tischen und Stühlen, um plenare Gespräche einer gesamten Gruppe effektiv zu ermöglichen. In den weiteren Beispielen stand die stattgehabte Interaktion im Mittelpunkt. Im zweiten Beispiel, das den Fokus auf die Lehrperson und deren Handeln legt, wurde gezeigt, wie die Lehrperson im kleinräumig parzellierten Raum aus dem Angebot an technischen Objekten gestisch auswählt, in die laufende Interaktion eingliedert und damit der interaktiven Aufgabe der Koorientierung der Interagierenden sowie der thematischen Kohärenzherstellung für das Seminar nachkommt. Im dritten Beispiel wurde gezeigt, wie durch das Herstellen einer Interaktionsdyade innerhalb der Gruppe der Studierenden Raum als Interaktionsraum konstituiert wird. Diese Interaktionsdyade reagiert auf die interaktionsspezifische Notwendigkeit des zwar personenspezifischen, aber zugleich für das Seminar relevanten Rückmeldens; die kurze, vorübergehende und damit funktionale körperlich-räumliche Konstellation löst das Adressierungsproblem. Die im Aufsatz präsentierten Beispiele sind in erster Linie aussagekräftige Sequenzen, sie zeigen häufiges, deutliches sowie typisches Handeln, woraus sich Regularitäten ableiten lassen. Es zeigt sich, dass die für die Interaktion notwendige Koorientierung, Koordination und Kooperation systematisch durch die Gestaltung des Raumes nahegelegt werden sowie durch die Ver68 Beispielsweise nennt Putzier als Charakteristikum von Chemieunterricht, das etwas gemacht bzw. etwas vorgemacht werden muss und auf diese Weise ein Demonstrationsraum eröffnet wird, mit dem der Raum um den Versuchstisch sowie die Durchführung des Versuchs gemeint ist. Vgl. Eva-Maria Putzier, Der ›Demonstrationsraum‹ als Form der Wahrnehmungsstrukturierung, in: Raum als interaktive Ressource, hg. von Hausendorf / Mondada / Schmitt (wie Anm. 3) 275–315.

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trautheit bzw. Konventionalisiertheit der gebauten Räume der Universität, genauer des Seminarraums. Interagierende gehen mit dem sie umgebenden gebauten Raum um, dabei greifen sie auf auch institutionell geprägtes Raumnutzungswissen zurück. Das ist für Daten aus der tertiären Bildung wichtig, zeigt sich doch, dass Studierende eine eigene Bildungsinstitutionenbiografie haben und diese, trotz der Novität in ihrem eigenen Handeln und aller Eigenheiten der Universität, produktiv als Ressource nutzen können. Eine institutionsbezogene praktische Konsequenz aus solchen Analysen ließe sich an dieser Stelle andeuten: Danach sollte die Institution Universität großes Interesse daran haben, das von ihr als wesentlich erachtete Seminar – eben weil es die Lehrform ist, die forschenden Habitus ausbildet – auch durch den gebauten Raum zu unterstützen, also Bedingungen zu schaffen, in denen solche Lehre optimal ermöglicht wird.

Fremde und befremdliche Räume des Hochschul(un)wesens in Saudi-Arabien A NNEMARIE P ROFANTER

Abhandlungen zu Raum und Gender in Bezug auf den Arabischen Golf thematisieren meist das traditionell begründete Definitionsrecht der Männer über den öffentlichen (und privaten) Raum. Dabei wird die Diskussion allzu oft von stereotypen Zuschreibungen dominiert und die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Raum als Annahme von zwei separaten Welten von Männern und Frauen vorgenommen.1 In anderen Worten, Geschlechtsidentität wird als soziale Strukturkategorie verwendet. »Die imaginierten Gemeinschaften (Benedict Anderson) begreifen das Verhältnis der Geschlechter als zentrales Element der jeweiligen inneren Ordnung, das im kollektiven Bewusstsein die spezifische Identität der eigenen Gemeinschaft ausmacht und diese gegenüber ›den anderen‹ abgrenzt.«2 Dieses kollektive Unterfangen impliziert auch die Definition von kulturell festgelegten Identitätsmerkmalen von Männern und Frauen, die sich sowohl auf Handlungs- und Bewegungsräume, Normvorstellungen und gesellschaftlichen Vorschriften zu Kleidung und Sprache beziehen.3 »Much of the theoretical attention paid to social organization of the contemporary Arabian Gulf has focused on the production and re-

1

Michel Foucault, Andere Räume, in: Aisthesis, Wahrnehmung heute oder Perspektiven

2

Christa Wichterich, Identitätspolitik: Religion, Geschlecht und Identitästsuche am Bei-

einer anderen Ästhetik, hg. von Karlheinz Barck, Leipzig 1992, 34–46. spiel Indiens, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 15/32 (1992) 47–57, zitiert in: Renate Kreile, Entgrenzungen und Begrenzungen – Frauen im Vorderen Orient im Spannungsfeld von Globalisierung und Fragmentierung, in: Religion, Kultur und Politk im Vorderen Oreint, die Islamische Welt im Zeichen der Globalisierung, hg. von Peter Pawelka / Lutz Richter-Bernburg, Wiesbaden 2004, 141. 3

Wichterich, Identitätspolitik (wie Anm. 2) 47.

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production of boundaries and difference«.4 Folglich wird ein ideologischer Wandel in der arabischen Welt, vor allem in Saudi-Arabien, oft am Konstrukt gendered space und an den damit einhergehenden flexiblen oder starren Grenzziehungen festgemacht. Die Partizipation von Frauen in gesellschaftlichen Settings wie (Frauen-)Universitäten bzw. Online-Hochschulen mit MOOCs Massive Open Online Courses stellt einen solchen Raum dar. Im virtuellen Raum, der nicht konkret irgendwo verortet ist, sondern global und vernetzt ist, sich in einem globalen Netzwerk von Interaktionen entfaltet, entsteht ein neuer sozialer Raum für Frauen in traditionell islamischen Gesellschaftsstrukturen. Darüber hinaus kann der Universitätscampus als hybrider Ort des Aufeinandertreffens der Elemente von privatem und öffentlichem Raum betrachtet werden. Ob virtuell oder real, Universitäten stellen in traditionell islamischen Gesellschaften eine zunehmend bedeutende Plattform für die Konstruktion von (weiblicher) Identität dar. Mein Beitrag versucht eine Lektüre der Konstruktion und Abgrenzung der beiden prozesshaften Elemente Raum und Gender in der Region des Nahen Ostens am Beispiel des Hochschulwesens in Saudi-Arabien. Die folgende Analyse erfolgt entlang räumlicher Konstruktionen und wirft Fragen zu modernen, nicht physischen Grenzen in Saudi-Arabien und deren Rolle für die weibliche Selbstdefinition auf: Wie konstituieren sich bzw. wie werden female communities in Erziehungsinstitutionen in Saudi-Arabien konstituiert mit Bezug auf eine zunehmend kosmopolitische Welt? Raum wird dabei als sozial konstruierter Raum definiert und somit als Ort der Machtausübung. In Anlehnung an Bourdieu gilt Raum als Kategorie sozialer Machtverhältnisse und die Beschreibung des Raumes ermöglicht Rückschlüsse auf die Machtverhältnisse der Akteure und Gruppen in diesem sozialen Raum. Raum wird also verstanden als »eine Art Sozialtopologie«.5 Dabei wird die RaumGeschlechter-Frage im Kontext meiner Erfahrungen6 in der Lehre und Forschung an der Prince Mohammad bin Fahd University in Saudi-Arabien diskutiert und so dieser intime Raum, der ausschließlich Frauen zugänglich ist, beleuchtet.

4

Sharon Nagy, The Search for Miss Philippines Bahrain – Possibilities for Representation

5

Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und »Klasse«: Lecon sur lecon, Frankfurt am Main 1985,

in Expatriate Communities, in: City & Society 1/20 (2008) 79–104. 9, zitiert in: Martin Nugel, Erziehungswissenschaftliche Diskurse über Räume der Pädagogik, eine kritische Analyse, Wiesbaden 2014, 27. 6

Meine Erfahrungen der Lehre an der City University in Peshawar, Pakistan, und der Dhofar University in Salalah, Oman, fließen in diese Beschreibung ein und haben mein Verständnis des Raumes nachhaltig geprägt.



R AUMORDNUNG

UND

F REMDE

UND BEFREMDLICHE

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A BGRENZUNG

Das Private und das Öffentliche strikt zu trennen, ja das eine vor dem anderen zu verbergen, ist ein Leitmotiv in islamisch geprägten Gesellschaften. In SaudiArabien wird die strukturelle Bedeutung der Geschlechterpolitik durch die Anwendung der Sharia streng reglementiert, auf deren Basis der Staat, die Familie Al Saud bzw. die Muttawa, die religiöse Elite, ihren hegemonialen Machtanspruch durchsetzen: Geschlechtsidentität ist hier die Schlüsselvariable für die Definition des privaten und öffentlichen Raumes. Es gibt wenige Forschungsstudien in modernen arabisch-islamischen Staaten zu Raum und Gender in Bezug auf Erziehungsinstitutionen, während für die häusliche Sphäre derartige Analysen sehr wohl vorliegen:7 Anhand des Heims als privater Raum lässt sich veranschaulichen, wie Beziehungen organisiert sind, es zeigen sich soziale Relationen auch dadurch, von welchen Mitgliedern des Familienverbundes die verschiedenen Räume beansprucht werden. Die Privacy des Heims kann am ehesten mit dem arabischen Wort Hurma (Heiligkeit, Unverletzlichkeit) übersetzt werden, das Reinheit, Purheit bezeichnet. Hurma beschreibt aber auch eine Frau bzw. Ehefrau, eine religiöse Stätte, und eben auch die Heiligkeit des Heims. Alle mit diesem Wort bezeichneten Räume werden als pur betrachtet und sollen geschützt werden. Frauen haben Kontrolle über den häuslichen Bereich – mit Ausnahme der Majilis, dem Repräsentationsraum für Männer, wo Besuche empfangen werden –, und von Ehemännern und Söhnen wird erwartet, den räumlichen Bereich der Frauen im Heim zu respektieren. Haram, der heilige Raum, bezeichnet im häuslichen Bereich »die dem Fremden untersagte private Sphäre der Familie und ganz besonders die Frauengemächer, die vor Zutritt und Einblick geschützt werden müssen. Die weibliche Sphäre wird mit dem Inneren des Hauses gleichgesetzt, und damit wird die Frau zugleich zur Seele des Hauses und Hüterin der Ehre des Mannes und seiner Sippe erhoben«.8 Der einzige Ort unter freiem Himmel in Saudi-Arabien, an dem sich Frauen unverschleiert und von unerwünschten Blicken unbehelligt aufhalten können, ist der häusliche Hof. Diese Räume werden so zur Erweiterung der weiblichen Identität, als Ort, an dem Selbstausdruck jenseits von tradierten, lokalkulturell begründeten Trennungslinien (z.B. Verschleierung) möglich ist. Eine räumliche Segregation der Geschlechter gibt es in vielen Kulturkreisen, aber die jeweilige spezifische Bedeutungszuschreibung ist das, was an dieser Stelle interessiert. Nach Bourdieu vollzieht sich in diesem angeeigneten physischen Raum 7

Abdulsamad Alkhalidi, Sustainable Application of Interior Spaces in Traditional Houses of the United Arab Emirates, in: Procedia Social and Behavioral Sciences 102 (2013) 288–299.

8

Stefano Bianca, Hofhaus und Paradiesgarten, Architektur und Lebensformen in der islamischen Welt, München 1991, 196.

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Macht, im Sinne von subtiler Definition von Über- und Unterordnung, bzw. gesellschaftliche Exklusion und Inklusion. Die Universität als pädagogischer Raum ist materialer Raum, aber auch sozialer bzw. symbolischer Raum. Die Subjekte – Studierende, Verwaltungspersonal und Lehrende – nehmen durch die soziale Produktion des Raums einen bestimmten Platz in diesem Raum ein.9 In Bezug auf Bildungsinstitutionen ergibt sich nach Bourdieu der »inkorporierte Habitus von Lernenden«10 durch das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Räume. Die vorliegende Analyse veranschaulicht die Positionierung verschiedener Subjekte in diesem Raum und wie dieser sozial produziert wird. Dieser kurzen Einleitung folgt eine Literaturrecherche, die wichtige Hintergrundinformationen zum Bildungssystem in Saudi-Arabien veranschaulicht, gefolgt von einem persönlichen Erfahrungsbericht meiner Lehr- und Forschungserfahrung an der Prince Mohammad bin Fahd University, einer privaten Universität in der östlichen Provinz Saudi-Arabiens unter dem Gesichtspunkt des Raumes als Sozialtopos. Meine Erfahrungen als Gastprofessorin11 an der PMU im Zeitraum zwischen 2007 und 2009 gewährten mir Zugang zu Informationen und Räumen, die sich westlichen Forschern in dieser Region nicht ohne Weiteres erschließen. Als Forschungsmethode diente die teilnehmende Beobachtung, weitere Daten wurden durch Interviews gesammelt, die an dieser Stelle auszugsweise wiedergegeben werden.

H OCHSCHULWESEN IN S AUDI -A RABIEN : E IN A NALYSERAHMEN Die erste Universität namens King Saud Bin Abdul Aziz wurde 1957 eröffnet. Bildung hat aber eine lange Tradition im arabischen Raum: Vor allem im medizinischen Bereich gab es hochschulähnliche Einrichtungen bereits 200 Jahre bevor diese sich in Europa etablierten. König Abdullah Aziz al Saud12 erklärte es zum Ziel,

9

Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976, 181.

10 Ulla Klingovsky, Schöne neue Lernkultur. Transformationen der Macht in der Weiterbildung, Bielefeld 2009, 160. 11 Im Sommersemester 2008 lehrte ich die Lehrveranstaltungen Kritisches Denken, Schriftliche Kommunikation, Professionelle Entwicklung und DYNED-Computergestützte IELTS-Vorbereitung an der PMU. 12 König Abdullah Aziz al Saud regierte vom Jahre 2005 bis zu seinem Tod im Jahre 2015, jedoch hatte er bereits 1995 nach einem Schlaganfall des damaligen Königs Fahd ibn Abd al-Aziz die Staatsgeschäfte übernommen. Nun wird das Land von Salman Bin Abdulaziz



F REMDE

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in seiner Amtszeit das Land in eine knowledge society zu verwandeln, und Hochschulbildung wurde wie folgt definiert: »the stage of specialization in all its types and levels, which nurture those with competence and intelligence, develop their talents, and meet the various current and future needs of society, to maintain useful development which realizes the nation’s goals and noble objective«.13 So kam es zur Gründung zahlreicher Hochschulen: King-Adbullah-Universität für Wissenschaft und Technik (KAUST) in der Nähe von Jeddah, das Forschungszentrum für Gesundheit Prince Naif der Universität King Saud in der Hauptstadt Riyadh. Die Fertigstellung der Knowledge Economy City (KEC) in Medina ist bis zum Jahre 2020 geplant und soll als Brücke zwischen Bildung und wissensbasierten Industrien fungieren. Voraussichtlich wird KEC Arbeitsplätze für mehr als 20.000 Personen bieten.14 Das neuste Projekt in der Hauptstadt ist die Universität Princess Noura (PNU),15 welche bis zu 50.000 Studentinnen aufnehmen kann und somit die größte Frauenuniversität weltweit ist.16 Indem mehr Studienplätze für Frauen geschaffen werden, soll das Bildungsniveau von Frauen und die bereits derzeit bemerkenswerte Frauenquote in der Forschung von 17 Prozent noch weiter angehoben werden. Zudem hat König Adullah beachtliche Stipendien zur Verfügung gestellt, um Frauen ein Studium im Ausland zu ermöglichen.17 Aufgrund der Vorschrift des Mahran werden diese Finanzierungsmöglichkeiten meist nicht beantragt.18 Denregiert. Bernhard Zand, die Salman Doktrin, in: Spiegel Online vom 13.6.2015, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-135434716.html, 22.10.2015. 13 Ministry of Higher Education, The Current Status of Higher Education in the Kingdom of Saudi Arabia, 2011, http://www.mohe.gov.sa/en/Ministry/General-administration-forPublic-relations/BooksList/stat7eng.pdf, 22.10.2014. 14 Liz Reizberg, Saudi Arabia’s Extravagant Investment in Higher Education: Is Money Enough?, in: Inside Higher ED 10 (2011), http://www.insidehighered.com/blogs/the_ world_view/saudi_arabia_s_extravagant_investment_in_higher_education_is_money_en ough, 22.10.2015. 15 Die PNU ist die neueste, 8 Millionen Quadratmeter große Hochschuleinrichtung und befindet sich am nördlichen Stadtrand Riyadhs. Die Baukosten werden auf mehr als 11,5 Milliarden US Dollar geschätzt, es sind 15 verschiedene Studiengänge für bis zu 50.000 Studentinnen geplant. Im Jahre 2011 wurde sie eröffnet. 16 Diese Auflistung stellt nur einen Ausschnitt dar zu den Neuerungen im Bildungssystem Saudi-Arabiens. Für einen detaillierten Überblick siehe Annemarie Profanter, Private Higher Education in the Kingdom of Saudi Arabia. The educational framework of Prince Mohammad bin Fahd University, in: Rethinking Private Higher Education. Ethnographic Perspectives from the Middle East and Beyond, hg. von Daniele Cantini, Halle 2015. 17 Reizberg, Saudi Arabia’s Extravagant Investment (wie Anm. 14). 18 Die Vorschriften des Mahran regeln die Beziehung zwischen Männern und Frauen. Frauen dürfen auf Reisen nur von Personen begleitet werden, welche aufgrund eines Ver-

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noch ist die Zahl der Studentinnen im Ausland in den letzten Jahren angestiegen und liegt im Vergleich zu der der männlichen Studenten bei 20 Prozent.19 Das Hochschulsystem ist bis heute sehr heterogen in Saudi-Arabien: Trotz seiner wirtschaftlichen Entwicklung und finanziellen Ressourcen ist das Bildungssystem reformbedürftig. Genaue Angaben zu privaten und öffentlichen Hochschuleinrichtungen in Saudi-Arabien gibt es nicht, die Informationen variieren von Quelle zu Quelle, sogar Angaben des Ministeriums sind diesbezüglich widersprüchlich: Die saudi-arabische Botschaft gibt an, dass das Bildungssystem derzeit 25 öffentliche und 27 private Hochschulen umfasst und noch weitere geplant seien, ungefähr 30.000 Schulen und zusätzlich noch zahlreiche Colleges und andere Institutionen.20 Die jährlichen Einschreibungen an privaten Hochschulen steigern sich jedes Jahr um rund 33 %, somit besitzt Saudi-Arabien eine der am schnellsten wachsenden privaten Bildungssegmente weltweit.21 Generell ist die Anzahl der »Frauenfakultäten« in den Jahren zwischen 1990 und 2004 im gesamten Königreich um 242 % angestiegen, die Anzahl der »Männerfakultäten« hingegen um 152 %. Dies spiegelt sich auch in Statistiken zur Immatrikulation wider: die Zahl der Studentinnen ist um 512 % gestiegen, die Zahl der Studenten um 339,2 %. Im Jahr 2013 waren 60 % der Immatrikulierten Frauen. Das Geschlechterverhältnis bei den Universitätsangestellten ist aber in dieser Hinsicht unausgeglichen: fast zwei Drittel sind Männer – dies veranschaulicht die ungleiche Geschlechterverteilung am Arbeitsplatz und somit das Problem »school to work transition«.22 Bildungseinrichtungen expandieren nicht nur auf nationalem Level, sondern auch internationale Zusammenarbeiten werden intensiviert. Im neunten FünfJahres-Entwicklungsplan sind 50,6 % des Haushaltes für die Personalentwicklung

wandtschaftsverhältnisses oder einer Eheschließung als Mahran gelten. Girija Vidyasagar / David M. Rea, Saudi Women Doctors: Gender and Careers within Wahhabic Islam and a ›Westernised‹ Work Culture, in: Women’s Studies International Forum 27/3 (2004) 266. 19 Fawzy Bukhari / Brain Denman, Student Scholarships in Saudi Arabia: Implications and Opportunities for Overseas Engagement, in: Higher Education in Saudi Arabia, hg. von Larry Smith / Abdulrahman Abouammoh, Dordrecht 2013, 151–158. 20 Royal Embassy of Saudi Arabia Washington DC, About Saudi Arabia, Education, http://www.saudiembassy.net/about/country-information/education/, 22.10.2015. 21 Parthenon Perspectives, Investment Opportunities in K-12 and Higher Education in UAE and Saudi Arabia, keine Jahresangabe, 9, http://www.parthenon.com/GetFile.aspx?u=%2 FLists%2FThoughtLeadership%2FAttachments%2F36%2FBFE-MENA.pdf, 22.10.2015. 22 Fatima B. Jamjoom / Philippa Kelly, Higher Education for Women in the Kingdom of Saudi Arabia, in: Higher Education in Saudi Arabia (wie Anm. 19) 117–125.



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einschließlich Schul-und Ausbildung vorgesehen. Dies stellt einen wichtigen Schritt für die Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft dar.23 Aus Statistiken aus dem Jahr 2009 geht hervor, dass die Alphabetisierungsrate der saudischen Bevölkerung zu jenem Zeitpunkt bei 86,1 Prozent lag.24 Neuere Studien legen nahe, dass die Alphabetisierungsrate der Frauen in Prozent gemessen an der der Männer in der Zeit von 2008 bis 2012 bei 90,5 Prozent lag.25 Trotzdem wirken sich diese vielversprechenden Entwicklungen und Anstrengungen nur geringfügig auf die beiden großen gesellschaftlichen Probleme aus: Bevölkerungswachstum26 und steigende Arbeitslosigkeit. Vor allem Frauen wird der Zugang zu verschiedenen Räumen durch traditionelle Hürden verwehrt: »Going forward, addressing weaknesses in the education system and barriers faced by women in accessing employment could help support a knowledge-based economy«.27 In allen Bildungseinrichtungen wird gemäß Artikel 155 strikte Geschlechtertrennung praktiziert. Es gibt einige wenige Institutionen, zu denen ausschließlich Frauen Zugang haben, beispielsweise hat die King Fahd University for Petroleum and Minerals (KFUPM) separate Colleges, welche traditionelle, frauenspezifische Studiengänge wie Medizin oder Innenarchitektur anbieten. Durch die Saudisierung versucht die Regierung der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, muss aber gleichzeitig logistische und wirtschaftliche Herausforderungen meistern.28 Diese Herausforderungen sind eng verbunden mit jenen der privaten 23 Ministry of Higher Education, Brief Report on the Ninth Development Plan (2010–2014), keine Jahresangabe, http://fanack.com/fileadmin/user_upload/Documenten/Links/Saudi_ Arabia/Report_Ninth_Development_Plan.pdf, 22.10.2015. 24 United Nations Development Program. Human Development Data for the Arab States. Saudi Arabia, 2012, http://www.arab-hdr.org/data/profiles/SAU.aspx, 22.10.2015. 25 Unicef, Saudi Arabia Statistics, 2013, http://www.unicef.org/infobycountry/saudiarabia_ statistics.html, 22.10.2015. 26 Laut dem Arab Human Development Report (2011) hat sich die Bevölkerungszahl SaudiArabiens zwischen den 1980er Jahren und 2011 um 286,6 Prozent erhöht. Im Jahr 2013 beträgt die Einwohnerzahl fast 30 Millionen. Das Durchschnittsalter beträgt 26 Jahre. United Nations Development Program. Human Development Data for the Arab States. Saudi Arabia 2012, http://www.arab-hdr.org/data/profiles/SAU.aspx, 22.10.2015. 27 »Options that could help increase FLFP [female labor force participation] include improving access to transportation, […] and flexible work arrangements such as teleworking«. International Monetary Fund, Saudi Arabia. Selected Issues, IMF Country Report 13/23 (2013) 14–20, http://www.imf.org/external/pubs/ft/scr/2013/cr13230.pdf, 22.10. 2015. 28 Manal S. Fakeeh, Saudization as a Solution for Unemployment. The case of Jeddah Western Region. Doctorate in Business Administration, University of Glasgow, 2009, http://theses.gla.ac.uk/1454/1/Fakeeh_DBA.pdf, 22.10.2015.

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Bildungsinstitutionen im Königreich, die innerhalb der starren gesetzlichen Rahmenbedingungen westliche Erziehungspläne und Standards umzusetzen versuchen. Im Gegensatz zu der MENA-Region im Allgemeinen, wo die Weltbank häufig Bildungsreformen finanziert,29 verfolgen die Entscheidungsträger im Königreich Saudi-Arabien andere Strategien, um Partnerschaften mit internationalen Universitäten und Hochschulen einzugehen: nämlich die Etablierung von sogenannten Transplant-Universitäten finanziert von Privatleuten oder Mitgliedern der königlichen Familie.30 »The Saudi government encourages private participation in higher education and has set a target for the private sector to achieve a 30 % share of the total enrolments«.31 Der westliche Einfluss auf das Bildungssystem war und wird weiterhin ein wichtiger Antrieb für Reformen sein – viele der Vorsitzenden im Bildungssektor haben ihre eigene Ausbildung im Westen absolviert –, jedoch ist Bildung in SaudiArabien auf allen Ebenen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich, an das Gesetz der islamischen Scharia gebunden. Und darin liegt die Herausforderung: Westliche Bildungssysteme werden in der arabischen Welt meist als liberal wahrgenommen und entkoppelt von religiösen Überzeugungen.32 Die Religionspolizei, genannt muttawwa’in, überwacht in Saudi-Arabien, wo die konservative Form des wahhabitischen Islam praktiziert wird, die Einhaltung der Scharia. Stammeszugehörigkeit und berufliche Stellung legen fest, über wieviel Wasta33 eine Person verfügt, 29 World Bank, World Bank and Islamic Development Bank Join Forces to Improve Quality and Relevance of Education, keine Jahresangabe, http://www.worldbank.org/en/news/ press-release/2014/10/12/world-bank-and-islamic-development-bank-join-forces-to-impr ove-quality-and-relevance-of-education, 22.10.2015. 30 Mary A. Tétreault, Kuwait: Sex, Violence, and the Politics of Economic Restructuring, in: Women and Globalization in the Arab Middle East. Gender, economy and society, hg. von Eleanor A. Doumato / Marsha P. Posusney, Boulder 2003, 215–238. 31 Parthenon Perspectives, Investment Opportunities in K-12 and Higher Education in UAE and Saudi Arabia, keine Jahresangabe, 10, http://www.parthenon.com/GetFile.aspx?u=% 2FLists%2FThoughtLeadership%2FAttachments%2F36%2FBFE-MENA.pdf, 2.10.2015. 32 »Saudi private higher education is not characterized by a variety of religious affiliations, unlike in other nations where Islam or Christianity is the dominant and/or institutional religion«. Yussra Jamjoom, Understanding Private Higher Education in Saudi Arabia – Emergence, Development and Perceptions, Doctor of Philososphy, Institute of Education, University of London 2012, 32, http://www.albany.edu/dept/eaps/prophe/Yussra%20 Jamjoom%27s%20DISS-PHE%20in%20Saudi%20Arabia.pdf, 22.10.2015. 33 Das Konzept des Wasta durchdringt alle Bereiche der Gesellschaft. Je nach Status einer Familie können Verwandte einem Individuum zu dessen Erfolg verhelfen, je nachdem, wie groß ihr Einfluss bzw. wieviel Wasta diese aufweisen. Urban Dictionary, Wasta, keine Jahresangabe, http://www.urbandictionary.com/define.php?term=wasta, 22.10.2015.



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und dies wiederum bedingt die Chancen auf einen Studienplatz und Arbeitsmöglichkeiten – auch an privaten Universitäten ist es selbstverständlich, dass diese kulturellen Regeln beachtet werden.

E IN F ALLBEISPIEL : P RINCE M OHAMMAD B IN F AHD U NIVERSITY Prince Mohammad Bin Fahd University (PMU)34 wurde als erste private Universität in der östlichen Provinz Saudi-Arabiens im Jahre 2006 eröffnet. In offiziellen Aussendungen wird die Universität mit folgenden Stichwörtern beschrieben: coeducational, high tech, private university delivering its curriculum in English. Inwieweit diese Beschreibung der Realität entspricht, wird in den folgenden Absätzen veranschaulicht. PMU wurde von 52 saudischen Geschäftsleuten und dem Gouverneur der Ostprovinz Prince Mohammad Bin Fahd finanziert, der den Baugrund für dieses Projekt zur Verfügung stellte, inmitten der Wüste, 30 Minuten Autofahrt entfernt von der Stadt Al Khobar – diese Positionierung einer Universität hat symbolischen Charakter. Das formulierte Ziel ist es, die Bedürfnisse einer wachsenden Wirtschaft zu bedienen und Frauen den Zugang zu Bildung im westlichen Stil zu ermöglichen. Das Ausbildungskonzept wurde von 22 texanischen Universitäten unter der Aufsicht des Texas International Education Consortium (TIEC) erarbeitet. Seit Eröffnung der PMU steigen Mitarbeiter- und Studentenzahl kontinuierlich an: 2008/2009 waren 351 Studenten (260 Männer und 91 Frauen) an der Universität inskribiert, diese Zahlen stiegen bis zum Herbstsemester 2010/2011 auf 747 Studenten (567 Männer und 180 Frauen).35 Durch die Institutionalisierung dieser privaten Bildungsinstitution in der östlichen Provinz wurden die (traditionellen) Aktionsradien für Frauen erweitert: Einerseits eröffnen sich durch den staatlich geförderten und räumlich nahen Zugang Möglichkeiten der Bildung und andererseits durch daraus folgende Berufsmöglichkeiten neue Handlungsspielräume. Wie eingangs angeführt, wird die PMU als Institution beschrieben, an der das Konzept der Koedukation umgesetzt wird. Ein Interviewausschnitt mit dem Dekan gibt Aufschluss darüber, welche Reaktionen es am Tag der Eröffnung der PMU im 34 In der östlichen Provinz, die zu den ärmsten im gesamten Königreich zählt, hat auch das arabisch-amerikanische Mineralölunternehmen Saudi Aramco seinen Sitz. Mohamed Salih, Economic Development and Political Action in the Arab World, New York 2014, 78. 35 PMU, Annual Report 2009–2011, keine Jahresangabe, 17, http://www.pmu.edu.sa/Attach ments/About/PDF/Second%20annual%20report%202009-2011-%2006May2013.pdf, 22.10.2015.

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September 2006 diesbezüglich gab und wie flexibel die Interpretation dieses Konzeptes sein kann: »The male and female faculty and students were in the same building and though classes were set up on opposite sides of the building for male and female students, faculty and administrative personnel were allowed to intermingle in a central area. However, within hours of opening this was noticed by the Muttawa36 who came to monitor what was happening on campus and a report was passed on to the Governor, saying that this was not permissible. I was in the Rector’s office when a phone call was received from the Governor’s office to desist this immediately and within 45 minutes all the women were cleared out of that section and within days a wall was set up to prevent intermingling. This was a turning point, it showed how influential the Muttawas are and the Rector was really scared. I still think he could have stood up to them and told them that this is a private institution and we apply Western standard. But the longer I stay here the more I think we have to start at the point where the people are at and feel comfortable within the bounds of their social and religious mores«.37

Wie dieses Beispiel zeigt, waren die Bemühungen dieser privaten, von westlichen Bildungseliten konstruierten und geführten Institution, die Geschlechterverhältnisse im Interesse von Modernisierung – nach westlichem Vorbild der Partneruniversitäten – zu transformieren und so die staatliche Hegemonie zu hinterfragen, nicht erfolgreich. So kam es zur Änderung des (Erziehungs-)Konzeptes, das sich räumlich in der baulichen Umgestaltung des Universitätsgebäudes manifestierte und einen maßgeblichen Einfluss auf die universitäre Gemeinschaft und ihre Ausgestaltung hatte. Die nach Geschlechtern getrennte Atmosphäre an der Universität spiegelt lediglich die Zuweisung des Raums in der Gesellschaft im Allgemeinen wider. Abbildung 1 zeigt nach Geschlechtern getrennte Zugänge zu Gebäuden und Universitätscampus. Der Zutritt wird durch strenge Passkontrollen überwacht. Diese Möglichkeit zur Kontrolle der Geschlechterbeziehungen in der Öffentlichkeit durch Institutionalisierung von Bereichen, die nach gender getrennt sind, stellen einen Versuch der Königsfamilie dar, einerseits tradierte Normen zu implementieren und anderer-

36 »The religious or clerical police arm of the Ministry, referred to in general as the Muttawah, is used to implement these interpretations in line with Wahaibi Islam, ›a revivalist movement that has for two centuries dominated Najd, the home of the ruling dynasty, and has shaped government social policies in all the rest of the [Arabian] peninsula that came under Saudi rule in the twentieth century‹ by providing regular on site supervision of curriculum, staff and administration.« Eleanor A. Doumato, Getting God’s Ear. Women, Islam, and Healing in Saudi Arabia and the Gulf, New York 2000, 28. 37 Richard, Hoogewerf (Pseudonym), Interview bei der Autorin, Saudi-Arabien, 12.5.2011.



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seits das Empowerment von Frauen und ihre Präsenz in eigens dafür vorgesehenen Räumen zu ermöglichen. Abbildung 1: Kennzeichnung des Eingangs für Frauen an der PMU.

  Quelle: © 2008 Annemarie Profanter.

Die Gegenüberstellung eines Eingangs für Frauen und eines allgemeinen Eingangs, der nicht ebenso für das männliche Geschlecht ausgewiesen und beschildert ist, symbolisiert die Ungleichheit beider Gruppen. Durch diese Gegenüberstellung und die räumlich-baulichen Maßnahmen zweier getrennter Campus wird eine machtstrategische Grenzziehung vorgenommen. Aber auch Männer können nicht als RaumSouverän bezeichnet werden, auch ihnen ist der Zutritt zum Raum der Frauen verwehrt. Dieser eingeschränkte Zugang erstreckt sich bis hin zu personellen Fragen: Die Position des Dekans ist Männern vorbehalten, alle wichtigen Entscheidungen werden vom Rektor Dr. Issa Al Ansari getroffen. Im Rahmen der Berufung des Dekans 2012 gab es zwei Bewerber, beide sogenannte Expats: Die Bewerbung der weiblichen Kandidatin wurde nicht berücksichtigt, obwohl sie besser qualifiziert war als ihr männlicher Kollege; Frauen wird die Position des Vizedekans zuerkannt. Die Organisation der Angebote für Studierende variiert je nachdem, ob es sich um Studierende der Grundkurse oder Masterkurse handelt: Der Vorlesungsraum im Masterstudiengang wird in der Mitte durch eine Wand getrennt und links bzw.

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rechts gibt es getrennte Eingänge für Männer und Frauen, sodass alle Studierenden die Professoren sehen können, aber männliche und weibliche Studenten nicht miteinander interagieren. Darüber hinaus wird an der PMU neueste IT-Technologie genutzt, u.a. Zwei-Weg-Videokonferenz-Verbindungen, um Lehrveranstaltungen für Frauen und Männer anzubieten und gleichzeitig die Geschlechtertrennung aufrechtzuerhalten. Diese kreative Lösung war auch notwendig, um dem Problem des Personalmangels bzw. der Doppelbesetzung aller Fächer durch weibliche und männliche Dozenten beizukommen. Durch diese Beschreibung des physischen Raums und die ungleiche Verteilung des kulturellen und materiellen Kapitals in diesem sozialen Raum wird die Verteilung der sozialen Machtverhältnisse evident.38 Nach Bourdieu gibt es in einer hierarchischen Gesellschaft keinen Raum, »der diese Hierarchien und soziale Ungleichheiten nicht widerspiegelt. Der angeeignete physische Raum ist somit der in der physischen Welt abgebildete und in räumlichen Strukturen niedergeschlagene soziale Raum und kann daher auch als materialisierter oder verdinglichter sozialer Raum bezeichnet werden«.39 Wenn die Universität nun als angeeigneter physischer Raum betrachtet wird, dann vollzieht sich in ihm eine Form der Macht bzw. kann Herrschaft hier im Sinne gesellschaftlicher Exklusion bzw. Inklusion wahrgenommen werden. Diese gesellschaftliche Exklusion bzw. Inklusion ist eine Möglichkeit, »den angeeigneten physischen Raum durch materielle oder symbolische Aneignung der in ihm verteilten öffentlichen und privaten Güter zu dominieren sowie sich gewünschten Personen zu nähern bzw. sich unerwünschte vom Leibe zu halten.«40 Bildungseinrichtungen in Saudi-Arabien sind vor allem für Männer zugänglich, das heißt für Männer sind alle Studiengänge zugänglich. »There are several specialties [throughout the Kingdom] offered to men only which may interfere with social justice.«41 So ist das College for Engineering an der PMU männlichen Studierenden vorbehalten. Während meines Aufenthalts an der PMU war der Studiengang Innenarchitektur an der Ingenieursfakultät ausschließlich für Frauen zugänglich. Das private Heim, als ein besonders den Frauen zugedachter Lebensraum, könnte diese Regelung erklären, im Unterschied zum Studium der Architektur, wie folgendes Interviewzitat veranschaulicht: »All I want to do is study Architecture and share it 38 Anke Strüver, Macht Körper Wissen Raum?, Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien, Wien 2005, zitiert in: Nugel, Erziehungswissenschaftliche Diskurse. 39 Strüver, Macht Körper (wie Anm. 38) 92. 40 Strüver, Macht Körper (wie Anm. 38) 92. 41 Majed Alamri, Higher Education in Saudi Arabia, in: Journal of Higher Education Theory and Practice 11/4 (2011) 88–91, vgl. insb. 90, http://www.na-businesspress.com/jhetp/ alamriweb11–4.pdf, 22.10.2015.



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with others but this choice is not available to me as there is no local university within driving range that offers this major and my family will not allow me to live outside our family home«.42 Da das Architekturstudium für Frauen in Saudi-Arabien traditionell ein Tabu ist, veranschaulicht die Interviewpartnerin, dass die Zeit und Energie, die sie für das Innenarchitekturstudium aufgebracht hat, nur im Hinblick auf ihr Interesse an der Architektur sinnvoll war. Auch ein anderes Mädchen einer religiösen Minderheit (Shiʼaa) äußerte ihre Frustration darüber, keine Möglichkeit zu haben, ein Ingenieurstudium zu absolvieren, da die für Frauen zugängliche Universität nur ein High-Tech-Studium anbietet: »I am a Computer Engineer major because it is the only major which brings me at Maschinenbau all close to what I really want to do, which is Mechanical Engineering«.43 Die Studienmöglichkeiten für Frauen erstrecken sich entlang der sozialen Trennung der Handlungsfelder: Innenarchitektur steht klar in Verbindung mit dem häuslichen Umfeld und ist deshalb für Frauen erlaubt, Maschinenbau ist aufgrund des traditionell männlichen Umfeldes tabu; Computertechnik hingegen ist Frauen gestattet, da die räumliche Geschlechtertrennung aufrecht bleibt und dennoch die wirtschaftliche Partizipation von Frauen ermöglicht wird. Laut Strüver44 sind ungleiche Chancen bestimmt durch das Verhältnis »zwischen der räumlichen Verteilung der zugleich als lokalisierte Körper und InhaberInnen von Kapital definierten Akteure auf der einen und der gesellschaftlich verfügbaren Güter auf der anderen Seite«. In diesem Zusammenhang sei auf verschiedene Online-Angebote zur Aus- und Weiterbildung sowie Online-Buchhandlungen wie amazon.com verwiesen, die einen wachsenden Markt bedienen, der Frauen von zu Hause aus den Zugang zu Bildung ermöglicht.45 In diesem relativ freieren Raum gelten auch andere Regeln der Zensur. Die Zensur stellt nämlich eine weitere Methode dar, um diese Räume auch virtuell und bei Lehrbüchern getrennt zu halten. Für meinen Unterricht an der PMU habe ich über die Universitätsbibliothek Lehrbücher aus Europa und den USA bestellt. Alle bestellten Bücher wurden vom Ministerium zensiert: Jedes Buch wurde einzeln von einem Angestellten der Regierung überprüft und unzulässige Bilder und Wörter übermalt. Dieser Prozess dauerte so lange, dass die von mir bestellten Bücher erst am Ende des Semesters ankamen und den Studierenden somit nicht mehr von Nutzen waren. Außerdem waren sehr viele Zeitschriften, Webseiten und Bücher, wie beispielsweise The Girls of Riyadh, verboten. Die Studentinnen in meinem Kurs, welche an den Wochenenden oft die 42 Hala [pseud.], Interview bei der Autorin, KSA, 10.10.2008. 43 Maryam [pseud.], Interview bei der Autorin, KSA, 11.10.2008. 44 Strüver, Macht Körper (wie Anm. 38) 92. 45 Girija Vidyasagar / David M. Ream, Saudi Women Doctors. Gender and careers within Wahhabic Islam and a ›westernised‹ work culture, in: Women’s Studies International Forum 27/3 (2004) 261–280.

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Grenze zu Bahrain überquerten, ungefähr eine Fahrt von 45 Minuten, je nach Wartezeiten und Strenge der Passkontrollen – mussten wie alle Frauen, die eine abaya trugen, in einem abgegrenzten Raum ihre Gesichter enthüllen. Von Bahrain kommend hatten sie das Buch ins Land geschmuggelt und sie zeigten mir stolz, auf welchen Internetseiten sie die Inhalte mit anderen Frauen diskutierten. Der Cyberspace stellt einen Kommunikationsraum dar, in dem sich diese Frauen jenseits der sozialen Grenzen einen Raum schaffen und Möglichkeiten der Artikulation nutzen. Gerade die spezifischen Eigenheiten des Internets wie Anonymität, Globalität, Simultanität und Interaktivität, Dezentralität, Konvergenz46 eröffnen innerhalb der starren Grenzen dieser Gesellschaft neue Räume für Frauen. »Als räumlich entgrenzte Kommunikation kann das Internet als virtuelle Wirklichkeit erfahren werden, in der sich jenseits der kulturell tradierten Formen konventioneller Kommunikation eigene Regeln für Sprache, Takt und Ausdrucksweise entwickeln«.47 Durch die Aufhebung der Zeit-Raum-Verdichtung in Relation zu den Möglichkeiten der Onlinekommunikation wird für Frauen in Saudi-Arabien die Inszenierung unterschiedlicher Identitäten mit spezifischen Ausdrucksformen und Subjektkonstitutionen möglich.

K ONTEXTUALISIERUNG

UND

F ORSCHUNGSDESIDERATA

Die aktuellen Bildungsmöglichkeiten für Frauen in Saudi-Arabien lehnen sich zwar inhaltlich an jene amerikanischer oder europäischer Strukturen an, vollziehen sich aber in einem idealisierten women only Setting, in einem ausschließlich Frauen zugänglichen Raum. Durch die zunehmende Präsenz von Frauen im Bildungsbereich und im öffentlichen Raum generell besteht die Notwendigkeit, diesen Raum neu zu definieren. Die öffentliche Diskussion über die Geschlechter- und Raumordnung in Bildungsinstitutionen im arabischen Raum ist häufig von stereotypen Zuschreibungen dominiert und entbehrt als Grundlage Datenmaterial. In der jeweiligen Sichtweise zeigt sich oft mehr vom Theorieverständnis der Erziehungswissenschaft als vom Verständnis des bildungsrelevanten Raums an und für sich. Die Untersuchung von Hochschuleinrichtungen als Organisationsstrukturen bzw. dieses »erzieherische[n] Lebensraum[s]«48 im Arabischen Golf nimmt in den Erziehungswissenschaften mit Bezug auf die Raumtheorie eine marginale Stellung ein. Sehr wohl wird dem »Raum als drittem Erzieher« im Sinne der Konstruktion

46 Jinae Park, Räume für uns schaffen im Cyberspace, in: Gender und Raum, hg. von Sibel Vurgun, Düsseldorf 2005, 218–221. 47 Park, Räume im Cyberspace (wie Anm. 46) 211–212. 48 Wilhelm Flitner, Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, Heidelberg 1957, 260.



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von Lernsettings und Bildungslandschaften49 »bei der Produktion und Anwendung von Wissen«50 Bedeutung beigemessen, aber die Frage danach, wie die jeweiligen erziehungswissenschaftlichen Theorien die Beschaffenheit des Raums und die Positionierung der Subjekte in diesem Raum beeinflusst, wird kaum gestellt. »Und so bleibt auch die Frage, wie Raumwissen innerhalb der Erziehungswissenschaft/Pädagogik generiert, kodiert und transformiert wird, wie dieses Wissen innerhalb der Disziplin bzw. Profession zirkuliert und welche Effekte davon ausgehen, ein Forschungsdesiderat«.51 Das Ziel der vorliegenden Analyse ist es also, eine Beschreibung und kritische Reflexion bestehender Ordnungen in Bezug auf Raum und Wissen in SaudiArabien vorzunehmen, damit daran anknüpfend Ansätze für eine räumliche erziehungswissenschaftliche Praxis ausgearbeitet werden können. Die Erziehungsinstitutionen des Arabischen Golfs erfahren in der heutigen Zeit der Globalisierung, Mobilität und Translokalität eine schrittweise Transformation, umso wichtiger ist es, sich mit der Bedeutung spezifischen Raumwissens in diesem Kontext auseinanderzusetzen und die Auswirkung dieses Wissens auf die Positionierung der Subjekte in diesem Raum zu hinterfragen. In Zeiten, in denen turns52 an der Tagesordnung sind, Matthiesen53 spricht vom »spatial turn der Wissensforschung« und dem »knowledge turn der Raumforschung«, die es zu verbinden gilt, Dünne54 vom »topographical turn«, sollen anhand einer erziehungswissenschaftlichen Raumtheorie Machtansprüche und Auswirkungen auf das Subjekt und seine Handlungsmöglichkeiten kritisch beleuchtet wer49 Angelika von Der Beek, Bildungsräume für Kinder von Null bis Drei, Weimar 2006; Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum. Stuttgart, 9. Aufl., 2000; Christel Dieken, Lernwerkstätten und Forscherräume in Kita und Kindergarten, Freiburg 2004; Karlheinz Burk / Dieter Haarmann (Hg.), Schulraumgestaltung: Das Klassenzimmer als Lernort und Erfahrungsraum, Frankfurt am Main 1979. 50 Peter Meusburger, Wissen und Raum – ein subtiles Beziehungsgeflecht, in: Bildung und Wissensgesellschaft, hg. von Klaus Kempter / Peter Meusburger, Berlin 2005, 269–308, vgl. insb. 270. 51 Doris Bachmann-Medik, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, zitiert in Nugel, Erziehungswissenschaftliche Diskurse. 52 Thomas Bürk, Raumtheoretische Positionen in angloamerikanischen und deutschsprachigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Publikationen seit 1997. Ein Literaturbericht, Berlin 2004, 160. 53 Matthiesen Ulf, Wissensformen und Raumstrukturen, in: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, hg. von Rainer Schützeichel, Konstanz 2007, 648–661, vgl. insb. 658. 54 Jörg Dünne / Hermann Doetsch / Roger Lüdeke (Hg.), Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive, Würzburg 2004.

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den.55 In dieser Phase der Transformation von Wissenschaft hat eine Auseinandersetzung mit dem Raum begonnen. »Die Wissenschaft befindet sich insgesamt in einer tief greifenden Umstrukturierung ihrer eigenen Bedingungen, unter denen sie wissenschaftliches Wissen generiert.«56 Die Auseinandersetzung mit raumtheoretischen Fragen ist vor allem bedingt durch Unsicherheiten über Kanon, Theorie und Methode und die epistemologischen Bedingungen von Wissenschaft.

55 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974; Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main 2007. 56 Karl D. Keim, Das Fenster zum Raum, Traktat über die Erforschung sozialräumlicher Transformation, Wiesbaden 2003, 11.

Machtraum Heim Raumkonzepte und Subjektivierungsstrategien im Bürgerlichen Waisenhaus Basel (1928–1945) M IRJAM L YNN J ANETT »Der Raum selber hat in der abendländischen Erfahrung eine Geschichte, und es ist unmöglich, diese schicksalhafte Kreuzung der Zeit mit dem Raum zu verkennen.«1 MICHEL FOUCAULT, ANDERE RÄUME

Das Kompositum des hier gewählten Titels Machtraum Heim verweist auf zwei verschiedene, sich jedoch verschränkende Bedeutungsebenen: Einerseits auf den Raum als physisch lokalisierbaren, sich von anderen Orten unterscheidenden Ort, andererseits auf den sozialen Raum, in dem sich nicht nur soziale Praxis materialisiert, sondern der Wissen organisiert, strukturiert und gliedert. Demzufolge ist Raum nicht etwas, das von Akteurinnen und Akteuren lediglich benutzt wird, sondern ein relationales Konzept, das seinerseits auf Machtverhältnisse und -strukturen einwirkt.2 Raum ist folglich nicht nur passiver Container für alle Art gesellschaftlicher Handlungen, sondern wird selbst zum Handlungsträger.3 Dies macht die Raumforschung für eine Geschichte der geschlossenen außerfamiliären Erziehung interessant, da eine Einrichtung für fremdplatzierte Kinder nicht nur ein institutio-

1

Michel Foucault, Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektive ei-

2

Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt am Main / New

3

Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt am Main, 4. Aufl., 2008.

ner anderen Ästhetik, hg. von Karlheinz Barck et al., Leipzig 1992, 34–46, hier: 34. York 2013, insb. 68.

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nalisierter Ort sozialer Ordnung ist, sondern seine räumlichen Gegebenheiten diesen zugleich in einer Wechselwirkung konstituieren. Dieser Beitrag untersucht »die Techniken der Raumkonstruktion mit ihren subjektivierenden Effekten«4 im Feld der außerfamiliären stationären Erziehung. Dabei folgt der Artikel einem Verständnis von Raum als physisch vorhandenen Gegenstand, der jedoch als soziale Konstruktion individuelle oder gesellschaftliche Relevanz erhalten kann.5 Untersuchungsgegenstand ist das Bürgerliche Waisenhaus in der Stadt Basel, das sich seit seinem nun bald 350-jährigen Bestehen wiederholt in seiner Nutzung und Funktion wandelte und Gegenstand zahlreicher Um-, Neu- und Ausbauten war. Eine wegweisende pädagogische und bauliche Reorganisation fand 1929 statt. Das Heim wurde ab diesem Zeitpunkt familienähnlich organisiert. In der Geschichte der außerfamiliären Erziehung nimmt das sich an einem bürgerlichen Familienbild orientierende Familiensystem einen hohen Stellenwert ein. Die familienorientierte Erziehung trug durch ihre Abgrenzung von einer im Geiste des 18. und 19. Jahrhunderts stehenden sozialdisziplinierenden Massenerziehung zu einem Wandel in der Heimerziehung bei. Obwohl in Deutschland Johann Hinrich Wichern bereits 1837 mit seinem Rauhen Haus eine familienanaloge Erziehungsmethode einführte, standen die kommunalen, staatlich organisierten Waisen- und Armenhäuser in der Schweiz nach wie vor im Zeichen des großen Kollektivs, das der Erziehung zur Arbeit oberste Priorität einräumte. In Basel setzte die Abkehr vom massenförmigen Anstaltstypus Anfang des 20. Jahrhundert ein, als der im Jahr 1928 als Waisenhausvater gewählte Hugo Bein im Basler Waisenhaus 1929 ein von ihm konzipiertes Familiensystem einführte, das mit einem umfassenden Umbau der Räumlichkeiten einherging. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie die Nutzung des Raumes im Bürgerlichen Waisenhaus Basel von 1928 bis 1945 mit dem eingeführten Familiensystem im Zusammenhang steht und auf welche Weise eine solche Raumnutzung subjektivierende Effekte auf die Kinder und Jugendlichen des Waisenhauses auslöste.6 Die Quellengrundlage bilden einerseits umfangreiche Verwaltungsakten und Protokolle aus dem Waisenhausarchiv und dem Staatsarchiv Basel-Stadt, andererseits verschiedene pädagogische Schriften, die Hugo Bein während und nach seiner 4

Christian Wille / Rachel Reckinger, Räume und Identitäten als soziale Praxis, in: Europa Regional 21 (2013) 3–8, 4.

5

Vgl. Rau, Räume (wie Anm. 2) 8.

6

Der Artikel richtet sein Interesse auf Subjektivierungsregimes und -normen, denen die Kinder im Waisenhaus ausgesetzt waren. Im Fokus liegen nicht die damit verbundene Erfahrung der Kinder oder die Aneignung derselben, von Interesse sind vielmehr die Institutionen, Personen und Praktiken, welche die Kinder auf bestimmte Weise zu lenken versuchten. Vgl. hierzu Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main, 5. Aufl., 2013, insb. 43.



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Amtszeit veröffentlichte.7 Der Beitrag ist in vier Abschnitte unterteilt: Der erste Abschnitt widmet sich der Geschichte des Bürgerlichen Waisenhauses und dem Wandel seiner Nutzung und Funktion im sich ausdifferenzierenden Schweizer Wohlfahrtsstaat. Abschnitt zwei ordnet das Waisenhaus Basel in die Organisation der Fürsorge in Basel im beginnenden 20. Jahrhundert ein. Der dritte Abschnitt handelt von der räumlichen Reorganisation des Waisenhauses unter Hugo Bein. Die Einführung des Familiensystems und das ihm zugrundeliegende Erziehungsverständnis sind Gegenstand von Abschnitt vier. Es wird aufgezeigt, wie sich im Familiensystem gesellschaftliche Diskurse über Familie und Erziehung widerspiegeln, aber auch, welche Rückwirkungseffekte die soziale Praxis auf die Diskurse auslöste. Im letzten Abschnitt werden sowohl ex- als auch inkludierend wirkende Praktiken der Individualisierung thematisiert, die bezweckten, die Kinder und Jugendlichen zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu formen. Die räumliche Umgestaltung des Waisenhauses 1929 begünstigte diese Entwicklungen und konstituierte den Machtraum Heim mit.

D AS B ÜRGERLICHE W AISENHAUS B ASEL Das mitten in der Stadt Basel gelegene Bürgerliche Waisenhaus Basel8 gilt als eines der ältesten Waisenhäuser der Schweiz. 1667 als Zucht- und Waisenhaus gegründet, diente es zunächst der Zucht- und Arbeitserziehung von Waisen, Strafgefangenen und als delinquent bezeichneten Jugendlichen. Seit 1669 befindet sich das Waisenhaus im ehemaligen Kartäuserkloster am Theodorskirchplatz in Kleinbasel. Die räumliche Trennung der Gefangenen von den Kindern erfolgte im Jahr 1754.9 Die Anstalt finanzierte sich bis ins 19. Jahrhundert durch die hauseigene Fabrik weitgehend selbst. Mit der Einführung des Systems der Kostverpachtung im Jahre 1679, auch Admodiation genannt, entwickelte sich die Anstalt zu einer eigentlichen Fabrikationsstätte, vor allem für die Tuchherstellung.10 Obwohl ein Ratsbeschluss die

7

Die Aktenbestände sind mir durch die Mitarbeit im Sinergia-Projekt Placing Children in Care. Child Welfare in Switzerland (1940–1990) des Schweizerischen Nationalfonds (http://www.placing-children-in-care.ch) sowie durch mein Dissertationsprojekt an der Universität Basel zugänglich.

8

Das Bürgerliche Waisenhaus hieß von 1888 bis 1930 Bürgerliche Waisenanstalt. Vgl. Walter Asal, Bürgerliches Waisenhaus in der Kartause 1669–1969, Basel 1971, 39.

9

Bis zu der Verlegung der Gefangenen im Jahr 1806 in die Predigerkirche im Basler Vorstädte-Quartier waren diese allerdings noch im selben Gebäude wie die Kinder untergebracht.

10 Asal, Bürgerliches Waisenhaus (wie Anm. 8) 15.

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Kostverpachtung 1776 einstellte,11 blieb die fabrikmäßige Produktion bis ins Jahr 1830 bestehen.12 Weitere wichtige Einnahmequellen bestanden aus Erträgen aus Liegenschaftsbesitz und Vermögensteilen, Spenden und Legaten, aber auch aus Kostgeldern von Kindern und Gefangenen.13 Der Rat beteiligte sich im Jahr 1890 erstmals mit einer Subvention von 20.000 Franken finanziell am Betrieb und Unterhalt des Waisenhauses. Im Zuge dieser Entwicklungen wandelte sich das Waisenhaus von einer Arbeitsanstalt zu einer Einrichtung mit pädagogischem und erzieherischem Auftrag, wie auch am Ausbau des Schulunterrichts Anfang des 19. Jahrhunderts zu erkennen ist.14 Die Kinder und Jugendlichen wurden weiterhin zur Arbeit angehalten, jedoch eher im Sinne einer geschlechtsspezifischen Erziehung zur Arbeit und nicht mehr zur Finanzierung des Betriebs.15 Abgesehen von den Jahren 1888 bis 1930, als das Waisenhaus in Waisenanstalt umbenannt wurde, hielt sich der Name Waisenhaus über die Jahrhunderte hinweg. Dies obwohl die Einrichtung seit Beginn nicht nur Waisen aufnahm, sondern auch als Versorgungsanstalt für Kinder aus sogenannten verkommenen oder zerrütteten Verhältnissen mit Basler Bürgerrecht diente.16 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahmen Einweisungen von Kindern, die dem schädigenden Einfluss der Eltern entzogen werden sollten, überproportional zu, wie Tabelle 1 belegt. Stammten 1910 nur 33,95 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus »zerrütteten Verhältnissen«,17 waren 1930 schon mehr als die Hälfte »Ehewaisen«,18 wie Bein sie bezeichnete. Gegen Ende von Beins Amtsperiode im Jahr 1945 lag die Quote bereits bei 89,9 Prozent. Eigentliche Waisenkinder waren es nur noch drei. Diese Entwicklung spiegelt einen im 20. Jahrhundert gesamtschweizerisch stattfindenden 11 Das System der Admodiation sah vor, dass sämtliche Einnahmen aus der Arbeitsleistung der Kinder und der Gefangenen zugunsten des Hausvaters gingen. Im Gegenzug musste dieser die Unterhaltskosten für die Insassen entrichten. Dies hatte den erheblichen Nachteil, dass der Hausvater zwecks Profitmaximierung für eine möglichst kostengünstige Unterbringung besorgt war. 12 Vgl. Asal, Bürgerliches Waisenhaus (wie Anm. 8) 60. 13 Vgl. ebd., 18. 14 Der Schulbetrieb wurde 1886 eingestellt. Die Kinder und Jugendlichen besuchten von da an die Volksschule. Vgl. ebd., 60. 15 Die Jungen mussten handwerkliche Arbeit verrichten, die sie auf ein späteres Berufsleben vorbereiten sollten. Die Mädchen übten haushälterische Tätigkeiten aus oder waren in der Kleinkinderpflege tätig. Vgl. ebd., 30. 16 Kinder ohne Bürgerrecht konnten ins Waisenhaus aufgenommen werden, sofern die Finanzierung für den Anstaltsaufenthalt durch Drittstellen gesichert wurde. 17 Basler Waisenhausarchiv (im Folgenden BWH), B1ac, Inspektionssitzung, 20.6.1933. 18 Hugo Bein, Die Jugendfürsorge der Bürgergemeinde Basel (Radiovortrag), Basel 1944, 3.



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Prozess wider, in dem sich staatliche Interventionen im Bereich der Fürsorge zunehmend von »armenrechtlich-fiskalisch«19 zu »fürsorgerisch-prophylaktisch«20 motivierten Gesichtspunkten verschoben. Dieser Richtungswechsel bei den Fremdplatzierungsentscheiden zeugt von einem zunehmend interventionistischen Staatsverständnis, in dem die staatlichen Behörden vermehrt korrigierend und lenkend auf das Verhalten des Individuums einwirkten, um das gesellschaftliche Disziplinierungsanliegen umzusetzen.21 Tabelle 1: Einweisungen von Kindern in das Bürgerliche Waisenhaus Basel von 1910–1945. 1910

%

1920

%

1930

%

1945

%

vaterlos

56

34,57

26

18,44

13

12,62

5

3,88

mutterlos

27

16,67

47

33,33

16

15,53

5

3,88

verwaist, aus zerrütteten Familien & uneheliche Bestand Ende Jahr

24

14,81

17

12,06

7

6,8

3

2,32

55

33,95

51

36,17

67

65,05

116

89,92

165

100

141

100

103

100

129

100

Quellen: Staatsarchiv Basel-Stadt (STaBS), L1, Bericht der Inspektion an den Bürgerrat, 1933, 18; Verwaltungsbericht, 1945.

Die Fremdplatzierungspraxis und die damit eng verbundene Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts verweist auf die moralische Funktion des sich ausdifferenzierenden Wohlfahrtsstaats, der sich einerseits, einer Präventionslogik folgend, die Schaffung nützlicher Subjekte zum Ziele setzte, andererseits intendierte, die Bevölkerung vor gefährlichen Risiken zu schützen.22 Die Platzierung von Kindern und Jugendli19 Urs Germann, Die administrative Anstaltsversorgung in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Bericht zum aktuellen Stand der Forschung, Bern 2014, 5. 20 Ebd. 21 Vgl. Mischa Gallati, Entmündigt. Vormundschaft in der Stadt Bern, 1920–1950, Zürich 2015, 81. Vgl. auch Germann, Die administrative Versorgung (wie Anm. 19) 5. 22 Vgl. Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008, insb. 81, 122. Sozialpolitische Angelegenheiten wurden im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Allerdings gingen diese noch nicht von den Universitäten, sondern von Gelehrtengesellschaften und anderen bürgerlich-aufklärerischen Kreisen aus. In Basel war es die GGG (Gesellschaft zur Förderung des Guten und Gemeinnützigen), welche die Armen-

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chen in Waisenhäusern, Erziehungsanstalten, aber auch Pflegefamilien ist nur ein Beispiel für die Bemühungen des Staates, das gesellschaftliche Disziplinierungsanliegen durchzusetzen.23

D IE R OLLE DES W AISENHAUSES F ÜRSORGE IN B ASEL -S TADT

IN DER

In Basel gab es im 19. Jahrhundert weit über hundert Vereine und Institutionen, die im Bereich der Armen- und Krankenfürsorge tätig waren. Neben staatlichen Stellen übernahmen private und para-staatliche Organisationen wie etwa die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige (GGG), die Reformierte Kirche oder die Freiwillige Armenpflege, die sich bis 1897 auf privater Basis für fürsorgebedürftige Einwohnerinnen und Einwohner Basels einsetzten, wichtige Funktionen in der Fürsorge.24 Eine eigentliche Mitverantwortung im Armenwesen übernahm der Staat jedoch erst mit der Kantonsverfassung 1889.25 Die städtischen Armeninstitute fielen nach der Verfassungsrevision weiterhin in den Kompetenzbereich der Bürgergemeinde und konnten von der Einwohnergemeinde nicht direkt kontrolliert werden. Dies führte zu einer Unterteilung der Fürsorge in eine Fürsorge für Basler Bürger, fürsorge und Schulpolitik maßgeblich prägte. Obwohl im beginnenden 20. Jahrhundert solche Vereinigungen an Relevanz verloren, nahmen private und para-staatliche Organisationen nach wie vor einen wichtigen Stellenwert in der Fürsorgepolitik ein. Einem liberalen Wohlfahrtsmodell entsprechend lagerte der Staat wichtige Aufgaben der allgemeinen Wohlfahrt aus, um ihn möglichst schlank halten zu können. Vgl. Martin Lengwiler, Wissenschaft und Sozialpolitik. Der Einfluss von Gelehrtengesellschaften und Experten auf die Sozialpolitik im 19. Jahrhundert, in: Armut und Fürsorge in Basel, hg. von Josef Mooser / Simon Wenger, Basel 2011, 112–122, hier 113 f. 23 Die überproportionale Zunahme präventiver Heimeinweisungen lässt sich nicht nur für Basel, sondern für die gesamte Schweiz feststellen. Bis heute liegen keine präzisen statistischen Angaben über die Anzahl fremdplatzierter Kinder in der Schweiz vor. Der Forschungsbericht zur Bestandesaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte in Sachen Verding- und Heimkinder geht von bis zu 5 Prozent der Kinder unter 14 Jahren aus, die außerhalb ihrer Herkunftsfamilie aufwuchsen, wobei ca. 2/3 in Pflegefamilien und ca. 1/3 in Heimen platziert wurden. Vgl. Martin Lengwiler et al., Bestandesaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte in Sachen Verding- und Heimkinder, Basel 2013, 3. 24 Vgl. Sara Janner, Korporative und private Wohltätigkeit. ›Stadtgemeinde‹ und Stadtbürgertum als Träger der Armenpflege im 19. Jahrhundert, in: Mooser / Wenger, Armut und Fürsorge in Basel (wie Anm. 22) 101–110, 102. 25 Die Organe wie auch die Finanzierung der staatlichen Fürsorge bestimmte das Basler Armengesetz von 1897. Vgl. ebd.



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die sogenannte Bürgerliche Fürsorge, die aus dem Großen Almosen aus der Reformationszeit hervorgegangen war (ab 1930 Bürgerliches Fürsorgeamt),26 und in eine Fürsorge für Einwohnerinnen und Einwohner ohne Bürgerrecht, die Allgemeine Armenpflege (ab 1964 Allgemeine Sozialhilfe). Hier von Interesse ist die Bürgerliche Fürsorge, die sich in eine offene (Bürgerliches Armenamt) und eine geschlossene Fürsorge unterteilte.27 Das Bürgerliche Waisenhaus, das in den Kompetenzbereich der Bürgerlichen Fürsorge fiel, übernahm vom Bürgerlichen Armenamt ab 1886 sukzessive die Verantwortung für die auswärtige Fürsorge, die das Unterstützungswesen für Erwachsene und Kinder umfasste. 1930 wurde das Unterstützungswesen für Erwachsene aus dem Waisenhaus ausgegliedert und dem Bürgerlichen Armenamt übertragen. Das Waisenhaus blieb weiterhin für das Unterstützungswesen für Kinder und Jugendliche zuständig und wurde in Jugendfürsorge der Bürgergemeinde Basel umbenannt.28 In Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden (wie etwa der Vormundschaftsbehörde) übernahm das Waisenhaus in seiner Funktion als Jugendfürsorge die Organisation der externen Versorgung für Kinder mit Basler Bürgerrecht. Sowohl die Kontrolle der vom Waisenhaus versorgten Kinder auf Pflegeplätzen auf dem Lande wie auch für die Platzierung der Kinder in externen Anstalten wie Erziehungsanstalten und Pflegefamilien lagen nun im Kompetenzbereich des Waisenhauses.29 26 Gaby Sutter, Von der Armenpflege zur Sozialhilfe. Methoden- und Funktionswandel der öffentlichen Fürsorge im 20. Jahrhundert, in: Mooser / Wenger, Armut und Fürsorge in Basel (wie Anm. 22) 217–238, hier 219. 27 Das Bürgerliche Fürsorgeamt fusionierte erst 1984 mit der Allgemeinen Sozialhilfe zum Fürsorgeamt der Stadt Basel; vgl. Sutter, Armenpflege (wie Anm. 26) 223. 28 Die Zuständigkeiten zwischen Armenamt und Waisenhaus waren bis 1930 nicht klar geregelt. Offenbar kam es häufig zu Kompetenzüberschneidungen, weshalb die Zentralkommission für Armenpflege und soziale Fürsorge 1919 die »Verschmelzung des Bürgerlichen Armenamtes mit der Bürgerlichen Waisenanstalt« forderte. Die Inspektion sprach sich vehement gegen dieses Postulat aus. Staatsarchiv Basel-Stadt (im Folgenden STaBS), F4, Verschmelzung des Bürgerlichen Armenamtes mit der Bürgerlichen Waisenanstalt, 1920. 29 Die externe Versorgung fiel ab 1927 in den Zuständigkeitsbereich des Waisenhauspfarrers. Vgl. BWH, C6, Amtsordnung Waisenhauspfarrer. Sowohl Pfarrer als auch der Leiter des Waisenhauses dienten als Amtsvormund. Vgl. BWH, C 6 Amtsordnungen Pfarrer und Waisenvater. Für die Bewilligung von Pflegeplätzen in der Stadt war wiederum das Sanitätsdepartement zuständig, das diese Aufgabe an den Bürgerlichen Frauenverein delegierte. Vgl. Verordnung betreffend das Halten von Schlaf- und Kostgängern, Zimmermietern und Pflegekindern vom 25.8.1906. Für das Pflegekinderwesen des Basler Frauenvereins siehe Miriam Häsler, In fremden Händen. Die Lebensumstände von Kost- und Pflegekindern in Basel vom Mittelalter bis heute, Basel 2008, 67–78.

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D ER U MBAU

DES

W AISENHAUSES 1929

»Und doch bleibt es die Schwäche auch der besten Anstalt, dass ihre Kinder der Familie oder doch des Zusammenlebens mit ihr entbehren müssen. Die Anstalt sollte dem Zögling die Familie ersetzen. Das Leben in ihr muss sich also dem Familienleben möglichst anpassen können.«30

Mit diesen Worten richtete sich der Präsident der Inspektion31 des Waisenhauses im Februar 1928 an den Bürgerrat der Bürgergemeinde Basel, um ein Kreditbegehren für eine umfassende Renovierung zu beantragen.32 Die Inspektion reagierte damit auf wiederholte Kritik seitens der Öffentlichkeit an der Anstaltserziehung. Insbesondere Carl Albert Loosli machte auf die Mängel in der schweizerischen Heimlandschaft aufmerksam und löste damit eine Welle der Heimkritik aus.33 Loosli, selbst Verding- und Heimkind, verurteilte in seinem 1924 erschienenen Buch Anstaltsleben. Betrachtungen und Gedanken eines ehemaligen Anstaltszöglings die Anstaltserziehung aufs Schärfste und plädierte für die Abschaffung der Anstalten.34 30 BWH, K33, Kreditbegehren der Inspektion an den Bürgerrat betr. Umbau, Februar 1928. 31 Die Inspektion des Waisenhauses bestand aus einer siebenköpfigen Kommission, die dem Bürgerrat unterstellt war. Sie hatte die Oberleitung der Anstalt inne. Vgl. Bernhard Frey, Festschrift zum 250-jährigen Jubiläum, Basel 1919, 19; vgl. auch: BWH, B1ac, Statuten 1931, 10 f. 32 Auch wenn Hugo Bein sich nach seiner Amtszeit für die Einführung des Familiensystems rühmte, zeigt dieses Kreditbegehren, das vier Monate vor der Wahl des Waisenvaters ausgestellt wurde, dass die Initiative für die Einführung des Familiensystems von der Inspektion des Waisenhauses ausging. Vgl. BWH, K33, Kreditbegehren der Inspektion, Februar 1928 (wie Anm. 30). 33 Hafner spricht von drei Heimkritikwellen in der Schweiz. Eine erste grundsätzliche Kritik an der Anstaltserziehung fand in aufklärerischen Kreisen im ausgehenden 18. Jahrhundert statt. Eine zweite Phase geht auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, ausgelöst von C.A. Loosli. Die Dritte Phase, die so genannte Heimkampagne Anfang der 1970er Jahre, führte zu einer Reform der Anstaltserziehung und des Pflegekinderwesens. Siehe dazu Urs Hafner, Heimkinder. Eine Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt, Basel 2011, 127; vgl. auch: Josef Beeking, Familien- und Anstaltserziehung in der Jugendfürsorge, Freiburg i.B. 1925, 67 f. 34 Vgl. Carl Albert Loosli, Anstaltsleben. Betrachtungen und Gedanken eines ehemaligen Anstaltszöglings, hg. von Fredi Lerch / Erwin Marti, Bern 2006, 247. Die Frage, ob das Waisenhaus abzuschaffen sei, wurde auch nach dem Umbau erörtert. So forderte 1933 ein Mitglied der Inspektion, das Waisenhaus abzuschaffen und durch Familienerziehung, das heißt Versorgung der Kinder bei Pflegefamilien, zu ersetzen. BWH, B1ab, Inspektionsprotokolle, 20.6.1933.



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Infolgedessen warfen die Medien, wissenschaftliche Experten wie auch Anstaltsleiter die Frage auf, »ob die Anstalten abzubauen und durch Familienpflege zu ersetzen«35 seien. Auch wenn sich einige wünschten, das Buch »wäre besser ungeschrieben geblieben«,36 führte Looslis Kritik zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Heimerziehungswesen – wenn auch zu keinen unmittelbaren Resultaten. Obwohl im 19. Jahrhundert im In- und Ausland eine Reihe privater, pietistisch orientierter Erziehungseinrichtungen entstanden waren, wie etwa das von Johann Hinrich Wichern (1808–1881) 1833 in Horn bei Hamburg gegründete Rauhe Haus, 37 die Schulen von Hofwil von Philipp Emanuel von Fellenberg (1771–1844)38 oder die süddeutschen Rettungshausbewegungen,39 wurde der Großteil der Erziehungseinrichtungen noch im Sinne eines auf Zucht- und Ordnung ausgerichteten kollektiven Anstaltssystems geführt.40 Auch das Waisenhaus Basel stand nach wie vor im Geist der Waisenerziehung des 18. Jahrhunderts, die fürsorgerisch orientiert und gewerblich oder frühindustriell organisiert war.41 So berichtet die Inspektion des Waisenhauses in Basel kurz vor dem Umbau: »Das älteste Anstaltssystem, das bis zum Beginn des 20. Jahrhundert fast alleinherrschend war, ist das sog. traditionelle (Korridor-)System der Grossanstalt, bei dem die Zöglinge in grösseren Sälen untergebracht sind [...], und ein einheitlicher Erziehungsbetrieb mit starker Betonung der Autorität und einer durch Hausgesetze fest geordneten Disziplin das Ganze beherrscht.«42

35 BWH, B1ab, Inspektionsprotokolle, 20.6.1933 (wie Anm. 34). 36 Anstalts-und Familienerziehung, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12.11.1924. 37 Vgl. Arnd Götzelmann, Die soziale Frage, in: Geschichte des Pietismus, Bd. 3., Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, hg. von Ulrich Gäbler, Göttingen 2000, 272–301, hier 284. 38 Hans-Ulrich Grunder, Fellenberg, Philipp Emanuel, in: HLS, http://www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D9019.php, 1.2.2016. 39 Die süddeutschen Rettungshausbewegungen setzten sich die Entfaltung der positiven Eigenschaften der Kinder unter einer christlich-religiösen Grundhaltung zum Ziel. Vgl. Gäbler, Pietismus (wie Anm. 37) 280. 40 In der Festschrift zum 250-jährigen Bestehen des Waisenhauses im Jahr 1919 wurde der Gedanke der Fürsorge zwar zentraler und auch der Stellenwert der Erziehung erhöhte sich, dennoch verstanden Einrichtungen wie das Basler Waisenhaus unter Erziehung hauptsächlich eine geschlechtsspezifische Erziehung zur Arbeit. Vgl. Frey, Festschrift (wie Anm. 31) insb. 21–23. 41 Vgl. Hafner, Heimkinder (wie Anm. 33) 35. 42 Hugo Bein, Zur Waisenhausfrage, hg. von der Inspektion des Waisenhauses, Basel 1933, 10.

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Abbildung 1: Grundriss der Jungengabteilung im zweiten Stock vor dem Umbau. Skizze, undatiert, ca. 1920.

  Der hier vorliegende Grundriss zeigt einen Schlafraum der Jungenabteilung vor dem Umbau im Jahr 1928. Die sechzig bis achtzig Jungen des Waisenhauses waren auf insgesamt vier Schlafzimmer, zwei Aufgabenzimmer, einen Aufenthaltsraum und ein Arbeitszimmer, die sogenannte Schaffstube, verteilt.43 Je nach Belegung schliefen bis zu zwanzig Kinder zusammen in einer Abteilung, die nachts von den Angestellten überwacht wurden.44 Quelle: Basler Waisenhausarchiv (BWH), K 33. Mit freundlicher Genehmigung von Uli Hammler, Direktor des Bürgerlichen Waisenhauses Basel.

Das Korridorsystem reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück, als mit den Zucht- und Waisenhäusern europaweit Einrichtungen entstanden, die durch Freiheitsentzug und Arbeitszwang die Erziehung zur »Arbeit, Religiosität und Sittlichkeit«45 gewährleisten sollten. Dieser sozialdisziplinierenden Zielsetzung ging eine Umwertung

43 Vgl. Hugo Bein, Die Neugestaltung des Basler Waisenhauses, in: National Zeitung vom 18.10.1929, 1. 44 Vgl. BWH, B1aa, Inspektionsprotokolle, 23.4.1929. 45 Maria Crespo, Verwalten und Erziehen. Die Entwicklung des Zürcher Waisenhauses 1637–1837 (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 68), Zürich 2001, 29.



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von Armut voraus.46 Armut war nicht mehr länger Gegenstand von Barmherzigkeit, Erfüllung des Heilplans oder gar christlicher Tugend, vielmehr herrschte ein generelles und moralisierendes Misstrauen gegenüber Armen vor. Armenfürsorge fiel zunehmend in den Kompetenzbereich der Obrigkeit und wurde Gegenstand der Sozialpolitik.47 Das Basler Waisenhaus verfolgte auch nach der Trennung von Kindern und Gefangenen eine solche Arbeitserziehung. Einen Bruch mit dieser Tradition fand in Basel erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts statt, als die Inspektion wie auch der Bürgerrat die Dringlichkeit einer Reorganisation erkannten. Mit dem Ruhestand des amtierenden Waisenvaters Bernhard Frey konnte eine institutionelle Neuausrichtung in die Wege geleitet werden. Die Inspektion beauftragte den im Juni 1928 als Waisenvater gewählten Hugo Bein,48 konkrete Vorschläge zur institutionellen und pädagogischen Reorganisation auszuarbeiten. Der weitgereiste Hugo Bein studierte in Zürich, Basel und Stuttgart Pädagogik, Psychologie, Literatur und Kunst und bildete sich am Konservatorium in Basel als Gesangslehrer aus. Die darauf folgende Ausbildung als Primarlehrer am Seminar Unterstraße in Zürich verschaffte ihm die Stelle als Privatlehrer, Vermögensverwalter und Sekretär eines Kindes einer einflussreichen Basler Familie. In den Jahren 1906–1909 war Bein als Erzieher im Waisenhaus angestellt, bevor er sich für die Stelle des Waisenvaters bewarb.49 Vor seinem Amtsantritt besuchte er innerhalb von zwei Monaten verschiedene Anstalten im In- und Ausland, um sich ein Bild über die Heimlandschaft im internatio46 Siehe hierfür Bronislaw Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, München / Zürich 1988, insb. 29 f. 47 Im Übergang zur Industriegesellschaft wandelte sich das Armenwesen, das vermehrt staatlich organisiert wurde. Dem Beispiel Großbritanniens folgend traten verschiedene europäische Länder der Massenverelendung mit einer restriktiven Armenpolitik entgegen. Diese verminderte einerseits die Ausgaben für die öffentliche Armenhilfe und verschärfte andererseits den Zwang zur Arbeit in den Arbeitserziehungsanstalten. Vgl. Gerhard Ritter, Der Sozialstaat, München 1991, 46. Für die Auswirkungen des Armengesetzes von 1834 vgl. Megan Doolittle, The Duty to Provide: Fathers, Families and the Workhouse in Englangd, 1880–1914, in: The Welfare State and the ›Deviant Poor‹ in Europe, 1870– 1933, hg. von Beate Althammer / Andreas Gestrich / Jens Gründler, New York 2014, 58– 77. 48 Der aus einer gutbürgerlichen Familie stammende Bein wurde wegen Störung eines Gottesdienstes in Luzern als Kind für kurze Zeit selbst im Waisenhaus versorgt. In seinen späteren Schriften bezog Bein sich häufig auf seine Zeit im Waisenhaus. Deshalb blieb er emotional stets sehr mit dem Waisenhaus verbunden. Während seiner Amtszeit publizierte er verschiedene Schriften über Erziehungsfragen und war Mitglied und zeitweilig auch Präsident des Schweizerischen Armenerziehervereins (ab 1932 Sverha; Schweizer Verein für Heimerziehung und Anstaltsleitung). 49 Vgl. BWH, B1aa, Inspektionsprotokolle, 5.6.1928.

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nalen Kontext zu verschaffen.50 Bein fand einen »Massenbetrieb [...] im Kleinen wie im Grossen«51 vor, wie er schilderte, und unterbreitete der Inspektion im Juni 1928 konkrete Vorschläge zur Einführung eines Familiensystems im Waisenhaus Basel, das sich an familienähnlichen Strukturen orientieren und auf die Individualität der Kinder achten sollte.52 So sollte für eine »richtige Entwicklung der Kinder«53 gesorgt werden, was wiederum nur durch einen umfassenden Umbau zu realisieren sei. Bein zeigte sich überzeugt, dass »die Moral mit der Anzahl der zu verfügbaren Räume wächst [H.i.O.]. Solange nun das Problem der ›Stuben‹ – solange diese Raumnot im Waisenhaus nicht gelöst [ist], solange k[ann] ein ethisches Ideal nur schwer verwirklicht werden«.54 Lag in der Anstaltserziehung des 19. Jahrhunderts der Fokus auf der Disziplinierung des Einzelnen zugunsten des Kollektivs, gewannen um 1900 Begriffe wie Freiraum und individuelle Persönlichkeitsentwicklung allmählich an Relevanz. Die Wurzeln hierfür mögen im Pietismus des 18. und 19. Jahrhunderts liegen, der einem aufklärerischen Menschenbild folgend von einer grundsätzlichen Verbesserungsfähigkeit des Menschen ausging. Pietisten wie Johann Friedrich Oberlin (1740–1826) waren überzeugt, dass die im 19. Jahrhundert virulente soziale Frage nur durch Erziehung zu lösen sei.55 Auch wenn die Vorstellung, durch Erziehung »eine neue und bessere Gesellschaft«56 zu schaffen, nicht einzig reformpädagogischen (individualistischen) Ansätzen geschuldet war, sondern sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt, gewann die »expansive Pädagogisierung des Gesellschaftslebens«57 im beginnenden 20. Jahrhundert im Zuge von umfassenden sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen wie Industrialisierung und Urbanisierung an Virulenz.58 Der Fokus auf das Individuum und seine Entwicklung nahm in der Erziehung einen immer wichtigeren Stellenwert ein. So betonte Bein etwa die Bedeutsamkeit der freien »Entfaltung der Individualität«59 der Kinder, um eine »vorbildliche Gemeinschafts50 Die Inspektion übernahm die Kosten der Studienreise. Vgl. BWH, B1aa, Inspektionsprotokolle, 3.7.1928. 51 BWH, K1a, Bericht von Hugo Bein zu den Renovationen 1929–1946, undatiert, 1. 52 Vgl. BWH, B1aa, Inspektionsprotokolle, 5.6.1928 (wie Anm. 49). Die Stelle trat Bein am 1.10.1928 an. Vgl. BWH, C 4, Wahl Waisenvater, 1928. 53 Bein, Zur Waisenhausfrage (wie Anm. 42) 8. 54 STaBS, L1, Bericht Hugo Bein, undatiert (ca. 1928). 55 Vgl. Gäbler, Pietismus (wie Anm. 37) 278. 56 Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim / München 2005, 23. 57 Heinz-Elmar Tenorth, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, Weinheim 2000, 204. 58 Vgl. Oelkers, Reformpädagogik (wie Anm. 56) 23. 59 Bein, Zur Waisenhausfrage (wie Anm. 42) 20.



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erziehung zu gewährleisten«.60 Neben der Fokussierung auf das Individuum prägten vermehrt Erkenntnisse aus der Psychiatrie und der sich ausdifferenzierenden Heilpädagogik die Anstaltserziehung. So bildete sich Bein vor seinem Amtsantritt beim Psychologen und Leiter des ersten Heilpädagogischen Seminars, Professor Heinrich Hanselmann (1885–1960),61 durch einen zweiwöchigen Kurs in Zürich weiter.62 Vor seinem Amtsantritt übte Bein scharfe Kritik am alten System. Neben den pädagogischen Mängeln machte er auch auf den ungenügenden Zustand der Einrichtung aufmerksam. So sei beispielsweise die Küche in einem derartig desolaten Zustand, dass den Kindern »abends [...] kaum etwas anderes als Suppe, dürre Feigen oder Kompott aufgestellt werden«63 könne. Nach der Wahl Beins zum Waisenvater betonte dieser wiederum, dass »das Bauliche [...] nicht die Hauptsache [sei], wohl aber die Erziehung«.64 Das ungenügende Betreuungsverhältnis zwischen Erzieherin beziehungsweise Erzieher und den Kindern erweise sich letztlich als gravierender als die veraltete und ungenügende Infrastruktur. Eine den Kindern gerechte Erziehung wäre bei einem Verhältnis von zwei Erziehern auf sechzig Kinder schlicht unmöglich. So seien auch die sich in jüngster Zeit häufenden Fälle von Misshandlungen nicht zu verhindern, wenn nicht das Betreuungsverhältnis entsprechend erhöht werden würde.65 Bein war überzeugt, dass eine zeitgemäße Erziehung nur mit einer umfassenden Reorganisation des Betriebs, das heißt der pädagogischen wie baulichen Strukturen, gelingen könne. Die Inspektion zeigte sich einsichtig und begrüßte »ein überwachte[s] Familienleben[]«66 und stimmte den Vorschlägen von Hugo Bein vollumfänglich zu.

60 Bein, Zur Waisenhausfrage (wie Anm. 42), 20. 61 Heinrich Hanselmann, in: HLS http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9029.php, 20.1. 2016. 62 BWH, B1aa, Inspektionsprotokolle, 6.11.1928. 63 Ebd. 64 BWH, B1aa, Inspektionsprotokolle, 6.11.1928 (wie Anm. 62). 65 Vgl. ebd. Basel ist hier kein Einzelfall. Körperliche Strafen, unzulängliche sanitäre Einrichtungen sowie Überforderung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren zu jenem Zeitpunkt in den Waisenhäusern, aber auch in den Erziehungsanstalten eher die Regel als die Ausnahme. Siehe hierzu die Beiträge von Bischoff, Guerrini und Eckhardt in diesem Band. 66 Ebd.

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Abbildung 2: Provisorischer Schlafsaal während des Umbaus der Jungenabteilung in der Waisenhauskirche. Fotografie, undatiert, ca. 1929.

  Quelle: Waisenhausarchiv, BWH, ohne Signatur. Mit freundlicher Genehmigung von Uli Hammler, Direktor des Bürgerlichen Waisenhauses Basel.



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Abbildung 3: Grundriss einer Jungenabteilung im zweiten Stock des Gebäudes. Skizze, undatiert, ca. 1931.

  Die Räumlichkeiten einer Familienwohnung bestanden aus einem Zimmer für das Erziehungspersonal, einem Wohnzimmer, einem Bastelraum, einem Waschraum (die Duschen wurden in den ersten Stock verlegt) sowie einem Arbeitszimmer. Quelle: BWH, K 33. Mit freundlicher Genehmigung von Uli Hammler, Direktor des Bürgerlichen Waisenhauses Basel.

Am 12. Oktober 1929 fand die Eröffnungsfeier für die umgebaute Knabenabteilung statt.67 Die übrigen Sanierungsarbeiten nahmen 1930 ihr Ende. Die Jungen wurden auf drei sogenannte Knabenfamilien verteilt, die wohlklingende Namen wie Familie Musika, Familie Kartause und Familie Exzelsior erhielten.68 Die Renovierung der Mädchenabteilung erfolgte ein Jahr später.69 Anstelle der Großgruppen waren die Kinder und Jugendlichen fortan in verschiedene, jedoch altersgetrennte Kleingruppen eingeteilt. 1945 stellte Bein rückblickend fest:

67 BWH, B1aa, Inspektionsprotokolle, 24.9.1929. 68 Bein, Neugestaltung des Basler Waisenhauses (wie Anm. 43) 1. 69 Die Gruppenzimmer der Mädchen konnten durch Verlegung der Krankenstation und der Wohnung des Waisenvaters realisiert werden. Deswegen waren keine umfassenden Umbauten nötig. So konnten die Räumlichkeiten in drei Monaten fertig gestellt werden. Vgl. BWH, K1a, Bericht von Hugo Bein zu den Renovationen 1929–1946, undatiert, 12.

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»Wir haben eigentlich sieben kleine Anstalten; sieben Familien oder Gruppen sind als Glieder eines Ganzen eng miteinander verbunden; die Vorteile eines kleinen Hauses vereinigen sich hier mit den eigenartigen Vorteilen der ganzen Anlage.«70

D AS

HIERARCHISCH ORGANISIERTE

F AMILIENSYSTEM

Das Familiensystem intendierte, »aus bunter schillernder Rasse, gute tüchtige Menschen zu erziehen«.71 Dies sollte durch die »Angleichung der Erziehung an [...] die Familienerziehung erreicht werden.«72 Der Begriff der Familie, wie er hier verwendet wird, ist nicht mit heutigen Vorstellungen von Familie gleichzusetzen. Im beginnenden 20. Jahrhundert galt die Familie als wichtigster Ort für die »psychische Reproduktion«.73 Durch die Vermittlung von bürgerlichen Normen und Wertvorstellungen sollte die Familie das Funktionieren des Staates im privaten Bereich sichern. Jene, die dies nicht zu leisten vermochten, sahen sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mit zunehmenden staatlichen Zugriffen konfrontiert. Die sozialstaatlichen Bemühungen setzten bei der Familie an, um die sozialen Probleme zu mildern, galt sie doch als Garant für die Beständigkeit der bürgerlichen Ordnung. Folgendes Zitat von Hugo Bein aus dem Jahre 1956 belegt dies eindrücklich: »Das Schlagwort der geistigen Landesverteidigung erscheint uns [...] nicht als Frage der Volksbelehrung, sondern der Volkserziehung. [...] So haben wir [...] dem Kinde immer wieder mit allen Mitteln das Leben der Familie zu zeigen.«74

Die Familienerziehung bezweckte die Anpassung der Kinder und Jugendlichen an ein gesellschaftlich ausgehandeltes Normalitätsparadigma. Die Machtstrukturen innerhalb dieses Systems waren indes klar verteilt und räumlich implementiert worden. Einem bürgerlich-patriarchalen Familienbild folgend stand der Waisenvater zusammen mit seiner Ehefrau als oberste Respekts- und Autoritätsperson an der Spitze des hierarchischen Systems. Dies zeigt bereits die Referenz auf das Wort Waisenvater, das sowohl als Fremd- wie auch als Selbstbezeichnung diente. Neben den Kindern nannten auch die zuständigen Behördenmitglieder, wie die Inspektion oder der Bürgerrat, den Heimleiter Waisenvater. Selbst von der Presse wurde Hugo Bein Waisenvater Bein genannt. 70

Vgl. Bein, Zur Waisenhausfrage (wie Anm. 42) 20.

71

Vgl. Bein, Neugestaltung des Basler Waisenhauses (wie Anm. 53) 1.

72

Vgl. ebd.

73 Vgl. David Gugerli, Das bürgerliche Familienbild im sozialen Wandel, in: Familien in der Schweiz, hg. von Thomas Fleiner-Gerster et al., Freiburg 1991, 59–74, hier 61. 74 Hugo Bein, Rückschau, Basel 1956, 47.



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Abbildung 4: Schlafzimmer der Familie Jubilate nach dem Umbau. Drei Schlafzimmer (mit je drei Betten) ersetzten die ehemaligen Schlafsäle für bis zu zwanzig Kinder. Fotografie, undatiert, ca. 1933.

  Quelle: BWH, A15a. Mit freundlicher Genehmigung von Uli Hammler, Direktor des Bürgerlichen Waisenhauses Basel.

Neben seinen Aufgaben im Zusammenhang mit der Leitung und Führung des Waisenhauses verstand Bein sich als »Führer der Kinder«,75 obwohl für die Erziehung die Erzieherinnen und Erzieher verantwortlich waren. Diese lebten und arbeiteten in der Gruppe, nahmen jedoch nicht die Stelle von Mutter und Vater ein, sondern bekamen die Rolle anderer, hierarchisch über den Kindern stehender Familienangehöriger zugesprochen. Dies wird unter anderem aus der Anrede der Erzieherinnen als Danti (Schweizerdeutsch für Tante) ersichtlich.76 Das Verhältnis zwischen den Kindern und den Erziehrinnen respektive Erzieher war dessen ungeachtet ein autoritäres. Das Leben in der Gruppe folgte einer bestimmten »Rangordnung«,77 in der das Erziehungspersonal zugleich als Vorbild wie auch als Respektsperson diente. Je höher die Angestellten in der Gruppenhierarchie standen, desto günstiger wirkte 75 Hugo Bein, Grundsätzliches in der Erziehung, Basel 1944, 3. 76 Vgl. Miriam Baumeister, Leben und Erleben im Bürgerlichen Waisenhaus Basel im 20. Jahrhundert [MA.] Basel 2015. 77 BWH, D2b, Verwaltungsbericht des Bürgerrats an den Weiteren Bürgerrat der Bürgergemeinde Basel, 1939, 103.

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sich das auf die Gruppe aus.78 In dieser (steilen) Organisationsstruktur liegt ein wesentlicher Unterschied zu anderen reformpädagogisch orientierten Erziehungseinrichtungen, in denen die Erzieherinnen respektive der Erzieher als Mutter und Vater gemeinsam eine Gruppe leiteten. In Basel wachte Bein, zusammen mit seiner Frau, als oberste Instanz über die Familien, die alters- und geschlechtergetrennt räumlich organsiert waren.79 Eine Durchmischung der Geschlechter war ausdrücklich nicht erwünscht und der Kontakt zwischen den Geschlechtern wurde auf ein Minimum reduziert. Einzig zu den einzelnen Mahlzeiten kamen die Kinder zusammen, die bis 1940 gemeinsam im Großen Kartäusersaal eingenommen wurden. Danach wurde in der Regel innerhalb der Familien gegessen, was den Kontakt zwischen Mädchen und Jungen auf ein Minimum reduzierte. Die Koedukation, wie sie etwa Paul Geheeb (1870–1961) in der Odenwaldschule einführte, lehnte Bein entschieden ab.80 Bein fungierte nicht nur als Autoritätsperson für die Kinder, auch bei den Behördenmitgliedern genoss er ein hohes Ansehen. Dies zeigt seine große Einflussnahme auf die Beschlussfassung der Inspektion, die bei organisatorischen Fragen oder bei der Personalrekrutierung weitgehend Beins Empfehlungen folgte. Bei Kritik an Beins Führungsstil oder Erziehungsmethoden stand sie weitgehend hinter ihm und spielte Missbrauchsvorwürfe herunter oder bezichtigte gar die Petenten der Verleumdung.81 Diese Einflussnahme ist insbesondere deshalb problematisch, weil die Inspektion die Kontrollinstanz des Heimleiters war, die so faktisch ausgehebelt wurde. Infolgedessen verfügte Bein über eine sehr starke Machtposition, deren Willkür die Kinder und Jugendlichen ausgesetzt waren.

78 BWH, D2b, Verwaltungsbericht des Bürgerrats (wie Anm. 77) 103. 79 Das Basler Waisenhaus verfügte zudem über keine heiminterne Schule. Die Kinder und Jugendlichen besuchten die öffentliche Volksschule. 80 Vgl. Bein, Zur Waisenhausfrage (wie Anm. 42) 11. Die Koedukation wurde erst 1951 eingeführt. 81 Im November 1928 wandte sich ein Vater wegen Misshandlung seiner Kinder an die Inspektion und forderte die Zustände im Waisenhaus gründlich zu überprüfen. Die Inspektion erwiderte lediglich: »Dass die Zöglinge der Waisenanstalt von den Lehrern bei jeder Kleinigkeit gezüchtigt und wenn möglich blutig geschlagen werden«, sei eine »ungeheure Behauptung«, »die auch für die Kinder S. nicht zutreffe, obschon dieselben zu den schwierigsten Zöglingen gehören und von den Grosseltern aufgehetzt werden«. BWH, B1aa, Inspektionsprotokoll, 6.11.1928 (wie Anm. 62). Bein erhielt ebenfalls Rückendeckung von der Inspektion, als gegen ihn eine Strafuntersuchung wegen unzüchtigen Handlungen mit Kindern eingeleitet wurde.



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Abbildung 5: Gruppenraum der Familie Jubilate nach dem Umbau. Die Familienwohnungen sollten den Kindern eine geborgene Atmosphäre vermitteln. So wurden die Wände farbig gestrichen, mit Bildern geschmückt und Pflanzen aufgestellt. Fotografie, undatiert, ca. 1933.

Quelle: BWH; A15a. Mit freundlicher Genehmigung von Uli Hammler, Direktor des Bürgerlichen Waisenhauses Basel.

Wie Bauriedl betont, sind Diskurse an konkrete Orte gebunden. Die Möglichkeiten dieser Orte sind wiederum abhängig von den strategischen Optionen der lokalen Diskursivierung und den raumspezifischen Deutungszusammenhängen.82 Im Waisenhaus führten Diskurse über Familie, Anstaltserziehung, Individuum und Bürgerlichkeit zur Implementierung des Familiensystems. Dieses erhielt jedoch erst durch die Praxis seine Relevanz, indem die räumliche Anordnung, wie sie durch den großen Umbau 1929 realisiert wurde, neue Sinn- und Bedeutungszusammenhänge stiftete. Diese Zusammenhänge zeigten sich vor allem in einer straffen Hierarchisierung, an deren Spitze der Waisenvater stand, und einer strikten Trennung zwischen den Geschlechtern sowie zwischen den Altersstufen. Die pädagogische Nutzung dieses Machtraumes Heim führte zu einer Disziplinierung der Individuen, die auf eine spezifische Subjektivierung hinzielte.

82 Sybille Bauriedl, Räume lesen lernen: Methoden zur Raumanalyse in der Diskursforschung, in: Historical Social Research 33/1 (2008) 278-312, hier 299.

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S UBJEKTIVIERUNGS IM H EIMALLTAG

UND

N ORMALISIERUNGSSTRATEGIEN

Die Zugriffe auf das Individuum erfolgten im Waisenhaus in erster Linie über ein Wechselspiel von Räumlichkeiten, Personen und Institutionen, die zusammen einen Möglichkeitsraum für Handlungsoptionen und -restriktionen bildeten, innerhalb derer Machtbeziehungen operieren konnten.83 Der Machtraum Heim als, mit Foucault gesprochen, »Abweichungsheterotopie«,84 als anderer Ort für Individuen, die sich im Verhältnis zur Norm abweichend verhalten, zeichnet sich durch ein asymmetrisches Machtverhältnis zwischen Heimleitung, Erzieherinnen und Erzieher sowie Zöglingen aus. Mit einem »System von Öffnungen und Schließungen«85 verfolgte es funktionale Absichten. So zielten die sowohl inkludierend als auch exkludierend wirkenden Individualisierungspraktiken darauf ab, »nützliche und gehorsame Individuen«86 hervorzubringen, die gesellschaftlich ausgehandelten Normalitätskriterien entsprachen.87 Durch Praktiken der Subjektivierung oder, mit den Worten von Ulrich Bröckling ausgedrückt, durch die »Programme des Regierens und Sich-Selbst Regierens«88 sollte die Sicherung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen erreicht werden. Spätestens seit dem Umbau bezweckte die im Heim praktizierte Pädagogik die Absicht, eine spezifische Persönlichkeitsbildung der Kinder durch das Referenzobjekt der Erziehung zu erreichen. Davon ausgehend, dass der »Charakter eines Menschen [...] wesentlich durch seine ,Kinderstube‹ bestimmt«89 werde, folgte das Familiensystem zweckrationalen Absichten, die sowohl die Disziplinierung des Einzelnen als auch die Ermächtigung zur Selbstregierung umfasste.90 Die Waisenhauspforte schmückte die Devise: »Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Va83 Vgl. Michel Foucault, Analytik der Macht, Frankfurt am Main 2005, 254. 84 Foucault, Andere Räume (wie Anm. 1) 40. 85 Ebd., 44. 86 Thomas Lemke, Michel Foucault und die Spuren der Macht (Nachwort), in: Foucault, Analytik der Macht (wie Anm. 83) 317–348, hier 328. 87 Durch die ihnen immanente Produktivität führen solche Disziplinartechnologien zu neuen Wissensformen und Handlungsweisen. Deswegen wird Macht nicht nur als repressiv, sondern auch als produktiv, dezentral sowie relational konzeptualisiert. 88 Bröckling, Das unternehmerische Selbst (wie Anm. 6) 36. 89 BWH, D2b, Verwaltungsbericht des Bürgerrats an den Weiteren Bürgerrat der Bürgergemeinde Basel, 1943, 79. 90 Da solche Aneignungsprozesse stets durch ein gewisses Maß an Kontingenz bzw. durch Widerstand (ob explizit oder implizit) gekennzeichnet sind, existiert eine Diskrepanz zwischen dem, was solche Taktiken zu leisten versprechen, und dem, was sie faktisch bewirken können. Vgl. Bröckling, Das unternehmerische Selbst (wie Anm. 6) 40.



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terland«. Sie steht sinnbildlich für die normative Zielsetzung, die Kinder zu »rechtschaffenen und tüchtigen Gliedern des Gemeinwesens«91 zu erziehen, wie es in den Statuten des Waisenhauses heißt. Zentrales Erziehungsziel bestand in der »Entwicklung der Eigenkräfte«,92 wie Bein wiederum 1956 in der Schrift Rückschau betont. Die Kinder sollten auf ein Leben nach der Anstalt vorbereitet werden, und zwar durch die »Rücksichtnahme auf die Individualität des Kindes, [die] Ersetzung des väterlichen und mütterlichen Verhältnisses, durch den Geist der Freundschaft zwischen Lehrer und Zögling, zwischen Erzieherin und Mädchen«.93 Werte, die vermittelt werden sollten, waren folgende: »Reinlichkeit, Ordnung, Pünktlichkeit, [...] Gehorsam und Selbstzucht«94 sowie »Tapferkeit und Wahrhaftigkeit«.95 »Charakterliche Tüchtigkeit«,96 so meinte Bein, sei durch Erziehung zur Demut und Pflichterfüllung zu erreichen. Als Wesentlichstes aller Erziehung nannte Bein: »Licht, Liebe, Leben«.97 Das Kind sollte selbst denken lernen, dennoch galt es, den »bewusste[n] Ungehorsam zu strafen, wenn er wirklich bewusst ist. [Denn] [d]as ist die einzige Sünde, die es für Kinder gibt.«98 Körperliche Strafen waren dementsprechend durchaus toleriert, wenn auch nicht als primäres Erziehungsmittel.99 Nicht in erster Linie durch Bestrafung, sondern mithilfe von Lob, Ehrfurcht und Vorbild sollte das Aufwachsen in gesellschaftlich akzeptierbare Bahnen gelenkt werden. Daneben nahm die religiöse (protestantische) Ausbildung einen hohen Stellenwert ein, die durch den hauseigenen Pfarrer sichergestellt und vom Waisenvater gestützt wurde, wie das Festhalten von Hugo Bein an der konfessionellen Erziehung zeigt, als dieser vom Regierungsrat 1932 wegen seiner »Morallehre religiöser Prägung«100 heftig kritisierte wurde. Im Sinne einer ganzheitlichen humanistischen Bildung genossen die Kinder eine musikalische Ausbildung. Ferner wurde großes Gewicht auf sportliche Aktivitäten und eine sinnvolle Freizeitgestaltung gelegt.101 Im Mittelpunkt der Erziehung 91 BWH, B1ac, Statuten (wie Anm. 31). 92 Bein, Rückschau (wie Anm. 74) 17. 93 Bein, Zur Waisenhausfrage (wie Anm. 42) 20. 94 BWH, D2b, Verwaltungsbericht des Bürgerrats an den Weiteren Bürgerrat der Bürgergemeinde Basel, 1929, 114. 95 Vgl. Bein, Rückschau (wie Anm. 74) 48. 96 Bein, Jugendfürsorge (wie Anm. 18) 14. 97 Bein, Jugendfürsorge (wie Anm. 18) 15. 98 Bein, Grundsätzliches in der Erziehung (wie Anm. 75) 11. 99 Vgl. Hugo Bein, Über Erziehung und Disziplin, Basel 1944, 8. 100 STaBS, L1, Brief an den Regierungsrat, 30.6.1932. 101 »Turnen – Wandern – Sport und Spiel sind der Jugend beiderlei Geschlechts, zur Stärkung der körperlichen, ja selbst der seelischen Gesundheit eine Notwendigkeit geworden.« Bein, Neugestaltung des Basler Waisenhauses (wie Anm. 53) 1.

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stand jedoch das Erlernen handwerklicher Fertigkeiten, wie folgendes Zitat von Hugo Bein aus dem Jahre 1929 verdeutlicht: »Wir halten uns in dieser Hinsicht an einen bewährten Grundsatz Pestalozzis: Wir gewöhnen unsere Zöglinge mehr an das Tun als ans Wissen«.102 Mit Erziehung zur Arbeit sollten »Kräfte und Gesinnungen [...] geweckt werden, um den harten Anforderungen des Leben und nüchternen Alltags gewachsen zu sein.«103 Die Kinder und Jugendlichen waren für die Reinigung der Räumlichkeiten zuständig und mussten Arbeiten in Garten, Haus und Hof verrichteten. Jeweils eine Gruppe übernahm im abwechselnden Turnus den Küchendienst für das gesamte Waisenhaus.104 Die Jungen erlernten den »Segen der Arbeit«105 in den neu errichteten Werkstätten sowie in der Garten- und Hofarbeit kennen. Den Unterhalt und die Reinigung der Räumlichkeiten oblag den Mädchen. Ferner waren diese für das Nähen, Waschen und teilweise auch für die Kleinkinderpflege zuständig.106 Der Zugang zur Bildung fand im Rahmen askriptiver sozialer Schichtung statt. Die Grenzen, mit denen sich die Kinder konfrontiert sahen, bestanden nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern waren ebenso an bestimmte Wissensdispositive gebunden. So konnten Kinder nur in Ausnahmefällen das Gymnasium besuchen, auch wenn sie die schulischen Leistungen erbrachten. Aus Interviews ist bekannt, dass Bein sich explizit gegen eine gymnasiale Laufbahn von Waisenhauskindern aussprach.107 Der Jahresbericht von 1945 zeigt, dass von insgesamt 129 Kindern bloß zwei (1,5 Prozent) das Gymnasium besuchten.108 102 BWH, D2b, Verwaltungsbericht (wie Anm. 94) 113. 103 Bein, Neugestaltung des Basler Waisenhauses (wie Anm. 53) 1. 104 Bein, Rückschau (wie Anm. 74) 14. 105 BWH; D2b, Verwaltungsbericht (wie Anm. 94) 113. 106 Ebd. 107 Baumeister, Leben und Erleben (wie Anm. 76) 45. 108 Diese Quote erhöhte sich bis 1982 nicht wesentlich. Stichproben aus den Jahren 1952, 1962 und 1982 ergaben für das Jahr 1952 eine Gymnasialquote von 3,7 %, für das Jahr 1961 eine Quote von 1,1 %, im Jahr 1972 eine Quote von 2,5 % und für das Jahr 1982 eine Quote von 3,6 %. Vgl. BWH, D2b, Verwaltungsbericht des Bürgerrats an den Weiteren Bürgerrat der Bürgergemeinde Basel. Historisch betrachtet lag damit die Quote nur geringfügig tiefer als im schweizerischen Durchschnitt. Diese lag in den 1930er Jahren noch bei 1,5 %, erhöhte sich bis 1961 auf 3,8 bis sie 1982 schließlich 10,6 % erreichte. Die tiefe Maturitätsquote im Waisenhaus lässt sich somit eher auf die soziale Schichtung zurückführen als auf die Tatsache, dass es sich um fremdplatzierte Kinder handelte. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb der Besuch des Gymnasiums den unteren Schichten oft verwehrt. Die Berufswahl fand innerhalb der entsprechenden sozialen Schicht statt. Vgl. Wirtschafts- und Sozialgeschichte online, http://www.eso.uzh.ch/ modul2/WissMed.html?lesson.section=unit§ion.label=WissMed3#, 16.1.2016.



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Die Erzieherinnen und Erzieher, die Waiseneltern, aber auch weitere Angestellte, wie die Gärtner oder die Näherinnen, verliehen dem Familiensystem seine Autorität. Die Kinder entwickelten eine sehr enge emotionale Bindung zu den einzelnen Bezugspersonen, wie dies der häufige Briefwechsel zwischen ehemaligen Heimkindern und dem Waisenvater sowie deren Besuche im Waisenhaus zeigen.109 Die Orientierung an ein Familienleben und der damit einhergehende Aufbau von emotionalen Bindungen hatte seine Kehrseite. So ergaben sich insbesondere Probleme von Nähe und Distanz. Die Kinder sahen sich mit Verlustängsten konfrontiert, waren aber auch der Willkür des Erziehungspersonals ausgesetzt, welche die Kinder oft ungleich behandelten.110 Die durch das Familiensystem ausgelösten Subjektivierungsprozesse waren auf einen längeren Verbleib im Waisenhaus ausgerichtet, konnte die Verinnerlichung von Verhaltensweisen, Werthaltungen und die Durchsetzung eines Normalitätsparadigmas doch nur innerhalb eines längeren Zeitraums erfolgen. Als sich die Aufenthaltsdauer der Kinder im Waisenhaus in den 1940er Jahren vermehrt verkürzte, weil die Kinder bei Wiederverheiratung der Eltern oder nach der Rückerlangung der elterlichen Gewalt vermehrt den Eltern zugesprochen wurden, verurteilte Bein dies aufs Schärfste. Interessanterweise tauchen im gleichen Jahr im Jahresbericht eugenische Argumentationsweisen auf. So verwies Bein auf das »bittere[...] Erbgut« der Kinder,111 weshalb diese auf keinen Fall voreilig in die Familie zu entlassen seien. Nicht nur die Aufenthaltsdauer der Kinder, auch die des Personals war grundlegend für die Umsetzung des pädagogischen Konzepts. Unter Bein wohnte das Erziehungspersonal in der Regel noch gemeinsam mit seinen Gruppen. Die meisten Angestellten blieben sehr lange für das Waisenhaus tätig, oft bis zum Ruhestand. Die Professionalisierung der Heimerzieherausbildung und -arbeit setzte erst nach Beins Amtsperiode ein. Die Nähe des Familienprinzips zur deutschen Reformpädagogik mit ihren Idealen einer neuen Erziehung und dem Fokus auf das Kind und seine Entwicklung ist augenscheinlich. Tatsächlich nahm Bein in seinen Schriften auch Bezug auf verschiedene deutsche Reformpädagogen, wie etwa auf Hermann Lietz (1868–1919), den Begründer der deutschen Landerziehungsheime. Entgegen anderen reformpädagogischen Einrichtungen bildete im Waisenhaus Basel jedoch nicht jede Gruppe eine kleine Anstalt für sich mit Vater und Mutter an deren Spitze. Die Familien fügten sich im Basler Waisenhaus vielmehr in die Organisation der Gesamtanlage ein,

109 Die Hauszeitung des Waisenhauses Der Kartäuserbote erschien zwischen 1932 und 1946 dreimal jährlich. In der Zeitschrift ist eine Auswahl der Korrespondenz zwischen dem Heimleiter und den ehemaligen Heimkindern abgedruckt. 110 Baumeister, Leben und Erleben (wie Anm. 76) 44 f. 111 BWH, D2b, Verwaltungsbericht des Bürgerrats an den Weiteren Bürgerrat der Bürgergemeinde Basel 1942, 85.

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über die Bein mit Adleraugen wachte.112 Wie in anderen reformpädagogischen Ansätzen war die Erziehung tief religiös und hoch emotionalisiert. Der Fokus auf Liebe, Nähe und Geborgenheit führte zu ähnlichen Problematiken wie in reformpädagogischen Einrichtungen. Die von Jürgen Oelkers thematisierte Problematik von Nähe und Distanz, die mit der Ausübung von sexueller Gewalt und Missbrauch verbunden ist und im Widerspruch »zur Rhetorik der neuen und besseren Erziehung«113 der Reformpädagogik steht, lässt sich auch in Beins Pädagogik feststellen. Neben der Ungleichbehandlung der Kinder und Jugendlichen gab es auch hier Fälle, wo die notwendige Distanz zwischen Erziehern, Heimleiter und Kindern eindeutig überschritten wurde.114

112 Bein sprach von der Familie als »Zelle der Gesamtanstalt«. Bein, Zur Waisenhausfrage (wie Anm. 42) 20. Ferner besuchten die Kinder die öffentliche Volksschule und nicht wie in anderen reformpädagogischen Einrichtungen eine heiminterne Schule. Dies dürfte wohl eher finanziell als pädagogisch begründet gewesen sein. 113 Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim / Basel 2011, 8. 114 So ein Vorfall aus dem Jahr 1932, als Bein von einer ehemaligen Heimbewohnerin des versuchten sexuellen Missbrauches bezichtigt wurde und im Rahmen der eingeleiteten Untersuchungen weitere Mädchen vom Austausch körperlicher Intimitäten berichteten.Vgl. STaBS, L1, strafrechtliche Untersuchung betr. Hugo Bein, 29.1.1932. Die eingesetzte Disziplinarkommission hielt das Opfer für unglaubwürdig, da »ihre durch eine ganze Reihe von ernsthaften Zeugnissen bestätigte Lügenhaftigkeit und der ihr innewohnende Hang zur Phantasterei und phantastischer Uebertreibung der wahren Begebenheiten, ferner die Tatsache, dass sie nach ihren verschiedenen Anfällen entweder als nicht gesund oder als nicht ehrlich betrachtet werden muss, sodann ihre starke erotische Veranlagung, die zusammen mit ihrer Phantasie und vielleicht auch zusammen mit Aufhetzereien von Angestellten zu Erfindung und Einbildung unwahrer Begebenheiten führen konnte.« STaBS, L1, Disziplinarverfahren gegen Hugo Bein, 15.12.1932. Bein stritt den Missbrauchsvorwurf vehement ab, gab aber zu, verschiedene Mädchen in »väterlicher Absicht verküsst« zu haben und bei einem Mädchen »möglicherweise an die Brust gekommen [zu] sei[n]«. Ebd. »Wegen mangelnden Beweises des Tatbestandes« ließ die Staatsanwaltschaft den Vorwurf gegen Bein fallen und stellte das Verfahren ein. Die Verküssung mehrerer minderjährigen Mädchen schien Beins Karriere nicht geschadet zu haben, er blieb bis ins Jahr 1945 als Waisenvater im Waisenhaus – bis er mit Verdank seinen Ruhestand antreten durfte. STaBS, L1, strafrechtliche Untersuchung betr. Hugo Bein, 29.1.1932.



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F AZIT Der im Jahre 1929 durchgeführte, rund drei Jahre dauernde Umbau des Bürgerlichen Waisenhauses Basel legte den Grundstein für die Einführung des Familiensystems. Dieses intendierte durch den Aufbau familienähnlicher Strukturen, die Anpassung der Kinder und Jugendlichen an herrschende Normalitätskriterien zu gewährleisten. Die sich verändernden topografischen Bedingungen ermöglichten die Entstehung komplexer Verbindungen zwischen Techniken der Individualisierung und totalisierenden Verfahren, die auf eine Persönlichkeitsveränderung der Kinder abzielte. Das Familiensystem stellt dabei ein sehr ambivalentes und auch widersprüchliches Konzept dar, da es sich zum einen auf das Individuum und seine Entwicklung zu konzentrieren versuchte, zum anderen aber normative, normierende, hierarchisierende und homogenisierende Effekte in der Heimerziehung implementierte. Das Waisenhaus, das unter Bein nicht mehr primär als Ort für elternlose Kinder diente, sondern vor allem Kinder aus vermeintlich zerrütteten oder verkommenen Verhältnissen aufnahm, bezweckte durch die Heimerziehung, die Kinder an bürgerlich ausgehandelte Normen- und Wertvorstellung anzupassen und sie zu tüchtigen Menschen zu erziehen. Dementsprechend vermittelte das Erziehungspersonal den Kindern bürgerlich-patriarchale Werte wie Tüchtigkeit, Ordnung, Beständigkeit und Tapferkeit, die es zu verinnerlichen galt. Durch die Heimerziehung sollten sich die Kinder zu vernunftgeleiteten Menschen entwickeln. Das Familiensystem, das der Individualität der Kinder einen hohen Stellenwert beimessen wollte, setzte diese paradoxerweise gleichzeitig Disziplinierungsstrategien aus. Viel mehr noch: Die Kinder und Jugendlichen waren einem ausgeklügelten System von Belohnung und Strafe ausgesetzt, das nicht nur körperliche Züchtigung umfasste, sondern auch mit psychischer Gewalt einherging. Die Kinder bauten vielfach eine starke emotionale Bindung zu den Betreuungspersonen auf, was sie auch Jahre nach ihrem Heimaufenthalt mit dem Waisenhaus verbunden bleiben ließ. Die Kehrseite einer solchen Familienerziehung zeigt sich insbesondere anhand des problematischen Umgangs mit Nähe und Distanz, wie es die Missbrauchsvorwürfe gegen Bein dokumentieren. Im Heim etablierte sich dadurch ein »machtvoll aufgeladenes Beziehungsgefüge«,115 das unter der Berücksichtigung der Akteurinnen und Akteure in ihrer Situationsgebundenheit, Körperlichkeit und Strukturiertheit offenlegt, wie Bedingungen und Voraussetzungen für gesellschaftliche Partizipation festgelegt und ausgehandelt wurden.

115 Vgl. Gallati, Entmündigt (wie Anm. 21) 13.

Ein Raum der Ausgrenzung Soziale Kontrolle zwischen Mauern und als institutionelle Praxis im Jugendheim Fuldatal in den Jahren 1953–1973 L INA E DITH E CKHARDT

In den Blick genommen wird auf den folgenden Seiten ein Raum der Ausgrenzung, der über verschiedene Gesellschaftssysteme hinweg an einem Ort bestand. Dieser Ort ist eine umfriedete mittelalterliche Klosteranlage in der Nähe von Kassel, die seit mehr als 900 Jahren besteht. Dort wurden in einem Zeitraum von 100 Jahren kontinuierlich Personengruppen untergebracht, die auf Grundlage der jeweils bestehenden normativen gesellschaftlichen Vorstellungen nicht erwünscht waren, die weggesperrt werden sollten oder deren (Arbeits-)Verhalten gebessert werden sollte.1 Der Beitrag widmet sich einem Ausschnitt der Geschichte der geschlossenen Unterbringung an diesem Ort und damit einem Typus totaler Institution, der für zwanzig Jahre dort existierte, einem Heim der Fürsorgeerziehung ausgerichtet auf Mädchen und junge Frauen.2 Die Arbeiten von Foucault3 und Goffman4 zum Ge-

1

Vgl. Reinhardt Hootz, Kloster Breitenau, Marburg 1952; vgl. Gunnar Richter (Hg.), Breitenau. Zur Geschichte eines nationalsozialistischen Konzentrations- und Arbeitserziehungs-lagers, Kassel 1993, 11.

2

Die Heimerziehungspraxis der 1950er und 1960er Jahre ist seit einigen Jahren in der Diskussion. Im Mittelpunkt steht dabei das Unrecht und erlittene Leid, das den damals untergebrachten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen widerfahren ist. Im Zuge der Aufarbeitungsbemühung der eigenen Institutionengeschichte wurde vom Landeswohlfahrtsverband Hessen, der als Kommunalverband für das gesamte Landesgebiet eine Vielzahl sozialer Einrichtungen verantwortete, ein Forschungsprojekt ausgeschrieben, das an der Universität Kassel umgesetzt wurde. Mein Promotionsvorhaben hat sich aus diesem interdisziplinären Forschungs- und Ausstellungsprojekt mit dem Titel Heimerziehung 1953 bis 1973 in Einrichtungen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen entwickelt.

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fängnis und zu totalen Institutionen helfen zu verstehen, wie ein geschlossenes Fürsorgeerziehungsheim als Institution funktioniert und welche Strategien und Dynamiken wirksam werden, um die festgeschriebenen Abläufe aufrechtzuerhalten. Die Mechanismen einer totalen Institution beschränken das Selbst der Insassen durch den Verlust der Selbstbestimmung, durch Isolation und Demütigung sowie durch den Zwang, sich den Regeln der Institution unterordnen zu müssen.5 Zunächst wird die Einrichtung, das Jugendheim Fuldatal, mit ihrer spezifischen Historie und die Heimerziehungspraxis an diesem Ort beschrieben. Im Anschluss daran werde ich handschriftliche Aufzeichnungen, so bezeichnete Führungshefte, vorstellen. Sie sind jeweils Teil einer Fallakte und sind bisher von der Forschung noch nicht bearbeitet worden. Unter Berücksichtigung der Annahme, dass Akten nicht Informationen sammeln, sondern vielmehr Ereignisse und Vorgänge dokumentieren sowie Entscheidungen nachvollziehbar machen sollen, analysiere ich diese Texte. Es handelt sich um Aufzeichnungen, die aus der Perspektive des Erziehungspersonals erstellt wurden, weshalb sie einen Einblick in die Deutungen der Alltagspraxis aus dieser Perspektive ermöglichen.6 Daran anknüpfend möchte ich zeigen, wie raumsoziologische Überlegungen eine neue Perspektive auf soziale Kontrolle und Ordnungsvorstellungen eröffnen und welche Herausforderung sich der Heimgeschichteforschung durch die gebotene Einbeziehung der materiellen Eigenschaften ihrer Erziehungsorte stellt.

Im Rahmen dieses Projekts wurden zum einen Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt und zum anderen wurde eine umfassende Analyse von Einzelfallakten aus den Fürsorgeerziehungsheimen des Landeswohlfahrtsverbandes vorgenommen. Hierüber war es mir möglich, Einblick in einen umfangreichen Aktenkorpus zu bekommen. Im Laufe der Archivrecherche entdeckte ich, dass für eine der untersuchten Einrichtungen in den Einzelfallakten handschriftliche Dokumentationen in Form von so bezeichneten Führungsheften erhalten waren. Diese Aufzeichnungen sind mittlerweile der Gegenstand meines Forschungsvorhabens mit dem Titel Ordnungen von Raum, Körper und Geschlecht in der Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre, aus dem ich in diesem Beitrag exemplarisch eine Untersuchungsperspektive vorstelle. 3

Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am

4

Erving Goffman, Asyle. Über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insas-

Main 1994. sen, Frankfurt am Main 1973. 5

Vgl. Goffman, Asyle (wie Anm. 4).

6

Angelika Menne-Haritz, Akten, Vorgänge und elektronische Bürosysteme – Mit Handreichungen für die Beratung von Behörden (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Institut für Archivschule 25), Marburg 1996, 89.



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A NSTALTSGESCHICHTE B REITENAU – F ULDATAL Das »Jugendheim Fuldatal«7 befand sich auf dem Gelände des ehemaligen Benediktinerklosters Breitenau, welches 1113 gegründet und im Zuge der Reformation 1527 wieder aufgelöst wurde. Im Anschluss wurden die Gebäude zweckentfremdet und teilweise dezimiert. In den Jahren 1870/71 wurde die Anlage als Kriegsgefangenenlager verwendet, um dann zunächst ab 1874 als Arbeitshaus genutzt zu werden. Es entstand eine »Correktions- und Landarmenanstalt« für straffällig gewordene Männer und Frauen.8 Dafür wurde die ehemalige Klosterkirche umgebaut. In die Kirche wurde eine Mauer eingezogen, die das Mittelschiff des Gebäudes aufteilt. In dem einen Teil wurde eine Gemeindekirche für die ortsansässige Bevölkerung eingerichtet, in dem anderen Bereich wurden drei Stockwerke mit Schlafsälen eingebaut, in denen die damals so genannten Korrigenden untergebracht wurden. Während des Nationalsozialismus wurde der Gebäudekomplex zunächst als frühes Konzentrationslager genutzt und schließlich im Zweiten Weltkrieg als Strafund KZ-Durchgangslager der Gestapo verwendet. Nach der Befreiung 1945 durch die Alliierten befanden sich kurzfristig verschiedenste Gruppen in den Gebäuden – z.B. Flüchtlinge wie auch internierte Nationalsozialisten. 1952 wurden dann die ersten jungen Frauen in dem inzwischen neu eingerichteten Mädchenjugendheim untergebracht.9 Die im Kirchenschiff vorhandenen Etagen wurden bis zur Schließung des Erziehungsheims 1973 weiterhin genutzt. Hier befanden sich in den alten Sälen der Korrektionsanstalt die Gruppenräume des Heims, außerdem die 1- bis 3-BettZimmer der Aufnahmegruppe, ein Raum für die Erzieherin und die Besinnungsstube. Zudem waren Mädchen in einem Backsteingebäude auf dem Anstaltsgelände

7

Bereits 1949 wird die Anstalt umbenannt, der historisch und durch die Ortslage begründete Name Breitenau verschwindet und wird durch Fuldatal ersetzt. Der tradierte abschreckende Charakter dieser Bezeichnung sollte in Vergessenheit geraten. Vgl. Wolfgang Ayaß, Das Arbeitshaus Breitenau – Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau (1874– 1949), Kassel 1992, 341 f. Das Erziehungsheim hieß zunächst Landesjugendheim Fuldatal, später dann offiziell Jugendheim Fuldatal. Es finden sich aber auch Bezeichnungen wie bspw. Mädchenheim Fuldatal oder Mädchenerziehungsheim Fuldatal in den Akten.

8

Vgl. Ayaß, Das Arbeitshaus Breitenau (wie Anm. 7) 71 ff.

9

Vgl. Ayaß, Das Arbeitshaus Breitenau (wie Anm. 7) 22; Richter, Breitenau (wie Anm. 1); Christina Vanja, Die Heimerziehung in Hessen und das Mädchenjugendheim »Fuldatal« in den 1960er Jahren, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 117/118 (2012/2013) 269–288.

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untergebracht, das auch die Isolierstation beheimatete. Weitere Gebäude wurden ebenfalls von dem Jugendheim bewirtschaftet.10 Abbildung 1: Die Aufnahme zeigt den Gesamtkomplex des Jugendheimes Fuldatal. Die weiteren Gebäude gehörten ebenfalls zur Institution. Die Aufnahme stammt von 1971.

  Quelle: LWV-Archiv, Fotosammlung 2/7.

»In der Gesamtgeschichte Breitenaus ist bis in die jüngste Vergangenheit durchgängig das Konzept der ›Erziehung durch Arbeit und zur Arbeit‹ zu finden. Nicht nur die Gestapo-Gefangenen, sondern bereits die Arbeitshausinsassen des letzten Jahrhunderts wurden in Arbeitskolonnen an umliegende Bauern und Firmen ›vermietet‹ und noch die Mädchen des Erziehungsheimes arbeiteten in den 60er Jahren im anstaltseigenen landwirtschaftlichen Betrieb und stellten Auftragsarbeiten für Firmen her.«11 Wie in vielen anderen Heimen der Fürsorgeerziehung in den 1950er und 1960er Jahren in Westdeutschland wurde auch den im Jugendheim Fuldatal untergebrachten jungen Frauen keine Möglichkeit einer Ausbildung gewährt. Stattdes-

10 Vgl. Vanja, Die Heimerziehung in Hessen und das Mädchenjugendheim »Fuldatal« (wie Anm. 9) 282. 11 Richter, Kontinuitätslinien in der Geschichte Breitenaus, in: Richter, Breitenau (wie Anm. 1) 12.



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sen wurden sie bei der Bewirtschaftung der Einrichtung sowie im Rahmen von Hilfsarbeiten eingesetzt.12 Die wechselhafte Geschichte der verschiedenen totalen Institutionen, die an diesem Ort nacheinander angesiedelt waren, ist für die Beschäftigung mit der Zeit, in der dort die Fürsorgeeinrichtung für Jugendliche bestand, relevant. Die Materialität der Klosteranlage, die mit einer Perspektive auf die »Wirksamkeit räumlicher Arrangements«13 hin zu untersuchen ist, bietet sich für weitere Analysen ebenso an wie die Einbeziehung des tradierten sozialen Wissens der Bevölkerung über die Funktion der Anlage in der Vergangenheit und die damit einhergehenden Deutungen über die Insassen. Die Tradition der geschlossenen Unterbringung macht diesen Ort zu einem interessanten Untersuchungsobjekt. Die herausgearbeitete Praxis der Heimerziehung ähnelt dennoch vergleichbaren Einrichtungen im untersuchten Zeitraum und stellt in diesem Sinne keine Ausnahme dar. Heute nutzt der Träger, der damals auch das Erziehungsheim verantwortete, die Gebäude zur Rehabilitation psychisch kranker Menschen. Außerdem befindet sich eine Gedenkstätte auf dem ehemaligen Klostergelände, zur Erinnerung an die misshandelten und ermordeten Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus. Die Räumlichkeiten im Kirchenschiff sind noch erhalten, da seit der Schließung des Heimes vor über 40 Jahren keine Nachnutzung erfolgte.

Z EIT

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F ÜRSORGEERZIEHUNG

In Westdeutschland regelten in den 1950er und 1960er Jahren zunächst das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) und ab 1961 das Jungendwohlfahrtsgesetz (JWG) die Unterbringung in Fürsorgeerziehung, unter der Prämisse, Kinder und Jugendliche vor einer »bestehenden oder drohenden Verwahrlosung« bewahren zu wollen. Der relativ unbestimmte und offene Rechtsbegriff der Verwahrlosung ähnelt dem heutigen der Kindeswohlgefährdung. Beide ermöglichen Behörden und Gerichten einen Beurteilungsspielraum. Für die Rechtsauslegung in den 1950er und 1960er Jahren kritisiert Wapler allerdings die Orientierung an einem »abstrakten Sittengesetz«, welches nicht auf den bestehenden Lebensverhältnissen der Bevölkerung begründet gewesen sei, »sondern an einer normativen Vorstellung von einem sittlichen Leben«.14

12 Vgl. Spiegel, Prügel für Picos, in: Der Spiegel 47 (1969) 119–120. 13 Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen – Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006, 175. 14 Friederike Wapler, Expertise zu Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Gutachten im Auftrag des »Runden Tisch Heimerziehung«, Berlin 2010, 47.

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Abbildung 2: Die Aufnahme zeigt den großen Kirchenbau, der im Inneren baulich verändert wurde. In der linken Gebäudehälfte waren die Mädchen untergebracht, was auch an den vergitterten Fenstern zu erkennen ist. Die rechte Gebäudehälfte wurde weiterhin als Kirche genutzt. Die Aufnahme ist undatiert.

  Quelle: LWV-Archiv, Fotosammlung 2/10.

Die von mir analysierten Akten stammen aus der Zeit, als auf dem beschriebenen Gelände ein geschlossenes Erziehungsheim bestand, das Jugendheim Fuldatal. Dort waren ausschließlich so genannte schwer erziehbare schulentlassene Mädchen untergebracht. Schulentlassen bedeutete, dass die jungen Frauen in der Regel mit einem Entlassungszeugnis aus der Schule in die Einrichtung kamen, d.h. sie waren nicht mehr schulpflichtig. Ein Großteil von ihnen hatte die Volksschule besucht (fast 80 %), einige auch eine Hilfs- oder Sonderschule. Mädchen, die eine Realschule oder ein Gymnasium besucht hatten, waren kaum vertreten.15 Die untergebrachten Jugendlichen waren zwischen 14 und 21 Jahre alt.16

15 Vgl. Mechthild Bereswill / Theresia Höynck / Karen Wagels, Heimerziehung 1953–1973 in Einrichtungen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen – Bericht zum interdisziplinären Forschungs- und Ausstellungsprojekt, Kassel 2013. 16 In 1975 wurde in Westdeutschland das Alter für die Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre heruntergesetzt.



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Die Sollbelegungszahl der Einrichtung lag zu Beginn der Übernahme durch den Landeswohlfahrtsverband Anfang der 1950er Jahre bei 150 Plätzen. 1963 wurden nur noch 105 Plätze belegt und 1969 waren es noch 70 bis 80 Plätze. Kurz vor Schließung des Heimes 1973 wegen Unwirtschaftlichkeit17 standen schließlich nur noch 45 Plätze zur Verfügung.18 Mit der Reduzierung der Plätze hatte der Träger versucht auf öffentlich angeprangerte Missstände zu reagieren.19 1969 hatte ein Fortbildungsstudent des Marburger Instituts für Sonderpädagogik eine Untersuchung zum Thema Legasthenie in der Einrichtung durchgeführt. In seinem abschließenden Bericht20 kritisiert er allerdings auch die beobachteten Erziehungsmethoden. Beschrieben wird, neben einer Vielzahl restriktiver Maßnahmen sowie Kontroll- und Sanktionsmechanismen, das Fehlen eines auf die Bedürfnisse der Mädchen und jungen Frauen ausgerichteten pädagogischen Konzeptes. Bei einem Drittel der untersuchten Mädchen und jungen Frauen wird eine Lese- und Rechtschreibschwäche diagnostiziert, bei einem weiteren Drittel werden eingeschränkte kognitive Fähigkeiten festgestellt und bei vielen eine Beeinträchtigung durch eine (physische oder psychische) Behinderung. Fehlverhalten, das die Mädchen und jungen Frauen aufgrund ihrer Beeinträchtigung zeigten, werde ihnen als schuldhaftes Verhalten angerechnet und bestraft. Es herrsche ein »Vergeltungsstrafrecht«, welches auch darin begründet sei, dass zwischen Heimleitung und Erzieherinnen eine »Untertanenrangordnung [herrsche], die die Erzieherinnen dann an die Zöglinge weiterreichen«.21 Die damalige Journalistin Ulrike Meinhof besuchte ebenfalls das Erziehungsheim Fuldatal, verarbeitete ihre Beobachtungen Ende 1969 in einer Sendung für den Hessischen Rundfunk und entwickelte zudem ein Dreh-

17 Vanja, Die Heimerziehung in Hessen und das Mädchenjugendheim »Fuldatal« (wie Anm. 9) 277. 18 Vgl. Bereswill / Höynck / Wagels, Heimerziehung 1953–1973 in Einrichtungen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (wie Anm. 15) 19. 19 Eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse rund um die aufgekommene Kritik der Heimerziehungspraxis im Jugendheim Fuldatal im Jahr 1969 findet sich in: Arbeitsgruppe Heimreform, Aus der Geschichte lernen – Analyse der Heimreform in Hessen (1968– 1983), Frankfurt am Main 2000, 180–188. 20 Gottfried Sedlaczek, Bericht über die wissenschaftliche Untersuchung im Jugendheim Fuldatal, Guxhagen vom 18.8.–26.8.1969, Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (im Folgenden LWV-Archiv), Bestand 100–32 Dezernat Erziehungshilfe, 1257/14– 24. 21 Gottfried Sedlaczek, Bericht über die wissenschaftliche Untersuchung im Jugendheim Fuldatal (wie Anm. 20) 1257/21.

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buch für einen kritischen Fernsehfilm zur Heimerziehung.22 Das Jugendheim Fuldatal wurde als ein geschlossenes Heim geführt. Die untergebrachten Mädchen und jungen Frauen wurden durchgehend beaufsichtigt und unterlagen einer starken Kontrolle. Die räumlichen Arrangements der Anlange waren geprägt von vergitterten Fenstern, verschlossenen Türen sowie von hohen Mauern. Dieser räumliche Charakter verstärkte die reglementierende Fürsorgepraxis. Christina Vanja hat die Situation präzise als dreifach eingesperrt beschrieben: Die Mädchen und jungen Frauen waren in ihren Zimmern oder der Besinnungsstube, dem geschlossenen Haus und schließlich auch in der ummauerten Gesamtanlage eingesperrt.23

D IE F ÜHRUNGSHEFTE In den Einzelfallakten des Jugendheims Fuldatal sind neben den üblichen Dokumenten, wie Aufnahmebögen, Anträgen, Beschlüssen, Gutachten und Korrespondenzen, Kladden mit handschriftlichen Aufzeichnungen archiviert. Foucault beschreibt dieses Anfertigen von diversen Dokumenten als Teil der Überwachung,24 als »Schriftmacht«,25 die ein »Individuum als beschreibbare[n] und analysierbare[n] Gegenstand«26 hervorbringt. Der Inhalt der Kladden, die als »Führungshefte« betitelt sind, liefert eine besondere Perspektive in die alltägliche Praxis des Mädchenheimes auf der Basis einer bürokratischen Dokumentationslogik. Bei der folgenden Analyse soll mit berücksichtigt werden, unter welchen Bedingungen die Texte verfasst wurden. Dementsprechend gehe ich davon aus, dass die Hefte im Bewusstsein ihrer Bedeutung als Teil einer Fallakte geführt wurden. Das heißt, dass die Eintragenden sich beim Schreiben der späteren Lektüre des Textes durch ihre Kolleginnen sowie Vorgesetzten bewusst waren. Die Hefte können also als prozessproduzierte Texte gesehen werden, die in kollektiver Autorinnenschaft27 verfasst wurden. In den Fallakten sind die Führungshefte meist gelocht abgeheftet. Es handelt sich um handelsübliche Vokabelhefte im Format DIN-A6. Auf dem Umschlag sind der Name, das Geburtsdatum und auch das Aufnahmedatum des Mädchens oder der jungen Frau vermerkt. Viele Hefte enthalten auf der ersten innenliegenden Seite au22 Vgl. Ulrike Marie Meinhof, Bambule – Fürsorge – Sorge für wen?, Berlin, 5. Aufl., 2009 (Ulrike Marie Meinhof, Bambule – Fürsorge – Sorge für wen?, in: Rotbuch Nr. 24, Klaus Wagenbach, Berlin, 1971, Erstausgabe). 23 Vgl. Vanja, Die Heimerziehung in Hessen und das Mädchenjugendheim »Fuldatal« (wie Anm. 9) 282. 24 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen (wie Anm. 3) 243. 25 Foucault, Überwachen und Strafen (wie Anm. 3) 244. 26 Foucault, Überwachen und Strafen (wie Anm. 3) 245. 27 Vgl. Michel Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main 1988, 7–31.



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ßerdem noch Informationen zu den Eltern, zur Raucherlaubnis bzw. zum Rauchverbot und zu den Personen, mit denen dem Mädchen oder der jungen Frau der postalische Kontakt gestattet war. Struktur und Inhalt folgen dabei einer einheitlichen Logik. Die Einträge sind handschriftlich und jeweils mit einem Datum versehen. Einige Passagen sind mit einem roten Stift unterstrichen oder auch durch Ausrufungszeichen markiert, andere mit einem Handzeichen versehen. Die Form der Texte ist über die untersuchten Jahre hinweg gleich. Verschiedene Schriftbilder der Erzieherinnen vermitteln den visuellen Eindruck, dass in den einzelnen Heften jeweils verschiedene Personen individuelle Einträge vorgenommen haben. Wird der Inhalt der Hefte in eine gedruckte Form übertragen und so die Individualität der Handschrift aufgehoben, zeigt sich ein anderes Bild. Die einzelnen Dokumentationen eines Heftes erzählen en bloc betrachtet die Geschichte eines Heimaufenthalts. Erst der Blick auf die Kalenderdaten zeigt, dass zwischen den Einträgen teilweise mehrere Tage liegen und sich diese Erzählung über Wochen, wenn nicht gar Monate hin erstreckt. Wird das Mädchen oder die junge Frau nach einer Unterbrechung wieder aufgenommen, so wird im aufbewahrten angefangenen Heft weitergeschrieben, wie auch die einmal angelegte Akte weiter geführt wird. Zu Beginn der Hefte findet sich oft eine längere Passage, welche die Aufnahmesituation beschreibt und den familiären Hintergrund bzw. besondere Ereignisse, die zur Aufnahme führten, nacherzählt. Dabei werden ähnliche Begebenheiten genannt, wie sie auch im Einweisungsbeschluss des Gerichts zu finden sind. Das könnte zum einen bedeuten, dass die schreibende Person den Gerichtsbeschluss kannte, oder zum anderen, dass bei der Aufnahme in der Einrichtung die Ereignisse, die zur Einweisung führten, besprochen wurden. Außerdem wird bereits zu Beginn das äußere Erscheinungsbild der Mädchen und jungen Frauen erwähnt. Den Beschreibungen des Körpers, der Art des Ganges oder auch der Bewegungen folgt meist eine Bewertung, die an dieser Stelle als erste Diagnose des Verhaltens gewertet werden kann. Die erste Passage kann von der Aufnahme über die ersten Tage in der Isolierung bis zum Tag der Aufnahme in die Gruppe reichen. Dieser erste Text in einem Heft begründet meist die weitere Bewertung der Mädchen und jungen Frauen. Aus den Heften kann rekonstruiert werden, dass die Aufnahme in das Jugendheim Fuldatal einem festgelegten Ablauf entsprach. Ein Aufnahmegespräch mit der Heimleitung, eine gynäkologische Untersuchung, Kontrolle der mitgebrachten Kleidung, mehrere Tage in der Isolierung und abschließend die Aufnahme in eine der bestehenden Gruppen. Danach ist die Erzählung des Heimaufenthalts immer auch eine Dokumentation der wechselnden Einsätze der Mädchen und jungen Frauen in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen, welche die Einrichtung zur Verfügung stellte. Sie arbeiteten in der Nähstube, auf dem Feld, in der Wäscherei, in der Küche, in der Bäckerei und in den Stallungen des zur Gesamtanlage gehörenden Gutshofs. Meist werden diese

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Arbeitseinsätze nicht weiter kommentiert. Die Mitarbeit beschränkte sich auf Hilfstätigkeiten und diente nicht der Vermittlung von spezifischen Fertigkeiten. Ausführlichere Textpassagen tauchen in den Fällen auf, in denen die Mädchen und jungen Frauen explizit für eine gute Mitarbeit gelobt wurden oder in denen sie gegen die geforderte Mitarbeit rebellierten. Bemerkenswert häufig finden sich Einträge in den Führungsheften, die berichten, dass die Jugendliche in der Nähstube eine oder mehrere Nadeln geschluckt habe und nun dazu angehalten werden müsse, ausreichend Sauerkraut zu essen, um weiteren Verletzungen vorzubeugen. Wiederholt finden sich Eintragungen, dass es bei der Arbeit auf dem Feld zu Entweichungen von einem oder mehreren Mädchen bzw. jungen Frauen gekommen sei. Aus den Heften geht hervor, dass der Heimalltag über das Jahr verteilt durch verschiedene Rituale geprägt war. So erfahren wir über die Erzählungen in den Führungsheften von Liederabenden, Gitarrenstunden und Bastelarbeiten zu den christlichen Festtagen. Genauso wird von Faschingsfeiern, Tanzabenden und gemeinsamem Fernsehen gesprochen. Diese gemeinschaftlichen Aktivitäten durchbrechen zwar auf einer gewissen Ebene die ritualisierten Arbeitstage, aber sind dennoch eingeflochten in das geschlossene System, in dem die Mädchen und jungen Frauen fast ununterbrochen unter Beobachtung stehen. Es gibt also auch durch diese Ereignisse kein Entkommen aus der Totalität der Einrichtung. Totale Institutionen bezeichnet Goffman als Treibhäuser, in denen die Gesellschaft versucht, den Charakter von Menschen zu verändern.28 »Das Interpretationsschema der totalen Institution kommt, sobald der Insasse eintritt, automatisch in Gang, da das Personal der Ansicht ist, daß der Betreffende zu dem Personenkreis gehört, für den die Institution eingerichtet wurde.«29 Diese automatische Identifizierung der Insassen ist ein zentrales Mittel der sozialen Kontrolle. Goffman arbeitet heraus, dass in einem Umfeld, in dem abweichendes Verhalten erwartet wird, das normale meist nicht erkannt wird.30 Dieses Phänomen ist auch in den Texten der Führungshefte zu finden. Beispielhaft zeige ich hier zwei generalisierende Diagnosen, die die Erzieherinnen aus dem beobachteten Verhalten der Mädchen und jungen Frauen ableiten: »Die Unsicherheit, die über ihrer Zukunft liegt spiegelt sich in all ihrem Tun.«31 Eine Verhaltensweise wird hier in Verbindung gebracht mit dem Umstand, dass die 18-Jährige, wie aus der Akte zu erfahren ist, kein gutes Verhältnis zu ihrer Familie habe und daher nicht wisse, wohin. Ein Schicksal, dass viele der Mädchen und jungen Frauen nach der Entlassung teilen werden. Sie konnten weder davon ausgehen, einen Ausbildungsplatz bzw. eine Anstellung zu erhalten oder nach der Entlassung 28 Vgl. Goffman, Asyle (wie Anm. 4) 23. 29 Goffman, Asyle (wie Anm. 4) 87. 30 Vgl. Goffman, Asyle (wie Anm. 4) 87 f. 31 LWV-Archiv, Bestand 2 Nr. 1759.



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in die Familie zurückkehren zu können, noch hatten die jungen Frauen mit Kindern die Möglichkeit zu planen. Die individuelle Befindlichkeit, der abgesprochen wird, dass sie Resultat der Unterbringungssituation sein könnte, wird dem generellen Befund über junge Frauen aus der Fürsorgeerziehung zugeordnet. »Sie ist undurchsichtig, und in keiner Weise ehrlich, sie hat immer etwas zu verbergen«.32 Das Verhalten der beschriebenen jungen Frau wird hier eindeutig negativ gedeutet. Es scheint für die schreibende Person nicht vorstellbar, dass ein junger Mensch, fernab der Familie in einem Heim eingeschlossen, sich zurückzieht und als vorhersehbare Reaktion eine Unsicherheit im Verhalten gegenüber anderen zeigen kann. Dass sie mögliche Strafen für von den Heimnormen abweichendes Verhalten fürchten muss und daher versucht, Bereiche des eigenen Handelns nicht zu zeigen, wird nicht mit der Heimsituation in Verbindung gebracht, sondern als »in keiner Weise ehrlich« abgewertet. Auch Gesichtsausdrücke sind Teil der Beobachtung und werden dokumentiert. Beispielhaft sind Formulierungen wie »blickt … lauernd und mißtrauisch«.33 Diese werden ebenso negativ interpretiert wie die Beobachtung »grinst unaufhörlich«.34 Es ist davon auszugehen, dass niemand die ganze Zeit ohne Unterbrechung das Gesicht zu einem Grinsen verziehen kann, aber das bei den Mädchen oder jungen Frauen beobachtete Verhalten wird von der schreibenden Person per se als abweichend und unerwünscht eingestuft, da eben ein solches unerwünschtes Verhalten auch erwartet wird. Folgt man der Argumentation der Führungshefte, so waren vor allem Sauberkeit, Ordnung und Kontrolle die bestimmenden Themen in der alltäglichen Praxis. »Mit Marlies Ordnungs-Liebe ist es noch immer nicht weit her. Sie braucht regelmäßig Kontrolle, wenn alles einigermaßen aufgeräumt sein soll.«35 Auch ein anderer Eintrag zeigt das: »Zimmer u. Sachen hält sie ordentlich und sauber, kommt aber ohne Kontrolle noch nicht aus.«36 Es wird deutlich, dass das Herstellen und Aufrechterhalten einer Ordnung elementar ist. Die Bemerkung zu der »noch« nicht vorhandenen Liebe zur Ordnung gibt einen Hinweis auf die normativen Ideale, die der Beurteilung der Mädchen und jungen Frauen zugrunde liegen. In allen untersuchten Führungsheften sind ähnliche Formulierungen zu finden. Oft, wie hier auch, mit der Ergänzung, dass die Mädchen und jungen Frauen die Erreichung dieser Ideale ohne die Kontrolle durch die Erzieherinnen nicht schaffen. Diese Einträge zeigen zwei Aspekte der damaligen Fürsorgepraxis: zum einen die Bedeutung von Ordnung und Sauberkeit als oberstes Prinzip und Erziehungsziel und zum an32 LWV-Archiv, Bestand 2 Nr. 1717. 33 LWV-Archiv, Bestand 2 Nr. 1645. 34 LWV-Archiv, Bestand 2 Nr. 0834. 35 LWV-Archiv, Bestand 2 Nr. 1652. 36 LWV-Archiv, Bestand 2 Nr. 1759.

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deren den institutionellen Auftrag der Erzieherinnen, den untergebrachten Mädchen und jungen Frauen dieses Prinzip zu vermitteln. In den Heften erscheinen Beobachtung, Kontrolle und Sanktionierung des Verhaltens der Mädchen und jungen Frauen als Momente, die den Heimalltag strukturieren. Die Kleidung wird regelmäßig auf Sauberkeit sowie die handarbeitliche Leistung der Stopflöcher und eingenähten Namen überprüft. Die Zimmer werden ebenfalls regelmäßig auf Sauberkeit und Ordnung hin untersucht. Es wird jedoch nicht expliziert, welche Kriterien ausschlaggebend sind. Es ist zu vermuten, dass über die Ordnungskriterien, als Teil des gesellschaftlich geteilten Wissens, keine Verständigung nötig war. Dabei wird außerdem nach versteckten und unerlaubt im Besitz der Mädchen und jungen Frauen befindlichen Gegenständen und Briefen gesucht. Außerdem werden ihre Gespräche mitgehört, der Inhalt wird in den Heften protokolliert und bewertet. Als globales Ziel erscheint, alle Handlungen der Ordnung des Heimes unterzuordnen. Die Schreibenden erwarten, dass die Mädchen und jungen Frauen den Erzieherinnen gegenüber Gehorsam zeigen. Die Einträge in den Führungsheften vermitteln auch, dass eine Anpassung an die Gruppenordnung erwartet wird. Eine Förderung von individuellen Kompetenzen ist nicht erkennbar. Das muss zwar nicht heißen, dass es diese Förderung tatsächlich nicht gab, allerdings findet sie in der Dokumentationslogik der Führungshefte dann keinen Platz. Die Führungshefte sind eine Form der innerinstitutionellen Dokumentation und Kommunikation. Auch wenn eine Reihe von Erzieherinnen für die Einträge über den gesamten Aufenthalt verantwortlich ist, so schreiben sie doch alle gemeinsam an einer Erzählung. Manche der beschriebenen Verhaltensbeobachtungen und die daraus resultierenden Bewertungen erscheinen voreilig oder gar unbegründet. Zu bedenken ist, dass die Eintragungen im Zweifelsfall das Verhalten und die Maßnahmen der Erzieherinnen vor der Heimleitung legitimieren mussten. Die Führungshefte sind vor allem durch eine Vielzahl an Zuschreibungen charakterisiert und können nicht als neutrale Dokumentation eines tatsächlichen Geschehens gewertet werden. Sie eröffnen vielmehr einen Einblick in die institutionelle Praxis des Jugendheimes Fuldatal. Abschließend ist noch zu erwähnen, dass ganze Passagen aus den Heften wortgetreu für die Berichte des Heimes an die Fürsorgebehörde verwendet wurden. Damit sind sie auch in ihrer Funktion als beweisträchtiges Material für die rechtmäßige Unterbringung und Erziehung der Mädchen und jungen Frauen zu sehen. Schließlich dienen sie aber auch innerhalb der Institution als Instrument, um den Alltag zu dokumentieren, Entscheidungen zu begründen, Sanktionen zu legitimieren und den ordnungsgemäßen Ablauf festzuhalten.



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Wie zu Beginn ausgeführt, zeigt der beschriebene Ort eine hundertjährige Beständigkeit totaler Institutionen. Im Folgenden soll beispielhaft gezeigt werden, welche Perspektiven sich auf das Untersuchungsmaterial durch raumtheoretische Überlegungen eröffnen. Bei der Beschäftigung mit Raum fällt auf, dass es zum einen den erlebbaren Raum gibt, den wir betreten und wieder verlassen können wie ein Zimmer. Zum anderen gibt es den Raum, der nicht so trennscharf ist, dennoch haben wir eine Vorstellung von ihm, das wäre beispielsweise der Lebensraum.37 Darüber hinaus wird in der Raumtheorie zwischen dem Raum, der als Behälter existiert, und jenem, der erst durch eine Abstraktionsleistung relational konstruiert werden muss, unterschieden. Schroer erklärt eine Hinwendung der Sozialwissenschaft zu dem zuletzt genannten relationalen Raumbegriff damit, dass dieser eine handlungstheoretische Ausrichtung habe und »die kreativen Möglichkeiten und die Chancen der Akteure bei der Konstituierung, dem Aufbau und der Gestaltung von Räumen« hervorhebt. Zu kurz komme allerdings bei einer ausschließlichen Betrachtung von Raum nach diesen Kriterien die Analyse der Wirksamkeit von räumlichen Arrangements.38 Beide Raumvorstellungen, die eines Containers und die eines relational konstruierten Raumes, können bei der Analyse der Führungshefte weitere Erkenntnisse liefern. Die Argumentation, dass der Raum als Behälter oder Container gedacht wird, der materiell und unbeweglich ist, besteht schon lange und hält sich auch in den Theorien, die sich mit der Raumkategorie auseinandersetzen, »weil mit ihm die Auswirkungen räumlicher Arrangements auf handelnde Akteure beschrieben werden können«.39 Damit, dass Raum auf die körperlichen Objekte einwirke, diese aber umgekehrt nicht auf den Raum, argumentiert Schroer für die BehälterRaumauffassung, wenn Machtphänomene beschrieben und analysiert werden sollen. Dafür spreche »das Kriterium der Ausschließlichkeit«.40 In dieser Raumauffassung kann eine Stelle im Raum nur durch ein »Objekt, Ding oder Menschen eingenommen werden«,41 ein Wechsel dieser Position sei nur durch »Streit, Kampf oder Gewaltanwendung«42 möglich. Räume prägen und strukturieren das Verhalten, die Handlungen sowie die Kommunikation von Menschen. Als Beispiel nennt Schroer sakrale Räume und Seminarräume. »Räume helfen zu entscheiden, in welcher Situation wir uns befin37 Vgl. Schroer, Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 13) 10. 38 Vgl. Schroer, Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 13) 175 ff. 39 Schroer, Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 13) 174. 40 Schroer, Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 13) 175. 41 Schroer, Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 13) 175. 42 Schroer, Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 13) 175.

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den. Sie strukturieren vor, in welche Situation wir kommen können, welche Erwartungen wir haben können, sie strukturieren Interaktionsabläufe, machen einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich«.43 Schroer argumentiert für eine doppelte Betrachtung, weil die Herstellung von Räumen durch Handeln nicht weit genug gehe und so keine umfassende Raumanalyse möglich sei. Die materielle Beschaffenheit eines Raums dürfe nicht hinter der sozialen Herstellung desselben zurückstehen.44 Am Beispiel des Jugendheims Fuldatal ist die Wirkung der Materialität fast offensichtlich. Ein historischer Gebäudekomplex, unschwer als Kirchengebäude zu erkennen, mit vergitterten Fenstern und geschlossenen Türen und Toren, umgeben von Mauern. Die Wirkung des Hauptgebäudes, welches sich im umgebauten Kirchenschiff befand, müsse demnach, so beschreibt es Vanja, auf die Mädchen und jungen Frauen deprimierend gewesen sein. Ein Eintrag in einem Führungsheft zeigt deutlich die Wirkung des materiellen Raumes. »Ilona schreibt an die Erzieherinnen des vorherigen Heimes u. berichtet, daß sie darüber erstaunt ist, in einem früheren Kloster zu sein u. keine Erzieherinnen mit langen schwarzen Kleidern vorgefunden zu haben.«45 Das mächtige Gebäude, dessen ursprünglicher Verwendungszweck weiterhin erkennbar ist, welches durch die vergitterten Fenster Assoziationen einer Haftanstalt hervorbringt und das auch von innen durch ein monumentales Treppenhaus und starke Mauern auffällt, erzeugt noch heute bei einer Besichtigung eine spürbare Wirkung, die Vanja martialisch nennt. Hinzu kommen weitere bauliche Elemente, die eine Flucht verhindern sollten, wie das Vorhandensein der Besinnungsstube und die gesondert abgeriegelte Isolierstation.46 Es ist demnach davon auszugehen, dass die materiell-räumlichen Strukturen die restriktive Praxis des Erziehungsheims unterstützten und das Verhalten der untergebrachten jungen Menschen sowie das des Erziehungspersonals beeinflussten. Neben der automatischen Identifizierung der Insassen, wie bei Goffman beschrieben, wirkt der Raum ebenfalls daran mit, dass dem Personal wie auch den Insassen der Charakter der Institution präsent bleibt. Daraus ist zu schließen, dass das Moment der Überwachung und Herstellung von Ordnung, also die Praxis der Fürsorgeerziehung, mit der materiellen Beschaffenheit des jeweiligen Ortes in Verbindung gebracht werden muss. Dies kann in der bisher vorgestellten Perspektive auf den Raum noch nicht mitgedacht werden. Für eine weitere Analyse der Führungshefte, wie ich sie in den Einzelfallakten gefunden habe, scheint mir daher ein relationales Raumverständnis, wie Schroer es 43 Schroer, Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 13) 176. 44 Vgl. Schroer, Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 13) 177 f. 45 LWV-Archiv, Bestand 2 Nr. 0580. 46 Vgl. Vanja, Die Heimerziehung in Hessen und das Mädchenjugendheim »Fuldatal« (wie Anm. 9) 282.



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nennt, auf Grund der handlungstheoretischen Komponente am ergiebigsten. Wie ich zeigen möchte, haben die Akteure, über die materielle Beschaffenheit hinaus, einen Einfluss auf die Räume und darauf, wie sie entstehen. Prominenteste Vertreterin der relationalen Raumtheorie ist Martina Löw, die eine umfassende Theorie bzw. Soziologie des Raums entwickelt hat. Löw beschreibt Raum als relationale, also in Beziehung oder Verbindung stehende, (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern. Als soziale Güter werden beispielsweise Möbel, Häuser oder auch Straßenschilder verstanden. Zur Konstruktion eines Raumes gehören aber eben nicht nur materielle Güter, sondern auch die sich dort aufhaltenden Menschen. Der Raum konstituiere sich auch aus der (An)Ordnung von Möbeln in einem Zimmer, aber ebenso durch die anwesenden Menschen. D.h. Menschen wirken raumkonstituierend, indem sie sich zueinander anordnen. Dies ist abhängig von ihrem sozialen Verhältnis zueinander. Zwei Menschen, die sich sozial fremd sind, werden einen größeren Abstand zwischen sich entstehen lassen als solche, die sich nahestehen. Menschen werden durch die Handlungen der anderen positioniert und sie positionieren sich ebenfalls aktiv.47 Die von Löw gewählte Schreibweise »(An)Ordnung« steht für zwei Dimensionen. Mit der strukturierenden Dimension wird auf die Ordnung verwiesen, die durch die Konstruktion des Raums entsteht, und mit der Handlungsdimension ist der Prozess des Anordnens gemeint.48 Durch das Handeln werden gesellschaftliche Strukturen reproduziert. Daher argumentiert Löw, dass räumliche Strukturen Varianten49 oder auch »Formen gesellschaftlicher Strukturen«50 seien. Die Besonderheit des von Martina Löw entwickelten Raumbegriffs ist die Beziehung, in der die Elemente, also die Lebewesen und die sozialen Güter, zueinander stehen. Wichtig für das Verständnis dieses relationalen Raumbegriffs sind die Prozesse Spacing und Syntheseleistung, durch die der Raum konstituiert wird. Als Spacing bezeichnet Löw »das Errichten, Bauen und Positionieren«51 von Gütern und Menschen. Damit gemeint sind beispielsweise das Aufstellen eines Stuhls oder eines Schildes und auch das Sich-Positionieren von Menschen in Bezug auf andere Menschen. Spacing beschreibt den Moment der Platzierung ebenso wie die Veränderung der Platzierung.52 Spacing ist aber nur in Verbindung mit der Syntheseleistung möglich, also wenn zugleich die Menschen und sozialen Güter zu Räumen verknüpft werden. Das geschieht laut Löw mittels »Vorstellungen, durch Wahr-

47 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 153 ff. 48 Vgl. Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 47) 166. 49 Vgl. Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 47) 263. 50 Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 47) 167. 51 Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 47) 158. 52 Vgl. Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 47) 159.

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nehmungen und Erinnerungen«.53 Räume entstehen demnach vor allem durch das Verhalten und die kognitive Verknüpfungsleistung der Menschen, auch in Bezug zu den materiellen Strukturen. Auf Grundlage dieser Annahme können mehrere Räume an einem Ort entstehen, die sich zudem überlappen können. Was kann ich mit diesem Konzept nun in Bezug auf die Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre sagen? Ihre Räume sind institutionalisiert, da die Möglichkeiten des individuellen Handelns der untergebrachten jungen Menschen stark eingeschränkt und ihre Möglichkeiten der eigenen Platzierung einer vorgegebenen Ordnung unterworfen sind. Man könnte auch sagen, das Erziehungspersonal hat den Auftrag, an der Aufrechterhaltung dieser Ordnung mitzuwirken. Das bedeutet wiederum, dass die in geschlossener Fürsorgeerziehung untergebrachten Mädchen und jungen Frauen durch ihre eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten auch weniger Einfluss auf die Entstehung dortiger Räume haben, als sie es außerhalb einer geschlossenen und machtförmig strukturierten Einrichtung hätten, die sie im Verhältnis zu der Gruppe der Erzieherinnen in ihren Gestaltungsmöglichkeiten benachteiligt. Wie bereits erwähnt, gilt das Platzieren und Handeln der beteiligten Individuen in diesem Zusammenhang über die Materialität der räumlichen Beschaffenheit hinaus. Die Fürsorgepraxis, also das Handeln der Akteure, beeinflusst das Entstehen der Räume grundlegend. Das schließt das Überwachungsverhältnis zwischen den Mädchen und jungen Frauen und den Erzieherinnen ein, aber auch die Überprüfung des Personals untereinander sowie durch die Heimleitung. Diese wiederum sieht sich der Aufsicht und der Anweisung durch den Träger der Einrichtung sowie der zuständigen Behörde unterworfen. Das permanente Kontrollieren der Räumlichkeiten und Menschen durch andere Menschen hat Einfluss auf das Handeln aller. Damit hat die institutionalisierte Erziehung Einfluss auf die Räume, besser gesagt, die Praxis der Heimerziehung bringt eigene Räume hervor. Diese spezifischen Räume haben im Umkehrschluss wieder Auswirkungen auf das Handeln der beteiligten Individuen. Und diese Dualität von Raum bezeichne ich mit Martina Löw als räumliche Struktur.

S CHLUSSBETRACHTUNG Aufgrund der starken sozialen Kontrolle der untergebrachten Mädchen und jungen Frauen kann das Jugendheim Fuldatal als ein Raum der Ausgrenzung bezeichnet werden, der sich auf unterschiedlichen Ebenen materialisiert: Erstens evozieren bereits die bauliche und architektonische Beschaffenheit Bilder einer Institution, die vom Einschluss der Insassen bei gleichsamen Ausschluss äußerer Einflüsse geprägt 53 Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 47) 263.



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sind und an den Charakter einer Haftanstalt erinnern. Zweitens findet sich in der rekonstruierten Praxis des Fürsorgeheimes eine starke Kontrollstruktur, die sich in restriktiven Maßnahmen widerspiegelte. Für das Erziehungsheim wird weiter zu untersuchen sein, wie die Mauern des alten Klosters Einfluss auf die Erziehungspraxis gehabt haben können. Dies ist inspiriert von der raumtheoretischen Annahme, dass die materielle Struktur des Raums auf die Akteure wirkt. Neben der Darstellung der räumlich-materiellen Strukturen des Gebäudekomplexes sowie seiner durch die Tradition der geschlossenen Unterbringung erworbenen Stellung als Ort der Ausgrenzung werden die in den Erzählungen der hier vorgestellten Führungshefte eingebetteten Räume in den Blick genommen werden müssen. Anhand der Aufzeichnungen aus den Führungsheften kann zunächst einmal die Perspektive der Erzieherinnen auf die Alltagspraxis und die untergebrachten Mädchen und jungen Frauen rekonstruiert werden. Deutlich wird dabei, welchen Einfluss die Erzieherinnen auf die Handlungsmöglichkeiten der jungen Frauen hatten und welch hohen Stellenwert das Kontrollieren eingenommen hat. Das vorgestellte relationale Raumverständnis bietet eine zusätzliche Perspektive auf die Praxis der Heimerziehung. Sie verdeutlicht, dass auch der Raum, in dem sich die Mädchen und jungen Frauen und die Erzieherinnen bewegt haben, wechselseitig Auswirkungen auf ihr Handeln hatte. Der Raum ist dabei nicht ausschließlich durch die institutionelle Struktur vorgegeben, sondern die beteiligten Akteure stellen ihn gleichsam her. Das asymmetrische Verhältnis zwischen den Untergebrachten, dem Erziehungspersonal und der Institution bedingt die unterschiedlich großen Handlungsspielräume. Die untersuchten Führungshefte zeigen einen Ausschnitt institutioneller Praxis, der geprägt ist durch das Verhältnis von sozialer Kontrolle und Ordnungsvorstellungen. Da sich im Verständnis eines relationalen Raumbegriffs der Raum erst durch eine Abstraktionsleistung der Akteure konstituiert, kann aufgrund der vorgestellten Quellen keine Aussage darüber getroffen werden, welche Räume im Jugendheim Fuldatal tatsächlich gefunden werden könnten. Deutlich wird dennoch, dass die aufgezeichnete Praxis die Handlungsspielräume der untergebrachten Mädchen und jungen Frauen stark einschränkte und dass kaum Möglichkeiten für die Herstellung von privaten Räumen bestanden haben dürften.

Katalog

Warum S TEFAN H ITTHALER

Das samenkorn der frage nach dem warum sich menschen schützend verkleiden wurde vor vielen jahren gesät Mit Staunen habe ich gesehen wie mann und frau nackt – verkleidet sein können daraufhin wollte ich unter die haut schauen um zu erfahren was nicht sichtbar ist Von der anlage her eher dem schauen als dem sprechen geneigt habe ich blicke, lange und kurze festgehalten bis ULRICH meinte – so nicht – und den Raum mit seinen Geschichten mit in den Topf warf STADTRAUM

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Corpus Intra Muros Bruneck, Italien Träger Stadtmarketing Bruneck Planung Arch. Stefan Hitthaler / Dr. Ulrich Leitner Mitarbeiter Thomas Niederwolfsgruber Davide Mantesso Statik Ing. Erwin Trojer Bebaute Fläche 153,36 m2 Nutzfläche 88,03 m2 Planungsbeginn 10/2013 Bauzeit 2 Monate Fertigstellung 2014 Baukosten 100 % gesponsert Sponsoren Stadtmarketing Bruneck Stadtgemeinde Bruneck Raiffeisenkasse Bruneck Autonome Provinz Bozen Südtirol Schlosserei Lanz Baufirma Unionbau Durst Baukanzlei Ing. Sulzenbacher & Partner Lichtstudio EWO Elektro Ewald Bigman innsbruck university press edition laurin



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Abbildungen 1 und 2: Lageplan und Grundriss.

 

  Quelle: Stefan Hitthaler.

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Abbildungen 3 und 4: Schnitt und Südansicht.

 

  Quelle: Stefan Hitthaler.



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Abbildungen 5 und 6: West- und Nordansicht.

 

  Quelle: Stefan Hitthaler.

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Abbildungen 7 und 8: Größenverhältnisse.

 

  Quelle: Stefan Hitthaler.



Abbildung 9: Aufbau der Kunstinstallation im Juli 2014.

Quelle: Stefan Hitthaler.

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Abbildung 10: Aufbau der Kunstinstallation im Juli 2014.

Quelle: Stefan Hitthaler.



Abbildung 11: Das Fresko – Gesamtansicht.

Quelle: Stefan Hitthaler.

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Abbildung 12: Ostseite.

  Quelle: Stefan Hitthaler. »Die Fotos für die Arbeit sind in meinem Atelier entstanden. Für mich stellte sich die Frage: Wie viel Information benötigen meine Modelle, um einen Bezug zum Turm herzustellen, und was ist zu viel Information und hemmt den Ausdruck? Ich habe mich für sehr wenig entschieden. Umso größer war meine Überraschung, dass die Bilder einen sehr klaren und starken Bezug zum Turm haben.« STEFAN HITTHALER 



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Abbildung 13: Deckenfresko.

  Quelle: Stefan Hitthaler. »Das Thema Enge, Beengung, Hülle und die mögliche Lust nach Freiheit interessiert mich.« STEFAN HITTHALER

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Abbildung 14: Nordseite.

  Quelle: Stefan Hitthaler. »Wie kann ich einem Gebäude ohne überlieferte Geschichte Spuren entlocken? Dies ist das Thema, das ich auf eine poetische Art für mich bei der Bespielung des Pulverturms in Bruneck gelöst habe. Das Ergebnis war angenehm überraschend und die Geschichte, nicht von mir erzählt, traurig. Aus meiner Sicht stellt sie einen verzweifelten Kampf um Freiheit oder Befreiung dar, mit stürzenden Engeln und einem Körper, der sich gerade im Übertritt aus einer Welt in eine andere befindet, das Bein noch ganz hier, der Körper schon in Auflösung begriffen. Das Bein scheint sehr angestrengt.« STEFAN HITTHALER



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Abbildung 15: Die Installation Corpus intra muros in Bruneck / Südtirol.

  Quelle: Harald Wisthaler.

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Abbildungen 16 und 17: Ein Raumkörper in der Mitte der Stadt I.

Quelle: Harald Wisthaler (oben), Florian Oberlechner (unten).



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Abbildung 18 und 19: Ein Raumkörper in der Mitte der Stadt II.

Quelle: Christoph Theurer.

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Abbildung 20: Die Skulptur bei Nacht.

  Quelle: Harald Wisthaler.



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Abbildung 21: Eine Symbiose aus Mauern und Körpern.

  Quelle: Harald Wisthaler.

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Abbildungen 22 und 23: Der Corpus als Bühne für JOXHFN: »Kloster Säben – Die Nonnen stürzen nach oben.«

 

  Quelle: Florian Oberlechner.

     



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Abbildungen 24 und 25: Die soundperformative Gruppe JOXHFN interpretiert Waltraud Mittichs »Abschied von der Serenissima«.

 

  Quelle: Florian Oberlechner.

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Abbildungen 26 und 27: Rudolf Unterhuber und JOXHFN bespielen das Keraphon.

 

  Quelle: Florian Oberlechner.

I Wie wir Räume gestalten

Abdrücke der Zeit1 P ETER R EISCHER

Bei dem Begriffspaar Architektur und Kunst geht es nicht um die Frage, ob Architektur zur Kunst oder die Kunst zur Architektur gehört. Schon Vitruv sprach von Architektur als der Mutter aller Künste, womit sowohl die zeitliche Abfolge als auch die rangmäßige Einstufung der Architektur gegenüber Bildhauerei und Malerei gemeint sein kann. Architekt Stefan Hitthaler (Bruneck) und der Erziehungswissenschaftler Dr. Ulrich Leitner (Universität Innsbruck) wagten mit dem Kunst- und Wissenschaftsprojekt Corpus intra muros einen Blick über die manchmal engen Grenzen dieser beiden Disziplinen. Die Schnittstellen und Berührungspunkte werden bei ihrer Arbeit am Pulverturm in Bruneck im Südtiroler Pustertal aufgezeigt. Dazu wurde das historische Gebäude aus dem 15. Jahrhundert mit einer Kunstinstallation ummantelt. Der gegenständliche Turm ist eigentlich eine Utopie, ein Nicht-Ort, denn anders als viele historische Gebäude besitzt dieser Turm keine eigene Identität, keine überlieferte Geschichte, nur viele Erzählungen, die sich um ihn ranken. Er wird zwar als Baudenkmal betrachtet, über seinen Zweck, seine Entstehung und den Inhalt sind aber so gut wie keine Tatsachen bekannt. Das Team Hitthaler/Leitner versucht mit der poetischen und auch wissenschaftlich begründeten Intervention, eine erzählerische Realität zu schaffen. Sie soll die Menschen zum Nachdenken anregen. Um nun eine Beziehung, eine Lesbarkeit der Architektur für die Menschen und auch eine Auseinandersetzung mit der Zeit zu bewirken, haben der Architekt und der Erziehungswissenschaftler den Turm mit einer Hülle in Form einer dreiseitigen Schachtel versehen. Eine Tragkonstruktion bildet eine U-Form über dem ca. 6 mal 6 Meter großen quadratischen Turmgrundriss. Auch in der Höhe überragt die monumentale Konstruktion den Turm um 3 bis 4 Meter. Die Außenseiten sind mit ros-

1

Der Artikel ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen in: architektur Fachmagazin 1 (2016) 42–45.

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tigen Metallplatten bedeckt, an der Innenseite ist ein fotografisch bedrucktes Gewebe verspannt. Darauf kann man unbekleidete menschliche Körper erkennen, sie bewegen sich in einem (endlosen) dunklen Raum. Vom Duktus der Komposition denkt man unwillkürlich an barocke Gemälde, an Kirchenfresken vielleicht? Zwischen den Innenwänden dieser Schachtel, den Wänden und dem alten Turm spielt sich nun ein Prozess ab. Er wird durch die großformatigen Abbildungen von menschlichen Gestalten ausgelöst. Denn Körper drücken ihre Aura auch im Raum und auf Wänden ab, Hüllflächen speichern ihre Präsenz. Die menschlichen Körper, die auf der Installation zu sehen sind, stehen für die vielfältigen Beziehungen, die Menschen mit den Gebäuden, in denen sie leben und die sie umgeben, eingehen. Die Bilder machen die Spuren der Menschen sichtbar, die diese über die Jahrhunderte in der Architektur hinterlassen haben. Es entwickelt sich ein Zwiegespräch mit den heutigen BetrachterInnen über die Zeiten hinweg. Die architektonische Konstruktion, welche den Turm umhüllt, lässt durch die großformatigen menschlichen Figuren die Grenze zwischen Realität und Fiktion ins Erzählerische verschwinden. Das hat auch einen pädagogischen und identitätsstiftenden Sinn. Der Turm wird zum Medium einer Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Mensch, Mauer, Stadt, Zeit und Raum. Und das ist ein zweiter, weiterer Zweck der Installation. Einmal lässt eine architektonische Konstruktion menschliche Körper, in fotografischen Darstellungen festgehalten und großformatig aufgebracht auf einem Trägermaterial, mit dem Turm verschmelzen. Daneben begibt man sich in einer wissenschaftlichen Spurensuche auf die Fährte von Körpern, Dingen und ihren Spuren in den Räumen. So betrachtet lässt sich der Stadtraum als eine Topographie unsichtbarer Schichten, welche die Menschen darin hinterlassen und hinterlassen haben, lesen. Mauern haben Einfluss auf die Menschen, die in ihnen ihre Lebenszeit verbringen. Mauerwerk überdauert oft Jahrhunderte, wird in ein und derselben Funktion genutzt oder es ändert seine Form und seine Bedeutung. Gebäude gestalten alle Lebensbereiche, sind beispielsweise Stätten des Handels, der Wirtschaft, der Kultur, des Glaubens, der Gastlichkeit, der Erziehung und Bildung, der Gemeinschaft insgesamt. In den Mauern werden politische Entscheidungen getroffen, die Geschicke der Stadt gelenkt und nicht selten wird in ihnen über das Schicksal der gesamten Bevölkerung entschieden. Ziel des Projektes zwischen Kunst, Architektur und Geschichte war es auch, nach der Bedeutung städtebaulicher Entwicklung zu fragen. Woran ließe sich das in Bruneck besser demonstrieren als an einem Turm, den die Stadt als Symbol in ihrem Wappen trägt?

Der Pulverturm in Bruneck Ein (fast) vergessenes Baudenkmal1 A NDREAS O BERHOFER

Im Herzen der Stadt Bruneck, auf einem urbanen Platz zwischen dem Gebäude der Raiffeisenkasse und dem Hotel Post, steht an der Europastraße ein zinnengekröntes Türmchen mit anmutigen Doppelbogenfenstern, das in frisch renoviertem Glanz erstrahlt. An den Außenmauern finden sich Spuren von luftig-floraler Malerei, die Öffnungen sind neu gefasst, die Fenster verglast. Im Inneren befindet sich im ersten Stock ein kleines Messner Mountain Museum (MMM) mit dem Namen Biography, die Ausstellung im Erdgeschoss ist dem Leben und Wirken Friedrich Wilhelm Raiffeisens und den historischen Wurzeln der Raiffeisenkasse Bruneck gewidmet. Das Gebäude selbst verströmt das Flair eines mittelalterlichen oder renaissancezeitlichen Gemäuers, erinnert an die Grimm’schen Märchen und die Südtiroler Sagenwelt, aber auch an das Brunecker Stadtwappen mit seinem wehrhaften Turm, es stellt den interessierten Betrachter vor die Frage nach dem ursprünglichen Aussehen, der Funktion und – nicht zuletzt – auch nach dem Alter. Werfen wir einen Blick in die Zeitungen, die über die spektakuläre Neueröffnung des frisch renovierten Denkmals im Jahr 2012 berichteten, so finden wir wenig historische Information. Die Pustertaler Zeitung lässt uns wissen, dass der Kuss einer Prinzessin – gemeint ist die Renovierung auf Betreiben der Raiffeisenkasse Bruneck – den Turm, der vorher als »Schandfleck« empfunden worden sei, zur neuen Nutzung geführt hätte.2 Die Tageszeitung Dolomiten gibt immerhin einen vagen Hinweis auf die Entstehung des Gebäudes: »Nach umfassender Restaurierung ist in diesem steinernen Geschichtszeugnis, das im 16. Jahrhundert unter Kai1

Dieser Text ist die leicht überarbeitete Fassung meines gleichnamigen Beitrages in: Ulrich Leitner et al., Corpus Intra Muros: Katalog zum Kunst- und Wissenschaftsprojekt (Schriften zur Politischen Ästhetik 2), Innsbruck 2014.

2

Der Kuss der Prinzessin, n: Pustertaler Zeitung 17 (2012) 28/29.

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ser Maximilian erbaut und in jener Zeit als Pulverturm genutzt worden sein soll, nun ein kleines Museum eingerichtet worden.«3 Die heute noch gängige Bezeichnung Pulverturm rührt also aus der Verwendung als Magazin für frühneuzeitliches Schießpulver her. Abbildung 1: »Abcontrafettür der Statt Braunögg sambt des gerichts Michelspurg negst anrainnenten flöckhen und güettern 1581«, Tempera auf Leinwand.

  Quelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum (TLMF), Kartographische Sammlung, IX/44.

Sehen wir uns den Standort und dessen Vergangenheit näher an, so ist diese Theorie durchaus plausibel, denn der Turm stand durch Jahrhunderte hindurch außerhalb und weitab der Stadt. Der Begriff Stadt hat in Hinblick auf Bruneck nämlich bis in das 19. Jahrhundert hinein nur die Altstadt gemeint, mehrere Zeilen von Häusern, in denen Bürger, Adelige, Geistliche und Inwohner lebten und deren Baubestand in der Regel bis in das Mittelalter zurückreicht (Abb. 1). Wäre unser Pulverturm explodiert, hätte die Altstadt dadurch kaum Schaden genommen, der Standort scheint also ideal.

3

Ein Kulturgut wieder wachgeküsst, in: Dolomiten vom 18./19.8.2012, 33.



D ER P ULVERTURM

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Abbildung 2: »Brunek. [Pfar]rkirche 1793. Schloss 1620. Rain-Spital-Capuzinerkirche« Aquarellzeichnung.

  Quelle: TLMF, W 9236. Am rechten Rand könnte im Bildvordergrund die Ecke einer Gartenummauerung dargestellt sein.

Wie das Kapuzinerkloster lag auch das Siechenhaus außerhalb der eigentlichen Stadt, in Pestzeiten konnte die Kuntnerbrücke (Totensteg) nicht mehr überschritten werden, und die Stadttore wurden verschlossen. Die Stadt konnte sich leicht gegen das Außen abschließen, aber Bruneck war seit jeher (auch) eine Ackerbürgerstadt, und die Landwirtschaft war stets auch für die Stadtbürger von Bedeutung. Vor den Stadttoren lagen Wiesen, Äcker und Gärten, aber auch die größeren Wirtschaftsgebäude sammelten sich außerhalb der Stadt, im sogenannten Plarer und im Außerragen. Die landwirtschaftlich und gewerblich genutzten Gebäude außerhalb der Stadtmauern waren im Unterschied zu den Häuserzeilen entlang des Schlossberges nicht mehr nach urbanistischen Gesichtspunkten angeordnet, sondern vor allem nach der Funktionalität des Wassers ausgerichtet; daneben waren in der Landschaft einzelne Wohngebäude und Höfe zerstreut.4

4

Markus Pescoller, Bedürfnis – Regellosigkeit – Wirklichkeit: Die urbanistische Entwicklung der Stadt Bruneck, in: Der lange Weg in die Moderne. Geschichte der Stadt Bruneck 1800–2006, hg. von Stefan Lechner, Innsbruck 2006, 273–295.

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Abbildung 3: »Ansicht der Stadt Bruneck«. Kupferstich von Johann Tinkhauser (1787–1844).

  Quelle: TLMF, W 10706.

In dieser Gegend stand – mitten im Grün der landwirtschaftlich genutzten Flächen – unser Türmchen. Dass es ursprünglich zu einem Schloss, einem Ansitz, einer Kirche oder gar einem mittelalterlichen Wohnhaus gehört hat, können wir ausschließen. Dennoch aber gab es hier nicht nur weidende Kühe, Schafe, Ziegen und Gänse (das Klostertor hieß früher auch Gänsetor), sondern auch repräsentative Architektur: Auf historischen Darstellungen, sowohl Gemälden als auch druckgraphischen Ansichten, sind teils ummauerte, teils eingezäunte Gärten eingezeichnet (Abb. 2 und 3). Diese gehörten zum Besitz der Familie Sternbach, die in der Oberstadt, im sogenannten Oberdorf, einen Ansitz mit Barockgarten innehatte und auch heute noch innehat.5 Gerade in der Zeit von Renaissance und Barock waren sogenannte Baumgärten auch in Tirol en vogue. Der Garten der ehemals fürstbischöflichen Hofburg in Brixen, einer Stadt, die aufgrund der gemeinsamen Herrschaft mit Bruneck stets in sehr enger Beziehung stand, wurde um 1590 erstmals bildlich dargestellt, und das Aquarell von Mathias Burglechner zeigt eine mit verschiedenen Obstbäumen bepflanzte Wiese. Der Garten ist ummauert und wie jener auf einer Darstellung der Stadt Bruneck aus der Hand desselben Künstlers (um 1620, Abb. 4) regelmäßig bepflanzt.

5

Orangerie in Sternbach, Palais Sternbach mit Garten, in: Denkmalpflege in Südtirol 2000 / Tutela dei beni culturali in Alto Adige 2000, hg. von Landesdenkmalamt Bozen 2001, 60 f.



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Abbildung 4: Gesamtansicht der Stadt Bruneck von Norden, aus: Mathias Burglechner, Tiroler Adler, 3. Teil, 2. Abt., um 1620. Aquarell.

Quelle: Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, W 231/9.

Im Zuge des Umbaus der Brixner Hofburg zu einer Renaissanceresidenz im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts wurden im Baumgarten zwei Ziertürme errichtet, die im Sommer als Orte der Unterhaltung und Erholung für die Mitglieder und Gäste des bischöflichen Hofes dienten.6 Haben wir es also bei unserem Turm in Bruneck mit einem Überrest von Gartenarchitektur in den Sternbach-Gärten zu tun, wie dies die Ausführenden der Sanierung vermuten?7 Die These ist nicht ganz von der Hand zu weisen, ist der Brunecker Turm doch ein zierliches Gebäude, das mit feinen Steinsäulchen in den Fenstern ausgestattet und sogar mit filigranen Verzierungen bemalt ist, die bei der Restaurierung zutage getreten sind. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Gäste der freiherrlichen Familie Sternbach Stunden der Muße nicht nur im Barockgarten am Palais an der Oberstadt, der sogar über eine Orangerie verfügte, sondern auch im Baumgarten außerhalb der Stadtmauern verbrachten. Auch 6

Waltraud Kofler Engl, Zur Restaurierung des Chinesischen Pavillons im Baumgarten der Fürstbischöflichen Hofburg in Brixen, http://www.provinz.bz.it/denkmalpflege/themen/ laufende-restaurierungsarbeiten.asp, 24.3.2014.

7

Für wichtige Hinweise bedanke ich mich bei Dipl.-Kffr. Caterina Wiedow-Wieser (Raiffeisenkasse Bruneck), Arch. Dr. Georg Niederwieser (Bruneck), Familie von Grebmer (Bruneck, Dietenheim).

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der Weg zwischen den beiden Orten kann als willkommene Abwechslung im Arbeits- und Repräsentationsalltag empfunden worden sein, sei es als Kutschfahrt, Reitausflug oder Spaziergang. Der Baumgarten sollte in diesem Fall freilich – den Usancen der Zeit entsprechend – nicht zuletzt durch Gartenarchitektur beeindrucken, die bereits im Stich von Matthäus Merian (um 1680) angedeutet sein könnte (Abb. 5). Abbildung 5: »Braunegg«. Kupferstich/Radierung von Matthäus Merian d.Ä.

Die Abbildung stammt aus: Topographia Provinciarum Austriacarum Austriae Styriae Carinthiae Carniolae Tyrolis etc.: Das ist Beschreibung und Abbildung der fürnembsten Statt und Plätz in den Osterreichischen Landen Under und Ober Osterreich, Steyer, Kärndten, Crain und Tirol, Frankfurt am Main 1649, S. 136. Quelle: TLMF, FB 7678.

Sofern unser Turm tatsächlich ursprünglich als Zierturm und Gartenpavillon gedient hat, bleibt die heute noch geläufige Bezeichnung Pulverturm ein Rätsel. Eine derartige Vorrichtung diente der Aufbewahrung von Schwarzpulver in Fässern und sollte tunlichst außerhalb der Stadt angesiedelt sein, um bei einer eventuellen Explosion oder zumindest einem Brand keinen Schaden anrichten zu können. Ein Pulverturm war normalerweise massiv gebaut und fensterlos – unser Türmchen mit seinen eleganten und großzügigen Fenster- und Türöffnungen wirkt zu filigran für diese Aufgabe. Andererseits wurden die Fenster des Brunecker Turmes irgendwann zugemauert, was durchaus dem Zweck gedient haben könnte, ihn stabiler zu machen. Als Pulverturm für Bruneck fungierte aber dennoch über lange Zeit der sogenannte Kälberskopf, ein Rundturm aus dem 15. Jahrhundert, der Teil der Stadtbefestigung war (Abb. 6). 1527 wurde er als »Pulferturm am Kälberkopf« bezeichnet,



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später diente er als Arrestlokal für ungehorsame Bürger, als Gefängnis für bessere Verurteilte, denen man den Schlossturm als Verlies nicht zumuten wollte.8 Abbildung 6: »Bruneck im Pusterthale. Bruneck dans la valle de Puster. Bruneck nella valle di Pusteria«. Stahlstich von Wilhelm Knocke nach einer Zeichnung von Friedrich Würthle.

Quelle: TLMF, FB 7680. Im Bild rechts der Kälberskopf.

Die Bezeichnung Pulverturm bürgerte sich im 17. Jahrhundert immer mehr ein. Johann Nepomuk Tinkhauser schreibt in einer der frühen Fassungen seiner Geschichtliche[n] Nachrichten von der k.k. Kreisstadt Bruneck und derselben Umgebung (1834): »Das Schießpulfer wurde in den so genannten Kälberskopf aufbewahrt, daher derselbe den Nammen Pulferthurm erhalten hat.«9 Als der Radermeister Andre Ober 1822 anfragte, ob er eine Tür aus dem Pulverturm herausbrechen könne, um Holz einzulagern, war wohl der Kälberskopf gemeint. Das Gesuch wurde mit der Begründung abgewiesen, dass der Stadtmagistrat mit dem Turm »eine anderweitige Verwendung« vorhabe.10 Erst 1885 wurde er zu einem Wohn- und Gewerbegebäu8

Hubert Stemberger, Bruneck und Umgebung (Südtiroler Gebietsführer 7), Bozen 1988,

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Johann Nepomuk Tinkhauser, Geschichtliche Nachrichten von der k.k. Kreisstadt Brun-

72. eck und derselben Umgebung. Manuskript. Fotokopie, in: Stadtarchiv Bruneck, Nachlass Stemberger, M 79, 98. 10 Südtiroler Landesarchiv, Stadtarchiv Bruneck, Serie I/25 (Magistratsprotokolle 1822), 119.

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de umgebaut, ein neuer Pulverturm war bereits vorher auf dem Kühbergl eingerichtet worden.11 Abbildung 7: »Das neue Kreisamtsgebäude in Bruneck. Gratulations-Entschuldigungs-Karte für Bruneck pro 1848.« Lithographie.

Quelle: TLMF, FB 6506/60. Im rechten Bildhintergrund der Turm.

In einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1868 wird beschrieben, wie am 28. Juli ein Blitz in den Brunecker »Pulverthurm« einschlug und diesen »unter ungeheurem Knall in die Luft gesprengt« hat. Das größte anzunehmende Unglück trat also tatsächlich ein, ein Pulverturm explodierte und zog die umliegenden Gebäude in Mitleidenschaft. Beschädigt wurden aber nicht die Häuser der Altstadt in der Umgebung des Kälberskopfes, sondern das weit von diesem entfernte Ursulinenkloster und das Bezirksamtsgebäude, das damals am Graben und in unmittelbarer Nähe unseres vermeintlichen Sternbach’schen Gartenturmes lag (Abb. 7). Dennoch ist auch nicht dieser in die Luft geflogen, wenngleich die Rußflecken im Inneren als Hinweis auf eine Explosion gedeutet werden könnten. Explodiert ist vielmehr der Pulverturm auf dem Kühbergl in der Nähe des Armensündersteins, der, wie Paul Tschurtschenthaler berichtet, »seine eiserne Türe wie ein zweiter Teufel im Faust

11 J.N. Tinkhauser’s Brunecker Chronik 1834. »Geschichtliche Nachrichten von der k.k. Kreisstadt Bruneck und derselben Umgebung«, hg. von Hubert Stemberger, Bozen 1981, 243 f., Anm. 027.



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den Stegenern [den Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes Stegen, Anm.] vor die Füße warf.«12 Abbildung 8: »Entschuldigungskarte für Bruneck 1831«. Lithographie.

Quelle: TLMF, FB 6506/47. Im rechten Bildhintergrund könnte Gartenarchitektur angedeutet sein.

Unser Turm hingegen gab sich friedlicher. Er rückte im Laufe des 19. Jahrhunderts sehr nahe an die Stadt heran, sein unmittelbares Umfeld wurde immer mehr verbaut. 1830 wurde der ursprünglich der Stadtbefestigung dienende Graben vor der Stadtmauer aufgeschüttet, wodurch eine neue urbane Fläche entstand, die sich als Flanier- und Spaziermeile, aber auch als Bühne für Märkte und Jahrmärkte anbot (Abb. 8). Erster Bauherr am Graben war Johann Freiherr von Sternbach, der dort, im neu entstehenden Stadtteil, 1832 aus drei älteren Häusern einen eigenen Wohnsitz errichtete.13

12 Paul Tschurtschenthaler, Brunecker Heimatbuch, Bozen 1928, 170. 13 Hans Heiss, Die fortschrittliche Kleinstadt: Bruneck 1800–1914, in: Der lange Weg in die Moderne. Geschichte der Stadt Bruneck 1800–2006, hg. von Stefan Lechner, Innsbruck 2006, 17–81, hier: 33.

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Abbildung 9: »Neujahrs-Entschuldigungskarte der Stadt Bruneck. 1897«.

Quelle: TLMF, FB 6506/76. Zu sehen ist das Ursulinenkloster mit dem Klostertor (rechts) und einem weiteren Stadttor im Vordergrund. Der Graben wird von einer Holzbrücke überspannt, die von der Stadt auf die offene Straße führt. Gegenüber der Straße ist eine umzäunte Wiese dargestellt.

Ab den späten 1840er Jahren entstand eine zweite Ummantelung der Stadt, in deren Rahmen der Graben nordseitig mit großen Gebäuden flankiert wurde. Neben einem 1877 errichteten Schulhaus und dem 1847 erbauten Kreisamtsgebäude (danach k.k. Bezirkshauptmannschaft und Bezirksgericht) finden wir hier das Hotel Zur Post, das von Maria Elisabeth von Steyrer, die mit dem Gerichtsadvokaten Joseph Ludwig von Grebmer verheiratet war, in den Jahren 1846 bis 1850 erbaut wurde. Sie hatte um 1840 den Sternbachgarten gekauft, um auf diesem Grundstück ihr Gasthaus mit Futterhaus, Ställen und Wagenremisen zu errichten. Unser Turm befand sich jetzt, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, gewissermaßen im Hinterhof des Postgebäudes und war als Eckturm in die Ummauerung des Grundstückes integriert, die



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das k.k. Kreisamtsgebäude umgab (Abb. 10). Es scheint schwer vorstellbar, dass hier, in unmittelbarer Nähe eines Schul- und eines Verwaltungsgebäudes sowie eines Wirtshauses, Munition eingelagert wurde. Abbildung 10: Auszug aus einem Katasterplan der Stadt Bruneck, 1858.

Quelle: Stadtarchiv Bruneck, V/45. Der Graben ist zugeschüttet, das k.k. Bezirksamt ist gebaut und von einer Einfassungsmauer umgeben, die den Turm im Hinterhof des Gasthofs bzw. Hotels Post integriert.

Wir könnten also mit einiger Sicherheit sagen, dass unser Turm niemals Pulverturm war, sondern zunächst als Zierturm und Gartenpavillon die adelige Gesellschaft erfreute und später, als der Graben verbaut und der Sternbachgarten aufgelassen war, als Getreidelager und Backofen, vielleicht auch als Selchküche für das Postgasthaus und nachmalige Hotel Post diente. Er soll vor der Restaurierung noch gut erkennbare Spuren von Rauch und Ruß im Inneren aufgewiesen haben, und auf seinem Dach stand ein Kamin (Abb. 12).

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Abbildung 11: »Bruneg mit Dietenheim und Aufhofen«, Bleistiftzeichnung von G. v. Pfaundler (?).

Quelle: TLMF W 9237 (Rückseite). Die Vorderseite des Kartons trägt ebenfalls eine Bleistiftzeichnung mit einer naiven Ansicht der Stadt von Osten und ist bezeichnet »St: Bruneck 1834«. Links im Bild ist der zinnengekrönte Turm an topographisch falscher Stelle dargestellt.

Es bleiben also viele Fragen offen. Vielleicht ist die Geschichte des RaiffeisenTurmes, wie er neuerdings hin und wieder genannt wird, auch eine Geschichte von Verwechslungen und Fehldeutungen. Nur seine jüngste Vergangenheit kann aufgrund alter Fotografien und Augenzeugenberichte rekonstruiert werden. Als die Umfassungsmauer des Bezirksgerichts im Laufe der Zeit verschwand, blieb der Turm allein stehen, und er schlummerte hinter den beeindruckenden Fassaden am Graben, in der Brunecker Prachtstraße, die vielleicht ein kleines Abbild der Wiener Ringstraße werden sollte, vor sich hin. Vor wenigen Jahren wurde er durch die Initiative der Raiffeisenkasse, der bereits erwähnten Prinzessin, »wachgeküsst«. Aus dem hässlichen Entlein, einem beinahe vergessenen architektonischen Capriccio, das lange Zeit vernachlässigt worden war und auf dessen ursprüngliche Funktion man sich keinen rechten Reim mehr machen kann, wurde ein neues Wahrzeichen der Stadt, das an einer prominenten Stelle zum Weiterdenken, Weiterforschen, Anschauen und Phantasieren einlädt.



Abbildung 12: Fotografie des Pulverturmes, 1989.

Quelle: Sammlung Stadtgemeinde Bruneck, Bauservice.

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Wie es so ist, wenn man hinter meterhohen Mauern lebt N INA S CHRÖDER

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Nina Schröder: Mauern umstellen uns, Mauern sind überall, es gibt so viele davon, dass wir gar nicht richtig bemerken, was sie mit uns machen. Ich habe vier Gäste, einen Architekten, eine Soziologin, eine Historikerin und einen Erziehungswissenschaftler, und alle haben sich mit Mauern auseinandergesetzt. Ich fange mit dem Architekten an, Stefan Hitthaler. Was bedeuten Mauern? Stefan Hitthaler: Mauern sind in meinem Beruf natürlich wichtig. Wir Architekten bauen ja Mauern und grenzen ab. Wenn wir den Brunecker Pulverturm anschauen, einen kleinen Turm, der die Zeit überstanden, seine Geschichte aber verloren hat, sehen wir, dass die Ideologie einer Zeit den Turm geprägt hat, und diese ist in seinen Mauern gespeichert und wird heute von Historikern freigelegt, freigelegt auch von mir in einer poetischen Art und Weise im Kunstwerk Corpus intra muros, das ich um den Turm herum gebaut habe. Nina Schröder: Es geht aber auch darum, dass Mauern Räume bauen, das heißt Räume, die Freiräume schaffen oder Menschen einsperren, das ist eines der zentralen Themen. Stefan Hitthaler: Ich denke, das Thema ist eigentlich die Durchlässigkeit der Mauern, die Durchlässigkeit der Räume. Wir müssen uns bewusst machen, dass der umbaute Raum und der Raum, der außen die Mauern umschließt, der offene Raum, irgendwie in einer Wechselwirkung sein müssen. Nina Schröder: Mechthild Bereswill ist Soziologin, Professorin an der Universität Kassel, Frau Bereswill, Sie haben eine umfassende Studie durchgeführt. Von 1997 bis 2007 haben Sie jugendliche Straftäter befragt, wie sie die Mauern, dieses

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Ausgestrahlt im Mittagsmagazin des Rai-Südtirol am 26.7.2014.

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Eingekerkert-Sein – das ist vielleicht ein etwas heftiger Ausdruck –, empfinden. Was war die Kernaussage der Forschungsergebnisse? Mechthild Bereswill: Eingekerkert-Sein ist aus der Perspektive der Inhaftierten kein zu starker Ausdruck, weil die Erfahrung, eingesperrt zu werden, sich einem Freiheitsentzug unterziehen zu müssen, die eingriffsintensivste Maßnahme des deutschen Jugendgerichtsgesetzes ist. Aus der Perspektive der männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden, mit denen wir im Lauf der Jahre immer wieder in der Haft und nach der Entlassung und manchmal auch in einer Wiederinhaftierungssituation sprechen konnten, hat sich sehr deutlich gezeigt, dass für alle diese jungen Menschen die Erfahrung des Freiheitsentzuges ein existentieller Einschnitt in die eigene Biographie ist. Insofern wird die Bedeutung der Mauern an der Stelle natürlich sehr deutlich, und auch die Frage der Durchlässigkeit: Also, wie stark ist bei einer geschlossenen Unterbringung die Durchlässigkeit zwischen Drinnen und Draußen noch gegeben und wie können auch Übergänge gestaltet werden, sodass diese Geschlossenheitserfahrung eingebettet ist? Das ist eine ganz wichtige Perspektive, die nach wie vor zu schlecht gelöst ist. Nina Schröder: Ganz konkret heißt das, dass man sich verändert, wenn man ins Gefängnis geht, dass man möglicherweise gewalttätiger wird, als man es vorher war? Mechthild Bereswill: Darauf gibt es keine klare Ja- oder Nein-Antwort. Selbstverständlich verändert die Erfahrung einer geschlossenen Unterbringung das Selbsterleben, aber nicht so radikal, wie man das vielleicht in den 1960er Jahren in der soziologischen Gefängnisforschung noch vertreten hat. Es ist eher eine Wechselbeziehung zwischen dem, was jemand mitbringt an Handlungs- und Konflikterfahrungen, und dem, was dann aber auch in der neuen räumlichen Situation innerhalb des Gefängnisses passiert. Ob das Gefängnis gewaltätiger macht, das ist eine ganz schwierige Frage, weil es darauf ankommt, von welchem Punkt aus Sie das messen wollen. Das Gefängnis, nicht nur der Jugendstrafvollzug, ist auf jeden Fall eine Vollzugsanstalt. Die geschlossene Unterbringung ist dadurch charakterisiert, dass sich dort gewalttätige Interaktionen abspielen oder auch mit angedrohter Gewalt die sozialen Interaktionen in Gang gehalten werden. Nina Schröder: Das Gefängnis, Herr Leitner, Sie sind der wissenschaftliche Leiter dieses Projekts, Erziehungswissenschaftler in Innsbruck, das Gefängnis ist ja eine Erziehungsmaßnahme auch? Ulrich Leitner: Es war die Idee hinter dem Projekt Corpus intra muros, nach den Räumen zu fragen, in denen die räumliche Bildung und Erziehung des Körpers angestrebt wird. Das Gefängnis ist einer dieser Orte. Ein anderer ist die geschlossene und offene Heimstruktur. Es gehören aber auch das Kloster und die psychiatrischen Anstalten dazu, die mit den beiden erstgenannten in Beziehung stehen. Das war der Grund, gerade Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zu diesen Themen arbeiten, nach Bruneck einzuladen und dieses Zusammenspiel zwischen



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Mensch und Mauer am Beispiel dieser speziellen Erziehungsorte näher zu ergründen. Kloster, Gefängnis, Erziehungsheim und die Psychiatrie sind miteinander verwandte Erziehungsorte, deren räumliche Gegebenheiten als Erziehungsmaßnahmen gelten können. Das heißt, die Orte selbst sind Erziehungsmittel, nicht erst die dort praktizierte Pädagogik. Ich sehe den Raum aber nicht nur als die Mauern, die uns umgeben, wie es der Architekt tut, der konkrete, gebaute Raum sozusagen. Mich interessieren auch die unsichtbaren Mauern, die Trennungen schaffen im sozialen Bereich, Trennungen bis hinauf zum politischen System. Das hat mich bewogen, das Projekt interdisziplinär anzulegen. Nina Schröder: Während dieser Tagung ist immer wieder herausgekommen, dass dieses Wegsperren eigentlich nicht nur etwas ist, was Staaten oder geschlossene Institutionen tun. Das Wegsperren ist irgendein Impuls, der schon von Eltern passiert. Warum ist dieses Wegsperren eine Erziehungsmaßnahme? Ulrich Leitner: Die Frage, ob das eine sinnvolle Erziehungsmaßnahme ist, ist Gegenstand einer langen Debatte und wird auch aktuell heiß diskutiert. Man denke an das von Mechthild Bereswill eingebrachte Beispiel des Jugendstrafvollzugs. Ein Diskussionspunkt betrifft den Unterschied zwischen Strafe und Erziehung beziehungsweise die Frage, ob Strafe eine Erziehungsmaßnahme sein kann oder wann sie für eine gehalten wird und in der Geschichte für eine gehalten wurde. Die Tagungsbeiträge zur Jugendstrafvollzugsanstalt und zu den Erziehungsheimen, deren historische Entwicklung eng miteinander verbunden ist, haben viele Impulse zum Nachdenken gegeben, die auch für die moderne Erziehungshilfe relevant sein können. Nina Schröder: Dann gebe ich die Frage gleich weiter, warum ist Strafen eine Erziehungsmaßnahme? Warum halten wir das für eine gute Erziehung? Mechthild Bereswill: Das ist natürlich eine ganz grundsätzliche Frage. Was meinen wir eigentlich genau, wenn wir Wegsperren sagen? Ist es das Gleiche, wenn ich Jugendliche in einem geschlossenen oder offenen Heim der Jugendhilfe unterbringe oder wenn ich sie bestrafe mit einem Freiheitsentzug und davon ausgehe, dass ich innerhalb dieses Rahmens dann erzieherische Maßnahmen einsetzen kann, die dann zu einer Resozialisierung führen. Das ist ja der Gedanke des Jugendstrafvollzugs. Also, die Gesellschaft leistet sich diese Jugendgefängnisse mit der Begründung, dass bestimmte Jugendliche diesen Rahmen brauchen, um sich dann verändern zu können im Zuge von Erziehung und Bildung. Und der Impuls, störende Subjekte wegzusperren, diesen Impuls zu erklären, das ist, glaube ich, ein umfassendes, interdisziplinäres Projekt, für das wir auch die HistorikerInnen brauchen. Nina Schröder: Damit stelle ich die Historikerin vor die Frage, die Vierte im Bunde, Christina Antenhofer, Professorin an der Universität Innsbruck, spezialisiert auf das Mittelalter. Christina Antenhofer: Ich finde das Thema interessant, weil an der Wurzel vieler Fallbeispiele, die wir behandelt haben, das Kloster stand, das sich als Institution, als Gebäude weitertradierte. Auch als kein Orden mehr in den Gemäuern war, eig-

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neten sich die Gebäude, um Kliniken, Schulen, Gefängnisse unterzubringen. Das Kloster entstand im frühen Mittelalter als Impuls, um, salopp gesagt, verlauste Asketen, die in Höhlen hausten, Unruhe verursachten und Konfliktpotential hatten, zu versammeln. Diese Menschen wollten nicht in einer Gemeinschaft sein, aber man wollte sie organisieren, um dieses Unruhepotential zu bündeln, das darin steckte, dass diese Menschen beschlossen hatten, eine eigene Lebensform zu wählen. Dahinter steht eine grundlegendere Frage: Wie gestaltet sich eine Gemeinschaft, wie gliedert sie Individuen ein und kann man außerhalb der Gemeinschaft sein? Ist ein Leben außerhalb der Gemeinschaft überhaupt möglich? Ich finde, das Mittelalter zeigt ein Experimentieren damit, verschiedene Formen von Gemeinschaft zu bündeln. Was aber nicht vorgesehen war, war außerhalb einer Gruppe zu existieren. Ulrich Leitner: Was für mich in diesem Zusammenhang ganz zentral ist und hierin zum Ausdruck kommt, ist der Gedanke, dass eine soziale Gruppe immer nach Sicherheit strebt, existentielle und emotionale Sicherheit. Nur, diese Sicherheit kann im Grunde niemand gewährleisten, weil das Leben an sich nicht sicher ist. Aber verschiedene Gesellschaftsmodelle versprechen den Menschen, für diese Sicherheit zu sorgen, und beziehen hieraus auch ihre Legitimation. Man sieht das beispielsweise am Bedürfnis nach einem Weltpolizisten, der unsere Sicherheit im Großen überwachen soll. Dazu müssen Grenzen gezogen werden, die die so genannten Anderen draußen halten. Das können Barrieren politischer Struktur, mitunter aber auch wirkliche Mauern sein. Und dahinter steckt der Gedanke, dass wir durch Abgrenzung einer Gruppe für eine andere Sicherheit schaffen wollen. Mechthild Bereswill: Und bezogen auf Jugendliche ist das natürlich ein alter Topos, dass Jugend gefährdet und gefährlich zugleich ist. Ich würde an der Stelle auch den Begriff der Adoleszenz ins Spiel bringen, also in einer bestimmten Aufbruchs- und Entwicklungsdynamik begriffene Menschen mit Biographien im Werden. Mit der Spannung zwischen Gefahr und Gefährdung wird immer wieder argumentiert und immer wieder versucht zu begründen, warum Gesellschaft auf Institutionen wie das Erziehungsheim und das Gefängnis nicht verzichten kann. Nina Schröder: Frau Bereswill, Sie haben aber auch herausgefunden, dass dieses Eingesperrt-Sein, diese Absonderung einer Gruppe von Menschen zwischen diesen Mauern etwas mit den Menschen macht. Sie haben männliche jugendliche Straftäter interviewt und haben gesehen, dass diese jungen Männer ein etwas rückwärtsgewandtes Männlichkeitsbild haben. Sie haben das ein animalisches Männlichkeitsbild genannt, das in keinem Verhältnis steht zu dem, wie unser Männlichkeitsbild in der Gesellschaft momentan ist. Mechthild Bereswill: Animalisch ist das Bild, das sozusagen aus der Auseinandersetzung der jungen Männer mit ihren Rangordnungskämpfen kommt. Ich selbst würde niemals sagen, dass das animalische Männlichkeiten sind, zumal Männlichkeit ja eine durch und durch soziale Konstruktion ist. Bemerkenswert ist, wie Männlichkeit und damit auch Weiblichkeit in diesem Raum konstruiert wird. Es



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passiert auch außerhalb des Jugendstrafvollzugs, dass junge Männer in ihren Strukturübungen auf Gewalt Bezug nehmen, auf angedrohte und ausgeübte Gewalt, um Männlichkeit herzustellen. Wir haben aber mittlerweile einen starken Wandel der Männlichkeitsvorstellungen und des Geschlechterverhältnisses, sodass diese jungen Männer in der Tat damit riskieren, marginalisiert zu werden. Dass sie sich quasi auf eine strukturkonservative Vorstellung von wehrhafter Männlichkeit beziehen, auf durchsetzungsfähige, an körperlichen Potentialen orientierte Männlichkeiten, die nicht mehr im Zentrum der gesellschaftlichen Vorstellungen stehen, ist allerdings nicht zu verstehen, ohne die soziale Lage der jungen Männer zu untersuchen. Nina Schröder: Hat das etwas zu tun mit diesem engen Zirkel, in den sie geraten, wenn sie in ein Jugendgefängnis kommen? Mechthild Bereswill: Es ist sehr nachvollziehbar, dass eine räumliche Situation, aus der es faktisch kein Entkommen gibt, die Konflikte zuspitzt, ohne diese Konflikte einer Lösung oder gar Auflösung zuführen zu können. Und das haben wir, wenn wir uns eine geschlossene Institution vorstellen. Nina Schröder: Mauern, die geschlossene Räume herstellen, Mauern, die Freiräume herstellen, Herr Hitthaler, wie geht man damit als Architekt um? Stefan Hitthaler: Seit ich den Vortrag von Mechthild Bereswill über das Gefängnis gehört habe, habe ich darüber nachgedacht, wie so ein Gefängnis aussehen könnte. Ich finde die am Anfang angesprochene Lösung die sympathischste: Es soll keine geben. Also ich verzichte gerne darauf Gefängnisse zu bauen, auf solche Aufträge, aber natürlich würde es dann wohl Modelle sozialer Regulierung anderer Art geben müssen, auch Zwischenstufen. Das Problem ist, dass wir wahrscheinlich heute nur das bauen können, was unseren gesellschaftlichen Entwicklungsstand spiegelt. Wir können nicht etwas in der Zukunft für heute bauen. Das ist für mich als Architekt, der konkrete Bauprojekte umsetzen möchte, nach Mechthild Bereswills Vortrag ein Problem. Nina Schröder: Kann man Freiräume bauen? Stefan Hitthaler: Ja, die gibt es schon überall. Freiräume werden ja durch geschlossene Räume definiert. Es geht ja nicht nur um Freiräume, es geht vielmehr darum, Räume so zu bauen, dass sie die Qualität eines Freiraums oder zumindest einen Anteil an Freiraum haben. Nina Schröder: Frau Antenhofer, Sie haben vorhin auch die Klöster in die Diskussion gebracht. Klöster bedeuten ja nicht nur Eingesperrt-Sein, sondern waren auch im Mittelalter ein Freiraum? Christina Antenhofer: Es ist auf jeden Fall ein Spannungsverhältnis. Ich habe schon die Anfänge der Klöster angesprochen, das Einsammeln von Menschen außerhalb definierter Gruppen. Auf der anderen Seite gab es dann sehr schnell viele Bedürfnisse, in das Kloster zu gehen. Das wichtigste davon ist, einem anderen Modell zu entweichen, das sich bis heute hält: die Familie. Heute herrscht die Vorstellung, man wurde gezwungen ins Kloster zu gehen, aber das Kloster war die einzige

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Form, ich möchte sagen, eines Single-Daseins, bis hin zur Möglichkeit nichtheterogeschlechtliche Gemeinschaften zu leben. Ich glaube, das haben wir jetzt noch nicht angesprochen, aber es würde auch zu den Gefängnissen passen. Das Kloster war natürlich eine bauliche Installation, die Geschlechter konstruiert hat und damit auch sehr stark an Geschlechterbildern mitbaute, die wir bis heute haben. Im Mittelalter waren Klöster aber ein alternatives Lebensmodell zur konservativen Form der Familie. Es gab sehr starke Spannungen zwischen diesen beiden Polen, die sich letztlich darin auflösten, dass die Familien, vor allem der elitären Schichten, die Klöster für sich nutzten. Sie brachten dort ihre überschüssigen Kinder unter, also die, die sie nicht über Heiraten versorgen konnten. Damit wurde dieser eigentliche Freiraum Kloster zugleich wieder instrumentalisiert. Was ich aber noch sagen möchte, was mich für die Diskussion sehr interessiert, ist, dass diese alten Bauformen, diese alten Gebäude, Lebensformen speichern, die dort gelebt werden können. Und eigentlich ist es erschreckend, dass wir sie immer noch bespielen, das gibt mir zu denken. Also zu fragen, ob wir nicht ganz konservative Lebensmodelle weitertragen. Ulrich Leitner: Das kann ich nur bestätigen, angesichts der Tatsache, dass zwei der ehemaligen öffentlichen Erziehungsheime in Tirol in aufgelassenen Klöstern untergebracht waren. Heute befinden sich in diesen Gebäuden sozialpädagogische Zentren. Andere ehemalige Heime sind als potentielle Unterkunft für AsylwerberInnen im Gespräch und werden teilweise schon in dieser Funktion genutzt. Natürlich haben diese Orte noch immer nichts von ihrer sondernden Wirkung verloren. Aber wie können wir mit diesen Gebäuden am besten umgehen? Christina Antenhofer: Als Historikerin möchte ich diese Gebäude natürlich nicht sprengen, aber vielleicht kann uns das Kunstwerk Corpus intra muros von Stefan Hitthaler eine Antwort darauf geben. Es macht Menschen in Spannungen zu Gebäuden sichtbar, bewahrt Historisches und erweitert es und regt uns dadurch zum Nachdenken darüber an, ob wir denn nicht auch andere Strukturen räumlich schaffen müssen, um uns als gesellschaftliche Wesen weiterentwickeln zu können. Nina Schröder: Ich möchte noch einmal in die Runde die Frage stellen, ob wir uns insgesamt bewusster werden müssten als Gesellschaft, was Mauern mit uns machen, welche Wirkung sie auf uns haben, was Architektur in sich trägt, das ist das, was Sie eben angeregt haben. Christina Antenhofer: Es gibt, wissenschaftlich gedacht, eine neue Wende, wo man sagt, seit Nine Eleven können wir uns nicht mehr auf Diskurse, Sprache, Fiktionen zurückziehen. Dieses Ereignis hat uns ganz deutlich gemacht, dass wir letztlich Körper sind, die leiden, die Schmerzen erfahren und die ganz massiv von gebauten Umwelten beeinflusst sind. Ich denke, es setzt jetzt ein Nachdenken über unterschiedliche Formen ein, wie wir diesen Raum fassen können. Mechthild Bereswill: Sozialwissenschaftlich betrachtet ist die spannende Frage, wie wir solche Mauern untersuchen, die an einem Ort fest lokalisiert sind mit all



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den Erinnerungsschichten, etwa als ehemaliges Kloster, das dann in den 1950er Jahren als Unterkunft junger Frauen fungierte, die dort gebessert werden sollten. Denn neben all diesen Erfahrungsschichten, die in dieser Struktur sitzen und auch wirken, entstehen dort trotzdem verschiedene soziale und symbolische Räume, die auch hergestellt werden von den Menschen, die sich bewegen zwischen diesen Mauern oder sie auch überwinden, indem sie entweichen und wieder zurückgebracht werden. An der Stelle ist auch das Wechselspiel zwischen den Fragen der Architektur, der Planung und der Untersuchung der sozialen und kulturellen Dimensionen wichtig. Hier sehe ich ein großes Potential für die Auseinandersetzung mit der Frage: Was ist ein Gemeinwesen, das Abweisung und Störung nicht immer nur ausgrenzt, sondern nach Wegen sucht, sich mit Devianz auseinanderzusetzen? Nina Schröder: Wie müsste ein Erziehungsheim, ein Gefängnis, ein Jugendgefängnis gebaut sein, damit es diese Ausgrenzung nicht hat? Stefan Hitthaler: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in der Planung von Wohnhäusern die Sprache als Kommunikationsmittel oft ungeeignet ist. Ich habe daraufhin kreative Spiele mit meinen Kunden gemacht, bei denen erstaunlichste Ergebnisse herausgekommen sind, erstaunlich für den Kunden und für mich. Ein spannender Ansatz wäre, ob man so einen spielerischen Kommunikationsprozess mit Inhaftierten oder Jugendlichen in einem Heim einmal probieren könnte. Ich meine damit, ob sich die Form und Struktur einer solchen Institution herauskristallisieren könnte, indem diejenigen, die von den Mauern direkt betroffen sind, mehr in den Planungsprozess eingebunden werden könnten. Mechthild Bereswill: Es gibt einen sehr interessanten Ansatz, der nicht dabei ansetzt zu bauen, also architektonisch zu bauen, sondern innerhalb einer geschlossenen Struktur und innerhalb des Jugendstrafvollzuges nach Formen zu suchen, in denen eine demokratische Auseinandersetzung zwischen allen Beteiligten innerhalb der gegebenen Grenzen möglich ist. Das sind die Just Community Projekte. Die Jugendvollzugsanstalt in Adelsheim bei Stuttgart hat so eine Gruppe auch umgesetzt und auch von der Forschung begleiten lassen. Das wäre sozusagen das Pendant auf der Seite der sozialen Interaktionen, dass man mit den Beteiligten vor Ort so weit wie möglich die Grenzen verschiebt, sodass auch innerhalb einer autoritären Institution Mitbestimmung bis hin zu durchgekämpften Entscheidungen in der Gruppe möglich werden. Das setzt voraus, dass man sich diesem Widerstand, der damit verbunden ist in dieser Institution, auch aussetzt, und nicht immer nur mit Sicherheitsfragen argumentiert. Also planerisch steht bei all diesen Institutionen immer die Sicherheit ganz oben. Wenn man aber nur unter Sicherheitsperspektiven baut, braucht man die Jugendlichen auch nicht mehr fragen, was sie gerne hätten, weil das dann keinen Platz mehr hätte. Nina Schröder: Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

»Kunst ist der Architektur weit überlegen«1 H EINRICH S CHWAZER

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G ESPRÄCH MIT S TEFAN H ITTHALER

Herr Hitthaler, sind Sie ein barocker Mensch? Eher nicht, und wenn ja, dann gut vergraben. Ihre Installation Corpus intra muros am Brunecker Postplatz wirkt wie barocke Kirchenmalerei. Möchten Sie die Sixtinische Kapelle ins Digitalzeitalter transponieren? Mich wundert sehr, dass ich schon öfters auf eine Gemeinsamkeit mit der Sixtinischen Kapelle angesprochen worden bin. Ich empfinde die Malerei Michelangelos als von Licht durchflutet und würde eher in der Licht-Dunkel-Malerei Caravaggios eine mögliche Referenz sehen. Im Atelier experimentiere ich seit fast zehn Jahren in zwei Lichträumen, einem schwarzen und einem weißen. Die Installation Corpus intra muros stammt aus dem schwarzen Raum, in dem ich aus dem Schwarz heraus fotografiere und gerade so viel Licht verwende, um meine Figuren manchmal auch nur zum Teil sichtbar zu machen. Im weißen Raum verwende ich so viel Licht, dass die Körper sich nicht gänzlich auflösen. Nachvollziehen kann ich jedoch, dass die Überbauung des Pulverturmes zu einem sakral anmutenden Zwischenraum geführt hat und daher vielleicht bei einigen Betrachtern Bezüge zu religiösen Räumen entstanden sind. Welches fotografische Material verwenden Sie für die Dekorationen? Nach acht Jahren reiner Fotografie-Experimente im Atelier habe ich auf Anregung von Ulrich Leitner die zwei Welten, die mich beschäftigen, Architektur und Fotografie, verschmolzen. Das erste Ergebnis ist die Installation Corpus intra muros in Bruneck, das zweite die Installation REAGENT in Innsbruck am Universitätsplatz. Die Fotos werden mit mehreren Modellen in meinem Atelier speziell für die jeweilige Arbeit produziert. Dabei interessiert mich, wie viel oder wie wenig ich

1

Das Interview ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen in: Die Neue Südtiroler Tageszeitung vom 30.7.2015.

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den Modellen vor dem Fotografieren vom Thema erzählen muss bzw. darf, um deren Ausdruckskraft nicht zu reduzieren. Auch ihre Installation REAGENT am Innsbrucker Universitätsvorplatz basiert auf verfremdeten Fotografien von Körpern, die auf einem Reagenzglas wie Putten herumfliegen. Die Ratio der Wissenschaft trifft auf engelhafte TranszendenzSehnsucht. Ist das die Richtung? Bei dieser Arbeit gibt es mehrere Elemente: Das Reagenzglas bezieht sich auf die Naturwissenschaften, die Reagenz – die Körper – könnten die Geisteswissenschaften, zum erweiterten Verständnis des Lebens, darstellen. Reagenz und Reaktanz bilden im Glas nach einiger Zeit ein Gleichgewicht. Stabilisiert wird das durch den Stöpsel. Dieses Modell könnte man auf viele Bereiche übertragen. Spannend wird, was passiert, wenn wir den Stöpsel herausziehen. Das Gleichgewicht besteht sicher nicht mehr bzw. wird sich ein neues Gleichgewicht bilden, besser oder schlechter? Die Naturwissenschaften können auch mit dem Thema Glauben, Transzendenz getauscht werden, die einzige fixe Komponente im Modell ist der Mensch. Ihre transhistorischen Verknüpfungen mit dem Barocken erfolgen architektonisch aus einer sehr deutlich gemachten heutigen Perspektive. Das Fotografische jedoch zelebriert den barockisierenden Überschwang. Ist die Rückkehr der großen Geste für Sie eine Rückkehr zum Sinnlichen, Vitalen, Erotischen, auch Burlesken? Mich interessiert die Annäherung an die Höhen und die Abgründe des Menschen. Im Idealfall hätte ich gerne einen unzensierten Blick darauf. Nicht voyeuristisch also, auch nicht erotisch oder burlesk, sondern unverfälscht und direkt. Natürlich möchte ich Schritt für Schritt in Bereiche des Menschen vordringen, die private Zensur auflösen und so unverfälschte Einblicke gewinnen. Als Architekt sind Sie sehr geradlinig. Schlägt in Ihren künstlerischen Projekten die geheime Sehnsucht des Architekten nach dem Barocken durch? Ich glaube, ich arbeite als Architekt und in dem Grenzbereich zwischen Architektur und Fotografie ziemlich ähnlich. Ich folge Konzepten. Ganz besonders genieße ich es jedoch, wenn manchmal eine Eigendynamik im Entwurfsprozess entsteht und das Ergebnis für alle, also auch für mich, überraschend ausfällt. Sei es in der Architektur wie auch in der Fotografie beschäftige ich mich durchgängig mit den Entstehungsprozessen einer Arbeit und wie ich diese beeinflussen kann. Sicher bin ich bei den Fotoobjekten freier und lasse so üppigere, spielerische Schichten an die Oberfläche. Vor nicht langer Zeit war das Barocke mit seinem opulent Dekorativen, überladen Verspielten noch ein Schimpfwort. Jetzt wirkt es wie ein Vorläufer der multimedial, polyperspektivischen zeitgenössischen Kunst mit ihren räumlichen Illusionstechniken und fluiden Werkkonstellationen. Wie sehen Sie die Renaissance des Barocken?



»K UNST

IST DER

A RCHITEKTUR WEIT

ÜBERLEGEN «

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Ich liebe Experimente und finde die Vielfalt im Ausdruck und in der angenehmen Technik- bzw. Disziplinlosigkeit, die sich heute mit ihrer digitalen Schnelllebigkeit anbietet, zugleich fast unauslöschbare Spuren hinterlässt, berauschend. Das Barocke träumt von einer Verflechtung aller Künste. Stehen Ihre Ausflüge in die Zwischenbereiche von Architektur und Fotografie unter diesem Leitmotiv? Ich finde die Verflechtung aller Bereiche sehr inspirierend. Schon als junger Architekturstudent fand ich, dass die Kunst der Architektur in der Klarheit der Aussage weit überlegen ist. Daher habe ich mich lieber mit kreativen Prozessen im Kunstbereich beschäftigt, um daraus für die Architektur zu lernen. Historisch stand der Barock im Dienste der gegenreformatorischen Propaganda. Möchten Sie dieses Programm auf die Architektur übertragen nach dem Motto: Mehr Schauwert, mehr Genussfreude, mehr Transzendenz in die Architektur? Glauben durch prunkvolle Zeremonien und barocke Bauten zu zelebrieren, scheint mir ein sehr fragwürdiges Konzept zu sein. Ich lese ihre Frage lieber als Genussmöglichkeit der Vielfalt, des Verlassens eines strengen formalen Diktats und als Definieren von Inhalten, die entsprechend frei, zurückhaltend, üppig, überraschend … umgesetzt werden können. Für einen Architekten wildern Sie häufig im Kunstbereich. Warum? Warum nicht?

II Was Räume erzählen

Poesie einer Installation Über Corpus intra von Stefan Hitthaler (entlang von Heidegger) S TEFANO Z ANGRANDO

V ORGESCHICHTE Als ich im Juli 2014 anlässlich der Tagung Corpus intra muros in Bruneck ankam, wo ich gebeten worden war, die Begegnung mit der Autorin Waltraud Mittich zu moderieren, hatte ich die Stadt seit einigen Jahren nicht besucht. Und ich wusste, dass ich sie dieses Mal mit anderen Augen betrachten würde. In den vorausgehenden Wochen hatte ich nämlich die Texte des Begleitkatalogs zur Tagung ins Italienische übersetzt. Insbesondere die Beiträge von Christina Antenhofer und Andreas Oberhofer hatten mir ganz plötzlich – jeder auf seine Weise – ein geschichtliches und räumliches Bewusstsein für diesen Ort eingeflößt, das ich zuvor, ich gestehe, nicht hatte. Der Text des Architekten Stefan Hitthaler hatte mich wiederum auf seine Weise auf die Begegnung mit einer künstlerischen Installation vorbereitet, die mir bis zu diesem Moment nur in Form einer Skizze angekündigt worden war, welche mir vor einiger Zeit von Ulrich Leitner gezeigt worden war, dem ich die Einladung zur Tagung verdankte. Auf diese Weise angeregt, suchte ich sogar auf Google Maps eine fotografische Spur des Pulverturms, jenes kleinen Turms ohne präzise Identität, dem ich in der Vergangenheit, wie ich nun verstand, zu wenig Beachtung beigemessen hatte und welchen die Arbeit von Hitthaler umschrieben, eingerahmt, aufgewertet haben musste. Ich versuchte also mehr schlecht als recht einen gewöhnlichen Blick auf einen Ort und ein Objekt, die ich bei meiner Ankunft auf eine gewisse Weise verändert vorfinden würde. Und genauso war es. Von der Europastraße herkommend, ging ich am Rathaus vorbei und kam auf den Platz vor der Raiffeisenkasse, wo ich nicht sogleich, wie nur einen Monat zuvor, auf die anmutige und bescheidene Präsenz des alten Turms traf, der vor kurzem restauriert worden und nun Sitz eines Mini-MMM (Messner Mountain Museums) war, vermischt mit Ausstellungsmaterial der Bank, die die

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Restaurierung finanziert hatte. Stattdessen wurde mein Blick überwältigt von einer kubischen Konstruktion in Stahl, welche den Turm von oben und zwei Seiten, gestützt auf solide Zementfundamente, einfasste und auf deren inneren drei Seiten sich eine Gigantografie abzeichnete, vage körperliche Formen mit unscharfen Konturen in Bewegung, Fragmente von Nacktheit auf braunem Grund, die mich auf Anhieb an die mächtige Gestalt Adams in dem Werk Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle erinnerten. Die Großartigkeit des Werks, sowohl elegant als auch unbestimmt industrial, veränderte die Wahrnehmung des umgebenden Raums und des Turms selbst, der plötzlich in einer hypermodernen Form bewacht wurde, die sein vieldeutiges Sein zwischen unbekannten Linien aus Kraft und Licht aufwertete und ihn zugleich in ein angespanntes und sinnliches Echo der Körper einhüllte, die sich in denselben Jahren, als Michelangelo seine Hauptwerke schuf, zwischen seinen Mauern aufhielten. Vom Gesichtspunkt des Künstlers – wie Hitthaler bescheiden seine eigene Intention definiert – stelle das Werk im Übrigen »einen verzweifelten Kampf um Freiheit und Befreiung dar, mit stürzenden Engeln und einem Körper, der sich gerade im Übertritt aus einer Welt in eine andere befindet, das Bein noch ganz hier, der Körper schon in Auflösung begriffen.«1 Ich habe gesagt, dass das Werk von Hitthaler die Wahrnehmung des umgebenden Raums verändere, doch wenn ich nun mit einem Jahr Abstand darüber nachdenke, so merke ich, dass es sich in der Tat um mehr handelte: eine Veränderung, die unserer eigenen Gegenwart widerfahren war, unseren Bewegungen und Gesten dort, an jenen Tagen, im Raiffeisengebäude, im Hotel Post oder auf dem Platz, an den warmen und stillen Stunden des Tages oder zwischen der Menge der Abendveranstaltung, mit der die Tagung ausklang. Wenn ich versuche, besser zu definieren, was ich damit meine, so kommt mir – vorausgesetzt, dass Hitthalers Installation als Plastik verstanden werden kann, also nicht nur Architektur sei, sondern auch Volumen und sogar Skulptur – in den Sinn, was Martin Heidegger in einem kurzen Text Die Kunst und der Raum (1969) in den 1960er Jahren über die plastische Kunst schrieb: »die Verkörperung der Wahrheit des Seins in ihrem Orte stiftenden Werk«.2 Dennoch bin ich mir bewusst, dass seine Suggestion zu unbestimmt bleibt, auch wenn diese Definition auf das anspielt, was ich damals fühlte. Die Sprache Heideggers klingt heute ungemein weit entfernt – abgesehen vom Misskredit, der auf den Philosophen zum Teil durch die rezente Veröffentlichung der Schwarzen Hefte geworfen wurde –, obwohl dieser Text dem zweiten Abschnitt seines Werks angehört und damit auf die Übernahme der Krise der Sprache der Metaphysik folgte, die vor allem Ende der 1920er Jahre die Fortsetzung von Sein und Zeit (1927) erschwerte. 1

Stefan Hitthaler, Der Turm ruft, in: Corpus Intra Muros. Katalog zum Kunst- und Wis-

2

Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum. LʼArt et LʼEspace, St. Gallen 1969, 13.

senschaftsprojekt, hg. von Ulrich Leitner / Stefan Hitthaler u.a., Innsbruck 2014, 27.



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Mein Beitrag widmet sich daher dem Unterfangen, von innen die Seiten von Die Kunst und der Raum zurückzuverfolgen, um darin die Ressourcen der Sprache und des Denkens zu erforschen, die es mir erlauben, die besondere Atmosphäre jener Tage im Juli in Worte zu fassen.

D IE Z UHILFENAHME

VON

H EIDEGGER

Wie die anderen Werke des zweiten Heideggers in einem fragmentarischen Gesamten organisiert, hat auch dieser kurze Text, die Überarbeitung eines Vortrags, den der Philosoph 1964 anlässlich der Ausstellung des Bildhauers Bernhard Heiliger hielt, von Anfang an die Form des Versuchs, der Frage: »Die Bemerkungen zur Kunst, zum Raum, zum Ineinanderspiel beider bleiben Fragen, auch wenn sie in der Form von Behauptungen sprechen«.3 Es bleibt die Tatsache, dass die Definition der Plastik, die ich oben zitierte, einen Anklang von Bejahung hat, die einen Schlüsselpunkt im Denken Heideggers benennt, jenen der »Wahrheit des Seins«, mit dem ich mich hier befassen möchte. Wie Gianni Vattimo in seiner Einleitung der italienischen Edition von Die Kunst und der Raum (1984) anmerkt, hat für Heidegger das historische Geschehen der Wahrheit, ihre »Eröffnung«, einen Charakter der »Einweihung«, und diese ist der Sprache der Dichtkunst eigen: »die Kunst«, schreibt Heidegger in Der Ursprung des Kunstwerkes (1936) »ist das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit«.4 Doch in diesem kurzen Text, der mehr als 30 Jahre später verfasst wurde, scheinen die Sprache und die Poesie, wie Vattimo beobachtet,5 die Zentralität zu verlieren, die ihnen Heidegger in seinem gesamten vorhergehenden Werk zuschrieb, und dasselbe geschieht mit der Zeit, der das Denken Heideggers eine Art Vorrang im authentischen Verstehen des Seins zugestanden hatte. Das Geschehen der Wahrheit, ihre Eröffnung, präsentiert sich hier in der Tat wie ein »Räumen«, ein RaumSchaffen, und der Raum als »Ur-Phänomen«. Es zeichnet sich eine gemeinsame Ursprünglichkeit von Raum und Zeit ab, die, begleitet vom Bedeutungsverlust der poetischen Sprache, die Vattimo feststellte, die zwei vorhergehenden Eckpfeiler des Heideggerischen Denkens beinahe in Frage zu stellen scheint. Doch ist dies tatsächlich der Fall? Das Werk Heideggers treibt bekanntlich eine Kritik der westlichen Metaphysik an, deren Kategorien es ausgehend vom Sein als Einfache-Präsenz und von der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die in ihrer Historizität aufgedeckt wird, in 3

Heidegger, Die Kunst und der Raum (wie Anm. 2) 5.

4

Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: Gesamtausgabe, Bd. 5: Holzwege,

5

Gianni Vattimo, Introduzione a Heidegger, Roma 1971.

Frankfurt am Main 1977, 1–74, hier: 25.

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Frage stellt. Entsprechend kritisiert Heidegger – nachdem er das Thema eingeführt hat, indem er die Skulptur als Spiel von Volumen und Leere beschreibt – in den ersten Absätzen von Die Kunst und der Raum den Anspruch der Einzigartigkeit, Authentizität und Objektivität des modernen technisch-physischen Raums gegenüber den anderen Arten, den Raum wahrzunehmen. Vor allen anderen nennt er hier natürlich den künstlerischen Raum, mit dem sich die Skulptur misst. Dabei behauptet er den eminent historischen Charakter des modernen technisch-physischen Raums: Seine Gültigkeit hat eine historische Bedingung. Der technisch-physische Raum ist, insofern er durch die westliche Metaphysik getragen wird, eine historische Begrenzung des Verständnis dessen, was dem Raum eigen ist, das »dem Raum Eigentümliche«.6 Auf der anderen Seite kann sich dieses »Eigentümliche« des Raumes als »UrPhänomen« nur von sich aus manifestieren, denn hinter ihm ist nichts, auf das es zurückgeführt werden könnte (daher rührt die Angst des Menschen vor seiner Grundlosigkeit). Die Frage, die sich dann stellt, ist: Wie kann man das dem Raum Eigene ergründen? Heidegger sucht die Antwort in der bildenden Kunst: »Einmal zugestanden, die Kunst sei das Ins-Werk-Bringen der Wahrheit und Wahrheit bedeute die Unverborgenheit des Seins, muß dann nicht im Werk der bildenden Kunst auch der wahre Raum, das, was sein Eigenstes entbirgt, maßgebend werden?«7

Nun hatte Heidegger in Der Ursprung des Kunstwerkes, von dem offensichtlich die Behauptung (oder das »Zugeständnis«) ausgeht, welches den ersten Teil des zitierten Satzes ausmacht, erklärt, dass die Kunst als Umsetzung der Wahrheit der Kunst die Horizonte stiftet, innerhalb derer sich das Projekt der Existenz oder der Erfahrung entfaltet. Doch wie erwähnt verliert sich laut Vattimo das dort noch der Sprache zuerkannte Privileg »in der Bildung der Horizonte, innerhalb derer die Welt dem Menschen zugänglich wird«,8 in diesem Text. Dennoch ruft Heidegger an diesem Punkt der Analyse, wenn er sich dem zuwendet, was dem Raum eigen sei, gerade die Sprache zur Hilfe, wie er es immer tat. (Im Übrigen hatte er dem Text einen Gedanken von Lichtenberg vorangestellt, der dies ebenso unterstreicht: »so findet man viele Weisheit in die Sprache eingetragen.«9) Heidegger greift somit auf die Sprache zurück und beobachtet, dass im Wort »Raum« das »Räumen« spreche, das Raum-schaffen, und dieses »Räumen erbringt

6

Heidegger, Die Kunst und der Raum (wie Anm. 2) 8.

7

Ebd. 8.

8

Gianni Vattimo, Introduzione, in: Martin Heidegger, L’arte e lo spazio, traduzione di C.

9

Heidegger, Die Kunst und der Raum (wie Anm. 2) 5.

Angelino, Genova 1992, 10.



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das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen«.10 Dieses hat jedoch einen ermöglichenden und historischen Charakter, so auch: »Räumen ist, in sein Eigenes gedacht, Freigabe von Orten«,11 wo diese »Freigabe von Orten« demnach als Schaffung von Örtlichkeiten des historischen Geschehens der Schicksale der Menschen verstanden wird. Es ist an diesem Punkt anzumerken, wie dieses »Räumen«, dieses ans Freie Bringen, diese »Freigabe von Orten« an das erinnern, anklingen, dem ähnlich und sogar gleich sind, was Heidegger in Bezug auf das Sein »Lichtung« genannt hatte – was gerade das Eröffnende am historischen Geschehen der Wahrheit ausdrückt. Doch die Homologie hört hier nicht auf. Heidegger fährt fort: »Im Räumen spricht und verbirgt sich zugleich ein Geschehen«:12 spricht und verbirgt sich. Doch dieses doppelte Ereignis entgeht uns, solange der technisch-physische Raum vorherrscht, der in diesem Sinn ein nicht authentischer Raum ist – gemäß dem Konzept von »Authentizität« (Eigentlichkeit), das von Heidegger seit Sein und Zeit erarbeitet worden ist. Auf jeden Fall lässt uns diese Zweifachheit verstehen, dass das Raum-Schaffen hier sowohl das Eröffnende als auch das Ereignishafte kennzeichnet, die Heidegger generell der Sprache zugestand als die Art und Weise selbst des Sich-Öffnens der Öffnung des Seins. So schreibt er in Der Ursprung des Kunstwerks: »Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird«.13 Lichtung und Verbergung. Es scheint somit, dass auf diesen Seiten, die sich dem Erklären und Verstehen des Raums und des Raum-Schaffens widmen, Heidegger keineswegs die ursprüngliche Struktur seines eigenen Denkens in Frage stellt, jene, die ihn, gegründet auf die Theorie der ontologischen Differenz, dazu brachte, die ursprünglich privilegierte Beziehung zwischen Zeit und Sein zu erklären und zu verstehen. Besser wäre dieser Text daher wohl weniger als eine Veränderung oder eine Revision des vorhergehenden Werks zu betrachten denn vielmehr als eine Erweiterung, ein KomplexerWerden des Heideggerischen Denkens, also seine Komplettierung in den Begriffen dessen, was Vattimo – Bezug nehmend auf die Reflexion, die Heidegger in Zeit und Sein (1962) vornahm, in der Intention des Philosophen ergänzend zu jener in Sein und Zeit – »eine Art Vierdimensionalität der Raum-Zeit« nannte.14 Und es ist genau diese Vierdimensionalität, in der ich beginne, die Spur zu entdecken, den Faden, den es abzuspulen gilt, um den Effekt des Werkes von Stefan Hitthaler zu erklären. Das Raum-Schaffen geschieht als ein Einräumen, das zugleich Zulassen (wo das Offene dominiert) und Einrichten (wo sich die Dinge in Beziehung zueinander 10 Ebd., 9. 11 Ebd., 9. 12 Ebd., 9. 13 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks (wie Anm. 4) 59. 14 Vattimo, Introduzione (wie Anm. 8) 10–11.

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stellen können) ist, und in diesem »zwiefältigen Einräumen geschieht die Gewährnis von Orten«.15 Doch was ist dann der Ort? Heidegger sagt nicht, was der Ort ist, er definiert ihn nicht, doch er erklärt seine Wirkung, seine mögliche Modalität: »Der Ort öffnet jeweils eine Gegend, indem er die Dinge auf das Zusammengehören in ihr versammelt«; und weiter: »Im Ort spielt das Versammeln im Sinne des freigebenden Bergens der Dinge in ihre Gegend«. Doch was ist dann die Gegend? Heidegger bezieht sich erneut vor allem auf die Sprache: Die ursprüngliche Form von Gegend sei Gegnet, »freie Weite«. Wieder sagt er also nicht was die Gegend ist, sondern er erklärt ihren Effekt, die mögliche Modalität: Dank der freien Weite, dank der Gegnet, »ist das Offene angehalten, jegliches Ding aufgehen zu lassen in sein Beruhen in ihm selbst«, während dieses zugleich erneut »Verwahren, die Versammlung der Dinge in ihr Zueinandergehören«16 bedeutet. Das Raum-Schaffen geschieht somit als Einräumen, als eine räumliche Öffnung, die ein Spiel zwischen Ort und Gegend erfasst, zwischen Örtlichkeit – als das Versammeln der Dinge in ihrem Zueinandergehören – und freier Weite – wo jedes Ding in sich ruht. Dringt man jedoch weiter auf den Grund vor, so kann man denken, dass das Einräumen, während es die Orte gewährt, selbst »sein Eigentümliches aus dem Walten der versammelnden Orte«17 erhält, sodass wir es also, wie mir scheint, mit einer Co-Eventualität des Einräumens und der Orte zu tun hätten. (Diese Co-Eventualität hätte im Übrigen wiederum ein homologisches Echo im Heideggerischen Denken, nämlich in der Übereignung, die das Ereignis der wechselseitigen Aneignung-Enteignung von Mensch und Sein darstellt.) Auf dieser Grundlage müsste das »Eigentümliche« des Raum-Schaffens letztendlich in dem gesucht werden, was Heidegger die »Gründung von Ortschaft« nennt: Örtlichkeit jedoch gedacht als ein »Zusammenspiel von Orten«, wo auch »die Dinge selbst die Orte sind und nicht nur an einen Ort gehören«.18 Im Licht eines ähnlichen Gedankens »entfaltet sich« offensichtlich auch der technisch-physische Raum »erst aus dem Walten von Orten einer Gegend«,19 das heißt er ist historisch gegeben dank des Vorrangs, der grundlegenden Ereignishaftigkeit der Orte in einer Gegend. Mit dieser Ermittlung dessen, was dem Raum-Schaffen eigen ist, und mit der erneuten Bestätigung, in neuen Begriffen, der Geschichtlichkeit und damit der Grenzen des technisch-physischen Raums schließt sich der kritische Kreis, der in den ersten Absätzen eröffnet wurde, und so finden wir uns endlich bei der Beziehung zwischen Kunst und Raum. Wenn das »Eigentümliche« des Raum-Schaffens in der Gründung der Örtlichkeit liegt, dann müsste das »Ineinanderspiel von Kunst 15 Heidegger, Die Kunst und der Raum (wie Anm. 2) 10. 16 Ebd., 10. 17 Ebd., 10. 18 Ebd., 11. 19 Ebd., 11.



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und Raum […] aus der Erfahrung von Ort und Gegend bedacht werden«, weshalb man sagen kann: »die Kunst als Plastik: Keine Besitzergreifung des Raumes. Die Plastik wäre keine Auseinandersetzung mit dem Raum«, wie es stattdessen der Fall für den technisch-physischen Raum ist. Hingegen: »Die Plastik wäre die Verkörperung von Orten, die, eine Gegend öffnend und sie verwahrend, ein Freies um sich versammelt halten, das ein Verweilen gewährt den jeweiligen Dingen und ein Wohnen dem Menschen inmitten der Dinge.«20

»Verkörperung«, also eine Art von körperlichem Sich-Raum-Schaffen, ein Ereignis also, ein Einräumen, das öffnet und bewacht, befreit und versammelt. Und waren es nicht vielleicht dieses »Verweilen« und dieses »Wohnen«, das das Werk von Hitthaler in jenen Tagen ermöglichte, indem er einen Ort ex novo eingerichtet und eine Gegend auf beiden Seiten, die dieser stiftete, geöffnet – und gleichzeitig bewacht – hatte, nämlich jene nach innen, die den Pulverturm umrahmte, und jene nach außen, von denen er sie anscheinend trennte? Wenn sich die Dinge andererseits so verhalten, fährt Heidegger fort, dann sind das Wort »Volumen«, mit dem in der Moderne die Grenze der Form bezeichnet wurde, und seine Bedeutung, gemäß der die Oberflächen »ein Innen gegen ein Außen umwinden«, nicht mehr geeignet für die Definition der Merkmale des SichVerkörperns der Skulptur, da sie an eine Epoche gebunden sind, die sie gemeinsam mit dem technisch-physischen Raum konzipiert hat. Und die Leere, die in der Moderne als eine Lücke begriffen wurde, als ein Mangel, wäre dies nicht mehr, sondern sie zeigt sich als »ein Hervorbringen«. Die Sprache, die wiederum herangezogen wird, suggeriert nämlich: »Im Zeitwort ›leeren‹ spricht das ›Lesen‹ im ursprünglichen Sinne des Versammelns, das im Ort waltet«. So lässt sich sagen: »In der plastischen Verkörperung spielt die Leere in der Weise des suchendentwerfenden Stiftens von Orten«.21 Heidegger bestätigt hier also einmal mehr das Ungenügen der traditionellen Sprache, dieselbe, die ich verwendet habe, um das Werk Hitthalers zu beschreiben in dem Moment, als ich ihm begegnete. Vor allem unterzieht Heidegger die Konzepte des Volumens und der Leere, die in der Moderne angewandt wurden, um die Merkmale der Skulptur zu definieren, einer Kritik, indem er aufzeigt, dass sie ungeeignet sind, das Sich-Verkörpern dieser Kunst auszudrücken. Von hier rührt, nachdem die Kritik vollzogen wurde, die Skizze einer ersten Angabe dessen, was der Skulptur eigen sei – es wäre eine regelrechte Definition, die an ihrem unveränderlichen, ahistorischen, metaphysischen und damit nicht authentischen Sein festgemacht wurde, wenn die Kopula im Satz nicht eigens durch einen Doppelpunkt er20 Ebd., 11. 21 Ebd., 12.

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setzt worden wäre (wir haben bereits gesehen, dass Heidegger nicht sagt, was etwas ist). »Die Plastik: ein verkörperndes Ins-Werk-Bringen von Orten und mit diesen ein Eröffnen von Gegenden möglichen Wohnens der Menschen, möglichen Verweilens der sie umgebenden, sie angehenden Dinge.«22

Indem ich diese Zeilen lese, erkenne ich endlich eine Möglichkeit der Erklärung dessen, was in jenen Tagen und Stunden der Tagung Corpus intra muros geschah, während wir um die Installation von Stefan Hitthaler kreisten. Doch wenn eine ähnliche Aussage die Qualität des Raumes zu erfassen scheint, den das Werk Hitthalers im Sommer 2014 um den Pulverturm stiftete, so lässt sich nicht leugnen, dass dieses »mögliche Wohnen von Menschen« und jedes »mögliche Verweilen der Dinge, die sie umgeben und angehen«, wiederum sprechender Ausdruck des historischen und ereignishaften Charakters dieses »Ins-Werk-Bringen von Orten und mit diesen ein Eröffnen von Gegenden« sind. Ein Ins-Werk-Bringen, das, nachdem es sich um ein Kunstwerk handelt, ein »Ins-Werk-Setzen der Wahrheit« ist, wie man in Der Ursprung des Kunstwerkes liest, »die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk«, der dieselbe Qualität des Eröffnens zugeschrieben wird wie dem historischen Geschehen der Wahrheit des Seins: »Die Kunst ist geschichtlich und ist als geschichtliche die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk«.23 Doch war nicht diese Geschichtlichkeit in der Tat deutlich spürbar im Kontrast, oder vielmehr in der zeitlichen und materiellen Krasis, die das Werk Hitthalers gegenüber seinem hauptsächlichen Objekt, dem Pulverturm, mit der rätselhaften Schichtung seiner Geschichten und vergangenen Funktionen einrichtete? Bestand nicht in diesem die räumlich-zeitliche Vierdimensionalität, welche das »Verweilen« der Dinge und unser »Wohnen« in jenen Tagen im Juli beherbergte? Im Übrigen geschieht es genau jetzt, im abschließenden Teil seines Textes, dass Heidegger über die Skulptur als »Verkörperung der Wahrheit des Seins in ihrem Orte stiftenden Werk« zu sprechen kommt. Hier findet sich also, endlich, der Grund für die Assoziationskraft dieser Worte gegenüber dem Corpus intra von Hitthaler. Heidegger scheint jedoch in extremis eine Art Rückwärtsschritt zu machen, wenn er ankündigt, dass »die Wahrheit als die Unverborgenheit des Seins nicht notwendig auf Verkörperung angewiesen ist«. Und dann zitiert Heidegger, mit einer poetischen Note, die die Argumentation zu unterbrechen scheint, den Goethe der Wilhelm Meisters Wanderjahre:

22 Ebd., 13. 23 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks (wie Anm. 4) 64.



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»Es ist nicht immer nötig, daß das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn es geistig umherschwebt und Übereinstimmung bewirkt, wenn es wie Glockenton ernst-freundlich durch die Lüfte wogt.«24

Was bedeutet diese Schlussfolgerung? Was ist nun mit dem Gedankenfaden, der mich bis hierher geführt hat, um die Atmosphäre zu beleuchten, die von einer künstlerischen Installation an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit geschaffen wurde, einen Schritt davon entfernt, das zu fassen, was mich am meisten drängte, nämlich die Qualität unserer Gegenwart an jenem Ort und in jenem Moment?

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DES

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In Wahrheit ist das, was ich eine »poetische Note« genannt habe, nichts anderes als der natürliche Ankerpunkt der späteren Reflexion Heideggers und somit, auf gewisse Weise, seines gesamten Denkens. Das darf uns jedoch nicht notwendigerweise dazu führen festzustellen, dass im letzten Heidegger »auch seine genialen linguistischen Experimente implodieren«,25 wie es Franco Volpi in seiner Einleitung zur italienischen Übersetzung der Beiträge zur Philosophie geschrieben hat. Ich sehe im Übrigen auch nicht, wie ein derart vernichtendes Urteil Rechenschaft über die effektive Nachvollziehbarkeit des Heideggerischen Denkens in dem kurzen Text, den ich gerade durchquert habe, ablegen könnte. Es lohnt also die Mühe, noch heute im positiven Sinne zu interpretieren, was Heidegger in einem kurzen und kontingenten, doch – wie wir gesehen haben – bei24 Heidegger, Die Kunst und der Raum (wie Anm. 2) 13. 25 Es sind Worte, die kürzlich von Angelo Bolaffi zitiert wurden, der sich ihrer auf den Seiten der La Repubblica bediente, als er die Erscheinung der italienischen Übersetzung der Schwarzen Hefte kommentierte, um sich endlich einen »Abschied« von Heidegger und seinen »Wegen des Seins« zu wünschen. Tatsache ist, dass die moralische und philosophische Frage, die vom »metaphysischen Antisemitismus« Heideggers gestellt wird, von dem in Italien der dunkelste Rechenschaftsbericht von Donatella Di Cesare gegeben wurde, auf jeden Fall in den Verlauf einer definitiven epistemologischen Entfernung von der Epoche, die ihn hervorgebracht hatte, fällt. Dennoch sollte man eher lernen, Heidegger zu relativieren, statt ihn in toto vom wissenschaftlichen Horizont der gegenwärtigen Episteme zu streichen, indem man seine noch fruchtbaren Ergebnisse mit einer »sentimentalen«, entzauberten und selektiven Haltung verwendet, um es mit Friedrich Schlegel auszudrücken. Vgl. Donatella di Cesare, Heidegger e gli ebrei. I »Quaderni neri«, Torino 2014; Angelo Bolaffi, L’equivoco del nazismo spirituale, in: La Repubblica vom 27.11.2015.

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spielhaften Text wie Die Kunst und der Raum über die Kunst der Plastik aussagt. Nachdem er versucht hatte zu begreifen, was der Skulptur eigen sei, lassen seine Schlussfolgerungen nur scheinbar diesen Versuch widerklingen, indem sie ihn in einen Vorbehalt einfließen lassen, der in Wirklichkeit die beste Bestätigung der Eigentümlichkeit ist, die bis zu diesem Moment ausgelotet wurde. Wenn wir in der Tat mit Goethe akzeptieren, dass das Wahre sich »nicht verkörpern« könne, stattdessen hingegen »geistig umherschwebt« und dabei eine »Übereinstimmung bewirkt, wenn es wie Glockenton ernst-freundlich durch die Lüfte wogt«, so bedeutet dies einfach, der Kunst ihre ruhige, vieldeutige Andeutungskraft anzuerkennen und zurückzuerstatten: Die Natur ihrer Sprache ist in der Tat nicht philosophisch, sondern poetisch. Auf diese Weise hatten sich also unsere Gesten und Verhaltensweisen in jenen Tagen im Juli verändert: Corpus intra hatte uns für einige Tage in eine vielfache und einzigartige Vierdimensionalität geworfen, eine Osmose von Orten und Zeiten: Der an Örtlichkeit bereits dichte Ort, der das Kunstwerk beherbergte, und die neu eröffnete Örtlichkeit, die dieses im Ort eingerichtet hatte, die gegenwärtige Zeit der Installation und die zeitliche Krasis, die diese stiftete und aufwertete: eine Art von räumlich-zeitlicher Übereinstimmung. Corpus intra hatte also um den Pulverturm einen poetischen Raum geschaffen, eine unbekannte örtliche und zeitliche Dichte, die uns, die wir uns in diesem Raum bewegten, in Bewohner dieser vielfachen Dimension verwandelte, die ihre »Wahrheit« ruhig über uns in Form ihrer Schönheit verströmte. Originaltitel: POESIA DI UN’INSTALLAZIONE Sul Corpus intra di Stefan Hitthaler (passando per Heidegger), übersetzt von Christina Antenhofer

Was von einem Leben bleibt Herzog Christophs Reise nach Jerusalem: Eine historische Spurenlese C HRISTINA A NTENHOFER Claustrum sine armario quasi castrum sine armamentario GEOFFROY DE BRETEUIL

Ein Kloster ohne Bibliothek ist wie eine Burg ohne Waffen. Dieses im Kontext der Bibliotheksgeschichte häufig zitierte Wortspiel wird dem Kanoniker Geoffroy de Breteuil aus St. Barbe-en-Auge zugeschrieben und soll aus einem Brief um 1170 stammen.1 Bildlich führt Geoffroy die Bedeutung der Bücher als spirituelle Muniti-

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Epistola XVIII ad Petrum Mangot, Gaufridus subprior canonicorum regularium, Epistolae, in: Petri Cantoris Verbum abbreviatum: e tenebris primus eruit Georgius Galopinus; accedunt Mauricii de Sulliaco Parisiensis, Garnerii Lingonensis, Geraldi Cadurcensis, Odonis Tullensis, episcoporum, Alexandri Gemmeticensis abbatis, Gaufridi subprioris canonicorum regularium, Matthaei Vindocinensis, scripta quae supersunt, hg. von Jacques-Paul Migne (Patrologiae cursus completus, Series Latina, 205), Paris 1855, 827– 888, hier: 844–845; Eckhard Plümacher, Art. Bibliothekswesen II. Von der griechischrömischen Antike bis zur Neuzeit, in: Theologische Realenzyklopädie 6, Berlin / New York 1980, 413–426, hier: 416; Hubert Silvestre, A propos du dicton »Claustrum sine armario, quasi castrum sine armamentario«, in: Mediaeval Studies 26 (1964) 351–353, insb. Anm. 2. Vgl. zu diesem ersten Teil Christina Antenhofer, Mensch-ObjektBeziehungen im Mittelalter und in der Renaissance am Beispiel der fürstlichen Höfe des süddeutschen und oberitalienischen Raums (Habsburg – Tirol – Görz – Wittelsbach – Württemberg – Visconti – Sforza – Gonzaga). Habilitationsschrift, Universität Innsbruck [Ms.], 2014, 7–8. Dieser Beitrag wurde leicht verändert bereits abgedruckt: Christina An-

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on und Waffen der Mönche ins Treffen. Doch sein Zitat bietet mehr. In knapper Form finden sich hier die Grundfragen komprimiert, die am Ausgangspunkt des Projektes Corpus intra muros stehen. Geoffroy skizziert zwei für das Mittelalter typische Gebäude, das Kloster einerseits und die Burg andererseits, und in diesen Gebäuden jeweils zwei typische Aufbewahrungsorte, den Schrank und die Rüstkammer. Die Aufbewahrungsorte ihrerseits stehen prototypisch für die in ihnen verwahrten Dinge, nämlich Bücher und Waffen. Diese repräsentieren zwei Lebensformen, die paradigmatisch für das Mittelalter stehen. Mönch und Ritter, deren Lebensform nur denkbar ist mit den jeweiligen Gerätschaften, die sie für ihr Wirken benötigen und die wiederum zu eigenen Schränken und Gebäuden in Beziehung stehen. Gäbe es einen Mönch ohne seine Bücher und wäre ein Ritter ohne seine Rüstung denkbar? Geoffroys sinniges Wortspiel stellt Menschen, Dinge und Orte in eine knappe und klare Relation und drückt einfach und präzise aus, was Bruno Latour im 21. Jahrhundert als Netzwerk von Dingen und Menschen, mitunter nach Worten ringend, zu formulieren versuchte.2 Was wäre, wenn wir nicht länger nur von sozialen Strukturen sprechen würden, in denen Menschen miteinander verwoben sind? Wenn wir unseren Begriff einer Gesellschaft erweitern würden auf Verbindungen, die Menschen, Dinge und Räume zusammenbringen, den Mensch nicht länger von seiner materiellen Umwelt isoliert betrachten, sondern untrennbar mit allem verknüpft?3 Umgekehrt sind die materiellen Relikte oft das Einzige, was sichtbar von einem Leben übrig bleibt. Die besondere Bedeutung und Funktion der Objekte, und hier seien dezidiert auch Schriftquellen als materielle Hinterlassenschaft subsumiert, lässt sich unter einer weiteren Denkfigur greifen: der Figur der Spur. Objekte sind Spuren der Vergangenheit, in denen diese sich metonymisch erhalten hat. Der Philosoph Barnaba Maj hat mit Bezug auf die Forschungen von Michel de Certeau diese Funktion wie folgt umrissen: »Die Spur legt in dem Maße die metonymische Struktur der Vergangenheit frei, wie sie selbst ein Bestandteil des Körpers der Vergangenheit ist, der wiederum das indexikalische Zeichen ihrer unvermeidlichen Abwesenheit vertritt. Die Spur deutet somit auf das doppelte Wesen tenhofer, Was von einem Leben bleibt. Herzog Christophs Reise nach Jerusalem. Eine historische Spurensuche, in: Corpus Intra Muros. Katalog zum Wissenschafts- und Kunstprojekt, hg. von Ulrich Leitner / Stefan Hitthaler / Christina Antenhofer u.a. (Schriften zur Politischen Ästhetik 2), Innsbruck 2014, 15–20. 2

Bruno Latour, Politiques de la nature. Comment faire entrer les sciences en démocratie, Paris 1999; Bruno Latour, Reassembling the Social: An Introduction to Actor-NetworTheory, Oxford 2005.

3

Antenhofer, Mensch-Objekt-Beziehungen (wie Anm. 1) 7–8.



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der Vergangenheit hin. Ohne Zweifel ist die Spur im Sinne ihrer physikalischen Gegebenheit da. Sie ist aber auch der Index von etwas, das gewesen und gleichzeitig verlorengegangen ist. Es verhält sich mit der Spur wie mit dem Bildnis oder Foto einer verstorbenen Person: Diese ist da und zugleich doch nicht mehr.«4

Dinge und Räume scheinen somit in sich die Präsenz der einst anwesenden Menschen zu speichern. Dem Bild des Corpus intra muros kommt damit eine weitere Bedeutung zu, denn die Körper drücken sich in den Mauern ab, zwischen denen sie leben, an denen sie entlanggehen. So betrachtet, lässt sich die Landschaft lesen als eine Topographie unsichtbarer Schichten, die die Menschen darin hinterlassen haben, Spuren an Wegen, die sie gegangen sind, verdichtete Knotenpunkte der Anwesenheit an den Orten, an denen sie einst lebten. Endlos sind auch die Spuren, die die Benutzer auf den Objekten hinterlassen. Diese Spuren verdichten sich zu regelrechten Narrationen, für die mittlerweile das Stichwort der Objektbiographie geprägt wurde.5 Um mit Latour zu sprechen, wäre dies die Sprache der Dinge, die es zu entziffern gilt.6 Was könnten uns die Dinge erzählen über alles, was sie in ihrem Leben gesehen haben? Anders ausgedrückt: Können wir Dinge lesen als das Reisegepäck vergangener Leben? Lassen sich Konturen einstigen Lebens aufspüren und lesen in der Landschaft oder in den materiellen Relikten? Die historische Arbeit stellt sich in weiten Stücken als ein derartiges Spurenlesen dar. Dabei gilt es, je weiter wir zurückgehen in der Geschichte, umso vereinzeltere Spuren aufzunehmen, um daraus ein Bild zu zimmern, das sich aus vielfach unverbundenen Einzelteilen zusammensetzt. Selten ist der Fall so glücklich, dass eine derartige Spurenlese anhand dicht ineinandergreifender Quellen relativ geschlossen geboten werden kann, wie im Fall Herzog Christophs von Bayern, dessen Leben hier kurz anhand der Spuren, die er hinterließ, nachgezeichnet werden soll. Herzog Christophs Leben erlangte von seinem Tod her eine spektakuläre Note, die ihn unter den bayerischen Herzögen des Mittelalters hervorhebt. Als einziger bayerischer Wittelsbacher ist er außerhalb Deutschlands, auf der Insel Rhodos, begraben, wo er mit knapp 44 Jahren auf dem Rückweg von seiner Reise nach Jerusalem verstarb.7 Im bayerischen Hauptstaatsarchiv hat sich ein Konvolut erhalten, das An4

Barnaba Maj, Michel de Certeau, in: Außenseiter der Philosophie, hg. von Helmut Rein-

5

Igor Kopytoff, The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process, in: The

alter / Andreas Oberprantacher, Würzburg 2012, 423–454, hier: 435. Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, hg. von Arjun Appadurai, 1. paperback ed., reprinted., Cambridge 2003 [1986], 64–91. 6

Latour, Reassembling the Social (wie Anm. 2).

7

Franz Trautmann, Die Abenteuer Herzogs Christoph von Bayern, genannt der Kämpfer. Ein Volksbuch. 2. Bde., Frankfurt am Main 1853; Reinhold Röhricht / Heinrich Meisner, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande, Berlin 1880, 299–307; Helga Czerny,

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dreas Felix von Oefele, Historiker und Bibliothekar des 18. Jahrhunderts, zu einem Akt vereinte, der die Causa »Tod und Begräbnis des Herzog Christophs auf der Insel Rhodos« verdichtet dokumentiert.8 Unmittelbar ins Auge sticht darin eine rasch skizzierte Zeichnung, die mehrfach gefaltet worden war, und die nun in der Tat einen Körper zwischen Mauern abbildet (Abb. 1). Es ist die Skizze des geplanten Grabmals für Herzog Christoph, ein undatiertes Blatt, das gemeinsam mit anderen Schriftstücken Christophs Bruder, Albrecht IV., nach dessen Tod zugeschickt wurde, gleichsam als visueller Eindruck der würdigen letzten Ruhestätte, die diesem Körper fern der Heimat beschieden wurde.9 Gleich drei Wappen weisen den Verstorbenen als einen bayerischen Wittelsbacher aus. Herzog Christophs Körper und Grabmal wurden damit zugleich zum Denkmal wittelsbachischer Präsenz auf der Insel Rhodos, einem der wichtigsten Stützpunkte der adeligen Pilgerreisenden, die sich im ausgehenden 15. Jahrhundert in Scharen nach Jerusalem aufmachten, um dort am Heiligen Grab den Ritterschlag zu empfangen. So war auch Herzog Christoph im Frühjahr 1493 mit seinem Neffen, Kurfürst Friedrich von Sachsen, aufgebrochen. Christoph war als sechster Sohn in ein unstetes Leben geboren, wie es für jüngere Fürstensöhne meist der Fall war. Die zahlreichen Söhne führten wie andernorts auch bei den bayerischen Herzögen zu Nachfolgestreitigkeiten.10 Christoph verzichtete schließlich auf die Mitregierung, war unverheiratet und damit ungebunden, ideal, um mit seinem Neffen auf Abenteuer- und Pilgerfahrt zu gehen. Er war bereits in jungen Jahren am Hof Erzherzog Sigmunds von Tirol erzogen worden und später in wechselndem Dienst bei verschiedenen Herren, darunter Erzherzog Sigmund, Kaiser Friedrich III., der ungarische König Matthias Corvinus, aber auch König Maximilian I. Offensichtlich war er ein guter Kämpfer und Turnierreiter, liebte große Auftritte und war deshalb stets knapp bei Kasse.11 Seine Geldnot hinterließ Spuren in den Quellen, anhand derer wir seinen Weg verfolgen können: Von seinem Koch Hans, der ihn auf der Reise begleitete, musste er sich bereits vor deren Beginn am 18. März 1493 205 Gulden und am 24. März weitere 120 Gulden ausleihen. In Toblach benötigte er am 19. April 50 Gul-

Der Tod der bayerischen Herzöge im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit 1347– 1579. Vorbereitungen, Sterben, Trauerfeierlichkeiten, Grablegen, Memoria, München 2005, 210–227. 8

Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) Oefeleana 6.

9

Czerny, Tod (wie Anm. 7) 213.

10 Karl-Heinz Spieß, Lordship, Kinship, and Inheritance among the German High Nobility in the Middle Ages and Early Modern Period, in: Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), hg. von David Warren Sabean / Simon Teuscher / Jon Mathieu, New York 2007, 57–75. 11 Czerny, Tod (wie Anm. 7) 214.



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den, in Venedig 500 Dukaten, davon 200 für die Überfahrt ins Heilige Land. All dies wissen wir, weil die Abrechnungen erhalten sind.12 Diese Rechnungen verraten zudem, dass Christoph sich über das Pustertal nach Venedig aufmachte, um von dort nach Jerusalem zu fahren, eine der beliebten Routen, um nach Venedig zu gelangen. Das Pustertal als wichtiger Verkehrsweg, der die deutschen Lande mit der Serenissima, der Republik Venedig, verband, gab auch Bruneck seine Bedeutung als zentralem Stützpunkt dieser Handelsroute.13 In Venedig verfasste Christoph noch, wie es üblich war, vor der Abreise sein Testament.14 Zudem dokumentierte er seine Reise in einem Tagebuch, das, in Ich-Form verfasst, die wichtigsten Ereignisse knapp schildert. Es ist heute nicht mehr im Original erhalten, doch sind Auszüge des Tagebuchs überliefert, die von Christophs Ankunft in Jaffa vom 25. Juni bis zum 9. Juli reichen.15 Ob es wirklich echt ist, wird angesichts des fehlenden Originals zwar angezweifelt, doch wäre es keineswegs ungewöhnlich, da Reiseberichte im ausgehenden 15. Jahrhundert immer mehr zunehmen und zahlreich überliefert sind. Unklar bleiben die genauen Umstände seines Todes; dem Tagebuch zufolge löste ein unbedachter Trunk aus einer Zisterne die Krankheit aus, an der Herzog Christoph letztlich am 8. August auf Rhodos verstarb.16 Knappe Informationen bietet ferner der Brief des Großmeisters des Johanniterordens, Kardinal Pierre d’Aubusson, vom 14. August 1493, der Herzog Albrecht IV. vom Tod seines Bruders informierte. Gemeinsam mit diesem Schreiben übermittelte er Herzog Albrecht zudem die durch einen Notar erstellte Auflistung von Spesen und Hinterlassenschaft Christophs auf Rhodos (Abb. 2) und wohl auch die Zeichnung des geplanten Grabmals.17 Verwiesen wird zu Beginn des Inventars darauf, dass Christoph bereits krank auf Rhodos ankam, »in der stat Rodis im haus Trabonetti do dy fursten und mahtigen herbirgen entpfangen mit einer sweren kranckheit beladen«.18 Wichtig war es zu betonen, dass Christoph würdig starb, 12 BayHStA Kurbayern Äußeres Archiv (KBÄA) 1958 f. 77, 154, 274; Czerny, Tod (wie Anm. 7) 223. 13 Josef Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel, in: Kommunikation und Mobilität im Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.–14. Jahrhundert), hg. von Siegfried W. de Rachewiltz / Josef Riedmann, Sigmaringen 1995, 61–75; Reinhard Härtel, Friaul als Brücke zwischen Nord und Süd, in: Kommunikation und Mobilität im Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.– 14. Jahrhundert), hg. von Siegfried W. de Rachewiltz / Josef Riedmann, Sigmaringen 1995, 291–304. 14 BayHStA Geheimes Hausarchiv (GHA) Hausurkunden (HU) 828. 15 Trautmann, Abenteuer (wie Anm. 7) 411–419. 16 Czerny, Tod (wie Anm. 7) 211–217. 17 BayHStA Oefeleana 6; Czerny, Tod (wie Anm. 7) 213. 18 BayHStA Oefelana 6.

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versehen mit den Sterbesakramenten, denn der Tod an und für sich war kein Schrecken, es kam auf einen guten Tod an. Christophs Körper war damit zur Ruhe gekommen, doch er hatte Spuren hinterlassen. Zunächst hinterließ er Dinge, die er mit auf Reisen hatte: zwei kleine goldene Ketten mit einem schlechten goldenen Kreuz, ein Kreuz mit Perlen und fünf Ringe, einer mit Siegel und Wappen, die alle gewogen und geschätzt wurden. Sein treuer Gefährte, der Koch Hans, verwahrte 320 Dukaten, von denen noch manches zu bezahlen war. Darunter auch sein Grabmal, das wie folgt beschrieben wurde: »Item vor dy grebniß ader vor gedechtniß zu machen vor den gemelten etwen durchleuchtigsten herrn hertzogen mit sampt eym mermelstein ein gegraben mit seiner figur gewappent mit sampt seynen schilten XLII Venedisch duct. auch mit etlichen bappirein wappen.«19

In Bayern löste Christophs Tod weitere Inventarisierungen aus. Es wurde verzeichnet, was sich in den Truhen in seiner Kammer in Schongau befand;20 umfangreiche Inventarisierungen und Abrechnungen zogen sich fort in Schloss Pähl, das Christoph zu Lebzeiten nutzte.21 Doch damit nicht genug. Christoph besaß in seinem Leben zwei Dinge, die den Blick mehrerer Personen auf sich gezogen hatten. Das eine war sein Prunkschwert, welches er vermutlich von Beatrix von Ungarn, der Gattin Matthias Corvinus‘ erhalten hatte, als er 1476 in dessen Dienste eintrat. Das Schwert ist bis heute erhalten und wird in der Schatzkammer der Residenz München aufbewahrt. Ab 1729 diente es dem Georgsritterorden als Zeremonienschwert, mit dem die neuen Mitglieder den Ritterschlag erhielten.22 Bereits 1598 war das Schwert von Johann Baptist Fickler im Inventar der Kunstkammer beschrieben worden.23 Das Denkmal auf Rhodos und das Prunkschwert sicherten somit die Erinnerung an Christoph, in spätmittelalterlicher Terminologie seine gedechtnis.

19 BayHStA Oefelana 6. 20 BayHStA GHA HU 830. 21 BayHStA KBÄA 1955 f. 159–183; Czerny, Tod (wie Anm. 7) 224–225. 22 Czerny, Tod (wie Anm. 7) 225–227. 23 Peter Diemer / Elke Bujok / Dorothea Diemer (Hg.), Johann Baptist Fickler – Das Inventar der Münchner herzoglichen Kunstkammer von 1598. Editionsband: Transkription der Inventarhandschrift cgm 2133 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften/Philosophisch-Historische Klasse 125), München 2004, Nr. 445.



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Abbildung 1: Skizze des Grabmals Herzog Christophs von Bayern auf Rhodos (um 1493).

  Quelle: BayHStA Oefeleana 6; © mit freundlicher Genehmigung des BayHStA.

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Abbildung 2: Notariatsinstrument über Herzog Christophs Hinterlassenschaft auf Rhodos (1493).  

  Quelle: BayHStA Oefeleana 6; © mit freundlicher Genehmigung des BayHStA.



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Abbildung 3: Schwert Herzog Christophs von Bayern, deutsch oder oberitalienisch, um 1480.

  Quelle: Inv. ResMüSch. 233. Residenz München, Schatzkammer, ©Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, ResMÜSchK233, Georgischwert A.

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Doch noch etwas hatte Christoph hinterlassen, und diese Spur führt zurück ins Pustertal des 15. Jahrhunderts. Noch war das Gebiet keineswegs Teil von Tirol. Herr über den Großteil des Gebiets bis zur Mühlbacher Klause war vielmehr Graf Leonhard, der letzte Görzer. Wie Herzog Christoph wird er beschrieben als lebenslustig, tollkühn, ein Haudegen, der als drittgeborener Sohn ebenfalls nicht damit rechnete, je regieren zu müssen.24 Nach dem Tod seiner beiden älteren Brüder unvermutet doch zum Landesherrn geworden, mussten ihn seine Räte regelrecht drängen, dass er endlich heiraten möge, damit seine Landschaft versorgt sei. Von den Görzer Räten wissen wir, dass sie in Bruneck, der Stadt des Brixner Bischofs, tagten. Am 18. November 1477 berichtete Christoph Frawnsteter, dass sich die Görzer Räte beim Hahn25 zu Bruneck (»zw Prawnegk pem Han«) versammelt hatten und eine Stellungnahme Leonhards zu einem Schreiben der Räte an die Markgräfin von Mantua erbaten.26 Leonhard heiratete deren Tochter Paula Gonzaga, die 1478 von Mantua über Trient und das Etschtal nach Bozen zog, dort mit ihm Hochzeit hielt und über Brixen weiterreiste (Abb. 4). Am 2. Dezember gelangte man nach Bruneck, wo die Gesellschaft im Hause des Gall untergebracht worden war, in einer guten und angenehmen Unterkunft.27 Von dort zog man weiter nach Lienz. 25 Jahre später, 1493, wählte Herzog Christoph von Norden kommend die Route über das Görzer Gebiet nach Venedig. Leonhard dürfte er gut gekannt haben, denn Paula war die Schwägerin seiner Schwester Margarete, die 1463 nach Mantua geheiratet hatte. Es mag also nicht ungewöhnlich anmuten, dass Christoph auf seiner Reise zum Heiligen Grab bei seinem Schwager Halt machte und ihm dort das anvertraute, was ihm wohl im Leben am wichtigsten war: sein bestes Pferd. Dies blieb keineswegs unbemerkt, denn nur zwei Monate nach Christophs Tod, am 31. Oktober, wandte sich Paula Gonzagas und Herzog Christophs Neffe, Francesco Gonzaga, Gatte der berühmten Isabella d’Este, mit einer ungewöhnlichen Bitte an seine Tante und deren Gemahl (Abb. 5):

24 Christina Antenhofer, Briefe zwischen Süd und Nord. Die Hochzeit und Ehe von Paula de Gonzaga und Leonhard von Görz im Spiegel der fürstlichen Kommunikation (1473– 1500) (Schlern-Schriften 336), Innsbruck 2007; Archivio di Stato di Mantova (ASMn) Archivio Gonzaga (AG) busta (b.) 1431bis c. 849. 25 Ein Görzer Rat, der als Gall oder Hahn auftaucht und in einem Vertrag vom 3.5.1478 erwähnt wird als Jacobus Calvus de Puecho dicto Gallo; Tiroler Landesarchiv Innsbruck (TLA) Sigmundiana (Sigm) 4a.029.084. 26 TLA Sigm 4a.029.106, Antenhofer, Briefe (wie Anm. 24) 66. 27 ASMn AG b. 544 c. 76; Luisa Billo, Le nozze di Paola Gonzaga a Bolzano, in: Studi Trentini di scienze storiche XV (1934) 3–22, hier: 14; Antenhofer, Briefe (wie Anm. 24) 93.



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Abbildung 4: Das Stifterpaar Leonhard und Paula im Fresko Tod Mariens (Simon von Taisten, um 1480), Lienz, Schloß Bruck, Kapelle.

  Quelle: © Museum Schloß Bruck, Lienz. Foto: Gaggl, mit freundlicher Genehmigung von Schloß Bruck, Stadt Lienz. »Scrivo al illustre signore conte consorte de vostra signoria et mio bon barba che mi vogli compiacere in dono de uno cavallo quale li lassò la bona memoria del illustre quondam duca Christophoro quando passò per de lí andando al sepulchro. Et perchè sumamente desydero haverlo per le beleze et bontà intendo essere in lui m’è parso scrivere ala sua signoria questa per la quale la prego vogli procurare per me presso dicto illustre signore conte et persuadere sua signoria che non me dica de non in questo. Anzi me lo mandi che da sua et vostra signorie non poteria de presente recevere cosa più grata.«28

Wie wichtig ihm diese Bitte war, zeigt sich im Nachdruck seiner Forderung. Er müsse dieses Pferd unbedingt haben, da er von seiner Schönheit und seiner Qualität gehört habe, Leonhard dürfe nicht nein sagen, mehr noch, er solle ihm das Pferd direkt schicken. 28 ASMn AG b. 2905 libro (l.) 148 c. 66v; 31.10.1493.

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Abbildung 5: Brief des Markgrafen Francesco Gonzaga an Graf Leonhard von Görz, 31. Oktober 1493.

  Quelle: ASMn AG b. 2905 l. 148 c. 66v; © mit freundlicher Genehmigung des Ministero per i Beni e le Attività Culturali.



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Ob Leonhard der Bitte nachkam, ist nicht bekannt. Christophs Pferd bleibt dennoch eine Spur, ein Knotenpunkt der Begegnung, die deutlich macht, wie bewegt diese Räume des späten Mittelalters waren und dass das Pustertal und seine Hauptorte Bruneck, Toblach und Lienz Wegstationen waren, auf denen sich die Fürsten Europas auf ihren Reisen zwischen Süd und Nord begegneten. Görz und die Serenissima sind mittlerweile fast verblasste Namen, die heute vielen unbekannt sind; es sind gleichermaßen Spuren eines einst mehrsprachigen Gebiets. Die Grafschaft Görz umfasste das Pustertal ebenso wie Teile Friauls, Sloweniens, Krains und Kärntens und besaß mit Porto Latisana sogar eine Zeit lang einen Hafen. In direkter Linie vor Venedig gelagert, war Bruneck so gesehen einst einer der letzten Anlaufpunkte auf deutschem Gebiet, um sich auf noch weitere Reisen bis in das Heilige Land zu begeben.

Zum ästhetischen Raum im Werk Waltraud Mittichs B IRGIT H OLZNER »Nein, nein, nur wir, die wir sozusagen intra muros geboren und großgezogen waren, konnten diese Dinge wirklich wissen und verstehen – gewiss höchst subtile Dinge, die praktisch vielleicht unerheblich, deswegen aber nicht minder real waren.« GIORGIO BASSANI DIE GÄRTEN DER FINZI-CONTINI

Die Frage, wie Räume gebildet werden und Menschen prägen, beschäftigt die 1946 in Bad Ischl geborene, seit 1952 in Südtirol lebende Autorin Waltraud Mittich seit Langem. Nach langjähriger Unterrichtstätigkeit ist sie unter anderem mit den Erzählungen Grand Hotel und Topographien sowie 2014 mit dem in der edition laurin erschienenen Roman Abschied von der Serenissima erst relativ spät als Schriftstellerin an die Öffentlichkeit getreten. Waltraud Mittich versteht Landschaften als eine Topographie unsichtbarer Schichten, die die Menschen darin hinterlassen, sie sucht in ihren Werken nach Spuren, die Räume im Menschen zurücklassen, beschäftigt sich mit Geschichte, Sprachen und mit Grenzen, vor allem auch mit der Euregio. Ihr persönlicher Hintergrund hat sie so zu einer italienischdeutschen Topographie geführt. In Abschied von der Serenissima verknüpft Waltraud Mittich das Schicksal von Straßen mit dem von handelnden Personen. »Die verborgene Verknüpfung von Menschen und Dingen mehr ahnend als um sie wissend, wird das Spiel des Lebens ernsthaft in Szene gesetzt.«1 Abschied von der Serenissima mag manchen an einen Krimi erinnern, ist aber etwas ganz anderes, obwohl auch hier jemand auf Spuren1

Waltraud Mittich, Abschied von der Serenissima, Innsbruck 2014, 126 f.

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suche ist und Zeugen sucht, um einen Fall aufzuklären, nämlich den eigenen: Das Leben einer alleinerziehenden Mutter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (der autofiktive Teil des Buches), die Jugend zweier Mädchen, die in der Jahrhundertmitte an der Strada d’Alemagna, der alten Handelsstraße von Augsburg nach Venedig, groß wurden und sich zeitlebens nach der Serenissima sehnten, sowie Alexander Langers fiktives Leben im Südtirol der sechziger bis achtziger Jahre. Es ist ein Roman über Wege, Umwege und Traumwege, der zeigt, wie Straßen und Flüsse, Verkehrsverbindungen eben, schicksalhaft für Menschen und Städte wirken. »Drau – Wasserscheide zwischen Adriatischem und Schwarzem Meer [...] Wasserscheide bedeutet, dass die Trennung zu akzeptieren ist. Sei es die des Wassers als auch die politische, die der Sprachen, der Sitten. Die Menschen, die in solchen Gebieten wohnen, verinnerlichen zumindest das Wort Trennung. Die Welt als Transitzone. Zufällige Übergänge.«2

Auch in Waltraud Mittichs 2016 erscheinendem Roman Micòl kehrt der ästhetische Raum neben dem kollektiven Gedächtnis, der Erinnerung und der Suche nach Identität als Thema wieder. Der Text ist eine Hommage an den italienischen Schriftsteller Giorgio Bassani, der im Jahr 1962 mit seinem Il giardino dei Finzi-Contini ein Meisterwerk vorlegte. Erzählt wird die Geschichte der unmöglichen Liebe eines jungen Mannes zur Jüdin Micòl, die deportiert wird. Waltraud Mittich will geschehenes Unrecht nicht akzeptieren, stellt sich vor, dass eine Geschichte auch anders hätte ausgehen können und führt ein halbes Jahrhundert später die Geschichte der Micòl fort, die sich für einen eigenen, weiblichen Kanon entscheidet, um Anerkennung und Freiheit zu erringen. Mit viel Empathie zeichnet sie das Leben dieser jüdischen Frau, die den Stern trägt, aber auch das Tuch, auf hohen Plateausohlen läuft und die Federboa um den Hals drapiert, und stellt ihre Beziehung zu ihren Mitmenschen auf die Probe. In ihren Gärten der Finzi ist die Korrektur der Wirklichkeit möglich und die Liebe erscheint von wattierter Reinheit. Die Südtiroler Autorin skizziert darin den möglichen Lebensweg einer literarischen Figur, reflektiert über Bücher, Lesen und Sprache, indem sie mehrere Erzählstimmen erklingen lässt und die Schrecken des 20. Jahrhunderts exemplarisch an geschichtsträchtigen Orten durchmisst: Leningrad, Palästina, Vukovar. Neben den Gärten als realen, gebauten Räumen gilt ihr Interesse den Zwischen- und Grenzräumen in Form von liminalen Erfahrungen wie dem Tod und der Imagination fremder Welten. Sie schreibt über Rückzugs-, Rechtfertigungs- und Erinnerungsorte, wo Verginen leben wie Micòl, die einen Hoffnungsschimmer aufkommen lassen, dass man aus der Geschichte vielleicht doch gelernt hat:

2

Mittich, Abschied von der Serenissima (wie Anm. 1) 123 f.



Z UM

ÄSTHETISCHEN

R AUM

IM

W ERK W ALTRAUD M ITTICHS | 517

»Ich bin immer bloß einen Schritt davon entfernt, in die Sicherheiten abzustürzen. Sie würden mich mit offenen Armen auffangen. Aber ich bin auf dem Weg zu den neuen Orten, auch wenn die Hinweisschilder fehlen. Ich erwarte nichts. Denn wer sich etwas erwartet, wartet auf das Alte. Bin trotzdem nicht mutig, bloß ein Streifen Lust in der untergehenden Sonne dieses Kontinents. Bin auf dem Sprung, vielleicht in eine Freiheit, vielleicht ins Niemandsland. Ich stehe immer vor den Toren, ich klopfe nicht an, ich warte und ich höre fragen: Wer bist du? Sage: Bin keine von hier, nicht Frau, mein Körper mysteriös, noch nicht betreten, unerforscht, bin wie das Sternbild, verwegen unberührt und sehr fern von wo? Noch antwortet niemand. Mein Feld ist die Imagination. Und so mische ich die Zeiten, bin Demiurgin. Die Gegenwart bloß als Vergangenheit der Zukunft zulassen. Das ist ein neuer Weg. Ich sage nicht, dass er richtig ist. Ich sage, dass ich ihn baue und gehe. Denn die Paradiese sind verloren oder Lichtjahre fern. Ich mische die Zeiten. Die Vergangenheit ist eine Zeit, die nicht vergeht. Ich gedenke der Toten. Ich denke an sie.«3

Aus den unterschiedlichen Lebenswegen der Figuren, aus den Einzelschicksalen entsteht eine kollektive Geschichte. Waltraud Mittich verfolgt darin, wie in allen ihren Büchern, ein historisches Interesse, ein Interesse für die Geschichte, vor allem die Geschichte des Euregio-Raumes. Dazu gehören die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, an eigene und fremde Vergangenheiten, an Geschichten und Orte. Dem entspricht auch ihre Erzählweise, die durch Einschübe in italienischer Sprache, Selbstreflexionen, Rückblenden und Kommentare immer wieder unterbrochen wird und ihr grundsätzliches Misstrauen, ihre Skepsis auch gegenüber der Sprache und der Geschichtsschreibung zeigt. Es geht ihr weniger um das Erzählen von Handlungen als um die Suche und Dekonstruktion von kulturgeschichtlichen Symbolen, die die Geschichte in ihren Figuren, oft Randfiguren, und in der Gesellschaft hinterlässt. Und diese Symbole sind eben häufig Bauwerke und Landschaften. »Wege, Straßen, Lebenswege, es führt kein Weg an ihnen vorbei. Fremde Wege. Mittelwege. Heimwege. Traumwege.«4

3

Waltraud Mittich, Micòl, Innsbruck 2016, 49.

4

Mittich, Abschied von der Serenissima (wie Anm. 1) 44.

Abschied von der Serenissima Musik zum Roman R UDOLF U NTERHUBER Textauszüge aus dem Roman Abschied von der Serenissima von Waltraud Mittich Musik von Rudolf Unterhuber

1 »An der Via Alemagna geboren und aufgewachsen zu sein, kann zur Folge haben, dass eine Blickrichtung der Sehnsucht entsteht und sich verfestigt, hin zu den großen Ebenen, die immer am Ende solcher Straßen warten. Meine Mutter hat es allerdings Richtung Ponente verschlagen, an die Rivieren delle Palme e dei Fiori. Zu gerne hätte ich sie als Touristin gesehen in Alassio. Aber sie war das siebte Kind einer Bauernfamilie im armen, von den wirtschaftlichen Krisen gebeutelten Südtirol der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.« 2 »Lief das Ganze über Inserate? Die Südtiroler Bauernfamilien waren daran interessiert, die ledigen Töchter loszuwerden. Wieder eine Esserin weniger.« 3 »Was konnte sie sich erhoffen? Sie hatte keine Ausbildung. Sie hätte sich sperren können gegen den Befehl des Vaters. Was allerdings konnte sich eine wie sie erwarten im Südtirol jener Jahre. Hätte einen Kleinhäusler heiraten können. Oder einen Postangestellten. Ich bin mir sicher, dass sie das nie..........« 4 »Durch die Kirchgasse ist sie wohl oft in die katholische Kirche gegangen, es gibt auch eine evangelische in Goisern, fromm und gläubig war sie nicht, hat mich immer ausschlafen lassen, hab die Frühmesse versäumt, wir galten als ›luthrisch‹, was damals im Dorf ›gottlos‹ meinte. Aber hier in Goisern .........«

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5 »Hinter der ›Goiserer Mühle‹ gab es in den vierziger Jahren ein Schwimmbad aus den Zeiten der Monarchie, mit Holztrennwänden aus astfreiem Holz, damit sich Männlein und Weiblein nicht treffen und durch eventuelle Gucklöcher ausspionieren konnten.« 6 »Sie war schön und klug und von beidem etwas zu viel für die Zeit und die Umstände. Hat sich ein Kind machen lassen, da war sie schon 32, alt für damals, um noch Mutter zu werden, aber modern.« Abbildung 1: Partitur zur Vertonung des Romans »Abschied von der Serenissima« von Waltraud Mittich für SprecherInnen, Flöte, Cello, Kontrabass, Keraphon (Klingende Keramik)1 und Trommel. Uraufgeführt am 19. Juli 2014 zur Eröffnung des Kunstwerks Corpus intra muros in Bruneck. Es handelt sich um den ersten Akt des Werkes.

Quelle: Rudolf Unterhuber. 1

Vgl. zum Keraphon als Musikinstrument: Manuela Kerer, Klanglandschaften – Die Natur als Komponistin, in: Berg & Leute. Tirol als Landschaft und Identität, hg. von Ulrich Leitner, Innsbruck 2014, 382–383; eine Hörprobe des Keraphons befindet sich auf der das Buch Berg & Leute begleitenden Audio-CD.

III Wie Räume wirken

Slow Spaces W ALTRAUD M ITTICH

Ich fotografiere nicht, ich schreibe. Beschreibe. Ich gehe die Wege der Stadt, in der ich lebe. Ich schaue, betrachte, fotografisch. Ich entziffere die Sprache der Stadt. Ich tue so, als läse ich eine Geschichte, die ihre. Es geht darum alles zu erfassen, was mich beeinflusst, auch ästhetisch. Es geht auch darum, auf diese Art Heimat zu erfahren. Ich identifiziere jedes Haus meines Heimweges, alles gehört mir zu, egal, ob ich zu Fuß, mit dem Rad oder mit dem Auto unterwegs bin. Es haben sich allerdings viele Heimwege angesammelt im Laufe eines langen Lebens. Erinnerungsdepots. Der Heimweg im Dorf der Kindheit. Ich statte ihn mit Häusern aus, die es nicht mehr gibt, nicht mehr so, wie ich sie kannte, mit der steinernen Außentreppe, wo sich jedes Schulkind einmal die Knie aufgeschlagen hat. Der Heimweg in der Universitätsstadt, der holzbeschlagene Eingang ins Institut, ich spüre die Tür im Rücken, weil einer mich dagegen drückt, eine Wand aus Glas, nun. Die vielen temporären Heimwege, alle eingebrannt, sie führen ein Eigenleben bei mir, stimmen aber ein in die Atemvielfalt der Orte, bilden ihre Hintergrundmusik, auch wenn ich nicht mehr da bin. Ein Heimweg in der Stadt, in der ich lebe, ein eigentlich hässlicher Durchgangsweg, der vorbeiführt an einem bis dato nicht näher definierten Platz, in dessen Mitte der sogenannte Pulverturm steht, dieser Weg, dieser Un-Platz, hat plötzlich einen neuen Gebrauch gefunden. Die Form des Gebrauchs von öffentlichem Raum hat sich ergeben durch eine Kunstinstallation, die rund um den Turm errichtet wurde, der selbst seine Geschichte erzählt oder von dem mündlich tradierte Geschichten erzählt werden. Großformatige Fotografien menschlicher Körper sind auf ein Trägermaterial aufgebracht, das antik anmutet und zum Betasten auffordert. Es ist auf diese Art ein neuer Ort entstanden, der die Sinne anregt, eine verwandelte Realität wurde geschaffen, die Raum für Gefühle und Gedanken eröffnet und vielleicht dazu verhilft, das Verständnis von Wirklichkeit zu überdenken. Denn wer hätte es nicht nötig, dann und wann, seine Wirklichkeit zu korrigieren.

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Slow spaces (Aaron Betsky) braucht die Stadt, heute sah ich zwei junge Männer sitzen unter der Installation, sie hielten Brotzeit und redeten und lachten mit vollem Mund. Ich gehe die Wege der Stadt, ich entziffere ihre Sprache. Heute habe ich auf meine Art Heimat erfahren, das geschieht mir zuweilen. Einen neuen Heimweg habe ich ganz umsonst dazubekommen.

Ein Rufezeichen in der Mitte der Stadt1 R EINHOLD M ESSNER

Corpus intra muros finde ich einen sehr starken Titel, eine starke Aussage. Vor etwa fünf oder sechs Jahren, als ich anfing mit dem damaligen Brunecker Bürgermeister, Christian Tschurtschenthaler, auf Schloss Bruneck das Messner Mountain Museum Ripa zu erdenken und später zu planen, habe ich darauf hingewiesen, dass das sogenannte Pulvertürmchen ein bisschen ein Schandfleck in der Mitte von Bruneck ist, und habe dafür plädiert, dass man es herrichten sollte. Denn ich bin der Meinung, dass wir Südtiroler heute die finanziellen Mittel haben, die verwahrlosten Gebäude, die da und dort herumstehen, zu sanieren oder aber zu schleifen, zu entfernen. Dann gab es Gespräche mit den Eigentümern, der Familie von Grebmer, mit der Raiffeisenkasse Bruneck, mit dem Bürgermeister und innerhalb von kurzer Zeit ist die Möglichkeit entstanden, diesen Turm zu sanieren. Jetzt ist er in irgendeiner Form ummantelt und ich muss sagen, ich bin von der Grundidee sehr begeistert. Wir haben hier sozusagen ein Rufezeichen bekommen in der Mitte der Stadt. Dieser Pulverturm ist jetzt viel wichtiger, als er vorher war, vorher ging er ein bisschen unter. Bei der Kunst, das ist ein Kunstwerk – Architektur ist ja Kunst, wenn sie gut gemacht ist – ein Kunstwerk kann man nicht nach Nützlichkeit diskutieren. Hier geht es nicht um eine Unmöglichkeit oder eine Möglichkeit. Es gab die Möglichkeit, dieses Kunstwerk zu bauen. Jemand hatte die Frechheit, den Mut, hier ein Kunstwerk in die Mitte der Stadt zu stellen. Und weil es hier nicht um die Nützlichkeit geht, sondern um die Sinnhaftigkeit, wie immer bei der Kunst, müssen wir auch die subjektive Sinnhaftigkeit gelten lassen und dafür haben nun die Künstler, die das gemacht haben, die Verantwortung. Ich fände es schade, wenn das Kunstwerk wieder verschwinden würde. Hier ist eine Menge an Energie, eine Menge an Ressourcen, die heute ja knapp sind, hinein-

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Dieser Beitrag stellt ein verschriftlichtes Statement vom 19.7.2014 bei der Eröffnung des Kunstwerks in Bruneck dar.

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geflossen. Hier ist eine Menge an Kreativität hineingeflossen. Vielleicht kann man das Ganze nach vielen Diskussionen entweder neu denken und neu machen oder vielleicht sogar stehen lassen. Die Leute werden sich schnell daran gewöhnen und sie werden es dann nach ein zwei Jahren schon vermissen. Das ist meine Aussage dazu. Ob nun ein Kloster mehr Emotionen schenkt als die 5th Evenue in New York, das kann ich nicht sagen. Ich bin ein Leben lang durch Räume hindurchgegangen, durch Räume, die vielfach nicht verbaut waren. Bei mir ist es nach wie vor so, wenn ich durch die wilden Dolomitentäler spazieren gehe, kann ich nicht nur die Erdgeschichte nachempfinden, sondern auch grandiose Kunstwerke sehen. Nicht umsonst hat Le Corbusier, ein ganz großer Architekt, gesagt, die Dolomiten sind die schönsten Gebäude der Welt. Wir Südtiroler bräuchten damit eigentlich keine Kunstwerke mehr zu bauen. Aber diese Form, wie sie hier rund um den Pulverturm verwirklicht wurde, ist natürlich etwas ganz anderes, weil dieses Kunstwerk aus dem Menschengeist entstanden ist. Wenn das Kunstwerk Corpus intra muros rund um den Pulverturm in Bruneck nicht nur die Brunecker, sondern die Südtiroler in den nächsten Monaten ziemlich aufregen wird und erregen wird, soll das gut sein. Die Menschen werden sich auseinandersetzen mit dem Gestalten und den Möglichkeiten von Räumen. Ich werde beobachten, ob der Corpus in drei oder fünf Monaten oder einem Jahr noch steht oder ob das Kunstwerk nicht mehr steht. Ich akzeptiere jeden Künstler, der wirklich Kunst macht, und hier ist ein Kunstwerk entstanden.

Über die Verletzlichkeit und Entfaltungsmöglichkeit menschlicher Körper C HRISTINA A NTENHOFER

Ich möchte mein Statement ausgehend von dem Text beginnen, den ich für den Katalog zu diesem Kunst- und Wissenschaftsprojekt Corpus intra muros verfasst habe und der den Beginn meiner Auseinandersetzung mit dem Thema dokumentiert. Daher werde ich kurz die zwei grundlegenden Episoden rekapitulieren, die ich dort zum Ausgangspunkt meiner Reflexion genommen habe. Von dort ausgehend werde ich mich in eine Diskussion mit dem Kunstwerk von Stefan Hitthaler begeben und aus meiner Perspektive als Historikerin zusammenfassen, was ich darin sehe und in welchen Bezug ich es zu meinen eigenen Forschungen setze. Einen weiteren Ankerpunkt bildet schließlich das Klosterleben, Anselm Bilgris Thema, zu dem ich mich aus dem Blickwinkel der Mittelalterhistorikerin verhalten werde. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war ein berühmtes Zitat des Kanonikers Geoffroy de Breteuil aus St. Barbe-en-Auge, das aus einem Brief um 1170 stammen soll. Geoffroy formulierte darin Folgendes: Claustrum sine armario quasi castrum sine armamentario. Ein Kloster ohne Bibliothek sei wie eine Burg ohne Waffen. Bildlich führt Geoffroy die Bedeutung der Bücher als spirituelle Munition und Waffen der Mönche ins Treffen. Zugleich finden sich hier in knapper Form die Grundfragen komprimiert, die am Ausgangspunkt des Projektes Corpus intra muros standen. Gäbe es einen Mönch ohne seine Bücher und wäre ein Ritter ohne seine Rüstung denkbar? Umgekehrt sind die materiellen Relikte oft das Einzige, was sichtbar von einem Leben übrig bleibt, gewissermaßen Spuren der Vergangenheit. Übertragen auf das Projekt Corpus intra muros bedeutet es danach zu fragen, inwieweit Dinge und Räume Spuren der Menschen in sich bergen, die diese benutzt haben oder die in diesen Räumen unterwegs waren. Dabei gilt es vor allem die Spuren zu suchen, die diese Menschen in historischen Quellen hinterlassen haben. Für den Fall des Pulverturms hier in Bruneck ist die Lage keineswegs günstig, denn er steht zwar bis heute stattlich vor uns, doch wie der Stadtarchivar Andreas

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Oberhofer anlässlich unseres Projekts recherchierte, haben sich kaum historische Informationen zu ihm erhalten. Womöglich stammt er aus Maximilianischer Zeit, Ende des 15. Jahrhunderts. Es gilt also, nach anderen Spuren zu suchen, die in das Pustertal des ausgehenden 15. Jahrhunderts führen. Damit bin ich bei der zweiten Episode angelangt, die mir zum Thema Corpus intra muros vor allem hinsichtlich des Standortes Bruneck in den Sinn kam. Selten ist der Fall so glücklich, dass eine historische Spurenlese anhand dicht ineinandergreifender Quellen relativ geschlossen geboten werden kann wie im Fall Herzog Christophs von Bayern, dessen Leben Berührungspunkte mit dem Pustertal aufweist, und das ich hier kurz anhand der Spuren, die er hinterließ, nachzeichnen möchte. Herzog Christoph war im Frühjahr 1493 mit seinem Neffen, Kurfürst Friedrich von Sachsen, genannt der Weise, dem Förderer Martin Luthers, zur Pilgerfahrt nach Jerusalem aufgebrochen. Rechnungen verraten, dass Christoph sich über das Pustertal nach Venedig aufmachte, eine der beliebten Routen, um nach Venedig zu gelangen, um von dort nach Jerusalem zu fahren. Das Pustertal als wichtiger Verkehrsweg, der die deutschen Lande mit der Serenissima, der Republik Venedig, verband, gab auch Bruneck seine Bedeutung als zentralem Stützpunkt dieser Handelsroute. Herr über das Pustertal des 15. Jahrhunderts war Graf Leonhard, der letzte Görzer, zugleich Schwager Herzog Christophs. Auf seiner Reise zum Heiligen Grab machte Christoph bei seinem Schwager Halt und vertraute ihm sein bestes Pferd an. Er sollte es nicht mehr sehen, denn Christoph von Bayern verstarb auf der Rückreise auf der Insel Rhodos. Nach seinem Tod fragte sein Neffe Francesco Gonzaga Leonhard, ob er ihm dieses Pferd seines Onkels überlassen würde. Christophs Pferd bildet eine Spur, einen Knotenpunkt der Begegnung, der verdeutlicht, wie bewegt diese Räume des späten Mittelalters waren, und dass das Pustertal und seine Hauptorte Bruneck, Toblach und Lienz Wegstationen waren, auf denen sich die Fürsten Europas auf ihren Reisen zwischen Süd und Nord, begegneten. Aus mehreren Gründen habe ich diese beiden Episoden für das Projekt Corpus intra muros ausgewählt. Zum einen geht es um die Frage, wie bestimmte Gebäude mit dem Leben von Menschen in Beziehung stehen. Dies habe ich mit dem Zitat von Geoffroy de Breteuil zu fassen versucht: Es gibt kein Kloster ohne Bücher und keine Burg ohne Waffen. Anders ausgedrückt lässt sich sagen, dass die Form eines Gebäudes vorgibt, was sich in seinem Inneren abspielt. Bei dem Zitat interessiert mich, dass keine Menschen erwähnt werden, nur Gebäude, Möbel und Dinge, die darin aufbewahrt sind. Dennoch spricht das Zitat nicht über Gebäude oder Dinge, sondern über die Menschen und deren Lebensformen, die sich in diesen Gebäuden und Dingen abbilden. Wenn ich hier auf diesen Turm schaue, über den wir so wenig wissen, dann stellt sich die Frage, was sich dort abgespielt haben könnte, in welcher Beziehung er zum Leben der Bruneckerinnen und Brunecker steht. Stefan Hitthales Kunstwerk versucht an dieser Leerstelle anzusetzen, wo wir nicht wissen, was sich zugetragen



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hat. Das Kunstwerk ist für mich spannend, weil es das ausdrückt, was ich als Historikerin spüre, wenn ich an Gebäuden vorbeigehe, wenn ich alte Schriften in der Hand halte oder wenn ich im Museum bin. Es macht die Menschen als Konturen sichtbar, die mit diesem Gebäude in Berührung standen, die wir immer nur als Schatten erahnen können. Was mich beeindruckt, ist die Verletzlichkeit dieser nackten Menschenkörper, die in einem Gegensatz zu den soliden Mauern des Pulverturms stehen. Wir vergessen angesichts von Baudenkmälern, Kunstwerken, Museumsobjekten oder historischen Schriften oft, dass dahinter letztlich immer Menschen stehen, nicht in ihren Machtposen, sondern in ihrer humanen Verletzlichkeit. Als Historikerin interessiert mich am meisten diese Ebene, das Menschliche und Verletzliche in der Geschichte. So gesehen sind auch die Bücher und Waffen im Zitat von Geoffroy de Breteuil wie das Kloster und die Burg in gewisser Weise Schutzformen, die sich Menschen geschaffen haben, um mit der Verletzlichkeit des Lebens und dessen Endlichkeit umzugehen: sei es durch das gemeinschaftliche Leben im Kloster, das Streben nach Wissen und Erkenntnis, den Schutz der Kirche und Geistlichkeit, den Glauben; sei es durch die Burg, die für den Schutz steht, den der Burgherr allen zukommen lässt, die seiner Burg zuzurechnen sind, die sich unter seinen Schutz stellen. Man hat das Mittelalter oft als eine Zeit der rohen Gewalt gezeichnet. Dagegen zeigen die neueren Forschungen das Mittelalter vor allem als eine Zeit, in der zahlreiche Formen der Gemeinschaft entstanden, in denen Menschen sich zusammenfanden, um sich gegen die Härten des Lebens, aber auch gegen Willkür und Ungerechtigkeit zu verteidigen. Die bedeutendsten Formen dieses gemeinschaftlichen Lebens sind das Kloster, die Burg (die für die Familie im weitesten Sinne steht) sowie die Stadt, wie wir es hier am Beispiel Brunecks wunderbar sehen: eine Stadt, die sich unter dem Schutz der bischöflichen Burg mit Graben und Mauern verteidigt, Bürger, die für sich und ihre Familien sorgen, aber auch für Fremde, die in der Stadt Zuflucht suchen. Die mittelalterliche Stadt ist immer offen für Zuzügler, die sich in die Gemeinschaft einfinden wollen. Neben diesen Bildern des Schutzes, des Verteidigens möchte ich aber auch an die Offenheit und Mobilität des Mittelalters erinnern. Schutz bedeutet nicht, sich gegen die Außenwelt absperren, sondern einen sinnvollen Rahmen schaffen, innerhalb dessen man die Gemeinschaft gestaltet. Gleichzeitig kommuniziert diese Gemeinschaft aber mit dem Umfeld. Auch dies mag Hitthalers Kunstwerk ausdrücken, in dem es eine transparente Hülle über den soliden Turm errichtet, in der Platz ist für Durchlässigkeit und die Körper sich himmelwärts bewegen, aus dem Turm und seinen Mauern ausbrechen, unterwegs in andere Bereiche. So ist auch Herzog Christoph unterwegs, auf den Straßen Bayerns, Tirols, Ungarns und Oberitaliens bis ins Heilige Land. Spannend ist für mich, wie vernetzt diese mittelalterlichen Räume sind, und dies alles in Zeiten ohne Adressen und Hausnummern. Briefe finden ihre Wege von Rhodos nach Bayern, von Mantua

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nach Görz, Nachrichten zirkulieren, man weiß Bescheid, was passiert, und ist sehr gut informiert auch in Zeiten ohne Internet und Facebook. Mit den herumreisenden Personen zirkulieren Nachrichten. Was ich als Unterschied herausstreichen würde, ist die Heterogenität dieser Räume und Verbindungskanäle. Es heißt in einem Sprichwort: Viele Wege führen nach Rom. Genau dies zeigt sich immer wieder auch für mittelalterliche Reisende. Viele Wege führen über die Alpen nach Oberitalien, nicht nur die Brennerautobahn. Wem würde es heute in den Sinn kommen, von München nach Venedig über das Pustertal zu reisen und einen Zwischenstopp in Lienz einzulegen, wie es Herzog Christoph getan hat? Für ihn war dies günstig, denn das Pustertal war das Territorium seines Schwagers Leonhard und dieser sicherte ihm gewiss die besten Unterkünfte und sicheres Geleit zu. Sein Einfluss erstreckte sich weit hinunter in das Friaulische Gebiet bis vor die Tore Venedigs. Nicht zuletzt aus dieser Situation heraus erklärt sich die Gründung von Bruneck, als Stützpunkt des Brixner Bischofs gegen die weltliche Macht der Görzer ebenso wie als Handels- und Verkehrsknotenpunkt. Waltraud Mittich hat in ihrem Buch Abschied von der Serenissima diese alte Verbindung zwischen dem Pustertal und Venedig und die bleibende Bedeutung der Lagune und der Ebene als Sehnsuchtsort beschrieben. Ein letztes Thema, das ich ansprechen möchte, ist die Bedeutung, die dem Besitz im Mittelalter beigemessen wurde. Herzog Christophs Pferd war eine Rarität, die man beobachtete, kannte, über die man sprach. Christophs Sorge um sein Pferd war so groß, dass er es nicht mit auf die beschwerliche Reise ins Heilige Land nahm, sondern in die Obhut seines Schwagers gab. Wir wissen, dass im Bereich des Klosters die ersten und genauesten Regeln darüber getroffen wurden, wie mit den materiellen Dingen umzugehen sei. Die Regel des Hl. Benedikts sieht vor, dass jeder Abt bei der Übernahme seines Amts ein Inventar anlegen sollte über die Dinge, die ihm anvertraut waren. Man fragt sich, wie das mit dem Prinzip zu vereinbaren ist, dass die Mönche und Nonnen dem Weltlichen entsagen sollten und keinen eigenen Besitz haben durften? Diese Regeln sind für mich interessant, weil sie zeigen, dass bereits diese frühmittelalterlichen Klostergründer wussten, dass das Materielle zum Leben dazugehört und man es nicht vernachlässigen darf. Sie wussten, dass es nicht leicht ist, Verantwortung für Dinge zu entwickeln, die nicht einem selbst, sondern einer Gemeinschaft gehören. Die Gemeinschaft kann nur funktionieren, wenn sich jede und jeder Einzelne für diesen Gemeinschaftsbesitz verantwortlich fühlt. Die Klosterregeln zeigen aber zugleich, wie es Anselm Bilgri in seinen Büchern herausgearbeitet hat, dass sich diese Klostergründer mit großem Weitblick der menschlichen Schwächen bewusst waren. Es ist schwer für den Einzelnen, sich in dieser Weise um das Gemeingut zu kümmern, daher braucht es Regeln, um diese wichtigen Grundsätze zu beachten.



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Diese Idee steckt auch im Modell der adeligen Herrschaft des Mittelalters. Hier hat man in der älteren Forschung gern Allmachtsfantasien ausgelebt, dass der Landesherr alles durfte und sich willkürlich nahm, was ihm gefiel. Auch hier hat die neuere Forschung andere Ergebnisse hervorgebracht. Nicht zuletzt in den so genannten Fürstenspiegeln, der Lehre, wie sich der gute Fürst zu verhalten hat, spiegelt sich dieses Wissen, dass der gute Fürst wie der gute Vater zu sein hat, nicht anders als der Abt für sein Kloster. Er ist für jedes einzelne Mitglied seines Hauses verantwortlich, sie stehen unter seinem Schutz, er muss moralisches Vorbild sein. Der gute Fürst schaut darauf, dass sein Land gut bebaut und bewirtschaftet wird, dass die Menschen ihrer Arbeit sicher nachgehen können, dass Gebäude instandgehalten werden und gerechte Urteile gefällt werden. Das rechte Maß leitet ihn. Im Humanismus wird zunehmend erwartet, dass er auch über ein hohes Maß an Bildung verfügt und vor allem sich durch Reisen bildet. Um mit Geoffroy de Breteuil zu sprechen, sind somit Waffen und Bücher auch die Mittel, auf die der mittelalterliche Herrscher – idealerweise – seine Macht stützte. So gesehen kann man also das allgemein verbreitete Bild des düsteren Mittelalters in sein Gegenteil umkehren. Durch das Zitat von Geoffreoy de Breteuil gesprochen stellt sich das Mittelalter nicht nur als eine Zeit der rohen Gewalt und Willkür, der Bildungslosigkeit, sondern im Gegenteil vielmehr als eine Zeit dar, in der Macht vor allem bedeutet, Schutz gewähren zu können, Vorbild zu sein, für die anvertraute Gemeinschaft sorgen zu können. Auch das bedeutet Corpus intra muros letztlich: Den Körpern Schutz gewähren und für diese einen Raum so zu gestalten, dass sie sich zwischen den Mauern entfalten können.

Was der moderne Mensch vom Klosterleben lernen kann1 A NSELM B ILGRI

Im Jahre 529 schrieb der Hl. Benedikt seine Ordensregel, mitten in der Völkerwanderungszeit. Dieses Jahr gilt als Ende der Antike und als Anfang des christlichen Mittelalters. Benedikt, geboren in Nursia bei Perugia, lebte in Umbrien. 529 gründete er das Kloster Monte Cassino und schrieb dafür die Regula Benedicti. Benedikts Idee war es, mit Monte Cassino einen Raum zu schaffen, in dem Spiritualität gelebt werden kann, von der profanen Welt abgegrenzt, um ihn den Einflüssen von außen zu entziehen. Das Kloster war ein Schutzraum, innerhalb dessen alles vorhanden sein sollte, was man zum Leben braucht: eine Mühle, Wasser, einen Garten. Alle Dinge, die notwendig sind, um das Leben zu organisieren, die notwendig sind, um einen – wir würden heute sagen – Generationenvertrag auszuhandeln, nach dem Menschen aller Altersstufen und Herkünfte sich verpflichten, miteinander auszukommen. Das Mönchtum selbst ist natürlich viel älter. Mönche gibt es auch in anderen Religionen, etwa im Hinduismus und Buddhismus. Im Christentum ist das Mönchtum mit dem Motto angetreten: frei sein für Gott. Um sich aber den Luxus gönnen zu können, fünf bis sechs Stunden am Tag für Gott frei zu sein, das heißt zu beten oder zu meditieren, muss der Mönch in der Zwischenzeit wirtschaften, arbeiten, Geld verdienen. Deshalb sind Klöster immer schon, gerade jene der Benediktinischen Provenienz, gleichzeitig spirituelle und wirtschaftliche Zentren gewesen. Wir sind hier unter dem Motto Corpus intra muros angetreten. Benedikt benennt seine Lebensregel, die er für das Kloster Monte Casino verfasste, mit dem lateinischen Wort regula. Man würde heute vielleicht sagen, er verfasst ein Organisationshandbuch und Führungshandbuch für die Menschen, mit denen er zusammen diese Organisationsform gründet. Das lateinische Wort kommt aus der Bauhandwerkersprache. Die Regula ist die Messlatte, man könnte auch sagen das Senkblei, 1

Dieser Beitrag wurde als Vortrag am 19.7.2014 in Bruneck gehalten.

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das Lot, mit dessen Hilfe ein Maurer, ein Architekt eine gerade Mauer errichtet, auf festem Grund mit einem schützenden Dach darüber. Dazu braucht er die Regula. Diese Mauer, dieses Haus, das er damit errichtet, bietet nach innen Schutz und nach außen Identität, für die Menschen, die dort leben und arbeiten. Im 6. Jahrhundert war zwar noch die antike römische Kultur lebendig, auch wenn das Imperium Romanum schon 480 untergegangen war. Aber die Verkehrssprache der Antike war Griechisch, so wie heute Englisch. In den Mittelmeerhäfen hat man miteinander Griechisch gesprochen. Das griechische Wort für Regula heißt Kanon. Das Kirchenrecht ist nicht in Paragraphen eingeteilt, sondern in Kanones, aber einen Kanon haben wir auch alle schon einmal gesungen, das kennen wir aus der Musik. Ein kleines Musikstück wird von einer großen Gruppe, unterteilt in mehrere kleine Gruppen, gesungen. Es entsteht Vielklang, Polyphonie, Harmonie trotz Vielstimmigkeit. Und das ist eigentlich der Sinn einer Regula, dass in einem Haus, einem Gebäude – intra muros – innerhalb von Mauern, für Menschen, mit vielen verschiedenen Stimmen Harmonie erzeugt wird. Harmonie nicht, indem wir uns jeden Tag sagen, wie lieb wir uns haben und wie nett wir sind, sondern, indem wir uns auf ein gemeinsames Ziel ausrichten. Genau das ist der Sinn dieser Lebensordnung, dieser Regel des Hl. Benedikt. Im Mittelalter hat man die Regula Benedicti mit den drei Worten ora et labora zusammengefasst, auf Deutsch bete und arbeite. Schon etwas eigenartig: Wenn man unsere Bilder von Klöstern und Mönchen vor dem geistigen Auge ablaufen lässt – man denke nur an den Film Der Name der Rose von Umberto Eco –, möchte man den Eindruck gewinnen, es müsste heißen bete ODER arbeite. Es heißt aber bete UND arbeite. Das Wichtige ist das Und. Mit diesem Und wird nämlich Beten und Arbeiten gleichwertig. Das ist neu in diesem 6. Jahrhundert. In der Antike war eine ganz andere Einstellung zur Arbeit vorherrschend. Die Menschen der Antike waren stolz darauf, mit ihren eigenen Händen nicht wirtschaften und arbeiten zu müssen. Das war Sache der Sklaven und der Unterschicht. Die freien Bürger waren stolz darauf, Zeit für die Muße zu haben, lateinisch otium. Wie sah diese Muße aus? Man ging am Vormittag zusammen auf das Forum und hat dort politisiert und philosophiert, am Nachmittag besuchte man die Thermen – heute würde man in einen Wellness- und Spabereich eines Hotels gehen – und am Abend setzte man sich zum Symposion zusammen. Symposion ist auch griechisch und heißt wörtlich übersetzt auf Deutsch miteinander trinken. Das hieß Muße zu haben. Wenn man kein otium haben konnte, weil die Muße gestört war, hatte man nicht mehr Muße, auf Lateinisch nec otium. Daraus wurde im Lateinischen ein Wort: negotium. Man kennt das Wort aus den modernen Sprachen negotiation in Englisch, négoce auf Französisch und negozio auf Italienisch, was so viel heißt wie der Laden, die Beschäftigung, das Geschäft. Also: geschäftig sein, wirtschaften und arbeiten war die Störung von Muße. So hat man das in der Antike empfunden.



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Durch das gesamte Mittelalter hindurch arbeiten aber die Mönche selber und geben der Arbeit damit einen neuen Wert. Das ist der Grund dafür, dass unsere Latein- oder Geschichtslehrer sagen: Ora et labora steht am Anfang der europäischen Wirtschaftsgeschichte. Das ist vielleicht auch Schuld daran, dass wir alle ein so hohes Arbeitsethos haben, dass für uns Arbeit und Beschäftigung so wichtig sind für unser Selbstwertgefühl. Wenn der Grundsatz ora et labora aber am Anfang unserer Wirtschaftsgeschichte steht, dann können wir vielleicht aus so einem Lebens- und Arbeitshandbuch wie der Regula Benedicti ein paar Grundsätze, Werte, Tugenden herausnehmen, die für uns Heutigen auch anwendbar sind. Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa hat ein Buch mit dem Titel Beschleunigung geschrieben. Hier beschreibt er, dass gerade in einer beschleunigten Zeit, wo das Leben sich so rasant entwickelt, die Technik uns Zeit schenken sollte, mit Handy, PC, E-Mails und vielem mehr. Aber die Technik raubt uns die Zeit. Wir glauben, wir haben keine Zeit, weil mehrere Dinge gleichzeitig gemacht werden müssen. Da entsteht die Sehnsucht nach Inseln, wo man vermutet, dass das dort nicht so sei, z.B. hinter Klostermauern. Oft steht dahinter auch nur der Wunsch, dann wieder, zurückgekehrt in die Beschleunigung, besser bestehen zu können. Hartmut Rosa nennt deshalb Entschleunigung die Gegenideologie des 21. Jahrhunderts. Wenn ich gefragt werde, was denn so eine Gemeinschaft, wie die der Mönche im Kloster, zusammenhält, dann antworte ich: Gehorsam. Welcher Chef, welcher Unternehmer, welche Führungskraft würde heute noch wagen von einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin Gehorsam einzufordern? Man spricht dann eher von Loyalität. Bei uns in den Klöstern hat man nach dem letzten Konzil auch den Witz gemacht, die Ordensleute hätten den Gehorsam durch Dialogbereitschaft ersetzt. Vielleicht ist das aber ein Weg, eine positive Deutung dieses alten Begriffes zu finden, der vor allem für uns Deutsche sehr schicksalsbeladen und daher auch negativ besetzt ist. Das deutsche Wort Gehorsam hat drei Silben Ge-hor-sam. Im Zentrum eines deutschen Substantives steht immer das Wichtige. In diesem Fall die Silbe hor. Das Verbum dazu ist horchen. Es geht also ums Horchen. Horchen und Hören sind zweierlei: Horchen ist ein aufmerksames Hinhören wollen. Hören ist das Wahrnehmen von Geräuschen. Mit angedonnerten Ohren hinhören, sagt Benedikt. Die Nachsilbe sam bedeutet im Deutschen immer eifrig sein. Die Vorsilbe ge hingegen meint etwas Verallgemeinerndes: Berge bilden ein Ge-birge, Büsche ein Gebüsch. Gehorsam heißt also in seiner Grundbedeutung eifrig sein im aufmerksamen Horchen-Wollen und das zu einer gemeinsamen Haltung werden lassen. Und zwar nicht nur von oben nach unten, also nicht nur die Unteren müssen auf die Oberen hören, sondern auch der, der an der Spitze steht, soll ein Horchender sein. In der Benediktsregel gibt es eine schlanke Hierarchie in der Organisation. Es gibt nur einen Chef – Kreuzworträtselfrage: Klostervorsteher mit drei Buchstaben, das ist der Abt. Über diesen Abt gibt es in der Klosterregel zwei Kapitel, am Anfang steht, wir würden heute sagen, eine Stellenbeschreibung, wie der Abt sein soll,

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und am Ende, wenn man einen neuen braucht, findet sich in der Regel ein Anforderungsprofil. Gleich nach dieser Stellenbeschreibung wird dieser Chef des Klosters zum Horchen verpflichtet. Ich will das Kapitel kurz anreißen: Es heißt Die Einberufung der Brüder zum Rat: »Sooft etwas Wichtiges im Kloster zu behandeln ist, soll der Abt die ganze Gemeinschaft zusammenrufen und selbst darlegen, worum es geht. Er soll den Rat der Brüder anhören und dann mit sich selbst zu Rate gehen. Was er für zuträglicher hält, das tue er. Dass aber alle zur Beratung zu rufen seien, haben wir deshalb gesagt, weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist. Die Brüder sollen jedoch in aller Demut und Unterordnung ihren Rat geben. Sie sollen nicht anmaßend und hartnäckig ihre eigenen Ansichten verteidigen.«

Das Kloster ist keine demokratische Veranstaltung. Es gibt einen, der Ziele vorgibt, die er umzusetzen hat, aber dazwischen wird er verpflichtet zu horchen, den Rat einzuholen. Interessant ist der Satz mit dem Jüngeren. Es ist das erste Mal in einem europäischen Führungshandbuch, dass auch Jüngere gehört werden sollen. Bei den Römern etwa bildeten die Seniores den Senatus, den Ältestenrat. Warum sagt Benedikt das? Wir Heutigen haben eine andere Erfahrung: Da kommt ein Jüngerer, frisch von der Ausbildung, vom Studium. Er sieht, was man alles besser machen könnte, und sagt das auch. Von den Alten kommt die typische Antwort: »Die sollen sich erst einmal die Sporen verdienen, dann können sie mitreden.« Warum sollte der Jüngere trotzdem gehört werden? Ein Jüngerer kennt noch nicht alle Fettnäpfchen, in die man treten kann. Wenn man Menschen um sich hat, mit denen man sich immer berät, das gleiche Gremium, dann, das kann ich aus meiner Führungszeit im Kloster Andechs bestätigen, neigen Führungskräfte mittelfristig dazu, auch harmoniebedürftig zu sein. Das heißt, Themen, die unangenehm sind, werden nicht mehr angesprochen. Und das Gespräch bewegt sich nur noch im Mainstream. Aber wenn jemand von außen kommt, spricht er Dinge an, die man sonst versucht unter der Decke zu halten. Und das ist es, was damit eigentlich gemeint ist. Man muss sich vorstellen, im 6. Jahrhundert war die römische Infrastruktur zusammengebrochen, zwischen den Klöstern und Dörfern war sozusagen Urwald, keine gescheiten Straßen, es war nicht viel Reiseverkehr. Man denke an den Film Der Name der Rose: Da gab es eine Burg und darin ein Kloster, mit einem Turm, der wesentlich höher war als das Pulvertürmchen in Bruneck. Benedikt verlangt also vom Abt, er muss Reisende, Mönche, Pilger um Rat fragen, die Sicht von außen hören. Ich habe vor ein paar Jahren einen Vortrag von Bernhard von Mutius gehört, einem Frankfurter Zukunftsforscher, der hat es auf den Punkt gebracht. Er sagte: Innovation findet immer an den Grenzen statt. Um etwas Neues entdecken, entwickeln zu können, muss man bereit sein, an schon vorhandene Grenzen heranzugehen und darüber hinauszugehen. Man denke nur an alle großen Entdeckungen, Entwicklungen, die nur dadurch gemacht worden sind, dass jemand bereit war, das



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immer schon Dagewesene zu überschreiten. Columbus wäre nicht nach Amerika gekommen, wenn er nicht das Risiko eingegangen wäre, gegen die Erfahrung, die gar nicht vorhanden war, doch hinauszusegeln auf den Atlantik. Das meint Horchen. Ich war im Kloster Andechs Cellerar. Das Kloster ist weniger wegen der großen Geschichte oder als Wallfahrtsort bekannt – übrigens, das Pustertal war einmal ein paar Jahrzehnte unter Andechser Herrschaft, da waren die Tiroler noch Grafen. Vielmehr kennt man das Kloster Andechs wegen dem Produkt, das dort hergestellt wird: Bier. Als ich dort Cellerar, also Wirtschaftsleiter geworden bin, hatte ich Theologie studiert und war ein paar Jahre Kaplan. Die einzige Vorbildung, die ich hatte, war, dass meine Eltern eine Gaststätte betrieben haben. Mein Abt meinte damals, ich könne sicher Bier verkaufen. Nach ein paar Wochen hat mich mein Brauereidirektor auf einen Kurs aufmerksam gemacht, ein sogenanntes Führungsnachwuchstraining. Da waren lauter Seiteneinsteiger, die plötzlich ein Unternehmen übernehmen mussten, und unser erster Trainer, der Fortbildungsleiter sagte: »Merken Sie sich, die beste Führungsmethode lautet ›Wer fragt, der führt‹«. Das ist genau das, was Benedikt meint: Rat holen wollen. Zuerst den Rat der Erfahrenen, dann den Rat der Jüngeren. Anhören, mit sich zu Rate gehen und dann umsetzen. Wir sind alle der Meinung, wenn wir Führungspositionen innehaben, dann müssen wir vor allem viel reden: andere überzeugen, motivieren, mitziehen. Aber eigentlich muss man vorher das Horchen vorschalten. Die zweite Tugend, die im Kloster zum Tragen kommt und ebenso verstaubt klingt in unseren modernen Ohren, hat es 2008 während des Ausbruchs der Wirtschaftskrise geschafft, in der Weihnachtsansprache des deutschen Bundespräsidenten, Horst Köhler, und in der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin, Angela Merkel, zu Ehren zu kommen. Es hieß, die Manager hätten die Bodenhaftung verloren und sie bräuchten alle wieder mehr Demut. Das hat man schon lange nicht mehr gehört. Man verbindet mit dem Wort Demut kein Rückgrat haben, keine eigene Meinung haben (dürfen), aber das meint das Wort nicht. Das lateinische Wort für Demut heißt humilitas. Man hört Humus heraus, Boden. Es heißt mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Bodenhaftung haben, nicht mit dem Kopf in den Wolken schweben. Das Gegenteil ist Hochmut. Keinen Bodenkontakt mehr haben, abheben. Basisorientierung, wenn man so will, Kontakt mit der eigenen Geschichte pflegen. Das deutsche Wort Demut kommt aus dem Althochdeutschen dienmut, das bedeutet der Wille zum Dienen. Wir haben im Dienstleistungsunternehmen verinnerlicht, dass wir dienen wollen. In der Kirche gibt es folgenden Witz: Alle wollen dienen, aber möglichst an oberster Stelle. Die Bild-Zeitung widmete Angela Merkel eine große Schlagzeile, als sie im Jahr 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wurde: »Ich will Deutschland dienen«. Damals war es politisch schwierig: große Koalition in Deutschland, bevor das Regierungsprogramm erstellt wurde, wurde die Ministerliste erstellt. Das lateinische Wort Minister heißt auf Deutsch Diener. Die Führungs-

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elite unserer Staaten hat in ihrem Selbstverständnis also den Anspruch, dienen zu wollen, der Verfassung, aber auch dem Bürger, den Einzelnen. Der Prince of Wales, der britische Kronprinz seit 60 Jahren, Charles, hat einen deutschen Wappenspruch: »Ich dien.« Eine Tugend von Führenden ist es also, dienen zu wollen. In jeder Organisation muss man eine Kultur des Dienens, und zwar von oben nach unten, installieren. In der katholischen Soziallehre wird das das Subsidiaritätsprinzip genannt. Das heißt, dass die obere Ebene dafür sorgen muss, dass die Ebene darunter ihre Arbeit optimal machen kann. Als ich bei diesem Führungsnachwuchstraining war, das ich vorhin erwähnte, waren wir nach der ersten Trainingseinheit abends in einem bayerischen Bierstüberl und haben zusammen Bier getrunken. Da kam der Leiter dieses Hauses zu mir, klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Pater Anselm, das ist vielleicht gar nicht so schlecht, dass Sie nicht in allen Unternehmensbereichen des Klosters Andechs Fachkompetenz haben, denn dadurch kommen Sie nicht in Versuchung, besser sein zu wollen als ihre Mitarbeiter. Verhindern Sie den Erfolg Ihres Unternehmens nicht, indem Sie den Erfolg Ihrer Mitarbeiter nicht zulassen können.« Und dann gebrauchte er in der Management-Rhetorik der 1980er Jahre ein Schlagwort. Er sagte zu mir: Die beste Managementmethode ist Management by hielassen, hinlassen, an die Arbeit ranlassen. Das meine ich mit einer Kultur des Dienens. Das bedeutet für mich natürlich als Führungskraft auch demütig zu sein. Ich muss mich zurücknehmen und den Erfolg von anderen zulassen. Und wir Chefs meinen immer, dass die guten Ideen nur auf unserem Mist gewachsen sein dürfen. Wie heißt es so schön: Der Erfolg hat viele Väter und der Misserfolg ist ein Waisenkind. Joseph Ratzinger – ich bin von ihm 1980 zum Priester geweiht worden, da war er Kardinal in München, und wir waren ganz wenige Priester in den vier Jahren, wo er Bischof war – hat uns bei der Priesterweihe ein Wort mitgegeben, und zwar nicht in der Predigt, sondern am Ende, bei dem Akt, wo die Urkunden überreicht werden. Da hat einer von uns eine Dankadresse gesprochen, und dann sagte Ratzinger nochmal ein Wort: »Meine Herren, bewahrt euch für euer künftiges Leben als Geistliche eine Tugend, nämlich die hilaritas, die heitere Gelassenheit.« Die hilaritas hat drei Aspekte: die Heiterkeit, miteinander lachen und andere Menschen sein lassen. Das ist also die Kunst in dem Gebäude – intra muros – innerhalb der Mauern eines Klosters, die Menschen auf das Ziel hin zu orientieren. Als ich den Pulverturm in Bruneck zum ersten Mal gesehen habe, hat er mich sofort auf eine Episode aus der Lebensgeschichte des Hl. Benedikt aufmerksam gemacht. In seinem Kloster Monte Cassino gab es auch so einen Turm. Es wird geschildert, wie er mit einem befreundeten Abt auf den Turm hinauf gestiegen ist bis zu den Zinnen. Dort haben sie religiöse Gespräche geführt und da hatte Benedikt plötzlich ein Einheitserlebnis, das auch die Mystik immer wieder beschreibt. Er fühlte sich momentan eins mit der ganzen Welt und allem, was ihn umgab. Benedikt sah das Einheitserlebnis in Gestalt einer Sonne. Das ist ein schönes Bild für



W AS

DER MODERNE

M ENSCH

VOM

K LOSTERLEBEN

LERNEN KANN

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das, was hier in Form des Kunstwerkes Corpus intra muros rund um den Pulverturm in Bruneck geschaffen wurde. Der Turm dient ja immer dazu, um sich einen Überblick von oben zu verschaffen. Das ist es, was ich allen Menschen, die sich in der vom Soziologen Hartmut Rosa diagnostizierten Beschleunigung eingespannt fühlen, immer wieder rate, wenn ich gefragt werde, was der moderne Mensch vom Klosterleben lernen kann: innerlich aussteigen und von oben auf sich selbst herunterschauen, um den Blick auf die eigenen Lebensumstände zu verändern.

Dank

Die Idee zum Kunst- und Wissenschaftsprojekt Corpus intra muros wäre selbst hinter den Mauern der Universität, zwei Buchdeckeln oder der Schädeldecke geblieben, hätten nicht einzelne Menschen und Institutionen ihre Unterstützung und Bereitschaft zur Kooperation zugesagt. Da wären zunächst all jene, die an der Umsetzung des Forschungsnetzwerktreffens zur Heimgeschichte, der Tagung und der Abschlussdiskussion mitorganisiert und mitgeholfen haben: Ich danke dem Stadtmarketing Bruneck, vor allem Präsident Andreas Mariner und der Direktorin Mirjam Lanz. Das Stadtmarketing ist eine Ideenschmiede, die es mit innovativen Projekten und Veranstaltungen versteht, die Stadt leben und pulsieren zu lassen. Das Stadtmarketing erklärte sich bereit, Träger dieses Projektes zu sein und damit die Veranstaltungen und die Realisierung des Objekts auf dem Postplatz überhaupt erst möglich zu machen. Die Stadtgemeinde Bruneck unterstützte uns, wofür ich stellvertretend dem Bürgermeister Roland Griessmair, der Kulturstadträtin Gertrud Pescoller und insbesondere dem langjährigen Bürgermeister von Bruneck, nunmehrigen Landtagsabgeordneten, Christian Tschurtschenthaler, herzlich danke. Der Südtiroler Landesregierung, stellvertretend Kulturlandesrat Philipp Achammer, sei für die finanzielle Unterstützung der Tagung gedankt. Eine besondere Kooperation ergab sich zur Raiffeisenkasse Bruneck. Ich danke hier Direktor Josef Anton Kosta für die freundliche Aufnahme der Wissenschaftler/-innen in den Räumlichkeiten der Raiffeisenkasse, die Unterstützung der Tagung und das Einstehen für das Kunstwerk. Für mich bereichernd war, dass die Raiffeisenkasse nicht nur als Sponsor auftrat, sondern sich eine produktive Kooperation entwickelte, die sich in der gemeinsamen Planung der Abschlussveranstaltung zeigte. Für die gute Zusammenarbeit und den reibungslosen Ablauf ist Jochen Schenk zu danken. Ich danke ebenso allen Kolleginnen und Kollegen, die an den Veranstaltungen teilnahmen, insbesondere dem Brunecker Stadtarchivar Andreas Oberhofer, ebenso den Künstlerinnen und Künstlern, hier vor allem Waltraud Mittich, Rudolf Unterhuber und der Gruppe JOXHFN.

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Die Möglichkeit, das Kunstwerk umzusetzen, verdankt sich einer Reihe von Sponsoren aus der Privatwirtschaft, ohne deren Unterstützung die Realisierung der Installation nicht möglich gewesen wäre. Es sind dies folgende Unternehmen: Schlosserei Lanz, Baufirma Unionbau, Durst, Baukanzlei Ing. Sulzenbacher & Partner, Lichtstudio EWO, Elektro Ewald, Bigman. Die innsbruck university press und die edition laurin, hier vor allem Birgit Holzner, waren behilflich beim Ausstellungskatalog. Das vorliegende Buch förderten die Firma Lanz Metall GMbH, das Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck, das Amt für Kultur der Tiroler Landesregierung, die Interfakultäre Forschungsplattform Geschlechterforschung sowie der Forschungsschwerpunkt Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte der Universität Innsbruck. Ihnen allen möchte ich einen großen Dank aussprechen. Vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck waren mir insbesondere Michaela Ralser und Flavia Guerrini bei der Vorbereitung des Forschungsnetzwerktreffens zur Heimgeschichte behilflich. Ihnen danke ich hierfür herzlich, ebenso Maria Wolf für die Unterstützung des Buches durch das Institut sowie Helga Peskoller für Gespräche zum Raum. Margret Haider sah das Manuskript sorgfältig durch und Thomas Seissl besorgte das Register. Alexander Masch vom Transcript-Verlag betreute das Buchprojekt umsichtig. Mein größter Dank gilt diesen zwei Menschen: Christina Antenhofer begleitete das Corpus-Projekt als Beraterin vom Konzept bis zur Umsetzung, stellte ihr Wissen zur historischen Raumforschung bereitwillig zur Diskussion und verfasste als Autorin und Diskutantin wichtige Beiträge für den Band. Sie unterstützte mich zudem bei der Übersetzung des Beitrages von Stefano Zangrando aus dem Italienischen. Hierfür danke ich herzlich. Für Stefan Hitthaler, mit dem ich gemeinsam das Projekt geplant, umgesetzt und verteidigt habe, reichen keine Dankesworte. Er hat sich als Architekt und Fotograf auf eine rasante Achterbahnfahrt mit uns Wissenschaftler/-innen eingelassen. Ohne seinen Sinn für Außergewöhnliches und den unermüdlichen Einsatz für dieses Projekt, wäre vieles nicht umsetzbar gewesen. Auf ihn war stets Verlass, wenn der Turm rief. Dafür gebühren ihm Anerkennung und mein innigster Dank. Ulrich Leitner Innsbruck, im November 2016

Autorinnen und Autoren

Christina Antenhofer ist assoziierte Professorin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. Mechthild Bereswill ist Professorin für die Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur an der Universität Kassel. Irene Berkel ist Religions- und Kulturwissenschaftlerin sowie Studiendekanin der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck. Anselm Bilgri war Benediktiner und Cellerar der Abtei St. Bonifaz sowie Prior im Kloster Andechs und arbeitet seit seinem Ordensaustritt als Vortragender, Ratgeber und Buchautor. Nora Bischoff ist Dissertantin im Fach Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Stipendiatin der Johannes-Rau-Gesellschaft e.V. Lina Edith Eckhardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin auf einer Qualifikationsstelle zur Promotion am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel und Assoziierte des DFG-Graduiertenkolleg Dynamiken von Raum und Geschlecht der Universitäten Kassel und Göttingen. Flavia Guerrini ist Universitätsassistentin im Lehr- und Forschungsbereich Generationenverhältnisse und Bildungsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck. Maria Heidegger ist Inhaberin einer Erika-Cremer-Habilitationsstelle der Universität Innsbruck im Fachbereich Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

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Marc Hill ist Assistenzprofessor im Lehr- und Forschungsbereich Migration und Bildung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck. Stefan Hitthaler ist Architekt und Fotograf; er leitet das Architekturbüro Hitthaler in Bruneck, Südtirol. Philipp Hubmann ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Universität Zürich (Lehrstuhl Prof. Dr. Davide Giuriato). Birgit Holzner ist Verlagsleiterin der innsbruck university press. Mirjam Lynn Janett ist Dissertantin im Fach Neuere/Neueste Geschichte an der Universität Basel und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sinergia-Projekt Placing Children in Care: Child Welfare in Switzerland (1940–1990) des Schweizerischen Nationalfonds. Ulrich Leitner ist Universitätsassistent im Lehr- und Forschungsbereich Allgemeine Erziehungswissenschaft am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck. Ruprecht Mattig ist Professor für Systematische Erziehungswissenschaft und Methodologie der Bildungsforschung an der Technischen Universität Dortmund. Reinhold Messner ist Extrembergsteiger und Buchautor. Waltraud Mittich ist Schriftstellerin; sie lebt in Bruneck, Südtirol. Zuletzt erschienen: Topografien (Edition Raetia, 2009), Abschied von der Serenissima (edition laurin, 2014), Micòl (edition laurin, 2016). Andreas Oberhofer ist Historiker und Leiter des Archivs der Stadtgemeinde Bruneck, Südtirol. Mara Persello ist Doktorandin im Fach Kulturen romanischer Länder an der Universität Potsdam, in Cotutelle mit dem Istituto di Scienze Umane e Sociali der Scuola Normale di Pisa, Italien. Annemarie Profanter ist Professorin an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen.



A UTORINNEN

UND

A UTOREN | 545

Peter Reischer studierte Architektur, Druckgrafik, Architekturfotografie und ist freier Journalist und Architekturkritiker, seit 2010 ist er leitender Redakteur des Fachmagazins architektur und schreibt für in- und ausländische Magazine und Zeitungen; er lebt in Wien. Kordula Schnegg ist Assistenzprofessorin am Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik der Universität Innsbruck. Nina Schröder studierte Germanistik, Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte und Politik in München und Berlin und lebt und arbeitet heute als freie Journalistin in Bruneck, Südtirol. Cordula Schwarze ist Senior Lecturer am Institut für Fachdidaktik und am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck. Heinrich Schwazer ist Kultur- und Gesellschaftsredakteur bei Die Neue Südtiroler Tageszeitung. Roland Steinacher ist Althistoriker und Mediävist und Stipendiat der Alexandervon-Humboldtstiftung an der Freien Universität Berlin. Rudolf Unterhuber ist Ofenbauer, Musiker und Erfinder des Musikinstruments Keraphon (klingende Keramik); er lebt in Terenten, Südtirol. Stefano Zangrando ist Literaturwissenschaftler, Prosaautor, Literaturkritiker und Übersetzer; er lebt in Rovereto, Trentino.

Register Abt 200, 530-531, 535-538 Adam und Eva 155-156 Adelsheim b. Stuttgart (D) 483 Agäis (GR) 306 Ägypten 282 Ahrntal (Südtirol) 278, 280-281, 283-284, 286-287, 289, 296 Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) 20 Netzwerke (soziale) 18, 20, 175, 334 Al Khobar (Saudi-Arabien) 385 Albaneder, Theodor 62-63 Albrecht IV. [der Weise] von Bayern (Herzog) 504-505 Albrecht IV. von Österreich (Herzog) 194 Albrecht V. von Österreich (Herzog) 194 Albrecht VI. von Österreich (Herzog) 197 Allein-Sein 140, 148 Allmachtsfantasien 531 Alpen -raum 309, 311, 315, 319, 325 -übergang 306, 311-312, 314, 316-318, 320, 322 Alphabetisierung 282-284 Altinum (röm. Reich) 314 Amras (Tirol) 315

Anderson, Benedict 377 Andreae, Bernard 212 Angenendt, Arnold 187 Anja (Pseudonym) 340-341, 343 Anstaltserziehung 400, 404-405, 411 Antenhofer, Christina 206 Anthropologie 186, 251, 253, 255 Antike antikes Griechenland 307 römische Antike 11, 27, 31, 208 römische Kaiserzeit 215, 306, 314 s. auch Hellenismus Aquileia (röm. Reich) 311 Arabischer Golf 377, 390-391 s. auch Saudi-Arabien Arbeit Arbeitserziehung 228, 395, 403 (Zwangs-)Arbeitshaus 24, 31, 121-124, 421-422 Architektur 14-15, 17-18, 28-29, 122, 211, 304, 352, 375, 383, 388-389, 461-462, 466-468, 471, 482-483, 485-487, 492, 525 Archiv Aufbewahrung 300-301

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Familienarchiv 273, 286, 296 fictions in the archives 183 Gemeindearchiv 275, 294 Hausarchiv/Hausbrief 289, 304 historische Archive 294, 303 Hofarchiv 290, 292, 301 Kleinarchiv 27, 273, 279, 291-292, 294, 300-303 Pfarrarchiv/Kirchenarchiv 273, 299, 304 Urkundenarchiv 300 Waisenhausarchiv 394 Armut 140, 153, 155, 403 Armenfürsorge 403 Arzl (Tirol) 120 Assmann, Aleida 302 Assmann, Jan 196 Asti (I) 107 Asyl -werberInnen 341, 482 -werberInnenunterkunft 342 Atavismutheorie 111 Aufklärung 86, 258, 265, 269 Augé, Marc 17 Augsburg (D) 313-314, 323, 516 Augustinus/Aurelius Augustinus (Kirchenvater) 110, 155, 157 Augustus (röm. Kaiser) 309, 317 Ausgrenzung 419, 432, 435, 483 Ausländerdiskurs 340 Autobiografie 85, 151, 162, 170 Autonomie 43 Avila (Kastilien) 163 Axams (Tirol) 121 Bachelard, Gaston 86 Bad Ischl (A) 515 Bahrain (Persischer Golf) 390 Bambule (Film) 137 Barock 466, 487

Basel (CH) 394-395, 398, 401, 403-404, 410 Bassani, Giorgio 515-516 Baudelaire, Charles 110 Baumgartner, Viktoria (Pseudonym) 138-140 Bauriedl, Sybille 411 Bayern (D) 506, 529 Beatrix von Aragón (ungar. Königin) 506 Bein, Hugo 394-396, 400, 403405, 407-410, 413-417 being inside/getting outside 39 Benedikt von Nursia (Heiliger) 530, 533-538 Benediktiner/benediktinisch 58, 421, 533 Benjamin, Walter 13, 175 Bernhard von Clairvaux 157 Berthold (Pseudonym) 240-246 Bettelorden 58, 61, 151-152, 154-155, 178 Bibliothek Anstaltsbibliothek (Psychiatrie) 82 Bauernbibliothek 285 Gefängnisbibliothek 24, 8690, 93-96, 98, 112-114 Heimbibliothek 144 Klosterbibliothek 501, 527 -sgeschichte/-wissenschaften 273, 501 Bienengräber, Alfred 85, 95, 9899, 108-109, 112, 114 Bilbao/Vizcaya (Baskenland) 263 Bildung Hochschulbildung 381 -sbürgertum 251-252 -serfahrung 251



sinnliche/geistige Bildung 255-257 -sinstitution 94, 376, 380, 384-385, 390 -sressource 342 -stheorie 250 -sziel 356, 371 Bilgri, Anselm 530 binäre Codierungen 45 binäre Reduktion 333 Bion, Wilfred Ruprecht 170 Bodensee 308 Böhme, Gernot 21 Bollnow, Otto Friedrich 22 Bootcamp 143 Börne, Ludwig 110 Bosnien 340 Bourdieu, Pierre 42, 378-380, 388 Bozen (Südtirol) 61, 64, 67, 277278, 283, 312, 314-315, 321, 323-326, 510 Brandstätter, Klaus 324 Branzoll (Südtirol) 325 Bregenz (Vorarlberg) 15, 278 Breit, Bert 136, 144 Breitenau (D) 421 Brennerpass (Tirol) 306, 308, 312, 314-315, 320, 322-324, 550 Brixen (Südtirol) 72, 75-76, 277, 286, 316, 322-323, 466, 510 Brixlegg (Tirol) 325 Bröckling, Ulrich 246, 412 Brodnig, Ingrid, 328 Bruchsal (D) 89-90 Bruck an der Leitha (A) 326 Bruck an der Mur (A) 326 Bruneck (Südtirol) 16-18, 29, 33, 273-274, 276-280, 288, 440, 450-451, 461-475, 478, 485,

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491, 505, 510, 513, 520, 525528, 530, 536, 538, 539 Brunner, Karl 318, 322 bukolisch 26, 215-216 Bündner Pässe 314, 324 Burckhardt, Jacob 181 Burg 501-502, 527-529, 536 Burgeis (Südtirol) 72 Burghardt, Daniel 22 Burglechner, Mathias 466 Caravaggio 485 Cassiodor/Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator (röm. Staatsmann und Schriftsteller) 310 Charles, Prince of Wales (Prinz) 538 Chesi, Gert 136, 144-148 Christoph Columbus 537 Christoph von Bayern (Herzog) 30, 189, 503-511, 513, 528530 Chur (CH) 324 Cicero/Marcus Tullius Cicero (röm. Politiker) 215, 310 Claudius/Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus (röm. Kaiser) 315 Col de Montgenèvre 314, 324 Collegno (I) 100 Connell, Raewyn 42 Containermodell/Behälterraumauffassung 51, 58, 393, 431 Corbinian/Korbinian (Heiliger) 320 cursus publicus 317, 319 custody/clinical model 134 Cyberspace 390

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d’Aubusson, Pierre (Kardinal) 505 Davis, Natalie Z. 183 de Breteuil, Geoffroy 501, 527529, 531 de Certeau, Michel 300, 502 De Quincey, Thomas 110 Deixis/deiktisch 369-370 Dekker, Rudolf 180 Delinquenz 100, 134 Demütigung/Degradierung 4142, 147, 420 Deutschland 16, 89-90, 143, 250, 256, 260-262, 269-270, 337, 394, 422-423, 503, 537 Diem, Albrecht 158 Dietenheim (Südtirol) 298, 474 Dinzelbacher, Peter 158 Diokletian/Gaius Aurelius Valerius Diocletianus (röm. Kaiser) 313 Diskursivierung 243, 411 Dispositiv 229 distributed personhood 25, 176, 186-187, 196, 203 Diversität 338-339 Donau (Fluss) 311, 325 Dorfchronik 280 Drau (Fluss) 325, 516 Drusus/Nero Claudius Drusus Maior (röm. Politiker) 308, 315 Duffy, Eamon 184 Dünne, Jörg 391 Durchlässigkeit 11, 23, 477-477, 529 Durkheim, Emile 268 Ebeling, Knut 301 Ecarius, Jutta 19 Eco, Umberto 183, 534

Ego-Dokument/s. auch Selbstzeugnis 25-26, 33, 180181, 183-185, 279 Eingesperrt-Sein/Weggesperrt 24, 58, 60, 64, 75, 81, 118, 129, 136, 139-141, 241-242, 419, 426, 478, 480-481 Einsiedelei/räumlicher Rückzug 24, 79, 82, 153, 172, 260262, 271, Eisacktal (Südtirol) 309, 323 Elija (Prophet) 155 Emanationentheorie 187 Engel, Marianne (Pseudonym) 148 Enneberg (Südtirol) 278 Ennemoser, Josef 284 Epigramm 205-208, 214 Epikur (griech. Philosoph) 187 Eppan (Südtirol) 64 Erinnern/Vergessen 273, 302 Erinnerungsdepots 523 Erinnerungsort/Gedächtnisort 190, 516 Erinnerungsprozesse 119 Kindheitserinnerungen 342 passives Erinnern/aktives Erinnern 302 s. auch Gedächtnis Ernst von Österreich (Herzog) 194 Erziehung Gemeinschaftserziehung 404405 Massenerziehung 394 s. auch Anstaltserziehung s. auch Erziehungsheim s. auch Fürsorgeerziehung s. auch Koedukation -sbericht 236-237, 244, 246 -serfolg 232, 238



-sinstitution 28, 123, 242, 378-379, 391 -smethode 129, 234, 394, 410, 425 -sprozess 142 -sraum/-ort 14-15, 21, 24-25, 29, 32, 98, 119, 124, 246, 420, 479 -sziel 140, 413, 429 Erziehungsheim/Heim Heimeinweisung 142, 230, 244 Heimerziehungspraxis 220, 231, 420 Heimflucht 243, 246 Heimgeschichte/ Heimgeschichteforschung 14, 16, 223, 420 Heimkonzept 132 Heimverwaltung 235 Karlshof (Bubenheim) 231 Kleinvolderberg (Bubenheim) 120, 131-134, 222, 227, 243-245 Jagdberg (Bubenheim) 14, 121, 219-222, 226,-227, 234, 236, 238, 240-242 Offenes Heim 132 Esders, Stefan 319 Etschtal (Südtirol) 314, 510 Euregio (Europaregion Tirol) 515, 517 Eva Birkl (Pseudonym) 117-118, 135-136 Fallakte 29, 222, 420, 426, 432 familia (mittelalterlich) 179 Fellenberg, Philipp Emanuel von 401 Ferdinand von Aragón (König) 162

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female community 378 Fickler, Johann Baptist von 506 Finstermünz (Tirol) 325 Fischer, Brigitte (Pseudonym) 138 Fischer-Kowalski, Marina 147 Flandern (NL) 178 Fließ (Tirol) 307 Flucht -bericht 234, 246 enfant fugueur/Dauerflüchter 132, 234, 243-245 enfant vagabond 26, 224, 229, 235, 245-246 Entweichung 26, 124, 220, 224-227, 232, 234, 243, 428 Flüchtlingsheim/-kinder/unterkunft 342 Flüchtlingswellen 12 Forrest Gump (Film) 48 Fößel, Amalie 193 Foucault, Michel 22, 40, 43, 54, 56, 87, 208, 213, 229, 300, 327, 393, 412, 419, 426 Francesco II. Gonzaga (Markgraf von Mantua) 510, 512, 528 Frankfurt am Main (D) 236, 238, Frankreich 112, 256, 259-262, 269, 292, 303 Franz, Caramelle 325 Franziskaner 58, 64, 68-69, 72, 154 Frazer, James George 186, 187, 196 Freiheitsentzug 23, 37-38, 40, 43, 230, 264, 402, 478-479 Freising (D) 320, 322 Fremdplatzierung 397 Freud, Sigmund 164, 182 Frey, Bernhard 403 Friaul (I) 513, 530

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Friedrich [der Schöne] von Habsburg (König) 191 Friedrich III. von Habsburg (Kaiser) 504 Friedrich von der Pfalz (Kurfürst) 173 Friedrich von Sachsen (Kurfürst) 504, 528 Friedrich von Trient (Bischof) 322 Friedrich, Markus 292, 299, 303 Füesslin, Julius 89-92, 94, 97 Fügen (Tirol) 120 Fürsorge -erziehung 23, 32, 121, 128, 134, 139, 141, 146, 148, 221, 225, 232-236, 244, 245, 419, 422-423, 429, 432, 434 -praxis 29, 426, 429, 434 s. auch Armenfürsorge Fürstenspiegel 531 Gadertal (Südtirol) 278 Gaistal (Tirol) 322 Gallien (röm. Reich) 308, 311 Garcia von Toledo (Jesuit) 171 Gardasee (I) 316, 325 Garibaldi, Giuseppe (ital. Unabhängigkeitskämpfer) 61 Garten -anlage 211-215 Anstaltsgarten 38 -architektur 467-468 Barockgarten 466 Baumgarten 466-468 Kunstgarten 215 Männergarten 72 Obstgarten 135 -ummauerung 465 Gedächtnis -funktion 235

kollektives 274, 516 kommunikatives 196 Körpergedächtnis 13 -orte 26, 190, 203 -raum 196 Speichergedächtnis/ Funktionsgedächtnis 274, 302 Gefängnis -bibliothek 24, 86-90, 93-96, 98, 112-114 -forschung 478 Jugendstrafvollzug 16, 23, 33, 478-479, 481, 483 -zeitung 112 Gegenreformation 151, 161 Geheeb, Paul 410 Gell, Alfred 25, 176, 186-188, 196, 203 Generationenvertrag 533 Geschlecht -erbeziehung 41, 386 -erdifferenz 41-42, 45, 50 -ergrenzen 26, 208 -erkonstruktion 47 -erpolitik 379 -ertrennung 122, 383, 388389 -erverhältnis 155-156, 382, 386, 481 -ervorstellungen 147 gendered space 378 Genderdiskurs 155 geschlechterspezifisch 228 s. auch Koedukation -sidentität 29, 377, 379 Gewalt -anwendung 431 -ausübung/-bereitschaft 43 -erfahrung 119, 138, 141



Ghetto/Problembezirk 330-331, 335-336 Gipuzkoa/Guipúzcoa (Baskenland) 264 Goethe, Johann Wolfgang von 259, 261, 498, 500 Goffman, Erving 39, 56, 223, 242, 419, 428, 432 Göhlich, Michael 23 Görz (I) 510, 512-513, 528, 530 Grabmal 189, 504-507 Graz (A) 64 Grebmer, Joseph Ludwig von 472 Grecian, Alex 86 Gregor IX. (Papst) 155 Grenze Geschlechtergrenzen 26, 208 s. auch Geschlechterdifferenz Grenzraum 516 Grenzregime 246, 327 Grenzüberschreitung 48 Grenzverletzer 26, 246 Grenzziehung 11-12, 18, 29, 31, 378, 387 Materielle/physische Grenze 12, 58, 224, 246, 378 Raumgrenze 23 soziale Grenze 11, 224, 246 Standesgrenzen 271 Grimm, Jacob und Wilhem 296, 354, 463 Grins (Südtirol) 325 Groppe, Carola 119 Großer St. Bernhard 314 Grounded Theory 338 Guernica (Baskenland) 266-267 Hahn, Kadri-Rutt Haider, Jörg

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Hall (Tirol) 24, 54, 57, 59-60, 68-69, 71-72, 75, 77, 81, 243, 325 Handlung -sfähigkeit 224 -slogik 223 -spielraum 42, 224, 385, 435 -strategie 223, 240, 242-243 Hanselmann, Heinrich 405 Haram (Hl. Raum) 372 Hasse, Jürgen 12 Hausendorf, Heiko 351-352 Hausvertrag 177 Heidegger, Martin 30, 492-499 Heidelberg (D) 173, 191, 199, 238 Heiliger, Bernhard 493 Heinrich II. (röm.-deutscher Kaiser) 323 Hellenismus/hellenistisch 211, 215-216 Hermaphrodit 26, 205-210, 212213, 215-217 Geschlechtswandel 207 s. auch Geschlecht heternormativ 40 Heterosexualität/ heterosexuell/ heterogeschlechtlich 48, 482 Zweigeschlechtlichkeit 205207 Heterotopie 208, 213, 327, 412 Heyl, Johann Adolf 296 hilaritas 538 Hildegard von Bingen (Mystikerin) 159 Hindberg, E. G. A. 93 Hitthaler, Stefan 16-17, 440, 448-450, 461, 491-492, 495, 497-498, 527, 529 Hochschulforschung 28, 356

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Hofinventar 274, 284 Hofwil (CH) 401 homosozial 40-41 Horn b. Hamburg (D) 401 Horn, Eva 246 Huizinga, Johan 154 Humboldt, Wilhelm von 27, 250272 Ich-Form 185, 505 Imst (Tirol) 68, 121, 277 Individualisierung 98, 395, 412, 417 Inklusion/Exklusion 77, 81, 230, 380, 388 s. auch Ausgrenzung Inn (Fluss) 316, 325 Innichen (Südtirol) 321, 322 Innozenz III. (Papst) 154 Innozenz IV. (Papst) 155 Innsbruck (Tirol) 15, 60, 62, 64, 71-72, 76-77, 120-121, 127, 144, 237-238, 243, 277, 293, 315-316, 326, 461, 478-479, 485 Inntal (Tirol) 68, 277, 283, 295, 308, 316, 322 Inschriften 32, 103, 105-106, 114, 136-137, 144, 147 Institution Bildungsinstitution 94, 376, 380, 384-385, 390 -enbiografie 376 s. auch Anstaltserziehung s. auch Erziehungsinstitution totale Institutionen/Treibhäuser 39-40, 223, 228, 243, 419-420, 423, 428, 431 Interaktionsanalyse 28, 349-350, 355, 358-359

Lehr-/Lerninteraktion 349, 356, 360, 363, 365, 374-375 Interaktionsabläufe 352, 432 Interview problemzentriertes 338 narratives Interview 33, 118, 120 Isabel von Aragon (Königin) 191, 194 Isabella d’Este (Markgräfin von Mantua) 510 Isabella von Kastilien (Königin) 162 Isolation 96, 109, 124, 129, 139, 420 Absonderung 26, 223, 234, 243, 245, 269, 299, 480 Isolationshaft 24-25, 87-89, 112-113 Isolierraum 117 Isolierstation 131, 422, 432 Isolierstrafe 120, 124, 129 Isolierzelle 13, 24, 118, 126, 141, 144 Strafisolierung 129-131, 134, 140-141 Italienische Schule (Lombroso) 101 Itinerarium Antonini 311, 313, 315 Jacob zu Kastl (Castell) (Abt) 184 Jahn, Joachim 319 Jaufen (Tirol) 320 Jerusalem 30, 503-505, 528 Jesus Christus 152-153, 157, 164, 167, 169-170 Johann von Pfalz-Neumarkt 184, 200-201 Johannes (Heiliger) 156



Johnson, Robert 38 Jugendwohlfahrt 14, 130, 224225, 233, 239, 423 just community 483 Kampanien (I) 211-212, 214 Kant, Immanuel 256 Kapuziner 62, 64, 77 KarmelitInnen 25, 59-62, 151, 154-155, 162-163, 171 Kärnten 311, 339-340, 513 Karzerstrafe 118-119, 125, 128, 130, 135-141, 146, 148, 233 Kassel (D) 29, 419, 477 Kastelruth (Südtirol) 291-293 Kasten, Brigitte 177 Kaufmann, Stefan 246 Kerman, Piper 85 Kiehn, Erich 220, 225 Kiens (Südtirol) 274 Kindergarten 87 Kitzbühel (Tirol) 63-64 Klagenfurt (A) 338-340, 343 Klarissen 193 Klassenwiderstand 147 Klausen (Südtirol) 324 Kleinbasel (Basel) 395 Kleiner St. Bernhard 314, 324 Klopstock, Friedrich Gottlieb 106, 115 Kloster -anlage 29, 419, 423 -bibliothek 501, 527 -gemeinschaft 24, 54, 63, 69,79 Klausur 54, 56, 58, 60-61, 82 -mauer 24-24, 53, 535 -regeln 530 knowledge society 381 Koedukation 385, 410 Köhler, Horst 537 kollektive Praxis 266

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Königsfelden (CH) 192-194 Konrad II./Konrad d. Ältere (röm.-deutscher Kaiser) 323 Körper -beschreibungen 29 -bewegung 370 corpus intra muros 12, 14, 17, 29, 33, 189, 206, 273, 348, 440, 451, 421, 477-478, 482, 485, 491, 498, 502, 503, 520, 525-526, 527-528, 531, 533, 539 -bau 62 -disziplin 122 -hygiene 123 körperliche Lust 147, 156 körperliche Qualen 37 körperliche Strafen 413 körperliche Übergriffe 15, 42, 237 Leib/leiblich 12-14, 17, 33, 203, 355 -lichkeit 147, 216, 348, 350, 417 Manipulation des Körpers 152 -positur 367, 372 -praktiken 28 -raum 19 -teile 187-188, 203 toter Körper 176, 187, 189 Unterwerfung des Körpers 49, 147 vergeschlechtlichte Körper 51 Verkörperung 45, 50, 156, 492, 497-498 Verletzungsmacht des Körpers 24, 44, 48, 50-51 Krain 513 Kramsach (Tirol) 120, 222, 227

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Kristeva, Julia 156 Kufstein (Tirol) 325 kulturelles Erbe 296, 303 Kuntner, Heinrich 325 La Turbie (F) 309 Laichingen (D) 283 Lampodinger, Thomas 73-74 Landeck (Tirol) 277, 325 Langer, Alexander (Politiker) 516 Langhammer, Leopold 291 Laqueur, Thomas 158 Latour, Bruno 20, 502-503 Lavis (I) 326 Lebensweg 516-517 Lechtal (Tirol) 309 Leermoos (Tirol) 316, 322 Leib/leiblich 12-14, 17, 33, 203, 355 Lengmoos (D) 322 Leningrad (Russland) 516 Leonardo da Vinci 106 Leonhard von Görz (Graf) 510513, 528, 530 Leopardi, Giacomo 110 Leopold IV. von Österreich (Herzog) 194 Lernsetting 391 Lichtenberg, Georg Christoph 494 Lichtung 495 Lienz (Tirol) 121, 510-511, 513, 528, 530 Lietz, Hermann 415 linguistic turn 183 Link, Jürgen 245 Livius/Titus Livius Patavinus (röm. Geschichtsschreiber) 306 Lombroso, Cesare 24, 99-103, 105-106-115

Lombroso-Ferrero, Gina 102 Loosli, Carl Albert 400-401 Löw, Martina 19-20, 51, 119, 126, 433, 434 Lukrez/Titus Lucretius Carus (röm. Dichter) 187 Luther, Martin 528 Macht/Herrschaft -anspruch 29, 293, 379, 391 -ausübung 378 -beziehungen 51-52, 412 -phänomene 431 -raum 393, 411-412 -verhältnisse 28, 53, 229, 327, 332, 335, 337, 378, 388, 393 Madersbacher, Klaus 120, 136, 144 Magie 186, 187, 196 Mais (Südtirol) 320 Maister, Karl 304 Maj, Barnaba 502 Männlichkeit -sbild 480 -sentwürfe 44, 50 -sideal 23, 48, 50 -skonflikt 23, 50 -skonstruktion 45 mansiones/Raststationen 314, 317 Mantesso, Davide 440 Marburg (D) 425 Margarete von Bayern (Markgräfin von Mantua) 510 Marginalisierung -sdiskurs 28, 330, 333, 343 -sdispositive 333 -skritisch 28, 329, 335, 339, 341, 343, 344 -spraxis 331-332, 338



-swissen 328-329, 343 Maria (Mutter Jesu) 156-157 Martial/Marcus Valerius Martialis (röm. Dichter) 205-208, 214-215 Martinsbühel (Tirol) 120 Materialität 15, 20, 30, 120, 176, 423, 432, 434 Matrei (Tirol) 312, 314, 317, 325 Matsch (Südtirol) 280 Matthias Corvinus (ungar. König) 504-506 Matthiesen, Ulf 391 Mauer Mauerwerk 462 s. auch Klostermauer s. auch Stadtmauer Maurer, Bettina (Pseudonym) 135, 138-140 Maximilian I. (Kaiser) 198, 464, 504 Mechthild von der Pfalz 195, 197-198, 201-202 Mechthild von Hessen (Gräfin) 202 Mechthild von Magdeburg (Mystikerin) 151 Medick, Hans 283 Medina (Saudi-Arabien) 381 Meinhof, Ulrike 425 Meister Eckhardt (mittelalt. Theologe) 158, 170 memoria (mittelalt.) 26, 175-176, 191-192, 194, 196-198, 203, 511 Meran (Südtirol) 59, 283-284, 320, 324 Merian, Matthäus 468 Merkel, Angela 537 Michelangelo 485, 492

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Migration Gastarbeitermigration 328 -santeil 328-329 -scommunity 341 -serfahrung 28, 339, 341, 344 -sforschung 334 -sgeschichte 332, 334, 342 Mils (Tirol) 121 Minoriten 192-193 Missbrauch 410, 416-417 Mittich, Waltraud 13, 17, 491, 515-517, 520, 530 Mobilität 28, 31, 37, 54, 56, 58, 279, 391, 529 Monaco 309 Monte Cassino (I) 533, 538 Montserrat (ES) 252-253, 255, 257, 260, 262, 271 Mori (I) 325 Mühlwalder Tal (Südtirol) 284 München (Bayern) 182, 195, 201, 506, 509, 530, 538 Museum Heimatmuseum 273-274, 279, 304 -objekt 529 Ortsmuseum 277 Stadtmuseum 278, 289 Mutius, Bernhard von 536 Mystik 151, 157-158, 538 Mythos 26, 162, 181, 205-206, 215, 337 Nagy, Anton 60 Nähe/Distanz 306, 337, 373, 415-417 Naher Osten 378 Napoleon Bonaparte (franz. Kaiser, Napoleon I.) 61 Narration

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biographische Narration 139, 338 lokativer Narrationsmodus 32 narrative Konstruiertheit 25, 183, 503 Narzissmus 107, 113 Nation -alcharakter 251, 257, 266, 270-271 nationale Sprache 262 geographische Lage 259-260, 262, 264, 271 Néron, Guy 245 Neuber, Anke 49 Neuhaus (Südtirol) 325 Neuhumanismus/neuhumanistisch 161 Nichtsesshaftigkeit 26, 224, 229, 245 Niederwolfsburger, Thomas 440 Nine Eleven 482 Nordafrika 321 Normalisierung Normabweichung 329 Normalismuskonzept 245 Normalitätsparadigma 408, 415 -strategien 412 Nugel, Martin 22 Ober, Andre 469 Oberdorf (Bruneck) 466 Oberhofer, Andreas 17 Oberinntal (Tirol) 68, 277, 283, 295 Oberlin, Johann Friedrich 404 Oberwielenbach (Südtirol) 301 Objektbiographie 503 Oefele, Andreas Felix von 504 Oelkers, Jürgen 416 Opfererfahrung 48

Opfer-Täter-Ambivalenz 44-45, 50 ora et labora 93, 534-535 Oral History 30 mündliche Tradition / Quellenmaterial 120, 296 Orange is the new black (Film) 85, 88 Orden Konvent 58, 62, 64, 72, 76, 153, 192 Mönch 67, 110, 154-155, 158-159, 184, 200, 502, 528, 530, 533-536 s. auch Benedikt von Nursia Nonne 54, 57-58, 60, 79, 82, 154, 149, 172, 192-193, 456, 530 -sregel 54, 58, 60, 155, 163, 171, 533 -swesen 54 Ordnung des Nebeneinanders/des Nacheinanders 349 Anordnung 20, 29, 40, 43-44, 51, 374-375, 411 Gruppenordnung 430 Heimordung 128, 134 s. auch Sauberkeit Österreich 13-14, 16, 120-121, 130, 193, 194, 197, 221, 233, 339, 342-342, 349, 468 Ottersbach, Markus 331 Ötztal (Tirol) 305, 320 Pädagogik autoritäre Pädagogik 130 Erlebnispädagogik 143 Erziehungswissenschaft/ Pädagogik 19, 21, 27, 31, 249-250, 272, 390-391



Handbuch der Pädagogik 230 Heilpädagogik 405 Räume der Pädagogik 20 Reformpädagogik/reformpädagogisch 404, 410, 415416 Sonderpädagogik 425 Sozialpädagogik 128 Strafpädagogik 26, 140, 142, 234 Palästina 516 Passeiertal (Südtirol) 248 Paul VI. (Papst) 151 Paula Gonzaga (Fürstin) 510 Pentonville (London) 108 Pestalozzi, Johann Heinrich 414 Peutiner, Konrad 312 Piaget, Jean 22 Pietismus 404 Pius IX. (Papst) 61 Plansee (Tirol) 322 Plinius d. Ältere/Gaius Plinius Secundus Maior 207, 317 Plötzkau (D) 95 Polybios (greich. Schriftsteller) 311 Pompeji (röm. Reich) 26, 208211, 216 Pons Drusi (röm. Reich) 312, 314-315 Pontlatz (Tirol) 325 Poseidonios (griech. Geschichtsschreiber) 309 postkolonialer Diskurs 333 Pott, Andreas 331 Presser, Jacques 180 Prettau (Südtirol) 283, 287 Psychiatriegeschichte 16, 32, 53 Pustertal (Südtirol) 17, 30, 32, 273, 277-278, 285, 290-291, 301, 309, 313, 315, 322, 461,

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463, 505, 510, 513, 528, 530, 537 Quartio, Octavius 26, 208, 210217 Quintus (Bruder Ciceros) 215 Raiffeisen, Friedrich Wilhem 464 Ratzinger Joseph/Benedikt XVI. (Papst) 538 Rau, Susanne 31-32 Raum -analyse 357, 411, 432 -aneignung 25, 145 -auffassung 27, 51, 431 -begriff 20, 51, 119, 349, 431, 433, 435 -beschreibung 357 Bewegungsraum 351, 377 Beziehungsraum 23, 45, 47 -bilder 15 -determinismus 51, 360 Einräumen 495-497 -erfahrung 27, 32, 44, 54-55, 134, 141, 348, 374 -forschung 391, 393 Freiraum 18, 404, 477, 481482 gebauter Raum 12, 14, 23, 347-349, 352-353, 356, 360, 375-376, 497, 516 Gebetsraum 196, 203 Gedächtnisraum 196 -grenze/s. auch Grenze Grenzraum 516 Handlungsraum 32, 123, 351 Haram (Hl. Raum) 372 healing space 151, 172 hermetischer Raum/ Geschlossenheit 37-41, 44-

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45, 49-51, 122, 124, 131, 140, 170, 240, 478 Innen/Außen 11, 14, 58, 68, 122, 127-128, 140, 241, 246, 361, 372, 465, 477, 497, 533534, 536 Innenraum 38, 166 Interaktionsraum 360, 370, 374-375 intimer Raum 378 -konfiguration 16 -konstitution 21 -konstruktion 37, 39-41, 51, 394 -konzept, 23, 112, 176, 203, 350, 393 -körper 452-453 Körperraum 19 Lebensraum/erlebbarer Raum 211-271, 388, 390, 431 Lichterraum 196 Machtraum 393, 395, 411412 -nutzung 77, 359, 374, 394 -nutzungswissen 365, 376 -ordnung 22, 29, 32, 51, 379, 390 potential space 25, 153, 164 -praktik 77, 148, 299 räumliche Arrangements 40, 75, 78, 140, 352-353, 360, 363, 370, 375, 423, 426, 431 räumliche Isolierung/s. auch Isolation 23, 98, 118-119, 122, 124, 129-131, 134-135, 138, 140-141, 145, 148, 427 öffentlicher/privater 14, 18, 29, 48, 66, 86, 240, 301-302, 304, 377-379, 390, 435, 523 Räumlichkeit 164, 348, 350, 394

Raum-schaffen 493-497 relationale Raumtheorie 20, 32, 51, 119, 349-350, 393, 431-433, 435 Schriftraum 32 Schutzraum 533 Sehnsuchtsraum 26, 56 Sonderräume/ Gegenraum/heterotope Räume/s. auch Heterotopie 15, 23, 28-29, 208, 338 Sozialraum 28, 55, 77-78, 331-332 -soziologie/raumsoziologisch 20, 51,420 spatial turn 53, 391 Spielraum 351 Stadtraum (urbaner Raum) 12, 28, 32, 327-328, 330, 332, 334, 439, 462 -struktur, sakrale/profane 26, 22, 41, 51, 176, 189-190, 198, 203, 392 technisch-physischer Raum 494-497 -theorie/raumtheoretisch 16, 390-391, 431, 433, 435 Therapieraum 132 Übergangsraum 23, 25-26, 153, 158, 164, 167, 168-170, 172 umkämpfter Raum 223 Verräumlichungspraxis 332 virtueller Raum/s. auch Cyberspace 22, 98, 378 -voluntarismus 51 Wahrnehmungsraum 351, 369-370 -wissen 23, 28, 353, 391 Zwischenraum 23, 27, 485 Raum-Zeit 40, 348, 495



Ravensburg (D) 194, 238 Reagenz/Reaktanz 486 REAGENT (Kunstwerk) 485486 real man 48 Rechtspopulismus 329, 339 Regensburg (D) 197, 323 Religionsfreiheit 340, 344 Reliquien 100, 186, 196, 198 Renaissance 107, 151, 181, 463, 466, 467, 486 Repression 240 Reschenpass (Tirol) 305, 308, 314-315, 317, 320, 322-324 Rheintal 308 Rhodos (GR) 189, 503-508, 528529 Riedmann, Josef 305, 322, 326 Rieger, Sebastian (Reimmichl) 280 Ringler, Gerda (Pseudonym) 148 Risikoprämie 226-227, 243 Ritten (Südtirol) 322, 325 Ritter 502, 527 Riva (I) 316 Rom (I) 214-215, 309, 323, 530 Römhild, Regina 334 römisches Reich/Römerreich/ Imperium Romanum 310, 313, 317, 534 Rommel (Gefängnisseelsorger) 93-96, 98-99, 108-109, 114 Rosa, Hartmut 535, 539 Rosegger, Peter 280, 285, 295 Roth, Heinrich 250, 258, 261, 270 Rousseau, Jean-Jacques 251, 266 Rovereto (I) 325 Rudolf (Pseudonym) 235, 238 Ruprecht III. von der Pfalz (König) 184

R EGISTER | 561

Ruprecht II. von der Pfalz (Graf) 182, 189-190, 198-200 rus in urbe 214-215 Rutz, Andreas 183 Salzburg (A) 69, 129 Sarntal (Südtirol) 277 Sauberkeit 429-430 Saudi-Arabien 28, 378-380, 382385, 388-391 Scharnitz (Tirol) 120, 322 Schlabrendorff, Gustav von (Graf) 259-260 Schlins (Vorarlberg) 121, 220, 222, 238 Schlögel, Karl 19 Schmerz/s. auch Verletzlichkeit 12-13, 33, 38, 43, 50, 172, 482 Schmitt, Reinhold 352 Schnalstal (Südtiol) 305 Schönau (Südtirol) 284 Schongau (Bayern) 506 Schriftlichkeit/Literalität 27, 32, 178, 273, 275, 279, 282, 287288, 291-292, 303, 364 schriftliche Überlieferung/Quellen 15, 30-33, 120, 130, 178, 275, 291, 294, 296, 311, 313 Schroer, Markus 51, 431-432 Schule 87, 138, 230, 294-295, 334, 339-340, 343, 347, 382, 401, 410, 424, 480 Schulze, Winfried 180-181, 183184 Schwaz (Tirol) 117, 119-120, 123, 126, 129, 136, 222, 227 Schweiz 16, 29, 64, 394-396, 400 Sebatum (röm. Reich) 317 Seefelder Sattel 312, 314, 322

562 | C ORPUS I NTRA M UROS

Seelenheil 179, 203 Segregation 28, 333, 337, 379 Selbstzeugnis/s. auch EgoDokument 26, 181, 183, 185, 280 Selbstbestimmung 420 self fulfilling prophecy 244 Senett, Richard 12-13 Septimius Severus/Lucius Septimius Severus Pertinax (röm. Kaiser) 315 Sexten (Südtirol) 296 Sexualität 122, 147, 152, 155156, 159 Sexualisierung 42, 230 Sharia 379 Sigmund von Tirol (Erzherzog) 504 Signori, Gabriela 184 Sill (Fluss) 325 slow spaces 523-524 Slowenien 513 Sofi (Pseudonym) 341-343 Sozialisation 123, 147, 239 Sozialtherapie 47 Sozialtopologie 378 spacing 119, 126, 433 Spanien 27, 31-32, 249-253, 256257, 259-264, 268-269, 271, 313 spatial turn 53 Spitzner, Alfred 230 Spur 502-503 St. Gotthard (CH) 324 St. Johann (Südtirol) 280 St. Lorenzen (Südtirol) 317 St. Peter (Südtirol) 281 stabilitas locis 58 Stadt Altstadt 464, 470 -befestigung 468, 471

-forschung 21, 31 -mauer 11, 163, 465, 467, 471 -raum 12, 32, 327, 330, 332, 334, 439, 462 -viertel 28, 327-334, 337, 340, 344 Stände 251-252, 261, 268-270 Stans (Tirol) 320 Stegen (Bruneck) 471 Stemberger, Anna 277 Stemberger, Gottfried 277 Sternbach (Familie/Bruneck) 466-467 Sternbach, Johann von (Freiherr) 471 Sterzing (Südtirol) 63, 312, 314, 317, 320 Steyrer, Maria Elisabeth von 472 Stolz, Josef 68, 70 Strabon (griech. Geschichtsschreiber) 309, Strüver, Anke 389 Subjektivierungsprozess 415 Südtirol 13, 16, 18, 243, 274275, 278, 290, 298, 309, 325, 440, 451, 461, 463, 515-516, 519, 525-526 Sykes, Gresham 40-42 Syntheseleistung 119, 433 Tabula Peutingeriana 27, 311315 Tagebuch 107, 117-118, 135136, 181, 252, 505 Taufers (Pustertal/Südtirol) 280 Telfs (Tirol) 68-69, 325 Terenten (Südtirol) 285 Teresa von Avila (Mystikerin) 25, 32, 151-153, 159, 161172



Terlan (Südtirol) 325 Tesino (I) 314 Teurnia (röm. Reich) 311 Thaur (Tirol) 320 Therapiekultur 246 Therapiestation 26, 117, 120, 131-134, 234, 243 Thöni, Irmgard (Pseudonym) 135-136 Tiberius/Tiberius Iulius Caesar Augustus (röm. Kaiser) 308 Timmelsjoch (Tirol) 320 Tinkhauser, Johann Nepomuk 466, 469 Tiroler Landesarchiv 120 Toblach (Südtirol) 504, 513, 528 Toch, Hans 38 Tomedi, Gerhard 307 topographical turn 391 Topo-Graphie 31-32 Tösens (Südtirol) 295 Trentino 325 Trient (I) 308, 312, 314, 322323, 325-326, 510 Trojer, Erwin 440 Tschallener, Johann 71, 80 Tschurtschenthaler, Blasius 296 Tschurtschenthaler, Christian 525 Tschurtschenthaler, Eduard 274 Tschurtschenthaler, Paul 27, 32, 273-275, 277-282, 284, 276289, 291, 293-294, 296, 298, 303-304, 308, 470 Turin (I) 100, 107, 277 Überwachung 40, 90, 93, 126, 241, 426, 432, 434 Umbrien (I) 533 Unio Mystica 25, 152, 164, 167 Universität

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Frauenuniversität 381 Hochschulwesen 28, 378, 380 Prince Mohammad Bin Fahd University (PMU) 378, 380, 385 -scampus 29, 378, 386 Unterordnung/Überordnung 46, 136, 380, 536 Urban, Otto 306 Ursulinenkloster 470, 472 USA 112, 389 Utopie/Nicht-Ort 17, 109, 112, 114, 213, 327, 462 Vaistlin, Elisabeth 202 Valsugana (I) 315 Vanja, Christina 426, 432 Vattimo, Gianni 493-495 Veldidena (röm. Reich) 315-316 Venedig/Serenissima (I) 17, 30, 314, 505, 510, 513, 516, 528, 530 Verkehr Straßennetz 27, 318 Verkehrsknotenpunkt 311, 530 Verkehrsstrom 320 Verletzlichkeit/s. auch Schmerz 44, 379, 527, 529 Verona (I) 314, 323, 325 Verwahrlosungsdiagnostik 223 Vesuv (Pompeji) 211 Vick, Brian 267 Vinschgau (Südtirol) 72, 280, 308-309, 314, 319, 323 Vipitenum (röm. Reich) 312, 314, 317 Virunum (röm. Reich) 311 Vismann, Cornelia 301

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Vitruv/Marcus Vitruvius Pollio (röm. Architekt) 461 Vogl, Maria (Nowak-Vogl) 127128 Volpi, Franco 499 Vorarlberg 14-15, 57, 118, 121, 219-221 Vorlesung 352-353, 355 Vukovar (Kroatien) 516 Wahrnehmung Expertenwahrnehmung 368 -sdifferenz 368 sinnliche 196, 257 -sraum 351, 369-370 Waidbruck (Südtirol) 324 Walch, Thomas 277 Walde, Elisabeth 316 Walker Bynum, Carolyn 152, 158 Walter-Pawlik, Lili 291, 293, 297 Wannewitz, Stephan 284 Wapler, Friederike 423 Waren -austausch 326 -transport 321, 324 Warner, Maria 156 Wasserweg 325 Weiblichkeit -simago 156 -sklischee 49 -svorstellung 41 weibliche Selbstdefinition 378 Weißenbach (Südtirol) 289 Westendorf (Tirol) 120 Wichern, Johann Hinrich 394, 401

Widerstandstrategien 25, 137138, 141, 145, 147, 224, 240, 243-244, 246, 483 Wien (A) 64, 120, 192, 239, 243, 313, 328, 342, 474 Wilhelm von Österreich (Herzog) 194 Wilten (Innsbruck) 59, 315-316, 325 Winnicot, Donald 25, 153, 164, 167-169, 171 Wipptal (Tirol) 312, 314 Wittelsbacher (Dynastie) 179, 503-504 Wolff, Conrad 184, 200 Wolff, Karl Felix 296 Wolfferdorff, Christian von 135 Wopfner, Hermann 293-296, 302-304 Würtemberg (D) 283 Yildiz, Erol 328 Zeindl, Getraud 61 Zensur 389, 486 Zingerle, Ignaz 296 Zingerle, Joseph 296 Zirl (Tirol) 64 Zirler Berg (Tirol) 322 Zoll 312, 314, 324-325 Zwangsarbeit(-shaus) 24, 88, 121-124

Kulturwissenschaft Eva Horn, Peter Schnyder (Hg.) Romantische Klimatologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2016 Mai 2016, 152 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3434-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3434-5

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