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German Pages [208] Year 2020
ISSN 0340-613X
46. Jahrgang / Heft 3 Juli – September 2020 h 20754
Corona Historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven
Redaktionsanschrift Geschichte und Gesellschaft, Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universität Berlin, FB Geschichts- und Kulturwissenschaften, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstr. 20, 14195 Berlin E-Mail: [email protected] (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes) Wissenschaftliche Assistenz: Marius Huber, M.A. und Norma Ladewig, M.A. Redaktionsassistenz: Julia Preis, M.A. E-Mail-Adresse der Redaktion: [email protected] Besuchen Sie für Ankündigungen und weitere Information die Internetseite: http://www.fu-berlin.de/geschichteundgesellschaft
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Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, 37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer ONLINE unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Satz: 3w+p GmbH, Ketteler Straße 5–11, 97222 Rimpar.
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000 ISBN: 978-3-666-35219-5 1 Beilage: Lettre international
Geschichte und Gesellschaft Zeitschrift fr Historische Sozialwissenschaft
Herausgegeben von Jens Beckert / Christoph Conrad / Sebastian Conrad / Ulrike Freitag Ute Frevert / Svenja Goltermann / Dagmar Herzog / Simone Lssig Philip Manow / Maren Mçhring / Paul Nolte / Kiran Klaus Patel Margrit Pernau / Sven Reichardt / Stefan Rinke / Laura Rischbieter Monique Scheer / Rudolf Schlçgl / Martin Schulze Wessel Geschftsfhrend Ute Frevert / Paul Nolte / Sven Reichardt
Vandenhoeck & Ruprecht
Geschichte und Gesellschaft 46. Jahrgang 2020 / Heft 3 Corona. Historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven
Herausgegeben von
Paul Nolte, Ute Frevert und Sven Reichardt
Vandenhoeck & Ruprecht
Inhalt Vorbemerkung Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
I. Nähe und Distanz Ute Frevert Nhe und Distanz Closeness and Distance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Rudolf Schlögl Corona in Interaktion. Zum Verhltnis von Anwesenheit und Kçrpern in moderner Gesellschaft Corona in Interactive Communication. The Relationship of Presence and Bodies in Modern Societies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
II. Regime des Sozialen Heike Drotbohm und Sven Reichardt Die Grenzen der Solidaritt. Regierungstechniken in Zeiten von Corona The Limits of Solidarity. Technologies of Government in Times of Corona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Paul Nolte Corona-Dispositive. Regularisierungen der Moderne in zeithistorischer Perspektive Corona Dispositives. Regulations of Modernity in Historical Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Christoph Conrad Ein Virus testet den Wohlfahrtsstaat A Virus Tests the Welfare State . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Nina Mackert und Maren Möhring Prvention, ability und Verantwortung in Zeiten von Corona Prevention, Ability, and Responsibility in Times of Corona . . . . . . . . . . 443 Dagmar Herzog Follow the Money. Zur Lage der Behindertenrechte in den USA Follow the Money. On the Situation of Disability Rights in the United States . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Inhalt
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III. Globale Perspektiven Jens Beckert All Viruses are Created Equal. Corona-Epidemie und soziale Ungleichheit in den USA All Viruses are Created Equal. The Coronavirus Pandemic and Social Inequality in the United States . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 Stefan Rinke Sozialer Protest in Pandemiezeiten in Lateinamerika. Von der „Spanischen Grippe“ zu Corona Social Protest in Times of Pandemics in Latin America. From the “Spanish Flu” to Corona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Noël van den Heuvel und Ulrike Freitag Religion und Pandemie. Staat, Religion und Gesellschaft in Saudi-Arabien und Iran in der Coronakrise Religion and Pandemic. State, Religion, and Society in Saudi Arabia and Iran during the Coronavirus Crisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Jürgen Osterhammel China als Zentrum und Peripherie der Pandemiegeschichte China’s Shifting Centrality in the History of Pandemics . . . . . . . . . . . . . 507
IV. Europa Kiran Klaus Patel COVID-19 und die Europische Union. Zur Geschichte eines Erwartungshorizonts COVID-19 and the EU. On the History of a Horizon of Expectations . . . 522 Philip Manow COVID-19, Europa und der Populismus COVID-19, European Integration and Populism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 Martin Schulze Wessel Verfassungsbruch und Vertrauenskrise. Ostmitteleuropa in der ersten Welle der COVID-19-Krise Constitutional Breach and Crisis of Confidence. East Central Europe in the First Wave of the COVID-19 Pandemic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
V. Eine kritische Selbstreflexion Margrit Pernau Aus der Geschichte lernen? Die Rolle der Historiker:innen in der Krise Learning from History? The Role of Historians in Times of Crisis . . . . . 563
Vorbemerkung Ein halbes Jahr nach dem ersten Hçhepunkt der Coronakrise, den die Lockdowns in Deutschland und weiten Teilen Westeuropas Mitte Mrz 2020 markierten, und inmitten der „zweiten Welle“ ist unbestreitbar: Die Pandemie ist ein „Fall fr die Geschichtsbcher“, ein historisches Ereignis ersten Ranges. Das gilt unabhngig davon, ob der Krisenverlauf den Charakter eines „V“ oder eines „L“ nimmt, ob also relativ schnell ein Weg zurck in die „Normalitt“, in die gesellschaftlichen Ordnungsmuster vor der Krise gefunden wird oder ob von dem Ereignis auch langlebige transformative Wirkungen ausgehen. Fr die Transformationshypothese spricht desto mehr, je lnger die COVID-19Pandemie und ihre diskursiv-politische Dominanz anhalten. Aber selbst wenn nach einer lngeren, vermutlich mehrjhrigen Dauer die Verfechter der status quo ante-Hypothese Recht behalten, haben sich im Krisenverlauf spezifische politische, soziale und diskursive Muster herausgebildet, die einer historischen und sozialwissenschaftlichen Einordnung bedrfen. Zumal in Deutschland war die Geschichtswissenschaft schnell eine gesuchte Ansprechpartnerin in ersten Deutungsversuchen. Die Grnde dafr sind bekannt. Sie reichen von der allgemeinen kulturellen Disposition einer „Geschichtsfixierung“, die nun schon seit fast vier Jahrzehnten westliche Gesellschaften prgt, ber die historisch geprgte çffentliche Deuter- und Intellektuellenrolle der „Zunft“, die auch in einer weniger ordinarialen, mehr egalisierten und pluralisierten Profession nicht geschwunden ist, bis zu den spezifischen Kompetenzen von Historiker:innen, insbesondere ihrer Fhigkeit, verschiedene thematische Aspekte bzw. unterschiedliche disziplinre Teildiskurse zueinander zu relationieren und zugleich eine Metaperspektive auf sie einzunehmen: Whrend die konomin etwas zu wirtschaftlichen Folgen sagt und der Soziologe zu Familienstrukturen und Geschlechterverhltnissen, hat die Historikerin dies und noch mehr im Blick. Sie ist darber hinaus trainiert – gestrkt durch jahrzehntelange Erfahrung mit dem cultural turn, vielleicht aber auch durch die klassische kritische Hermeneutik des Historismus –, die Erkenntnisse anderer Disziplinen nicht fr bare Mnze zu nehmen, sondern ihrerseits als kritisch zu hinterfragende (und historisch einzuordnende) Diskursmuster zu analysieren. Anders gesagt: Gerade in der Coronakrise – dieser Begriff hat sich im deutschen Sprachraum einstweilen durchgesetzt, whrend es im Englischen hufiger Covid heißt – zeigen sich die Erkenntnischancen von Geschichte als interdisziplinrer historischer Sozialund Kulturwissenschaft. Deshalb hat sich Geschichte und Gesellschaft entschlossen, ein besonderes Themenheft zu verçffentlichen, das einer ersten Vermessung gesellschaftlicher Konstellationen der Covid-Pandemie in historischer Perspektive gewidmet ist. Mit wenigen Ausnahmen (in der Ko-Autorschaft einiger Beitrge) gehçren die Autorinnen und Autoren dem Herausgeberkreis dieser Zeitschrift an. Nicht Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 377 – 378 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Vorbemerkung
lange Abhandlungen waren erbeten, was angesichts der Situation und innerhalb kurzer Zeit gar nicht mçglich gewesen wre, sondern knappe und pointierte Beitrge, Probebohrungen auf unsicherem Terrain. Sie ziehen unterschiedliche Register des wissenschaftlichen Essays: nchtern oder engagiert geschrieben, als Reportage oder als Theorieabhandlung, im closeup oder aus der Vogelperspektive. Im Vordergrund steht nicht der historische Vergleich, nicht die Referenzierung frherer Pandemien, Krankheitskrisen oder Katastrophen, sondern der Versuch einer Verzeitlichung der Gegenwartserfahrung. Sie zielen auf die gesellschaftsstrukturelle Dimension, auf den Prozesscharakter der Coronasituation. Das erfordert, wie es fr Geschichte und Gesellschaft von Anfang an selbstverstndlich war, die enge Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften ebenso wie eine strukturgeschichtliche und analytische Denkweise. Historiker:innen kçnnen nicht die Zukunft vorhersagen, sind aber auch nicht bloß Experten fr die Vergangenheit. Sie sind Experten fr Zeitverlufe, etwa fr die Mischungsverhltnisse von Stabilitt und Vernderung, von Pfadabhngigkeit und Disruption. Das thematische Spektrum ist weit, aber ein Anspruch auf Vollstndigkeit wird nicht erhoben, und Schwerpunkte sind klar erkennbar: Es geht um die in der Pandemieabwehr erzeugten Vernderungen im sozialen Gefge, im Verhltnis von Nhe und Distanz. Viele Autor:innen beschftigen sich mit Wechselwirkungen von Gesellschaft und Herrschaft in der Coronakrise, mit hegemonialen Diskursen und sozialen Ungleichheiten. Die Perspektive ist europisch und global; der Bogen spannt sich von China bis in die USA und nach Lateinamerika, und die europischen Verhandlungen des Problems sowie die Effekte auf Europa bilden einen weiteren Schwerpunkt. Globalisierung und Nation, Kapitalismus und Wohlfahrtsstaat, Demokratie und Populismus, Herrschaftstechniken und Wissensformen: Das ergibt keine histoire totale der Gegenwart, aber vermittelt einen Eindruck davon, dass die Covid-Pandemie nicht nur Effekte auf der ganzen Welt zeitigt, sondern auch die gesamte soziale Welt in einem umfassenden Sinne betrifft. Zugleich verndert sie die Kategorien, in denen wir, in einer breiteren ffentlichkeit ebenso wie im wissenschaftlichen Diskurs, diese Welt zu verstehen versuchen. Das Herausgeberteam wnscht sich, dass die fnfzehn Beitrge dieses Heftes am Beginn einer angeregten und kontroversen Debatte stehen mçgen, die auch in spteren Heften von Geschichte und Gesellschaft weitergefhrt werden soll.
Nähe und Distanz von Ute Frevert
Closeness and Distance Rules on maintaining physical distance introduced during the current pandemic have affected citizens’ social behavior. What modern society considers the “correct” relationship between closeness and distance has been widely discussed since at least the turn of the last century. “Cool,” distant society is contrasted with “warm” communities based on closer bonds. Processes that reverse social differentiation can currently be observed on several levels, and tribalisms are increasingly reasserting themselves. To counter these trends, the article borrows from older behavioral teachings to advocate a new, positive concept of “distanced closeness”.
Drei Verhaltenslehren, heißt es immer wieder, seien in Corona-Zeiten zu beachten. Eine davon, das regelmßige Hndewaschen, entzieht sich den Augen der Mitmenschen, die zwei anderen – das Gebot physischer Abstandswahrung und die Pflicht, in çffentlichen Rumen Mund und Nase zu bedecken – tun es nicht. Gerade an ihnen entznden sich hitzige Debatten und Kontroversen, die grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens berhren. Auf den ersten Blick geht es nur um wenige Zentimeter: Mindestens 150, besser 200 sollen Menschen zwischen sich legen. Wer im gleichen Haushalt lebt, darf sich aber durchaus nherkommen. Damit ist die moderne Kleinfamilie gemeint, bestehend aus Mutter, Vater, Kind(ern), einschließlich diverser Patchwork-Formen und gleichgeschlechtlicher Elternpaare. Waren die Kinder bereits erwachsen und andernorts gemeldet, hatten sie Mttern und Vtern, zumindest zu Beginn der Krise, fernzubleiben. Großeltern jeglichen Alters mutierten damals zur Risikogruppe und sollten zum eigenen Besten vor physischen Kontakten geschtzt werden. Manche Kinder nutzten das, um alte Rechnungen zu begleichen, andere telefonierten hufiger. Inzwischen greift das Abstandsgebot vor allem außerhalb der engeren und weiteren Familie. Es scheidet die Nahstehenden von den Fernstehenden, trennt die private Familie von der çffentlichen Gesellschaft. Es betrifft Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen, Mitreisende in Bus und Bahn, Spaziergnger, Jogger, Menschen beim Einkaufen oder beim Arztbesuch. Kçrperkontakt beim Sport ist zu vermeiden, das unter Mnnern beliebte Abklatschen gehçrt ebenso der Vergangenheit an wie die von Frauen bevorzugten Wangenksschen. Dienstliche Besprechungen, aber auch Zusammenknfte im Freundeskreis sind so zu gestalten, dass der empfohlene Mindestabstand eingehalten wird. Die Pflicht, in der ffentlichkeit eine Maske zu tragen, unterstreicht und verstrkt die beunruhigende Botschaft, dass jeder zugleich Trger und
Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 379 – 390 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Empfnger des gefhrlichen Virus sein kçnnte und eben deshalb auf sich und andere achtgeben sollte. Die Reaktionen auf diese breit kommunizierten Empfehlungen und Vorschriften sind vielfltig. Viele Brgerinnen und Brger befolgen sie, weil sie ihnen einleuchten und weil sie ihren Teil dazu beitragen wollen, die Gefhrdung ihrer Mitmenschen zu verringern. Andere setzen sich darber hinweg, manche aus Vergesslichkeit und andere aus Gleichgltigkeit. Aber es gibt auch die, die in den Maßnahmen einen Angriff auf ihre Menschen- und Brgerrechte erkennen und sich wortgewaltig dagegen wehren. Dabei bleibt es nicht beim Austausch von Meinungen und Argumenten. Es kommt zu mehr oder minder diskreten Zusammenstçßen. Personen, die auf Abstand achten und eine Maske tragen, werden als obrigkeitshçrig beschimpft. Umgekehrt hagelt es Anzeigen besorgter Brger gegen diejenigen, die die Regeln missachten. Das soziale Klima wird zusehends klter. Nicht nur in Deutschland beobachtet man einen neuen Volkssport: das çffentliche Beschmen derjenigen, die sich nicht an die offiziellen Vorgaben halten. Soweit der Befund im Sommer 2020. Dahinter liegen, so die These, Spannungen und Konflikte grundstzlicher Art. Sie lassen sich in die Vergangenheit zurckverfolgen und entpuppen sich dann als lngst nicht so neu, berraschend und erstaunlich, wie es einer auf das Hier und Jetzt konzentrierten Beobachterin scheinen mag.
I. Wärme und Kälte Nhe steht gemeinhin fr Wrme, Ferne fr Klte. Wrme gehe verloren, so die Annahme, wenn Menschen in Distanz zueinander verharren mssten. Die Welt scheint klter ohne Kçrperkontakt, ohne den klassischen Hndedruck, ohne die seit den 1970er Jahren so beliebten Umarmungen und Ksse. Denn Reibungen, das weiß man aus dem Physikunterricht, erzeugen Wrme und Wrme bersetzt sich in Energie. Tiere ebenso wie Menschen suchen die Nhe, um sich vor Klte und Gefahr zu schtzen. Klte und Wrme sind aber nicht nur Zustnde, die man mit einem Thermometer messen kann. Sie sind auch Metaphern, Sinnbilder fr Zustnde, die nichts mit Celsius-Graden zu tun haben. Manche Anthropologen und Kulturwissenschaftler unterscheiden zwischen heißen und kalten Gesellschaften; als heiß gelten ihnen Kulturen, die innovativ, kreativ und fortschrittsorientiert sind, whrend kalte Kulturen an dem festhalten wollen, was sie kennen und haben. Zugleich leisten sich kalte Systeme heiße Institutionen und umgekehrt, um das jeweilige Ziel – Bewahrung oder Vernderung – zu erreichen.1 1 Nach Claude Lvi-Strauss nhern sich „kalte“ Gesellschaften „dem Nullpunkt der historischen Temperatur“, indem sie sich gegen jede Vernderung wehren, whrend
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In der Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts taucht die KlteMetapher in einer anderen Bedeutung auf. Sie markiert den distanzierten und distanzierenden Blick, mit dem jemand auf einen Menschen oder Sachverhalt schaut. Helmut Lethen hat diesen Blick in einer einflussreichen Untersuchung ber „Verhaltenslehren der Klte“ bei Mnnern gefunden, die sich in der Zwischenkriegszeit von der moralischen „Gewissenskultur“ verabschiedeten und „Sachlichkeit“ als verhaltenssteuerndes Dispositiv (wieder-)entdeckten.2 Einer von ihnen war der 1892 geborene Philosoph Helmuth Plessner. Er legte 1924 eine Studie unter dem Titel „Grenzen der Gemeinschaft“ vor, die sich ausdrcklich nicht nur an die „philosophische Fachwelt“ richtete, sondern an alle, die sich „vom Leben her“ fr das Thema interessierten. Das Leben bndelte sich fr den 32-jhrigen Autor vor allem in den „vorwrtsdrngenden Krften der Jugend“. Letztere bringe dem Gemeinschaftsgedanken große Sympathien entgegen und lasse ihn „ber die gesellschaftliche Lebensordnung triumphieren“. Damit folge sie ebenso sentimentalen wie radikalen Hoffnungen auf ein Ende der Gewalt, der Feindschaft und des Krieges und suche in warmer brderlicher Gemeinschaft das Heil auf Erden.3 Das fand Plessner unreif und gefhrlich. Stattdessen pldierte er fr das khl kalkulierende Prinzip der Gesellschaft als einer „knstlichen“ Sozialform, die der Soziologe Ferdinand Tçnnies bereits 1887 der warmen, gefhlsintensiven, organischen Gemeinschaft gegenbergestellt hatte.4 Plessner pries das „Recht auf Distanz“ und das „Gesetz des Abstands“ als Mittel, die „Wrde des einzelnen Menschen“ zu schtzen – eine Wrde, die seiner Meinung nach in der undifferenzierten Brderlichkeit der Gemeinschaft unterzugehen drohte. Wer Gemeinschaft wolle, bergebe sich ihr „mit Haut und Haaren, existentiell, nicht nur auf Treu und Glauben“. Er oder sie sei bereit, sich fr die Gemeinschaft zu opfern, und pflege innigste emotionale Bande mit allen anderen, ihm bluts- oder seelenverwandten Mitgliedern. „Echtheit und „warme“ Gesellschaften „immer neue Differenzierungen zwischen Kasten und Klassen“ ausprobieren, „um aus ihnen Zukunft und Energie zu beziehen“. Vgl. dazu Claude LviStrauss, Das Feld der Anthropologie, in: ders., Strukturale Anthropologie II, Frankfurt 1975, S. 11 – 44, hier S. 40. Siehe auch Mario Erdheim, „Heiße“ Gesellschaften und „kaltes“ Militr [1982], in: ders., Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Aufstze 1980 – 1987, Frankfurt 1988, S. 331 – 344; Jan Assmann, Das kulturelle Gedchtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identitt in frhen Hochkulturen, Mnchen 1992, S. 66 – 86. 2 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Klte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt 1994. 3 Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 19722, dieses und die folgenden Zitate S. 9, S. 26, S. 29, S. 41 u. S. 44. 4 Ferdinand Tçnnies beschrieb das „gemeinschaftliche Leben“ als von den „warmen Impulsen des ,Herzens‘“ dominiert, whrend die Gesellschaft dem „kalten Verstande“ folge. Die „weiche und warme“ Arbeit des Herzens war dabei weiblich, die kalte und berechnende Arbeit des Verstandes mnnlich konnotiert. Vgl. dazu Ferdinand Tçnnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Berlin 1887, S. 139, S. 155 f., S. 172 f. u. S. 186 – 189.
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Rckhaltlosigkeit“ wrden großgeschrieben, „Affektwerte hçchsten Grades“ spielten eine entscheidende Rolle bei der Konstitution und Aufrechterhaltung der Gemeinschaft. Dazu gehçre vor allem Liebe, die wiederum an Nhe gebunden sei und sich nicht zuletzt in der „Anhnglichkeit und Hingabe“ an einen verehrten Fhrer ußere. Ganz hnlich hatte es 1922 der Philosoph Herman Schmalenbach formuliert. Schmalenbach, sieben Jahre lter als Plessner, hatte als Lehrer an der reformpdagogischen Drerschule in Hessen hautnahe Erfahrungen mit den dortigen jugendbewegten Ideen und Konzepten gesammelt. Mit Stefan George befreundet, den er als den „mchtigsten heutigen Menschenbinder und Fhrer zu neuer ,Gemeinschaft‘“ verehrte, konnte er diesen Ideen und Praktiken viel abgewinnen. Anders als Plessner sah er darin jedoch nicht die „Daseinsweise“ der Gemeinschaft verwirklicht, sondern die des Bundes. Er werde getragen von „rauschhaften Gefhlswogen“, von „Strçmen des Liebens (oder auch des Hassens) und gemeinsamen Begeisterungen“, die sich auf einen „Meister“ richteten und die Bundesgenossen einschlossen. Der Bund stehe in krasser Gegnerschaft zur Gesellschaft, die die Menschen zu „atomisierten, pulverisierten Individuen“ gemacht habe. Sie seien die „Systeme der ratio“, der „khlen Distanziertheit“ leid und verlangten nach emotionaler Intensitt und Verschmelzung. Diese fnden sie im Bund.5 Ob Bund oder Gemeinschaft, beiden war gemeinsam, dass sie sich als Antipoden der „Gesellschaft“ begriffen und deren angebliche Klte durch wrmende Nahgefhle berwinden wollten. Schon die Romantik hatte mit diesem Gegensatz gespielt, und auch in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts war er prsent. Dem kalten, mitleidlosen Blick des gewinnorientierten Kapitalisten stellte sie die schtzende Nestwrme der sozialistischen Klassengemeinschaft gegenber, deren Mitglieder einander brderlich-solidarisch zugetan seien. Die brgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende, zu denen auch die Jugendbewegung zhlte, bten ihrerseits scharfe Kritik an der, in Plessners Paraphrase, „maßlosen Erkaltung der menschlichen Beziehungen durch maschinelle, geschftliche, politische Abstraktionen“, versinnbildlicht in modernen großstdtischen Lebens- und Arbeitsformen.6 Das thermische Begriffspaar lebte im zwanzigsten Jahrhundert fort, in den nationalsozialistischen Elogen auf die rassistisch getçnte organische Volksgemeinschaft, in der frsorglich befriedeten, solidarischen „Gemeinschaft der 5 Herman Schmalenbach, Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren 1. 1922, S. 35 – 105, Zitate S. 42, S. 45, S. 73, S. 79 u. S. 103. Siehe auch Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, Mnchen 2009, insb. S. 210 f. 6 Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, S. 26. Siehe dazu Eva Barlçsius, Naturgemße Lebensfhrung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt 1997; Diethart Kerbs u. Jrgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal 1998; Michael Hau, The Cult of Health and Beauty in Germany. A Social History 1890 – 1930, Chicago 2003.
Nhe und Distanz
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Werkttigen“ des DDR-Sozialismus und im linksalternativen Milieu der Bundesrepublik.7 Immer ging es darum, sich eine als kalt, abweisend und dissoziierend empfundene Welt vom Leib zu halten und „Volksgenossen“, Werkttige, Alternative in eine Wrme spendende, auf emotionale Nhe, Authentizitt und Unmittelbarkeit gepolte Gemeinschaft einzubinden. Dass aber Nhe auch Probleme schuf, Gefhle instabil waren und Wrme erstickend wirken konnte, war kritischen Beobachtern wie Plessner sofort einsichtig. Obwohl sie einen klaren Blick fr die Mngel und Nachteile der „Gesellschaft“ hatten, zogen sie sie der Gemeinschaft entschieden vor – vor allem deshalb, weil sie die Wrde der und des Einzelnen vorgeblich besser zu schtzen wusste.
II. Maske und Gesicht Fr Plessner bestand diese Wrde darin, sich immer wieder frei und autonom fr eine bestimmte Lebensform, Denk- und Fhlweise entscheiden zu kçnnen, ohne bergriffe und berwltigungen durch Dritte befrchten zu mssen. Daher legte er so viel Gewicht auf Abstandswahrung. Nur so sei es Menschen mçglich, ihre Individualitt und Unterschiedlichkeit auszubilden, anstatt im brderlichen Einheitsbrei der Gemeinschaft unterzugehen. Unpersçnlichkeit und Verhaltenheit anstelle von Intimitt und Rckhaltlosigkeit machten das Ethos der Gesellschaft aus und seien „Sicherungsfaktoren menschlicher Wrde“. Dazu gehçre auch „die Sehnsucht nach den Masken, hinter denen die Unmittelbarkeit verschwindet“.8 Masken stammen aus der Welt des Theaters und des Karnevals. Man verbirgt dahinter sein eigentliches Gesicht und spielt mit einer anderen Identitt. Um 1800 warf das Brgertum dem Adel vor, Masken zu tragen, um sein verrterisch-illusorisches Spiel zu treiben und ber seine wahren Absichten hinwegzutuschen. Auch hlt die Maske andere bewusst auf Distanz und verhindert Nhe. Sie verhindert zudem, im Gesicht des Gegenbers zu lesen. Wer wie der Psychologe Paul Ekman aus dem Gesichtsausdruck auf die Gefhle und Intentionen der Menschen schließen will, tappt bei Maskierten im Ungewissen. Ekman hat aus der Fhigkeit, Gefhle im Gesicht und dessen 7 Heinz-Elmar Tenorth u. a., „Politisierung des Schulalltags in der DDR“. Skizzen und erste Ergebnisse eines Forschungsvorhabens, in: Heinz-Hermann Krger u. Winfried Marotzki (Hg.), Pdagogik und Erziehungsalltag in der DDR. Zwischen Systemvorgabe und Pluralitt, Opladen 1994, S. 209 – 232, hier S. 219 f.; Thomas Schmidt-Lux, Labor omnia vincit. Eine skulare Gesellschaft als religiçse Gemeinschaft?, in: Michael Geyer u. Lucian Hçlscher (Hg.), Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiçse Vergemeinschaftung in Deutschland, Gçttingen 2006, S. 404 – 430, hier S. 408 – 410; Sven Reichardt, Authentizitt und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frhen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 186 – 200. 8 Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, S. 37 f.
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Ute Frevert
Muskulatur zu erkennen, ein lukratives Geschft gemacht.9 Nicht nur die USamerikanische Behçrde fr Heimatschutz versichert sich seiner Dienste, um unerwnschte Personen an der Grenze abzuweisen. Gefhle entziffern und daraus Schlsse auf den Charakter und die Absichten der Person ziehen ist im 21. Jahrhundert in vielen Geschftszweigen opportun geworden, in den Personalabteilungen von Unternehmen ebenso wie bei Versicherungsvertretern auf Kundenfang.10 Man mçchte Menschen nah kommen, um ihre innersten Empfindungen aufzuspren und darauf einwirken zu kçnnen. Auch Freunde, Familienmitglieder und Therapeuten tun das, aber mit dem Unterschied, dass sie Menschen helfen wollen, anstatt sie manipulativ auszukundschaften. Mit Masken tut sich die hochmoderne westliche Gesellschaft deshalb schwer. Seit den 1980er Jahren herrscht in der Bundesrepublik ein sogenanntes Vermummungsverbot. Es zielte auf gewaltttige Demonstranten ab, die ihr Gesicht hinter Schals und berdimensionalen Sonnenbrillen verbargen, um sich einer eventuellen Strafverfolgung zu entziehen. Zwar lsst sich die Identitt einer Person auch durch DNA-Analysen oder Fingerabdrcke feststellen, einfacher und schneller jedoch funktioniert die Gesichtserkennung. Auch in den seit einem Jahrzehnt gefhrten Debatten um die Vollverschleierung muslimischer Frauen geht es vornehmlich um die Freigabe des Gesichts. Diesmal stehen nicht erkennungsdienstliche Grnde im Vordergrund, sondern die Sorge, den çffentlichen Raum als Ort freier brgerschaftlicher Kommunikation und Begegnung zu beschdigen. Die im Zeichen der Coronakrise verordnete Maskenpflicht setzt diese Regeln und Besorgnisse außer Kraft. Sie verhindert es, in den Gesichtern der Mitmenschen zu lesen, ihre Gefhle zu erkunden und freundliche oder feindliche Absichten zu erkennen. Nur die Augen, lange als Spiegel der Seele apostrophiert, geben noch Auskunft. Doch die Information ist komplizierter zu entschlsseln; man muss sich ihr lernend annhern, zumal es, außer unter Liebenden, verpçnt ist, jemandem direkt in die Augen zu schauen. Dass viele mit der Maske fremdeln, ist auch kulturgeschichtlich nachvollziehbar. Was in asiatischen Lndern, wo Masken im çffentlichen Raum schon seit lngerem in regem Gebrauch sind, offenbar leichter fllt, stçßt hierzulande auf Abwehr. Denn Masken, tatschliche oder eingebildete, signalisieren den Wunsch nach Distanz, Geheimhaltung, Verbergen, mçglicherweise Tuschung. Freie Brgerinnen und Brger, so die seit dem spten 18. Jahrhundert propagierte Devise, bedrfen ihrer nicht, sie begegnen einander mit offenem Visier. Das schließt weder die von Plessner so geschtzten Geheimnisse aus noch die von ihm gleichfalls goutierte Diskretion und den taktvollen Umgang
9 Paul Ekman, Gefhle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, Heidelberg 20102. 10 Daniel Goleman, EQ. Emotionale Intelligenz [1996], Mnchen 201929.
Nhe und Distanz
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miteinander. Aber es vermindert Misstrauen und ist die Bedingung fr Vertrauen.
III. Vertrauen, Vertrautheit, Fremdheit Vertrauen und Vertrautheit, darauf hat schon Niklas Luhmann hingewiesen, teilen nicht nur die Wortwurzel, sondern verweisen auch aufeinander, ohne miteinander identisch zu sein. Vertrautheit richtet sich auf die Vergangenheit, Vertrauen in die Zukunft. Aber Vertrauen ist „nur in einer vertrauten Welt mçglich“, die es zugleich transzendiert. Aus dieser vertrauten Welt beziehen Menschen ihre Anhaltspunkte und Vorerfahrungen, ohne die sie Vertrauen weder aufbringen noch schenken wrden.11 Auch der Fremdling wird auf diese Anhaltspunkte abgetastet, um herauszufinden, ob er Vertrauen verdient oder nicht. Dem vçllig Fremden begegnen die meisten Menschen mit Vorbehalt. Aber sie kçnnen Brcken bauen, Distanz verringern, Nhe herstellen, indem sie nach hnlichkeiten suchen oder auf Markierungen zurckgreifen, die den Fremden lesbarer machen. Brgerinnen und Brger moderner Gesellschaften lassen sich tagtglich auf eine Flle solcher Lektren ein. Sie vertrauen Institutionen und Menschen. Das heißt nicht, dass sie ihresgleichen permanent um den Hals fallen und Nhe suchen, aber sie betrachten sie auch nicht als potenzielle Feinde oder Gegner. Das hat sich seit Ankunft des Coronavirus gendert. Wer infiziert ist, kann andere, denen er zu nah kommt, anstecken und gefhrden. Vertrauen als Normalmodus hat ausgedient und macht einem ubiquitren Misstrauen Platz. Letzteres ußert sich in physischer Distanz, in der Vermeidung kçrperlicher Nhe. Die Grenzen zwischen denen, denen man traut, und denen, denen man nicht traut, werden so scharf und sichtbar wie selten zuvor gezogen. Mit Verwandten, zuweilen auch mit (Sports-)Freunden und Kollegen begeben sich Menschen auf Tuchfhlung. Von Fremden halten sie sich fern. Zugleich wird das, was als fremd empfunden wird, neu ausbuchstabiert. Tribalistische Strukturen, die bislang von allgemeineren Interessen und Zuordnungen berdeckt waren, kommen ungeschminkt zum Vorschein. Zune und Mauern werden hochgezogen: zwischen Einheimischen und Fremden, Ost- und Westdeutschen, Alten und Jungen, auch zwischen sozialen Schichten. Als das Land Schleswig-Holstein im Mrz 2020 ein Einreiseverbot fr Zweitwohnungsbesitzer und Touristen verhngte, brachen die Konflikte auf. Holsteiner sekundierten: „Feriengste zur Zeit unerwnscht! … Autokennzeichen aufschreiben und anzeigen!“ Die Gste fhlten sich gedemtigt und konterten: „Was fr eine Gesellschaft, es ist widerlich. Um Virusprvention 11 Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexitt, Stuttgart 20004, S. 23 f.
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geht es dabei doch schon lngst nicht mehr.“ Worum dann? Ein Einheimischer brachte es auf den Begriff: „Da kriecht die Politik den Neureichen schon wieder in den Hintern. Ich kann es nicht fassen“, kommentierte er die Entschuldigung des Kieler Ministerprsidenten bei Touristen, die persçnlich angefeindet und denunziert worden waren. Als neureich galten vorzugsweise Hamburger, die Ferienwohnungen auf den nordfriesischen Inseln besaßen und unter den Einheimischen offenbar Ressentiments und Neidgefhle geweckt hatten. Der Schlachtruf „Raus aus Schleswig-Holstein“, vermutete ein Kommentator, sitze „tiefer und grt wahrscheinlich schon lnger“.12 hnliche Vorkommnisse gab es in Brandenburg, wo ein Landrat seinen Landkreis fr alle schloss, die dort nicht mit Hauptwohnsitz gemeldet waren. Das betraf vor allem Berliner; viele wehrten sich gegen die „Diskriminierung“ und fanden sie „unsolidarisch“. Sie warfen dem Landrat vor, „an die niedrigsten Instinkte“ zu appellieren: „Die Gefahr, das sind immer die Anderen.“ Einheimische hingegen stellten sich hinter die Entscheidung und begrßten es, wenn die „,Lustreisen‘ zu den Zweitwohnsitzen“ nicht mehr stattfnden: „Dass die Vçlkerwanderung ausbleibt, das untersttze ich.“ Das wiederum rgerte die Berliner. Sie verwahrten sich dagegen, als „lustwandelnde Neureiche Ego-Schnçsel“ hingestellt zu werden, und betonten, dass sie mit ihren Steuern auch die Infrastruktur vor Ort mitfinanzierten: „Wir sind ein Land und so sollten wir uns auch benehmen.“13 Am aggressivsten ging es in Mecklenburg-Vorpommern zu. Auch hier waren Touristen und Zweitwohnungsbesitzer nicht mehr willkommen, worauf manche Einheimische mit Nachdruck und Vehemenz aufmerksam machten. Ein entsprechender Artikel im Berliner Tagesspiegel trat eine Welle emotional aufgeladener Kommentare los.14 Viele beschwerten sich ber das Ausmaß der Denunziationen und Fremdenfeindlichkeit. „Maß und Mitte gehen hier komplett verloren! Ich bekomme langsam Angst. Aber nicht vor dem Virus…“. Schnell mischten sich Ost-West-Ressentiments in die Debatte. 12 O. A., Coronavirus. Inseln in Schleswig-Holstein abgeriegelt, in: NDR, 15. 3. 2020, https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Coronavirus-Inseln-in-SchleswigHolstein-abgeriegelt,corona766.html; o. A., Besitzer von Zweitwohnungen drfen bleiben, in: NDR, 23. 3. 2020, https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/coronavi rus/Coronavirus-in-SH-Zweitwohnungsbesitzer-duerfen-bleiben,zweitwohnung104.html. 13 Rbb24, Corona-Pandemie. Ostprignitz-Ruppin schrnkt Reisen in den Landkreis stark ein, 26. 3. 2020, https://www.rbb24.de/wirtschaft/thema/2020/coronavirus/beitraege/ tourismus-reisen-ausfluege-verbot-ostprignitz-ruppin.html; Rbb24, Nach Gerichtsentscheid. Ostprignitz-Ruppin hebt Einreiseverbot auf, 8. 4. 2020, https://www.rbb24.de/ politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/04/ostprignitz-ruppin-einreisever bot-ueberpruefung-ostern.html. 14 Felix Hackenbruch u. Kai Mller, Touristen verboten. So vergiftet das Coronavirus die Atmosphre in deutschen Urlaubsgebieten, in: Der Tagesspiegel, 2. 4. 2020, https:// www.tagesspiegel.de/themen/reportage/touristen-verboten-so-vergiftet-das-coronavirusdie-atmosphaere-in-deutschen-urlaubsgebieten/25706758.html. Vgl. dazu auch den Beitrag von Heike Drotbohm und Sven Reichardt in diesem Heft.
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Manche sahen „Blockwarte der Sorte Horch und Guck“ am Werk und beklagten die Fortdauer „alter DDR-Zeiten“: „Da war denunzieren eine positive Tugend.“ Andere empçrten sich ber „Sozialneid“ und fanden es „unglaublich, wie hier mit Menschen umgesprungen wird, ohne deren Geld es in manchen Ecken in M–V ziemlich erbrmlich aussehen wrde“. Umgekehrt wetterte man gegen die elitren „Dauerwessis aka Großstdter“, die rcksichtslos auf ihre Privilegien pochten und sich nicht an allgemeine Regeln halten wollten. Vor Ort habe man schließlich „in den letzten 30 Jahren erlebt wie die Wirtschaft und auch das Gesundheitssystem in der Region ruiniert wurde und jetzt kommen die ,BesserWessis‘ und ,Berliner‘ an und verschrfen die Situation“. Um die Stimmung zu retten, startete der Tourismusverband des Landes zu Pfingsten 2020 eine pikanterweise aus dem Struktur- und Investitionsfonds der EU gefçrderte Kampagne: „Sei dabei. Zeig Herz. Wir sind Urlaubsland.“ „Zusammenhang, Respekt und Toleranz“, hieß es, seien „heute wichtiger denn je“. Alle seien aufgefordert, Gsten mit „Offenheit und Freundlichkeit“ zu begegnen.15 Offenbar bedurfte es solcher Mahnungen. Auch ohne EU-Gste, die aufgrund der umgehend geschlossenen Grenzen ohnehin nicht htten einreisen drfen, war zu befrchten, dass Touristen aus anderen Bundeslndern das ungastliche Urlaubsland fortan meiden wrden.
IV. „So schnell fallen in der Krise eben die Masken“ Dieser Kommentar eines „Veloberliners“ von Anfang April 2020 brachte es auf den Punkt. Der heimliche Groll, das Ressentiment, das Misstrauen waren zweifellos lter als die Krise, schufen sich aber erst unter Krisenbedingungen çffentlichen Raum. Der Appell der Kanzlerin, Solidaritt, Vernunft und „unser Herz fr einander“ sprechen zu lassen, goss bei vielen Brgerinnen und Brgern l ins Feuer.16 Warum sollten sie ein Herz fr die haben, die sich um ihre Mitmenschen angeblich nicht sorgten und nur die eigenen Interessen verfolgten? Solidaritt beschrnkte sich auf die, die einem nah waren und die man kannte; die gefhlten Distanzen wurden grçßer statt kleiner. Das physische Abstandsgebot erweiterte sich zu einem sozialen, alte Frontlinien brachen auf. Bei der in unsicherer Lage zentralen Frage, wer vertrauens- und solidarittswrdig war, griff man auf vertraute Klassifikationen und Grenzziehungen zurck und fgte ihnen ein paar neue hinzu. Das anfngliche Gefhl, im gleichen Boot zu sitzen und es gemeinsam in ruhigeres Wasser
15 Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern e.V., Sei dabei. Zeig Herz, o. D., https:// www.wirsindurlaubsland.de/sei-dabei-zeig-herz. 16 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Coronavirus in Deutschland. Merkel ruft zu Solidaritt auf, 11. 3. 2020, https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/ aktuelles/merkel-zu-corona-1729780.
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navigieren zu mssen, wich einer Mischung aus Unduldsamkeit und Misstrauen, Verdchtigungen und Anpçbeleien. Gemeinschaft triumphierte ber Gesellschaft, Dorf ber Stadt, Erstwohnsitz ber Zweitwohnsitz. Das stellt zentrale Signaturen der Moderne infrage und baut sie zurck. Dazu zhlen soziale Dynamik und die Durchlssigkeit der Gesellschaft ebenso wie rumliche Mobilitt. Historisch und systematisch haben sich parochiale Identitten in dem Maße abgeschwcht, wie Menschen sich in Bewegung setzen, ihren Geburtsort, mçglicherweise sogar ihr Land verlassen und sich anderswo eine neue Existenz mit neuen Zugehçrigkeiten aufbauen. Parallel dazu verringert sich die Bedeutung gesichts- und ortsabhngiger Kommunikation. Menschen verstndigen sich nicht mehr ausschließlich ber und durch mndlich verbreitete Informationen und Gerchte im lokalen Raum, sondern greifen zu schriftlichen, gedruckten, berlokalen Kommunikationsmedien. Die Kommunikation unter Abwesenden tritt neben die unter Anwesenden und wird zunehmend wichtiger.17 Zugespitzt zeigt sich das in der digitalen Revolution des frhen 21. Jahrhunderts. Mittlerweile nutzt die große Mehrheit der Bevçlkerung, mehr oder weniger extensiv, soziale Medien und Internetplattformen, auf denen Menschen ohne jeglichen Kçrperkontakt und physische Nhe online miteinander teilen und tauschen. Seit es Facebook und Instagram gibt, ist die Zahl der Freundschaften exponentiell gewachsen, es reicht ein Mausklick, um sich zu „befrienden“. Dass es mit solchen Freundschaften meist nicht weit her ist, schwante den Nutzern und Nutzerinnen schon seit lngerem. Zu einer vertrauensvollverbindlichen Freundschaftskommunikation gehçren offenbar doch physische Nhe und offline-Wrme. Auch kollegiale und Geschftsbeziehungen funktionieren in entscheidenden Situationen nicht ohne kçrperliche Prsenz. Geschriebenes kann die gesprochene und leibhaftig formulierte Sprache einschließlich ihrer mimisch-gestisch-stimmlichen Ausdrucksformen in ihrem ungleich komplexeren Informationsgehalt nicht ersetzen. Telefon und FaceTime helfen, Entfernungen zu berbrcken, heben aber zugleich die Distanz unmissverstndlich ins Bewusstsein. Der Corona-bedingte Lockdown lsst das vollends deutlich werden. Selbst technisch perfekte Videochats, bei denen das Gegenber sichtbar ist, fhlen sich anders an als analoge Gesprche im gleichen Raum. Das zu erfahren und unter der Haut zu spren, trgt zweifellos dazu bei, den eigenen Umgang mit Nhe und Distanz bewusster und sorgfltiger zu gestalten. Auf so manches Ksschen wird man in Zukunft gern und ohne 17 Rudolf Schlçgl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frhen Neuzeit, in: GG 34. 2008, S. 155 – 224; ders., Anwesende und Abwesende. Grundriss fr eine Gesellschaftsgeschichte der Frhen Neuzeit, Konstanz 2014; siehe auch ders. in diesem Heft sowie Moritz Fçllmer (Hg.), Sehnsucht nach Nhe. Interpersonale Kommunikation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004.
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Einbußen verzichten wollen. Umso wichtiger ist es, sich ber das gewnschte Minimum kçrperlicher Nhe und direkter, gesichtsabhngiger Kommunikation neu zu verstndigen. Es ist keine absolute Grçße, verndert sich in Zeit und Raum, wird je nach sozialer Situation und Herkunft anders definiert. Es sieht in Amtsstuben und Brgerbros anders aus als im Schwimmbad oder Tennisclub, unter Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen anders als unter Personen, die beim Einkaufen zufllig und absichtslos aufeinander treffen. So notwendig die flchendeckende Neujustierung des Nhe-Distanz-Verhltnisses ist, so viel ist daraus fr das subjektive und gesellschaftliche Wohlbefinden zu gewinnen. Das Gebot physischer Abstandswahrung, das aller Voraussicht nach noch lnger gelten wird, kann die Kultur des sozialen Umgangs verfeinern und beleben. Das Spiel der Gesellschaft, von dem Plessner so angetan war, ldt zu Variation, Kreativitt und Raffinement ein. Die vorgebliche Eindeutigkeit einer intimen Geste wie des Begrßungs- und Abschiedskssens lsst sich durch distanziertere und damit deutungsoffenere Zeichensprachen ersetzen. Von anderen Kulturen, vor allem im asiatischen Raum, kann man sich da einiges abgucken und es an hiesige Verhltnisse anpassen. Auch diachrones Lernen ist mçglich und sinnvoll. Man muss nicht gleich zu smtlichen Gespreiztheiten frherer Umgangsformen zurckkehren und kann sich davon animieren lassen, ber Gewinne und Verluste, Vor- und Nachteile der Abstandswahrung anschaulich nachzudenken. Wer in einem um 1900 gedruckten Handbuch des guten Tons blttert, dem erschließt sich eine teils skurrile, teils faszinierende Welt feiner Unterschiede. Allein das richtige Grßen ist dem Verfasser 14 Seiten wert und ber die Bedeutung der Blumensprache lsst er sich auf immerhin fnf Seiten aus – wohl wissend, dass andere darber ganze Bcher verçffentlicht haben. Immer geht es dabei um Abstufungen sozialer Nhe und Ferne, um die „stumme Sprache“ von Gebrden, Mimik und Objekten. Das „Handreichen“ beispielsweise sei, wie in Norddeutschland blich, als „eine Sprache des Gefhls“ und als „ein Zeichen nherer Bekanntschaft, Freundschaft und Verwandtschaft“ zu betrachten. Ersatzweise kennt der Ratgeber eine Flle von Grußformen, die ohne Hndedruck auskommen und Aufmerksamkeit sorgfltig dosieren, von der leisen Neigung des Hauptes zur tiefen Verbeugung, von der „freundlich winkenden Miene“ zur geflissentlichen Nichtbeachtung. Die Botschaften, die von den vielfltigen Formen des Hutlftens und -abnehmens ausgesandt werden, sprechen Bnde.18 Diese „stumme Sprache“ mit ihren diversen emotionalen Abstufungen und sozialen Differenzierungen ist der Informalisierung gesellschaftlicher Beziehungen im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zum Opfer gefallen, ihre 18 Franz Ebhardt (Hg.), Der gute Ton in allen Lebenslagen, Leipzig 189613, S. 191 – 195 (ber Blumengeschenke) u. S. 284 – 297 (ber das Grßen).
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Komplexitt wrde heutige Zeitgenossen kognitiv berfordern. Dennoch bçte sie Anregungen, wie Nhe und Distanz, Khle und Wrme, Zu- und Abwendung mit und ohne Maske diskret, taktvoll und variantenreich in Zeiten der Pandemie funktionieren kçnnten. Das betrifft das Verhalten unter nahestehenden Personen ebenso wie die Beziehungen zu Fernerstehenden. Es betrifft eine Gesellschaft, deren Binnenkommunikation unter Druck geraten ist und deren Risse durch Solidarittsappelle nicht zu kitten sind. Herz zu zeigen, wie es der Rostocker Tourismusverband anmahnt, reicht nicht aus. Die Sprache des Herzens, auf die sich frhere Generationen sehr viel besser verstanden, muss erst wieder neu erfunden und gelernt werden, um Wrme und Nhe in rcksichts- und verantwortungsvoller Distanz ausdrcken zu kçnnen.19 Prof. Dr. Ute Frevert, Max-Planck-Institut fr Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin E-Mail: [email protected]
19 Siehe dazu auch Benno Gammerl, Gefhlte Entfernungen, in: Ute Frevert u. a. (Hg.), Gefhlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt 2011, S. 179 – 200.
Corona in Interaktion Zum Verhältnis von Anwesenheit und Körpern in moderner Gesellschaft von Rudolf Schlögl*
Corona in Interactive Communication. The Relationship of Presence and Bodies in Modern Societies This article uses the current corona pandemic to discuss the importance of face-toface communication for the structural formation of modern society. It argues that interactive communication takes many different forms and plays a much larger role in modern society than usually assumed in empiricism and in the theoretical literature. Social systems do not always refer to physical bodies, even if they are present, meaning their role is often overemphasized. Consequently, the article argues that reactions to the pandemic should be discussed in systemic terms. Furthermore, it suggests that the consequences of the corona pandemic can shed light on the relationship between functional systems and organizations, as well as the importance of time and the risks of political decisions.
hnlich wie in der sogenannten Flchtlingskrise seit 2015 hat die çffentliche Diskussion ber COVID-19 großes Erstaunen darber bezeugt, wie fundamental die von der Pandemie verursachten Stçrungen sind. Sie werden derzeit in Sterberaten, Infektionsquoten, den Kursbewegungen an den Aktienmrkten und Umsatzausfllen gemessen, aber kaum in ihrer sozialen Logik thematisiert. Dazu soll hier ein Beitrag geleistet werden, der sich mit der Bedeutung des Kçrpers und von Interaktionskommunikation fr die Strukturbildung moderner Gesellschaften beschftigt.1 Bis an die Schwelle zur Moderne reproduzierten sich Gesellschaften berwiegend in Interaktionskommunikation. Zwar gab es Distanzmedien wie Schrift und Druck, aber sie wurden hauptschlich als Medien der Speicherung und Aufbewahrung genutzt und auch, um Kommunikation unter Anwesenden zu reglementieren. Gleichzeitig lief in der europischen Frhneuzeit ein Umgestaltungsprozess, der gesellschaftliche Strukturbildung in großem Maßstab von Interaktion unabhngig machte und dort, wo sie weiterhin im Zentrum * Paul Nolte und Ute Frevert haben den Text genau gelesen und viele Vorschlge fr seine berarbeitung und Verbesserung gemacht. Ich danke beiden sehr! 1 Ich folge darin einem kommunikations- und systemtheoretischen Beschreibungsmodell. Zur Orientierung siehe Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 19942; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt 1997; Andr Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien ber Interaktionssysteme, Frankfurt 1999.skri Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 391 – 403 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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stand, dafr sorgte, dass sie sich in ihrem Vollzug und in ihrer Funktion fr Gesellschaft stark vernderte.2 Um die Zusammenhnge zwischen Interaktion und gesellschaftlicher Strukturbildung genauer und systematischer beobachten zu kçnnen, empfiehlt es sich in einem ersten Schritt, nicht nur zwischen Interaktion und medienvermittelter Kommunikation zu unterscheiden, sondern auch unterschiedliche Typen von sozialen Systemen in den Blick zu nehmen. In einem zweiten Schritt werden Inklusionsmechanismen thematisiert, bevor es drittens um die Stçrungen durch COVID-19 gehen soll. Den Schluss bilden einige darber hinausgehende Beobachtungen.
I. Interaktion in sozialen Systemen Soziale Systeme stabilisieren sich gegenber einer Umwelt, in der tendenziell alles mçglich ist, indem sie fr sich nur noch bestimmte Operationen und Verknpfungen vorsehen. Die Einschrnkungen betreffen das Soziale, das Sachliche und die Zeit. Kommunikation strukturiert sich in Interaktion sachlich ber Themen und Beitrge, die nicht unbedingt einen definierten Sachbezug haben mssen. Deshalb kçnnen auch „schrge“ ußerungen Anschluss finden, was dazu fhrt, dass Kommunikation thematisch mandert und sich hufig unversehens auf einem ganz anderen Feld wiederfindet. Solange sich unter den Beteiligten niemand dadurch gestçrt fhlt, schadet das auch nichts. Wenn sich Anwesenheit und Themen freilich signifikant ndern, wird auch das System ein anderes. Ein weiteres wesentliches Merkmal von Interaktionskommunikation ist, dass man sich nicht nur hçrt, sondern auch mit den anderen Sinnen wahrnimmt.3 Weil das Bewusstsein im Medium des Sinns operiert, werden alle diese sinnlichen Wahrnehmungen auf die Differenz von Mçglichkeit und Wirklichkeit hin beobachtet und kçnnen so mit den sprachlich gefassten Beitrgen verrechnet werden. Der ganze Kçrper wird auf diese Weise ber Haltung, Mimik bis hin zum Geruch zu einem Medium der Mitteilung, das brigens umso intensiver arbeitet, je nher man sich ist. Einen sehr viel anspruchsvolleren Typus der Systembildung stellen Organisationen dar. Das sieht man schon daran, dass es sehr lange dauerte, bis die europischen Gesellschaften nicht nur ber Korporationen verfgten, sondern 2 Was hier und nachfolgend zur Gesellschaft der Frhen Neuzeit ausgefhrt wird, geht auf eigene Studien zurck: Rudolf Schlçgl, Anwesende und Abwesende. Grundriss fr eine Gesellschaftsgeschichte der Frhen Neuzeit, Konstanz 2014; eine umfngliche kommunikations- und medientheoretisch gearbeitete Geschichte der vormodernen Gesellschaft ist in Vorbereitung. Zur Transformation am Ende des 18. Jahrhunderts vgl. Albrecht Koschorke, Kçrperstrçme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, Mnchen 1999. 3 Jens Loenhoff, Die kommunikative Funktion der Sinne. Theoretische Studien zum Verhltnis von Kommunikation, Wahrnehmung und Bewegung, Konstanz 2001.
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auch ber Einrichtungen wie Unternehmen oder Schulen. Sehr allgemein kann man Organisationen als Sozialsysteme charakterisieren, die sich ber die Lçsung von in ihrer Umwelt identifizierbaren Problemlagen schließen und sich im Bezug auf diese Problemlçsungen operativ reproduzieren.4 Diese Prozesse sind in Einzelschritte zerlegt, denen (Personal-)Stellen zugewiesen sind, mit denen sich Skripte verbinden, sodass eine Organisation ihre Mitglieder auch austauschen kann, ohne eine andere zu werden. Nicht alle Kommunikation in Organisationen bezieht sich auf die Reproduktion des Sozialsystems. Es wird auch ber andere Belange – etwa die der Mitglieder – kommuniziert.5 Beide Formen unterscheiden sich grundlegend, auch wenn es bergnge und Wechselwirkungen gibt. Werden sie zu massiv und augenfllig, greift die Organisation meist ein. Der grçßte Teil der systemrelevanten Kommunikation ist daher in Organisationen streng sachbezogen und auch, was die Beteiligten anbelangt, genau vorgeschrieben. Deswegen kehrt sich hier das fr Interaktion typische Verhltnis von Beitrgen und Themen um. In den Treffen bestimmen nicht die Beitrge das Thema, sondern das Thema bestimmt die Beitrge. Diese Voten in den Meetings sind nicht auf eigene Interessen oder Befindlichkeiten auszurichten, sondern an der Rationalitt des Umweltbezugs, dem die Organisation folgt. Daher wird in Organisationen auch der Kçrperbezug von organisationsbezogener Interaktion stark abgedimmt. Man muss kooperieren, auch wenn man sich nicht riechen kann. Wegen der oben schon angesprochenen Indirektheit der Kçrperkommunikation tun sich hier allerdings Grauzonen auf, die kaum zu regulieren sind. Smarte Formen der Organisation beuten freilich auch Interaktion fr sich aus. Nach Interaktionssystemen und Organisationen kann man noch nach der Bedeutung von Anwesenheitskommunikation fr Gesellschaft fragen. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich Funktion als Modus primrer Differenzierung gegen Hierarchie durchgesetzt. Funktionsbezogene Systeme wie Wirtschaft, Politik, Religion differenzieren sich ebenfalls ber einen Problembezug (Knappheit, allgemeinverbindliche Entscheidungen und so weiter), sichern diesen Problembezug aber nicht wie Organisationen ber Organigramme ab, sondern ber symbolisch generalisierte Erfolgsmedien. Geld sorgt in der konomie dafr, dass Zahlungen auf Zahlungen folgen; Machtpositionen sichern, dass gesellschaftsweit relevante Entscheidungen getroffen werden kçnnen. Corona fhrt gerade das sehr eindrcklich vor Augen. Eine ganze Reihe dieser symbolisch generalisierten Erfolgsmedien sind in einer Weise 4 Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen 2000; Dirk Baecker, Organisation als System, Frankfurt 1999. Der Vorschlag Bruno Latours, das Organisieren schon mit einer Verabredung von Peter und Paul beginnen zu lassen, erklrt daher gerade nichts fr die Existenzweisen moderner Menschen. Bruno Latour, An Inquiry into the Modes of Existence. An Anthropology of the Moderns, Cambridge, MA 2013, S. 381 – 410. 5 Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden, S. 335 – 390.
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virtuell symbolisiert, dass sie auf Anwesenheit und Interaktionskommunikation weitgehend verzichten kçnnen. Geld ist so ein Fall. Andere Funktionssysteme brauchen mehr Anwesenheit. Religion braucht die Versammlung, Erziehung das Klassenzimmer, Recht den Gerichtssaal, das Gesundheitswesen Behandlungszimmer und Krankenhuser, Familie die Wohnung und Intimitt die Nhe der sich stimulierenden Kçrper. Das meiste davon spielt sich in Organisationen ab, in denen die funktionssystemspezifischen Problemlagen kleingearbeitet werden. Das heißt dann freilich auch, dass es sich – bis auf Ausnahmen – um eine Interaktion handelt, der Organisation die Form vorgibt.
II. Inklusion / Exklusion Wir wollen nach diesen Beobachtungen zur Kommunikation unter Anwesenden die Frage noch einmal andersherum stellen und sie auf das Verhltnis von sozialen Systemen und Personen ausrichten. Personen werden in sozialen Systemen zu Adressaten von Kommunikation und damit auch zu Kreuzungspunkten, an denen Erwartungen auf die Mçglichkeit treffen, ihnen zu entsprechen oder sie zu enttuschen. In den Beobachtungen zur Anwesenheitskommunikation war schon festgehalten, dass der Kçrper in diesen Zurechnungsprozessen gelegentlich neutralisiert wird, oft aber auch eine prominente Sonderrolle spielt. Das legt es nahe, ihn mindestens zweidimensional zu denken und von der kçrperlichen Prsenz die laufenden Operationen des Bewusstseins zu unterscheiden, wie soziale Systeme das auch tun. In vormoderner Kommunikation kam es zunchst auf den Kçrper an. Der Kçrper reprsentierte die Person, wie insbesondere in der Tortur, der Hinrichtung und der Vernichtung von Kçrpern als Zeichen totaler Exklusion von Verbrecherinnen und Verbrechern deutlich wurde. Aber schon im 16. Jahrhundert begann die zielstrebige Regulierung und Kontrolle von Kçrperreaktionen, um komplexere Sozialsysteme bauen zu kçnnen. Die Studien von Norbert Elias zum Prozess der Zivilisation und zur hçfischen Gesellschaft bringen erdrckend viel Material zur These bei, dass der Kçrper zu einem Stçrfaktor im Prozess der Vergesellschaftung wurde.6 Das gilt brigens auch fr die frhneuzeitliche Familie. Der Diskurs und die Sozialgeschichte sind eindeutig. Nicht die Schçnheit der Frau ist gefragt, sondern 6 Norbert Elias, ber den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt 1977. Die von Hans Peter Duerr formulierte Kritik dokumentiert im Wesentlichen ein Missverstndnis, das auf dem Unterschied zwischen Fchern beruht. Whrend der Soziologe psychogenetische Untersuchungen auf soziogenetische bezieht, kommt der Ethnologe ohne Strukturgeschichte aus und entdeckt dann angebliche anthropologische Universalien (ohne dass ihm die Differenz der Herangehensweisen klar zu sein scheint). Hans Peter Duerr, Intimitt. Der Mythos vom Zivilisationsprozess, Fankfurt 1990.
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ihre Herkunft und Charaktereigenschaften sind wichtig. Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden kçrperbezogene Leidenschaften die Grundlage der Partnerwahl, und die Familie wandelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem Interaktionssystem, das ber Emotionen zusammengehalten wird. Die Bezeugung wechselseitiger Achtung beim Liebes- und Ehepaar wird seit der Romantik als Voraussetzung von Subjektivierungsprozessen theoretisiert. Bis sich diese Semantik als allgemeine Praxis in der brgerlichen Ehe manifestierte, verging noch fast ein Jahrhundert. Wichtig ist in unserem Zusammenhang: Der Kçrper wird dabei individualisiert, ist aber nicht das Zentrum. Im Zentrum des Interaktionssystems Familie steht die fr alle Seiten verkraftbare Anteilnahme an den Erlebniswelten der anderen Beteiligten (zu denen jeder dann auch selbst gehçrt). Die neuen sozialen Medien haben einen Teil dieses Mechanismus bernommen, ihn kommerzialisiert und globalisiert. Man stellt das eigene Erleben zur Schau und liefert es der Bewertung anderer aus. Peergroups formieren sich nach der Zahl der Likes. Der Unterschied zur Familie drfte sein: Man muss nur bewerten und man kann sein Erleben des Erlebens anderer strategisch formatieren und entsprechend kommunizieren. Das elektronische Distanzmedium macht mçglich, was man in der laufenden Interaktion der Familie nur mit großem Aufwand bewerkstelligen kann. In Organisationen geht es um Eigenschaften, die man vorwiegend mit kognitiv verankerten Fhigkeiten verbindet. rztinnen und rzte mssen heilen kçnnen, Politiker und Politikerinnen mssen sich in den Apparaturen des Parlaments und der Parteien behaupten. Von CEOs wird erwartet, dass sie unter unsicheren Zukunftsaussichten Entscheidungen treffen. Man erfhrt gelegentlich, dass dieses Personal sich gesund und fit hlt, aber das steht dann im Dienst seiner kognitiv und in Erfahrung begrndeten Entscheidungsfhigkeit. Seine Kçrper finden nur insoweit Bercksichtigung, als sie Anwesenheit oder Ttigkeiten beeintrchtigen. Organisationen schirmen sich bei der Rekrutierung ihrer Mitglieder so gut es geht gegen den Kçrper ab. In jngerer Zeit wird sogar auf Fotos bei Bewerbungen hufig explizit verzichtet. In großen Unternehmen bernehmen Systeme der knstlichen Intelligenz die Vorauswahl unter eingegangenen Bewerbungen. Prsent ist der Kçrper hier freilich immer noch dann, wenn es – ausgesprochen oder nicht – um das Geschlecht des Personals geht und zum Teil auch, wenn Unterschiede zwischen Mitgliedern markiert werden, die dann auch Einfluss auf Karrieren haben kçnnen. Allerdings sind das informale Prozesse, gegen die, wenn sie zu manifest werden, vorgegangen wird. Auch in den Krankenhusern kommt es bei rzten, Krankenschwestern und Pflegern nicht auf deren Kçrper an, sondern auf die mit den Personen verbundenen Fertigkeiten. Sogar bei Patienten wird er nicht in seiner Gesamtheit als Organismus angesprochen, sondern in den verschiedenen Abteilungen kmmert man sich um die je spezifischen Dysfunktionalitten, die zu kurieren sind. Dazu dienen die rites de passage, mit denen kranke Menschen zu Reprsentanten bestimmter Krankheitsbilder gemacht werden, damit der individuelle Kçrper verschwin-
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det. Noch deutlicher wird die soziale Zurichtung und Entindividualisierung des Kçrpers in der Fabrik. Dort treten Mitarbeiter als Element auf, das Lcken zwischen ansonsten von Maschinen und Robotern in strikter Koppelung bewltigten Ablufen fllt, die mehr Sensibilitt und Reaktionsfhigkeit erfordern, als die Hauptakteure derzeit schon aufbringen kçnnen. Kommunikation ist hier kaum von Bedeutung. Wichtiger sind neben rigide festgelegten Ablufen Routinen. Sie werden von der Soziologie der Praxis dem Kçrper zugerechnet.7 Ob das empirisch richtig ist, oder nicht doch das Bewusstsein als zentraler Speicher fungiert, ist umstritten. Funktionssysteme inkludieren universal, sie sind (tendenziell) fr alle da. Historisch konnten sie sich deshalb neben stndischen Strukturen etablieren. Aber auch hier werden Voraussetzungen wirksam. Wer an Wirtschaft teilhaben will, muss Leistungen erbringen, fr die jemand zu zahlen bereit ist. Erziehungssysteme beschftigen sich mit kognitiven Fhigkeiten, suchen sie zu trainieren und prfen sie. Der Kçrper, der in den Anfngen der Pdagogik als Adressat von Stimulationen eine zentrale Rolle spielte, ist lngst daraus entlassen. Man prgelt Kinder nicht mehr, damit sie etwas lernen. Es geht jetzt nur noch darum, so viel Verhaltenskoordination herzustellen, dass man die Aufmerksamkeit aller erreichen kann. Die Beschftigung mit dem Kçrper hat sich im Erziehungssystem auf das Unterrichtsfach Sport konzentriert. Intimbeziehungen haben sich – nicht zuletzt auf der Basis des Internets – in den letzten Jahrzehnten erfolgreich gegen die Familie als umfassendes Funktionssystem ausdifferenziert. Das System kann zwar in einem Teil seiner Operationen nicht auf Anwesenheit und den individualisierten Kçrper verzichten. Dating-Apps virtualisieren die Teilnahme an diesem Funktionssystem ber Profile und Bildbearbeitungsprogramme. Bevor man jemandem gegenbersitzt, ist der Kçrper ein Konstrukt (und bleibt es vermutlich auch dann noch eine ganze Weile). Zugespitzt wird man schließen kçnnen: Funktionssysteme inkludieren – abgesehen vom Sport – nicht ber den Kçrper und wenn sie es tun, meinen sie meistens – wie Organisationen auch – nicht einen individuellen Kçrper, sondern ein in den sozialen Systemen selbst hergestelltes Konstrukt.
7 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt 1979. Wenn man moderne Gesellschaften entsprechend den Ordnungsmustern einer vormodernen modelliert, kann es passieren, dass dem Bewusstsein zu viel zugemutet wird. Die Komplexitt moderner Gesellschaften ist auch deswegen mçglich, weil sie das Bewusstsein ber weite Strecken mit deren Bearbeitung nicht behelligen.
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III. Störungen Gesellschaften, und insbesondere moderne Gesellschaften, verdanken also ihre Komplexitt und die Vielfalt ihrer Systembildungen auf den unterschiedlichen Ebenen zum einen der Fhigkeit, verschiedene Formen von Interaktionskommunikation auseinanderzuhalten und sie situationsangemessen zu konditionieren. Sie verdanken ihre Komplexitt aber auch dem Umstand, dass sie zwischen Kçrper und Bewusstsein in der Strukturbildung unterscheiden und ein hochselektives Verhltnis zum Kçrper und seiner sozialen Funktionalitt entwickelt haben. Der Kçrper ist sozial lngst nicht berall prsent, wenn er da ist. Das sind alles keine Selbstverstndlichkeiten, sondern unwahrscheinliche Errungenschaften gesellschaftlicher Evolution. Corona bringt hier einiges grundlegend durcheinander. Das Virus sorgt – und zwar global – fr eine fundamentale Entdifferenzierung. Das Virus macht den Kçrper prsent, wo er eigentlich nicht vorgesehen ist, es macht ihn dort problematisch, wo ihn auch die moderne Gesellschaft braucht, und es stçrt Anwesenheitskommunikation in Zusammenhngen, die fundamental auf ihr beruhen. Es macht auch alle soziale Konstruktion des Kçrpers und seine virtuelle Prsentation zunichte. Die Differenz zwischen Interaktion und Kçrper kollabiert. Der erste Punkt ist einfach zu erlutern. Kein Bewusstsein dieser Welt ist derzeit fr sich in der Lage, seinen Kçrper rechtzeitig und erfolgreich daraufhin abzutasten, ob er Virentrger ist. Es braucht dafr zwingend die Gesellschaft in Gestalt des Gesundheitssystems und funktionierender Lieferketten fr Pharmazeutika. Die Kçrper bleiben daher – ob das Bewusstsein will oder nicht – unerkannte Virentrger, die andere gefhrden, weil sie ansteckend sind. Man kann den Kçrper daher auch dort nicht mehr ignorieren, wo soziale Systembildung der mçglichen Komplexittsgewinne wegen sich lngst dafr entschieden hat, ihn fr ihre systembezogenen Operationen nicht mehr zu bercksichtigen. Aus Risiken werden durch COVID-19 wieder Gefahren. Das macht die Diskussion ber den Shutdown, Lockerungen und die Begrndung weiterer Beschrnkungen so schwierig. Risiken bezeichnen die Relation zwischen mçglichen Erfolgen und Fehlschlgen in unkontrollierbaren Situationen. An diesem Verhltnis orientiert man sich insbesondere in Organisationen. Gefahren sind Bedrohungen, denen man sich nicht aussetzt, sondern denen man ausgesetzt ist. Bei COVID-19 ist nicht das Infektionsrisiko das Problem, sondern die unkalkulierbare Gefahr des tçdlichen Verlaufs. Weil man Gefahren sinnvollerweise vermeidet, setzt gesellschaftliche Komplexitt die Fhigkeit voraus, Gefahren in Risiken zu verwandeln, die man nach Mçglichkeit einhegen kann. Im vorliegenden Fall heißt dies: Die Zahl der Intensivbetten mit Beatmungsgerten mit der Zahl der Infektionen in ein handhabbares Verhltnis zu bringen. Man kann daher fragen, ob die Krisenkommunikation der Politik diesen Zusammenhang in der notwendigen Deutlichkeit betont hat.
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Es wre vermutlich mit Rationalittsgewinnen verbunden gewesen, wenn sowohl die Gefahr als auch die Kosten ihrer Transformation in Risiken benannt worden wren. So oder so fhrt die Gefahrenabwehr aber zu Kurzschlssen, durch die auch die systembezogenen Operationen entfallen oder mindestens erheblich erschwert werden. Insbesondere Organisationen sind davon betroffen. Deswegen gab es plçtzlich Homeoffice, deswegen wurden Schulen geschlossen, und Universitten versuchten, sich von Prsenz auf Virtualitt umzustellen. Schulen wie Universitten sind auf die wechselseitige Stimulation kognitiver Kapazitten ausgerichtet. Weil es diese Stimulation (zunchst) nicht ohne Kçrper gibt, musste man die kollektive gegenseitige Selbstkonditionierung der individuellen psychischen Systeme unterbrechen. Das beeintrchtigt die Beschulung in Schule und Universitt, aber auch die zweite Funktion der Universitt: die Wissensproduktion. Regulierte, formalisierte Diskussion von Forscherinnen und Forschern untereinander und mit Studierenden hat nicht nur die Aufgabe der Wissensvermittlung. Sie soll auch dafr sorgen, dass Beitrge als Argumente zur Kenntnis genommen werden, die man in die laufenden eigenen kognitiven Prozesse einspeist. Studierende sollen mit der Rekursivitt dieses Vermittlungsprozesses vertraut gemacht werden. Die Universitt hat in dieser Konstellation nicht nur ein Problem in der Weitergabe von Wissen, sondern auch eines der Erkenntnisproduktion. Sehr offen wurde formuliert, diese Situation doch als Gelegenheit und Ansporn fr die bislang nur zçgerlich verlaufende Virtualisierung des Universittsbetriebes zu nutzen. Dabei wird ignoriert, dass die Mediengeschichte des Wissenschaftssystems komplexer ist. Zwar formierte sich die neuzeitliche Wissenschaft als ein Funktionssystem berwiegend ber den Austausch von Texten und Briefen, aber Augenzeugenschaft und die Begegnungen der Forscher in Akademien und anderen Foren spielten in der Diskussion ber die Bedingungen der Wahrheit von Stzen ber die Welt eine maßgebliche Rolle. Man kann also den Erfolg der neuen Virtualitt nicht einfach unterstellen. Das verdeutlicht ein Blick auf einen weiteren Typus von Systembildung: Verfahren, die auf Entscheidungsproduktion spezialisiert sind. Verfahren vollziehen sich als regulierte, in ihren Ablufen geordnete Prozesse der Beschaffung von Informationen sowie ihrer Verarbeitung bis zu einem Punkt, an dem Alternativen greifbar werden und Entscheidungen mçglich sind.8 Das alles geschieht im Regelfall unter Anwesenden. Schon in der Frhen Neuzeit gab es Versuche, solche Ablufe weitgehend an Schrift zu binden. Das hat sich als ineffektiv und zeitraubend erwiesen und die Qualitt von Entscheidungen nicht verbessert. Dafr sind zwei Grnde zu nennen. Mndlichkeit fhrt zu inhaltlich oszillierenden Diskussionen, in denen Argumente neue Gesichtspunkte hervorbringen, die dann bercksichtigt werden wollen. Das ist anders,
8 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt 1983.
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wenn nur verschriftlichte Voten ausgetauscht werden. Dann reagieren im wesentlichen Texte auf schon geschriebene Texte, und Voten reagieren nicht aufeinander. Neues ist dabei kaum zu erwarten. Studien zur Behçrdengeschichte haben ergeben, dass Verwaltungen, die mndlich prozedierten, sich als flexibler und effektiver erwiesen als die rein schriftbasierten Verwaltungsverfahren.9 Zudem verzichten medienvermittelte Entscheidungsprozesse weitgehend auf die kommunikativen Leistungen des Kçrpers. Damit wird verhindert, dass er als zweites Medium neben dem sprachlichen Austausch diesen laufend mit einem Stimmungsbild versorgt, das den Entscheidern Orientierung erlaubt, in welche Richtung sich der Fluss der Argumente bewegt. Der Kçrper leistet etwas dem fortgesetzten Abstimmen im Konklave der Papstwahl Vergleichbares: Er informiert die Beteiligten darber, was beim Stand der Diskussion mçglich ist. Das erleichtert dann die Feinabstimmung in der Festlegung von Alternativen und der Formulierung von Kompromissen. Dies macht – jenseits aller technischen Probleme, mit denen Telefon- und Videokonferenzen zu kmpfen haben – verstndlich, warum professionelle Entscheider derzeit darber klagen, dass sie auf Medien verwiesen sind, die zum seriellen und schnellen Austausch von Statements zwingen, aber keine Diskussion und schon gar keine Abstimmung der Positionen in Pausen des Verfahrens erlauben. Ob Wissenschaft, die in ihrer wahrheitsorientierten Wissensproduktion seit jeher die Verbreitungsmedien Schrift und Druck genutzt hat, in gleicher Weise von diesen Zusammenhngen betroffen ist, scheint nicht klar. Jedenfalls sprechen die historischen Beobachtungen eher dafr, nicht so zu tun, als kçnne elektronische Virtualitt Prsenz ersetzen. Statt sich auf Videokonferenzen zu kaprizieren, lge es im Hinblick auf die Mediengeschichte der Wissenschaft nher, das Lesen von Texten und die interaktive schriftliche Kommunikation ber sie in den Vordergrund zu stellen. Das Virus macht den Kçrper zu einem Stçrfaktor aber auch dort, wo es gar nicht um Anwesenheitskommunikation geht. Fabriken wurden schon genannt. Arbeiterinnen und Arbeiter fllen Lcken im Produktionsprozess oder kontrollieren diesen. In beiden Fllen hat man es nicht mit Kommunikation zu tun. Aber die Sequenz der Koppelungen zerbricht, wenn kçrperliche Nhe zur Bedrohung fr andere Anwesende wird. Das Virus macht deswegen einen weiteren Effekt, der mit Organisation verbunden ist, in gespiegelter Umkehrung sichtbar. Es sind vor allem Organisationen mit ihrer an Fhigkeiten orientierten Selektion der Mitglieder, die dafr sorgen, dass moderne Gesellschaften durch eine ausgeprgte Stratifikation sozialer Chancen bestimmt sind, die Individuen offen stehen. In Zeiten von Corona sieht man im Brennglas, dass in den unteren Schichten vorwiegend am und mit dem Kçrper gearbeitet wird. Von Virtualisierung und 9 Angelika Menne-Haritz, Business Process. An Archival Science Approach to Collaborative Decision Making, Records and Knowledge Management, Dordrecht 2004.
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Homeoffice kann bei Krankenschwestern, Pflegern, Kassiererinnen und vielen anderen Berufsttigen keine Rede sein. Sie mssen sich den Virentrgern ausliefern. Die gesellschaftliche Gefahrenzulage beschrnkt sich derzeit weitgehend darauf, dass man ihnen çffentlich Systemrelevanz zuspricht. Stçrungen verursacht das Virus auch in Sozialsystemen, die wie Familien und Intimbeziehungen auf Interaktion beruhen. Problematisch drften dabei freilich nicht in erster Linie Kçrperkontakte oder kçrperliche Nhe werden, sondern zwei andere Aspekte. Struktur und Operationsweise der modernen Familie verdanken sich wesentlich der Trennung von Haushalts- und Erwerbsleben sowie der schrittweisen Auslagerung wesentlicher Teile der Erziehung. Homeoffice und Homeschooling bringen deswegen eine Entdifferenzierung mit sich, die in familirer Kommunikation der Gegenwart zunchst nicht vorgesehen ist und deswegen Energien auf sich zieht, um sie zu verarbeiten. Rumliche Separierung kann dabei helfen, ist aber in vielen Fllen nicht mçglich. Ebenso belastend drfte sein, dass die Ausgangsreglementierung die Erlebniswelten der Beteiligten austrocknen und damit Ressourcen fr die fortlaufende wechselseitige personelle Anerkennung knapp werden lsst. Bei Jugendlichen hat das Internet Ersatzfunktionen bernommen. Die Anzeichen fr steigende innerfamilire Gewalt zeigen jedenfalls, dass hier einem Sozialsystem (und den an ihm Beteiligten) mehr zugemutet wird, als es in seiner eingespielten Operationsweise auf Dauer verkraften kann.
IV. Was man noch sehen kann Wir haben uns bislang mit den Auswirkungen von Corona auf die Funktionsweise von Kommunikation und insbesondere von Interaktion beschftigt. Interaktion ist in sozialer Hinsicht nicht gleich Interaktion, Anwesenheit nicht gleich Anwesenheit und Kçrper nicht gleich Kçrper, schon gar nicht individueller Kçrper. Daraus folgt zum einen, dass die strukturellen Folgen wie das kollektive Erleben von Pandemien eine historische Form haben. Zum anderen muss man aus der historischen Variett der Phnomene schließen, dass die Substitute, mit denen man gegenwrtig auf die Stçrungen durch das Virus reagiert, nicht generell, sondern systembezogen zu denken sind. Corona wirkt hier als Seismograf, der die Untiefen der Strukturbildung moderner Gesellschaften an verschiedenen Stellen sichtbar macht. Vier dieser Stellen seien noch benannt: Erstens: Die allenthalben geußerten Verlusterfahrungen, die der Shutdown und die nachfolgend verordneten Einschrnkungen jenseits aller strukturellen Probleme verursacht, fhren zu einem so banalen wie in sozialtheoretischer Hinsicht grundlegenden Schluss: Die moderne Gesellschaft braucht mehr zweckfreie, also nicht unmittelbar strukturrelevante Interaktion, als man vermutet und auch in Theoriemodellen unterstellt hat. Auch wenn Unterhaltung und Freizeitgestaltung in je eigenen, hochkommerzialisierten Systemzu-
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sammenhngen betrieben werden, sind Anlsse geselliger Expressivitt und Vergemeinschaftung offenkundig durch fundamentale symbiotische Mechanismen unterlegt und modelliert, die man zu wesentlichen Teilen der Reproduktion des Bewusstseins zuschreiben muss. Das psychische System, in dessen Gedankenstrom Descartes das Sein und die Autonomie des Individuums identifizierte, ist – folgt man der Phnomenologie und den jngeren Kognitions- und Neurowissenschaften – auf den fortlaufenden Input einer Umwelt angewiesen, in der es andere psychische Systeme identifizieren und sich mit ihnen austauschen kann.10 Das Bewusstsein braucht also Gesellschaft als Bedingung der Mçglichkeit eines Selbstbewusstseins, das Motive und Absichten bei anderen identifizieren kann und mithin auch bei sich selbst. Das Medium des Sinns verflchtigt sich, wenn nicht fortlaufend die Differenz zwischen beobachtetem Handeln und anderen Mçglichkeiten zur Vermessung verfgbar ist. Zweitens: Ein anderer, ebenfalls die Theoriebildung betreffender Befund ergibt sich aus dem Verhltnis der Funktionssysteme zueinander und zu den sie tragenden Organisationen. Die von Corona ausgelçste Krise hat gezeigt: Funktionssysteme sind (weltweit!) unverzichtbare Systeme. Im Fall der Wirtschaft hat das auch vorher niemand bezweifelt. Bei Kunst vielleicht schon, aber auch deren Shutdown verursachte Stçrungen, die man nicht nur als Phantomschmerzen abtun kann. Whrend man allerdings die Zumutungen an die Kunst fr unvermeidbar hlt, kann der nationale und internationale Sport plçtzlich Systemrelevanz fr sich beanspruchen. Das hat etwas mit der Bedeutung von Organisationen zu tun. Im Fußball wie in anderen Massensportarten agieren Klubs als Unternehmen, die extrem teure, trainierte Kçrper in Bewegung setzen, um einem Publikum Emotionen und Erlebnisse zu verschaffen, fr die es bezahlen will. Das ermçglicht zielgenaue Werbung, mit der weiteres Geld zu verdienen ist. Individualsportarten sind korporativ zusammengeschlossen. Kunst hingegen ist in ihren Hervorbringungen auf individuelle Akteure und ihre Kreativitt angewiesen. Ihre Wirkung hngt an der synsthetischen Aura der Prsenz und des Ereignisses, die medial nur eingeschrnkt zu vermitteln ist.11 Unternehmen wie Fußballvereine gehen bankrott, damit wird Eigentmerkapital vernichtet samt der Arbeitspltze. Museen, Konzerthuser und ihre Orchester werden als Organisationen nicht ernst genommen, weil sie als subventionierte Staatsbetriebe gelten. Man kann daraus schließen, dass es zwar in der Moderne keine Hierarchie der Funktionssysteme gibt, dass in Krisenzeiten die Herausforderung aber gerade darin besteht, eine solche herzustellen. Dabei liegt die Vulnerabilitt von 10 Wolfgang Prinz, Selbst im Spiegel. Die soziale Konstruktion von Subjektivitt, Berlin 2013; Michael Tomasello, Die Ursprnge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt 2009. 11 Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer sthetik des Performativen, Frankfurt 2002.
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Funktionssystemen in der Reproduktionslogik ihrer Organisationen und wird im Fall von Corona auf die Frage zugespitzt, ob sich Kçrper und Anwesenheit medial vermitteln lassen oder nicht. Drittens: Corona fhrt vor Augen, welche Bedeutung Zeit in der Reproduktion moderner Gesellschaften hat. Die Krisenelastizitt der einzelnen Funktionssysteme ist unterschiedlich ausgeprgt, aber die meisten scheinen einen operativen Stillstand von mehreren Wochen nicht verkraften zu kçnnen, ohne ihre Zukunft zu verlieren. Die naheliegende Vermutung ist, dass man es mit einem Effekt von Refinanzierungszwngen zu tun hat. Das trifft zu, greift aber zu kurz. Zeit kommt in sozialen Systemen zweimal vor.12 Einmal ist sie kalendarische und chronometrische Zeit, die es erlaubt, als Normalzeit Ereignisse, Prozesse, Anwesenheiten voneinander zu entkoppeln und sie dann geplant zu bestimmten Zeitpunkten wieder zueinander in Beziehung zu setzen. Das gilt fr Interaktionssysteme und erst recht fr Organisationen. Zeit erhçht auf diese Weise die Koordinationsmçglichkeiten betrchtlich und erlaubt einen enormen Zuwachs an Komplexitt in Gesellschaft. Zeit kommt aber schon in Interaktionssystemen und erst recht in Organisationen in Form notwendiger Rekursivitt der Operationen vor. Wenn eine Gesprchsrunde in Schweigen versinkt, weil Beitrge keine weiteren mehr provozieren, wird man sie nach einer gewissen Zeit aufheben. Fr Organisationen kann man annehmen, dass dieser Drang zur Serialitt etwas mit dem vorgehaltenen personellen und sachlichen Apparat zu tun hat. Die Gebude wollen genutzt werden, das Personal soll etwas zu tun haben. Historisch kann man allerdings beobachten, dass in der Frhen Neuzeit die Grenze zwischen Korporationen und Organisationen auch dadurch markiert war, dass erstere episodenhaft operierten, letztere aber seriell und rekursiv. Geht man aus den Organisationen hinaus in die Funktionssysteme, in denen sie operieren, wird man auf die Logik der dort fr kommunikative Anschlsse sorgenden generalisierten Erfolgsmedien aufmerksam. Sie sind so gebaut, dass jede Operation weitere zur Folge hat. Bei Geld ist das am augenflligsten: Wer zahlt, setzt andere in Stand zu zahlen, und wer nicht zahlt, verhindert weitere Zahlungen. Wer Recht hat, setzt andere ins Unrecht und verschafft ihnen vorerst die Mçglichkeit der Revision. Auch in der Wissenschaft braucht jeder Satz ber die Welt, der mit Wahrheitsanspruch geußert wird, weitere Stze, die ihn besttigen oder widerlegen. Politisches Entscheiden ist darauf angelegt, dass es nachfolgend korrigierende Eingriffe gibt, sobald man die Folgen von Festlegungen sieht. Corona macht das beraus deutlich. Auch Funktionssysteme, die nicht um solche Erfolgsmedien herum gebaut sind, kçnnen sich dieser rekursiven Serialitt nicht entziehen. Erziehung beruht darauf, die psychischen Systeme kontinuierlich mit Reizen und Irritationen zu konfrontieren, damit sie sich selbst in erhoffter Weise konditionieren. Auch Sport beruht als System darauf, 12 Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag „Gegenwarten“, Wiesbaden 2008.
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dass Siege wiederholt und Rekorde berboten werden. Dabei ist die Elastizitt der Systeme, was die Taktung anbelangt, sehr unterschiedlich. Verzçgerungen, wie sie COVID-19 verlangt, verursachen in jedem Fall aber Kosten: Zinsen fr Kredite, Reputationsverluste, Bedrohung von Machtpositionen und mangelhafte Lernerfolge. Die Selbstverstndlichkeit, mit der die Klagen darber jetzt als Argumente nutzbar werden, zeigt, dass man es mit grundlegenden Phnomenen moderner Gesellschaften zu tun hat. Sie kçnnen ihre Strukturen nur durch zeitlich unmittelbar aneinander anschließende Operationen reproduzieren. Und dies muss in vielen Sozialsystemen parallel passieren. Viertens: Politik regiert in Zeiten von Corona ausgreifend. Behauptete und belegte Notwendigkeiten sind angesichts des vielen Nichtwissens oft nicht zu unterscheiden. Deswegen gewinnen Begrndungen an Attraktivitt, die mehr prozedural als durch ein verfassungsmßiges Systemverstndnis gedeckt sind. Man kann das am Missbrauch erkennen, den populistische Autokraten mit der Situation treiben. In der Bundesrepublik kçnnte anderer Schaden entstehen. Politik entwirft sich derzeit als ein Funktionssystem, das fr die Unterbrechungen und Probleme, die COVID-19 verursacht, in fast allen gesellschaftlichen Bereichen zustndig ist. Jeden zu frhen Tod aber (politisch!) um jeden Preis auf Dauer verhindern zu wollen, kçnnte in Handlungsmuster und Abwgungsprobleme fhren, die weder die Gesellschaft ernsthaft wird haben wollen noch die Politik auf Dauer wird bewltigen kçnnen. In einem Rechtsstaat moralische Politik zu betreiben, heißt, Grundrechte und das Grundgesetz als Ressource zu beanspruchen. Und wenn Politik als Eigentmerin von Unternehmen auftritt, muss man einkalkulieren, dass sie im Zweifelsfall nicht als Eigentmerin handeln kann, sondern um Whlerstimmen besorgt ist. Die Interdependenz der Systeme ebnet die Unterschiede in ihrer Systemrationalitt keineswegs ein. Prof. Dr. Rudolf Schlçgl, Universitt Konstanz, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Fach 5, Universittsstraße 10, 78464 Konstanz E-Mail: [email protected]
Die Grenzen der Solidarität Regierungstechniken in Zeiten von Corona von Heike Drotbohm und Sven Reichardt*
The Limits of Solidarity. Technologies of Government in Times of Corona This paper uses the COVID-19 pandemic to reflect on the relationship between governance and solidarity. It considers how a social model based on self-regulating individuals has been complemented by a new form of state dirigisme reliant on evocations of solidarity. However, this configuration may be approaching the limits of its viability. Given that governance relies on the robust internalization and execution of both care and control and on an ethos of renunciation, especially among the middle and upper classes, the paper proposes the need for analyses that better incorporate concepts of social inequality.
In ihrer weltweit beachteten Fernsehansprache vom 18. Mrz 2020, in der sie nicht nur die Schließung der nationalen Grenzen, sondern auch den Lockdown begrndete, appellierte Angela Merkel an die Bundesbrger „aus Rcksicht voneinander Abstand [zu] halten“. Nicht der Zwang, sondern „geteiltes Wissen und Mitwirkung“ seien in einer Demokratie die entscheidenden Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Wenn wir „herzlich und vernnftig handeln“, so Merkel, kçnnen wir Leben retten. Fr ihre Verhltnisse wurde die nchterne Kanzlerin sogar dramatisch: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“1 Widerhall fand Merkels Appell auf unzhligen Schildern und Erklrungstafeln, die beim Betreten geschlossener Rume an die Angemessenheit des Social Distancing und das Tragen von Mund- und Nasenschutzmasken erinnern. Man ist nicht nur distanziert, vernnftig und kontrolliert, indem man eine besondere Hand- und Nieshygiene bt sowie mçglichst selten die Wohnung verlsst. Vielmehr gilt als zugewandt und verantwortungsvoll, wer sich an das darin enthaltene Gebot des Verzichts hlt. Wer auf die Interaktion in grçßeren Gruppen, den Besuch bei Verwandten, Konzert-, Club- und Partybesuche,
* Wir mçchten an dieser Stelle Ute Frevert und Paul Nolte sehr herzlich fr die wertvollen Hinweise und Tipps danken, von denen wir sehr profitiert haben. 1 Fernsehansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel, „Dies ist eine historische Aufgabe – und sie ist nur gemeinsam zu bewltigen“, 18. 3. 2020, https://www. bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/ansprache-der-kanzlerin-1732108. Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 404 – 415 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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rumliche Freizgigkeit und den nchsten Urlaub verzichtet, schtzt sowohl sich selbst als auch Andere vor einer mçglichen Ansteckung.2 Auch Regierungsvertreter:innen in anderen Lndern zielten auf ein bestimmtes Verhaltensethos, das Selbst- und Fremdsorge verschrnkt.3 „Stay Home ! Protect the NHS ! Save Lives“ lautete das Motto des britischen National Health Service. Der Premierminister Japans, Shinzo Abe, bat die japanische Bevçlkerung im Februar 2020 um eine Rckkehr zu jishuku, einer Praxis der Zurckhaltung gegenber Spaß, Luxus und Feierlichkeiten.4 „#StayHome – it could save lives“ heißt es in beliebten Rahmen fr Profilbilder in sozialen Medien wie Facebook. Wie schnell diese neuen Verhaltensregeln Teil des leiblichen Selbst wurden, zeigt sich etwa an dem Unbehagen, das sich einstellt, sobald Menschen ein Geschft oder ein çffentliches Verkehrsmittel ohne Mundschutz betreten. Philipp Sarasins jngst formulierter Vorschlag, Foucaults historische Epidemiemodelle mit dem gegenwrtigen Regierungshandeln zu verbinden, dient in diesem Aufsatz als Anregung fr unsere eigene Interpretation der Gegenwart. In Anlehnung an Foucault identifiziert Sarasin drei Modelle des Regierens, die er an den Infektionskrankheiten Lepra, Pest und Pocken festmacht. Lepra stehe fr die Regierungstechnik des Ausschließens und der rumlichen Trennung, Pest fr rigorose Disziplinierung und Pocken fr ein Informationsregime, das mithilfe der Sammlung von Daten, dem Erstellen von Statistiken und medizinischen Impffeldzgen kalkuliertes Risikomanagement betrieb.5 Foucault liefert hier, so Sarasin, „Denkmodelle, um Formen der Macht nach idealtypischen Mustern“ zu entwerfen. Pandemien, so unterstreichen auch Nina Mackert und Maren Mçhring in diesem Heft, waren und sind „Experimentierfelder“ fr neue Formen des Regierens.6 Derzeit befinden wir uns in einer Phase, so unsere These, die den neoliberalen Formen der Selbstoptimierung nachfolgt.7 2 Siehe fr das Alltagsverhalten in Deutschland das Coronarchiv, ein Public-HistoryProjekt der Universitten Hamburg, Bochum und Gießen in Zusammenarbeit mit dem Medizinhistorischen Museum Hamburg und dem Museum fr Hamburgische Geschichte, Thorsten Logge u. a., Projekt Coronarchiv, https://coronarchiv.geschichte.unihamburg.de/projector/s/coronarchiv/page/willkommen. 3 Rechtspopulistische Politiker wie Donald Trump und Jair Bolsonaro haben diese staatliche Frsorge nahezu komplett verweigert und die Pandemie anfangs ignoriert und spter verniedlicht. Diese selbstherrliche Politik der Verantwortungslosigkeit und des Geschehenlassens ist insofern nicht Gegenstand unserer berlegungen, weil hier gewissermaßen gar nicht mehr regiert wird. 4 Makoto Nishi, Jishuku. Social Distancing and Care in the Time of COVID-19 in Japan, in: Social Anthropology / Anthropologie Sociale 28. 2020, H. 2, S. 331 f., doi: 10.1111/1469– 8676.12853. 5 Philipp Sarasin, Mit Foucault die Pandemie verstehen?, in: Geschichte der Gegenwart, 25. 3.2020, https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/. 6 Siehe den Aufsatz von Maren Mçhring und Nina Mackert in diesem Heft. 7 Jacques Ruffi u. Jean-Charles Sournia, Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit, Stuttgart 20004; Stefan Winkle, Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen,
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Das Gesellschaftsmodell, wonach die Individuen lernen, fr ihre Gesundheit selbst verantwortlich zu sein, indem sie sich selbst per Krebsvorsorge oder HIV-Prvention vor Risiken schtzen, wird gegenwrtig durch einen neuen staatlichen Dirigismus ergnzt. So hat Andreas Reckwitz darauf hingewiesen, dass staatliches und individuelles Risikomanagement derzeit Hand in Hand gehen. Zu der (vorlufigen?) Rckkehr des starken Staates als sozialer Regulator, als Verbots- und Disziplinaranstalt sowie als beraus finanzkrftige Wirtschaftssttze komme die staatliche Ttigkeit des „Risikomanagers“ hinzu, die allerdings auf die Selbststeuerungsfhigkeiten der Individuen zurckgreife. Menschen in Frankreich, Italien oder Spanien wurden im harten Lockdown einerseits autoritr in ihre Wohnungen „weggesperrt“, andererseits setzte man in Europa auch auf staatlich angeleitete Selbstdisziplin: Social Distancing, Hygienemaßnahmen und Selbstquarantne. Reckwitz hat dies als „Verschaltung von kollektiver und individueller Prvention“ beschrieben.8 Im Hinblick auf das Zusammenspiel zwischen gesellschaftlicher Solidaritt einerseits und staatlicher Konditionierung und Regulierung von Bevçlkerungen andererseits schlagen wir vor, den Aspekt der sozialen Ungleichheit strker in den Vordergrund zu stellen.9 Zwar scheint Angela Merkels Appell auf ein allumfassendes „solidarisches Wir“ zu zielen. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass der Staat in der Umsetzung dieses Regierens ber Solidaritt auf die Kooperationsbereitschaft einer privilegierten Mittel- und Oberschicht zielt. Mithin sind es nicht die ursprnglich universalistischen Dimensionen von Solidaritt, auf die hier rekurriert wird.10 In Zeiten von Corona geht die Umsetzung von Solidaritt vielmehr gleichzeitig mit einer neu formulierten gesellschaftlichen Verantwortungszuschreibung und mit neuen Formen des sozialen Ausschlusses einher.
I. Die Maske An kaum einem Element lsst sich die Verschrnkung zwischen Regieren, Selbstschutz und Solidarittskonzeptionen so gut ablesen wie an der MundNasen-Maske. Obwohl ihr Nutzen zu Beginn der COVID-19-Pandemie in der ffentlichkeit zunchst noch umstritten war, erwies sie sich schon frh als zugleich begehrtes und seltenes Gut, um das Regierungen in ihrem Bemhen, ihren Versorgungspflichten zu entsprechen, unter Zuhilfenahme von AusDsseldorf 20053. Vgl. zu den Grippe-Epidemien des 20. Jahrhunderts Malte Thießen (Hg.), Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Berlin 2014. 8 Andreas Reckwitz, Der Staat wird zum Risikomanager, in: Der Tagesspiegel, 5. 4. 2020. 9 Siehe dazu auch den Aufsatz von Jens Beckert in diesem Heft. Vgl. auch Hansjçrg Dilger, Corona ist ein Spiegel der Globalisierung und der durch sie verursachten Ungleichheiten, in: campus.leben-Serie „Corona. Fragen an die Wissenschaft“, Nr. 4, 3. 4. 2020, https://www.fu-berlin.de/campusleben/forschen/2020/200403-corona-interview-dilger/ index.html. 10 Kurt Bayertz (Hg.), Solidaritt. Begriff und Problem, Frankfurt 1998.
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fuhrbeschrnkungen oder Massenaufkufen konkurrierten. Internationale Lieferengpsse wurden kompensiert, indem inlndische Firmen auf die Herstellung von Masken umstellten.11 Inzwischen gelten Masken, zuweilen geschmckt mit Identittsmarkern wie modischen Farben und Stoffen, aber auch mit Organisationslogos oder nationalen und regionalen Flaggen, insbesondere in den brgerlichen Schichten gleichermaßen als vernunftbetont und schick. Aufschlussreich ist, dass der Sinn des Masketragens zu Beginn der Pandemie heruntergespielt wurde. Da die deutschen Behçrden nicht genug Masken eingelagert hatten, behaupteten selbst Regierungspolitiker:innen und das Robert-Koch-Institut (im Folgenden RKI), man kmmere sich mit dem Tragen einer Maske eigentlich nicht um sich selbst, sondern schtze „nur“ die Anderen.12 Die Maske ntze angeblich nur der Umgebung in Straßenbahn oder Supermarkt, einer weitgehend anonymen Population. Sptestens als eine ausreichende Anzahl von Masken produziert beziehungsweise eingetroffen war, wurden diese Aussagen von Politiker:innen insofern korrigiert, dass beim kollektiven Tragen von Masken Selbst- und Fremdschutz zusammengehen. Solidarisches Handeln wird somit auch zu einem Selbstschutz. Mittlerweile besttigen Untersuchungen von Virolog:innen, dass sich durch das Tragen von Masken das Infektionsrisiko um gut dreißig Prozent mindert.13 Das bekrftigten Untersuchungen aus der Zeit der SARS-Epidemie von 2003, deren Erreger genetisch zu achtzig Prozent identisch mit SARS-CoV-2 ist. Es zeigte sich, dass Menschen, die einfache OP-Masken getragen hatten, ein um siebzig Prozent geringeres Risiko hatten, sich mit SARS zu infizieren, als solche, die sich nicht auf diese Weise geschtzt hatten. Nora Szech, Verhaltensçkonomie-Professorin am Karlsruher Institut fr Technologie, kritisierte die anfngliche Kommunikation des RKI und der WHO: „Fr die Motivation, eine Mund-Nasenbedeckung zu tragen, ist immer besser, wenn die Menschen wissen, dass sie damit auch etwas fr sich selbst tun.“14
11 K. M. Beisel u. a., Die Masken fallen, in: Sddeutsche Zeitung, 17. 3. 2020, https://www. sueddeutsche.de/politik/coronavirus-masken-china-1.4847186; E. Dostert u. a., Wenn die Unterwschen-Firma plçtzlich Masken nht, in: Sddeutsche Zeitung, 9. 6. 2020, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/coronavirus-masken-unternehmen-1.4854583. 12 Jochen Wegener u. Christoph Amend, Interview mit Heiko Maas. Wie regiert es sich in Zeiten von Corona?, in: Maria Lorenz u. Pool Artists (Produktion), Podcast „Alles Gesagt?“, in: Zeit-Online, 21. 4. 2020, https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-04/heikomaas-corona-krise-interviewpodcast-alles-gesagt. 13 NDR Info, Das Coronavirus-Update mit Christian Drosten, Nr. 48: „There is Glory in Prevention“, 11. 6. 2020, https://www.ndr.de/nachrichten/info/48-There-is-Glory-inPrevention,audio696148.html. 14 Frederik Jçtten, Spte Kehrtwende. WHO und RKI sprachen sich lange gegen das Tragen von Mund-Nasen-Schutz aus, in: Spektrum der Wissenschaft, 12. 6. 2020, https:// www.spektrum.de/news/spaete-kehrtwende/1743228?utm_source=pocket-newtab-glo bal-de-DE.
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In der Deutung des Masketragens kommen also die Solidaritt anderen gegenber und die Sorge um sich selbst zusammen. Ein Vergleich mit der Einfhrung der Maskenpflicht zu anderen Zeiten ist interessant, um zu verstehen, dass Masken nicht nur als physische Barriere, sondern auch als Regierungswerkzeug und als Symbol zu verstehen sind. In seiner Arbeit ber die Mandschurische Lungenpest-Epidemie von 1910 / 11 zeigt Christos Lynteris, dass das Aufkommen des Mund-Nasen-Schutzes damals als optische Referenz auf das Zeitalter der Wissenschaft und damit als Artikulation eines chinesischen Modernisierungsbestrebens verstanden wurde. In Anlehnung an ethnologische Auseinandersetzungen mit traditionellen Maskenvarianten argumentiert der Autor, dass auch die medizinische Maske nicht einfach nur vor einem invasiven Virus schtzt. Vielmehr habe die Maske im China dieser Zeit als transformatorisches Werkzeug fungiert, das die Maskentrger:in zu einem „vernnftigen“ Subjekt der hygienischen Moderne werden ließ.15 Auch die Reaktion der kalifornischen Bevçlkerung auf die Einfhrung des Masketragens in San Francisco zur Zeit der Spanischen Grippe ist erhellend. Mitte Oktober 1918 hatte der Brgermeister der Stadt, hnlich wie heute, die Schulen und Vergngungssttten geschlossen und çffentliche Versammlungen untersagt. William Hassler, Chef des lokalen Board of Health, verpflichtete all diejenigen, die in engen Kontakt mit Kund:innen kamen, einen Mund-NasenSchutz zu tragen. Gleiches galt, ebenso wie heute, fr Warenhausangestellte und Friseur:innen. Bald darauf wurde auch auf der Straße, nmlich berall dort, wo sich mehr als zwei Menschen versammelten, das Masketragen angeordnet. Anfangs nahmen die Stadtbewohner:innen diese Maßnahmen nahezu enthusiastisch an. Der San Francisco Chronicle schrieb: „It will soon be impolite to acknowledge an introduction without a mask and the man who wears none will be likely to become isolated, suspected and regarded as a slacker.“ Die große Mehrheit folgte den Anordnungen. Die vom Roten Kreuz verteilten einhunderttausend weißen Stoffmasken waren sofort vergriffen. Und in der Tat: Binnen weniger Tage ging die Infektionsrate signifikant zurck. Allerdings ließ sich die Bevçlkerung schon unmittelbar nach dem Rckgang der Infektionsraten nicht mehr zum Masketragen bewegen. Die letzten Maskentrger wurden sogar zum Gespçtt der Leute. Als aber Anfang Dezember 1918 die Infektionen zurckkehrten und das freiwillige Masketragen erneut empfohlen wurde, geschah etwas, was aus gegenwrtiger Perspektive nicht unbekannt anmutet: Rund neunzig Prozent der Bevçlkerung verweigerten sich. Geschftsinhaber:innen wie Gaststttenbesitzer:innen frchteten um den Weihnachtsumsatz. Sogar eine Anti-Mask-League grndete sich, die Durchsetzung der am 1. Februar 1919 neuerlich erlassenen Verordnung zur Maskenpflicht war nicht mehr durchzusetzen. Die Behçrden verloren die Kontrolle und die Notfallmaßnahmen wurden ignoriert. Mdigkeit 15 Christos Lynteris, Plague Masks. The Visual Emergence of Anti-Epidemic Personal Equipment, in: Medical Anthropology 37. 2018, H. 6, S. 442 – 457, hier S. 443.
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gegenber der Bevormundung, Misstrauen gegenber den Behçrden und ihren Expert:innen wuchsen. Amerikanische Mediziner:innen klagten: die zwischenzeitliche Lockerung „lulls people into a false sense of security“.16 In Brasilien sprach man 1918 sogar von einer „Diktatur der Wissenschaft“.17 Der Appell an Selbstsorge und Solidaritt konnte also damals nur sehr kurz verfangen und das vermutlich auch nur deshalb, weil San Francisco, wie der Historiker John M. Barry in seinem Standardwerk behauptet, kurz vorher eine traumatisierende Erdbebenkatastrophe hatte bewltigen mssen.18 Anders als 1918 hat sich mittlerweile nicht nur die Qualitt des Mund-NasenSchutzes deutlich verbessert, sondern das Masketragen ist bei weiten Teilen der Bevçlkerung etabliert, nicht zuletzt aufgrund der hohen gesellschaftlichen Akzeptanz medizinischer Forschungen.19 Gleichwohl fungieren Masken auch heute noch als Grenzobjekte: Als physische Barriere unterscheiden sie zwischen Innen und Außen, Reinheit und Schmutz, geschtztem „zivilisatorischem“ Raum und mçglicher Kontamination durch die Abwesenheit von Kontrolle.20 Als visuelle, weithin sichtbare Kennzeichnung des vernunftbetonten und disziplinierten Mitbrgers wirken sie als Appell, Selbst- und Fremdschutz, Egoismus und Solidaritt untrennbar zu vereinen. Als Regierungswerkzeug untersttzen sie die Imagination und somit die Konturierung einer Gemeinschaft, indem deren Angehçrige durch die Befolgung einer solidarischen Pflicht sowohl sich selbst als auch Andere, die als Außenstehende klassifiziert werden, vor Ansteckung schtzen. Ebendiese Qualitt der Masken scheint, neben der Stçrung der Alltagsnormalitt, die Anti-CoronaProteste zu provozieren.
II. Solidarisches Verhalten Auch andere von den Regierungen verordnete oder empfohlene Maßnahmen gehen mit neuen Formen des sozialen Ein- und Ausschlusses einher. Um den Krankheitsverlauf zu verlangsamen und somit die ohnehin schon erschçpften Gesundheitssysteme zu entlasten, wurden weltweit die Bevçlkerungen angehalten, soziale Distanz zu ben, um die Kurve – also die Infektionsrate – flach 16 Smtliche Zitate sind aus dieser Studie zur Spanischen Grippe in der USA entnommen: Nancy K. Bristow, American Pandemic. The Lost Worlds of the 1918 Influenza Epidemic, Oxford 2012, S. 116 – 119. 17 Siehe dazu den Beitrag von Stefan Rinke in diesem Heft. 18 John M. Barry, The Great Influenza. The Story of the Deadliest Pandemic in History [2005], New York 2018, S. 374. 19 Bruno J. Strasser u. Thomas Schlich, The Art of Medicine. A History of the Medical Mask and the Rise of a Throwaway Culture, in: Lancet 39, 4. 7. 2020, S. 19 f. Wir danken Christoph Conrad fr den Hinweis auf diesen Artikel. 20 Geoffrey Bowker u. Susan Leigh Star, Sorting Things Out. Classification and Its Consequences, Cambridge 1999; Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1966.
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zu halten (#flattenthecurve). Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rckte dadurch das medizinische Personal, das in den Hochphasen des Infektionsaufkommens extremer berlastung ausgesetzt war. Ab Mitte Mrz entstand vereinzelt das Ritual, allabendlich um 19 : 00 Uhr fr die oft als „Alltagshelden“ titulierten Krankenschwestern, rzt:innen und Altenpfleger:innen zu applaudieren. Zunchst in Spanien und Italien hatten sich solcherlei Solidarittsbekundungen eingebrgert, die bald Verbreitung insbesondere in brgerlichen Schichten fanden. Nachbarn musizierten auf ihren Balkonen, machten sich gegenseitig Mut und bekundeten ein neues Zusammengehçrigkeitsgefhl.21 Nach den ersten Lockerungen appellierten dann viele Ladenbesitzer:innen und Restaurants, sich solidarisch zu zeigen, indem man ihren Lieferservice nutzt und lokale Geschfte untersttzt. Der Hashtag #buylocal wurde allein auf Instagram bis April 2020 fnf Millionen mal benutzt.22 Obwohl es wenig intuitiv erscheint: Vor allem die Quarantne, die Beschrnkung der individuellen Mobilitt auf den Wohnraum und der Verzicht auf Sozialkontakte, rckten die Menschen nher zusammen. In Deutschland entstanden binnen weniger Tage Tausende von Nachbarschaftsinitiativen und Helferkreisen, Ehrenamt-Portale, Internet-Plattformen, Hotlines und WhatsApp-Gruppen, mittels derer Hilfeangebote in Stdten, Landkreisen oder auch bundesweit zusammengefasst und koordiniert werden konnten. Das Spektrum reichte vom Erledigen des Einkaufs fr den Nachbarn ber das Ausfhren der Hunde und Behçrdengnge bis hin zur Kinderbetreuung. Ebenso wie in zahlreichen anderen Krisenkontexten richteten sich derartige Untersttzungsangebote nicht nur auf die Bedrfnisse der lteren, Vorerkrankten oder jene, die in sogenannten systemrelevanten Berufen arbeiteten. Vielmehr entsprach diese Art der Frsorge auch den Bedrfnissen der meist brgerlichen Helfer:innen selbst, da es ihnen im Zuge dessen gelang, sich als Teil eines neuen Gemeinschaftsgefges zu empfinden.23 In Gemeinschaften, die sich ber solidarische Praxen konstituieren, steigt nicht nur die Bereitschaft, genauer hinzuschauen, sondern auch die Tendenz sich wechselseitig – hilfsbereit oder kritisch – zu beobachten, zu berwachen und zu kontrollieren. In Salzburg fand eine Altenpflegerin einen Zettel an ihrer Wohnungstr: „Wir, die Hausbewohner, bitten Sie auszuziehen! Wir wollen keine Seuche im Haus!“ ber Flle alltglicher Denunziation wurde besonders in der Hochphase Anfang April berichtet.24 Mitte April fragte der Deutsch21 Titus Arnu, Alles in Ordnung da drben?, in: Sddeutsche Zeitung, 13. / 14. 6. 2020, S. 46. 22 Christoph Henn, Solidaritt in der Krise, in: Aufbruch. Mensch und Gesellschaft im digitalen Wandel Nr. 20 [2020], S. 8 – 10. Das Magazin gehçrt zum Megakonzern google, goo.gle/aufbruch-de. 23 Liisa Malkki, The Need to Help. The Domestic Arts of International Humanitarianism, Durham 2015. 24 Rosemarie Schwaiger, Polizeistaat. Die neue Lust am Strafen, Bespitzeln und Denunzieren, in: Profil, 9. 4. 2020, https://www.profil.at/oesterreich/polizeistaat-coronastrafen-bespitzeln-denunzieren-11439938?utm_source=pocket-newtab.
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landfunk: „Macht die Corona-Krise uns zu Denunzianten?“ „Die Bereitschaft zur Denunziation ist bengstigend“ titelte am 12. April 2020 der Berliner Tagesspiegel. Lorenz Caffier, Landesinnenminister von Mecklenburg-Vorpommern, sprach von einem „bengstigenden Meldeverhalten“. Die Landesregierung hatte mit Wirkung vom 19. Mrz „touristische Reisen aus privatem Anlass“ untersagt.25 Dass diese Anordnung entsprechendes Verhalten fçrderte, berichtete die Berliner Tageszeitung: Auf Windschutzscheiben von ortsfremden Autos klebten Zettel: „Du bringst uns Corona“. Auf Usedom sollen Autos mit Nummernschildern vom Festland mit Steinen beworfen worden sein. Hinweiszettel fanden sich an Autos von Ortsansssigen mit fremden Nummernschildern, auf denen die Halter in großen Lettern mitteilten, „kein Tourist“ zu sein. Zahlreiche Berliner:innen machten in Brandenburg hnliche Erfahrungen, weil sie als privilegierte Stadtmenschen mit einem Zweitwohnsitz in der Lausitz oder anderswo mit Erlassen und Verfgungen konfrontiert wurden, sich dort nicht aufhalten zu drfen. Auch Menschen, die schon jahrzehntelange Kontakte in diese Dçrfer und Kleinstdte unterhielten, wurden mit dem Misstrauen der Einheimischen konfrontiert.26 In der Krisensituation einer „verkehrten Welt“ (Martin Geyer) funktionieren Denunziationen wie ein soziales Ventil: Die vermeintlich Schwcheren nutzen ihre Chance, um sich an den vermeintlich Strkeren, in unserem Fall also den „zugezogenen Neureichen“, zu rchen. Als Kompensation der eigenen Schwche fungiert die rechthaberische Teilnahme am starken Staatsapparat. Auch Rachegelste oder die Unterdrckung eigener Wnsche, die von anderen umgesetzt werden, kçnnen Denunziationen befeuern.27 Und die Gemeinschaft besttigt sich durch den Ausschluss. Tolerantes Verhalten wird in Krisensituationen reduziert. Denunziationen werden in diesen Situationen wahrscheinlicher, wenn Politiker wie der bayerische Innenminister auch noch dazu aufrufen, vermeintliche Regelverstçße zu melden.28 25 Siehe dazu auch den Beitrag von Ute Frevert in diesem Heft. 26 Teresa Nehm im Gesprch mit Rafael Behr, Andere anschwrzen. Macht die CoronaKrise uns zu Denunzianten?, in: Deutschlandfunk Nova, 7. 4. 2020, https://www.deutsch landfunknova.de/beitrag/macht-corona-uns-zu-denunzianten-fuenf-fragen-an-einen-ex perten; Jost Mller-Neuhof, Die Bereitschaft zur Denunziation ist bengstigend, in: Der Tagesspiegel, 12. 4. 2020, https://www.tagesspiegel.de/politik/corona-regelverstoesse-diebereitschaft-zur-denunziation-ist-beaengstigend/25735712.html; Felix Hackenbruch u. Kai Mller, So vergiftet das Coronavirus die Atmosphre in deutschen Urlaubsgebieten, in: Der Tagesspiegel, 2. 4. 2020, https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/touristenverboten-so-vergiftet-das-coronavirus-die-atmosphaere-in-deutschen-urlaubsgebieten/ 25706758.html. 27 Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne. Mnchen 1914 – 1924, Gçttingen 1998. Zur Denunziationsforschung siehe Anita Krtzner (Hg.), Hinter vorgehaltener Hand. Studien zur historischen Denunziationsforschung, Gçttingen 2015; Karl-Heinz Reuband, Das NS-Regime zwischen Akzeptanz und Ablehnung. Eine retrospektive Analyse von Bevçlkerungseinstellungen im Dritten Reich auf der Basis von Umfragedaten, in: GG 31. 2006, S. 315 – 343. 28 Nehm im Gesprch mit Behr, Andere anschwrzen.
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Solidaritt und Denunziation erscheinen auch hier als Teil ein und desselben Prinzips: als Inkarnation und Verinnerlichung staatlicher Sicherheitspolitik, sowohl von ihrer frsorglichen als auch ihrer repressiven Seite. Whrend privilegierte Gruppen ihre Frsorgeleistung ostentativ erkennbar machten, erwiesen sich die Denunziationen als soziales Ventil.
III. Corona-Apps Um die sozialen Friktionen zu lindern, sollte die mit kollektiver Ungeduld erwartete Corona-Warn-App eine Beobachtungstechnik einfhren, die die unmittelbaren berwachungen auf eine elektronische Sicherheitsarchitektur projiziert. Sie kçnne zum „Begleiter und Beschtzer“ werden, wie die Bundesregierung auf ihrer Website mitteilte.29 Vor allem in Deutschland war viel Wert auf den Anspruch gelegt worden, dass keine persçnlichen Daten zentral erfasst werden und dass weder die Entwickler:innen noch die Betreiber:innen erfahren wrden, wer sich hinter den jeweiligen IDs verbirgt. In dem fr berwachungstechniken typischen Mix aus privaten Unternehmen und staatlichen Behçrden wurde diese Technik entwickelt, die in Deutschland in den ersten acht Tagen bereits 11,8 Millionen Nutzer:innen, berproportional solche mit eher kostspieligen iPhones, heruntergeladen hatten. Am 28. Juli 2020 konnten in Deutschland 16,4 Millionen Downloads registriert werden, was einer Durchdringung in der Bevçlkerung von knapp zwanzig Prozent entspricht.30 Wie sehr europische Demokratien bei der Installation der App auf das freiwillige Solidarittsverhalten ihrer Brger:innen setzen, zeigt der Vergleich mit der Demokratie in Sdkorea. Dort setzte man bereits seit Mrz 2020 auf eine Tracking-App. Diese Technik lebt im Unterschied zu unserem KontaktTracing von Verordnungen, staatlichen Kontrollen und Disziplinarmaßnah-
29 Bundesregierung Deutschland, Coronavirus in Deutschland. Video-Podcast: „Je mehr mitmachen, desto grçßer der Nutzen“, 20. 6. 2020, https://www.bundesregierung.de/bregde/themen/buerokratieabbau/je-mehr-mitmachen-desto-groesser-der-nutzen-1762982. 30 Fabian A. Scherschel, Corona-Warn-App. Quellcode-Analyse eines beispiellosen OpenSource-Projektes, in: heise online, 4. 6. 2020, https://www.heise.de/hintergrund/CoronaWarn-App-Quellcode-Analyse-eines-beispiellosen-Open-Source-Projektes-4774655. html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE; dpa, Kompletter Programmcode der Corona-Warn-App verçffentlicht, in: heise online, 1. 6. 2020, https://www.heise.de/news/ Kompletter-Programmcode-der-Corona-Warn-App-veroeffentlicht-4770670.html; Leo Becker, Corona-Warn-App. iPhone-Nutzer angeblich berreprsentiert, 22. 6. 2020, https://www.heise.de/news/Corona-Warn-App-iPhone-Nutzer-angeblich-ueberreprae sentiert-4791616.html; Philip Banse u. a., Podcast: Lage der Nation, Folge 195: „CoronaWarn-App, Corona-Update, Amthor auf Abwegen, Trojanereinsatz durch Geheimdienste“, 20. 6. 2020; Manuel Medicus, Corona-Warn-App. Downloads knacken 16-MillionenMarke, in: connect, 13. 8. 2020, https://www.connect.de/news/corona-warn-app-down load-zahlen-3200860.html.
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men, weniger von der Sorge und dem solidarischen Verhalten der Brger:innen.31 Aufgrund der staatlichen Sammlung der Daten alarmiert die App die Benutzer:innen, wenn diese sich einem Ort nhern, an dem sich jemand aufgehalten hat, der oder die sich infizierte. Die App erfasst das Geschlecht, das Alter, das Wohnviertel und die Fallnummer des Infizierten. Die App, die fr alle nach Sdkorea Einreisenden verpflichtend ist, wurde seit April auch mit einer automatisierten Erkennung der Personalausweisnummer gekoppelt. Sie erfasst den tglichen Gesundheitszustand der Einreisenden bis 14 Tage nach Ankunft in Sdkorea. Die Technik nutzt zudem GPS-Bewegungsdaten, wobei sich strafbar macht, wer die Quarantne ohne staatliche Erlaubnis verlsst.32 Derzeit werden nach Auskunft von Human Rights Watch in rund zwanzig Lndern die Aufenthaltsorte der Benutzer:innen durch Corona-Apps erfasst. In Polen werden auf diesem Wege Quarantneauflagen berwacht und in China ordnen die Gesundheitspsse den Handybenutzer:innen Risikowerte zu. Aufenthaltsorte, Kontakte mit Dritten und Kçrpertemperaturen werden berwacht und per Farbcode wird festgelegt, ob die registrierten Personen çffentliche Gebude betreten drfen oder nicht.33 Wie sich hier zeigt, dehnt sich staatliche berwachung und Kontrolle im Zuge der Coronakrise zweifellos aus: in Diktaturen ebenso wie in Demokratien, jedoch in jeweils unterschiedlichem Ausmaß. Von dieser Art der berwachung ist man in Deutschland weit entfernt. Die hiesige Tracing-App hat aber Grenzen, die nicht nur mit ihrer eingeschrnkten Funktionalitt zusammenhngen. So ist sie, in den Worten des Leiters des Berliner Gesundheitsamtes, vor allem ein „Spielzeug fr die digitale Oberklasse“. In beengten Verhltnissen, in den Sozialwohnungen der Berliner Brennpunkte etwa, ntze die App, die auf lteren Handys nicht einmal installiert werden kann, nur wenig.34 Das trgerische Sicherheitsgefhl, das sich der Bevçlkerung mit dieser Technik des Tracing vermittelt, ist sympto31 Beim Tracking werden die Aufenthaltsorte und Bewegungsprofile gespeichert, whrend beim Tracing lediglich erfasst wird, welche Gerte sich fr eine bestimmte Zeit nherkommen. 32 O. A., Her mit den Bewegungsdaten, in: Der Spiegel, 25. 4. 2020, https://www.spiegel.de/ wissenschaft/technik/suedkorea-tracking-app-gegen-das-coronavirus-a-d834c63dd308-466c-a77 f-51d6c23e5e10; Dennis Horn, Corona-App. Sdkorea ist kein gutes Beispiel, in: WDR-Blog Digitalistan, 14. 4. 2020, https://blog.wdr.de/digitalistan/coronaapp-suedkorea-ist-kein-gutes-beispiel/. Siehe auch die grundstzlichen Informationen und die gute Zusammenstellung bei Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/COVID19-Pandemie#Ma%C3 %9Fnahmen_zur_Sammlung_von_Kontakt-_und_Bewegungs daten. 33 Tim Wiese und Teresa Sickert, Technische Entwicklung whrend Corona. Die Folgen von Gesundheitsapps und Pflegerobotern, in: Deutschlandfunk Kultur, Breitband, 25. 7. 2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/technische-entwicklungen-waehrend-corona-die-folgen-von.1264.de.html?dram:article_id=481239. 34 Jan Heidtmann, Interview mit Patrick Larscheid, „Ein Spielzeug fr die digitale Oberklasse“, in: Sddeutsche Zeitung, 18. 6. 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/ corona-app-reinickendorf-gesundheitsamt-1.4939185.
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matisch fr den in Deutschland wie in vielen anderen europischen Lndern sozial verengten Aufmerksamkeits- und Verantwortungsradius.35 Die Befrchtung, exklusive Clubs oder edle Restaurants kçnnten das Vorzeigen der Unbedenklichkeit auf der Warn-App zur Bedingung des Eintritts machen, scheint nicht aus der Luft gegriffen.36
IV. Schluss: Die Grenzen der Solidarität Unsere Beispiele konnten zeigen, wie der Staat in der Gegenwart die Verklammerung von Solidaritt und Kontrolle anleitet. Der neoliberale Solidarittsappell der Regierung funktioniert nur, wenn beide Imperative verinnerlicht werden, wenn sich die Individuen, gewissermaßen wie Staaten, ihren Mitmenschen gegenber sowohl frsorglich als auch strafend und kontrollierend verhalten. Gleichzeitig zielt der Staat dabei auf die Kooperationsbereitschaft bestimmter, nicht nur williger, sondern auch sozial entsprechend ausgestatteter, privilegierter Schichten. Dass diese Aufforderung zur Solidaritt viele Menschen berfordert und (aus unterschiedlichen Motiven) der staatliche Appell als Bevormundung empfunden wird, ist die eine Seite der Medaille. „Hamsterkufe“, Hetze und Verschwçrungsnarrative, aber auch die sogenannten „Anti-HygieneDemonstrationen“ sind Beispiele dafr. Die andere ist, dass Solidaritt hier nicht nur eine bestimmte politische Haltung, sondern vor allem eine soziale Praxis meint, die vergleichsweise privilegierte Lebensverhltnisse erfordert und erhebliche Ressourcen voraussetzt: eine weitgehend frei und unabhngig gestaltbare Umgebung ohne Enge und allzu große kçrperliche Nhe mit Anderen, einen freien Zugang zu medizinischer Versorgung sowie, vor allem, Arbeitsverhltnisse, die Abstandswahrung und Hygiene erlauben. Zahlreiche Lebens- und Interaktionsformen sind mit diesen Anforderungen nicht vereinbar. Bezeichnend ist, dass manche Orte der Kollektivierung, wie Altenheime, Kindergrten oder Schulen, als besonders gefhrdend gelten und dass Hygienefragen hier als besonders kritisch angesehen werden – was bei Altenheimen mit noch strengeren Zugangsregeln und bei Kindergrten,
35 Vor der Einfhrung in Deutschland am 16. 6. 2020 gab es bereits in 8 Lndern von China bis Australien, von sterreich, Frankreich und Island bis nach Singapur und Sdkorea das technologische Verfahren des Tracing und Tracking. In Großbritannien braucht es noch bis in den Winter, bis dort eine eigene Warn-App entwickelt ist. Siehe o. A., Großbritannien gibt Entwicklung von Tracing-App auf, in: Die Zeit, 18. 6. 2020, https:// www.zeit.de/digital/2020-06/corona-warn-app-grossbritannien-entwicklung-daten schutz?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE. Die Schweiz wiederum hat am 26. 6. 2020 ihre SwissCovidApp zum Zwecke des Tracing freigeschaltet. 36 Wolfgang Janisch, Einlass nur mit App auf dem Handy!, in: Sddeutsche Zeitung, 16. 6. 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-warn-app-smartphonepflicht-1.4937787?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE.
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Schulen und Universitten in ihrer Schließung beziehungsweise in der Digitalisierung dieser Interaktion mndete. Ganz anders sieht es jedoch mit jenen Kollektivierungssttten aus, an denen unser neu formiertes „solidarisches Wir“ an seine Grenzen kommt. Im Mai 2020 gab das Verwaltungsgericht Mnster einer schwangeren Asylsuchenden recht, dass in einer zentralen Unterbringung die Einhaltung des gebotenen Mindestabstands und damit die Gewhrleistung eines ausreichenden Ansteckungsschutzes nicht gegeben sei.37 Die hohen Infektionszahlen unter den – in der Regel aus Osteuropa stammenden – Arbeiter:innen in der Fleischindustrie und bei den Erntehelfer:innen unterstreichen einmal mehr, dass die Umsetzung der von der Regierung verordneten Abstands- und Hygieneregeln nicht berall befolgt werden kann.38 Trotzdem werden in den Schlachtbetrieben, Arbeiterunterknften und Erstaufnahmeeinrichtungen – also dort, wo Social Distancing angesichts rumlicher Enge verunmçglicht wird oder der Mangel an Wasser und hygienischem Sanitr mit erhçhter Ansteckungsgefahr einhergehen kann – keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen eingefhrt, sondern Ansteckungsrisiken hingenommen. Diese Einschrnkungen und Belastungen gelten freilich nicht nur in den Massenunterknften Europas, sondern weltweit, wo Menschen in besonders beengten und benachteiligten Verhltnissen leben und arbeiten. Nicht alle kçnnen es sich leisten zu verzichten und moralisches Kapital fr ihr Verhalten reklamieren: durch die Arbeit im großzgigen Homeoffice, durch den temporren Verzicht sowohl auf Kulturveranstaltungen als auch auf die Beschulung der Kinder. Gesellschaftliche Verantwortung wird so zu einer privilegierten bernahme des Regierungsgebots von Mittel- und Oberschichten und zum wohlfeilen Beweis moralischer berlegenheit. Prof. Dr. Heike Drotbohm, Johannes Gutenberg-Universitt Mainz, Institut fr Ethnologie und Afrikastudien, Forum Universitatis 6, 55099 Mainz E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Sven Reichardt, Universitt Konstanz, Professur fr Zeitgeschichte, Universittsstr. 10, 78457 Konstanz E-Mail: [email protected]
37 Verwaltungsgericht Mnster, Justiz-online. Die NRW-Justiz im Internet, Beschluss: Schwangere Asylsuchende muss wegen Corona-Ansteckungsgefahr nicht weiter in Aufnahmeeinrichtung fr Flchtlinge wohnen, 11. 5. 2020, https://www.vg-muenster. nrw.de/behoerde/presse/10_pressemitteilungen/14_200511/index.php. 38 Ulrike Krause, Die Folgen von COVID-19 fr Flucht und Geflchtete. Eine neue Reihe auf dem FluchtforschungsBlog, in: FluchtforschungsBlog, 30. 5. 2020, https://blog. fluchtforschung.net/die-folgen-von-covid-19/; Manuela Boatca˘, Du sollst den Spargel ehren, in: Katapult, 30. 4. 2020, https://katapult-magazin.de/de/artikel/artikel/fulltext/ du-sollst-den-spargel-ehren/.
Corona-Dispositive Regularisierungen der Moderne in zeithistorischer Perspektive von Paul Nolte
Corona Dispositives. Regulations of Modernity in Historical Perspective For historians of the twentieth century, the politics and discourse of the Covid pandemic closely resemble fundamental patterns of “high modernity”, a type of modern society that was prevalent in Europe and North America from the late nineteenth century into the 1970s. The return of claims to expert rule, the political attempt at grand social engineering, and the quest for holism are indicators for a continuation of those mechanisms, under conditions of crisis, into the twenty-first century. They may be analyzed as “dispositives” in the Foucauldian sense, as regulatory mechanisms at the juncture of knowledge, discourse, and power. As the example of Germany shows, the politics of Covid also reaffirm path dependencies in national trajectories of political culture and political economy.
Seit dem Frhjahr 2020 hat die Coronapandemie tief in die Strukturmuster der Weltgesellschaft eingegriffen. Der Ausgang ist offen, und die Geschichts- und Sozialwissenschaften werden noch lange mit Deutungsversuchen beschftigt sein – ebenso wie die betroffenen Gesellschaften mit Formen der Erinnerung und der Bewltigung eines Traumas ringen werden. Einige Umrisse jedoch zeichnen sich ab, und deshalb ist es nicht zu frh fr die Frage: Welche politischen Reaktionsweisen, welche gesellschaftlichen Ordnungsmuster, welche Sprechweisen und kulturellen Stile hat die Pandemiekrise hervorgebracht? Und wie fgen sie sich in die Entwicklung moderner (in diesem Falle: westlicher, nordatlantischer) Gesellschaften ein, wie sie von der Zeitgeschichte und den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften derzeit verstanden wird? Knapper kçnnte man formulieren: Wie lsst sich „Corona“ in die Dispositive der Moderne einordnen? Trotz mannigfacher Kritik hat der Begriff der Moderne in der Geschichtswissenschaft – nicht nur in der Zeitgeschichte, sondern auch in der Frhneuzeitforschung – eine bemerkenswerte Konjunktur erfahren.1 In der Zeitgeschichte entfaltet vor allem das Konzept der „Hochmoderne“ als einer Epoche, die mit
1 Vgl. nur Ulrich Beck u. Martin Mulsow (Hg.), Vergangenheit und Zukunft der Moderne, Berlin 2014; Ute Schneider u. Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift fr Christof Dipper, Frankfurt 2008. Auch an die sozialwissenschaftlichen Diskussionsstrnge von Ulrich Beck, Zygmunt Bauman oder Bruno Latour wre zu denken. Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 416 – 428 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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ihren Strukturmerkmalen wie Fortschrittsglaube, Wirtschaftswachstum und social engineering die Zeit von den 1880er Jahren bis in die 1970er Jahre umfasst, erhebliche Wirkung.2 Das gilt auch fr die mittlerweile fast fnf Jahrzehnte nach dem vermeintlichen Ende dieser ra, gleich ob man diese als „Postmoderne“, als Zeitalter des „Neoliberalismus“ oder noch anders fasst. Das Epochenverstndnis hat sich dabei auf charakteristische Weise mit einem Zugriff verknpft, der jenseits lterer sektoraler Unterscheidungen von Politik-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte auf bergreifende „Ordnungsmuster“ der Moderne zielt, auf Strukturbildungen, die bisweilen strker materialistisch, bisweilen mehr idealistisch gedacht werden, fast immer jedoch in Wissensordnungen und Diskursmustern verankert sind.3 So nhert sich der Begriff des Ordnungsmusters demjenigen des „Dispositivs“ bei Michel Foucault an, den man als diskursive, aber im praxeologischen Sinne zugleich handlungswirksame Regularisierung gesellschaftlicher Verhltnisse verstehen kann.4 Dann lautet die Frage: Welche Dispositive, welche „Bemusterungen“ oder Patterns hat die Pandemiekrise erzeugt, und in welchem Verhltnis stehen sie zu den Ordnungsmustern der (Hoch-)Moderne?5 Der Krisenbegriff tritt dabei in den Hintergrund; Historiker:innen sind generell vorsichtig mit seiner Verwendung geworden, weil in ihn immer schon – von der „Krise der Weimarer Republik“ bis zur „Coronakrise“ – spezifische zeitgençssische Deutungsmuster und Handlungsstrategien eingelassen sind, die es zu dekonstruieren gilt.6 Gegen die ereignishaft zugespitzten Konnotationen des Krisenbegriffs geht es im Folgenden um Musterbildungen, um Regularisierungen des Denkens und Verhaltens – in einer, gewiss, disruptiven und potenziell transformativen Situation.
2 Vgl. nur Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: JMEH 3. 2006, S. 5 – 21; in historiografischer Anwendung: ders., Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Mnchen 2014. 3 Einflussreich sind hier besonders die Arbeiten von Lutz Raphael, z. B.: Ordnungsmuster und Deutungskmpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Gçttingen 2018; außerdem: Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbçgen des 20. Jahrhunderts, in: VfZ 62. 2014, S. 321 – 348. 4 In freier Anlehnung an Michel Foucault, Dispositive der Macht. ber Sexualitt, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978. 5 Nicht explizit unter dieser Fragestellung, aber mit wichtigen und anregenden Beitrgen dazu: Michael Volkmer u. Karin Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven fr die Zukunft, Bielefeld 2020. 6 Vgl. nur Moritz Fçllmer u. Rdiger Graf, Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt 2005. Fr das Potenzial, aber auch die (schmittianischen) Fallstricke des Krisenbegriffs stehen klassisch: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der modernen Welt, Freiburg 1959; Christian Meier, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der spten rçmischen Republik, Wiesbaden 1966 („Krise ohne Alternative“). Eine kritische Analyse der Corona-„Krise“, also des spezifischen Krisendiskurses der Pandemie, wre beraus lohnend, kann hier aber nicht geleistet werden.
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I. Die Rückkehr der Hochmoderne? Insofern war es, aus zeithistorischer Sicht, weniger bemerkenswert, dass frh nach Vergleichen mit frheren Pandemien gefragt wurde, insbesondere der Spanischen Grippe, aber auch „vergessener“ Pandemien nach 1945 wie der Hongkong-Grippe am Ende der 1960er Jahre, die allein in der Bundesrepublik vermutlich einige zehntausend Opfer forderte. Auffllig, geradezu frappierend, war vielmehr, wie die Coronadebatten seit dem Frhjahr 2020 diskursive Grundmuster reaktivierten, die Historiker:innen des zwanzigsten Jahrhunderts sehr vertraut vorkommen mussten, ja geradezu den Grundstoff der Interpretationen dieses Jahrhunderts beziehungsweise der Epoche der Hochmoderne geliefert hatten. Mit dem Sog nach medizinischer Expertise und dem Aufstieg von Virologen zu çffentlichem Einfluss, bisweilen quasi-religiçser Stilisierung („der tgliche Podcast“) und nicht zuletzt erheblichem politischen Einfluss war die Frage nach dem Expertenwissen und der Expertenherrschaft wieder aufgeworfen, die im Zuge der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ einerseits, dem Zweifel an liberal-demokratischen politischen Ordnungen andererseits um die vorletzte Jahrhundertwende entstanden war.7 Die historische Deutung der letzten zwei Jahrzehnte richtete ihre Scheinwerfer auf die ambivalenten Folgen einer Verwissenschaftlichung: zunchst und vor allem im Aufstieg der modernen Naturwissenschaften, dann auch in den diesen methodologisch (Empirie, Positivismus) ebenso wie im Anspruch auf politisch-kulturelle Hegemonie nacheifernden Sozialwissenschaften um 1900. In Deutschland war die wissenschaftliche Stoßrichtung, aber auch der implizite politische Subtext dieser Forschungen unbersehbar: Es ging um neue Erklrungen fr den Aufstieg des Nationalsozialismus und darber hinaus der diktatorischen und gewaltsamen Regime der ersten Hlfte des zwanzigsten Jahrhunderts, einschließlich des stalinistischen Kommunismus. Doch die Ordnungsmuster der Hochmoderne umfassten auch liberal-demokratische Gesellschaften, die im mittleren Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, wie immer wieder an den USA und an Schweden gezeigt wurde, mit
7 Vgl. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen. Wissens- und Sozialordnungen im Europa des 20. Jahrhunderts, in GG 22. 1996, S. 165 – 193; wieder in: ders., Ordnungsmuster, S. 13 – 44; auch: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900 – 1933, Mnchen 2007. Freilich zugleich: die Frage nach der Gegen- bzw. Anti-Expertise, nach einer „Misstrauensgemeinschaft“ (Sven Reichardt), von der zumindest umstritten sein drfte, ob sie sich auf die berechtigte Kritik an expertologischer Eindeutigkeit in der Vergangenheit berufen kann. Siehe das Interview mit Reichardt bei Jrgen Graf, Vertrauensverlust und Wissensermchtigung. Die aktuellen Anti-Corona-Proteste sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Vertrauensverlustes. Der Konstanzer Historiker Prof. Dr. Sven Reichardt im Interview, 28. 9. 2020, https://www.campus.uni-konstanz.de/wissenschaft/vertrauens verlust-und-wissensermaechtigung.
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hnlichen Vorstellungen des social engineering, der wissenschaftlich-technisch begrndeten Steuerung einer Bevçlkerung operierten, die wie das schwedische Konzept des „Volksheims“ eher kollektivistisch als individualistisch angelegt waren.8 Insofern ist der Zeitgeschichte der Hochmoderne neben der Warnung vor der Gefhrdung liberaler Demokratien durch alternative, vermeintlich rationalere, weil szientifisch fundierte Modelle der Governance wie die Expertenherrschaft etwas weiteres eingeschrieben: eine Selbstkritik demokratischer Gesellschaften „nach dem Boom“,9 gewissermaßen die Erleichterung darber, dass der Irrglaube an die Expertenherrschaft, der szientifische Objektivismus und der Anspruch auf die großflchige, normierende und disziplinierende Verhaltenssteuerung von Kollektiven berwunden seien. An seine Stelle traten seit den 1960er Jahren radikale Individualisierung und Autonomie, dezentrale Strukturen demokratischer Governance durch soziale Bewegungen, Protestkulturen und Zivilgesellschaft. Dazu gehçrt auch jener postfaktische kulturelle Relativismus und Zweifel an (westlicher, rationaler) Wissenschaft, der zugleich Gegenstand heftiger Debatten ist.10 Wahrscheinlich sind einige dieser soziokulturellen Trends des letzten halben Jahrhunderts schon „vor Corona“ abgebremst, umgeleitet oder neu definiert worden. Das gilt fr die postmodernen Objektivittszweifel angesichts populistischer Bewegungen mit ihrer Faktenfeindschaft und Wissenschaftsverleugnung ebenso wie fr radikale Autonomie und Individualismus im Zeichen neuer Solidaritten, fr die Konzepte wie „Commons“ und „Sharing Economy“ stehen mçgen.11 Gleichwohl hat die COVID-19-Pandemie offensichtlich solchen Ordnungsmustern wieder Auftrieb gegeben, die dem regulatorischen, dem expertokratischen, dem kollektiv verhaltenssteuernden und „versicherheitlichten“ Dispositiv der Hochmoderne entsprechen. Die Gouvernementalitt der Coronabewltigung knpft an Strategien der Produktion von Sicherheit an, wie sie die zeithistorische Forschung insbesondere fr die Jahrzehnte nach 1945 – im Zeichen des Kalten Krieges ebenso wie der
8 Dazu vor allem die Arbeiten von Thomas Etzemller, hier nur Thomas Etzemller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009; ders., Die Romantik der Rationalitt. Alva und Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden, Bielefeld 2014; vgl. außerdem, auch zum Folgenden: Lutz Raphael (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Kçln 2012; Anselm Doering-Manteuffel (Hg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, Mnchen 2006. 9 Vgl. nur Anselm Doering-Manteuffel u. Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Gçttingen 20123; Morten Reitmayer u. Thomas Schlemmer (Hg.), Die Anfnge der Gegenwart. Umbrche in Westeuropa nach dem Boom, Mnchen 2014. 10 So jedenfalls ein bei allen Varianten und Nuancen (auch der politischen Bewertung) weithin unumstrittene Narrativ der zeithistorischen Forschung. 11 Vgl. z. B. Silke Helfrich u. Heinrich-Bçll-Stiftung (Hg.), Commons. Fr eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Bielefeld 2012.
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Expansion des Wohlfahrtsstaates – detailliert herausgearbeitet hat.12 Das seit den 1980er Jahren, in Deutschland vor allem um die Jahrtausendwende dominant gewordene neoliberale Dispositiv der individuellen Verantwortung und Risikobewltigung, der unsolidarischen „Ich-AG“, ist dagegen deutlich zurckgetreten.13 Die staatlichen Strategien der Pandemiebewltigung, einschließlich des viel diskutierten Primats der Exekutive beziehungsweise des Bedeutungszuwachses staatlichen Ordnungshandelns, bilden sich ziemlich treffend in jenen Begriffen ab, die Michel Foucaults zweibndiger „Geschichte der Gouvernementalitt“, also die Vorlesungen am Coll ge de France 1978 / 79, zugrunde liegen: Sicherheit – Territorium – Bevçlkerung – Biopolitik.14 In diesem Viereck hat sich im Frhjahr und Sommer 2020 auch die Corona-Gouvernementalitt konstituiert: mit einem starken Primat der Sicherheit und der unmittelbaren Risikovermeidung, der mittelbare Risiken des Lockdowns und eines Shutdowns der Wirtschaft mindestens zeitweise ganz klar hintanstellte – nicht nur Risiken fr den Wohlstand oder in Familien, sondern auch sekundre Gesundheitsrisiken (aufgeschobene Arztbesuche). Das resultierte aus einem rationalen, quasi-szientifischen Primat des Berechenbaren: CovidInfektionen und Covid-Tote ließen sich unmittelbar in Zahlen darstellen, andere Parameter wie die eben beispielhaft genannten dagegen nicht. Die Territorialitt politischen und sozialen Handelns gewann plçtzlich, nicht nur fr marginalisierte Gruppen mit Freizgigkeitsbeschrnkungen wie Migrant:innen oder Asylsuchende, eine enorme Bedeutung. Sie manifestierte sich auf der Ebene der Nationalstaaten und ihrer Grenzsicherung wie auch in kleineren Einheiten wie Landkreisen oder Gemeinden, die seit der Durchsetzung allgemeiner Freizgigkeit im Deutschen Kaiserreich keine unmittelbar verhaltensreglementierende Bedeutung mehr gehabt hatten. Die vehementen und robusten staatlichen Strategien zur Bekmpfung der Pandemie ordneten sich, so kçnnte man weiter mit Foucault sagen, in ein Muster der Biopolitik ein, das prinzipiell gleichmßig und großflchig die (nationalen) Bevçlkerungen erfasst, was nicht heißt, dass Corona beziehungs-
12 Vgl. Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, Mnchen 2009; Cornel Zwierlein (Hg.), Sicherheit und Epochengrenzen, Gçttingen 2012 (= Themenheft „Sicherheit und Epochengrenzen“, GG 38. 2012, H. 3, hg. v. Cornel Zwierlein); Arnd Bauerkmper u. Natalia Rostislavleva, Sicherheitskulturen im Vergleich. Deutschland und Russland / UdSSR seit dem spten 19. Jahrhundert, Paderborn 2014. 13 Vgl. z. B. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 14 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalitt, Bd. 1: Sicherheit, Territorium, Bevçlkerung u. Bd. 2: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt 2004. Dazu u. a. Susanne Krasmann u. Michael Volkmer (Hg.), Michel Foucaults „Geschichte der Gouvernementalitt“ in den Sozialwissenschaften, Bielefeld 2007. Siehe auch den Beitrag von Heike Drotbohm und Sven Reichardt in diesem Heft.
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weise der Umgang damit keine Ungleichheiten produziere oder verstrke.15 Dieser totalisierende Zugriff war eine Schockerfahrung fr „post-hochmoderne“ demokratische Gesellschaften, die nach Jahrzehnten der Expansion von Individualismus und Autonomie, ja der kulturellen Prmiierung von Diversitt und Nonkonformitt plçtzlich wieder die hochmoderne Erfahrung einer kollektiven Verhaltensnormierung machen mussten. Diese Normierungen griffen tief in das Alltagsleben ein, nicht zuletzt im Sinne einer „Biopolitik“ in kçrperliche Dispositionen der Nhe, der Bezeugung von Vertrauen (wie im Handschlag) und Intimitt (wie in der Umarmung).16 Die Maßnahmen zur Eindmmung der Pandemie waren gewiss nicht als ein Sozialexperiment intendiert, schon gar nicht als ein Experiment in Verfolgung eines außerhalb der Pandemiebekmpfung liegenden Zweckes. Aber im Ergebnis, als eine Struktur der Gouvernementalitt und der Erzeugung von Verhaltensdispositionen, als ein Dispositiv des social engineering, verdichteten sie sich zu einem „Experiment der Moderne“, das in der Kontinuitt hochmoderner Ansprche auf Gesellschaftssteuerung und Ordnungsbildung steht.
II. Corona-Dispositive: Denkmuster, soziale Ordnungen, Gouvernementalitäten Inmitten der historischen Situation ist es nicht einfach, sich auf den Hgel zu stellen und einen berblick ber Transformationen und Kontinuitten der Pandemiegesellschaften zu gewinnen. Aber es spricht viel dafr, dass die UmOrdnungen des Denkens und des Verhaltens tief in das soziale Gewebe eingreifen. Corona ist nicht einfach ein Thema, das andere in den Hintergrund drngt, sondern verndert basale Denkmuster – nicht immer im Sinne einer Neuerfindung, sondern oft als eine Aktualisierung lterer Schichten und scheinbar berwundener Dispositive der Moderne. Oder ist das PandemieDispositiv der Trçffner in einen neuen Aggregatzustand moderner Gesellschaften? Das mag sein, ist aber zugleich ein strategischer Topos, der kritisch befragt werden muss. Es fngt damit an, dass „Corona“ tatschlich nicht einfach andere Themen (zeitweise oder auch lngerfristig) in den Hintergrund gedrngt hat, sondern insbesondere im Frhjahr, erneut im Sptsommer 2020 zum alles beherrschenden Thema geworden ist. Dabei spielen die Massenmedien eine zentrale Rolle – gar nicht einmal zuerst die sozialen Medien, sondern die klassischen Medien Zeitung und Rundfunk (einschließlich ihrer digitalen Outlets).17 Die Pandemie hat die Beschreibungen von dem, was geschieht (und wichtig ist), 15 Vgl. dazu den Beitrag von Jens Beckert in diesem Heft. 16 Vgl. dazu die Beitrge von Ute Frevert und Rudolf Schlçgl in diesem Heft. 17 Vor diesem Hintergrund noch und wieder lesenswert: Niklas Luhmann, Die Realitt der Massenmedien, Opladen 19862.
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nahezu totalisiert; sie ist binnen krzester Zeit zu einer Fixierung geworden. Vor 25 Jahren hat Michael Jeismann unter diesem Stichwort Beitrge zu „beherrschenden Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter“ zusammengestellt, in denen es unter anderem um das Wachstumsdenken, den „Sachzwang“ oder die Rationalisierung des Kçrpers ging.18 Obwohl der Begriff der Hochmoderne damals historiografisch noch nicht existierte, ging es genau darum: um die Beschreibung „fixer Ideen“ aus dem Geist der Wissenschaft, die sich seit dem spten 19. Jahrhundert in besonderer Weise westlicher Gesellschaften bemchtigt hatten. Man kann argumentieren, dass die Obsession auch im Zeitalter der vermeintlichen Postmoderne nie verschwunden war, auch wenn es den Intellektuellen leichter fiel, sie bereits im Moment ihres Entstehens zu dekonstruieren – das gilt etwa fr die westliche Obsession mit dem Islam seit den Anschlgen vom 11. September 2001. Das Ausmaß der tglichen und permanenten Wahrnehmungskonzentration auf die Pandemie im Jahre 2020 aber drfte historisch ziemlich einmalig und hçchstens mit Phasen extremer Not oder politischer Krisenmobilisierung vergleichbar sein, wie sie bisweilen die erste Hlfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa noch kannte. Die Totalisierung produzierte eine neue „Restlosigkeit“ der Weltwahrnehmung, wie sie von Marcus Krajewski als Projekt der Klassischen Moderne um 1900 beschrieben wurde.19 Der unmittelbare und scheinbar rationale Ausdruck dieser Obsession wurden die Zahlen und die Macht, die sie auf das Denken und den politischen Diskurs ausbten.20 Das waren (und sind) vor allem die Zahlen der Infizierten und Toten, die in einer Endlosschleife von ihren szientifischen Produzenten, dem Robert-Koch-Institut und der Johns Hopkins University, abgegriffen wurden. Es besttigt den obsessiven Grundzug dieses Zahlenblicks, dass dabei vielfach elementare mathematische Hilflosigkeit herrschte und arithmetisch-medialer Unsinn wie die vermeintliche Neuigkeit, die Zahl der Corona-Toten sei weiter gestiegen, verbreitet wurde, dass Fallzahlen nicht auf die Gesamtpopulation bezogen wurden und Nordrhein-Westfalen schon deshalb einen statistischen Spitzenplatz innerhalb Deutschlands einnahm. Die Fixierung auf solche Zahlen, ihre massenmediale Verabreichung als erste Neuigkeit des Tages ber Monate hinweg ist hçchstens mit dem frheren Stellenwert von Gefallenenzahlen in Kriegen vergleichbar. Sie stellt andere Zahlenobsessionen der Moderne wie das Bruttoinlandsprodukt, ber das konomen und Kulturwis-
18 Siehe zu den genannten Themen die Beitrge von Jrgen Bossmann, Willibald Steinmetz und Philipp Sarasin in Michael Jeismann (Hg.), Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt 1995. 19 Marcus Krajewski, Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt 2006. 20 Vgl. dazu etwa Florian Eynert, Epidemie und Modellierung. Das Mathematische ist politisch, in: WZB-Mitteilungen 2020, H. 168, S. 82 – 85.
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senschaftlerinnen in den letzten Jahren in kritisch-dekonstruierender Absicht gearbeitet haben, weit in den Schatten.21 Zu diesem Denkmuster der Fixierung auf das medizinisch-naturwissenschaftliche Wissen gehçrt auch der Hang zur Herstellung von Eindeutigkeit, selbst wenn in der Bundesrepublik nach dem ersten Schock durchaus gestritten wurde und die Erkenntnis Raum griff, dass auch Virologen sehr unterschiedliche Positionen vertreten kçnnen. Der viel diskutierten Diagnose Thomas Bauers zur „Vereindeutigung der Welt“ musste man vor der Pandemie in vieler Hinsicht dezidiert widersprechen:22 Das postmoderne „Age of Fracture“,23 der Postkolonialismus, die kulturellen Identittsbewegungen und nicht zuletzt die Abgrenzung von dem hochmodernen Gestus der Eindeutigkeit seit den 1970er Jahren haben die Welt des frhen 21. Jahrhunderts historisch in ganz neue Dimensionen der Mehrdeutigkeit beziehungsweise Uneindeutigkeit (auch in der kulturwissenschaftlichen Objektivittskritik)24 und erst recht der soziokulturellen Vielfalt gefhrt. Die Pandemiekrise hat, nicht nur in dieser Hinsicht, zu einer Kontraktion, zu einer zentripetalen Bewegung der Wiederherstellung von Eindeutigkeit gefhrt, in eine „große Regression“ (zurck) in die Hochmoderne.25 Auf der politischen Ebene, in der gouvernementalen Ordnung der Dinge, wurde die Pandemiekrise berwiegend in einem zugleich diffusen und charakteristischen Schwebezustand zwischen Notstand und Normalisierung gehalten. In den herkçmmlichen verfassungsrechtlichen Kategorien erfllte die Situation besonders in der Phase des harten Lockdowns alle Voraussetzungen fr einen Notstand, von zunchst ungeklrten Fragen der elementaren Versorgungssicherheit der Bevçlkerung bis hin zur eingeschrnkten Arbeitsfhigkeit der Parlamente.26 Obwohl der politische Diskurs des Notstands in
21 Vgl. Philipp Lepenies, Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts, Berlin 2013; Daniel Speich Chass, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der konomie, Gçttingen 2013. Vgl. auch Oliver Schlaudt, Die politischen Zahlen. ber Quantifizierung im Neoliberalismus, Frankfurt 2018; Andreas Rçdder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Mnchen 2015, S. 108 – 116; sowie im weiteren Kontext Nina Verheyen, Die Erfindung der Leistung, Mnchen 2018. 22 Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. ber den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018. 23 Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge, MA 2011. 24 Vgl. dazu nur die Arbeiten von Lorraine Daston, z. B. dies. u. Peter Galison, Objektivitt, Frankfurt 2007. 25 Der Begriff ist anders besetzt, nmlich durch eine bestimmte, pessimistisch getçnte linke Kritik des „Neoliberalismus“, wird hier aber bewusst so eingesetzt. Vgl. Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte ber die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017. 26 Aus der Debatte dazu siehe etwa Josef Isensee, Virokratie. Die Normalitt ist weggebrochen, die Verfassung reagiert elastisch. Keine Gesellschaft, erst recht nicht die deutsche, hlt freilich auf Dauer ein Notregime aus, in: FAZ, 4. 6. 2020, S. 7; Klaus
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Deutschland unmittelbar vor der Pandemie, in der Ausrufung des „Klimanotstands“ durch Kommunen oder andere çffentlich-rechtliche Kçrperschaften wie Universitten,27 geradezu rhetorisches Alltagsgut geworden war, wurde die Ausrufung des Coronanotstandes bewusst zu vermeiden versucht. Mçglicherweise indiziert das eine radikale Verschiebung der Notstandssemantik, bei der die klassischen Schichten des Begriffes, wie sie vor einem guten halben Jahrhundert in der Bundesrepublik die heftige Debatte ber die Notstandsgesetze prgten, in Vergessenheit geraten, jedenfalls zugunsten einer appellativen Bedeutung des Wortes zurcktreten, die weithin folgenlos bleibt, jedenfalls keine akute Notlage und schon gar keine Notmaßnahmen wie Ausgangssperren, Verkehrsverbote oder andere unmittelbare Freiheitsbeschrnkungen nach sich zieht. In der Tat zeigte der weitere Verlauf schnell, dass westliche Gesellschaften seit ihren letzten massenhaften Erfahrungen existenzieller Not in den 1930er und 1940er Jahren offenbar Resilienzstrukturen aufgebaut hatten, die auch bei harten Eingriffen in Wirtschaft, Konsum und Alltag nicht zu grçßeren Versorgungsnotstnden fhrten. Gewiss war es aber auch Teil der politischen Strategie, die real zweifellos gegebene Notstandssituation nicht so zu nennen, sondern in einen Zustand der Normalisierung zu wenden.28 Dass dies gelang, verdankte sich auch einem (fast berall; ganz ausgeprgt in Deutschland) Konsens mit einer Zivilgesellschaft, die den normalisierten Notstand schnell verinnerlichte, sodass manifeste Opposition effektiv an den antidemokratischen und konspiratorischen Rand abgedrngt werden konnte. Diesen Konsens wiederum erleichterte eine Feindkonstruktion, die sich von klassisch-modernen Dispositiven des Feindes deutlich unterschied. In einer Zeit, in der andere Nationen (wie Frankreich fr Deutschland),29 andere Ideologien (wie im Kalten Krieg) oder andere Kulturen und Religionen30 kaum mehr als Feindbilder legitimiert werden kçnnen, war das Coronavirus der ideale Feind einer Weltgesellschaft, die legitime Feinde nicht mehr innerhalb ihrer selbst suchen kann: transhuman, gleichwohl lebendig und mit agency
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Stwe, Krise in der Demokratie – Demokratiekrise? Ausnahmezustand und demokratischer Verfassungsstaat, in: Die Politische Meinung 65. 2020, H. 563, S. 77 – 82. Z. B. die Freie Universitt Berlin am 17. Dezember 2019: o. A., Klimanotstand, https:// www.fu-berlin.de/sites/nachhaltigkeit/commitment/klimanotstand/index.html. Ein Vierteljahr spter befand sich die Universitt in einem echten, pandemiebedingten Notstand, der aber nicht so genannt wurde. Auch im Sinne von Jrgen Link, Versuch ber den Normalismus. Wie Normalitt produziert wird, Gçttingen 2006; ders., Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart, Konstanz 2013. Vgl., auch paradigmatisch Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverstndnis in Deutschland und Frankreich 1792 – 1918, Stuttgart 1992. Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996.
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versehen.31 Es konnte alle innenpolitischen und gesellschaftlichen Funktionen erfllen, die fr klassische Feindkonstruktionen immer wieder nachgewiesen wurden: den Appell an die Gemeinschaft, an soziale Disziplin im Angesicht eines Gegners, an politische Loyalitt. Die historische Erfahrung und die geschichtswissenschaftliche Forschung haben immer wieder die komplexen berlagerungen zwischen einer realen Gefahr und ihrer Dispositivierung gezeigt, zwischen „objektiven“ Bedrohungslagen und den darauf gesattelten, hufig bersteigerten ngsten und Projektionen. Das gilt, um nur zwei wichtige Beispiele aus der Geschichte der Bundesrepublik zu nennen, fr den sowjetischen Kommunismus32 ebenso wie fr den Linksterrorismus der 1970er Jahre. Im Rckblick sieht man die sekundren Effekte wie Angstmechanismen und Produktion von Konformitt schrfer. Hinter diese Einsicht sollte eine gegenwartshistorische Analyse der Pandemie nicht zurckfallen. Um die diskursive Modellierung und das politisch-soziale Regulativ der Pandemie zu verstehen, ist ein Blick auf die Ideologisierung, die richtungspolitische Codierung aufschlussreich. In den ersten Wochen des Lockdowns, im Mrz und April 2020, spielte in Deutschland der liberale Grundrechtsdiskurs als Widerhaken gegen die verordneten Freiheitsbeschrnkungen eine wichtige Rolle. In der vielzitierten „Stunde der Exekutive“ war noch unklar, was eine „rechte“ oder „linke“ Position sein wrde. Die Pandemie erschien geradezu als eine apolitische Herausforderung. ber das Frhjahr und den Sommer nderte sich das rasch. In der linksliberalen Modellierung der Krise traten Grundrechts- und Freiheitsfragen (und damit der Aspekt des Individualismus) in den Hintergrund, der Appell an „solidarisches“ Verhalten in den Vordergrund, der jedoch nicht nur eine soziale Solidaritt meinte, sondern weithin, auch im Diskurs mchtiger zivilgesellschaftlicher Gruppierungen wie der Kirchen, zugleich auf die mçglichste Compliance mit den staatlichen Maßnahmen zielte.33 Darin zeigten sich Kontinuitten der zentristischen politischen Kultur, die ein Signum der deutschen Gesellschaft und Politik in der Merkel-ra geworden ist, auch ber die Große Koalition hinaus als wachsender, geradezu neokorporatistisch anmutender Konsens zwischen Regierungspolitik und linkslibe-
31 Im Sinne Bruno Latours also als „Aktant“. Das hat betrchtliche Weiterungen, auch fr eine trans- oder posthumane Konzeption von Geschichte (etwa im Kontext der Anthropozn-Debatte), die hier nicht verfolgt werden kçnnen. 32 Sodass die Forschung sich dann strker auf den Antikommunismus und seine politischsozialen Effekte konzentriert als auf die Herausforderung durch eine fundamental illiberale Ordnung. Vgl. z. B. Norbert Frei u. Dominik Rigoll (Hg.), Der Antikommunismus in seiner Epoche. Weltanschauung und Politik in Deutschland, Europa und den USA, Gçttingen 2017. 33 Daneben spielte die Frage nach sozialen Ungleichheiten, die sich in der Pandemiekrise mçglicherweise verstrkten, eine zentrale Rolle; das kann hier nicht verfolgt werden.
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raler Zivilgesellschaft.34 Doch hat die Pandemiekrise diese Amalgamierung offenbar verstrkt, indem sie antigouvernementale Reflexe der Zivilgesellschaft weiter abgeschwcht hat. Vielleicht hat sie auch bestimmte etatistische Traditionen der Linken wachgerufen. Deshalb ist es wenig berraschend, dass solche Reflexe im Sptsommer 2020 zunehmend im rechtsextremen und illiberalen Spektrum artikuliert wurden beziehungsweise dort andocken konnten.35 Die Pandemiekrise hat aus der Sicht der Exekutive beziehungsweise staatlichen Handelns eine Gouvernementalitt der Benevolenz erzeugt, der wohlmeinenden obrigkeitlichen Frsorge unter einem Primat der Gesundheit. Die gesellschaftliche Seite dieses Dispositivs ist ein Diskurs der Ordnung durch Empathie und Solidaritt, der Diskurs eines solidarischen Konformismus. Er nahm bisweilen Zge eines moral crusade an, einer Moralkampagne zur Besserung und Purifikation einer pr-pandemischen Ordnung fr postpandemische Zeiten, zum Beispiel im Blick auf den Klimawandel oder eine weniger durch Erwerbsarbeit „entfremdete“ Gesellschaft.
III. Deutsche Pfadabhängigkeiten und Kontinuitäten der Moderne Die Analyse solcher „Corona-Dispositive“ ließe sich mhelos fortsetzen. Dazu gehçrt das in kurzer Zeit etablierte, umfassende Regime der Verhaltensmodellierung, insbesondere des social distancing, ein bio- beziehungsweise kçrperpolitischer Eingriff in das çffentliche ebenso wie in das private Zusammenleben, ja in die Intimitt von Menschen, der fraglos historische Dimensionen hat. Die Durchsetzung des Mund-Nase-Schutzes als Alltagsaccessoire, das „Maskentragen“, hat einen vestimentren Code etabliert, der nicht weniger revolutionr ist – und selbstverstndlich Konflikte produziert, wie das auch bei Jeans, Minirçcken und Kopftchern an weniger exponierten und sozial relevanten Stellen des Kçrpers bereits in der Vergangenheit der Fall war. Ebenso ließe sich der Blick auf soziale Ordnungen vertiefen. Auch hier finden sich in historischer Perspektive Indizien einer sozialen Regression, etwa im erzwungenen Bedeutungsverlust „intermedirer Organisationen“, von Vereinen und Verbnden, vom Sport bis zum Kirchenchor. Zugespitzt formuliert, hat die Pandemiekrise das soziale Leben auf zwei Brennpunkte einer Ellipse konzentriert: auf die Kernfamilie beziehungsweise den intimen Haushaltsverband einerseits, den Staat beziehungsweise die Achse zwischen 34 Vgl. Paul Nolte, Alemania, 1990 – 2020. Continuidad, Centrismo y Progresismo Conservador, in: Anuario Internacional CIDOB 2020, Barcelona 2020, S. 269 – 278. 35 Das bleibt umstritten bzw. teilweise empirisch offen. Vgl. z. B. Christoph Brauer u. a., „Querdenker“-Kundgebung in Konstanz. Freude am Gegenwissen, in: SZ, 7. 10. 2020, https://www.sueddeutsche.de/kultur/corona-querdenker-konstanz-demonstration-1. 5056095?reduced=true.
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Staat und Brger:in andererseits.36 Ebenso lsst sich der bergang zu Homeoffice und Homeschooling als Entdifferenzierung beschreiben, als Einschmelzung der Trennung zwischen Wohnen und Arbeitsplatz, auch wenn das unter anderen sozialen und technischen Bedingungen als sozialer Fortschritt erfahren werden kann. Die Frage nach historischen Kontinuitten, nach den Mischungsverhltnissen von diesen mit krisenhafter Disruption kçnnte, wie das schon kurz angedeutet wurde, prziser auf nationale oder kulturelle Muster und Pfadabhngigkeiten angewendet werden. Die Pandemie stellte berall eine Zsur und Disruption dar, aber wie darauf reagiert wurde, ergab sich hufig aus Mustern der politischen konomie und politischen Kultur. Das machen die Unterschiede zwischen liberaldemokratischen Gesellschaften, populistischer Governance und autoritren Regimes deutlich, auch innerhalb Europas. In Deutschland hat die Herausforderung der Pandemie keine Polarisierung erzeugt beziehungsweise fortgesetzt wie in den USA, sondern den Zentrismus und den Wandel des Landes von einer Westminsterdemokratie, in der sich Regierung und Opposition scharf gegenberstehen, in eine Konkordanzdemokratie, an der alle Krfte außer der AfD mindestens informell beteiligt sind, verstrkt. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik knpfte Deutschland konkret an das in der Finanzkrise bewhrte Kurzarbeitsmodell an und versuchte, seinem Modell des Austerittskeynesianismus treu zu bleiben: also der flexiblen Kreditaufnahme und des deficit spending bei prinzipiellem Bekenntnis zu „nachhaltigem“ Haushalten im Sinne spterer Generationen. berhaupt folgte der deutsche Weg in der Pandemie dem in den beiden letzten Jahrzehnten, vor allem seit der Kanzlerschaft Schrçders und den Agendareformen, beschrittenen Pfad eines weichen und staatsgelenkten Neoliberalismus, also einer wettbewerblichen Ordnung, die gerade nicht auf deregulierte Mrkte setzt, sondern das neoliberale social engineering mithilfe staatlicher oder parastaatlicher Instanzen organisiert wie in der Forschungs- und Hochschulpolitik.37 Der Blick auf „Corona-Dispositive“ im Lichte einer lngeren Geschichte der Moderne, wenn nicht seit der Frhen Neuzeit, so doch seit dem bergang in die „Hochmoderne“ im spten 19. Jahrhundert, hat berraschende Konstellationen gezeigt. Von der Renaissance der Expertenherrschaft bis zum Wiedereintritt in eine in postmoderner Zertrmmerung berwunden geglaubte Eindeutigkeit: Das Pandemieregime des Jahres 2020 liefert zahlreiche Hinweise darauf, dass die in der Zeitgeschichte oft so dezidiert betonte Zsur der 1970er Jahre weniger grundstzlich einen Abschied von Mustern der 36 Vgl. Gesa Lindemann, Der Staat, das Individuum und die Familie, in: Volkmer u. Werner (Hg.), Corona-Gesellschaft, S. 253 – 261. 37 Vgl. dazu nher Paul Nolte, A Different Sort of Neoliberalism? Making Sense of German History since the 1970s, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington, D. C. 66. 2019, S. 9 – 25. Siehe auch Frank Bçsch u. a. (Hg.), Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im spten 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018.
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Moderne bedeutete, als das hufig suggeriert wird. Der bergang von der fordistischen Industriegesellschaft in eine Informations- oder Dienstleistungsgesellschaft, selbst der vom Paradigma des Wachstums in das der Nachhaltigkeit, hat Tiefenstrukturen in den diskursiven, sozialen und herrschaftlichen Operationen westlicher Gesellschaften nicht unbedingt betroffen.38 Zugleich wird sich die Pandemie als Weichensteller und Katalysator in eine wiederum „andere Moderne“ erweisen. Zur Erklrung dieser komplizierten Mischungen und Spannungsverhltnisse kann die Geschichtswissenschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universitt Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstraße 20, 14195 Berlin E-Mail: [email protected]
38 Ob das fr Wissensformen und ihre gesellschaftliche Verhandlung dauerhaft anders ist, etwa als bergang von szientifischer Eindeutigkeit des Wissens zu neuen Formen der „Wissenspluralitt“ im Zeichen von Fake News, ist eine offene Frage.
Ein Virus testet den Wohlfahrtsstaat von Christoph Conrad
A Virus Tests the Welfare State This essay discusses some of the consequences of the widely observed resurgence of a strong interventionist state during the corona crisis. Its focus is on how health and welfare arrangements impact the elderly, the group primarily affected by COVID-19. Four related perspectives – viewing the crisis as a “natural experiment,” the relationship between experts and politics, biopolitical arguments, and age discrimination – are used to unpack the major inequalities, tensions and deficits in the social and sanitary policies of Western Europe and the US.
Der Wohlfahrtsstaat ist zurck. Dieser Befund drngt sich angesichts des staatlichen Handelns seit Frhjahr 2020 auf. Auch im Mediendiskurs ist die Rede vom frsorglichen und absichernden Staat unbersehbar. Das liegt primr an den gewaltigen Gegenmaßnahmen, die die Regierungen der von der Pandemie betroffenen Lnder ergriffen haben, um die Verbreitung des mit vollem Namen SARS-CoV-2 genannten Virus einzudmmen. Zunchst in China, dann in Europa und den USA und inzwischen weltweit markieren die flchendeckenden Ausgangsbeschrnkungen, die rasche Aufstockung der medizinischen und pflegerischen Kapazitten, der zivile Einsatz des Militrs, die Bewilligung von Kurzarbeiteruntersttzungen oder, wie in erstaunlichem Umfang in den USA, die Arbeitslosenversicherung und die Verteilung von stimulus checks sowie das Schnren enormer finanzieller Rettungspakete fr die Wirtschaft, dass die Nationalstaaten ihr gesamtes Arsenal einsetzen. Die neue Begeisterung fr die Begriffe Wohlfahrts- oder Sozialstaat in publizistischen Diskursen kann diesen Eindruck nur verstrken: Wenn sowohl die Financial Times als auch die taz und nicht zuletzt der Papst verknden, dass der aktive Sozialstaat wieder das Heft in die Hand genommen habe, und zugleich fordern, dass man „nach“ COVID-19 nicht nur nationale, sondern auch globale Sozialpolitik betreiben msse, dann ist offenbar etwas Grundlegendes passiert.1 Nicht wenige Stimmen betonen dabei, dass der als 1 The Editorial Board, Virus Lays Bare the Frailty of the Social Contract. Radical Reforms Are Required to Forge a Society that Will Work for All, in: Financial Times, 3. 4. 2020, https://www.ft.com/content/7eff769a-74dd-11ea-95fe-fcd274e920ca; Anna Lehmann, Der Sozialstaat ist zurck. Corona-Rettungspaket der Regierung, in: taz, 25. 3. 2020, https://taz.de/Corona-Rettungspaket-der-Regierung/!5670691/; Gudrun Sailer, Papst an Volksbewegungen. Ja zu Grundeinkommen fr arbeitende Arme, in: Radio Vatikan, 13. 4. 2020, https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2020-04/papst-volksbewegun gen-grundeinkommen-arbeitende-arme-corona.html; um „ber das Hinterher nachzudenken“, empfahl Franziskus das Buch der unorthodoxen konomin Mariana Mazzucato, The Value of Everything. Making and Taking in the Global Economy, Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 429 – 442 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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hegemonial empfundene Neoliberalismus (wie immer er auch definiert wird) angesichts dieser Herausforderungen seine Stunde der Wahrheit erlebt habe.2 Manche Kommentare gehen soweit, England und die USA als failing states zu bezeichnen und sie mit der Robustheit des deutschen oder japanischen Sozialstaats zu kontrastieren. Nun muss man nicht Historiker:in sein, um zu bemerken, dass schon in frheren Krisen, so insbesondere in der sogenannten Großen Rezession von 2007 bis 2009, die Regierungen, die Zentralbanken und die Netzwerke internationaler Kooperation den Ausweg aus dem drohenden Zusammenbruch der Wirtschaft gewiesen haben. Auch angesichts frherer Katastrophen oder Epidemien konnte man temporr durchaus die Grenzen des neoliberalen Paradigmas und die vorbergehende Abkehr von marktradikalen Rezepten beobachten. Die erstaunliche Robustheit und Nachhaltigkeit zentraler sozialer Staatsaufgaben sind dabei wieder und wieder hervorgetreten.3 Solche Dj -vu-Erlebnisse werden aber in Politik und Gesellschaft kaum geteilt. Viel strker beeindruckt die ffentlichkeit, mit welch außergewçhnlicher Beschleunigung die aktuelle Coronapandemie Versumnisse, Spannungen und Ungleichheiten in der Gesellschaft insgesamt und besonders in der Gesundheits- und Sozialpolitik hervortreten lsst. Die Herausforderungen durch das Virus haben grelles Licht auf eklatante Lcken in Vorbereitung und Bewltigung der Krise, auf Mngel an politischer Fhrungsstrke und institutionellen Kapazitten in einzelnen Lndern sowie auf die sozial spaltenden Folgen der Gegenmaßnahmen geworfen. In der çffentlichen Debatte sind besonders die Folgen von Austerittsprogrammen im Gesundheitswesen (etwa Italiens oder Frankreichs) oder allgemeiner die Konsequenzen neoliberaler Reformen auf die çffentlichen Institutionen hervorgehoben worden. Ferner ist der weit berdurchschnittliche Anteil von Frauen in den „systemrelevanten Berufen“, kurz: an vorderster Front in der Pflege, den Gesundheitsdiensten, dem Handel sowie in Familienarbeit und Homeschooling, beachtet worden. Vor allem angesichts der Bildung von Epizentren der Infektion sind die Auswirkungen auf bereits durch Prekaritt gekennzeichnete Bevçlkerungsgruppen wie Gelegenheitsarbeiter:innen, Obdachlose oder Migrant:innen thematisiert worden. Die Metaphern „Brennglas“, „Brandbeschleuniger“ oder „Katalysator“ sind in aller Munde und werden oft, vielleicht zu oft gebraucht. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass das Coronavirus London 2018, siehe Stefan von Kempis, Papst Franziskus: „Corona-Maßnahmen dienen dem Gemeinwohl“, in: Radio Vatikan, 30. 3.2020, https://www.vaticannews.va/de/papst/ news/2020-03/papst-franziskus-corona-virus-massnahmen-opfer-brief-sozial-pand. html. 2 Zuletzt der Chef des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab im Interview mit Marcus Gatzke u. Marlies Uken, „Der Neoliberalismus hat ausgedient“, in: Zeit-Online, 21. 9. 2020, https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-09/corona-kapitalismus-rezession-wefneoliberalismus-klaus-schwab. 3 Vgl. Christoph Conrad, Was macht eigentlich der Wohlfahrtsstaat? Internationale Perspektiven auf das 20. und 21. Jahrhundert, in: GG 39. 2013, S. 555 – 592.
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wie ein nichtmenschlicher „Akteur“ im Sinne Bruno Latours wirkt, indem es Unsichtbares an den Tag bringt, Gegenstze vertieft und Prozesse beschleunigt. Durch Schlaglichter auf vier zusammenhngende Themen der gegenwrtigen Debatte – zu Fragen eines natrlichen Experiments, zu den Beziehungen zwischen Experten und Politik, der Diagnose der Biopolitik sowie zu Altersdiskriminierung – sollen Voreinstellungen und Problemlagen wohlfahrtsstaatlichen Handelns erhellt werden. Dabei gilt mein Hauptaugenmerk dem Platz alter Menschen, also der Hauptopfergruppe, in diesen vier Feldern.
I. Ein natürliches Experiment? Auf der Makroebene testet das Virus die Reaktivitt und Krisenfestigkeit sozial- und gesundheitspolitischer Systeme. In der folgenden Phase bernimmt die Wirtschaftsrezession diese Rolle und wird genau wie die Pandemie erst im Rckblick genaueren Aufschluss darber zulassen, welche Regionen und Staaten, welche Regierungsformen und Sozial- und Gesundheitssysteme, welche nationalen und internationalen Anschubprogramme am effektivsten gewirkt haben oder am wenigsten beschdigt durch die Krise gekommen sind. Es ist hier nicht der Ort, um die bereits begonnenen Vergleiche und Ursachensuchen anhand der ebenso lckenhaften wie komplexen statistischen Daten zu sichten. Unbestreitbar erçffnet sich fr die Sozial- und Humanwissenschaften hier eine außerordentliche Chance und Herausforderung, dieses weltweite „natrliche Experiment“ zu analysieren. Die Forschung dazu ist bereits in vollem Gange, erste tentative Hypothesen liegen vor.4 Wichtig wird dabei, wie erfolgreich in solchen Studien das Gesprch und der Austausch zwischen den Perspektiven verschiedener natur- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen gestaltet werden, denn wir sind Zeugen einer Versuchsanordnung mit sehr vielen Unbekannten. Nach bislang verfgbaren Forschungsergebnissen hat die Pandemie sich in hçchst heterogener Weise manifestiert, ist die Infektion geografisch und demografisch sehr ungleichmßig und hoch zufllig virulent geworden und sind die Wirkungsweisen des Virus weiterhin von Rtseln umgeben. Neueste Studien weisen zudem darauf hin, dass bestimmte Bevçlkerungsgruppen nicht nur durch erworbene Faktoren (wie Obesitt oder Tuberkulose) strker gefhrdet oder durch andere Faktoren besser geschtzt sind, sondern auch eine genetisch bedingte
4 Darunter die frhe und besonders anregende Analyse von Paul-Andr Rosental, Un balcon en forÞt 2020. Essai comparatif sur l’pidmie de Covid, in: Terra Nova, 6. 5. 2020, http://tnova.fr/notes/un-balcon-en-foret-2020-essai-comparatif-sur-l-epidemie-de-covid.
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unterschiedliche Immunitt aufweisen kçnnten.5 Ebenso komplex sind die mçglichen Faktoren, die zur Erklrung fr den unterschiedlichen Erfolg von Gesellschaften bei der Eindmmung der Infektion angefhrt werden: Sie reichen von Bevçlkerungsdichte und Altersstruktur ber Apr s-Ski-Gewohnheiten und Mobilittshufigkeit oder sozialer Akzeptanz der Einschrnkungen bis hin zu neoliberalen Reformen, Reaktivitt der Behçrden und Strukturen des Gesundheitssystems. Ein Aspekt – die Qualitt der Basisdaten und der Beobachtungsinstrumente – sei hier herausgegriffen, da er als roter Faden zu den Themen der Expertenherrschaft, der Biopolitik und der Ungleichheitsproduktion fhrt. Wie Daten produziert werden und welche Indikatoren zur Verfgung stehen, weist darauf hin, welchen Sachverhalten, Gruppen und Rumen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Entwicklung des „digitalen Wohlfahrtsstaats“ mag zwar durch Begleitumstnde der Pandemie gefçrdert worden sein, doch sind zugleich die enormen Ungleichgewichte in Erfassung und Qualitt von gesundheitsbezogenen Daten innerhalb und zwischen Staaten hervorgetreten. Das „Regieren mit Zahlen“ hat sich in letzter Zeit zu einem fruchtbaren Feld sowohl der gegenwartsbezogenen als auch der historischen Forschung entwickelt. Aus der Wissensgeschichte der Statistik oder der Medizinsoziologie wissen wir, wie stark etwa die Identifikation von Krankheiten oder Todesursachen je nach Lndern, sozialen Kategorien oder Altersgruppen abweichen kann. Die administrativen Regelungen der alltglichen Zertifizierung von akuten oder underlying Erkrankungen als Todesursachen haben die internationale Vergleichbarkeit der Sterbeflle an COVID-19 außerordentlich erschwert. In der Medizinstatistik sind solche Probleme durchaus vertraut, wie wiederholt an Diabetes, Berufskrankheiten oder HIV gezeigt worden ist. Doch fragt man sich, inwiefern gewachsene Strukturen von In- und Exklusion dafr verantwortlich sein kçnnen, dass Grauzonen des Nichtwissens entstehen konnten und eventuell sollten. Darauf weisen vor allem die seit drei Jahrzehnten gesammelten Erfahrungen mit HIV-Infektionen, also der AIDS-Epidemie, hin.6
II. Expertokratie? In verschiedenen vom Virus betroffenen Lndern ist es zu einem bemerkenswerten Hype um die von den Regierungen oder den Medien intensiv konsultierten Expert:innen gekommen. Die Rollen, die der „Star-Virologe“
5 The COVID-19 Host Genetics Initiative, A Global Initiative to Elucidate the Role of Host Genetic Factors in Susceptibility and Severity of the SARS-CoV-2 Virus Pandemic, in: European Journal of Human Genetics 28. 2020, H. 6, S. 715 – 718, doi: 10.1038/s41431– 020–0636–6. 6 Sara L. M. Davis, The Uncounted. Politics of Data in Global Health, Cambridge 2020.
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Christian Drosten in Deutschland oder der „Staatsepidemiologe“ Anders Tegnell in Schweden, die in den sozialen Medien gefeierte Wissenschaftlerin im mexikanischen Gesundheitsministerium Ana Luca de la Garza Barroso oder der standhafte amerikanische Prsidentenberater Anthony Fauci spielen, sind von der ffentlichkeit zunchst berschwnglich begrßt worden. Erst mit den andauernden Einschrnkungen, widersprchlichen Warnungen und divergierenden Forschungsergebnissen wurden etwa gegen Christian Drosten kritische, ja feindliche Stimmen immer lauter. Als Rockstar auf dem SpiegelTitel stilisiert oder als Objekt der Heiligenverehrung durch die Bildzeitung geschmht, musste nicht nur er mit den enormen Erwartungen der ffentlichkeit umgehen. An sich ist es keineswegs außergewçhnlich, wenn bei Katastrophen oder Krisen die einschlgigen Fachleute von Regierung und Medien herangezogen werden. So war Tschernobyl die Stunde der Atomphysiker und Strahlenexperten oder die Finanzkrise von 2008 die Zeit der Finanzwissenschaftler und Zentralbanker, whrend gleichzeitig die Immobilienspekulanten und Investmentbanker an den Pranger gestellt wurden. In der Corona-Epidemie scheinen allerdings das Pochen auf bio-medizinische Richtwerte, die Durchdringung der politischen und medialen Sprache mit Versatzstcken epidemiologischer Begrifflichkeit sowie die schiere Anzahl der herangezogenen Spezialist:innen weit ber den Einfluss von Fachwissen(schaft) und Politikberatung in frheren Krisen hinauszugehen. Kein Wunder, dass dann auch Spannungen innerhalb der Gremien und zwischen Gesundheitsbehçrden und Universittswissenschaft auftraten.7 Nimmt man noch einmal das Thema „Regieren mit Zahlen“ auf, so hat man es offenbar mit einer neuen Qualitt zu tun, wenn die auflagenstrksten Boulevardbltter in Deutschland oder der Schweiz ber die Validitt einzelner Indikatoren aus vorlufigen Forschungspapieren diskutieren oder ein Ranking der nationalen Epidemiologen nach der Qualitt ihrer Voraussagen erstellen. Die Verwissenschaftlichung der Politik und des Sozialen erfahren hier auf den ersten Blick erneute Besttigung und Verstrkung. Positiv kann man sehen, dass die ffentlichkeit einen Intensivkurs in wissenschaftlicher Methodik, Peer-Review, Irrtumstoleranz und Selbstkorrektur mitgemacht hat. Allerdings sind es kaum Vertreter:innen der Sozial- oder Erziehungswissenschaften, der Wirtschaft oder des Rechts, die in den Krisenmonaten die Diskurshegemonie innehatten, sondern Virolog:innen und Epidemiolog:innen. Diese Medikalisierung nicht nur des Diskurses, sondern auch der politischen und administrativen Entscheidungsfindung sowohl in der ersten Phase der EpidemieEindmmung als auch beim Timing der sukzessiven ffnungsschritte hatte 7 Ob die offiziellen Reaktionen rechtzeitig erfolgten, ist zum zentralen Kriterium fr die Beurteilung nationaler und internationaler Stellen geworden; vgl. am Beispiel der Schweiz und der WHO: Recherchedesk Tamedia, Lockdown. Wie Corona die Schweiz zum Stillstand brachte, Lachen 2020.
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ohne Zweifel damit zu tun, dass es in der Wachstumsphase der Infektionen um das nackte Leben und seine Bewahrung, kurz: um Biopolitik im engeren Sinne ging. In der folgenden Phase der Lockerung, ffnung von Bildungseinrichtungen und Wiederankurbelung der Wirtschaft kamen dann erwartungsgemß Unternehmer und konomen, Pdagogen und Verbandsvertreter, aber auch Expert:innen in Ethik und Verfassungsrecht strker zu Wort. Verstrkt wurde der Eindruck einer Expertokratie vorher ungekannten Ausmaßes darber hinaus durch die erschreckenden Nachrichten aus Lndern, die auf wissenschaftliche Beratung verzichten oder sie sogar çffentlich infrage stellen. Nicht nur die bizarren Pressekonferenzen und Wahlkampfauftritte ihrer Prsidenten, sondern vor allem die eskalierenden Opferzahlen in den USA oder Brasilien unterstreichen, dass das wissenschaftlich angeleitete Vorgehen anderer Regierungen als rational, wohlbegrndet und legitim gelten muss. Nicht unwillkommen ist in den Augen politischer Beobachter:innen zunchst der Effekt gewesen, dass die in den populistischen Bewegungen verbreitete Wissenschaftsskepsis kaum noch Gehçr fand. Allerdings haben sich Verschwçrungstheorien in den sozialen Medien inflationr entwickelt; ob sie nachhaltig virulent bleiben, wird ein Thema der Medien- und Meinungsforschung sein mssen. Dass rechtspopulistische Bewegungen dann im weiteren Verlauf durch gemeinsame Aktionen mit Coronaskeptikern, Masken- und Impfgegner:innen Verstrkung erfahren, ist nicht nur in Deutschland in Großdemonstrationen zutage getreten.8 Viel grundstzlicher sind die kurzfristigen Aufmerksamkeitsgewinne der Expertise zu relativieren, wenn man den lngerfristigen Einfluss der wissenschaftlichen Politikberatung und der Epidemie-Prophylaxe in westeuropischen Lndern oder auch in den USA betrachtet. Denn der momentane Ruhm steht in diametralem Gegensatz zu weitgehender Nichtbeachtung, ja dem bewussten Ignorieren in den Jahren vor dem Ausbruch von COVID-19. Die insbesondere von internationalen Organisationen wie der World Health Organization (WHO) oder dem Prventionszentrum der EU, dem European Centre for Disease Prevention and Control, vorangetriebene Vorsorge fhrte zwar zu detaillierten Notfallplnen und einer langen Reihe von Empfehlungen an die Mitgliedslnder.9 Dennoch wurden amtliche Kommissionen, alarmierende Szenarien und vorsorgende Politiker:innen mehr oder weniger berhçrt oder sogar lcherlich gemacht. Dem kurzen, aber gewaltigen Machtzuwachs der medizinischen Expert:innen whrend der Krise entsprach kein lngerfristiger Einfluss der Vorsorgeplne. Das Wissen aus frheren Ausbrchen von Pandemien (SARS 2003; sogenannte „Schweinegrippe“, Grippe A H1N1, 2009 bis 2010; MERS 2012; und andere) wurde in Schubladen vergessen. Auch wenn diese Ausbrche nicht unbedingt fertige Lektionen lieferten oder sogar zu Tuschungen ber den Charakter des neuen Virus fhren konnten, wurden 8 Zu den politischen Auswirkungen vgl. den Beitrag von Philip Manow in diesem Heft. 9 Vgl. dazu auch den Beitrag von Kiran Patel in diesem Heft.
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Konsequenzen aus ihnen in Europa kaum gezogen. Als exemplarisch erscheint das Schicksal der franzçsischen Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot zur Zeit der Prsidentschaft von Nicolas Sarkozy. Die Politikerin geriet stark in die Kritik, nachdem sie 94 Millionen Dosen eines Impfstoffs gegen die sogenannte Schweinegrippe von 2009 bestellt hatte, die sich dann als weitgehend berflssig erwiesen. Sie war es auch, die in dieser von der WHO ausgerufenen Pandemie fr die umfangreiche Vorratshaltung von chirurgischen Masken und Schutzkleidung sorgte; Vorrte, die noch ihre Nachfolger:innen beibehielten, die aber in den letzten Jahren nicht erneuert wurden. Am Schluss wurden ihr nutzlose Ausgaben von ber 600 Millionen Euro vorgeworfen.10 Warum diese Vorsorgeplanungen spter nicht weiterverfolgt wurden, mag je nach Land, Zustndigkeit und kurzfristigen finanziellen Mçglichkeiten an einer Reihe praktischer Probleme gelegen haben. Dahinter steht aber ein untergrndiger Paradigmenwandel, der das Prinzip der precaution ausgehebelt hat, welches sptestens seit den 1970er Jahren insbesondere in der Sozial-, Infrastruktur- und Umweltpolitik entwickelt wurde. In Frankreich erreichte es Anfang der 2000er Jahre sogar Verfassungsrang, blieb aber heftig umstritten.11 Nach den Lehren des New Public Management und unter dem Eindruck von Austerittspolitik sind kostspielige Vorratshaltungen und Notfallplne vielerorts stillschweigend ausgelaufen oder in Schubladen verschwunden. Dies ist umso bemerkenswerter, als gerade internationale Organisationen und nationale Fachgremien das „precautionary principle“ und „preparedness“ zu ihren Leitlinien erklrt und durch umfangreiche Gutachten und Planspiele umgesetzt hatten.12 Dass Lernen aus den Vorwarnungen der letzten Jahrzehnte jedoch sehr wirkungsvoll sein konnte, zeigte die effektive Krisenbewltigung von Lndern wie Taiwan und Sdkorea. Einerseits besttigt die Rolle der wissenschaftlichen Expertise in der Coronakrise vieles, was aus der Forschung ber die Beziehungen zwischen Wissenschaft und ffentlichkeit, Politikberatung und Regierungshandeln bekannt ist – allerdings zentraler und wirkungsmchtiger. Andererseits stellt der Angriff des Virus eine Reihe von Grundkonzepten infrage, die die Forschungslandschaft ber Wohlfahrtsstaatlichkeit und Risikopolitik in den letzten Jahrzehnten bestimmt haben.13 Es scheint, als ob im Gefolge von 10 Rckblick auf die Vorflle anlsslich ihrer jngsten Ernennung zur Kulturministerin: Grard Davet u. Fabrice Lhomme, Le retour surprise de Roselyne Bachelot, in: Le Monde, 8. 7. 2020, S. 14. 11 Michel Callon u. Pierre Lascoumes, Covid-19 et nfaste oubli du principe de prcaution, in: AOC Analyse, 26. 3. 2020, https://aoc.media/analyse/2020/03/26/covid-19-et-nefasteoubli-du-principe-de-precaution/. 12 Grundlegend dazu Andrew Lakoff, Unprepared. Global Health in a Time of Emergency, Oakland 2017. 13 Zur Krise des individualisierten Prventionsregimes vgl. den Beitrag von Nina Mackert und Maren Mçhring in diesem Heft.
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COVID-19 sowohl die Thesen von der Verwissenschaftlichung von Politik und Gesellschaft als auch die Konzepte der Versicherheitlichung oder der biosecurity weniger linear und zwingend, dagegen strker als paradox, relativierbar und macht- und interessenabhngig gedacht werden mssen.14
III. Biopolitik? Schon wenn man zurck auf die frhneuzeitliche Staatstheorie blickt, trifft man auf ein Virus. So zeigt die berhmte Titelseite von Hobbes’ Leviathan von 1651, dass die unterhalb der aus Einzelpersonen zusammengesetzten Herrscherfigur dargestellte Stadt fast menschenleer ist: Neben einigen Soldaten sind nur noch zwei Gestalten auszumachen; an ihren Masken sind sie als Pestrzte zu erkennen.15 Die Rolle von Seuchen wie Pocken oder Cholera fr die Entwicklung des „sorgenden Staates“ hat der niederlndische Soziologe Abram de Swaan schon vor Jahrzehnten hervorgehoben. Da Epidemien in urbanisierten Gesellschaften auch die besitzenden Schichten und die Eliten des Gemeinwesens bedrohten, wrden sie sie motivieren, zugunsten der çffentlichen Gesundheit Infrastrukturen und Hygiene auszubauen sowie Vorund Frsorgemaßnahmen zu ergreifen.16 Noch radikaler war Michel Foucaults Vorschlag, „Biopolitik“ als eine der zentralen Staatsaufgaben seit dem 18. Jahrhundert aufzufassen. Aber es sind seine frheren Analysen zur Seuchenbekmpfung vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, die dazu angeregt haben, dieses Konzept nchterner zu betrachten und fr historische Vergleiche mit den Epidemien der Moderne bis hin zur Gegenwart zu nutzen.17 In hnlich sachlicher Weise lohnt es sich, den Gebrauch des Begriffs „Leben“ (bios) in den erregten Debatten des Frhjahrs 2020 zu betrachten. Dazu ein kleiner Exkurs: Der italienische Philosoph Giorgio Agamben entwickelte das Foucault’sche Konzept der Biopolitik in Bezug auf die totalitren Regime des zwanzigsten Jahrhunderts weiter. Ihm zufolge sind sie dadurch charakterisiert, dass sie ihre Untertanen und Opfer
14 Darauf zielt die Essayreihe auf dem Onlineforum Soziopolis von Thorsten Bonacker u. Sven Opitz, Sicherheit in der Krise, Apr. – Sep. 2020, https://www.soziopolis.de/beob achten/gesellschaft/artikel/sicherheit-in-der-krise/. 15 Francesca Falk, Hobbes’ Leviathan und die aus dem Blick gefallenen Schnabelmasken, in: Leviathan. Zeitschrift fr Sozialwissenschaften 39. 2011, S. 247 – 266; vgl. Philip Manow u. a. (Hg.), Die Bilder des Leviathan. Eine Deutungsgeschichte, Baden-Baden 2012. 16 Abram de Swaan, In Care of the State. Health Care, Education and Welfare in Europe and the USA in the Modern Era, Cambridge 1988, Kap. 4; seine historischen Belege stammen von Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770 – 1880, Gçttingen 1984. 17 Philip Sarasin, Mit Foucault die Pandemie verstehen?, in: Geschichte der Gegenwart, 25. 3. 2020, https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/.
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auf das „nackte Leben“ reduzieren.18 Diesen Spagat zwischen Foucaults Konzentration auf Kçrper und Bevçlkerungen einerseits und den auch von Agamben zitierten Ausfhrungen Hannah Arendts zum durch politische und staatsbrgerliche Werte definierten „guten“ Leben andererseits hat der franzçsische Anthropologe Didier Fassin zu berbrcken versucht. Gesttzt auf seine Feldforschungen zu AIDS in Sdafrika und Migrationskontrolle in Frankreich unterstreicht er die zentrale Bedeutung sozialer Ungleichheit gegenber Leben und Tod auf der einen, wenn man so will biologischen Seite und die der gelebten Erfahrung auf der anderen, gesellschaftlichen Seite.19 Diese Doppelperspektive kann meines Erachtens mit Gewinn auf den Streit um die Gesundheitspolitik gegen COVID-19 angewandt werden. Wie nun wurde die massive bersterblichkeit hochaltriger Menschen sowohl gegen die Interessen der jungen Generationen als auch gegen die wirtschaftlichen Kosten der verschiedenen Formen des Lockdown in Anschlag gebracht? Philosophische Autoren aus England und Frankreich, ein grner Brgermeister aus Deutschland, Stimmen aus der Wirtschaft oder auch çkonomische Kosten-Nutzen-Berechnungen riefen alte Menschen recht unverblmt dazu auf, ihr Leben fr das Wohlergehen der jngeren Bevçlkerung zu opfern. Ausdrcke wie „dead weight“ oder „Senizid“ wurden in den Medien mit mehr oder weniger Reflexion und geringem historischen Bewusstsein benutzt. Viele der utilitaristischen Pldoyers kamen von mnnlichen Autoren im Risikoalter. Die Gegenreaktionen waren nicht weniger vehement. Als mitten in der Debatte der deutsche Bundestagsprsident Wolfgang Schuble dafr pldierte, den Schutz des Lebens nicht absolut zu setzen, gleichzeitig aber fr eine sehr vorsichtige und schrittweise Lockerung der Coronamaßnahmen eintrat, wollte er offenbar fr eine Versachlichung der Debatte werben. Wegen der „unprzisen Provokation“ gingen ihn allerdings viele Reaktionen hart an.20 In dem Schlagabtausch wurde eine Reihe grundstzlicher Probleme angesprochen, zugunsten einer vereinfachten, allzu abstrakten Dichotomie von Leben beziehungsweise berleben gegenber Wohlfahrt und Wirtschafts18 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souverne Macht und das nackte Leben, Frankfurt 2002. Die Gefahr einer totalitaristischen Interpretation jeglicher Biopolitik, also auch der Gesundheitspolitik heutiger Wohlfahrtsstaaten, hat Agamben selbst illustriert, als er in der Presse zunchst verharmlosende, dann apokalyptische Kommentare zur Coronakrise beigesteuert hat. 19 Didier Fassin, Coming Back to Life. An Anthropological Reassessment of Biopolitics and Governmentality, in: Ulrich Brçckling u. a. (Hg.), Governmentality. Current Issues and Future Challenges, New York 2010, S. 185 – 200. 20 Interview von Robert Birnbaum u. Georg Ismar, Bundestagsprsident zur Corona-Krise. Schuble will dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen, in: Der Tagesspiegel, 26. 4. 2020, https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-coronakrise-schaeuble-will-dem-schutz-des-lebens-nicht-alles-unterordnen/25770466.html; Martin Klingst, Meister der unprzisen Provokation, in: Zeit-Online, 4. 5. 2020, https:// www.zeit.de/politik/deutschland/2020-05/wolfgang-schaeuble-freiheitseinschraenkun gen-menschenwuerde-grundrechte-coronavirus.
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wachstum jedoch wieder verschttet. Zwei Hinweise mçgen hier gengen: Zum einen mssten bei Reden ber „Leben“ dessen nicht-biologische Dimensionen anerkannt werden, also Lebensqualitt, emotionale Nhe, soziale Teilhabe, staatsbrgerliche Rechte, aber auch die vielfachen Ungleichheiten, denen es unterworfen ist. Ebenso im Gegensatz zum „nackten Leben“ steht das Recht auf ein wrdiges Sterben. Zum anderen nutzt es wenig zu leugnen, dass moderne Gesellschaften (aber nicht erst sie) den „Wert des Lebens“ vielfach quantitativ und monetr definiert haben. Vom Versicherungswesen ber Geiselbefreiungen bis zu medizinischen Behandlungen sind solche Einschtzungen immer prsent. Auch Triage findet im normalen Gesundheitswesen, und nicht nur in Kriegslazaretten, regelmßig statt, selbst wenn man das nicht gern hçrt.21 Gegen die drohende Altersdiskriminierung, den losen Sprachgebrauch von „Senizid“ sowie vor allem das Vordringen utilitaristischer Kalkle haben sich zahlreiche Stimmen erhoben. In Frankreich und Deutschland sind Petitionen erschienen, in denen zahlreiche Persçnlichkeiten aus Kultur, Politik, Wissenschaft, Gesundheitssystem und Zivilgesellschaft, darunter Jrgen Habermas und Romano Prodi, gegen solche Exklusionstendenzen eingetreten sind.22 Auch internationale Spezialist:innen aus Alternsforschung und Geriatrie haben die Altersdiskriminierung, den „ageism“, in çffentlichen Diskursen und gesundheitspolitischen Maßnahmen angeprangert und sich fr eine breite gesellschaftliche Debatte nach der Pandemie eingesetzt.23
IV. Altersdiskriminierung Das Coronavirus ist ein Ungleichmacher, und die gegen die Infektionsgefahr ergriffenen Maßnahmen verstrken diese Wirkung. Ihre wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen werden erst mit grçßerem zeitlichen Abstand vollstndig zu erfassen sein. Aber bleiben wir bei den Risiken schwerer Krankheit und des Todes. Bekanntlich sind ltere Menschen, vor allem ber Siebzig-, Achtzig- oder Neunzigjhrige, COVID-19 in berwiegendem Maße zum Opfer gefallen. Das Coronavirus diskriminiert dabei allerdings nicht nur gegen Alter, sondern es verstrkt soziale Ungleichheit entlang weiterer
21 Ariel Colonomos, Un prix la vie. Le dfi politique de la juste mesure, Paris 2020. 22 „Unsere Zukunft – nicht ohne die alten Menschen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 5. 2020, S. 7; „Manifeste pour une rvolution de la longvit“, in: Le Monde, 27. 5. 2020, S. 31. 23 Vgl. Sarah Fraser u. a., Ageism and COVID-19. What Does Our Society’s Response Say about Us?, in: Age and Ageing 49. 2020, H. 5, S. 692 – 695; Michel Oris u. a., La crise comme rvlateur de la position sociale des personnes ges, in: Fiorenza Gamba u. a. (Hg.), Covid-19. Le regard des sciences sociales, Zrich 2020, S. 182 – 191.
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Spaltungslinien.24 Eine umfangreiche quantitative Analyse der Daten des englischen National Health Service zeigt deutlich hçhere Infektionsrisiken von Immigrant:innen und sozialen Randgruppen, wenn man fr den Hauptfaktor Alter kontrolliert.25 In Lndern wie Frankreich, Schweden oder Kanada wird beobachtet, dass Immigrant:innen strker von bersterblichkeit betroffen sind als im Lande Geborene. In Deutschland und Großbritannien haben noch im Sommer 2020 massenhafte Ausbrche der Infektion in Fleisch- oder Textilfabriken die prekren Arbeits- und Lebensbedingungen bestimmter Arbeiterkategorien vor Augen gefhrt. Jenseits der besonderen Krisenkonjunktur ist in struktureller und historischer Perspektive hervorzuheben, dass sich diese gruppenspezifischen Gefhrdungen durch das Coronavirus zu den allgemeinen sozialen Ungleichheiten in der Lebenserwartung addieren, die Elemente langer Dauer moderner Gesellschaften darstellen; in erstaunlicher Weise sind sie resistent gegen wohlfahrtsstaatliche Abschwchung geblieben.26 Als das Altersprofil der Sterblichkeit an und mit COVID-19 bekannt wurde, diente die gesteigerte Vulnerabilitt der Menschen im Rentenalter als entscheidendes Motiv fr Kontaktsperren. Mit der Ausbreitung der Epidemie entdeckte man dann in stark betroffenen Lndern wie Italien, Spanien oder Frankreich, dass die Sterbeflle in Altersheimen und Pflegeeinrichtungen massiv zugenommen hatten, aber in vielen Fllen nicht vollstndig in die Fallbilanz der Pandemie aufgenommen worden waren. Mittlerweile sind fr eine Reihe von Lndern die statistischen Daten der bersterblichkeit publiziert und kommentiert worden.27 Im Vergleich zum Sterbegeschehen der 24 Konzis zusammengefasst von Peter Hall u. Rosemary Taylor, Pandemic Deepens Social and Political Cleavages, in: Social Europe, 22. 6. 2020, https://www.socialeurope.eu/ pandemic-deepens-social-and-political-cleavages; zu den USA vgl. den Beitrag von Jens Beckert in diesem Heft. 25 Elizabeth J. Williamson u. a., Factors Associated with COVID-19-Related Death Using OpenSAFELY, in: Nature 584. 2020, S. 430 – 436. 26 Fr Frankreich liegen dazu Daten ber mehrere Jahrzehnte vor: Nathalie Blanpain, L’esprance de vie par niveau de vie: chez les hommes, 13 ans d’cart entre les plus aiss et les plus modestes, in: INSEE Premi re 2018, Nr. 1687, n. p.; vgl. zuletzt im internationalen Vergleich Julia Lynch, Regimes of Inequality. The Political Economy of Health and Wealth, Cambridge 2020. 27 Die sog. „excess mortality“, die durch den Vergleich der Zahl der Sterbeflle mit den zeitgleichen Durchschnitten frherer Jahre berechnet wird, gilt als der verlsslichste Indikator fr Vergleiche. Er umgeht das Problem der unterschiedlichen Todesursachenregistrierung, schließt allerdings dafr auch kollaterale Effekte der Krisenzeit bei den Risikogruppen ein. Die Daten werden von EuroMOMO, einem europischen Netzwerk von 24 Staaten, aufbereitet und verçffentlicht: https://www.euromomo.eu. Fr die Bundesrepublik werden die Gestorbenen von Berlin und Hessen erfasst. Inzwischen liegen auch Ergebnisse fr außereuropische Lnder oder Regionen vor, vgl. Charlie Giattino u. a., Excess Mortality during the Coronavirus Pandemic (COVID-19), https:// ourworldindata.org/excess-mortality-covid. Das Magazin The Economist hat frh auf diese Indikatoren gesetzt, um die Pandemie im internationalen Vergleich darzustellen:
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Frhjahrsmonate in vergangenen Jahren ergaben sich teilweise enorme Steigerungen, die weit ber die bekannten Coronaflle hinausgingen. Erst jetzt realisierte die ffentlichkeit das ganze Ausmaß der Mortalitt. Es scheint nicht bertrieben, die anfngliche Unterregistrierung als Anzeichen mangelnder Aufmerksamkeit der amtlichen Stellen zu interpretieren. „Uncounted, unseen“, berschrieb The Economist Anfang Mai einen Artikel zu diesem Problem mit franzçsischen Beispielen.28 Von der spektakulren Gegenberstellung von „Leben“ und „Wirtschaftswachstum“ eher verdeckt, sind in vier sozialpolitischen Handlungsfeldern wesentliche Probleme lterer Menschen im Wohlfahrtsstaat schlagartig hervorgetreten. Erstens haben die Schutzvorkehrungen und Vorschriften der Ausgangsbeschrnkungen auf chronologisches Alter zur Identifikation der Risikogruppe gesetzt. Die Regierungen haben mit diesen Maßnahmen, die verstndlicherweise rasch, allgemein und unmissverstndlich formuliert und angewandt werden mussten, die Tendenz zur pauschalen Identifikation hochaltriger Menschen als Problemgruppe erheblich verstrkt. Diese „Chrononormativitt“ wird von Alternsforschern seit langem kritisiert; ihr mangelt es an gesundheitspolitischer Zielgenauigkeit, und sie stigmatisiert die Betroffenen. Zweitens ist im Kampf gegen die Infektion und fr die „Abflachung der Kurve“ auf die rumliche Isolierung der Risikogruppe gesetzt worden. Dadurch wurde die institutionelle Absonderung insbesondere der Bewohner:innen von Altenund Pflegeheimen intensiviert und sogar gegenber engsten Verwandten sozial und materiell durchgesetzt. Hausarrest, Besuchsverbot und Umzunungen waren die materiellen Zeichen dieser gruppenspezifischen Quarantne. Die rumliche und institutionelle Segregation scheint die statistische Untererfassung der in den Heimen stattfindenden COVID-19-Mortalitt sowie den in mehreren Lndern kritisierten Ausschluss lterer Patient:innen von der Behandlung in Hospitlern und Intensivstationen befçrdert zu haben.29 Drittens wurden selbst in einem traditionell hoch entwickelten Wohlfahrtsstaat wie Schweden die ber lange Zeit aufgestauten finanziellen und personellen Mngel der Pflege zu einem tçdlichen Risiko fr ltere Menschen. Von den Krankenhusern abgewiesen und in vielen Fllen zurckverlegt in die Heime, waren sie dort von mehrheitlich jungen, migrantischen und teilweise prekr beschftigten Pflegekrften umgeben, die in ihren Lebensverhltnissen o. A., Tracking Covid-19 Excess Deaths across Countries, https://www.economist.com/ graphic-detail/2020/04/16/tracking-covid-19-excess-deaths-across-countries. 28 O. A., Uncounted, Unseen. Many Covid Deaths in Care Homes are Unrecorded, in: The Economist, 9. 5. 2020, https://www.economist.com/europe/2020/05/09/many-coviddeaths-in-care-homes-are-unrecorded. 29 Vgl. Mary Daly, COVID-19 and Care Homes in England. What Happened and Why?, in: Social Policy & Administration, 28. 8. 2020, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/ 10.1111/spol.12645.
Ein Virus testet den Wohlfahrtsstaat
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einem erhçhten Infektionsrisiko unterlagen und den Virus mit zur Arbeit brachten. Auch in der Schweiz fehlte es in den Alters- und Pflegeheimen an Schutzkleidung und Masken. Dass die Lage der Pflegeberufe, aber auch der ambulanten und innerfamiliren Pflege seit Jahrzehnten zu den großen Baustellen europischer Wohlfahrtsstaaten gehçrt, wird durch historische und aktuelle Studien unterstrichen.30 Viertens sind die skizzierten Prozesse der Kategorisierung, Aus- und Einschließung und (zumindest partiellen) Unterversorgung auf den Protest der Betroffenen und ihrer Familien gestoßen. In Lndern wie Polen, Spanien oder Großbritannien haben die Verwandten Verstorbener bereits Klagen eingereicht. Medienberichte haben die Zustnde in einzelnen Institutionen aufgrund von Erfahrungsberichten angeprangert sowie den systematischen Ausschluss von Heimbewohner:innen von der COVID-19-Behandlung aufgedeckt. Nicht zuletzt haben ltere Betroffene selbst gegen den Paternalismus der Autoritten, die empfundene Infantilisierung und die Reduktion ihrer sozialen Kontakte protestiert. Alternsforscher:innen heben hervor, wie sich die Aberkennung von agency, die Rollenzuweisung als Opfer sowie die Hintanstellung emotionaler und sozialer Bedrfnisse annhernd selbstverstndlich vollzogen. Bei der rckblickenden Aufarbeitung wird es wichtig sein, die zweifellos komplexe Abwgung von Schutz auf der einen Seite und Freiheitsbeschrnkung auf der anderen Seite auch im Lichte dieser Stimmen und Interessen sowie mithilfe gerontologischer und psychologischer Expertise differenzierter zu betrachten, um Lebensqualitt und Selbstbestimmung einen hçheren Rang einzurumen.
V. Und wie weiter? In den Reaktionen europischer Wohlfahrtsstaaten gegenber der tçdlichen Attacke des Coronavirus auf hochaltrige und multimorbide Frauen und Mnner haben sich strukturelle Probleme von Sozial- und Gesundheitspolitik gegenber dem hçheren Alter ebenso wie gegenber Behinderten und chronisch Kranken in grellem Licht offenbart.31 Die Aufmerksamkeitsçkonomie der Statistik, die biopolitische Fokussierung von Expert:innen und Institutionen auf das „nackte Leben“, die soziale, rumliche und medizinische Marginalisierung von Heimbewohner:innen, die Randstellung von „Care“ und Pflegenden in der Hierarchie sozialpolitischer Prioritten – all dies ist keineswegs neu, aber infolge des Hrtetests whrend der COVID-19-Krise auf breiter Front zum Thema geworden. 30 Christophe Capuano, Que faire de nos vieux? Une histoire de la protection sociale de 1880 nos jours, Paris 2018; OECD, Who Cares? Attracting and Retaining Care Workers for the Elderly, Paris 2020. 31 Vgl. den Beitrag von Dagmar Herzog in diesem Heft.
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Nicht zuletzt nehme ich mit diesen Beobachtungen zu der großen Debatte Stellung, ob „danach“ grundstzliche Wandlungen zu erwarten sind oder die Gesellschaften eher zurck zur vorherigen Normalitt streben. Angesichts des jahrzehnte- und teilweise jahrhundertealten Politikerbes, das im Gesundheitswesen sowie in den sozialen Sicherungssystemen sedimentiert ist, wird man wohl zunchst mit dominanter Pfadabhngigkeit rechnen mssen. Umso wichtiger scheint es, auf die strukturellen Spannungslinien zu zeigen, die die Coronakrise enthllt hat. Sie erfordern Reformen, die ber den Status quo ante hinausweisen. Prof. Dr. Christoph Conrad, Universit de Gen ve, Dpartement d’histoire gnrale, Rue De-Candolle 5, 1211 Gen ve 4, Schweiz E-Mail: [email protected]
Prävention, ability und Verantwortung in Zeiten von Corona von Nina Mackert und Maren Möhring*
Prevention, Ability, and Responsibility in Times of Corona The article discusses the governmental and body-political implications of prevention in times of corona pandemic. It argues that the dynamics of responsibilization and ability that have been central to health-related prevention measures in modern liberal societies continue to form the basis for recognition as a prudent and health-conscious individual during the current COVID-19 pandemic. While social distancing and quarantining practices are accompanied by appeals to individuals to take responsibility for their and others’ health, the notion of “risk groups” assesses not only the current but also the past behavior of individuals in terms of their ability to be and remain healthy.
Bodo Ramelow und Christian Drosten waren sich uneins. Whrend der Thringer Ministerprsident Ende Mai 2020 einen „Paradigmenwechsel“ der Coronapolitik „von staatlichem Zwang hin zu selbstverantwortetem Maßhalten“ forderte, klang der Virologe Drosten deutlich zçgerlicher.1 Auf „Eigenverantwortung“ zu setzen sei „ja so das schwedische Modell“, das dort zu einer hohen bersterblichkeit gefhrt hatte. „Also ich bin mir nicht ganz sicher, ob das alles ber Eigenverantwortung laufen kann“, zweifelte Drosten. Auch andere Stimmen, wie etwa ausgerechnet Die Welt, fanden es „tçricht“, dass Ramelow nun „das Ur-Credo liberaler Selbstverantwortung“ zum Leitbild der Coronamaßnahmen erklrte.2 Der Aufruf zur Selbstverantwortung erschien ihnen verantwortungslos. Anders als die Therapie, bei der es um kurative Eingriffe und Nachsorge geht, kreist die Prvention von Krankheiten um Selbstverantwortung. In der Moderne stand hierbei immer wieder das Handeln des Individuums im * Wir bedanken uns bei Felix Krmer, Caroline Meier zu Biesen, Jrgen Martschukat und den Heftherausgebenden fr die hilfreiche Kritik unseres Manuskripts. 1 O. A., Thringen will weg von landesweiten Corona-Regeln, in: Sddeutsche Zeitung, 24. 5. 2020, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-thueringen-will-wegvon-landesweiten-corona-regeln-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200524-99166093. 2 O. A., Vorbild Schweden? Virologe Drosten sieht Ramelow-Plne skeptisch, in: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 29. 5. 2020, https://www.rnd.de/politik/schweden-als-vor bild-in-corona-krise-drosten-sieht-ramelow-plane-skeptisch-LUUVAJH6EZXZPRLJA MUD4RQ7ZY.html; Thomas Schmidt, Was Ramelow macht, ist nicht mutig, sondern tçricht, in: Die Welt, 24. 5. 2020, https://www.welt.de/debatte/kommentare/arti cle208246311/Corona-Lockerung-Was-Ramelow-macht-ist-nicht-mutig-sondern-toe richt.html. Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 443 – 455 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Vordergrund: das „prventive Selbst, jenes rationale, krankheitsminimierend agierende Subjekt“ und dessen Fhigkeit, Verantwortung fr die eigene Gesundheit und diejenige anderer zu bernehmen.3 Gerade in den Dekaden nach der „epidemiologischen Wende“, mit der in der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts die „Zivilisationskrankheiten“ in den Mittelpunkt gesundheitsbezogener Praktiken in den westlichen Industrienationen rckten, zielten Prventionsmaßnahmen auf die individuelle Vermeidung von Krankheitsrisiken durch eine gesunde Lebensfhrung.4 Auf diese Weise hielt eine Steigerungslogik Einzug in gesundheitsbezogene Prvention, die die Grenzen von Gesundheit und Krankheit zu verwischen begann und stete Selbstoptimierung zur ersten Pflicht selbstverantwortlicher Subjekte werden ließ.5 Damit schuf Prvention nicht nur Verstndnisse „gesunden“ und „ungesunden“ Verhaltens, sondern auch neue Mçglichkeiten der Ordnung des Sozialen. Gesundheit wurde insbesondere im 20. Jahrhundert zu einer Fhigkeit, die das erfolgreiche Selbst auszeichnete.6 In Zeiten von SARS-CoV-2 werden diese Diagnosen herausgefordert. Geht es bei einer Viruserkrankung nicht um ganz andere Prventionsparadigmen als beim Krankwerden durch die „falsche“ Lebensfhrung? Folgen Abstandhalten und Quarantne nicht anderen Logiken als der des Regierens ber Freiheit, gerade, wenn ihre Nichteinhaltung sanktioniert werden kann? Wie transformieren sich bisherige Prventionsregime, welche (neuen) Verkçrperungen von Selbstsorge, Verantwortung und Befhigung bringen sie hervor? Krisen, und Gesundheitskrisen in besonderem Maße, fungieren als Experimentierfelder, in denen neue Formen des Regierens, des staatlichen Zugriffs auf das
3 Martin Lengwiler u. Jeannette Madar sz, Prventionsgeschichte als Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, in: dies. (Hg.), Das prventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, S. 11 – 28, hier S. 16 [Herv. i. O.]; Nikolas Rose, The Politics of Life Itself, in: Theory, Culture & Society 18. 2001, H. 6, S. 1 – 30; Philipp Sarasin, Die Geschichte der Gesundheitsvorsorge. Das Verhltnis von Selbstsorge und staatlicher Intervention im 19. und 20. Jahrhundert, in: Cardiovascular Medicine 14. 2011, H. 2, S. 41 – 45. 4 Paul Weindling, From Infectious to Chronic Diseases. Changing Patterns of Sickness in the Nineteenth and Twentieth Century, in: Andrew Wear (Hg.), Medicine in Society, Cambridge 1992, S. 303 – 316; Jeannette Madar sz, Die Pflicht zur Gesundheit. Chronische Krankheiten des Herzkreislaufsystems zwischen Wissenschaft, Populrwissenschaft und ffentlichkeit, 1918 – 1945, in: dies. u. Lengwiler, Das prventive Selbst, S. 137 – 167; Stefan Offermann, Socialist Responsibilization. The Government of Risk Factors for Cardiovascular Diseases in the German Democratic Republic in the 1970s, in: Rethinking History 23. 2019, S. 210 – 232. 5 Sarasin, Gesundheitsvorsorge, S. 44; Ulrich Brçckling, Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prvention, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1. 2008, H. 1, S. 38 – 48. 6 Nina Mackert u. Jrgen Martschukat, Introduction. Critical Ability History, in: Rethinking History 23. 2019, S. 131 – 137.
Prvention, ability und Verantwortung
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Individuum wie der Selbstregierung erprobt werden.7 Genau darin liegt der epistemologische Mehrwert der sogenannten Coronakrise. Wir mçchten uns im Folgenden mit den gouvernementalen und kçrperpolitischen Implikationen von Prvention und Vorsorge in Zeiten von Corona befassen und danach fragen, was gegenwrtig mit dem prventiven Selbst, dessen Responsibilisierung und Befhigung passiert.8 Wir argumentieren, dass Eigenverantwortung und Gesundheit als Fhigkeit prventiver Subjekte auch in „Coronazeiten“ maßgebliche Anforderungen darstellen. Auch Abstand halten und Quarantnemaßnahmen richten sich immer wieder auf das Selbst und dessen Fhigkeit, Verantwortung fr die Gesundheit von sich und anderen zu bernehmen. Dabei spielt nicht nur das gegenwrtige Verhalten, sondern auch die vergangene Lebensfhrung von Individuen eine Rolle.
I. Staatliche Vorsorge und „präventives Selbst“ in der Moderne Kultur-, kçrper- und wissensgeschichtliche Zugriffe auf die Geschichte gesundheitsbezogener Prvention haben den Blick auf die Machtverhltnisse und Subjektformen gelenkt, die moderne Prvention durchziehen. Diese Studien haben gezeigt, auf welche Weise Vorsorge- und Prventionspraktiken mit der Genese moderner, liberaler Staaten verknpft sind. Letztere bernahmen im 19. Jahrhundert zunehmend Verantwortung fr die Gesundheit ihrer Bevçlkerung, beruhten aber auf der Selbstregierung freier und verantwortlicher Brger:innen.9 Mit einer Rationalisierung von Gesundheitswissen im 19. Jahrhundert ging die Vorstellung einher, dass sich gesundheitliche Gefahren minimieren oder gar verhindern ließen. Damit wurden gesundheitsbezogene Prventionspraktiken Teil breiterer Versuche, mit Hilfe von neuem wissenschaftlichen Wissen Risiken abzumildern und Zuknftiges plan- und gestaltbarer zu machen.10 Das aufklrerische Paradigma der „Sorge um sich“, 7 So bereits Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archologie des rztlichen Blicks, Mnchen 1973. 8 Siehe dazu auch den Beitrag von Heike Drotbohm und Sven Reichardt in diesem Heft. Fr eine soziologische Perspektive siehe Ulrich Brçckling, Optimierung, Preparedness, Priorisierung. Soziologische Bemerkungen zu drei Schlsselbegriffen der Gegenwart, in: Soziopolis, 13. 4. 2020, https://www.soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/ optimierung-preparedness-priorisierung/. 9 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Coll ge de France (1975 – 76), Frankfurt 1999; Philipp Sarasin u. a. (Hg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870 – 1920, Frankfurt 2006; Lengwiler u. Madar sz, Das prventive Selbst; Nicolai Hannig u. Malte Thießen, Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Rume und Praktiken, Berlin 2017. 10 Jamie L. Pietruska, Looking Forward. Prediction and Uncertainty in Modern America, Chicago 2017; Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1989; Lucian Hçlscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt 1999.
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das, so Philipp Sarasin, am „Anfang aller modernen Gesundheitspflege steht“, begann sich nun zunehmend auf den Kçrper zu richten, der gestrkt, ernhrt und umsorgt werden sollte.11 Gerade im Hinblick auf Infektionskrankheiten allerdings konnte diese Betonung der Selbstsorge mit dem Aufkommen von çffentlicher Hygiene einerseits und Bakteriologie andererseits im Laufe des 19. Jahrhunderts temporr in den Hintergrund gedrngt werden. Das neue bakteriologische Wissen, das gesundheitsbezogene Prvention seit den 1880er Jahren zu prgen begann, privilegierte Wissenschaftler und rzte als verantwortliche Experten. Auch staatliche Maßnahmen der Massenprophylaxe durch Immunisierung sollten individuelles Verhalten irrelevant machen.12 Sozialmedizinische Zugriffe hingegen, die nach dem Ersten Weltkrieg der „bakteriologischen Vorherrschaft“ ein Ende bereiteten, betonten gemeinsam mit der Notwendigkeit hygienischer Lebensbedingungen die Verantwortung „hygienisch reifer, von der Bazillenangst befreiter Subjekte“, die sich gegen staatliche Bevormundung richten und sich selbst vor Seuchen schtzen kçnnen sollten.13 Auch in der Lebensreformbewegung und im neuen Ernhrungswissen des frhen 20. Jahrhunderts wurde die kçrperbezogene „Sorge um sich“ zur Conditio sine qua non fr die Gesundheit von Individuen und (verstrkt „rassisch“ gedachten) Kollektiven erklrt.14 Waren es bis in das frhe 20. Jahrhundert hinein vor allem Infektionskrankheiten, die Prventionsdiskurse und -praktiken in westlichen Industriegesellschaften dominierten, bernahmen nach den Weltkriegen chronische Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen diese Rolle. Ihre alltagskulturelle Sammelbezeichnung „Zivilisationskrankheiten“ verdeutlicht, wie sehr eine Kritik an modernen Lebensstilen die neuen Risikowahrnehmungen nach der epidemiologischen Wende prgte.15 Das in den 1950er Jahren 11 Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualitt und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt 1986; Sarasin, Gesundheitsvorsorge, S. 41. Siehe auch ders., Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Kçrpers 1765 – 1914, Frankfurt 2001; Maren Mçhring, Die Regierung der Kçrper. „Gouvernementalitt“ und „Techniken des Selbst“, in: ZF 3. 2006, S. 284 – 290. 12 Sarasin u. a., Bakteriologie und Moderne; Sylvia Berger, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland 1890 – 1933, Gçttingen 2009; Claire Hooker, Sanitary Failure and Risk. Pasteurisation, Immunisation and the Logics of Prevention, in: Alison Bashford u. dies. (Hg.), Contagion. Historical and Cultural Studies, London 2001, S. 129 – 149, hier S. 141 u. S. 144. 13 Sylvia Berger, „Die Jagd auf Mikrobien hat erheblich an Reiz verloren“. Der sinkende Stern der Bakteriologie in Medizin und Gesundheitspolitik der Weimarer Republik, in: Lengwiler u. Madar sz, Das prventive Selbst, S. 87 – 114, hier insb. S. 87 u. S. 107. 14 Maren Mçhring, Essen als Selbsttechnik. Gesundheitsorientierte Ernhrung um 1900, in: Norman Aselmeyer u. Veronika Settele (Hg.), Geschichte des Nicht-Essens. Verzicht, Vermeidung und Verweigerung in der Moderne, Berlin 2018, S. 39 – 60; Nina Mackert, „Nature always counts“. Kalorienzhlen als Vorsorgetechnik in den USA des frhen 20. Jahrhunderts, in: Hannig u. Thießen, Vorsorgen, S. 213 – 231. 15 Madar sz, Pflicht zur Gesundheit. Ein Blick in die koloniale Geschichte der Gesundheit zeigt, dass bestimmte, als modern und „zivilisiert“ geltende, d. h. chronische oder nicht
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populr werdende „Risikofaktorenmodell“ identifizierte ber statistische Verfahren eine ganze Reihe neuer Risikofaktoren, die Herz-Kreislauf-Erkrankungen begnstigten, wie Alkoholkonsum, Bluthochdruck und „bergewicht“.16 Der Einzug der Risikofaktoren in die gesundheitliche Prvention etablierte die Selbstsorge verantwortlicher Individuen als vorherrschendes Paradigma. Erstens trug das Risikofaktorenmodell zur Entgrenzung dessen bei, was als gesundes oder krankmachendes Verhalten und als gesunder oder kranker Kçrper galt. Risikofaktoren schrieben Krankheit unabhngig von konkreten Symptomen in die Kçrper der Menschen ein und erforderten mithin permanente prventive Praktiken.17 Eine Entgrenzung von Prvention und Gesundheit lsst sich umso mehr diagnostizieren, als sich Gesundheitsvorstellungen im 20. Jahrhundert zunehmend ausweiteten. Nicht mehr nur Virenfreiheit oder die „Abwesenheit von Krankheit“ galten Mitte des letzten Jahrhunderts als Marker von Gesundheit, sondern vielmehr ein „Zustand des vollkommenen kçrperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“, wie es in der berhmten WHO-Definition von 1948 heißt.18 Mit dieser doppelten Entgrenzung avancierte Gesundheit zu einem umfassenden, letztlich nie erreichbaren Ideal, das einen Fluchtpunkt steter Selbstoptimierung bildet. Prventionsregime der Gegenwartsgesellschaft – vor Corona – zielten darauf, dass Subjekte permanent an der Steigerung ihrer Gesundheit arbeiteten und danach trachteten, die eigene physische wie psychische Konstitution zu verbessern. Damit eng verknpft bedeutete eine an Risikofaktoren orientierte gesundheitliche Prvention zweitens, dass sie an den Alltagshandlungen und der Selbstverantwortung der Menschen ansetzen musste. Wenn Krankheit Konsequenz eines falschen Lebensstils war, ein Resultat von Unwissen, Unfhigkeit oder gar Unwilligkeit, sich gesund zu ernhren und viel zu bewegen, dann lag die Verantwortung fr ihre Vorbeugung beim Individuum.19 Die Berechnung individueller Risiken implizierte schließlich, dass sich Krankheitswahrschein-
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ansteckende Krankheiten wie Krebs, in afrikanischen Kolonien schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprechend bersehen wurden. Siehe Jean-Paul Bado, Colonial Histories of Cancer. Primary Liver Cancer in Africa, 1900s – 1960s, in: Alexandra Widmer u. Veronika Lipphardt (Hg.), Health and Difference. Rendering Human Variation in Colonial Engagements, New York 2016, S. 111 – 128. Robert A. Aronowitz, Making Sense of Illness. Science, Society, and Disease, Cambridge 1998; Carsten Timmermann, Risikofaktoren. Der scheinbar unaufhaltsame Erfolg eines Ansatzes aus der amerikanischen Epidemiologie in der deutschen Nachkriegsmedizin, in: Lengwiler u. Madar sz, Das prventive Selbst, S. 251 – 277; Offermann, Socialist Responsibilization. Robert A. Aronowitz, The Converged Experience of Risk and Disease, in: The Milbank Quarterly 87. 2009, S. 417 – 442; Brçckling, Vorbeugen. O. A., Constitution of the World Health Organization, in Kraft getreten am 7. 4. 1948, in: World Health Organization, Basic Documents, Genf 200584, S. 1 – 19, hier S. 1. Timmermann, Risikofaktoren; Offermann, Socialist Responsibilization.
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lichkeiten kalkulieren und Krankheiten vermeiden ließen.20 Der Fitness- und Ditboom seit den 1970er Jahren war ein Ausdruck der auf das Individuum bergegangenen Pflicht, sich selbst gesund und fit zu halten.21 Er zeigt, dass viele – bei weitem aber nicht alle – Menschen die Sorge vor den schleichend kommenden, nicht sichtbaren Zivilisationskrankheiten aufgriffen und sich zu eigen machten. Nicht zufllig avancierte ein „dicker“ Kçrper in dieser Zeit zur paradigmatischen Verkçrperung individueller Verantwortungslosigkeit angesichts gesundheitlicher Gefahren, die nicht nur das Individuum, sondern die Gesellschaft als Ganzes betrafen.22 Die Fhigkeit der Menschen, Verantwortung fr ihre Gesundheit zu bernehmen, schien an ihren Kçrpern ablesbar zu sein.23 Kurzum: Gesundheit wurde im 20. Jahrhundert zu einer Fhigkeit, die manchen Individuen zu- und anderen abgesprochen werden konnte. Dabei zielt der Begriff der ability, inspiriert von den Dis/ability Studies, auch auf einen Prozess der Befhigung, im Laufe dessen reguliert wird, wer berhaupt als fhig gelten kann.24 ber Gesundheit als ability wird nicht nur Krankheit und ihre Prvention verhandelt, sondern gerade auch gesellschaftliche Zugehçrigkeit. Das Streben nach einem gesunden Kçrper gert zum Ausweis von Fhigkeiten, die als notwendige Qualitten von Brgerinnen und Brgern in liberalen Gesellschaften galten und gelten. Vice versa kann „unverantwortliches“ Verhalten zur Begrndung von Intervention und Ausschluss werden.25
II. Prävention in Zeiten von Corona Was passiert nun mit diesem Prventionsregime, das um Responsibilisierung und Befhigung kreist, in Zeiten von Corona? Zunchst einmal geht es auch in der gegenwrtigen Pandemie maßgeblich um Prvention, zumal ein Heilmittel gegen COVID-19 fehlt. Die aktuellen Prventionsmaßnahmen setzen bei der Andersartigkeit ansteckender Krankheiten an, und zwar an derjenigen Bedingung, die zuallererst eine Epidemie ausmacht: der zeitlichen und 20 Brçckling, Vorbeugen; Aronowitz, Risk and Disease. 21 Jrgen Martschukat, Das Zeitalter der Fitness. Wie der Kçrper zum Zeichen fr Erfolg und Leistung wurde, Frankfurt 2019. 22 Nina Mackert, Writing the History of Fat Agency, in: Body Politics 3. 2015, H. 5, S. 13 – 24; Mçhring, Essen als Selbsttechnik, S. 39 – 41. 23 Jrgen Martschukat, The Pursuit of Fitness. Von Freiheit und Leistungsfhigkeit in der Geschichte der USA, in: GG 42. 2016, S. 409 – 440. 24 Fiona Kumari Campbell, Contours of Ableism. The Production of Disability and Abledness, Basingstoke 2009. 25 Nina Mackert, Eat Your Way to Health. On the Emergence of Health as Ability in the Early Twentieth Century US, Keynote HOTCUS Winter Symposium, Keele University, 21. 2. 2020, https://www.youtube.com/watch?v=vkfGgyNP4CI; dies. u. Martschukat, Critical Ability History.
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rumlichen Nhe von Menschen.26 Da Ansteckung ein relationales Geschehen bezeichnet, sind es Begegnungen und Berhrungen, die durch Kontakt- und Ausgangssperren oder Quarantne minimiert werden sollen.27 Abstandhalten und das Tragen von Gesichtsmasken sollen die Ansteckung des Selbst wie der Anderen verhindern. Whrend Sicherheitsabstand und Mund-Nasen-Schutz ein Mindestmaß an Mobilitt im çffentlichen Raum ermçglichen, fixiert die Quarantne Kçrper fr eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Ort. Quarantne erweist sich damit als eine (re) territorialisierende Technologie, welche die Bewegung von Menschen im Raum unterbricht. Es geht nicht darum, Kontakte endgltig zu beenden, sondern um eine zeitlich begrenzte Eindmmung, die eine Entschleunigung und De-Intensivierung von Kontakten bewirken soll.28 Um den Kçrper herum werden also verschiedene „hygienische Schranken“ errichtet, weil der Kçrper selbst sich scheinbar nicht hinreichend abschließen kann.29 Ganz im Gegenteil lsst er das Virus je nach Infektionsart und kçrperlichen Voraussetzungen unterschiedlich schnell und folgenreich eindringen, sich ausbreiten und Teil des Kçrpers werden.30 Das Virus berschreitet die keineswegs sichere, kaum klar bestimmbare Grenze zwischen Individuum und Umwelt.31 Das Virus bleibt oft unerkannt, weshalb sich die Identifizierung infizierter Kçrper nicht leicht bewerkstelligen lsst. Quarantnemaßnahmen sind in der aktuellen Pandemie genau aus diesem Grund notwendig, weil sich eine 26 „[E]pi-demics refers to a condition set upon people who are close in time and space“, heißt es bei Joost Van Loon, Epidemic Space, in: Critical Public Health 15. 2005, S. 39 – 52, hier S. 42. 27 Oder zumindest durch die Gesundheitsmter nachverfolgbar sein sollen, wie es nicht zuletzt die kurz nach dem Verfassen dieses Textes in Deutschland eingefhrte CoronaWarn-App ermçglichen soll. 28 Sven Opitz, Regulating Epidemic Space. The Nomos of Global Circulation, in: Journal of International Relations and Development 19. 2016, S. 263 – 284. 29 In der Errichtung solcher „hygienic boundaries“ besteht die Logik der Quarantne, so Alison Bashford u. Claire Hooker, Introduction. Contagion, Modernity and Postmodernity, in: dies., Contagion, S. 1 – 14, hier S. 9. Zur Offenheit menschlicher Kçrper, die historisch insbesondere Frauenkçrpern zugeschrieben wurde, (sptestens) im Zuge von Aids dann auch verstrkt den Kçrpern homosexueller Mnner, siehe Catherine Waldby, AIDS and the Body Politic. Biomedicine and Sexual Difference, Abingdon 1996; Sebastian Haus, Risky Sex – Risky Language. HIV / AIDS and the West German Gay Scene in the 1980s, in: Historical Social Research 41. 2016, H. 1, S. 111 – 134. 30 Zum Virus als Aktant im Sinne Latours Katharina Hoppe, Natur, in: Frankfurter Arbeitskreis fr Politische Theorie und Philosophie, Kritische Theorien in der Pandemie. Ein Glossar zur Corona-Krise, 29. 3. 2020, https://www.youtube.com/watch?v= KcWoQ8KdMa8. Dass die Wirkmchtigkeit nicht-menschlicher Akteure nicht mehr in Abrede gestellt werden kann, haben jngst Stefanie Gnger u. Jrgen Osterhammel betont, dies., Denkpause fr Globalgeschichte, in: Merkur, 24. 7. 2020, https://www.merkurzeitschrift.de/2020/07/24/denkpause-fuer-globalgeschichte/?fbclid=IwAR19IcLPABQCv26D4rBy8ikhzJ-4v_UCL0hNMQo053HB0-m4O0n9emnbd0. 31 Bashford u. Hooker, Introduction, S. 4.
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mçgliche Infektion erst einige Zeit nach der Ansteckung oder aber gar nicht, zudem nicht ohne Virentest, am Kçrper ablesen lsst. Der Kçrper muss daher vom Individuum selbst oder von einer medizinischen Fachkraft bestndig auf seine verborgene Wahrheit hin abgesucht werden. Das geschieht ber eine permanente Selbstbeobachtung, das Lesen und Deuten von Symptomen, das Messen der Kçrpertemperatur oder ber den Rachenabstrich, der auf Viren hin untersucht wird. Hermeneutische, quantifizierende und labormedizinische Verfahren greifen also ineinander, um das Latente zum Vorschein zu bringen. Gerade weil eine COVID-19-Infektion lange unsichtbar bleiben kann, muss jede kleine Vernderung am Kçrper registriert und gedeutet werden. Zirkulierende und immer wieder aktualisierte Informationen ber „typische“ COVID-19-Symptome, oft versehen mit dem quantifizierenden Hinweis, wie viel Prozent bisher betroffener Menschen diese Symptome zeigen, sollen Individuen bei ihrer Selbstbeobachtung und -einschtzung helfen.32 Das Problem fr diese Formen der Intervention ist weniger der mçgliche Widerstand der Menschen, ob in Quarantne oder nicht, sondern vielmehr „the obscurity of the body“.33 Selbst der Test auf SARS-CoV-2, der in Deutschland auch whrend der Hochphase der Pandemie etwa im Vergleich zu Sdkorea nur recht verhalten zur Anwendung kam, kann keine letztgltige, sondern immer nur eine vorbergehende und vermeintliche Gewissheit schaffen. Gerade weil viele mit dem Virus infizierte Kçrper jedoch keinerlei Symptome zeigen, ist gegenwrtig jeder Kçrper verdchtig, sich mit SARS-CoV-2 angesteckt zu haben. Die Entgrenzung des „Gefhrders“ und die (Neu-) Definition der Umgebung als lebensgefhrliches Habitat produzieren Misstrauen als eine zentrale Emotion im Pandemiegeschehen. Eingebunden ist dieses mangelnde Vertrauen in „Dispositive der Angst und Sorge“.34 Selbstsorge – ein zentraler Begriff im Zusammenhang mit dem prventiven Selbst – ist in Coronazeiten nicht nur als Frsorge, als Umsorgen, als Bewahren und Hten, sondern auch als eine im Achtgeben sprbare Unruhe und Unsicherheit, als ein Sich-Sorgen zu konzeptualisieren, welches das Selbstverhltnis des Subjekts wie auch seine Kontakte zu anderen prgt.35 Die Fhigkeit zur Sorge um sich und andere wird mithin gegenwrtig auf vielfltige Weise aufgerufen und gert zu einer zentralen Anforderung im Krisengeschehen.
32 Robert Koch Institut, SARS-CoV-2. Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand: 29. 5. 2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_ Coronavirus/Steckbrief.html. 33 Wang Min’an, Body Politics in the SARS Crisis, in: positions 12. 2004, S. 587 – 596, hier S. 594. 34 Brçckling, Optimierung. 35 Vgl. Elmar Seebold (Hg.), Etymologisches Wçrterbuch der deutschen Sprache, Berlin 200224, S. 858. Dort auch zu Sorge und dem neuenglischen sorrow, i. e. Trauer, Kummer, Leid.
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Die Rationalitt der gegenwrtig verhngten Quarantne besteht, anders als die der mittelalterlichen, nicht in der Ausstoßung und Exilierung (potenziell) gefhrlicher Personen. Die unter Quarantne gestellten Personen bleiben trotz Distanzierung und Separierung inkludiert.36 Dabei wird die Einhaltung der Quarantne aber nicht vollstndig der Eigenverantwortung der oder des Einzelnen berlassen, sondern durch berwachung, etwa seitens kommunaler Angestellter, flankiert. Verstçße werden geahndet: es drohen Geldbußen und Freiheitsstrafen. Die Missachtung von Abstandsgeboten und Kontaktbeschrnkungen gilt mindestens als Ordnungswidrigkeit. Neben der verordneten Quarantne werden die Menschen zudem aufgerufen, sich in „freiwillige Quarantne“ zu begeben, wenn ein „geringes Ansteckungsrisiko“ besteht. Diese beruht explizit auf der Selbstverantwortung der Individuen, das Risiko abschtzen und die 14-tgige Selbstisolation aus „Solidaritt und Einsicht“ einhalten zu kçnnen.37 Sowohl die angeordnete als auch die freiwillige Einschrnkung wird als Opfer begriffen, das selbstverantwortliche Individuen bringen sollen. „In this confinement“, so Wang Min’an ber Quarantnemaßnahmen whrend der SARS-Epidemie 2002 / 3, „there is no remolding, punishment, discipline, or confession; on the contrary […]. This confinement is narrativized as a kind of sacrificial behavior, […] a publicspirited behavior.“38 Dieses gemeinntzige Verhalten drckt sich nicht zuletzt darin aus, dass die verschiedenen Formen rumlicher Distanzierung und Separierung nicht vornehmlich dem Zweck dienen, dass das Individuum nicht krank wird; es soll vor allem auch niemanden krank machen. Schon zu Beginn der Pandemie ist ein besonderes Risikoverhalten skandalisiert worden, das sich etwa in den schnell zum Topos gewordenen, sogenannten Coronapartys manifestierte.39 Nach den Maßgaben der Kontaktsperre unverantwortliches, illegitimes Verhalten macht den Kçrper des Individuums selbst zu einem Risiko, das sich in der Figur des superspreader verdichtet.40 Es ist vor allem die
36 Kçrper werden in einem „inner outside“ fixiert, so Opitz, Regulating Epidemic Space, S. 275 im Rekurs auf Foucault. 37 So bspw. die Aufforderung der Stadt Leipzig, Coronavirus. Hufige Fragen und Antworten zum Thema Coronavirus, o. D., https://www.leipzig.de/jugend-familie-undsoziales/gesundheit/neuartiges-coronavirus-2019-n-cov/haeufige-fragen-und-antwor ten/#c194205: „Eine freiwillige Quarantne appelliert an die Solidaritt und die Einsicht derer, die sich unter Umstnden angesteckt haben kçnnten“. 38 So Min’an, Body Politics, S. 590. 39 Der oft mit Partys verbundene Alkohol- und Drogenkonsum wird dabei besonders skandalisiert, weil er vernnftiges Verhalten auszuhebeln und statt Abschließung transund exzessive Kçrperpraktiken zu befçrdern droht. Aber auch die Straßen- oder Eisenbahn statt den Individualverkehr zu whlen, ließe sich als (ggf. vermeidbares) Risikoverhalten werten – ebenso die Unterbringung der eigenen Kinder in der sog. Notbetreuung. 40 Aus gutem Grund wird in der epidemiologischen Fachliteratur eher vom superspreading gesprochen, um die Zurechnung der außergewçhnlich hohen Verbreitung eines Virus nicht als Eigenschaft der verbreitenden Person, sondern als Ereignis zu rahmen, das
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Ambivalenz des Kçrpers, die hier zum Tragen kommt; der Kçrper ist immer zugleich beides: „at risk“ und „risky“.41 Um dieses kçrperliche Potenzial einzuhegen, empfiehlt das Robert Koch-Institut das „vernnftige“ Einhalten der Abstandsregeln. Dann ließe sich die Gefahr einer „zweiten Welle“ bannen, die nicht nur fr das Individuum, sondern fr das gesamte Gesundheitssystem problematische Folgen wie berlastete Krankenhuser und fehlende Intensivbetten htte.42 Wer aber ist zu einem solchen vernnftigen Verhalten berhaupt befhigt? In freiwillige Quarantne etwa kçnnen nur diejenigen gehen, die die rumliche Mçglichkeit haben, sich selbst zu isolieren. Wohnungslosen oder Menschen in geschlossenen Institutionen steht diese Option nicht oder in nur sehr beschrnktem Maße zur Verfgung. Auch Abstandhalten ist weder in einem berfllten Flchtlingslager noch in einem sdafrikanischen Township oder einem indischen Slum mçglich – unabhngig davon, wie sehr die dort lebenden Menschen diese Regelungen einhalten mçchten. „Only those who aren’t already confined can self-isolate“, hat Zeynep Gambetti jngst die Aufrufe zum Zuhausebleiben kommentiert und damit darauf verwiesen, inwiefern gegenwrtig gefragte abilities von Barrieren der Befhigung, also rumlich-materiellen Rahmenbedingungen, reguliert werden.43 Auch die Auseinandersetzungen um besondere „Risikogruppen“, also Menschen, denen ein besonders schwerer Verlauf einer COVID-19-Erkrankung droht, sind durchzogen von Logiken der Befhigung. Wenn Ratschlge erteilt werden, sich vitaminreich zu ernhren, um das Immunsystem zu strken, oder Joggen zu gehen, um die Lungenfunktion bestmçglich aufrecht zu erhalten, zeigt sich, dass aktuell mitnichten auf ltere Prventionspraktiken verzichtet wird. hnlich wie gesunde Ernhrung und Sport darauf abzielen, HerzKreislauf-Erkrankungen oder Diabetes vorzubeugen, dienen sie nun dazu, bei Kontakt mit dem Virus eine ausreichende Abwehr zu gewhrleisten, um im besten Fall erst gar nicht zu erkranken, oder aber einen mçglichst leichten Verlauf von COVID-19 zu erreichen. Dabei geht es nicht allein um den gegenwrtigen Lebensstil der Individuen. Auch vergangenes Verhalten wurde im Laufe der Pandemie schnell zum Thema: Bestimmte Formen der Lebensfhrung ließen Menschen zu (altbekannten) Risikogruppen werden. Wenig berraschend thematisierten Mediziner:innen und Medien „bergewicht“ und Herz-Kreislauf-Erkrankunbestimmten Umstnden und Kontexten geschuldet, nicht aber die „Schuld“ des Einzelnen ist. 41 Van Loon, Epidemic Space, S. 11. 42 Christoph Seidler, So kçnnte die Corona-Pandemie weitergehen, in: Der Spiegel, 13. 5. 2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/corona-szenarien-so-ko ennte-die-pandemie-weitergehen-a-30d51e89-8db8-4f65-8959-35de88c6a385. 43 Zeynep Gambetti, Confine, in: Frankfurter Arbeitskreis fr Politische Theorie und Philosophie, Kritische Theorien in der Pandemie. Ein Glossar zur Corona-Krise, 29. 3. 2020, https://www.youtube.com/watch?v=MhN7ugkkTw8&list=PLvqj5O3ibOM7eYWSTZc-uMS6Ksse6Ed_D&index=9&t=0 s&app=desktop.
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gen als Risikofaktoren fr einen schweren Verlauf einer COVID-19-Erkrankung, kçrperliche Faktoren also, die in Zusammenhang mit einem ungesunden Lebensstil gebracht werden.44 Auf diese Weise suggerieren Verhandlungen ber Risikogruppen eine Verantwortung der Einzelnen fr ihre COVID-19Vulnerabilitt. Ausgenommen ist hier die Risikogruppe der alten Menschen. Insofern ltere besonders hufig Vorerkrankungen aufweisen, berschneiden sich die (epidemiologischen) Identifizierungen und Kategorisierungen stark gefhrdeter Kçrper.45 Dass im Alter die Krankheitsanflligkeit und die Wahrscheinlichkeit eines schweren Krankheitsverlaufs hçher sind als in jngeren Jahren, wird aber weniger den Individuen angelastet, als vielmehr als biologische Tatsache verhandelt. ber sozioçkonomische Differenzen innerhalb dieser ußerst heterogenen Gruppe wird dabei kaum gesprochen. Stephan Lessenich hat darauf hingewiesen, dass „die Alten“ homogenisiert und seit Corona als besonders vulnerable und damit schtzenswerte Gruppe ausgemacht wurden – anders als in Lagern untergebrachte Geflchtete oder Wohnungslose, die sich ebenfalls als „Risikogruppen mit besonderem Schutzbedarf“ angeboten htten.46 Responsibilisierung aber findet auch im Falle alter Menschen statt, wenn diese sich etwa „unvernnftig“ verhalten und trotz aller Warnungen ihre Kinder und Enkelkinder sehen wollen. Die Fhigkeit einer tatschlich eigenstndigen und eigenverantwortlichen Risikoabwgung scheint dieser Gruppe, fr deren Schutz die Gesellschaft nach gngigem Narrativ so viele Opfer auf sich nimmt, nicht zugetraut zu werden. Wenn das Verhalten und die Mobilitt Vieler eingeschrnkt werden, und zwar vornehmlich zugunsten besonders gefhrdeter Gruppen, dann stehen diese Gruppen unter ausdrcklicher Beobachtung und unvernnftiges Verhalten wird besonders verwerflich.
III. Nachsorge Auch die Konfrontation mit einer neuartigen Infektionskrankheit aktiviert also Responsibilisierungsstrategien, die die Einzelnen mindestens mitverantwortlich an einer Erkrankung oder ihrem Verlauf machen. Das gilt sowohl fr Alltagspraktiken (Rauchen, Alkoholkonsum, Ernhrung, kçrperliche Bewe44 Irene Berres u. Nina Weber, Risikofaktor bergewicht, in: Der Spiegel, 11. 5. 2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-virus-uebergewicht-kann-covid19-verlauf-verschlimmern-a-2a43c1cf-59d5-4472-b67d-cd6a5f445113-amp; Volkart Wildermuth, Warum erkranken manche heftiger, andere kaum?, in: Deutschlandfunk, 29. 4. 2020, https://www.deutschlandfunk.de/verlauf-von-covid-19-warum-erkrankenmanche-heftiger-andere.676.de.html?dram:article_id=475699&utm_source=pocketnewtab; Christina Kunkel, Risiko Fettleibigkeit. Bei schweren Verlufen von Covid-19 ist die Sterblichkeit enorm, in: Sddeutsche Zeitung, 26. 5. 2020, S. 14. 45 Siehe den Beitrag von Christoph Conrad in diesem Heft. 46 Stephan Lessenich, Coronofizierung des Politischen. Alte, Arme, Flchtlinge. ber die Verwundbarkeit im Ausnahmezustand, in: Sddeutsche Zeitung, 6. 5. 2020, S. 11.
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gung und nicht zuletzt Hndewaschen sowie Husten- und Nieshygiene) als auch fr das eigene Verhalten im Raum (Einhaltung der Kontaktsperre beziehungsweise einer verordneten Quarantne). In der Coronapandemie richten sich Prventionspraktiken und Responsibilisierung demnach in zweierlei Hinsicht auf die Kçrper der Individuen: Erstens bleibt die eigene Lebensfhrung ein zentraler Aspekt des Prventionsregimes. Zweitens, und das ist das fr westliche Gesellschaften des 21. Jahrhunderts Ungewohnte am derzeitigen Gesundheitsmanagement, geht es in hohem Maße darum, den eigenen Kçrper von kontagiçsen Kontakten fernzuhalten, was ber Kontaktund Ausgangssperren erreicht werden soll.47 Unser Argument ist demnach, dass trotz aller Neuerungen, welche die emerging infectious diseases und Corona im Besonderen fr die Geschichte der Prvention bedeuten, lngst eingefhrte Prventionspraktiken, Responsibilisierungsstrategien und Befhigungsdynamiken keineswegs an ihr Ende gekommen sind.48 Das legt einen weiteren Schluss nahe: Infektionskrankheiten und nicht-bertragbare Krankheiten mssen mçglicherweise historisch verstrkt gemeinsam und auf die zwischen ihnen bestehenden beziehungsweise hergestellten Korrelationen hin untersucht werden. Vor allem aber zeigt dieser kursorische Blick auf das Corona-Prventionsregime, dass dieses nach wie vor um individuelle Fhigkeiten zu gesundem Verhalten kreist, die Menschen zu- oder abgesprochen werden. Entscheidend dafr, selbst gesund durch die Krise zu kommen und andere nicht anzustecken, scheinen vergangene und gegenwrtige Fhigkeiten von Menschen zu sein, sich selbst zu fhren. Mithin luft eine Prventionsgeschichte, die die Bedeutung von ability nicht bercksichtigt, Gefahr, mit Prozessen der Befhigung einen zentralen Modus aus den Augen zu verlieren, ber den Prventionsregime operieren und gesellschaftliche Ein- und Ausschlsse regulieren. Dies gilt umso mehr, als die gegenwrtigen Prventionsmaßnahmen mit ihren sozialen und kçrperpolitischen Implikationen Mnner und Frauen, Alte und Junge sowie Menschen verschiedener regionaler und sozialer Herkunft auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Strke betreffen. Die ergrif-
47 Sptestens seit SARS hat die Quarantne wieder ihren festen Platz im Repertoire der Prventionsmaßnahmen erhalten, was aber in den wenig von SARS betroffenen Lndern kaum registriert wurde, sodass aktuell ein euro- bzw. anglozentristischer discourse of newness die Debatten beherrscht. 48 Instruktiv aus historischer Perspektive: Ulrike Lindner, Der Umgang mit neuen Epidemien nach 1945. Nationale und regionale Unterschiede in Europa, in: Malte Thießen (Hg.), Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Mnchen 2014, S. 115 – 136. Dass der „modernist dream“ einer seuchenfreien Zukunft mittlerweile vom „dystopian counter-image of a post-antibiotic age“ abgelçst wurde, betont Christoph Gradmann, Transitions, Traditions. From Colonial to Global Health, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 64. 2017, S. 101 – 105, hier S. 102.
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fenen Maßnahmen, aber auch das Infektionsgeschehen selbst, sind mithin keine Gleichmacher, sondern verstrken im Gegenteil soziale und damit auch globale Ungleichheit in einem Ausmaß, das vielen als ungeahnt erscheinen mag, aber letztlich nur eine Erkenntnis der Gesundheitswissenschaften besttigt: ber die Vulnerabilitt von Menschen entscheiden der soziale Status und das çkonomische, soziale und kulturelle Kapital.49 Die Kategorie des Lebensstils dagegen birgt die Gefahr, Vulnerabilitt als Resultat individueller (Un)Fhigkeiten zu reproduzieren. Dr. Nina Mackert, Universitt Leipzig, Leipzig Lab „Global Health“, Wchterstraße 30, 04107 Leipzig E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Maren Mçhring, Universitt Leipzig, Institut fr Kulturwissenschaften, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig E-Mail: [email protected]
49 Siehe etwa zur besonderen Vulnerabilitt von African Americans in den USA Jrgen Martschukat, „I can’t breathe“. Atemnot als Normalzustand, in: Michael Volkmer u. a. (Hg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven fr die Zukunft, Bielefeld [2020].
Follow the Money Zur Lage der Behindertenrechte in den USA von Dagmar Herzog*
Follow the Money. On the Situation of Disability Rights in the United States The first months of the COVID-19 pandemic have confronted the disability community with profound challenges. Thirty years after the Americans with Disabilities Act was signed, Americans with disabilities have achieved extraordinary gains in reducing prejudices and acquiring broad public visibility and respect; these gains were evident in activists’ early success in formally securing rights to equitable medical treatment. Yet, faced with the task of safeguarding funding for Medicaid – which sustains the home health aides and much of the communal programming that facilitate self-determined lives for individuals with physical and / or intellectual disabilities – advocates are now in a very challenging situation.
„Opfert die Schwachen. ffnet Tennessee.“ Plakat bei einer Anti-Lockdown-Kundgebung, Nashville, April 20201 „Wir befrchten, dass diese Pandemie die in jahrelanger Anstrengung errungenen Fortschritte fr Menschen mit Behinderungen zunichtemachen kçnnte.“ Peter Berns, CEO von „The Arc“, Mai 20202
„Ich bin es wert, ein Beatmungsgert zu bekommen! Ich will das Recht haben zu leben“ stand im April 2020 auf dem Schild in den Hnden von Matthew Foster, einem Mann aus Alabama mit Down-Syndrom.3 Der dem Bild beigefgte Bericht war Teil eines tglich komplexer werdenden Gewebes von Diskussionen in den Mainstream- sowie in den sozialen Medien ber die ungleichen Auswirkungen, denen Mitglieder der verschiedensten sozialen
* Fr die kritische Lektre und wichtige Hinweise mçchte ich mich bei Ute Frevert, Paul Nolte, D na-Ain Davis, Uwe Kaminsky und Mischa Suter herzlichst bedanken. 1 Alahna Kindred, Anti-Lockdown Protester Wields Vile „Sacrifice the Weak“ Poster at ReOpen Tennessee Rally, in: The Sun, 23. 4. 2020, https://www.the-sun.com/news/ 724137/anti-lockdown-protester-tennessee-rally/ [alle bers. D. H.]. 2 Peter Berns zit. n. Craig Melvin, Virus Crisis Isolating the Disabled and Their Families, in: MSNBC, 1. 5. 2020, https://www.msnbc.com/craig-melvin/watch/virus-crisis-isola ting-the-disabled-and-their-families-82875461953. 3 Matthew Foster zit. n. Liz Essley Whyte, State Policies May Send People with Disabilities to the Back of the Line for Ventilators, in: Public Integrity, 8. 4. 2020, https:// publicintegrity.org/health/coronavirus-and-inequality/state-policies-may-send-peoplewith-disabilities-to-the-back-of-the-line-for-ventilators/. Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 456 – 467 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Gruppen ausgesetzt waren, als sich die COVID-19-Pandemie ab Mitte Mrz 2020 immer weiter in den USA ausbreitete. Die Zerstçrungswut des Virus hat noch massivere Mngel und Ungleichheiten sowohl im US-Gesundheitssystem als auch in der US-Wirtschaft sichtbar gemacht als vorher schon offenkundig waren; gesundheitlich und wirtschaftlich bereits gefhrdete Gruppen traf COVID-19 mit der grçßten Hrte.4 Die hçchsten Todesraten waren bei lteren Menschen in Pflegeeinrichtungen zu verzeichnen – und auch bei ihren Pflegekrften. Diese waren oft Angehçrige ethnischer Minderheiten (Schwarze, Latinx, Filipino-Amerikaner:innen), schlecht bezahlt, ohne eigene Krankenversicherung und ohne angemessene Schutzausrstung. Per definitionem konnten sie sich nicht physisch distanzieren, da die von ihnen geleistete Hilfe notwendigerweise mit Kçrperberhrungen einhergeht. Allgemein waren die Sterblichkeitsraten unter Schwarzen und Latinx im proportionalen Vergleich zu ihrem Anteil an der US-Bevçlkerung unverhltnismßig hoch. Die Ursachen sind komplex: eine unzureichende Gesundheitsversorgung, erhçhte Umwelttoxizitt in rmeren Wohnvierteln, der unerbittliche Stress eines Lebens in stndiger Armut, die hufig mit hoher Ansteckungsgefahr verbundenen Jobs. Egal wie man die Gesellschaft aufteilte (und die Kategorien mssen intersektional gedacht werden, denn sie berlappen in vielfltiger Weise), ob Gefangene, Geflchtete, Obdachlose oder Native Americans in den Reservaten: Jede dieser Gruppen war auf spezifische Weise schutzlos gegen die kombinierte Wucht der Krankheit selbst und das von Bçswilligkeit und Inkompetenz getriebene, katastrophal schlechte Krisenmanagement der US-Regierung. Inmitten dieses multidimensionalen Leidens waren in den US-Medien von Anfang an Aktivist:innen fr Behindertenrechte und Organisationen fr die Vertretung von Behinderten auffallend prsent – und dies ber Wochen und Monate hinweg mit beeindruckender Beharrlichkeit. Die besonderen Belange von Menschen mit Behinderungen – Spina bifida, Autismus, Kleinwuchs, Querschnittslhmung, zystische Fibrose, Muskeldystrophie und viele andere – wurden in so unterschiedlichen Medien erçrtert wie der renommierten Wochenzeitschrift Time und dem Wirtschafts-Magazin Forbes, in nationalen Zeitungen wie der Los Angeles Times, der Chicago Tribune und der Washington Post, sowie in Ton- und Bildmedien des gesamten ideologischen Spektrums, vom liberalen National Public Radio bis zu den rechten Fox News.5 Immer und 4 Siehe auch den Beitrag von Jens Beckert in diesem Heft. 5 Abigail Abrams, „This is Really Life or Death“, in: Time, 24. 4. 2020; Andrew Pulrang, The Disability Community Fights Deadly Discrimination, in: Forbes, 14. 4. 2020, https:// www.forbes.com/sites/andrewpulrang/2020/04/14/the-disability-community-fightsdeadly-discrimination-amid-the-covid-19-pandemic/; Daniel Morain u. Anita Chabria, Coronavirus Frays Safety Net for People with Disabilities, in: Los Angeles Times, 5. 4. 2020, https://www.latimes.com/california/story/2020-04-05/coronavirus-servicesdisabled-families-california; Zak Koeske, More than 50 Residents, Staff Test Positive, in: Chicago Tribune, 9. 4. 2020, https://www.chicagotribune.com/suburbs/daily-south
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immer wieder traten Sprecher:innen von Interessenorganisationen und namhafte Einzelaktivist:innen in den Medien auf. Mit furiosem Nachdruck betonten sie den Wert – im doppelten Sinne von Bedeutungsreichtum und Kostbarkeit –, den das Leben von Menschen mit Behinderungen habe. Zugleich berichteten sie von Erfahrungen der Diskriminierung und der Angst, fr nicht lebenswert gehalten zu werden. Laut Statistik gibt es in den USA mindestens 45 Millionen Menschen mit unterschiedlich schweren Behinderungen, das ist ein Siebtel der Bevçlkerung –6 und schon vor der Pandemie lebte mehr als die Hlfte der Amerikaner:innen mit Behinderungen im erwerbsfhigen Alter unter der Armutsgrenze.7 Fr Menschen mit Behinderungen bildeten die ersten zehn Wochen der Krise eine Art historische Tranche, einen kurzen Zeitausschnitt, in dem jedoch ein erheblicher Wandel zu verzeichnen war. Die imposanten zivilisatorischen Errungenschaften der US-amerikanischen Behindertenrechtsbewegung seit den 1990er Jahren – deutlicher Abbau der gesellschaftlichen Vorurteile und Anerkennung von Menschen mit Behinderung als Respekt verdienende Individuen im çffentlichen Bewusstsein – galten zwar weiterhin. Aber die unter dem Druck der Pandemie rasante Zerschlagung des ohnehin strukturell schwachen Wohlfahrtssystems der USA drohte den Stand der konkreten Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen um viele Jahre zurckzuwerfen. Die Konsequenzen waren weitreichend: Die Sterblichkeitsraten bei Menschen mit Behinderungen, die in Heimen oder anderen Institutionen leben, stiegen an. Der US-Kongress versumte es, die Bedrfnisse von Menschen mit Behinderungen in den wirtschaftlichen Rettungspaketen zu bercksichtigen. Die Infrastruktur fr Dienstleistungen, von beteiligten Familien ber Jahrzehnte hinweg aufgebaut, insbesondere fr Menschen
town/ct-sta-disabilities-rights-groups-seek-assistance-st-0410-20200409-bkdrnt4lfr4 nd42rkpipisjbohjd4-story.html; Timothy Shriver, Isolation Isn’t New for Those with Intellectual Disabilities, in: Washington Post, 14. 5. 2020, https://www.washingtonpost. com/opinions/2020/05/13/isolation-isnt-new-those-with-intellectual-disabilitiescovid-19-still-poses-threat/; Joseph Shapiro, People with Disabilities Fear Pandemic Will Worsen Medical Biases, in: NPR, 15. 4. 2020, https://www.npr.org/2020/04/15/ 828906002/people-with-disabilities-fear-pandemic-will-worsen-medical-biases; Caroline Hart, Disabled Advocates Fear Discrimination, in: KTVU Fox 2, 9. 4. 2020, https:// www.ktvu.com/news/disabled-advocates-fear-discrimination-supply-rationing-amidcoronavirus-pandemic. 6 Manchen Schtzungen zufolge sind es ein Fnftel – oder laut des Centers for Disease Control gar ein Viertel – aller Amerikaner:innen, die mit irgendeiner Art von Behinderung leben. Wie auch gerechnet wird, es ist „die grçßte Minderheitengruppe in den USA“. Siehe Judith Heumann u. John Wodatch, We’re 20 Percent of America, and We’re Still Invisible, in: New York Times, 26. 7. 2020, https://www.nytimes.com/2020/07/ 26/opinion/Americans-with-disabilities-act.html. 7 National Council on Disability, National Disability Policy. A Progress Report, 26. 10. 2017, S. 19, https://ncd.gov/progressreport/2017/national-disability-policy-pro gress-report-october-2017.
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mit geistigen und entwicklungsbedingten Behinderungen, brach zusammen.
I. Beatmung und Bürgerrechte Den Anfang machte die „Ventilator-Diskussion“. Beatmungsgerte sind technische Apparate. Aber sie haben auch hohe symbolische Resonanz. Zu Beginn der Krise in den USA standen sie fr die Grenze zwischen Leben und Tod. Gouverneur Andrew Cuomo kmpfte erbittert mit Prsident Donald Trump um die Anzahl der an seinen Bundesstaat zu liefernden Beatmungsgerte, um insbesondere in der dicht besiedelten Stadt New York ein Massensterben zu verhindern. Gleichzeitig reichten mehrere Organisationen, die sich fr die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen, formelle Beschwerden beim Amt fr Brgerrechte des United States Department of Health and Human Services ein. Die Hauptbeschwerde betraf die seit 2010 offiziell bestehenden Richtlinien des Bundesstaates Alabama fr die „Triage mechanischer Beatmungsgerte“ im Fall einer Massenkatastrophe. In den am meisten Anstoß erregenden Stzen des Dokuments wurde kurz und bndig darauf hingewiesen, dass „Personen mit schwerer geistiger Behinderung, fortgeschrittener Demenz oder schwerer traumatischer Hirnverletzung […] unwahrscheinliche Kandidaten fr die Untersttzung mit Beatmungsgerten“ seien. Zwar rumte das Dokument ein, dass „die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung jetzt bis zum siebten Jahrzehnt reicht und Menschen mit erheblichen neurologischen Beeintrchtigungen ein produktives glckliches Leben fhren kçnnen“. Dennoch wurden rzt:innen bei Entscheidungen ber die Priorisierung von Beatmungsgerten unter anderem in Fllen von „geistiger Behinderung“ angewiesen, nicht nur das erwartbare Genesungsniveau („expected level of recovery“), sondern auch die „prmorbide Funktion in allen sozialen, intellektuellen, beruflichen Lebensbereichen“ mit zu bedenken.8 Das Alabama-Schema – so die Klage der Organisationen – war nicht nur unethisch, da insbesondere „Alabamer mit geistigen und kognitiven Behinderungen […] wahrscheinlich sterben werden, wenn es medizinischen Fachkrften gestattet ist, Gesundheitsdienste zurckzuhalten“. Es war schlichtweg illegal, verstieß es doch gegen mindestens drei Bundesgesetze: gegen den seit 1990 bestehenden „Americans with Disabilities Act“, gegen Abschnitt 504 des „Rehabilitation Act“ und gegen Abschnitt 1557 des „Afford-
8 Annex to ESF 8 of the State of Alabama Emergency Operations Plan, 9. 4. 2010 (letzter Zugriff am 4. 4. 2020, danach aus dem Netz entfernt).
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able Care Act“ (besser bekannt als „Obamacare“).9 Das Amt fr Brgerrechte reagierte rasch. Innerhalb weniger Tage gab sein Direktor (ein ansonsten als streng konservativ und anti-LGBT geltender, von Trump ernannter Rechtsanwalt) ein Bulletin heraus, in dem er Diskriminierung aufgrund einer Behinderung nicht nur als inakzeptabel, sondern als rechtswidrig bezeichnete. „Unsere Brgerrechtsgesetze schtzen die gleiche Wrde jedes menschlichen Lebens vor rcksichtslosem Utilitarismus“, erluterte er. Und: „Menschen mit Behinderungen darf die medizinische Versorgung nicht aufgrund von Stereotypen, Einschtzungen der Lebensqualitt oder Urteilen ber den relativen ,Wert‘ einer Person aufgrund des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins von Behinderungen oder des Alters verweigert werden.“10 Das Bulletin wurde von den Interessenvertretungen fr Behindertenrechte einhellig begrßt. Einhundert Organisationen unterschrieben einen Konsenskommentar. Darin hieß es ausdrcklich: „Die Tatsache, dass eine Person mit einer Behinderung Untersttzung (minimal oder umfassend) bençtigt, um bestimmte Aktivitten des tglichen Lebens auszufhren, ist fr eine medizinische Analyse, ob diese Person auf die Behandlung ansprechen kann, in keinster Weise relevant.“11 In den sozialen Medien wurden dazu prgnante Slogans verbreitet: „#WeAreEssential“, „No Body is Disposable“ und „No ICUgenics“.12 Die Wirkungen waren breitflchig. Triage-Richtlinien in insgesamt 25 Bundesstaaten hatten sich als unzulnglich erwiesen; alle wurden einer erneuten Prfung unterzogen und mancherorts mit Hilfe von Behindertenrechtsaktivist:innen berarbeitet.13 Anfang April beeilten sich bedeutende Krankenhuser im ganzen Land, ihr Personal mit Ethik-Tutorials auf den neuesten Stand zu bringen.14
9 Alabama Disabilities Advocacy Program, Brief an Roger Severino, Director, Office for Civil Rights, US Department of Health and Human Services, accompanying the Complaint of Alabama Disabilities Advocacy Program and The Arc of the United States, 24. 3. 2020, http://www.bazelon.org/wp-content/uploads/2020/03/3-24-20-AL-OCR-Complaint.docx. pdf. 10 HHS Office for Civil Rights in Action, Bulletin. Civil Rights, HIPAA, and the Coronavirus Disease 2019 (COVID-19), 28. 3. 2020, https://www.hhs.gov/sites/default/files/ocr-bulle tin-3-28-20.pdf. 11 The Arc of the United States u. a., Applying HHS’ Guidance for States and Health Care Providers on Avoiding Disability-Based Discrimination in Treatment Rationing, 3. 4. 2020, https://www.centerforpublicrep.org/wp-content/uploads/2020/04/Guidanceto-States-Hospitals_FINAL.pdf. 12 Nicole Jorwic, The Disability Community Must Once Again Show #WeAreEssential, in: The Arc, 2. 4. 2020; #NoBodyIsDisposable, Fight Discrimination in COVID-19 Triage, https://nobodyisdisposable.org/. „No ICUgenics“ ist ein Wortspiel mit „keine Eugenik auf der Intensivstation“; ICU steht fr Intensive Care Unit. 13 Whyte, State Policies. 14 Devan Stahl, Ensuring Health Equity for Persons with Disabilities, Radcliffe Symposium, 23. 4. 2020, https://www.radcliffe.harvard.edu/event/2020-ensuring-health-equi ty-persons-with-disabilities-virtual.
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Mitte April jedoch verlagerte sich das Mediengesprch merklich und der Fokus wechselte vom Thema Notaufnahmen zum Zustand des US-Sozialsystems. Wieder einmal ging es um Geld.
II. Wohlfahrtskämpfe und Wirtschaftskrise Medicaid ist ein vom Bund und den Bundesstaaten gemeinsam koordiniertes Programm. Es bietet eine Gesundheitsversorgung fr Mittellose und finanziert auch die Home- and Community-Based Services (im Folgenden HCBS) mit, die es Menschen mit Behinderungen ermçglichen, in einem nichtinstitutionellen Umfeld zu leben und ein unabhngigeres und selbstbestimmteres Leben zu fhren. Eingeschlossen sind Hilfen fr die Bezahlung der direct service professionals zur Untersttzung von Menschen mit kçrperlichen Beeintrchtigungen sowie fr die Finanzierung der kommunalen Tagessttten, die sich vor allem um Menschen mit kognitiven Beeintrchtigungen kmmern. Die chronische Unterfinanzierung von Medicaid war seit jeher ein politisches Streitthema. Die Pandemie verschrfte die Lage. Schon ab Ende Mrz, aber intensiver in den ersten Aprilwochen arbeiteten sich die Aktivist:innen und Interessenvertretungen in die Details der Gesetzgebungspolitik ein. Anlass zur Sorge gab schon das erste vom US-Kongress ausgearbeitete Rettungspaket, der „Families First Coronavirus Response Act“ vom 18. Mrz. Er nahm die Bedrfnisse von Behinderten – wie auch von vielen anderen benachteiligten Gruppen – nicht zur Kenntnis und brachte vorerst großen Unternehmen Riesengewinne ein.15 Außerdem enthielt er Bestimmungen, die viele Personen, die auf Medicaid angewiesen waren, von manchen Vorteilen der Hilfsaktionen ausschlossen.16 Zudem befreiten mehrere Gouverneur:innen vorauseilend Senioren- und andere Pflegeheime von gesetzlicher Haftung und Verantwortung fr Covidbedingte Todesflle – ein Trend, den der Anwalt und Behindertenrechtsaktivist
15 The Center for American Progress, The Senate Stimulus Proposal in Response to Coronavirus, in: Center for American Progress, 20. 3. 2020, https://www.americanpro gress.org/issues/economy/news/2020/03/20/482079/senate-stimulus-proposal-respon se-coronavirus-fails-meet-moment/. 16 Greg Sargent, The GOP Just Smuggled Another Awful Provision Into the Stimulus, in: Washington Post, 23. 3. 2020, https://www.washingtonpost.com/opinions/2020/03/23/ gop-just-smuggled-another-awful-provision-into-big-stimulus-bill/; Sara Luterman, The Coronavirus Aid Package Could Harm Disabled People, in: The American Prospect, 26. 3. 2020, https://prospect.org/economy/coronavirus-aid-package-could-harm-disab led-people/; Rebecca Cokley, Coronavirus Proposals Leave the Disability Community Behind, in: Center for American Progress, 27. 3. 2020, https://www.americanprogress. org/issues/disability/news/2020/03/27/482378/coronavirus-proposals-leave-disabilitycommunity-behind/.
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Matt Cortland sarkastisch als „#LicenseToKill“ bezeichnete.17 Schon Anfang Mai verhandelten Vertreter:innen zahlreicher Wirtschaftsbranchen mit Republikaner:innen, um eine umfassendere Freistellung von Haftungsregelungen fr Gesundheitsgefahren (fr Arbeitnehmer:innen oder Kund:innen) zu erwirken, und Republikaner:innen banden ihre Zustimmung zu weiteren Hilfspaketen an diese Haftungsfreistellung.18 Inzwischen stieg die Arbeitslosenzahl auf mehr als zwanzig Millionen. Unverkennbar hat sich die von der Pandemie ausgelçste Wirtschaftskrise fr republikanische (aber auch manche demokratische) Politiker:innen als Gelegenheit entpuppt, çffentliche Gelder in Milliardenhçhe in Richtung der Unternehmerelite umzuleiten.19 Gleichzeitig wurden klamme Bundesstaatskassen, die bereits seit Trumps Steuerreform von 2017 darbten, weiter geleert.20 Das machte soziale Dienstleistungen just in dem Moment, in dem sie am dringendsten nçtig waren, fast vçllig unmçglich. Ein neuer Wirtschaftsund Politikmodus – bald mit dem Terminus „Corona-Kapitalismus“ umschrieben – lief auf Hochtouren.21 Das Weiße Haus nutzte die Chance, lang gehegte Plne durchzudrcken: Umweltvorschriften wurden außer Kraft
17 Lydia Wheeler u. Valerie Bauman, Coronavirus Liability Shields for Nursing Homes Only Go So Far, in: Bloomberg Law, 24. 4. 2020, https://news.bloomberglaw.com/health-lawand-business/coronavirus-liability-shields-for-nursing-homes-only-go-so-far?utm_sour ce=twitter&campaign=E9859678–869B-11EA-BD18-DBE74F017 A06&utm_medium= lawdesk; Matt Cortland, Tweet, 11. 5. 2020, https://twitter.com/mattbc/status/ 1259985310202634244; ders., Tweet, 27. 7. 2020, https://twitter.com/mattbc/status/ 1287898216789311498. 18 Jonathan Larsen, The Secret Battle to Strip Your Coronavirus Rights, in: TYT, 1. 5. 2020, https://tyt.com/stories/4vZLCHuQrYE4uKagy0oyMA/6acTh27oKcZpP0QiojraJQ; o. A., Businesses Should Not Get a Free Pass, National Consumer Groups Tell Congress, in: Public Citizen, 6. 5. 2020, https://www.citizen.org/news/businesses-should-not-get-afree-pass-national-consumer-groups-tell-congress/. 19 Zachary B. Wolf, This is What Coronavirus Capitalism Looks Like, in: CNN Politics, 28. 4. 2020, https://edition.cnn.com/2020/04/28/politics/what-matters-april-27/index. html; Victor Reklaitis, Here Are the Public Companies that Got Coronavirus Aid Meant for Small Businesses, in: MarketWatch, 25. 4. 2020, https://www.marketwatch. com/story/here-are-the-public-companies-that-got-coronavirus-aid-meant-for-smallbusinesses-2020-04-22. 20 U. a. auch unter Demokrat Cuomo. Siehe Liat Olenick, In Cuomo’s New York, Everyone Is Being Asked to Sacrifice Except the Rich, in: New York Daily News, 28. 4. 2020, https:// www.tribpub.com/gdpr/nydailynews.com/. 21 Inzwischen ein gelufiges Krzel, ursprnglich verband der Terminus eine aktualisierte Version der Schockdoktrin des „Desaster-Kapitalismus“ mit einem Hinweis auf eine lngere Geschichte des „Immuno-Kapitalismus“, wie er beispielsweise in einem von Gelbfieber befallenen New Orleans der Sklaverei-ra praktiziert wurde. Marie Solis, Coronavirus Is the Perfect Disaster for „Disaster Capitalism“, in: Vice, 13. 3. 2020, https://www.vice.com/en_us/article/5dmqyk/naomi-klein-interview-on-coronavirusand-disaster-capitalism-shock-doctrine; Kathryn Olivarius, The Dangerous History of Immunoprivilege, in: New York Times, 12. 4. 2020, https://www.nytimes.com/2020/04/ 12/opinion/coronavirus-immunity-passports.html.
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gesetzt.22 Deportationen huften sich.23 Mittel aus dem çffentlichen Bildungsfond flossen an private rechtskonservative und religiçse Organisationen.24 Reproduktive Rechte wurden eingeschrnkt.25 Und gerade in den Tagen, als sich Berichte huften, dass Schwarze und Latinx weitaus hufiger starben als der Rest der Bevçlkerung, wiesen der Prsident und eine Reihe von Gouverneur:innen an, die Wirtschaft wieder hochzufahren.26 Menschen mussten trotz weiterhin bestehender Ansteckungsgefahr zur Arbeit zurckkehren oder riskierten andernfalls, ihren Arbeitsplatz und das Arbeitslosengeld zu verlieren. Untersttzt wurde der Prsident – vor allem in Bundesstaaten mit demokratischen Gouverneur:innen – von militanten Demonstrant:innen, die grçßtenteils weiß, oft maskenverweigernd, manchmal offensiv bewaffnet waren und eine zgige Lockerung der Beschrnkungen einforderten. Behindertenrechtsorganisationen blieben derweil hochaktiv und schafften es, den Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen kontinuierliche Aufmerksamkeit in den Medien zu sichern. Zu ihren wichtigsten Forderungen gehçrten ein bezahlter Familienurlaub fr diejenigen, die einen bezahlten Job htten aufgeben mssen, um nach der abrupten Schließung von Tagessttten und Heimen ein Familienmitglied mit Behinderungen wieder zu Hause zu betreuen. Außerdem sollten die Fachkrfte, die ihr eigenes Leben riskierten, um eine fortlaufende Versorgung und Untersttzung der Behinderten zu gewhrleisten, dringlich als „essenzielle Arbeiter“ mit entsprechend hçherem Einkommen eingestuft werden. Drittens schließlich ging es darum, Menschen mit Behinderungen in Nothilfe- und „Nahrungsergnzungsprogramme“ einzubeziehen.27 Die Regierung jedoch blieb unnachgiebig und die Verzweiflung der betroffenen Familien wuchs.28 22 Jeff Tollefson, Five Ways That Trump is Undermining Environmental Protections Under the Cover of Coronavirus, in: Nature, 28. 4. 2020, https://www.nature.com/articles/ d41586-020-01261-4. 23 John Washington, The Trump Administration Is Using the Pandemic as an Excuse to Target Immigrants and Asylum Seekers, in: Vox, 15. 5. 2020, https://www.vox.com/thehighlight/2020/5/15/21260075/trump-immigrants-refugee-asylum-covid-pandemic-de tention-centers. 24 Erica L. Green, DeVos Funnels Coronavirus Relief Funds to Favored Private and Religious Schools, in: New York Times, 15. 5. 2020, https://www.nytimes.com/2020/05/ 15/us/politics/betsy-devos-coronavirus-religious-schools.html. 25 Jonathan Bearak u. a., COVID-19 Abortion Bans, in: Guttmacher Institute, 23. 4. 2020, https://www.guttmacher.org/article/2020/04/covid-19-abortion-bans-would-greatly-in crease-driving-distances-those-seeking-care. 26 Kimberl Williams Crenshaw, When Blackness Is a Preexisting Condition, in: New Republic, 4. 5. 2020, https://newrepublic.com/article/157537/blackness-preexisting-con dition-coronavirus-katrina-disaster-relief; Adam Serwer, The Coronavirus Was an Emergency Until Trump Found Out Who Was Dying, in: The Atlantic, 8. 5. 2020, https:// www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/05/americas-racial-contract-showing/611389/. 27 APSE, Brief an Senator Mitch McConnell u. a., 10. 4. 2020, https://www.ancor.org/sites/ default/files/coalition_letter_disability_in_fourth_covid_package_april_2020.pdf; Doris
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III. „Disability“ als politische Kategorie Der Begriff disability deckt eine große Bandbreite von Phnomenen ab, die sich von einer ihrerseits stndig schwankenden Norm unterscheiden. Er bezieht sich auf eine Vielzahl von (angeborenen oder erworbenen, sichtbaren oder unsichtbaren) physischen, sensorischen, intellektuellen oder emotionalen Zustnden und Kombinationen. Zunehmend werden auch chronische Krankheiten und systemische Schmerzen oder Schwchen als Behinderungen angesehen. Das von einhundert Organisationen unterschriebene Konsensdokument zur medizinischen Triage von Beatmungsgerten war ursprnglich von Rechtsanwlten fr The Arc entworfen worden, einen ehrwrdigen nationalen Verband, der sich seit den 1950er Jahren der Fçrderung der Rechte von Menschen mit geistigen Behinderungen widmet. Die Unterzeichner selbst bildeten eine auffallend bunte Mischung, die von der Anti-Sterbehilfe-Gruppe Not Dead Yet ber das Black AIDS Institute und die Paralyzed Veterans of America bis hin zum National Center for Transgender Equality, der Epilepsy Foundation und dem American Council for the Blind reichte.29 Sich auf die Bedrfnisse der disability community zu berufen, bedeutet also vor allem, einen politischen Anspruch zu erheben. Es ist das Verdienst von selfadvocates und ihren Verbndeten, dass ein derart sperriges Dachkollektiv seit der Verabschiedung des „Americans with Disabilities Act“ 1990 und vor allem in den Jahren der Obama-Prsidentschaft Konturen und çffentliche Aufmerksamkeit gewonnen hat. Das solidarische Identittsgefhl, das dabei unter den Aktivist:innen gewachsen ist, spielt keineswegs nur eine strategische Rolle. Es wird offensichtlich genuin, sogar leidenschaftlich gefhlt.30 Zu den Strken der Behindertenrechtsbewegung gehçrt das inzwischen selbstverstndlich gewordene intersektionale Denken. Die offensichtlichen Parfaite-Claude, After Failed Interim Bill, Congress Quarrels, in: ANCOR, 13. 4. 2020, https://www.ancor.org/newsroom/news/after-failed-interim-bill-congress-quarrels-overcontent-fourth-covid-19-package; Richard E. Besser u. Rebecca Cokley, Disabled Americans Can’t Be a Covid-19 Afterthought, in: CNN, 23. 4. 2020, https://edition.cnn.com/ 2020/04/23/opinions/disabled-americans-need-help-covid-19-cokley-besser/index.html. 28 Susan Rinkunas, Pramila Jayapal Says Republicans Are „Literally Willing to Let People Die“, in: Vice, 15. 5. 2020, https://www.vice.com/en_us/article/889934/pramila-jayapalsays-republicans-are-literally-willing-to-let-people-die-of-coronavirus. 29 Center for Public Representation, Applying HHS’ Guidance. 30 Sichtbar bei: Stephanie Sy, Pandemic Means Americans with Disabilities Aren’t Getting the Services They Need, in: PBS NewsHour, 11. 5. 2020, https://www.pbs.org/newshour/ show/pandemic-means-americans-with-disabilities-arent-getting-the-services-theyneed; Rooted in Rights, Covid-19, https://rootedinrights.org/covid-19/; Disability Visibility Project, https://disabilityvisibilityproject.com/about/; Abigail Abrams, For Organizer Ady Barkan, COVID-19 Is Yet Another Reason to Pass Medicare for All, in: Time, 26. 3. 2020, https://time.com/5810489/medicare-for-all-coronavirus-2/; Crip Camp Conversations 3: Disability Leaders Respond to Coronavirus (Livestream auf der Plattform Zoom), 25. 4. 2020; #CripTheVote, Coronavirus and Health Disparities (Twitter-Livechat), 17. 5. 2020.
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berlappungen zwischen Behinderung, Armut und Ethnizitt finden ebenso viel Beachtung wie die unverhltnismßige, wiederum rassistisch bedingte Prsenz von Menschen mit kognitiven und psychischen Behinderungen im US-Gefngnissystem. Beeindruckend ist die Bewegung auch in ihrer unnachgiebigen Verpflichtung zur Solidaritt zwischen Menschen mit kçrperlichen beziehungsweise geistigen Behinderungen. Historisch wirksame „Hackordnungen“ unter Behinderten werden konsequent abgelehnt. Außerdem ist es der Bewegung gelungen, auf spektakulre und innovative Weise die çffentliche Sichtbarkeit unterschiedlich geformter Kçrper sowie technologisch gesttzter oder erweiterter Kçrper durchzusetzen.31 Diese Taktik hat die allgemeine Vorstellungskraft enorm bereichert und die Fhigkeiten eines breiten Publikums zur emotionalen Identifikation angeregt – auch und gerade wenn sentimentaler inspiration porn, wie Aktivist:innen es empçrt nennen, zurckgewiesen wird.32 Die Bewegung hat auch politische Wirksamkeit gezeigt, vor allem beim Thema Medicaid. Denn Medicaid war nicht zufllig ein Programm, bei dem Republikaner:innen bereits unmittelbar nach Trumps Ankunft im Weißen Haus 2017 versucht hatten, tiefgreifende Einschnitte zu erzwingen. Nur Massenproteste, bei denen Behindertenrechtsaktivist:innen sich vor die Bros von Kongressabgeordneten legten und bereit waren, dafr in Haft zu kommen, hatten diese Plne vereitelt. Bereits damals erklrten Aktivist:innen, dass die beabsichtigten Krzungen tçdlich sein wrden. „Die Regierung will mich tçten!“ – „[Mehrheitsfhrer des Senats Mitch] McConnell wird uns tçten“ – „Mein Kind wird sterben […] meine Leute werden wegen diesen Entscheidungen sterben“, riefen die Demonstrant:innen, viele im Rollstuhl, als sie von der Polizei weggetragen wurden.33 Das nderte sich 2020. Es war nicht so sehr die COVID-19-Pandemie selbst, sondern der Umgang der US-Regierung mit deren wirtschaftlichen Folgen, der die Fortschritte der Behindertenrechtsbewegung bedrohte. Imani Barbarin, afroamerikanische Journalistin mit Zerebralparese, fasste es im Mai 2020
31 Nicht zuletzt durch die vermehrte Sichtbarkeit von Veteranen der jngsten Kriege in Afghanistan und Irak, z. B. durch das Wounded Warrior Project, https://www. woundedwarriorproject.org/. 32 Vgl. Andrew Solomon, The Dignity of Disabled Lives, in: New York Times, 2. 9. 2019; BCRW Videos, Ableism Is the Bane of My Motherfuckin’ Existence, in: No Body Is Disposable. A Disability Justice Video Series, 2017, http://bcrw.barnard.edu/videos/ ableism-is-the-bane-of-my–motherfuckin-existence/; Stella Young, I’m Not Your Inspiration, TED Talk, April 2014, https://www.ted.com/talks/stella_young_i_m_not_ your_inspiration_thank_you_very_much. 33 Andrew Desiderio, GOP Unveils Health Care Bill While Protesters Bleed and Scream: „The Government Wants to Kill Me!“, in: Daily Beast, 22. 6. 2017, https://www. thedailybeast.com/gop-unveils-health-care-bill-while-protesters-bleed-and-scream-thegovernment-wants-to-kill-me.
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prgnant zusammen: „Es fhlt sich an, als ob die Bewegung fr Behindertenrechte sich in drei Monaten um 30 Jahre rckwrts bewegt hat.“34 Zwei kulturelle Besonderheiten Amerikas verschlechterten die Situation. Die erste war eine tiefsitzende, seit langem genhrte çffentliche Ambivalenz gegenber dem Konzept der Sozialleistungen berhaupt. Sie wurde jahrzehntelang gezielt angeheizt und mit rassistischen Bildern und rassistischer Sprache aufgeladen.35 Die zweite war das Phnomen der postfaktischen Politik. Obwohl dies ein globales Problem darstellt, hatte es in den USA der ersten Pandemiemonate besonders schwerwiegende Folgen. Vom Weißen Haus aus wurde noch unbekmmerter gelogen als zuvor. Zugleich fiel es schwerer, Lgen oder offene Aggressionen allein durch virtuelle Kommunikationsformen zu bekmpfen. Darber hinaus verursachte die Pandemie spezifische Probleme fr Menschen mit kognitiver Behinderung. Diese Gruppe war in Bezug auf die Infektionsrate hart getroffen, insbesondere in Heimen.36 Ein Viertel der Erwachsenen mit geistigen Beeintrchtigungen lebt in den USA in Gruppenheimen, wo „das Risiko fr Infektionen und Tod […] erschtternd hoch ist“.37 Auch die durch die Sperrungen erzwungene Isolation machte den Menschen zu schaffen, denn die Infrastruktur der Dienste, die ihnen ein anregendes und wrdiges Leben mit kulturellen Angeboten und untersttzten Arbeitsmçglichkeiten gestattet, wurde abrupt und auf unbestimmte Zeit unterbrochen. Dass Berhrung und kçrperliche Nhe bei der Pflege verunmçglicht oder gefhrlich wurden, erschwerte die Situation ebenso wie die Unzulnglichkeiten der virtuellen Kommunikation fr diejenigen, die am strksten von geistigen Behinderungen betroffen waren. Familien, die wieder ganztgige, intensive Versorgung bernehmen mussten, waren unlngst berwltigt.38 Aus all diesen Grnden war das Trauma in dieser Gruppe akut.
34 Imani Barbarin, Tweet, 11. 5. 2020, https://twitter.com/Imani_Barbarin/status/ 1260008849748058115. 35 Laura Briggs, How All Politics Became Reproductive Politics, Berkeley, CA 2017. 36 Sami Sparber, State-Run Homes for Texans With Developmental Disabilities Aren’t Ready for Coronavirus Outbreaks, Some Workers Warn, in: Texas Tribune, 9. 4. 2020, https://www.texastribune.org/2020/04/09/texas-coronavirus-state-supported-living-cen ters/; Danny Hakim, „It’s Hit Our Front Door“, in: New York Times, 17. 4. 2020, https:// www.nytimes.com/2020/04/08/nyregion/coronavirus-disabilities-group-homes.html. 37 Shriver, Isolation Isn’t New. 38 Jane Coasten, „We’re Being Punished Again“, in: Vox, 9. 4. 2020, https://www.vox.com/ 2020/4/6/21200257/disabilities-coronavirus-group-homes-isolation-policy; Morain u. Chabria, Virus Frays; Sy, Pandemic Means; Melvin, Virus Crisis Isolating; Courtney Dorning u. Mary Louise Kelly, „He’s Incredibly Confused“, in: NPR, 22. 5. 2020, https:// www.npr.org/sections/coronavirus-live-updates/2020/05/22/861079758/he-s-in credibly-confused-parenting-a-child-with-autism-during-the-pandemic?t= 1600671918952; Nikita Stewart, When Caring for Your Child’s Needs Becomes a Job All Its Own, in: New York Times, 24. 7. 2020, https://www.nytimes.com/2020/07/24/us/ children-disabilities-parenting-poverty-assistance.html.
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„Wo bleibt die Empçrung?“, fragte ein E-Mail-Rundbrief, der am 30. April von The Arc verschickt wurde. „Warum werden Menschen mit kognitiven und entwicklungsbedingten Behinderungen ignoriert?“39 Timothy Shriver, Vorsitzender der Special Olympics, spielte auf die dunklen Jahrzehnte an, in denen „viele unserer Athleten und ihre Familien verhçhnt, isoliert oder weggesperrt wurden – nicht wochenlang, sondern lebenslang“, und stndig mit „sozialer Marginalisierung, çffentlichem Spott“ konfrontiert waren.40 Shriver forderte die ffentlichkeit auf, ihre Fhigkeit zur Identifikation auch mit Menschen mit geistigen Beeintrchtigungen zu erneuern, und organisierte einen 24Stunden-Livestream zur Bewusstseinsbildung, an dem prominente Persçnlichkeiten wie Julia Roberts und Oprah Winfrey teilnahmen.41 Fr Menschen mit Behinderungen war die Lage in den USA im Sommer 2020 zwiespltig. Die Omniprsenz von Behindertenrechtsaktivist:innen und Interessenvertretungen sowie die Vielzahl von Erfahrungsberichten von Menschen mit Behinderungen, die breite mediale Beachtung fanden, zeigten einerseits die bemerkenswerten Erfolge, die die Bewegung fr Behindertenrechte in den letzten dreißig Jahren erzielt hat. Andererseits wurde deutlich, dass sich eine beeindruckende Lobby, Medienprsenz und eloquente Interessenvertretung nicht unbedingt in adquate Durchschlagskraft und politischen Einfluss ummnzen lassen. Vor allem dann nicht, wenn eine korrupte Regierung die Gelegenheit einer beispiellosen Krise nutzt, um das ohnehin schon dnne Gefge der Sozialdienste weiter zu zerreißen. Wie fr viele andere Themenbereiche auch wird die Prsidentschaftswahl im November 2020 fr die Zukunft der Behindertenrechte ausschlaggebend sein. Aber selbst mit einem Sieg der Demokraten – und auch wenn der erhoffte Impfstoff entdeckt wird – werden die Konsequenzen der wirtschaftlichen Krise noch lange andauern. Tiefgreifende Krzungen von Sozialleistungen auf Bundes- und Bundesstaatsebene sind zu erwarten. Prof. Dr. Dagmar Herzog, The Graduate Center, City University of New York, 365 Fifth Avenue, New York, NY 10016, USA E-Mail: [email protected]
39 The Arc, E-Mail-Rundbrief, 30. 4. 2020; hnlich auf der Webseite. Siehe Pam Katz, High Risk, Infected, and Dying of COVID-19, but Who Is Counting?, 30. 4. 2020, https:// thearc.org/high-risk-infected-and-dying-of-covid-19-but-who-is-counting/. 40 Shriver, Isolation Isn’t New. 41 Tania Bryer, „The Call to Unite“ (Livestream), CNBC, 1. 5. 2020.
All Viruses are Created Equal Corona-Epidemie und soziale Ungleichheit in den USA1 von Jens Beckert*
All Viruses are Created Equal. The Coronavirus Pandemic and Social Inequality in the United States In the spring of 2020, New York City was at the center of the coronavirus pandemic in the United States. The essay focuses on the unequal distribution of the outcomes of the public health crisis. The prospect of being infected with the virus, losing income, leaving the city for less affected areas, working from home or continuing schooling for one’s children has been vastly different for New Yorkers depending on their socioeconomic position, race and migration background. The social and racial stratification of the impacts of the pandemic on the individual bring to the fore the vast inequalities in American society and its political and cultural polarization.
New York war der Brennpunkt der Coronakrise in den USA im Frhjahr 2020. ber 400.000 Personen infizierten sich bis Mitte Juni im Bundesstaat New York, mehr als 30.000 starben an den Folgen ihrer COVID-19-Erkrankung. Zwei Drittel des Geschehens konzentrierten sich auf die Stadt New York mit ihren acht Millionen Einwohnern, die damit nur mit den am strksten von der Pandemie betroffenen Regionen in Norditalien und in Spanien vergleichbar ist. In einigen Wohngebieten von New York wird auf Grundlage der Ergebnisse von Antikçrpertests von einer Durchseuchungsrate von vierzig Prozent der Bevçlkerung ausgegangen. New York ist eine Stadt extremer sozialer Gegenstze. Fast einhundert Milliardre leben hier. Fast zwanzig Prozent der Bevçlkerung leben unter der Armutsgrenze, weitere vierzig Prozent der Bevçlkerung an der Armutsgrenze. Die Coronakrise ist ein Prisma, das diese Ungleichheit erkennbar macht und weiter verschrft. Zwar machen Viren keinen Unterschied zwischen arm und reich. Dennoch treffen Pandemien die Bevçlkerung unterschiedlich. Die Wohlhabenden haben bessere Mçglichkeiten, sich zu informieren und vor den Krankheitserregern zu schtzen, sie bekommen die bessere medizinische * Mein Dank gilt Andreas Daum, Ute Frevert und Paul Nolte fr ihre przisen Kommentare zu dem Text. 1 Der Autor war zwischen September 2019 und Juni 2020 Theodor-Heuss-Professor an der New School for Social Research in New York. Eine sehr viel krzere frhere Fassung dieses Essays wurde am 3. Juli 2020 im Spiegel verçffentlicht Jens Beckert, Nur vor dem Virus sind alle gleich, in: Der Spiegel, 3. 7. 2020, https://www.spiegel.de/wirtschaft/ soziales/usa-wie-die-corona-krise-die-brutale-ungleichheit-offenlegt-a-000000000002-0001-0000-000171875123. Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 468 – 480 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
Corona-Epidemie und soziale Ungleichheit in den USA
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Versorgung im Fall der Erkrankung, und sie kçnnen die wirtschaftlichen Folgen einer Pandemie besser verkraften. Dies gilt nicht nur in den USA, sondern auch in Europa und berall sonst. Doch die USA und insbesondere New York sind ein herausragendes Beispiel fr den Zusammenhang von Epidemie und sozialer Ungleichheit. Soziale Ungleichheit ist in den USA ausgeprgter als in den meisten europischen Lndern. Zugleich ist das System wohlfahrtsstaatlicher Frsorge weit weniger ausgebaut. Zusammengenommen fhrt dies dazu, dass sich die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Epidemie hçchst ungleich in den verschiedenen sozialen Gruppen auswirken, abhngig von Einkommen, Hautfarbe, Bildungs- und Migrationshintergrund. Da sich die USA wie kein zweites Land selbst beobachten, waren bereits sehr schnell eine Vielzahl von Daten verfgbar, die es erlauben, die sozial ungleichen Auswirkungen der Epidemie detailliert zu analysieren.
I. Exodus Ungleichheit prgte das Pandemiegeschehen in New York schon, bevor es richtig losging. Ab Mitte Mrz verließ rund jeder zwanzigste Einwohner die Stadt, insgesamt ungefhr 420.000 Brger. Dies zeigt die Auswertung der Standortdaten von Mobiltelefonen. Doch wer verließ die Stadt? In den Bezirken mit durchschnittlichem oder geringem Einkommen gab es kaum Abwanderung. In den reichsten Nachbarschaften, vor allem in Manhattan, verließen hingegen bis zu vierzig Prozent der Einwohner ihr Zuhause. Je hçher das durchschnittliche Einkommen in einer Nachbarschaft, desto strker der Exodus. Auch andere soziodemografische Indikatoren zeigen die mit der Abwanderung verbundene Ungleichheit: In jenen Gebieten, in denen mindestens 25 Prozent der Bevçlkerung die Stadt verließen, wohnen zu 68 Prozent Weiße, die nur 25 Prozent der Stadtbevçlkerung insgesamt ausmachen. Hufig zogen sich die Coronaflchtlinge in Zweitresidenzen im nahen lndlichen Raum zurck, was in den traditionellen Sommerorten auf Long Island und in Neu England zu Hochbetrieb fhrte und zur Befrchtung, dass die New Yorker das Virus in diese Ortschaften mitbrchten, ohne dass es dort die notwendige medizinische Infrastruktur gbe. Fr die Landfahrenden reduzierte der Rckzug aus der Stadt nicht nur die Ansteckungsgefahr, sondern ermçglichte auch ein komfortableres Leben. Social Distancing und shelter at home waren dort viel einfacher praktizierbar als im engbebauten New York. Ende Mai berichtete die New York Times, dass sich in den Ferienorten die Nachfrage nach privaten Schwimmbecken vervielfacht habe. Da die Nutzung der Strnde im Sommer unsicher sein wrde, entweder weil sie geschlossen blieben oder aufgrund von Ansteckungsgefahr, wurden private Schwimmbecken fr die zugereiste New Yorker Oberschicht zur neuen
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Notwendigkeit. Die Kosten eines solchen Pools lgen, so die Zeitung, bei mindestens 75.000 Dollar.
II. Homeoffice versus essential worker Die geografische Dimension der sozialen Ungleichheit der Pandemie zeigt sich auch in den Mçglichkeiten des Schutzes vor Ansteckung. Mit der Verstrkung des Infektionsgeschehens in New York wurden die Brogebude sukzessive geschlossen. Zunchst durfte nur noch die Hlfte der Belegschaft an ihre Arbeitspltze, dann wurden die Gebude Mitte Mrz ganz geschlossen. Abgesehen von den als unverzichtbar eingestuften Mitarbeitern, die ihrer Ttigkeit nicht von Zuhause aus nachgehen konnten, wurden alle ins Homeoffice geschickt. Zweifellos: Viele der zeitweise ber zwanzig Millionen Arbeitslosen in den USA waren Broangestellte. Doch fr diejenigen, die ihren Arbeitsplatz behielten und nun von daheim aus arbeiteten, stellte sich die Lebenssituation vçllig anders dar, verglichen mit den „essential workers“, die auch in der Krise unabdingbare persçnliche Dienstleistungsfunktionen erfllten. Sowohl auf dem Arbeitsweg als auch in der Ausbung ihrer Berufsttigkeit waren sie einem erhçhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Dies galt in erster Linie fr die Mitarbeiter der Krankenhuser, die Sanitter der Krankenwagen und die Angestellten der Beerdigungsinstitute. Wie auch in Deutschland mussten darber hinaus die Bus- und U-Bahnfahrer, das Personal der Mllabfuhr, die Mitarbeiter der Lieferservices und der take-out-Restaurants, die Polizisten sowie das Verkaufspersonal in den Supermrkten und die Lagerarbeiter in den Versandzentren der Onlinehndler weiterhin zu ihren Arbeitspltzen. Wenngleich es hiervon wichtige Ausnahmen gab, etwa bei den Krankenhausrzten, galt: je hçher das Einkommen und die Bildung, desto hçher die Chance, der Berufsttigkeit im Homeoffice nachzugehen. berspitzt beschrieb die New York Times Ende Mrz ein neues Kastensystem in der Stadt: Die Reichen berdauern die Pandemie in ihren Ferienhusern, die Mittelschicht quetscht sich in ihren Wohnungen mit den Kindern zusammen, die Arbeiterschicht steht an der Frontlinie. Die Infektionszahlen in New York konzentrierten sich so stark auf bestimmte Stadtteile, weil dort eben jenes Servicepersonal lebt, hufig Migranten und Schwarze, das die Stadt auch in Zeiten des Lockdowns funktionsfhig hielt. Die Zahl der Fahrgste der New Yorker U-Bahn sank ab Mrz um 87 Prozent, doch viel weniger in den Metrostationen in der Bronx, dem nçrdlichen Teil Manhattans oder in Queens, wo jene Arbeiter wohnen, die auf die U-Bahn fr ihren Weg zur Arbeit angewiesen sind. Selbst im Juli lagen die Fahrgastzahlen der U-Bahn bei lediglich zwanzig Prozent des Vorkrisenniveaus. Die Analyse von Mobiltelefondaten zeigte fr smtliche Metropolengebiete der USA, dass in der zweiten Mrzhlfte die Mobilitt in Wohngebieten mit geringem
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Einkommensdurchschnitt weit weniger zurckging als in wohlhabenden Wohngebieten. Die mit der Aufrechterhaltung elementarer gesellschaftlicher Funktionen befassten Arbeiter sind sich der Gesundheitsgefahren bewusst. Sie sind nicht weniger verngstigt als andere. Allein, es fehlt ihnen die Alternative. Nicht zur Arbeit zu erscheinen, bedeutet die Entlassung ohne Anrecht auf Arbeitslosengeld. Kleine Selbstndige, etwa diejenigen, die ihre in der Stadt allgegenwrtigen Imbissstnde schließen mussten, fragten verzweifelt: Und wer gibt meiner Familie zu essen? Studien zur Vermçgensverteilung in den USA zeigen, dass weniger als die Hlfte der Bevçlkerung ber hinreichende finanzielle Rcklagen verfgt, um drei Monate Lohnausfall durchzustehen. Vier von zehn erwachsenen Personen haben nicht die Rcklagen, um eine unerwartete Rechnung ber vierhundert Dollar zu begleichen. Der amerikanische Gesellschaftsvertrag kennt kaum Stoßdmpfer, es gibt hohe Risiken fr beinahe alle, aber nur unzureichende abfedernde Mechanismen im Krisenfall. Ein Viertel der Arbeitsvertrge in den USA sehen keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vor. Geschtzte 27 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung. Selbst in der Pandemiesituation haben sich viele Firmen nur zur Lohnfortzahlung fr jene Arbeiter bereitgefunden, die positiv auf COVID-19 getestet wurden – ein Test, der in New York zunchst schwer zu bekommen war und dessen Ergebnisse erst Tage spter verfgbar waren. Folglich kamen auch infizierte Mitarbeiter noch zur Arbeit. Fr das Pandemiegeschehen hatte dies fatale Folgen. Fr Grippe-Epidemien ist in den USA nachgewiesen, dass die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zur Reduzierung der Krankheitsverbreitung fhrt. In einigen Fllen haben Mitarbeiter fr hçhere Lçhne, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und gegen die unzureichenden Hygienevorkehrungen an den Arbeitspltzen protestiert. Medienaufmerksamkeit erhielt dabei insbesondere der Protest von Arbeitern in Amazon-Versandhusern in den USA. Doch eine kollektive Mobilisierung der Arbeiter blieb aus. Effektiver wird der Klassenkampf von Unternehmen gefhrt. Sie verlangen gesetzliche Bestimmungen, die Klagen von Mitarbeitern ausschließen sollen, wenn der Arbeitgeber sie dem Risiko einer Coronainfektion aussetzt. Der Ruf nach Schutz vor Schadensersatzklagen wurde vom Senat aufgenommen und im Mai vom republikanischen Mehrheitsfhrer Mitch McConnell zur Bedingung fr eine Einigung auf ein weiteres Hilfspaket erklrt. Die Unternehmen sollen nicht wegen mçglicher Klagen vor der Wiedererçffnung zurckschrecken, was den Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman zu der Frage veranlasste: „How many will die for the Dow?“
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III. Schulen Mçglich wurde der Exodus aus New York auch durch die am 15. Mrz verkndete Schließung der çffentlichen Schulen. Die Eltern schulpflichtiger Kinder wurden erst dadurch rumlich mobil. Brgermeister Bill de Blasio hatte sich lange gewehrt, die çffentlichen Schulen zu schließen. Aus guten Grnden: ber 1,1 Millionen Schler sind in dem System, dem grçßten der USA. Ungefhr 700.000 leben an der Armutsgrenze. ber 100.000 der Schler sind obdachlos, sie leben zumeist in Shelters ber das Stadtgebiet verteilt. Das çffentliche Schulsystem ist in New York ein strukturierender Faktor, weit ber die Vermittlung von Lerninhalten hinaus. Dies war ein wichtiger Aspekt bei den berlegungen, ob die Schulen geschlossen werden sollten. Hunderttausende erhalten bis zu drei kostenlose Mahlzeiten pro Tag in der Schule – die Schließung wrde deren Versorgungssicherheit gefhrden. Ohne Schule wrden jene Schler, die in dysfunktionalen und gewaltsamen Familiensituationen leben, weiteren Gefahren ausgesetzt. Aspekte der çffentlichen Sicherheit spielten ebenfalls eine Rolle: Wer wrde so viele tagsber unbeaufsichtigte Teenager kontrollieren? Letztendlich berwogen die Gesundheitserwgungen. Viele private Schulen, in die knapp zwanzig Prozent der New Yorker Schler gehen, hatten aus eigener Initiative bereits zuvor geschlossen, weil sie die fr çffentliche Schulen relevanten berlegungen nicht betreffen. Bei Eltern, die Schulgebhren zwischen 20.000 und 60.000 Dollar jhrlich bezahlen, kann davon ausgegangen werden, dass sie Lçsungen finden wrden. Von den çffentlichen Schulen wurden in jeder Nachbarschaft einige als Suppenkchen offengehalten, wo Schler ohne Nachweise drei Mahlzeiten tglich erhalten konnten. Seit dem 2. April kçnnen alle New Yorker pro Tag kostenlos drei Mahlzeiten an einer von insgesamt vierhundert ber das Stadtgebiet verteilten Ausgabestellen abholen. Ende Mai wurde geschtzt, dass circa 25 Prozent der New Yorker nicht ber die Ressourcen verfgen, sich hinreichend zu ernhren. Eine Studie des Brookings Institute zeigt, dass hiervon insbesondere Haushalte mit Kindern betroffen sind. In den USA insgesamt gaben im Juni mehr als ein Drittel der Haushalte mit Kindern an, nicht hinreichend Geld fr die Ernhrung der Familie zu haben. Mit der sofortigen Umschaltung auf Online-Unterricht wurde versucht, den Einfluss auf die Struktur des Alltags von Kindern und Jugendlichen aufrechtzuerhalten selbst fr die Vierjhrigen. Es war beeindruckend zu sehen, mit welchem Einsatz Schulen und Lehrkrfte dies umsetzten, ohne jegliche vorherige Vorbereitung. Die Digitalangebote suggerierten zumindest das Weiterbestehen des Sozialraums Schule. Doch auch weil es keine Vorbereitung geben konnte, war der tatschlich erteilte Unterricht nur ein klglicher Ersatz fr das, was den Schlern verloren gegangen ist. Die Umstellung auf Online-Unterricht fhrte zur weiteren Verschrfung der ohnehin bestehenden gravierenden sozialen Ungleichheit zwischen Schulen
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und Schlern. Ein Grund sind die unterschiedlichen huslichen Bedingungen. Viele Schler und ihre Familien haben keine Endgerte fr die Software oder keinen Internetanschluss. Die Technik ist neu, und Eltern sind berfordert. Oder sie sind beruflich so eingebunden, dass ihnen die Zeit fr die Untersttzung ihrer Kinder am Computer fehlt. Die Wohnverhltnisse in New York sind oft so beengt, dass Lernen nicht mçglich ist. Lehrer an çffentlichen Schulen berichteten, dass berhaupt nur ein Drittel der Schler an dem Online-Unterricht teilnimmt. Unter diesen Bedingungen fallen die benachteiligten Kinder in ihrem schulischen Erfolg weiter zurck, mit heute noch nicht abzusehenden Konsequenzen fr ihre Berufsmçglichkeiten und ihr zuknftiges Einkommen. Schule trgt auch zur sozialen Gleichheit bei, indem alle Schler einer Klasse in demselben Gebude, mit denselben Lehrern unter denselben Bedingungen lernen. Noch prononcierter stellen sich die Unterschiede im Vergleich zwischen çffentlichen und privaten Schulen dar. Zwar gibt es zu den Unterschieden bei der Online-Beschulung der Kinder bislang hauptschlich anekdotische Evidenz, diese erscheint jedoch plausibel. Whrend die çffentlichen Schulen schwer damit kmpften, den Unterricht zumindest teilweise aufrecht zu erhalten, gelang dies den finanziell gut aufgestellten privaten Schulen in der Regel viel besser. In keiner Schule kann Online-Unterricht die Koprsenz von Schlern und Lehrern ersetzen; doch in einer Situation, in der gemeinsames Lernen nicht mçglich ist, verstrken sich soziale Ungleichheiten zwischen den Schlern weiter, abhngig von elterlichen und schulischen Ressourcen. Dies setzt sich bei der Frage der Ermçglichung von Prsenzunterricht im neuen Schuljahr fort. Die privaten Schulen sehen sich aufgrund besserer rumlicher Bedingungen und ihrer finanziellen Ausstattung eher in der Lage, Prsenzunterricht anzubieten, als die çffentlichen Schulen. Die schulische Ungleichheit ist dabei auch „Rassenungleichheit“. Siebzig Prozent der Schler in den çffentlichen Schulen in New York sind Schwarze oder Latinx, nur 15 Prozent sind Weiße. In den Privatschulen sind ber sechzig Prozent der Schler Weiße und nur circa 25 Prozent Afroamerikaner oder Latinx.
IV. Krank werden Viren unterscheiden nicht zwischen den Wirten, die sie besiedeln. Dennoch sind die Armen und die Minderheiten in Relation zu ihrer Reprsentanz in der Gesellschaft weit strker von der Erkrankung betroffen als die Wohlhabenden. In COVID-19 spiegelt sich die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft entlang sozialer und ethnischer Trennlinien. Die Ende Mai beginnenden Unruhen nach der Tçtung von George Floyd in Minneapolis durch Polizeigewalt sind nicht ohne die besondere gesundheitliche und wirtschaftliche Betroffenheit der Afroamerikaner in der Coronakrise zu verstehen.
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Im Bundesstaat Georgia etwa, wo ein Drittel der Bevçlkerung Schwarze sind, stellen sie zugleich 83 Prozent der im Krankenhaus Behandelten und fnfzig Prozent der an Corona Verstorbenen. Auch in New York haben Schwarze eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu sterben, als Weiße. New York City verçffentlichte Anfang Mai Statistiken, die Erkrankung und Sterblichkeit an Corona nach den Postleitzahlbezirken aufschlsseln. In den wohlhabendsten Bezirken in Manhattan gab es quasi keine Toten. Die hçchste Sterblichkeit zeigten Bezirke, die mehrheitlich von Afroamerikanern und Latinx bewohnt werden. Im Postleitzahlbezirk Civic Center (10007) im sdlichen Manhattan liegt das jhrliche Medianeinkommen bei 246.000 Dollar. Dort steckte sich eine von 153 Personen an. Im Postleitzahlbezirk Mott Haven and Port Morris in der Bronx (10454) liegt das Medianeinkommen bei 21.000 Dollar. In diesem Gebiet steckte sich bis Anfang Juni einer von 34 Bewohnern an. Die Grnde hierfr liegen in den lange bestehenden strukturellen Ungleichheiten der amerikanischen Gesellschaft. Schwarze, Latinx und andere Minderheiten haben weit berproportional Arbeitsttigkeiten in Servicefunktionen. Sie sind Krankenhelfer, Lieferboten oder Busfahrer. Whrend Schwarze 12 Prozent der Erwerbsttigen in den USA ausmachen, stellen sie ein Viertel der Krankenpflegekrfte. Menschen dieser Gruppen haben außerdem hufiger keine Krankenversicherung, haben eher Vorerkrankungen, leben unter gesundheitsbeeintrchtigenden Bedingungen, und rassistische Vorurteile fhren zu schlechterer medizinischer Behandlung. So gab es schon Anfang April Anzeichen dafr, dass Afroamerikaner bei gleicher Symptomatik eine geringere Chance hatten, auf Corona getestet zu werden. Auf der anderen Seite gab es Berichte, dass die rich and famous uneingeschrnkt Zugang zu Tests hatten, als diese noch kaum verfgbar waren. Dies kçnnte eine Erklrung dafr sein, weshalb im frhen Verlauf der Epidemie so viele Prominente von der Krankheit betroffen gewesen zu sein scheinen. Andere wurden gar nicht erst getestet. Die frhe Erkennung und Behandlung spielen eine wichtige Rolle fr den Krankheitsverlauf. Aufgrund beengter Wohnverhltnisse und dem hufigen Zusammenleben von mehreren Generationen in den rmeren Stadtvierteln steigt das Erkrankungsrisiko der besonders gefhrdeten lteren. Die nach Postleitzahlbezirken untergliederten Daten zeigen fr die Stadt New York einen klaren statistischen Zusammenhang zwischen der Zahl der durchschnittlich in einer Wohnung lebenden Personen und den Infektionszahlen in dem Stadtteil. In den Wohngebieten der betroffenen Gruppen gibt es außerdem eine schlechtere Krankenversorgung, und Supermrkte sind weiter entfernt, was Vorratseinkufe erschwert und dazu zwingt, die Wohnung çfter und fr lngere Zeit zu verlassen. Die Wohngebiete leiden unter schlechteren Luftbedingungen, weshalb Lungenerkrankungen hufiger sind, was ebenfalls zu dem statistischen Zusammenhang zwischen Armut und Coronasterblichkeit beitrgt. Auch in der Coronakrise wird die amerikanische Gesellschaft mit ihrem
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historisch nie berwundenen Rassismus konfrontiert. Eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen der hçheren Gefhrdung der schwarzen Bevçlkerung in der Coronakrise lautet: die Sklaverei.
V. Soziale Sicherung Die Schließung weiter Teile der konomie hat in den USA zu einer verheerenden Arbeitslosigkeit gefhrt. ber zwanzig Millionen Arbeitspltze gingen zwischen Februar und April 2020 verloren. Bis August 2020 wurden lediglich 42 Prozent dieser Verluste wieder wettgemacht. Fast die Hlfte aller erwachsenen Amerikaner lebte im Mai 2020 in einem Haushalt, der seit Anfang Mrz Einkommen verloren hatte. Auch bei der Arbeitslosigkeit zeigt sich die soziale Ungleichheit. Amerikaner mit einem Jahreseinkommen von 50.000 Dollar oder weniger berichteten doppelt so hufig, dass entweder sie selbst oder ein Familienmitglied den Arbeitsplatz verloren hatten, verglichen mit Amerikanern mit einem Einkommen von ber 150.000 Dollar. Fr Latinx und Afroamerikaner gilt, dass diese, verglichen mit weißen Amerikanern, in weit hçherem Maß von der pandemiebedingten Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die çkonomische Hauptlast der Krise fllt auf Erwerbspersonen, die niedrig bezahlte und unsichere Arbeitspltze haben oder als illegale Migranten im Land leben. Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bekommen nur legal Beschftigte. Dies schließt circa acht Millionen Arbeiter aus, die ohne Papiere in den USA arbeiten. Die neue Massenarbeitslosigkeit hat gravierende Folgen, nicht zuletzt aufgrund des schlecht ausgebauten amerikanischen Sozialstaats, dem Kurzarbeit, ein zentraler Mechanismus zur Krisenbewltigung in Deutschland, weitgehend fehlt. Zwar wurden in dem Ende Mrz verabschiedeten „CARES-Act“ die Regeln fr den Bezug von Arbeitslosengeld verndert, so dass dieses lnger und mit hçheren Betrgen gezahlt wurde. Außerdem wurde mit Maßnahmen wie dem stimulus check von 1.200 Dollar der çkonomische Schock einmalig abgemildert. Ein Programm fr kleinere Unternehmen sollte Entlassungen in diesen Unternehmen zumindest fr eine gewisse Zeit vermeiden, indem der Lohn aus nicht rckzahlbaren Zuschssen des Staates bezahlt werden konnte. Diese Maßnahmen waren bedeutend fr die kurzfristige soziale Abfederung der Wirtschaftskrise. Viele der Maßnahmen liefen jedoch Ende Juli 2020 aus. Mit dem Verlust der zustzlichen Arbeitslosenuntersttzung kçnnen viele Amerikaner ihre Miete nicht mehr bezahlen. Experten rechnen mit einem starken Anstieg der Armutsrate in den USA und einem erheblichen Anstieg von Zwangsrumungen von Wohnungen. Zur Verhinderung des Wohnungsverlustes gab es Moratorien von Zwangsrumungen der Bundesstaaten und vieler Kommunen, die jedoch zumeist nur fr einige Monate galten. Im Juli 2020 gaben 22 Prozent der amerikanischen Haushalte in einer Umfrage des Zensusbros an, sie
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wrden erwarten, ihre nchste Miete oder Kreditrate nicht mehr bezahlen zu kçnnen. Bei den Betroffenen ist der Blick nach vorne ein Blick in den Abgrund. Welche weiteren Untersttzungsmaßnahmen es geben soll, ist zwischen Republikanern und Demokraten so umstritten, dass es trotz der unmittelbaren Notsituation vieler Menschen auch Anfang August noch kein neues Gesetzespaket gibt. Darin zeigt sich auch die Problematik, dass das soziale Netz in den USA quasi im freien Fall geknpft werden muss. Die spontan eingefhrten Maßnahmen lassen so viele Lçcher offen, dass viele Brger durch das Netz hindurchfallen. Wer keine oder zu niedrige Leistungen erhlt, ist auf private Wohlttigkeit (charities) angewiesen. Nicht soziale Rechte, sondern Barmherzigkeit begrndet hier soziale Frsorge. Zu den Notsituationen trug auch bei, dass die Verwaltung vçllig berfordert war, dem Andrang eingehender Antrge auf Leistungen nachzukommen. Wren die Antragsprozeduren nicht mittlerweile auf Telefon und Computer umgestellt, wrden wir seit April 2020 lngst dieselben Bilder von Menschenschlangen vor Arbeitsagenturen sehen, die aus der Großen Depression bekannt sind. Im Jahr 2020 sieht man solche Bilder „nur“ vor den Ausgabestellen fr Lebensmittel. Der amerikanische Sozialstaat wurde seit den 1980er Jahren nicht nur geschmlert, sondern auch so umgebaut, dass Sozialleistungen immer enger mit Arbeitsttigkeit verknpft wurden. Bedrftigkeit wurde mit individuellem Fehlverhalten erklrt, die Anreizstruktur der sozialstaatlichen Leistungen so verndert, dass weniger Anreize fr solches Verhalten bestehen. From Welfare to Workfare hieß die Devise. In einer Situation pandemiebedingter Massenarbeitslosigkeit ist dies verheerend. Ein Beispiel hierfr ist der Krankenversicherungsschutz. Da die Krankenversicherung an den Arbeitgeber gebunden ist, verlieren Amerikaner mit ihrer Erwerbsttigkeit auch ihre bestehende Versicherung. Eine Studie der Kaiser Family Foundation von Anfang Mai kommt zu dem Ergebnis, dass 27 Millionen Amerikaner ihre an den Arbeitgeber gebundene Krankenversicherung verlieren werden oder bereits verloren haben. Ungefhr zwanzig Millionen Menschen kçnnen durch den „Affordable Care Act“ (Obama Care) oder das Krankenversicherungssystem fr Arme (Medicaid) neuen Versicherungsschutz erlangen. Fast 6 Millionen werden ihren Versicherungsschutz ganz verlieren. Die Krise wird daher auch die Vermçgenspolarisierung noch einmal verstrken. Schon in der Finanzkrise von 2008 sank das Medianvermçgen, wie der konom Edward Wolf berechnete, in den USA um 44 Prozent von 115.000 Dollar im Jahr 2007 auf 64.000 Dollar 2010 und hat sich von diesem Rckgang trotz der Erholung der Wirtschaft nicht wieder erholt. Um die jetzt erlittenen Einkommensverluste auszugleichen, wird die Mittelschicht ihre noch bestehenden Vermçgensrcklagen weiter reduzieren mssen. Wie niedrig auch immer die Vermçgensbestnde der meisten Amerikaner sind, in dieser Krise werden sie erneut schrumpfen, ausgenommen die der obersten zehn Prozent
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der Haushalte. Ihr erhebliches Finanzvermçgen wird bisher durch die Hilfspakete und Maßnahmen der Zentralbank vor Verlusten geschtzt.
VI. Öffnen Im Unterschied zu anderen Wirtschaftskrisen ist diese Krise nicht durch einen Nachfrage- oder Investitionsrckgang ausgelçst, sondern das Resultat politischer Entscheidungen, die auf den Gesundheitsschutz der Bevçlkerung zielten. Angesichts der Sekundreffekte dieser Entscheidungen – Massenarbeitslosigkeit, drohende Insolvenzen, Verarmung – ist es nicht verwunderlich, dass schon zum Hçhepunkt der ersten Welle der Pandemie im April 2020 großer politischer Druck entstand, die çkonomischen und sozialen Restriktionen schnell wieder aufzuheben. Keine Gesellschaft kann die Einstellung weiter Teile ihrer çkonomischen Aktivitt bei gleichzeitigem Aufblhen sozialstaatlicher Leistungen lange durchhalten, ohne dabei zu verarmen. Anders als in Deutschland geschah die Wiederçffnung in den USA jedoch nicht in einer Situation, in der die Neuansteckungen drastisch zurckgegangen waren und die Pandemie im Griff zu sein schien. Viele Bundesstaaten lockerten im Mai 2020 die Restriktionen oder hoben sie auf, obwohl sich die Ansteckungszahlen erhçhten. Schon im Mai sahen Gesundheitsexperten daher eine erneute Infektionswelle voraus. Im Juli vermeldete das Land beinahe tglich neue Hçchststnde bei den Neuinfektionen, bis ber 70.000 pro Tag. Trotz der hohen Zahl an Neuinfektionen wurden die Lockerungen der Restriktionen des çffentlichen Lebens kaum zurckgenommen. Es fehlen sowohl die finanziellen Ressourcen als auch die politische Legitimation fr eine erneute Schließung. Natrlich gibt es unter den Befrwortern der Aufhebung der Restriktionen solche, die mit bizarren Argumenten der medizinischen Evidenz misstrauen und die Gefhrlichkeit der Krankheit in Abrede stellen. Entscheidend in der Auseinandersetzung um die ffnung sind jedoch politische Interessen und ideologische Differenzen. Die Auseinandersetzung ist von parteipolitischen Erwgungen dominiert. Prsident Donald Trump wird seine Wiederwahl vermutlich nur gelingen, wenn die Wirtschaft bis zum Herbst wieder Fahrt aufnimmt und die Arbeitslosenzahlen erheblich sinken. Hierfr bençtigt er die schnelle Aufhebung der Restriktionen – auch um den Preis von mehr Infektionen. Wenig berraschend wurden die im Mai und Juni erheblich gesunkenen Arbeitslosenzahlen von Prsident Trump triumphal gefeiert, obwohl die wirtschaftliche Situation des Landes natrlich weiterhin katastrophal war. Im Juli hatte sich die wirtschaftliche Erholung dann schon wieder verlangsamt, nicht zuletzt aufgrund der hohen Infektionszahlen, die die weitere Normalisierung des Wirtschaftslebens verhindern. Ideologisch steht auf der einen Seite eine politische Rechte, die nicht nur dem Sozialstaat misstraut, sondern dem Staat insgesamt, und die Vorschriften zur sozialen
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Distanzierung und dem Tragen von Schutzmasken als unertrglichen Eingriff in individuelle Freiheitsrechte ablehnt. Auf der anderen Seite steht eine Linke, liberals im amerikanischen Sinn, die nicht nur die staatliche Frsorgepflicht in der Pandemie hervorhebt, sondern die Gesundheitskrise auch als Chance sieht, die Rolle des Staates und der gesellschaftlichen Solidaritt nach vierzig Jahren marktliberaler Reformen wieder zu strken. Die Politisierung des Umgangs mit der Krise traf zugleich zumindest zu Beginn auf das im Land ganz unterschiedlich ausgeprgte Pandemiegeschehen. Die Infektionen konzentrierten sich bis Anfang Juni 2020 auf die Ost- und die Westkste sowie auf die großen Stdte, nicht nur an den Ksten, sondern auch im industriellen Teil des Mittleren Westens. All dies sind traditionelle Wahlhochburgen der Demokraten. In vielen republikanisch dominierten, hufig lndlich geprgten Regionen war die Pandemie zunchst kaum sprbar. Viele Brger in diesen Landesteilen sahen sich durch die Schutzmaßnahmen unverhltnismßig gegngelt; sie hielten die Therapie fr schlimmer als die Krankheit. Das ist eine Position, die durchaus Anerkennung verdient. Zumal es sich bei den zunchst kaum betroffenen Gebieten oft um rmere Regionen handelt. Die Folge der im Mai insbesondere von Donald Trump und republikanischen Gouverneuren aus politischem Kalkl vorangetriebenen schnellen ffnung des Landes begnstigte dann aber die Ausbreitung des Virus auch in die bis dahin kaum betroffenen Gebiete des Sdens und Westens. Fr Prsident Trump hat dies das politische Kalkl erheblich verndert: Es waren nun seine Whler, die von der Krankheit bedroht wurden. Wie politisiert die Debatte um Schließung oder ffnung ist, zeigen Meinungsumfragen. Eigentlich kçnnte man vermuten, dass Menschen, die durch die Unterbindung wirtschaftlicher Ttigkeit am Abgrund ihrer Existenz stehen, fr die Wiederçffnung der Wirtschaft kmpfen und die professionelle obere Mittelschicht, die oft ihre Berufsttigkeit komfortabel von Zuhause ausben kann, sich fr weitgehende Schließungen ausspricht. Doch anstelle sozioçkonomischer Betroffenheit dominiert die politische Spaltung. Regionen, die republikanisch regiert sind, neigen zur Untersttzung der ffnung, demokratisch regierte Regionen befrworten die Beibehaltung strikterer Maßnahmen. Die Debatte ist Ausdruck genau jener politischen Spaltung, die sich seit den 1980er Jahren abzeichnete, in der Prsidentschaftswahl von 2016 vollends zum Ausdruck kam und heute mehr denn je das Land prgt. Wie tief diese Spaltung geht und wie sehr sie an den Grundfesten der amerikanischen Demokratie nagt, lsst sich an den wahltaktischen Mançvern erkennen, die durch die Pandemie verstrkt werden. Die Republikanische Partei, die seit Jahren aufgrund des demografischen Wandels des Landes um ihre politische Mehrheitsfhigkeit frchtet, versucht, ihre Wahlchancen durch Eingriffe in den Wahlprozess zu verbessern. Hierzu gehçrt zum einen das gerrymandering der Wahlbezirke. Zum anderen will man die Wahlbeteiligung jener politischen Whlergruppen niedrig halten, die eher den Demokraten zuneigen. In der Coronakrise sehen die Republikaner unverhofft neue
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Mçglichkeiten in diesem politischen Spiel. Schwarze und Latinx, die in rmeren stdtischen Wahlbezirken ihre Stimme abgeben, kçnnten der Wahl aus Angst vor Ansteckung vermehrt fernbleiben. Demokratische Gouverneure versuchen dies auszugleichen, indem die Briefwahl bei den Prsidentschaftswahlen im November ausgeweitet werden soll. Von den Republikanern, an vorderster Front Prsident Trump, wird dies bekmpft. Die Pandemie, so lsst sich befrchten, wird neben sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit auch politische Ungleichheit befçrdern; die Ungleichheit des Wahlprozesses zu forcieren, ist Teil des politischen Programms der Rechten.
VII. Ein neuer New Deal? Die USA sind zutiefst gespalten und fhren politische Auseinandersetzungen mit einer in Deutschland unbekannten Schrfe. Alles spricht dafr, dass die Coronakrise das Land weiter auseinandertreiben wird. Die ideologischen Grben werden in der Pandemie tiefer, ebenso wie die Spaltung zwischen lndlichen Regionen und Metropolen, die Unterschiede zwischen Arm und Reich und zwischen Schwarzen und Weißen. Aufzuhalten und umzukehren wre diese Spaltung wohl nur, wenn es zu einem neuen New Deal kme, mit drastischen Eingriffen in die Vermçgens- und Einkommensverteilung durch eine vernderte Steuerpolitik, dem Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, der Strkung von Arbeitnehmerrechten, der Wiederherstellung funktionierender Wettbewerbsstrukturen und einer radikalen Vernderung des Bildungssystems. Dazu msste eine neue Brgerrechtsgesetzgebung kommen. Forderungen nach solchen Vernderungen gibt es. Sie bestanden lange vor der Coronakrise und fanden politischen Ausdruck auch in der großen Zustimmung fr die demokratischen Prsidentschaftskandidaten Bernie Sanders und Elizabeth Warren und in der Black-lives-matter-Bewegung. Fr die Umsetzungschancen solcher Reformplne gibt es jedoch angesichts der Einflussnahme wirtschaftlicher Interessen auf den politischen Prozess und der ideologischen Polarisierung wenig Anlass zum Optimismus. Voraussetzung fr Reformen ist die Wahl eines neuen Prsidenten im Herbst mit einer demokratischen Mehrheit im Senat. Welche Vernderungen lassen sich unter einem Prsidenten Biden erwarten? Joe Biden mag brgerlichen Anstand in die amerikanische Politik zurckbringen und die politische Unberechenbarkeit der derzeitigen Regierung beenden. Dies ist von erheblicher Bedeutung. Als moderatem Demokraten traut Biden jedoch niemand zu, große Gesellschaftsreformen im Stil von Franklin D. Roosevelt anzuleiten. So kçnnten die USA immer tiefer in eine anomische Gesellschaftssituation hineingleiten, mit sich ausweitenden gesellschaftlichen Konflikten. Optimismus, dass es vielleicht doch zu einem „F. D. R. Moment“ kommt, kann sich am ehesten auf die historische Unvorherseh-
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barkeit gesellschaftlicher Brche berufen. Auch den New Deal der dreißiger Jahre htte noch 1932 kaum jemand vorhergesagt. Doch Garantie auf Wiederholung gibt es in der Geschichte nicht. Prof. Dr. Jens Beckert, Max-Planck-Institut fr Gesellschaftsforschung, Paulstraße 3, 50676 Kçln E-Mail: [email protected]
Sozialer Protest in Pandemiezeiten in Lateinamerika Von der „Spanischen Grippe“ zu Corona von Stefan Rinke
Social Protest in Times of Pandemics in Latin America. From the “Spanish Flu” to Corona Since March 2020, the corona pandemic has wreaked havoc in Latin America. Social and economic life has been curtailed and the political effects of the response are alarming. The pandemic has coincided with a wave of protests against corrupt governments. Almost exactly 100 years ago, Latin America faced a similar mixture of protest and pandemic. What insights can be gained, beyond the temporal coincidence of protest waves and pandemics, by comparing the situation of 1918 / 19 with that of 2019 / 20? What role does civil society play? Have the lessons from a century ago been learned? Can observations from the Latin American context be applied beyond the continent?
Als sich die ersten Auswirkungen der Epidemie zeigen, wendet sich das stdtische Gesundheitsamt mit einer Bekanntmachung an die Brger:innen, um die Verbreitung der Krankheit einzudmmen. ffentliche Versammlungen sollen ebenso gemieden werden wie kulturelle Veranstaltungen oder Besuche. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass man sich „grndlich die Hnde waschen soll.“ Man kçnnte denken, der Aufruf stamme aus dem von COVID-19 heimgesuchten Berlin im April 2020. Tatschlich datiert der Anschlag vom 19. Oktober 1918 und stammt aus der mexikanischen Stadt Puebla, die damals gerade mit der tçdlichen, bis vor kurzem als „Mutter aller Pandemien“ bezeichneten „spanischen Grippe“ in Kontakt kam.1 Viel hat sich an den Gegenmaßnahmen nicht gendert, so scheint es, wrden nicht einige weitere Empfehlungen der poblaner Verlautbarung wie das Desinfizieren der Nase mit einer Salbe aus Vaseline, Borsure und Thymol uns heute eher ungewçhnlich anmuten. Ob wir heute schon deutlich weiter sind, ist zumindest fraglich, wenn etwa US-Prsident Donald Trump das Injizieren von Desinfektionsmittel
1 Privatsammlung Roberto Gonz lez, Universidad del Norte Barranquilla, Oficina de Salubridad de la Ciudad de Puebla al Pfflblico, Puebla, 19. 10. 1918. Ich danke dem Kollegen Gonz lez, der mich auf diese Quelle aufmerksam gemacht hat. Fr den Kontext der „spanischen Grippe“ siehe auch Wilfried Witte, Bedrohungsszenario. Historische Deutungen der Spanischen Grippe im 20. Jahrhundert, in: Malte Thießen (Hg.), Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Mnchen 2014, S. 186 – 205, hier S. 186 – 188. Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 481 – 493 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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in den menschlichen Kçrper çffentlich in Erwgung zieht.2 Epidemiolog:innen wiesen schon 2018 darauf hin, dass die 2005 beschlossenen Maßnahmen der globalen Gesundheitsagenda noch lngst nicht berall griffen und dass nur rund ein Drittel der Unterzeichnerstaaten die Standards bereits erfllten. „Trotz der Verbesserungen seit 1918“, so schloss die Studie, „bleiben Regierungen und Gesundheitssysteme ungengend vorbereitet auf die Folgen einer schweren Grippe-Epidemie von den Ausmaßen von 1918.“3 Damit sollten sie recht behalten. Die Aktualitt der Bekanntmachung von 1918 liegt nicht nur an den uns heute nur zu vertrauten Hygieneanweisungen, die sich in den letzten hundert Jahren kaum verndert haben, sondern auch in den Parallelen zur derzeitigen Situation in Lateinamerika. Die Pandemie erreichte im Mrz 2020 eine Region, die seit lngerem von sozialen Protesten erschttert wird. Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Peru, Nicaragua und Venezuela sind seit 2019 und teils schon vorher die Brennpunkte, doch auch in vielen anderen Staaten wie etwa Argentinien demonstrieren Menschen gegen Korruption und soziale Ungerechtigkeiten, die sich durch die Wirtschaftskrise vertiefen. Mit dem Ausbruch der Pandemie im Mrz 2020 sind die Proteste vorerst abgeflaut, doch die soziale Lage hat sich weiter verschrft. Vor fast genau 100 Jahren war ebenfalls eine Gemengelage von Protest und Pandemie vorhanden, die auf den ersten Blick der heutigen hnelt. Im Kontext des Ersten Weltkriegs spitzten sich die sozialen Probleme so stark zu, dass es vielerorts zu Demonstrationen kam, die man in dieser Dimension in der Region noch nicht gesehen hatte. Beeinflusst durch die mexikanische Revolution und den Sieg der Bolschewiki in Russland erhielt der Protest ein sozialrevolutionres Element, das die weitere Geschichte Lateinamerikas im zwanzigsten Jahrhundert prgen sollte. Die sogenannte „spanische Grippe“, die 1918 und 1919 die Region heimsuchte, hatte dramatische Folgen. Was lsst sich ber die zeitliche Koinzidenz hinaus ber das Zusammentreffen von Protestwellen und Pandemien durch den Vergleich der Situation von 1918 / 19 mit der von 2019 / 20 beobachten? Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft? Wurden die Lektionen von vor einem Jahrhundert gelernt? Lassen sich Folgen fr Lateinamerika verallgemeinern?
2 Wulf Rohwedder, Trump zu Corona-Maßnahmen. Sommer, Sonne – und Spritzen?, in: Tagesschau.de, 24. 4. 2020, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/trump-coronadesinfektionsmittel-101.html. 3 Barbara Jester u. a., Readiness for Responding to a Severe Pandemic 100 Years after 1918, in: American Journal of Epidemiology 187. 2018, H. 12, S. 2596 – 2602, hier S. 2600 [alle bers. S R]. Insofern hatte sich gegenber der 2009 unternommenen Bestandsaufnahme der nationalen Pandemieplne in Lateinamerika nichts gendert. Siehe Ana Mensua u. a., Pandemic Influenca Preparedness in Latin America. Analysis of National Strategic Plans, in: Health Policy and Planning 24. 2009, S. 253 f.
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I. Proteste und Grippepandemie am Kriegsende 1918 / 1919 Wenn die lateinamerikanischen Staaten bis 1917 auch nicht direkt in das Geschehen eingriffen, so hatte der Kriegsausbruch doch von Beginn an Konsequenzen, die den Subkontinent schwer in Mitleidenschaft zogen. Neben einer bis dato ungekannten Welle von Propaganda und der Politisierung der ffentlichkeiten waren insbesondere die sozioçkonomischen Folgen tiefgreifend.4 Brennpunkte waren Argentinien, Brasilien und Chile, whrend das seit 1910 revolutionre Mexiko mit seinem Brgerkrieg eine Sonderrolle spielte. Im Fall Argentiniens fielen whrend des Kriegs die Lçhne um rund 38 Prozent, whrend die Lebenshaltungskosten um 71 Prozent anstiegen. Waren es bis 1917 vor allem Lebensmittel und Textilien, deren Preise regelrecht explodierten, so verschlimmerten 1918 die rasch steigenden Mieten die soziale Lage fr viele Stadtbewohner:innen. Daher fielen die Reallçhne auch 1918 weiter, obwohl sich die Konjunktur dank der Weizenlieferungen an die Alliierten bereits erholt hatte.5 Eine Folge war die starke Mobilisierung der Arbeiter:innen, die sich bereits ab 1916, als die Hafenarbeiter:innen die Arbeit niederlegten, in Streiks niederschlug. Die Zahl der Streiks und Streikteilnehmer:innen stieg allein in Buenos Aires von achtzig und 24.300 im Jahr 1916 auf 367 und 309.000 im Jahr 1919. Die Regierung sorgte sich angesichts der Streikaktivitten um die Produktion in den Fleischfabriken sowie um den Transportsektor. Die Alliierten, die dahinter deutsche Geheimdienstaktivitten vermuteten, verstrkten den Druck auf die argentinische Regierung.6 Bis zum Kriegsende wurden Polizei oder Militr eher selten gegen die Streikenden eingesetzt. Dennoch forderten die Arbeitskmpfe wiederholt Tote und Verletzte, deren Zahl nicht bekannt ist. Darber hinaus organisierten sich nun auch die Arbeitgeber:innen, um die Gewerkschaften zu bekmpfen und die Streiks zu brechen.7 1918 spitzte sich die Lage weiter zu. Im Mrz streikten die Arbeiter:innen der im Besitz britischer Investor:innen befindlichen Eisenbahnen, was die Weizenlieferungen und damit die Versorgung der Alliierten empfindlich traf.8 Anfang Dezember drohte selbst die Polizei in Rosario wegen ausstehen4 Stefan Rinke, Im Sog der Katastrophe. Lateinamerika und der Erste Weltkrieg, Frankfurt 2015. 5 Edgardo Bilsky, La Semana Tr gica, Buenos Aires 2011, S. 63 f. 6 Enrique Daz Araujo, Yrigoyen y la guerra, Mendoza 1987, S. 233 – 239; Laura Gabriela Caruso, La huelga general martima del Puerto de Buenos Aires, diciembre 1916, in: Revista de Estudios Martimos y Sociales 1. 2008, H. 1, S. 23 – 34, hier S. 24. 7 Ebd., S. 33; Sandra McGee Deutsch, Las derechas. La extrema derecha en la Argentina, el Brasil y Chile, 1890 – 1939, Buenos Aires 2005, S. 113 – 115; Phillip A. Dehne, On the Far Western Front. Britain’s First World War in South America, Manchester 2009, S. 161. 8 National Archives and Records Administration [im Folgenden NARA], Record Group 165, Military Intelligence Division, 2327-L-1, Report on Foreign and Domestic
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der Lohnzahlungen mit Streiks. Aus Sicht der Review of the River Plate lag bereits die Sowjetisierung des Landes in der Luft. Zum Jahresende konnte die Revolutionsfurcht unter den Eliten kaum grçßer sein.9 Die Spannungen entluden sich ab dem 7. Januar 1919 in einer Gewaltorgie whrend der sogenannten Semana Tr gica (Tragische Woche). In diesen Tagen kam es zu brgerkriegshnlichen Zustnden in der Hauptstadt und in einigen Provinzstdten, die zahllose Tote und Verletzte forderten. Der unter massivem Druck stehende Prsident Hiplito Yrigoyen setzte das Militr gegen die Streikenden ein. Die Gewerkschaften reagierten mit der Ausrufung des Generalstreiks. Besonders brutal waren die bergriffe gegen russische und vor allem jdische Einwander:innen, die als Anstifter:innen der Unruhen galten.10 Gewaltsame Konfliktlçsungen gewannen auch in Chile an Bedeutung, je mehr sich die soziale Lage aufgrund des Kriegs zuspitzte. Die Schwche der Gewerkschaften hatte bei Kriegsausbruch grçßere Arbeitskmpfe verhindert. Wie in Argentinien begannen die Streikaktionen hier 1916 und wuchsen 1917 wegen der stetig steigenden Lebenshaltungskosten enorm an. Insbesondere der Streik der Hafenarbeiter:innen, der sich von Valparaso aus ber das ganze Land ausbreitete, sowie die Arbeitsniederlegungen in der Salpeterregion im Norden gaben einen Vorgeschmack auf die folgenden Ereignisse. Nachdem die Sozialist:innen 1917 die Fhrung innerhalb des gewerkschaftlichen Dachverbands bernommen hatten, nahm das Ausmaß der Arbeitskmpfe 1918 zu. Die Intensitt der Krise verschrfte sich durch das Ende des Salpeterbooms nach dem Waffenstillstand in Europa. Am 22. November organisierten die Gewerkschaften Massenproteste gegen die Lebenshaltungskosten. Daran nahmen unterschiedliche politische Krfte teil, darunter Sozialkatholik:innen, Frauen- und Jugendverbnde. Selbst die brgerliche Hauptstadtpresse lobte den friedlichen Verlauf der Demonstrationen und gab den Forderungen der Arbeiter:innen im Grunde Recht, denn, wie die fhrende Tageszeitung El Mercurio anmerkte, ein Volk, das hungere, kçnne keine patriotischen Gefhle haben.11 Dennoch reagierte die Regierung mit Repressionen. Im Dezember 1918 erließ sie ein Gesetz, das die Ausweisung sogenannter unerwnschter Subversiver erleichtern und deren Einwanderung verhindern sollte, obwohl eine derartige Bedrohung in Chile gering war. Die aufkommende Xenophobie wurde durch den bei Kriegsende wieder aufflackernden Grenzkonflikt mit Peru angeheizt. In dieser Situation grndete sich mit der Liga Patritica Militar eine Brgerwehr, die landesweit Ortsgruppen bildete und die nativistische StimPropaganda in the Argentine Republic, 9. 4. 1918; Carlos A. GoÇi Demarchi u. a., Yrigoyen y la Gran Guerra, Buenos Aires 1998, S. 122 f. 9 Daniel Kersffeld, El activismo judo en el comunismo de entreguerras. Cinco casos latinoamericanos, in: Nueva Sociedad 247. 2013, S. 152 – 164, hier S. 152 – 154. 10 Bilsky, La Semana Tr gica, S. 96 f. u. S. 205; Deutsch, Las derechas, S. 115 – 118. 11 O. A., Caresta de los artculos de consumo, in: El Mercurio, 23. 11. 1918, S. 17. Siehe auch o. A., La manifestacin popular de ayer, in: ebd., S. 3.
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mung weiter schrte. Es kam zu bergriffen gegen Peruaner:innen und gegen chilenische Arbeiter:innen, die ebenfalls als unter auslndischem Einfluss stehend eingestuft wurden.12 Die Zeitschrift Zig-Zag kommentierte in diesem Zusammenhang, dass das chilenische Volk im Zweifelsfall die Nation gegen die rote Gefahr verteidigen werde, denn in Chile selbst gebe es keine Anarchist:innen oder Kommunist:innen.13 Die Furcht vor sozialen Unruhen und der neuen Ideologie aus Russland machte auch vor Brasilien, das an der Seite der Alliierten 1917 in den Krieg eingetreten war, nicht halt. Dort hatten sich die Lebenshaltungskosten seit Kriegsausbruch ebenfalls verdreifacht. Die Streikwelle erreichte 1917 einen ersten Hçhepunkt, doch in der Folge nutzte die Regierung das Kriegsrecht, um die angeblich von auslndischen Agitator:innen unterwanderte Arbeiterbewegung zu zerschlagen.14 Besonders heftige Zusammenstçße ereigneten sich erst wieder am 18. November 1918 in Rio de Janeiro, nachdem sich die Lage fr die Unterschichten aufgrund der zunehmenden Lebensmittelknappheit weiter verschrft hatte, obwohl die Regierung bemht war, durch staatliche Eingriffe gegenzusteuern und fr eine gerechtere Verteilung zu sorgen.15 Letztlich hnelte die soziale Situation in Brasilien bei Kriegsende der in Argentinien und Chile, allerdings wurden die Spannungen einstweilen noch von der Euphorie durch den fr Brasilien positiven Kriegsausgang berlagert.16 Die krisenhafte Zuspitzung der sozialen Konflikte gegen Kriegsende war ein Phnomen, das sich fast berall in Lateinamerika beobachten ließ. In Peru etwa war es bis 1918 vergleichsweise ruhig geblieben, ehe sich die Streikwelle anders als in den Nachbarlndern vom Land ausgehend in die Stdte verbreitete. Ende des Jahres weitete die Arbeiterbewegung ihre Aktivitten aus, und am 13. Januar 1919 begann mit dem Generalstreik eine Welle von Auseinandersetzungen in ganz Peru. Nach anfnglichen Reformen wurden die Proteste schließlich im Mai brutal niedergeschlagen.17 In Mexiko flackerten seit 1917 immer wieder Streiks im Erdçlfçrdergebiet um Tampico auf und richteten sich insbesondere gegen die britische Firma El 12 Deutsch, Las derechas, S. 89 – 91; Bill Albert, South America and the First World War, Cambridge 1988, S. 283 – 287; Julio Pinto Vallejos, Crisis salitrera y subversin social. Los trabajadores pampinos en la pos-primera guerra mundial (1917 – 1921), in: Boletin del lnstituto de Historia Argentina y Americana „Dr. Emilio Ravignani“ 14. 1996, H. 2, S. 70 – 80. 13 O. A., Los deberes de la hora presente, in: Zig-Zag, 30. 11. 1918. 14 Deutsch, Las derechas, S. 145 u. S. 149; Albert, South America and the First World War, S. 267. 15 Moniz Bandeira u. a., O ano vermelho. A revolużo russa e seus reflexos no Brasil, Rio de Janeiro 1967, S. 128 f.; Francisco Luiz Texeira Vinhosa, O Brasil e a Primeira Guerra Mundial. A diplomacia brasileira e as grandes potÞncias, Rio de Janeiro 1990, S. 154 f.; V. da Silva Freire, Guerra e alimentażo nacional, in: Revista do Brasil 3. 1918, S. 259 – 285, hier S. 285. 16 Albert, South America and the First World War, S. 266. 17 Ebd., S. 295 – 301.
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Aguila. Der Verdacht fiel ebenso wie beim großen Eisenbahnerstreik auf deutsche Geheimdienstmitarbeiter:innen, denen nachgesagt wurde, gemeinsam mit Anarchist:innen und russischen Bolschewist:innen die alliierte Kriegsmaschinerie lahmlegen zu wollen.18 Schwere Arbeitskmpfe, die teils bis in das Jahr 1919 hineinreichten, ereigneten sich ebenfalls in Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Kuba, Paraguay und Uruguay. Die Grnde waren immer dieselben: der revolutionre Impetus aus Mexiko und Russland sowie die kriegsbedingte Krise des Kapitalismus.19 Dass die sozialen Spannungen nicht eskalierten, lag nicht zuletzt an der Ausbreitung der Grippe-Epidemie. Als die Seuche sich in Lateinamerika bemerkbar machte, nahm das den Protestbewegungen, die vor allem sozioçkonomische Ursachen hatten, den Wind aus den Segeln. Die alliierte Propaganda belegte die Pandemie mit dem Namen „Spanische Grippe“, um das wahre Ausmaß und den Ursprung wahrscheinlich in den Militrlagern der USA zu verschleiern sowie dem als deutschfreundlich geltenden Spanien zu schaden. Die zweite Welle der Seuche, die 1918 / 19 weltweit rund 15 Millionen Todesopfer forderte, breitete sich ab September 1918 auch in Lateinamerika aus. Im Oktober waren bereits rund zwei Drittel der Bevçlkerung der brasilianischen Hauptstadt erkrankt und die Sterberate explodierte. Aufgrund der fehlenden staatlichen Gesundheitsfrsorge brach Ende des Jahres in Rio de Janeiro und in vielen weiteren Stdten Brasiliens das çffentliche Leben zusammen. Die bereits von der Wirtschaftskrise besonders betroffenen armen Bevçlkerungsschichten in den Stdten wurden von der Grippewelle besonders in Mitleidenschaft gezogen. An Protest war unter diesen Umstnden nicht mehr zu denken. Die Presse dokumentierte die Katastrophe vergleichsweise offen. Bald kursierten sogar Gerchte ber eine bakteriologische Kriegfhrung seitens der Deutschen.20 In Lndern wie Mexiko, wo die Bevçlkerung ohnehin schon geschwcht war und die Hygienestandards durch den langen Brgerkrieg und die damit einhergehenden Typhus-Epidemien erheblich gesunken waren, hatte die 18 Carl W. Ackerman, Mexico’s Dilemma, New York 1918, S. 68 f.; Lorenzo Meyer, Su majestad brit nica contra la Revolucin Mexicana, 1900 – 1950. El fin de un imperio informal, Mexiko 1991, S. 199. 19 Albert, South America and the First World War, S. 236 f.; Hobart A. Spalding, Jr., Organized Labor in Latin America. Historical Case Studies of Workers in Dependent Societies, New York 1977, S. 1 – 51; James P. Woodard, A Place in Politics. S¼o Paulo, Brazil, from Seigneurial Republicanism to Regionalist Revolt, Durham 2009, S. 79 – 87; Milda Rivarola, Obreros, utopas y revoluciones. Formacin de las clases trabajadoras en el Paraguay liberal, 1870 – 1931, Asuncin 2010, S. 215 – 221 u. S. 242. 20 O. A., A epidemia da „grippe“ toma cada vez maior vulto, in: Correio da Manh¼, 13. 10. 1918, S. 1; o. A., A quinzena tragica, in: Fon-Fon, 2. 11. 1918, n. p. Zur Verbreitung in anderen Regionen Brasiliens siehe Christiane Maria Cruz de Souza, A gripe espanhola na Bahia. Safflde, poltica e medicina em tempos de epidemia, Rio de Janeiro 2009, S. 325; Liane Maria Bertucci, Influenza, a medicina enferma. CiÞncia e pr ticas de cura na poca da gripe espanhola em S¼o Paulo, Campinas 2004, S. 90 – 172.
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Abbildung 1: Die „Spanische Grippe“ in der brasilianischen Karikatur. Quelle: „Bacillomarine“, in: A Careta 537, 10. 10. 1918, S. 13, abgedruckt in: Adriana da Costa Goulart, Revisiting the Spanish Flu. The Influenza Pandemic in Rio de Janeiro, in: Historia, CiÞncia, Safflde. Manguinhos 12. 2005, H. 1, S. 103. Die Verharmlosung in der Karikatur kçnnte durchaus eine gezielte Maßnahme gewesen sein, um Panik unter der Bevçlkerung zu verhindern.
Grippewelle verheerende Auswirkungen.21 Im Nachbarland Guatemala hatte ein schweres Erdbeben zu Weihnachten 1917 erhebliche Zerstçrungen angerichtet, die noch nicht beseitigt waren, als im August 1918 die Grippewelle einsetzte und eine hohe Zahl an Todesopfern insbesondere unter der indigenen Bevçlkerung forderte.22 Armut und beengte Lebensverhltnisse verschrften die Letalitt der Seuche. Angesichts der Ineffizienz der Behçrden musste der private Sektor einspringen und sich um die Opfer kmmern. In Kolumbien waren besonders Kinder und alte Menschen betroffen, wobei neuere Untersuchungen gezeigt haben, dass auch die Hçhenlage ber dem
21 Miguel ngel Cuenya Mateos, Reflexiones en torno a la pandemia de influenza de 1918. El caso de la ciudad de Puebla, in: Desacatos 32. 2010, S. 145 – 158; Lourdes M rquez Morfn u. Amrica Molina del Villar, El otoÇo de 1918. Las repercusiones de la pandemia de gripe en la ciudad de Mxico, in: ebd., S. 121 – 144. 22 David McCreery, La pandemia de influenza de 1918 – 1919 en la ciudad de Guatemala, in: Anales de la academia de geografa e historia de Guatemala 71. 1995, S. 111 – 132, hier S. 111.
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Meeresspiegel einen Risikofaktor darstellte: je hçher die Lage, desto grçßer das Risiko, an der Virusgrippe zu sterben.23 berall, wo die Epidemie sich ausbreitete, reagierten die Regierenden hilflos. Das Krisengefhl angesichts einer Bedrohung, die sich nicht greifen ließ, nahm lateinamerikaweit zu. Dort, wo es berhaupt zu staatlichen Reglementierungen kam, regte sich wie in Brasilien Kritik seitens der Opposition, die eine Beschneidung der Freiheitsrechte befrchtete. Quarantnemaßnahmen wurden erwogen, jedoch zumeist verworfen, galten sie doch als Vorboten einer Diktatur der Wissenschaftler:innen. Letztlich nahm die Pandemie ihren Lauf, wobei sich von Land zu Land und von Ort zu Ort große Unterschiede zeigten. Immerhin gab die Grippewelle vielerorts Anlass zu nationalen Reformanstrengungen im Gesundheitswesen in den 1920er Jahren.24
II. Proteste und Corona Anders als ein Jahrhundert zuvor erfolgten die Proteste 2019 / 20 nicht in Reaktion auf eine kriegsbedingte Krise. Allerdings war das Weltmarktgeschehen, von dem Lateinamerika seit seiner Unabhngigkeit im frhen 19. Jahrhundert in besonderem Maß abhngig ist, erneut von entscheidender Bedeutung. Bis Mitte der 2010er Jahre hatten die lateinamerikanischen Volkswirtschaften ein Jahrzehnt berdurchschnittlichen Wachstums erlebt. Es basierte auf einem Exportboom den die chinesische Nachfrage nach Rohstoffen wie Lithium und Kupfer antrieb. Das Wachstum begnstigte die Verringerung der Armut und Umverteilungen durch die im Zuge des „Linksrutsches“ nach der Jahrtausendwende an die Macht gekommenen Regierungen in zahlreichen Lndern der Region. Doch seit etwa 2015 herrscht Stagnation, ja sogar Rezession. Die Wirtschaftskommission fr Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) der Vereinten Nationen hat festgestellt, dass der Subkontinent zwischen 2014 und 2020 das schwchste Wachstum der letzten siebzig Jahre erlebte.25 Mit dem Ende des Booms der Rohstoffpreise haben sich die Terms of Trade wieder verschlechtert. Nicht mehr die USA, sondern China nimmt heute die Rolle des wichtigsten Handelspartners und Investors fr die meisten Lnder der Region ein. Entsprechend stark ist die Abhngigkeit vom wirtschaftlichen Wohlerge23 Fred G. Manrique u. a., La pandemia de gripe de 1918 – 1919 en Bogot y Boyac . 91 aÇos despus, in: Infectio 13. 2009, H. 3, S. 182 – 191, hier S. 182. 24 Eine umfassende historische Studie zur „spanischen Grippe“ in Lateinamerika fehlt. Die Sondernummer 32 der Zeitschrift Desacatos aus dem Jahr 2010 gibt einen ersten Anhaltspunkt. 25 O. A., El perodo 2014 – 2020 sera el de menor crecimiento para las economas de Amrica Latina y el Caribe en las fflltimas siete dcadas, in: Cepal, Comunicado de prensa, 12. 12. 2019, https://www.cepal.org/es/comunicados/periodo-2014–2020-seriamenor-crecimiento-economias-america-latina-caribe-ultimas-siete.
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hen des asiatischen Riesen. Hinzu kommt, dass durch den steigenden Anteil der Rohstoffexporte sogar in den vergleichsweise industrialisierten Lndern Lateinamerikas die çkonomischen Entwicklungen wieder strker von den globalen Trends abhngen.26 Mit dem Ende des Wachstums hat sich der Spielraum fr Umverteilungen verringert. Da Lateinamerika von allen Weltregionen diejenige mit dem hçchsten Maß an Ungleichheit ist, sind die Folgen besonders gravierend. Hatten sich die Gini-Werte fr Lateinamerika seit 2001 verbessert, so sind sie heute beispielsweise in Brasilien sogar wieder rcklufig.27 Wichtiger noch drfte der Faktor der enttuschten Hoffnungen sein, verbunden mit den Abstiegsngsten, die sich zumal in den Mittelschichten herausgebildet haben. Mit dem Wachstum stiegen auch die Erwartungen an Konsum, politische Stabilitt und çffentliche Dienstleistungen, die angesichts der Konjunkturabschwchung nur noch schwer zu befriedigen waren. Gerade diejenigen, die im Zug des Booms profitiert haben und laut Statistiken aus der Unter- in die untere Mittelschicht aufgestiegen sind, frchten um ihren neu gewonnenen Status.28 Diese zumeist im sogenannten informellen Sektor beschftigten „gefhrdeten Mittelschichten“ – laut OECD rund vierzig Prozent der lateinamerikanischen Bevçlkerung – bilden den Kern des Protestpotenzials, denn sie erhalten nur zu einem sehr geringen Maß sozialstaatliche Leistungen.29 Die Frustration ber die Ungerechtigkeit in Gesellschaften, in denen teils korrupte Eliten Privilegien genießen, zu denen ein Großteil der Bevçlkerung niemals Zugang haben wird, trieb die Menschen auf die Straßen. Sie eint das Misstrauen in die Institutionen und in die real existierenden Demokratien, in denen sie leben. Es bildeten sich schichtenbergreifende und spontane Bndnisse aus Arbeiter:innen, Angestellten, Indigenen, Schwarzen, Studierenden, Rentner:innen und Kulturschaffenden sowie Umwelt- und Frauenbewegungen. Sie setzten zwar unterschiedliche Schwerpunkte, stellten aber gemeinsam ein System infrage, das ihnen ein Leben in der gesicherten Mittelschicht in Aussicht stellt, in Wirklichkeit jedoch nur eine prekre Existenz garantieren kann. Die Proteste sind Misstrauenserklrungen breiter und heterogener Kreise der lateinamerikanischen Gesellschaften gegenber den Regierenden, deren Rcktritt eine der wichtigsten Forderungen ist. Vor diesem gesamtlateinamerikanischen Hintergrund sowie im Kontext der globalen Welle der Empçrung von Paris nach Hongkong entwickelten sich die 26 Zu diesen Zusammenhngen siehe Barbara Fritz, Nach dem „Moment der Gleichheit“. Drei Thesen zur Krise Lateinamerikas, in: ifo Schnelldienst 72. 2019, H. 24, S. 13 – 17. 27 Nora Lustig, Desigualdad y descontento social en Amrica Latina, in: Nueva Sociedad 286. 2020, S. 53 – 61, hier S. 54 – 56. 28 Elodie Masson, La clase media en Amrica Latina es econmicamente vulnerable, o. D., in: https://www.oecd.org/fr/dev/laclasemediaenamericalatinaeseconomicamentevulne rable.htm. 29 OECD u. a., Perspectivas econmicas de Amrica Latina 2019. Desarrollo en transicin, Paris 2019, S. 114 – 118.
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Proteste im vierten Quartal 2019, die einige Medien als „lateinamerikanischen Frhling“ bezeichnet haben, national unterschiedlich. In Nicaragua und Venezuela, wo der Widerstand bereits im April 2018 und im Januar 2019 begonnen hatte, sowie in Bolivien richteten sie sich gegen linksgerichtete populistische Prsidenten, die einst Hoffnungstrger waren, doch ihren politischen Kredit durch Wahlmanipulationen, Korruption und die Verfolgung von Oppositionellen lngst aufgebraucht hatten. In Ecuador und Chile brachten Regierungen der Mitte beziehungsweise der Konservativen durch neoliberale Austerittsmaßnahmen das Fass zum berlaufen. In Kolumbien, wo andauernde Gewalt und die Haltung der Regierung zum Friedensprozess mit der ehemaligen Guerrillaorganisation FARC Motive fr die Proteste sind, kam es zu Solidarittsbekundungen mit den Bewegungen in Chile und Ecuador.30 Die Reaktionen der Regierenden auf die Protestkundgebungen waren allerorten ebenso gewaltsam wie hilflos. Das Einlenken der chilenischen und ecuadorianischen Regierungen sowie der Rcktritt von Evo Morales in Bolivien zeigen, welche Macht die Straße hier entfalten konnte. Dennoch handelt es sich – noch – nicht um eine revolutionre Welle. Wie Nicaragua und Venezuela zeigen, hat der Staat, so schwach er im Einzelnen auch sein mag, durch sein Beharrungsvermçgen große Vorteile gegenber den zwar zur digitalen Mobilisierung fhigen, ansonsten aber wenig organisierten sozialen Akteuren, denen abgesehen von ihrer Kritik am „System“ und seinen Reprsentant:innen eine gemeinsame politische Vision fehlt. Mit der Ankunft der COVID-19-Pandemie im Mrz 2020 erhielten die unter Druck stehenden lateinamerikanischen Exekutiven eine unverhoffte Entlastung, jedoch stellte sich eine neue, kaum berschaubare Herausforderung ein. Die Protestwelle ebbte angesichts der Quarantnemaßnahmen und Ausgehverbote berall ab. Die Reaktionen auf die Pandemie sind seitdem sehr unterschiedlich. Whrend die erst seit November 2019 im Amt befindliche argentinische Regierung unter Alberto Fern ndez relativ schnell umfassende Maßnahmen zur sozialen Isolierung und zur Behandlung von Erkrankten und Verdachtsfllen beschloss, sprach der rechtspopulistische Prsident Brasiliens, Jair Bolsonaro, von einer „kleinen Grippe“ (gripezinha), suchte demonstrativ das Bad in der Menge seiner Gefolgschaft und stellte die Glaubwrdigkeit der Medienberichterstattung ber die Seuche infrage. Sein Slogan „Brasilien nicht anhalten“ hat Widerstand der Gouverneur:innen unter anderem in S¼o Paulo und Rio de Janeiro sowie Proteste hervorgerufen, die seine Regierungszeit ohnehin bereits seit Amtsantritt 2018 begleiten. Mittlerweile ist die Regierung uneins und sendet ambivalente Botschaften. In Chile wiederum konnte Prsident PiÇera seine Zustimmungswerte durch sein Krisenmangement leicht erhçhen. 30 Detlef Nolte, Lateinamerika im Krisenmodus. Soziale und politische Unruhen lhmen Regierungshandeln, in: DGAP Policy Brief 2020, H. 3, S. 1 – 9.
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Insgesamt ist die Lage in Lateinamerika jedoch dster. Die noch vor wenigen Monaten von der CEPAL vorgelegte vorsichtige Wachstumsprognose fr 2020 hat sich durch die Coronakrise in Luft aufgelçst. Den Regierungen fehlen die finanziellen und technologischen Mittel, um wie in Europa oder Asien mit wirksamen Gegenmaßnahmen zu reagieren. Große Unterschiede ergeben sich zwischen den einzelnen Lndern, aber auch zwischen Regionen und zwischen Stadt und Land. In Sachen Gesundheitsversorgung sind eigentlich nur die Hauptstdte halbwegs auf die Krise vorbereitet und auch dort in erster Linie die Wohnviertel der Reichen. Eine gute medizinische Versorgung ist Privatsache und sehr teuer. Selbst fr die Mittelschicht bleibt sie in der Regel unerschwinglich. Die ohnehin schon gewaltige Ungleichheit in der Verteilung der Einkommen wird unter diesen Voraussetzungen weiter steigen. Am hrtesten trifft es diejenigen, die am wenigsten haben. Das grundlegende Problem der Ungleichheit macht sich deutlicher denn je bemerkbar. Laut CEPAL lebten vor der Pandemie in Lateinamerika rund dreißig Prozent der Bevçlkerung in Armut. Besorgniserregend war schon zu diesem Zeitpunkt der erneute Anstieg der extremen Armut seit 2015. Im Juli 2020 prognostizierten die Expert:innen den Covid-bedingten Anstieg der Armut um fast 25 Prozent. Demnach werden mehr als 37 Prozent der lateinamerikanischen Bevçlkerung in Armut leben.31 Den Armen fehlt die Resilienz in der Krise. Wer im informellen Sektor Geld verdient, hat nicht die Wahl, zu Hause zu bleiben und sich zu isolieren, weil er oder sie sich dann nicht versorgen kann. Auf staatliche Hilfen kçnnen diese Menschen nicht hoffen. Besonders besorgniserregend ist die Lage in den Armutsvierteln der Stdte, wo die Bewohner:innen auf sich selbst oder bestenfalls auf zivilgesellschaftliche Organisationen angewiesen sind. Rckzugsmçglichkeiten sind hier nicht vorhanden. Katastrophal ist die Lage in den ohnehin notorisch berbelegten Gefngnissen.
III. Fazit Vergleicht man nun die beiden Pandemien in Lateinamerika – die von 1918 / 19 und die derzeit andauernde –, fallen die Unterschiede sofort ins Auge. Weltweite berwachungsinstanzen wie die WHO gab es vor hundert Jahren noch nicht, auch wenn die regionale Organizacin Panamericana de la Salud bereits seit 1902 besteht. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Virologie sind nicht zuletzt durch die Forschungen zum Ursprung der „spanischen Grippe“ heute vergleichsweise weit fortgeschritten. Auch bessere Hygienebedingungen sind zu verzeichnen. Es gibt heute Mçglichkeiten der Vorsorge, berwachung, Diagnose und Behandlung, die damals noch gar nicht bekannt waren. Die Seuche wird nicht mehr einfach hingenommen, wie vor hundert Jahren, sondern man versucht das Geschehen mit staatlichen Gegenmaßnah31 United Nations, ECLAC, Special Report Covid-19, Nr. 5, 15. 7. 2020, S. 11.
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men zu beeinflussen. So wird hoffentlich verhindert werden kçnnen, dass sich die enorm hohe und bis heute nicht in vollem Umfang bekannte Sterblichkeit von 1918 / 19 wiederholt. Jedoch brachte die sich verdichtende Globalisierung vor allem seit der zweiten Hlfte des zwanzigsten Jahrhunderts auch eine gewaltige Beschleunigung bei der weltweiten Verbreitung des Virus mit sich. Zudem leben heute noch viel mehr Menschen in Stdten und auf engstem Raum. In Lateinamerika sind es mittlerweile weit mehr als achtzig Prozent der Bevçlkerung. Mit der Verstdterung sind auch die Armutsviertel gewachsen, deren Bewohner:innen der Krankheit schutzlos ausgeliefert sind. Außerdem sind gegenwrtig mehr Falschinformationen und Unwissen im Umlauf als je zuvor. Das zeigt das brasilianische Beispiel besonders krass. Die Folgen sind noch nicht absehbar. Eindeutig ist in Lateinamerika eine Schwchung der Zivilgesellsschaft zu verzeichnen. Das war bereits 1918 / 19 so und hat sich 2020 wiederholt. Dies ist jedoch, wie Jrgen Kocka unlngst argumentiert hat, auch ein europisches und darber hinaus ein weltweites Problem. Anders als in Europa gab und gibt es jedoch in Lateinamerika keine starken Staaten oder Regierungen, die „die Stunde der Exekutive“, von der im europischen Kontext allerorts die Rede ist, ausntzen kçnnte. Das fhrt zu einer Aushçhlung vor allem des Gewaltmonopols, das sich alternative Gewaltakteure – 1918 / 19 die antisemitischen und antibolschewistischen Milizen, heute die organisierte Kriminalitt – zunutze machen kçnnen. Grundstzlich ist davon auszugehen, dass die Coronapandemie das Protestpotenzial weiter verstrken wird. Die Rufe nach dem Staat fhren zu einer Belastung, der die Regierungen nicht gerecht werden kçnnen. Die berforderung der Gesundheitssysteme ist angesichts der geringen Zahl der Intensivbetten absehbar. Die strukturellen Probleme wie hohe Arbeitslosigkeit, ein volatiles und von den Rohstoffpreisen abhngiges Weltmarktgeschehen sowie der Kursverfall der Whrungen werden sich zweifellos in der nchsten Zeit vertiefen. Die Rezession, die der Region droht, wird die Armut wachsen und den sozialen Abstieg fr viele zur Realitt werden lassen. Das Problem der Gewalt, das in der gesamten Region von zentraler Bedeutung ist, richtete sich 1918 / 19 vor allem gegen die kulturell Fremden, die Einwander:innen aus Osteuropa, die angeblich die „ideologische Seuche“ des Bolschewismus einschleppten und noch dazu hufig Jdinnen und Juden waren, was sie im antisemitischen Klima Lateinamerikas zu Zielscheiben machte. 2020 hat sich die Gewalt schon vor der Pandemie rasant ausgebreitet. Jngst wurde vor allem die zunehmende Gewalt gegen Frauen zum Gegenstand der Proteste. Sie lçste bereits Wochen vor Ausbruch von Corona Massendemonstrationen aus. Dass die ohnehin instabilen politischen Systeme vor diesem Hintergrund noch tiefer in die Krise strzen, ist wahrscheinlich. Manche demokratisch gewhlte Regierung wie die von Nayib Bukele in El Salvador nutzte bereits die Situation um autoritre Maßnahmen durchzusetzen. Die Erfahrungen von 1918 / 19 und
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die Demonstrationen der 1920er Jahre, als sich nach der berstandenen „spanischen Grippe“ die Zivilgesellschaft wieder zu regen begann, zeigen jedenfalls, dass die Unzufriedenheit der Menschen und ihr Wille zum Protest selbst unter schwierigsten Bedingungen durch eine Pandemie zwar unterbrochen, aber nicht aufgelçst werden kçnnen. Prof. Dr. Dr. h. c. Stefan Rinke, Freie Universitt Berlin, ZI Lateinamerika-Institut, Rdesheimer Straße 54 – 56, 14197 Berlin E-Mail: [email protected]
Religion und Pandemie Staat, Religion und Gesellschaft in Saudi-Arabien und Iran in der Coronakrise von Noël van den Heuvel und Ulrike Freitag*
Religion and Pandemic. State, Religion, and Society in Saudi Arabia and Iran during the Coronavirus Crisis Religious communities have acted as vectors for the spread of the novel coronavirus. This observation might suggest that the crisis has sparked a confrontation between scientific rationalism and (irrational) belief. Using the two decidedly Islamic countries Saudi Arabia and Iran as examples, the article argues however that the relationship between religion and science is far more complex. While Iran has tried to keep its shrines open to the public, Saudi Arabia has halted visits to Muslim holy sites. Both responses were grounded in religious justifications. The reasons for each country’s different course of action can be found in their histories, as well as in differences in religion and the relationship between religion and the state.
Unter den Bedingungen der aktuellen Pandemie konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich einmal mehr ein (medizinisch-)wissenschaftlicher Rationalismus und religiçser Irrationalismus gegenberstehen, und widerspenstige religiçse Gemeinschaften die Verbreitung des Virus besonders beschleunigen.1 In New York und Israel waren die Fallzahlen von COVID-19 besonders hoch unter ultraorthodoxen Jdinnen und Juden.2 Unter evangelikalen Christ:innen in den USA scheint es besonders viele Opfer zu geben, nachdem Pastoren dazu aufriefen, weiter gemeinschaftlich zu beten.3 In Pakistan weigerten sich religiçse Gruppen und Organisationen, die Moscheen whrend Ramadan zu schließen.4 Doch schon ein Blick auf zwei islamische Staaten
* Wir danken Dr. Kamran Arjomand, Besnik Sinani und Peyman Eshagi fr ihre sehr hilfreichen Hinweise. 1 Vgl. Wesley Wildman u. a., Religion and the COVID-19 Pandemic, in: Religion, Brain & Behavior 10. 2020, H. 2, S. 115 – 117. 2 Yaacov Benmeleh, One Community, 6,000 Miles Apart, Is Wracked by Coronavirus, in: Bloomberg, 2. 4. 2020, www.bloomberg.com/news/articles/2020-04-02/virus-outbreakspurs-near-sealing-of-israeli-ultra-orthodox-city. 3 Alex Woodward, „A Phantom Plague“. America’s Bible Belt Played Down the Pandemic and Even Cashed in. Now Dozens of Pastors Are Dead, in: The Independent, 24. 4. 2020, https://www.independent.co.uk/news/world/americas/bible-belt-us-coronaviruspandemic-pastors-church-a9481226.html?utm_source=reddit.com. 4 Madiha Afzal, Pakistan’s Dangerous Capitulation to the Religious Right on the Coronavirus, in: Brookings, 4. 5. 2020, https://www.brookings.edu/blog/order-fromGeschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 494 – 506 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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zeigt, dass das Verhltnis von Religion und Pandemie komplexer ist, als diese Beispiele nahelegen. Sowohl der mehrheitlich zwçlferschiitische Iran als auch das mehrheitlich wahhabitische Saudi-Arabien gelten als islamische Staaten. Dennoch htten ihre Pandemie-, aber auch ihre Religionspolitik, nicht unterschiedlicher ausfallen kçnnen. In Saudi-Arabien wurde bereits zwei Tage nach dem ersten Fall die umra, die sogenannte kleine Pilgerfahrt nach Mekka, abgesagt. Auch die sogenannte große Pilgerfahrt nach Mekka, die Hadsch, fand Ende Juli nur mit 1.000 Pilger:innen statt.5 Im Gegensatz dazu dauerte es in Iran ber einen Monat, bis die wichtigsten Schreine des Landes geschlossen wurden, und auch dies nur fr krzere Zeit.6 Nicht erst in dieser Pandemie stehen vor allem kollektive Ritualausbung und medizinische Krankheitsbekmpfung in einem Spannungsverhltnis. In beiden Lndern haben Pilgerfahrten in diesem Bezug eine leidvolle Geschichte. Dieser Artikel geht der komplexen Beziehung von Religion, Pandemien und staatlichem Handeln nach. Selbst in dezidiert muslimischen Staaten bersetzten sich religiçse Vorstellungen nicht einfach in staatliches Handeln. Gerade die Coronapandemie bietet eine gute Linse, um Differenzen in den religiçsen Strçmungen sowie verschiedene Beziehungen zwischen Staat, Religion und Gesellschaft in Saudi-Arabien und Iran zu verstehen und allgemeinere berlegungen zum Verhltnis von Religion und Wissenschaft anzustellen.
I. Religion, Pilgerfahrt und Krankheiten Die Zeitschrift Foreign Policy begrßte die Verbreitung der Pandemie in Anspielung auf Chinas neues Seidenstraßenprojekt mit der berschrift „Welcome to the Belt and Road Pandemic“. Hingegen reflektierte eine trkische Zwischenberschrift die dominante regionale historische Erfahrung: „COVID-19 Will Travel Pre-Modern Pilgrimage Routes and Invoke Postmodern Conspiracy Theories“.7 Whrend der Virus Iran und Abu Dhabi wohl chaos/2020/05/04/pakistans-dangerous-capitulation-to-the-religious-right-on-the-co ronavirus/. 5 Ben Hubbard u. Declard Walsh, The Hajj Pilgrimage Is Canceled, and Grief Rocks the Muslim World, in: The New York Times, 23. 6. 2020, www.nytimes.com/2020/06/23/ world/middleeast/hajj-pilgrimage-canceled.html. 6 MEE Staff, Coronavirus. Saudi Arabia Bans All Umrah Pilgrimage to Mecca, in: Middle East Eye, 4. 3. 2020, https://www.middleeasteye.net/news/coronavirus-saudi-arabiabans-umrah-pilgrimage-residents-and-citizens; Bahman Nirumand, Iran-Report 04 / 20, Heinrich Bçll Stiftung, April 2020, https://www.boell.de/de/2020/04/02/iranreport-0420. 7 Ibrahim Al Marashi, The Coronavirus and Biosecurity in the Middle East, in: TRT World, 4. 3. 2020, https://www.trtworld.com/opinion/the-coronavirus-and-biosecurityin-the-middle-east-34289.
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direkt aus China erreichte, hatte sich das erste saudische Opfer in Iran infiziert. Auch die ersten kranken Kuwaitis sollen sich bei einer Pilgerfahrt nach Maschhad zum Schrein von Imam Ali Ridha angesteckt haben.8 In der kollektiven Erinnerung nahçstlicher Kommentatoren wirkten aber nicht nur die vorangegangenen Pandemien von SARS (2002) und MERS (2012) nach, sondern auch die verheerenden Pest- und Cholera-Epidemien des 19. Jahrhunderts. Diese hatten die Region im Rhythmus der jhrlichen Hadsch heimgesucht und wurden ab Mitte des Jahrhunderts in internationaler Kooperation bekmpft.9 Aufgrund dieser Zusammenhnge sind whrend der Coronapandemie neben regelmßigen gemeinschaftlichen religiçsen Praktiken – insbesondere dem gemeinsamen Gebet – vor allem Pilgerfahrten in den Blick geraten. Whrend Saudi-Arabien Pilgerfahrten und Gemeinschaftsgebete rigoros verbot, reagierte die iranische Regierung wesentlich zçgerlicher. Zunchst hatte sie, wohl um die Feiern zum Jahrestag der Staatsgrndung am elften Februar und die Parlamentswahlen am 21. Februar nicht zu gefhrden, bis zum 19. Februar gewartet, um bekanntzugeben, dass es Erkrankungen gab.10 Am 26. Februar, eine Woche, nachdem die ersten beiden COVID-19-Toten in Iran zu beklagen waren, versicherte Prsident Rouhani noch, dass es keinerlei Plne gebe, von der Krankheit betroffene Regionen zu isolieren, obwohl in der Folge auch Pilger:innen nach Qom das Virus verbreiteten. Noch zehn Tage spter wurde die Bitte der Parlamentarier:innen, Teheran, Qom und andere Stdte unter Quarantne zu stellen, abgelehnt. Am 13. Mrz kndigte der religiçse Fhrer, Ayatollah Khamenei, eine landesweite Ausgangssperre an.11 Erst am 16. Mrz, nachdem bereits 853 Menschen gestorben waren, wurden die heiligen Schreine in Qom, Maschhad und Teheran geschlossen. Und auch ber das (vorislamische) Neujahrsfest am zwanzigsten Mrz forderte die Regierung die Iraner:innen zwar auf, zu Hause zu bleiben, verhngte aber keine Reisesperre, sodass mehr als 1,2 Millionen Menschen whrend der Feiertage unterwegs waren. Regelrechte Reiseverbote wurden erst am 25. Mrz verhngt. Schon Anfang April wurden viele der Maßnahmen wieder zurckgenommen.12
8 Ebd.; Natasha Turka, First Middle East Cases of Coronavirus Confirmed in the UAE, in: CNBC, 29. 1. 2020, https://www.cnbc.com/2020/01/29/first-middle-east-cases-of-corona virus-confirmed-in-the-uae.html. 9 Sylvia Chiffoleau, Gen se de la sant publique internationale. De la peste d’Orient
l’OMS, Rennes 2012. 10 Nirumand, Iran-Report 04 / 20, S. 4. 11 O. A., Iran Imposes Lockdown to Check All Citizens for Virus, in: Khaleej Times, 13. 03. 2020, https://www.khaleejtimes.com/coronavirus-outbreak/iran-imposes-lock down-to-check-all-citizens-for-virus. 12 Sanaz Alastia, The Iranian Legal Response to Covid-19. A Constitutional Analysis of Coronavirus Lockdown, verfassungsblog.de, 24. 4. 2020, https://verfassungsblog.de/theiranian-legal-response-to-covid-19-a-constitutional-analysis-of-coronavirus-lockdown/; o. A., Nowruz Curtailed by Covid-19, in: The Iran Primer, 23. 3. 2020, https://iranprimer.
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In Saudi-Arabien stellte sich der Großmufti als hçchste religiçse Autoritt sofort hinter die scharfen Regierungsmaßnahmen. Mit dem Argument, die „Sicherheit menschlichen Lebens und der physischen Gesundheit“ gehçre zu den Lehren des Islams, forderte er die Bevçlkerung auf, mit der Regierung zu kooperieren.13 Die Presse des Landes zitierte ausgiebig religiçse Autoritten, die eine hnliche Linie verfolgten.14 Der Ruf, der die Glubigen zum Gebet einldt, wurde um eine Zeile ergnzt, dass sie zu Hause beten sollten.15 Das soll auf ußerungen des Propheten beziehungsweise seiner Gefhrten zurckgehen und damit auf die neben dem Koran zweitwichtigste islamische Rechtsquelle. Der Rekurs darauf zeigt das staatliche Bemhen um eine islamrechtliche Begrndung der Pandemiemaßnahmen. Der Direktor der Moscheen von Mekka und Medina betonte in einer Ansprache nach dem Nachtgebet am 6. April, dass der Schutz von Gesundheit und Menschenleben zu den wichtigsten Aufgaben einer auf der Scharia basierenden Herrschaft gehçre. Den Maßnahmen der saudischen Regierung, die von Gesundheitsexpert:innen beraten werde, sei deshalb unbedingt Folge zu leisten.16 Die weitgehende Absage der Hadsch bedeutet große wirtschaftliche Einbußen. Um mçglicher internationaler Kritik vorzubeugen, beschloss Saudi-Arabien, dass unter den 1.000 Pilger:innen der Hadsch dieses Jahr siebzig Prozent im Land ansssige Auslnder:innen sein sollten.17 In Iran hingegen kam es zu wtenden Protesten gegen die Schließung und zur kurzfristigen Besetzung des Schreins in Qom.18 Der Direktor des Schreins, Mohammad Saeedi, rief die Glubigen noch am 26. Februar dazu auf, weiter zu dem Schrein zu pilgern. In einem Video ließ er verlautbaren: „Wir betrachten diesen Schrein als Ort der Heilung. Das bedeutet, Menschen sollten hierher-
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usip.org/blog/2020/mar/23/nowruz-curtailed-covid-19; Nirumand, Iran-Report 04 / 20, S. 4. O. A., Measures to Combat Coronavirus Are for People’s Safety. Grand Mufti, in: Saudi Gazette, 16. 3. 2020, https://saudigazette.com.sa/article/590962/SAUDI-ARABIA/Measu res [alle bers. N. H. / U. F.]. O. A., Itikaf Suspended at Two Holy Mosques, in: Saudi Gazette, 21. 4. 2020, https:// saudigazette.com.sa/article/592122/SAUDI-ARABIA/Itikaf-su. Stephen Kalin, Saudi Arabia Closes Mosques, Calls G20 Leaders to Meet Over Coronavirus, in: Reuters, 17. 3. 2020, https://www.reuters.com/article/us-health-corona virus-saudi/saudi-arabia-closes-mosques-calls-g20-leaders-to-meet-over-coronavirusidUSKBN2143DH. haramaininfo, EXCLUSIVE 6th Apr 2020 Message from Shaikh Sudais after ‘Isha, 6. 4. 2020, https://www.youtube.com/watch?v=ZORg0q63sGM. O. A., Saudi Arabia. Requests from 160 Nationalities Have Been Screened to Select Hajj Pilgrims, in: Arab News, 15. 7. 2020, https://arab.news/ptnwu. Yaghoub Fazeli, Iranian Religious Fanatics Protest Closure of Shira Shrines Due to Coronavirus, in: Alarabiya, 16. 3. 2020, https://english.alarabiya.net/en/News/middleeast/2020/03/17/Iranian-religious-fanatics-protest-closure-of-Shia-shrines-due-to-co ronavirus.
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kommen, um sich von spirituellen und physischen Krankheiten zu heilen.“19 Die unterschiedliche Religionspolitik setzte sich fort: Whrend in Iran am zwçlften Mai Moscheen trotz steigender Infektionszahlen wieder çffnete, um den Menschen in den letzten 15 Tagen des Ramadan, wenn auch unter relativ strengen Vorgaben, das kollektive Gebet zu ermçglichen, verhngte SaudiArabien vom letzten Tag des Ramadan ber das Zuckerfest eine fnftgige Ausgangssperre.20 Weshalb traf die de facto Absage der wichtigsten islamischen Pilgerfahrt in Saudi-Arabien auf Zustimmung, whrend die Schließung schiitischer Schreine in Iran auf Widerstand stieß? Um dies zu verstehen, ist ein kurzer Exkurs ber die Bedeutung von Pilgerfahrten im Islam und, spezieller, in den jeweiligen religiçsen Traditionen Saudi-Arabiens und Irans notwendig. Pilgerfahrten sind im Islam, hnlich wie im Christentum, zentraler Bestandteil religiçser Praxis. Der Besuch Mekkas ist fr jeden Muslim, der dazu in der Lage ist, verbindlich vorgeschrieben. Je nach Route kçnnen unterwegs weitere heilige Sttten aufgesucht werden. Im schiitischen Islam werden, neben dem Grab des Propheten und dessen Nachfahren, insbesondere die Grber der Imame verehrt, die als Nachkommen des Propheten und Trger des gçttlichen Lichts eine herausragende Stellung einnehmen. Sie sind – hnlich wie Propheten – in der Lage, am Tag des Jngsten Gerichts fr die Glubigen Frsprache einzulegen. Sowohl im sunnitischen als auch im schiitischen Glauben ist die Vorstellung einer solchen Frsprache weit verbreitet. Grber wunderttiger Heiliger werden deshalb von Personen aufgesucht, die in Lebenskrisen um Hilfe nachsuchen. Manche solcher Wallfahrten werden von mehr Pilger:innen frequentiert als die Hadsch.21 Dabei gehçren das Berhren und Kssen der Trschwellen, Tore und Sulen oder auch das Festklammern an den die Grber umgebenden Gittern zu den blichen Praktiken. Bis heute kombinieren viele
19 Zit. n. o. A., Iran Cleric Encourages Visitors to Qom Religious Sites, Despite Coronavirus Fear, in: Middle East Monitor, 27. 2. 2020, https://www.middleeastmonitor.com/ 20200227-iran-cleric-encourages-visitors-to-qom-religious-sites-despite-coronavirusfears/. 20 MEE Staff, Iran to Reopen Mosques on Tuesday Despite Uptick in Coronavirus Cases, in: Middle East Eye, 11. 5. 2020, https://www.middleeasteye.net/news/iran-reopen-mos ques-tuesday-despite-uptick-coronavirus-cases; MEE Staff, Coronavirus. Saudi Arabia to Go Under Full Lockdown during Eyd Holiday, in: Middle East Eye, 13. 5. 2020, https:// www.middleeasteye.net/news/coronavirus-saudi-arabia-full-lockdown-eid-holidayramadan. 21 Surinder Bhardwaj, Non-Hajj Pilgrimage in Islam. A Neglected Dimension of Religious Circulation, in: Journal of Cultural Geography 17. 1998, H. 2, S. 69 – 87.
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Glubige moderne medizinische Behandlung mit dem Besuch von Schreinen in der Hoffnung, dadurch die Heilungsaussichten zu optimieren.22 Allerdings ist diese Verehrung von Heiligengrbern im sunnitischen Islam, wo sie vor allem von Mystiker:innen popularisiert wurde, theologisch hoch umstritten. Das geht auf zwei unterschiedliche Vorstellungen von der Natur Gottes zurck. Der 1240 verstorbene Gelehrte und Philosoph Ibn Arabi vertrat die Auffassung, dass Gott sowohl transzendent als auch der Schçpfung immanent sei, was zur Folge hat, dass Menschen Gott auch in der Schçpfung erfahren kçnnen. Der Prophet als perfekter Mensch wird als Trger des gçttlichen Lichtes verstanden und spielt damit eine besondere Rolle – bei den Schiit:innen setzt sich dies durch die vom Propheten abstammenden Imame fort. Fr den 1328 verstorbenen Ibn Taimiyya hingegen, auf den sich die Wahhabiten berufen, ist Gott ein transzendentes Wesen, dem man sich durch die mçglichst wortgetreue Interpretation des Korans und der prophetischen berlieferung unterwerfen msse. Zwar erkennt er auch Heilige an, durch deren Wundertaten sich Gott manifestiert habe. Der Besuch ihrer Grber und insbesondere die Suche nach Frbitte bei Gott stelle aber einen Akt des Polytheismus dar.23 Folglich haben die Wahhabiten in ihrer Geschichte immer wieder mit dem Zerstçren von Heiligengrbern fr Aufsehen gesorgt.24 Seither gibt es auch in regelmßigen Abstnden Auseinandersetzungen zwischen saudischen Wchtern und schiitischen Pilger:innen whrend der Hadsch.25 Aufgrund der Ablehnung des Glaubens an Personen mit bermenschlichen Fhigkeiten und Orte mit besonderer Aura oder generell als „magisch“ oder „aberglubisch“ deklarierte Praktiken kann man den wahhabitischen Islam als eine religiçsen Richtung interpretieren, welche eine Entzauberung der Welt im Weber‘schen Sinn vertritt, durchaus vergleichbar mit dem frhen Protestantismus.26 Historisch haben Wahhabiten aufgrund dieses Dogmas viele indigene Heilungspraktiken unterdrckt und die Verwendung moderner Medizin befrwortet. Eine anti-magische Erklrung von Gesundheit und Krankheit, wie sie die naturwissenschaftliche Medizin anbietet, passt deutlich besser zum transzendenten Gottesbild der Wahhabiten. Auch sie bitten Gott um Heilung,
22 Vgl. hierzu z. B. im Hinblick auf die Behandlung von Unfruchtbarkeit Shirin Naef, Kinship, Law and Religion. An Anthropological Study of Assisted Reproductive Technologies in Iran, Tbingen 2017, S. 18 – 22. 23 Meena Sharify-Funk u. a., Contemporary Sufism. Piety, Politics and Popular Culture, Abingdon 2018, S. 1 – 31; zur schiitischen Verteidigung siehe Yitzhak Nakash, The Visitation of the Shrines of the Imams and the Shi’I Mujtahids in the Early Twentieth Century, in: Studia Islamica 81. 1995, S. 153 – 164, hier S. 158 – 162. 24 Alexei Vassiliev, The History of Saudi Arabia, London 2000, S. 96 – 98. 25 Guido Steinberg, Saudi-Arabien. Politik, Geschichte, Religion, Mnchen 2004, S. 161 – 167. 26 Z. B. Scott Kugle, Sufis and Saints’ Bodies. Mysticism, Corporeality and Sacred Power in Islam, Chapel Hill 2007, S. 280.
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aber er wirkt nicht mehr wie selbstverstndlich durch heilige Orte und Menschen. Lediglich den Worten des Korans wird nach wie vor eine heilende und prophylaktische Wirkung zugeschrieben.27 Der Verzicht auf Symbole hat auch pandemierelevante Aspekte. So betonte der Begrnder der Wahhabiyya, Muhammad Ibn Abd al-Wahhab, dass das Gebet nicht an einen bestimmten Ort gebunden sei, sondern Gott von berall erreiche.28 Man kann vermuten, dass diese Theologie eine grçßere Akzeptanz pragmatischer Einschrnkungen religiçser Praktiken zum Wohle der Gesundheit befçrdert. Dies ist allerdings keinesfalls mit Skularisierung gleichzusetzen: Al-Sudais, der Verantwortliche fr die saudischen Heiligen Sttten, betonte in seiner Ansprache an die Glubigen mehrfach, eine solche Seuche sei gottgesandt. Es ist schwer einzuschtzen, wie weit solche Vorstellungen von Glubigen in Saudi-Arabien und anderswo geteilt werden – sofern sie nicht ohnehin Religion und Medizin als getrennte Sphren betrachten. Zweifel zeigen sich zum Beispiel in der Frage an den Leiter der Muslimischen Weltliga mit Sitz in Saudi-Arabien. Dieser hatte die strikten Maßnahmen der saudischen Regierung untersttzt. Ein Leser fragte irritiert: Nicht nur wrden viele Gelehrte betonen, das Virus sei gottgesandt, es heiße auch, Glubige, die ihm zum Opfer fielen, wrden zu Mrtyrern. Ob das wohl stimme und warum es dann eine ernsthafte Bedrohung darstelle?29
II. Staat und Religion Schon im vorigen Abschnitt wurde deutlich, dass sich in Saudi-Arabien – im Gegensatz zu Iran – die zentralisierte Politik in bereinstimmung mit skularwissenschaftlichen Maßnahmen befand. Dagegen gibt es in Iran unterschiedliche Machtzentren, die um die politische Linie ringen. Interessant ist dieser Gegensatz deshalb, weil beide Staaten gemeinhin als islamisch-fundamentalistisch gelten und sich islamisch legitimieren. Um die dramatischen Unterschiede zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf die jeweiligen Begrndungen islamischer Herrschaft notwendig. In Saudi-Arabien herrscht die Auffassung vor, dass Gottes Gesetze ber allem stehen. Da Gott jedoch nicht alle menschlichen Belange geregelt habe und es 27 Eleanor Doumato, Arabian Women. Religion, Work, and Cultural Ideology in the Arabian Peninsula from the Nineteenth Century through the Age of Abd al-Aziz, Diss. Columbia University 1989, S. 268. 28 Laith Saud, Islamic Political Theology, in: Aminah McCloud u. a. (Hg.), An Introduction to Islam in the 21st Century. Chichester 2013, S. 81 – 108, hier S. 89; in Iran hat sich diese Position mit einiger Versptung verbreitet: Najmeh Bozorgmehr, How Iran’s Clergy Fought Back against Coronavirus, in: Financial Times, 17. 6. 2020, https://www.ft.com/ content/8e9b50bb-ebf7-4702-9894-1f2081ae869a. 29 Preet Raval, Twitter, 21. 3. 2020, https://twitter.com/ravalpreet222/status/124126511235 6274176.
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darber hinaus die Notwendigkeit gibt, die Einhaltung des gçttlichen Gesetzes sicherzustellen, bedarf es einer weltlichen Macht, die als Vertreter Gottes auf Erden wirkt. Ihr zu gehorchen, ist eine religiçse Verpflichtung, allerdings obliegt es den Theologen, den Herrscher zu beraten. Glubige sind zum Gehorsam gegenber allen kçniglichen Erlassen und Regelungen verpflichtet, auch wenn diese nicht auf der Scharia basieren – mit Ausnahme derer, die dem religiçsen Gesetz offensichtlich widersprechen. Sofern die Theologen anderer Meinung als der Herrscher sind, gilt es, diesen diskret darauf hinzuweisen. Seit den 1970er Jahren schuf die saudische Regierung religiçse Kçrperschaften , die Teil der Staatsverwaltung sind. Gleichzeitig wurden im Bildungs- und Justizwesen neue staatliche Institutionen eingerichtet, die die Position der Theologen einschrnkten. Es verwundert insofern nicht, dass seit der Grndung des saudischen Staates immer wieder Konflikte um die jeweiligen Rollen von Herrschern und Theologen aufbrachen. Einerseits verloren die Theologen ihre Unabhngigkeit, andererseits gewannen sie durch die Integration in staatliche Institutionen neue Handlungsrume, vor allem im Bildungs- und Justizministerium. Deshalb beschreibt ein Autor das saudische System als eine „Theo-Monarchie“, in der es einen „fortgesetzten Kompromiss zwischen den beiden Hauptautoritten“ (religiçsen Institutionen und Monarchie) gebe.30 Bereits unter Kçnig Abdallah (2005 bis 2015), vor allem aber unter seinem Nachfolger Salman, begann ein politisch-soziales Modernisierungsprojekt. Dieses hat zunehmend zentralistische Zge angenommen, und die Theologen mussten weitere Einschrnkungen ihrer Spielrume hinnehmen.31 Opposition jeder Art wird rigoros unterdrckt. Um nur zwei Beispiele aus der Coronakrise zu nennen: Als der prominente Hadith-Gelehrte Scheich Abdullah al-Saad die Auffassung ußerte, dass auch in der Pandemie das Gemeinschaftsgebet in Moscheen und insbesondere das Freitagsgebet fortgesetzt werden solle, wurde er kurzerhand verhaftet. Auch konstruktive Vorschlge, etwa zur Entlassung von Gefangenen whrend der Pandemie, wurden hart bestraft.32 Im schiitischen Islam spielen seit dem spten 18. Jahrhundert Theologen eine herausragende Rolle. Diese sogenannten Mudschtahids sind aufgrund ihrer Ausbildung zu eigenstndiger rationaler und wissenschaftlicher Auslegung des Rechts befhigt. Die prominentesten unter ihnen nehmen den Rang eines 30 Muhammad Al-Atawneh, Is Saudi Arabia a Theocracy? Religion and Governance in Contemporary Saudi Arabia, in: Middle Eastern Studies 45. 2009, S. 721 – 737, hier S. 733. 31 Fr eine euphemistische Sicht dieser Entwicklungen Joseph Kchichian, Saudi Arabia in 2030. The Emergence of a New Leadership, Asan Institute for Policy Studies, Seoul 2019, hier S. 54 – 65; kritisch Amnesty International, Saudi Arabia, https://www.amnesty.org/ en/countries/middle-east-and-north-africa/saudi-arabia/. 32 Prisoners of Conscience, Twitter, 21. 3. 2020, https://twitter.com/m3takl_en/status/ 1241482984269795329?s=12; Wash Sa¯lifat al-Ha¯shta¯q?, Twitter, 28. 3. 2020, https:// twitter.com/AbtWhaat/status/1243981574661713920.
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Ayatollah (wçrtlich: wunderbares Zeichen Gottes) ein, der angesehenste unter ihnen wird als hçchste religiçse Instanz betrachtet. Ein solcher Rang wird nicht verliehen, sondern ist Ausdruck der religiçsen Anerkennung durch Glubige und andere Mudschtahids.33 Daraus entwickelte Ayatollah Khomeini die in der Verfassung verankerte „Herrschaft des anerkannten Gottesgelehrten“ (velayet-e faqih). Neben diesem „Revolutionsfhrer“ sieht sie einen aus Geistlichen und Juristen bestehenden Wchterrat vor, der die Arbeit des (gewhlten) Parlaments auf die Islamkonformitt der Gesetze berprfen soll. Er nimmt Aufgaben wahr, die sonst bei einem Verfassungsgericht liegen. So entstand eine Art Parallelstruktur: Auf der einen Seite stehen die gewhlten Institutionen wie Prsident, Parlament und ein Expertenrat aus Theologen, auf der anderen der Islamische (Revolutions-)Fhrer, dem die Streitkrfte, das Justizsystem und ein Schlichtungsrat unterstellt sind. Whrend Khomeinis Autoritt als Religionsfhrer unumstritten war, wurde es unter seinen Nachfolgern, die sowohl im Hinblick auf ihre religiçsen Qualifikationen als auch charismatisch weniger profiliert waren, noch komplizierter. In diesem Kontext sind neuere Verfassungsnderungen zu sehen, die den Prsidenten strkten und nicht mehr verlangten, dass der Islamische Fhrer auch der anerkannteste Geistliche sei. Aber auch innerhalb des Klerus kam es ber Fragen gesellschaftspolitischer Natur zu tiefgreifenden Differenzen, die vor allem unter der Prsidentschaft Muhammad Khatamis çffentlich ausgetragen werden konnten.34 Vor diesem Hintergrund wird die oft als chaotisch erscheinende Reaktion auf die Coronapandemie erst verstndlich. Der Versuch, die Schreine in Maschhad und Qom zu schließen, leuchtete Iraner:innen, die an deren heilende Wirkung glauben, nicht ein. Die Schließung von Moscheen, das Verbot des gemeinschaftlichen Freitagsgebets und des Besuchs der heiligen Sttten war ein Novum in der Geschichte der Islamischen Republik.35 Zur Begrndung fhrte der Islamische Fhrer, Ayatollah Ali Khamenei, an, dass bçse Geister und Feinde Irans in der Pandemie zusammenwirkten. Diese zumindest teilweise politische Erklrung habe, nach Aussage eines lokalen Journalisten, dabei geholfen, die Menschen zu berzeugen, auf ihre religiçsen Rituale zu
33 Werner Ende, Der schiitische Islam, in: ders. u. Udo Steinbach (Hg.), Der Islam in der Gegenwart, Mnchen 2005, S. 70 – 89, hier u. im Folgenden insb. S. 79 – 88. 34 Udo Steinbach, Iran, in Ende u. Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, S. 246 – 263; fr eine graphische Darstellung des Aufbaus der wichtigsten Organe vgl. Wikipedia, Politisches System des Iran, https://de.wikipedia.org/wiki/Politisches_System_des_ Iran. 35 Azadeh Zamirirad, Drei Folgen der Coronakrise in Iran, in: Stiftung Wissenschaft und Politik. Kurz gesagt, 7. 4. 2020, https://www.swp-berlin.org/publikation/drei-folgender-coronakrise-in-iran/.
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verzichten.36 Hinzu kommt, dass es seit Jahren innenpolitische Auseinandersetzungen gibt. Vor allem junge Stdter:innen demonstrieren gegen religiçse Beschrnkungen ebenso wie gegen die Erhçhung von Benzinpreisen und çkonomische Probleme.37 Die erwartbaren sozialen Spannungen aufgrund der schon vorher schwierigen wirtschafltichen Lage waren ein weiterer Grund, keine allzu harte Ausgangssperre durchzusetzen.38 Im Vergleich dazu war die Situation in Saudi-Arabien sehr viel komfortabler. Differenzen zeigen sich auch in der unterschiedlichen Religionsçkonomie der Pilgersttten. In Iran haben Theologen nicht nur eine grçßere politische Macht als in Saudi-Arabien, sie sind auch ein einflussreicher wirtschaftlicher Akteur. Die Schreine sind Zentren, um die herum vielfltige andere Unternehmen organisiert sind.39 Mit der Schließung kamen auch sie in çkonomische Schwierigkeiten.40 Demgegenber sind die Sttten in Mekka und Medina dem Staat unterstellt. Weder in Saudi-Arabien noch in Iran geht es darum, ob Religion oder Politik dominierten. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage nach der richtigen Politik und wer diese bestimmt. Das Primat der Politik wurde auf der Arabischen Halbinsel schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Die osmanische Regierung fhrte damals entlang der Hadschrouten zunehmend Quarantne- und Hygienemaßnahmen zur Seuchenbekmpfung ein. Großbrittanien, Frankreich und die Niederlande, aus deren Imperien viele Pilger:innen stammten und die die bermittlung von Seuchen nach Europa frchteten, drngten das Osmanische Reich, im Hedschas international vereinbarte Hygienemaßnahmen zu durchzusetzen und Pilger zu kontrollieren. Dazu gehçrten Reinigungsmaßnahmen, die Verbesserung der Wasserversorgung, aber auch Beschrnkungen bei der Zimmerbelegung. Lokal lçsten diese Maßnahmen, die Handel und Pilgerfahrt einschrnkten, hufig Unmut aus. Es blieb nicht verborgen, dass die Europer ihre Sorge um die Gesundheit der Pilger:innen mit dem Sammeln von Nachrichten ber widerstndige Muslime aus den Kolonien verbanden. Auch gab es vielfltige Reibungen zwischen der arabischen Elite von Mekka und den Osmanen. All dies verband sich 1895 zu einem explosiven Gemisch: Beduinen und Stadtbewohner zerstçrten Dampfdesinfektionsmaschinen sowie ein Krankenhaus. In Dschidda wurde der britische Vizekonsul ermordet, der die Hadsch lange als 36 Kersten Knipp, How the Coronavirus Has Altered Iranian’s View of Faith, in: Deutsche Welle, 23. 4. 2020, https://www.dw.com/en/how-the-coronavirus-has-altered-iraniansview-of-faith/a-53215872. 37 Z. B. Farnaz Fassihi u. Rick Gladstone, With Brutal Crackdown, Iran Is Convulsed by Worst Unrest in 40 Years, in: New York Times, 1. 12. 2019, www.nytimes.com/2019/12/ 01/world/middleeast/iran-protests-deaths.html. 38 Bozorgmehr, How Iran’s Clergy Fought Back. 39 Andrew Higgins, Inside Iran’s Holy Money Machine, in: The Wall Street Journal, 2. 6. 2007, www.wsj.com/articles/SB118072271215621679. 40 Bozorgmehr, How Iran’s Clergy Fought Back.
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Arzt beobachtet hatte, und ber Wochen brachen in der Region sporadisch Unruhen aus. Angeblich kursierten Gerchte, dass die auslndischen rzte die Cholera mitgebracht htten und Patient:innen im Krankenhaus systematisch getçtet wurden.41 Religiçse Argumente und politische Motive verbanden sich bei dem Widerstand gegen staatliche Maßnahmen aufs Engste. hnlich konfliktreich sah die Situation im durch Russland und Großbritannien dominierten Iran aus. Auch hier war die Einstellung der Bevçlkerung gegenber den Hygienemaßnahmen durch Widerwillen gegen auslndische Einflussnahme und die Behinderung religiçser Praktiken geprgt. Zunchst kannte man Quarantne vor allem von der Einreise ins Osmanische Reich, wo sie als eine Schikane des sunnitischen Osmanischen Reiches gegen Schiit:innen empfunden wurde.42 Im Land selbst wurde Seuchenbekmpfung vor allem von europischen Beratern vorangetrieben und hufig als gegen den Islam gerichtet interpretiert. Die Cholera-Epidemie von 1903 breitete sich vom schiitischen, damals osmanisch beherrschten Pilgerzentrum Kerbela aus. Schnell errichteten die iranischen Autoritten eine Quarantnestation an der Grenze und ließen sie von belgischen Zollbeamten betreiben. Dies lçste lokale Empçrung aus, religiçse Wrdentrger sollen sogar zur Ermordung des Stationsleiters aufgerufen haben. Eine große Pilgergruppe unter Fhrung eines Gelehrten durchbrach schließlich die Grenze und brachte die Cholera ins Land.43 Whrend der Spanischen Grippe war die Feindseligkeit zwischen religiçsen Institutionen und Pandemiemaßnahmen schon geringer und der Direktor des Ali Ridha Schreins in Maschhad war bereit, mit den Behçrden bei der Seuchenbekmpfung zu kooperieren. Unter anderem wurde untersagt, Personen aus umliegenden Gebieten am Schrein zu begraben. Dennoch waren auch hier die Maßnahmen nicht weitreichend genug, sodass Pilger:innen die Krankheit im Land verbreiteten.44
III. Abschließende Überlegungen Wie die muslimischen Lnder nicht einheitlich sind, so ist es auch das Verhltnis von Religion und Krankheit nicht. Letztlich zeigt der Vergleich zwischen Saudi-Arabien und Iran, wie unterschiedlich sich religiçse Institutionen zur Pandemie und zur eigenen religiçsen Praxis ins Verhltnis setzen 41 Michael Low, Empire and the Hajj. Pilgrims, Plagues, and Pan-Islam under British Surveillance, 1865 – 1908, in: International Journal of Middle East Studies 40. 2008, H. 2, S. 269 – 290; Ulrike Freitag, A History of Jeddah, Cambridge 2020, S. 249 – 267. 42 Anja Pistor-Hatam, Pilger, Pest und Cholera. Die Wallfahrt zu den Heiligen Sttten im Irak als gesundheitspolitisches Problem im 19. Jahrhundert, in: Die Welt des Islams 31. 1991, H. 2, S. 228 – 245, hier S. 232; Robert Burrell, Aspects of the Reign of Muzaffar al-Dı¯n Sha¯h of Persia 1896 – 1907, Diss. University of London 1979, S. 143 – 148. ˙ 43 Ebd. 44 Laura Spinney, Die Welt im Fieber, Mnchen 2018, S. 134 – 143.
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kçnnen. Im Falle Irans reagierte die Regierung zçgerlich, widersprchlich und ohne allzu große Durchschlagskraft, im Fall Saudi-Arabiens schnell und weitreichend. Dennoch wurden in beiden Staaten – wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit verschiedener Entschiedenheit und Dauer – Maßnahmen getroffen, die glubige Muslim:innen hart trafen. Dies gilt fr die Einschrnkungen beziehungsweise Verbote des Freitagsgebets ebenso wie fr Restriktionen bei Pilgerfahrten. Dies zeigt einerseits, dass in beiden Staaten letztlich der medizinischen Logik Prioritt eingerumt wurde. Andererseits profiliert es verschiedene Ebenen der Differenz: Whrend die Islamische Republik Iran eine Reihe rivalisierender staatlicher und religiçser Institutionen geschaffen hat, die sich in der Krise zumindest anfangs eher widersprachen als zusammenzuwirkten, erhellt die Pandemie eindrcklich, wie eindeutig in Saudi-Arabien mittlerweile die Macht in den Hnden des Monarchen (beziehungsweise seines Thronfolgers) monopolisiert wird. Damit konnte sich jener ber mçgliche Einwnde der Gelehrten hinwegsetzen, wobei die wenigen, die sich eine eigenstndige Meinung erlaubten, sofort drakonisch bestraft wurden. Mçglicherweise hat die Pandemie hier sogar die autoritren Tendenzen der letzten Jahre verstrkt.45 Aufgrund der internationalen Bedeutung der saudischen Pilgersttten war es fr die saudische Fhrung ausgesprochen wichtig, schnelle Untersttzung durch internationale islamische Gremien zu erhalten, die praktischerweise im Land angesiedelt sind.46 Dagegen ermçglichte die Existenz mehrerer Machtpole in Iran eine gewisse Pluralitt, auch wenn das Land nicht gerade fr Meinungsfreiheit bekannt ist. Teilweise mag dabei die revolutionre Erfahrung, aus der die Islamische Republik hervorgegangen ist, nachwirken. Aber auch die divergierenden Ontologien und Bedeutungen kollektiver Rituale helfen zu erklren, warum der saudische Klerus eher bereit war, die Einschrnkungen im Kontext der Pandemie zu akzeptieren, als der schiitische in Iran. Allerdings hat dies auch damit zu tun, dass der Klerus in der Islamischen Republik weiterhin wichtige Institutionen besetzt, whrend er in der saudischen Monarchie inzwischen klar der politischen Macht untergeordnet wurde. Bei allen Unterschieden im Einzelnen findet man die gleiche Bandbreite an Reaktionen auch in anderen Religionen. hnlich wie in Iran riefen einige pentekostalistische Prediger in den USA ihre Gemeindemitglieder mitunter offen zur Missachtung der Gesundheitsvorgaben auf.47 Eine Parallele zu den 45 Dies vermutet z. B. Ptriat, The Painful History of Epidemics in Saudi Arabia, in: Orient CCI, 21. 5. 2020, https://orientxxi.info/magazine/the-painful-history-of-epidemics-insaudi-arabia,3895. 46 Muslim World League, Twitter, 20. 3. 2020, https://twitter.com/MWLOrg_en/status/ 1241012872362278914; Organisation of Islamic Cooperation, Al-Othaimeen: News Agencies in OIC Member Countries Refute Fake News on the Coronavirus Pandemic, https://www.oic-oci.org/topic/?t_id=23419&t_ref=14010&lan=en. 47 Wildman, Religion COVID-19 Pandemic.
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iranischen Schiit:innen liegt darin, dass beide Strçmungen eine direkte Gotteserfahrung betonen, entweder vermittelt ber den Segen der Heiligen oder durch die direkte Erfahrung des Heiligen Geistes. In einem solchen Kontext ist es schwierig, auf die heilende Kraft, die solchen Ritualen innewohnt, zu verzichten. Vertreter:innen von puritanistischen Strçmungen, die die gçttliche Transzendenz unterstreichen, fllt dies offenbar leichter.48 Ein Element aber ist den meisten Religionen gemeinsam: Sie bilden Gemeinschaften, die ihre Religion gemeinsam praktizieren. Dies entspricht nicht der Logik der physischen Distanzierung, die von Epidemiolog:innen empfohlen wird. Insofern ist nicht verwunderlich, dass gemeinschaftliche Gottesdienste ebenso wie Pilgerfahrten und religiçse Feste quer durch die Religionen und Weltregionen unter virologischen Gesichtspunkten problematisch bleiben. Die Tatsache, dass in Saudi-Arabien wie in Mecklenburg-Vorpommern zuletzt gemeinschaftliche (islamische und katholische) Gottesdienste als Herde neuer Coronainfektionen wirkten, illustriert dies eindringlich.49 Nol van den Heuvel, Leibniz-Zentrum Moderner Orient, Kirchweg 33, 14129 Berlin E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Ulrike Freitag, Leibniz-Zentrum Moderner Orient, Kirchweg 33, 14129 Berlin E-Mail: [email protected]
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48 Zu Transzendenz und Gebet im Wahhabismus: Saud, Islamic Political Theology, S. 89; zu Gotteserfahrung im Pentekostalismus z. B. Tuija Hovi, Praising As Bodily Practice. The Neocharismatic Culture of Celebration, in: Scripta Instituti Donneriani Aboensis 23. 2011, S. 129 – 140, hier S. 131. 49 O. A., Corona nach Gottesdienst. Stralsunder Kita geschlossen, in: NDR 1 Radio MV, 8. 6. 2020, https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Corona-nach¯l Gottesdienst-Stralsunder-Kita-geschlossen,coronavirus2384.html; D. Abd al-Lat¯ıf A ˙ asˇ-Sˇayh, Twitter 8. 6. 2020, https://twitter.com/Dr_Abdullatif_a/status/12699694639458 54977. ˘
China als Zentrum und Peripherie der Pandemiegeschichte von Jürgen Osterhammel
China’s Shifting Centrality in the History of Pandemics There is little doubt that the current pandemic originated in central China and was initially spread by travelers from the region to other parts of China and to other countries. After some delay, the Chinese government responded with draconian measures, putting more than half a billion of its citizen under temporary lockdown. These measures were successful in containing the disease. The article considers four different historical examples to contextualize China’s response to the virus: epidemiological history, traditions of sinophobia, “hygienic nationalism” and the efficacy of anti-corona strategies. It ends with an argument about the lessons an East Asian “special path” holds for the West.
Was man herkçmmlich eine Pandemie nennt, heißt bei manchen Fachleuten „a global catastrophic biological risk“ (GCBR), eine Redeweise, die Seuchen in das breite Spektrum von „global catastrophic risks“ verschiedenster Art einordnet.1 GCBRs werden durch zwei sich ergnzende Kriterien definiert. Erstens machen sie sich zwar nicht berall auf der Welt mit gleichmßiger Intensitt bemerkbar, kçnnen aber potenziell alle Bewohnerinnen und Bewohner des Planeten betreffen und sind deshalb in einem maximalen Sinne „global“. Zweitens stellen sie die Regulierungskapazitten smtlicher Formen von governance auf eine ußerste Belastungsprobe und berfordern sie in vielen Fllen. Sie sind „a special category of infectious disease emergencies that could dwarf the ability of governments, international organizations and health care systems to respond“.2 Gesellschaftlich lçsen sie schwer steuerbare Kettenreaktionen aus („major cascading impacts across society“),3 die typischerweise die Form von Kontraktionen und „downward spirals“ annehmen. Anders als in der frheren Literatur wird die Annahme, dass Opferzahlen in die Zig oder gar hunderte von Millionen gehen, nicht lnger als notwendiges Definitionsmerkmal und damit die Spanische Grippe von 1918 / 19 nicht mehr als Maßstab betrachtet.4 Entscheidend sind Globalitt und die berstrapazierung von Institutionen auf allen Ebenen. 1 Vgl. die nchternen Prognosen in Vaclav Smil, Global Catastrophes and Trends. The Next 50 Years, Cambridge, MA 2008. 2 Thomas V. Inglesby u. Amesh A. Adalja (Hg.), Global Catastrophic Biological Risks, Cham 2019, S. v. 3 Ebd. 4 Monica Schoch-Spana u. a., Global Catastrophic Biological Risks. Toward a Working Definition, in: Health Security 15. 2017, S. 323 – 328, hier S. 324. Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 507 – 521 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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I. Globale und nationale Perspektiven auf „global catastrophic biological risks“ Ein GCBR wie die SARS-CoV-2-Pandemie ist allein schon epidemiologisch ein Vorgang von atemberaubender Komplexitt, der ohne mathematische Modellierung und digitale Datenverarbeitung nicht greifbar ist und sich dem unbewaffneten Auge von Journalisten und Zeithistorikerinnen entzieht. Die Sache wird durch zweierlei noch komplizierter: Erstens liegen stndig weitere Krankheitserreger mit Pandemiepotenzial auf der Lauer, die genauso gut ein GCBR htten auslçsen kçnnen. Angela McLean, Professorin fr mathematische Biologie in Oxford, hat an dem eher zufllig herausgegriffenen Jahr zwischen Juni 2013 und Mai 2014 gezeigt, welche ganz unterschiedlichen biologischen Massenbedrohungen in diesen zwçlf Monaten in den verschiedensten Teilen der Welt in Erscheinung traten und seuchenpolitische Gegenmaßnahmen hervorriefen.5 Die einzelnen Gefhrdungen hngen zusammen. So haben zum Beispiel in Pakistan und Afghanistan die Turbulenzen um COVID-19 zum vorbergehenden Abbruch dringend notwendiger PolioMassenimpfungen von Kindern gefhrt.6 Zweitens ist die Corona-„Krise“7 Teil einer breiteren Krisenlandschaft, in die sie als externer Faktor plçtzlich hineingefahren ist. Die verbreitete Bezeichnung der Pandemie als „Katalysator“ oder „Brandbeschleuniger“ beleuchtet diesen Umstand, der Jacob Burckhardts Bemerkung in Erinnerung ruft, historische Krisen kçnnten „sich kreuzen“ und dabei wrde sich die „strkere“ durch die „schwchere“ Krise „hindurchfressen“.8 Fr die Jahre 1918 – 1920 hat man neben und gleichzeitig mit dem „pandemic shock“ acht weitere Schocks unterschieden.9 Das weltweite Krisenszenario um die Jahreswende 2019 / 20 umfasste zahlreiche Problemlagen auf innerstaatlicher, internationalgeopolitischer und globaler Ebene (auf dieser vor allem den Klimawandel und die Desintegration des Welthandels). Weitere Unruhefaktoren, die auf den ersten Blick mit Corona wenig zu tun haben, sind hinzugekommen, etwa die Antirassismus-Proteste vom Juni und Juli 2020. Auch der „Aufstieg“ Chinas
5 Angela R. McLean, The Nature of Plagues 2013 – 14. A Year of Living Dangerously, in: Jonathan L. Heeney u. Sven Friedemann (Hg.), Plagues, Cambridge 2017, S. 92 – 103. 6 Akhtar Mohammad Makoii, Polio Vaccinations Resume in Pakistan and Afghanistan after Covid-19 Delays, in: The Guardian, 12. 8. 2020. https://www.theguardian.com/ global-development/2020/aug/12/polio-vaccinations-resume-in-pakistan-and-afgha nistan-after-covid-19-delays. 7 Hier wre anzuknpfen an Edgar Morin, Pour une crisologie, in: Communications 25. 1976, S. 149 – 163. 8 Jacob Burckhardt, ber das Studium der Geschichte, hg. v. Peter F. Ganz, Mnchen 1982, S. 355. 9 Mark Metzler, The Correlation of Crises, 1918 – 20, in: Urs Matthias Zachmann (Hg.), Asia after Versailles. Asian Perspectives on the Paris Peace Conference and the Interwar Order, 1919 – 33, Edinburgh 2017, S. 23 – 54, hier S. 24 f.
China als Zentrum und Peripherie der Pandemiegeschichte
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gehçrt zu jenen Pr-Coronavektoren, die durch die Pandemie gebremst, verstrkt oder umgelenkt werden. Kein anderer Aspekt der Krise wird dabei in der Diskussion, zumindest der deutschen, hufiger bersehen als die Auswirkungen der Pandemie auf die internationale Politik.10 Was sich, dem Wesen eines „global catastrophic biological risk“ entsprechend, als Palimpsest globaler Zusammenhnge darstellt, wird zumeist aus einer nationalen Wir-Perspektive wahrgenommen. Wie betrifft die Krise uns, und wie stehen wir im Vergleich zu anderen da? „Wir“ kann dabei Verschiedenes bedeuten: die eigene Nation, in Deutschland das eigene Bundesland oder der eigene Landkreis, Europa, der „Westen“ im Kontrast etwa zu Asien, usw. Eine solche Perspektive ist vollkommen legitim. Sie rechtfertigt sich doppelt aus der eigenen Erfahrung ebenso wie aus der Tatsache, dass die politischen Reaktionen auf die globale Gesundheitskrise primr nationale, wenn nicht sogar – bei unkoordinierten Grenzschließungen und dem um sich greifenden „vaccine nationalism“11 – nationalistische Reaktionen sind. Fr die Cholera- und Pocken-Epidemien des 19. Jahrhunderts hat Peter Baldwin festgestellt, dass sich die staatlichen Prventions- und Eindmmungsmaßnahmen zwischen den europischen Lndern signifikant unterschieden, whrend gleichzeitig ein gesamteuropischer Raum medizinischen Wissens entstand.12 An dieser Spannung hat sich seither wenig gendert, obwohl es inzwischen eine WHO gibt und die Zirkulation von Forschungsergebnissen sich in einem weltweiten Zusammenhang multipliziert hat, in den etwa auch die japanischen, chinesischen oder indischen scientific communities fest eingebunden sind. Epidemiologie ist heute ein wahrhaft globales, in englischsprachigen Zeitschriften barrierelos unter sich kommunizierendes Fach. In fast allen Lndern der Welt gibt es Fachleute fr Infektionskrankheiten, die im Rahmen der WHO zusammenarbeiten. All dies relativiert eine Betrachtung nach dem Schema „Die Coronapandemie im Land X“, in unserem Fall in China. Selbstverstndlich ist es fr Sozialgeschichte und Soziologie ein faszinierendes Thema, was eine gigantische Herausforderung der individuellen und çffentlichen Gesundheit fr die nach der Kopfzahl grçßte Gesellschaft der Erde (etwa 16mal umfangreicher als die deutsche) bedeutet. Obwohl bei den amtlichen chinesischen Gesundheitsstatistiken eine gewisse Vorsicht geboten ist,13 stimmen wissenschaftliche
10 Vgl. allgemein Christian Enemark, Is Pandemic Flu a Security Threat? in: Survival 51. 2009, S. 191 – 214. 11 Thomas J. Bollyky u. Chad P. Bown, The Tragedy of Vaccine Nationalism. Only Cooperation Can End the Pandemic, in: Foreign Affairs 99. 2020, H. 5, S. 96 – 108. 12 Peter Baldwin, Contagion and the State in Europe, 1830 – 1930, Cambridge 1999, S. 524. 13 Ein schwieriges Thema. Ein genereller Flschungsverdacht, wie ihn Trump-nahe Medien in den USA immer wieder erheben, drfte unberechtigt sein. Aber es bleiben Zweifel. Vgl. z. B. Liji Thomas, Cremation Numbers Reveal Possible Suppression of True COVID19 Data in China, in: News Medical, 8. 6. 2020, https://www.news-medical.net/news/
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Expertinnen und Experten darin berein, dass China gut durch die Pandemie hindurchgekommen ist. Das Land, in dem das Virus zuerst auftrat, wird Mitte September 2020 vom Robert Koch-Institut nicht mehr auf dessen langer Liste der Risikogebiete gefhrt. Nach WHO-Angaben kamen im Gesamtverlauf der Pandemie auf eine Million Einwohnerinnen und Einwohner in der Volksrepublik China drei Tote, in den USA 550.14 Anfang des Jahres indessen war die Lage ußerst kritisch. Bereits am 30. Januar, eine Woche nach der Abriegelung der Metropole Wuhan (23. 1. 2020) und gleichzeitig mit dem Auftreten des ersten Infektionsfalles in Deutschland (28. 1. 2020), musste die chinesische Regierung bekanntgeben, das Virus sei in smtliche Provinzen und Autonomen Gebiete der Volksrepublik vorgedrungen.15 Am 8. Februar wurden ber fnfzig Großstdte im ganzen Land strengen Kontrollmaßnahmen unterstellt.16 Wie The Guardian schrieb, waren die chinesischen Maßnahmen „ebenso brutal wie effektiv“.17 Ein Artikel in Nature kam im Mai 2020 zu dem Schluss: „China’s aggressive, multi-faceted response is likely to have prevented a far worse situation, which would have accelerated the spread of the virus globally“.18 Was aber bedeutete „aggressive response“ fr die chinesische Bevçlkerung? Erste Einblicke in das Leben unter extremen Einschrnkungen gewhrt ein Dokument wie das in China unterdrckte Wuhan-Tagebuch der Schriftstellerin Fan Fan.19 Wenn bald die zahllosen Informationen und Spuren aus und ber China, die man derzeit in Forschungsinstituten und Thinktanks auf mehreren Kontinenten zusammentrgt, zu detailreichen Bildern vereinigt werden, wie es sie fr die SARS-Epidemie von 2002 – 2004 bereits gibt, wird sich verstehen lassen, wie groß an welchen Orten und fr welche sozialen Milieus die Wirkung von Coronastress auf die sozialen Verhltnisse gewesen ist. Das ist brigens keine Frage von „modern“ oder nicht; an der Modernitt
14 15 16 17 18 19
20200608/Cremation-numbers-reveal-possible-suppression-of-true-COVID-19-datain-China.aspx. WHO, Weekly Epidemiological Update, Table 2, 16. 8. 2020, https://www.who.int/docs/ default-source/coronaviruse/situation-reports/20200817-weekly-epi-update-1.pdf ? sfvrsn=b6d49a76_4. O. A., Coronavirus. Death Toll Rises as Virus Spreads to Every Chinese Region, in: BBC, 30. 1. 2020, https://www.bbc.com/news/world-asia-china-51305526. Kathy Leung u. a., First-Wave COVID-19 Transmissibility and Severity in China outside Hubei after Control Measures, and Second-Wave Scenario Planning. A Modelling Impact Assessment, in: The Lancet 395. 2020, H. 10233, S. 1382 – 1393, hier S. 1384. Emma Graham-Harrison u. Lily Kuo, China’s Coronavirus Lockdown Strategy. Brutal but Effective, in: The Guardian, 19. 3. 2020, https://www.theguardian.com/world/2020/ mar/19/chinas-coronavirus-lockdown-strategy-brutal-but-effective. Shengjie Lai u. a., Effect of Non-Pharmaceutical Interventions to Contain COVID-19 in China, in: Nature, 4. 5. 2020, https://www.nature.com/articles/s41586-020-2293-x. Fang Fang, Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt, Hamburg 2020. Es gibt auch etliche Berichte von Auslnderinnen und Auslndern aus abgeriegelten chinesischen Stdten, z. B. Peter Hessler, Life on Lockdown in China, in: The New Yorker, 23. 3. 2020, https://www.newyorker.com/magazine/2020/03/30/life-on-lockdown-in-china.
China als Zentrum und Peripherie der Pandemiegeschichte
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der heutigen chinesischen Gesellschaft kann kein Zweifel bestehen, und die Alltagserfahrungen vor allem der stdtischen Bevçlkerung in Ost und West sind vollkommen vergleichbar und nicht durch den Gegensatz von „entwickelt“ und „rckstndig“ kategorial auf unterschiedliche Komplexittsniveaus verteilt. Statt binnenchinesische Vermutungen anzustellen, mçchte ich im Folgenden einige historische berlegungen zur Frage von Chinas Zentralitt oder Marginalitt im Pandemiegeschehen anstellen. In den Sozialwissenschaften ist das Denken in den Kategorien „Zentrum / Peripherie“ etwas aus der Mode gekommen. Die SARS-CoV-2-Pandemie zeigt jedoch, dass es sich nicht vermeiden lsst. Interessant an der Seuche ist nicht so sehr die allzu pauschale Tatsache, dass sie „global“ ist, sondern wie sie in unzhligen Infektionslinien ber den Globus wandert. Dabei sind die Epizentren von heute nicht die von gestern. Hotspots flammen auf, verlçschen wieder und kçnnen in krzester Zeit erneut virulent werden. Im Februar 2020 schaute die Welt auf Wuhan, im Mrz auf Bergamo, im April auf New York. Im September 2020 sind diese Orte zu relativ beruhigten Peripherien auf der pandemischen Weltkarte geworden, whrend Indien, Argentinien oder der Irak als Brennpunkte hervorstechen. Die Kurven und Karten der WHO und des Coronavirus Resource Center der Johns Hopkins University veranschaulichen die Neuverteilung zwischen Zentren und Peripherien in ihrer tglichen Verschiebung. Hinter diesen unablssigen Schwerpunktverlagerungen verbergen sich langsamer und lngerfristig ablaufende Prozesse der Umgewichtung. Das ist mit dem zunchst etwas trivial klingenden Titel dieses Beitrags gemeint. Ob zentral oder peripher: China war in der pandemischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert immer vertreten, selbst dann, wenn es, wie 1918 – 20 mit maximal „nur“ 1,28 Millionen Toten, von Ereignissen vergleichsweise wenig berhrt wurde, die seine Nachbarn, besonders Indien und Japan, schwer trafen.20 Aber was heißt berhaupt „China“? Der Name bezeichnet eine politische oder auch kulturelle Kategorie. Fragt man aber seuchenhistorisch nach epidemiologischen Rumen, die sich ber Lnder- und Kulturgrenzen hinweg durch Infektionszusammenhnge konstituieren, dann fllt auf, dass vor allem die weltweit hçchste Bevçlkerungsdichte eine geografische Sphre schafft, die außer China auch Sdasien und den grçßten Teil Sdostasiens umfasst. Hier sind die meisten Pandemien der vergangenen beiden Jahrhunderte entstanden. Nach dem Kriterium der Art staatlicher Reaktionen auf Gesundheitsrisiken schlt sich wiederum ein engerer Raum heraus, der durch drastische und zentralisierte Behçrdenintervention gekennzeichnet ist und zu dem heute neben der Volksrepublik China vor allem Sdkorea und die Republik China auf 20 Wataru Ijima, Spanish Influenza in China 1918 – 20. A Preliminary Probe, in: Howard Phillips u. David Killingray (Hg.), The Spanish Influenza Pandemic of 1918 – 19. New Perspectives, London 2003, S. 101 – 109, hier S. 109.
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Taiwan gehçren, mit Einschrnkungen Japan, außerdem Hongkong, das bis vor kurzem autonom genug war, um eine eigene Gesundheitspolitik zu betreiben. Hinzufgen muss man auch Vietnam, Laos und Kambodscha, whrend Indien oder Indonesien andere gesundheitspolitische Wege gehen und damit, wie es scheint, in der Eindmmung des Coronavirus weniger erfolgreich sind.
II. China als ein Zentrum des Infektionsgeschehens Man muss nicht allzu weit in die Vergangenheit zurckblicken, um den Beginn jener epidemiologischen Epoche zu finden, in der wir uns heute befinden. Mark Harrison, einer der maßgeblichen Historiker von public health, hat darauf hingewiesen, dass zwar die gesamte Menschheitsgeschichte von Seuchen begleitet wird, auch solchen, die – wie der Schwarze Tod des 14. Jahrhunderts oder die Pocken der Frhen Neuzeit – große Rume durchdrangen, dass aber von einem weltweiten Infektionszusammenhang erst seit „a great epidemiological upheaval“ die Rede sein kann, der in den 1790er Jahren begann.21 Im 19. Jahrhundert erfassten Krankheitswellen erstmals innerhalb relativ kurzer Zeit smtliche Kontinente. Whrend in frheren Epochen der Weg von Seuchen klar identifiziert werden konnte (so bewegte sich die Pest in ihren verschiedenen Schben immer von Ost nach West), konnte es nun passieren, dass Krankheiten nahezu gleichzeitig an verschiedenen Orten der Welt auftraten und sich in mehrere Richtungen verbreiteten. Dies ließ sich an Pflanzen- und Tierkrankheiten ebenso beobachten wie an Seuchen, die menschliche Populationen befielen.22 Eine wichtige Ursache dieser Entwicklung war die Beschleunigung und quantitative Steigerung von Migrationen aller Art, die nicht nur Europerinnen und Europer in die Neue Welt, sondern auch Zigmillionen Asiatinnen und Asiaten nach bersee fhrten. Eisenbahnen multiplizierten die Binnenzirkulation mit fatalen Folgen besonders fr Indien.23 Einrichtungen der Seuchenabwehr, vor allem die Quarantne an See- und Landgrenzen, hatte es bereits seit dem 15. Jahrhundert, vermehrt seit dem frhen 18. Jahrhundert, in Europa gegeben.24 Im Viktorianischen Zeitalter wurde die prventive Seu21 Mark Harrison, Pandemics, in: Mark Jackson (Hg.), The Routledge History of Disease, London 2017, S. 129 – 146, hier S. 130. 22 Ebd., S. 131. 23 Grundlegend zum Zusammenhang zwischen Mobilitt und Krankheitsverbreitung Andrew J. Tatem, Modern Day Population, Pathogen and Pest Dispersals, in: Nicole Boivin, Rmy Crassard u. Michael Petraglia (Hg.), Human Dispersal and Species Movement. From Prehistory to the Present, Cambridge 2017, S. 521 – 534. 24 Alison Bashford (Hg.), Quarantine. Local and Global Histories, Basingstoke 2016; John Chircop u. Francisco Javier Martinez, Mediterranean Quarantines, 1750 – 1914. Space, Identity and Power, Manchester 2018.
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chenabwehr erstmals als eine Staatsaufgabe verstanden, an deren Erfllung sich die Legitimitt der Herrschenden zu beweisen hatte und der mit den blichen Mitteln der Landesverteidigung an den Außengrenzen allein nicht beizukommen war. Auch waren bis dahin Quarantne und Cordons sanitaires immer wieder sachfremd als Druck- und Kampfmittel in der Rivalitt der Staaten eingesetzt worden.25 Solche Politik wurde ab 1851 problematisiert und zu einem Verhandlungsthema der Konferenzdiplomatie. China war ab 1885 auf den regelmßigen International Sanitary Conferences vertreten. Obwohl mçglicherweise im 14. Jahrhundert die Quelle des Schwarzen Todes,26 war das Land im 19. Jahrhundert kein erstrangiges Ursprungsgebiet von global zirkulierenden Krankheitserregern; die sechs Cholerapandemien strahlten von Indien aus. Dies nderte sich erst, als 1910 in der Mandschurei die Beulenpest ausbrach. Dass der chinesische Staat und Mediziner vor Ort die Seuche dank energischer Interventionen einzudmmen vermochten, war zwar ein großer internationaler Prestigeerfolg und der bis heute bewunderte Beginn chinesischer Seuchenbekmpfung mit modernen Methoden.27 Zugleich erschien China nun nach langer Pause erneut auf der Weltkarte der Epidemieverursachung – ab 1918 mit einem neuartigen Krankheitstyp, dessen epidemischer Charakter vor dem Ersten Weltkrieg kaum wahrgenommen und der nirgendwo auf der Welt zum Gegenstand von staatlicher Zwangsregulierung geworden war: der Grippe.28 Erst heute verdichten sich die Indizien, dass die Spanische Grippe des Jahres 1918 von der Provinz Shandong aus ber chinesische Arbeitertransporte nach Nordamerika gelangte.29 Diese furchtbarste aller Pandemien konnte daher von den Zeitgenossen nicht China zugeschrieben werden. Fr die Weltçffentlichkeit und die infektiologische Forschung sichtbar wurden dann aber die „Asiatische Grippe“ (Virentypus A / H2N2, circa zwei Millionen Todesopfer weltweit) von 1957 / 58, die „Hongkong-Grippe“ (H3N2, maximal eine Million Tote) von 1968 / 69, die beide von China ausgingen, whrend die dritte große Pandemie nach dem Zweiten Weltkrieg, die „Schweinegrippe“ (H1N1), 2009
25 Mark Harrison, Contagion. How Commerce Has Spread Disease, New Haven 2014, S. 79. 26 Ole J. Benedictow, Yersinia pestis, the Bacterium of Plague, Arose in East Asia, in: Journal of Asian History 47. 2013, S. 1 – 31. 27 Mark Gamsa, The Epidemic of Bubonic Plague in Manchuria 1910 – 1911, in: Past & Present 190. 2006, S. 147 – 183; William C. Summers, The Great Manchurian Plague of 1910 – 11. The Geopolitics of an Epidemic Disease, New Haven 2012; Christos Lynteris, Ethnographic Plague. Configuring Disease on the Chinese-Russian Frontier, Basingstoke 2016, S. 121 – 164. 28 Anlsslich der „Russischen Grippe“ von 1889 – 95 Mark Honigsbaum, A History of the Great Influenza Pandemics. Death, Panic and Hysteria, 1830 – 1920, London 2014, S. 75. 29 Mark Osborne Humphries, Paths of Infection. The First World War and the Origins of the 1918 Influenza Pandemic, in: War in History 21. 2013, S. 55 – 81, hier S. 72.
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zuerst in Mexiko auftrat.30 Die „Vogelgrippe“ (H5N1) wurde 1997 und 2003 vereinzelt bei Menschen in Hongkong und Sdchina, dann 2005 unter Zugvçgeln in der westchinesischen Provinz Qinghai festgestellt, die sie quer durch Eurasien verbreiteten. Auch die Vogelgrippe-Epidemie von 2013 (H7N9) begann in China.31 Vor allem nahm die erste Coronaviruspandemie (Virus SARS-CoV-1, SARS: Severe Acute Respiratory Syndrome) im November 2002 ihren Ausgang von der sdchinesischen Provinz Guangdong.32 Der chinesische Raum ist seit den 1950er Jahren ein besonders potentes Inkubationsgebiet fr Mikroben gewesen, von denen einige die Barriere zwischen Tier und Mensch berwanden. Wie man im Lichte von SARS-CoV-2 pointiert sagen kann: Ost- und Sdostasien sind heute die epidemiologisch gefhrlichsten Ecken der Welt.
III. China als Peripherie westlicher Angstprojektion Die Grnde dafr sind komplex, und das in den Medien beliebte isolierte Herausheben einzelner spektakulrer Erklrungsfaktoren – etwa der Lebendtiermrkte (wet markets) in China und Sdostasien – vereinfacht das Problem ungebhrlich.33 Jedenfalls mobilisierte das Auftreten des neuartigen Coronavirus um die Jahreswende 2019 / 20 in der zentralchinesischen Provinz Hubei bereits vorhandene sinophobe Klischees und ngste, die von niemandem propagandistisch skrupelloser genutzt wurden als vom amerikanischen Prsidenten Donald Trump. Auch die WHO sprach anfangs routinemßig vom „Wuhan-Virus“, bis Trump sich diese Redeweise zu eigen machte. Ohne Rcksicht auf mçgliche Chinese Americans unter seinen Anhngerinnen und Anhngern hat er sie – zunehmend als „China virus“ – unablssig wiederholt.34 Man muss die Volksrepublik China, deren Propaganda nicht weniger zimperlich ist, nicht gegen Trump verteidigen. Nicht nur in der Intention, sondern auch in der Konsequenz rassistisch werden solche Bemerkungen allerdings, wenn sie zur Stigmatisierung und handgreiflichen Bedrohung „chinesisch“ oder berhaupt „asiatisch“ aussehender Menschen fhren. 30 Edwin D. Kilbourne, Influenza Pandemics of the 20th Century, in: Emerging Infectious Diseases 12. 2006, S. 9 – 14, hier S. 10 f.; Alexander S. Kekul, Was wir aus der Schweinegrippe lernen kçnnen, in: APuZ 52. 2009, S. 41 – 46, hier S. 41. 31 Robert Peckham, Epidemics in Modern Asia, Cambridge 2016, S. 276 – 284; o. A., Asian Lineage Avian Influenza A (H7N9) Virus, o. D., Center for Disease Control and Prevention, https://www.cdc.gov/flu/avianflu/h7n9-virus.htm. 32 David P. Fidler, SARS, Governance and the Globalization of Disease, Basingstoke 2004, S. 72. 33 An Warnungen hat es nicht gefehlt, z. B. Robert G. Webster, Wet Markets. A Continuing Source of Severe Acute Respiratory Syndrome and Influenza?, in: The Lancet 363. 2004, H. 9404, S. 234 – 236. 34 Etwa Remarks by President Trump in Press Briefing, 4. 8. 2020, https://www.whitehouse. gov/briefings-statements/remarks-president-trump-press-briefing-august-4-2020/.
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Davon ist aus vielen Lndern des Westens im Frhjahr 2020 hufig berichtet worden. Aber nicht nur des Westens, denn es handelt sich um mehr als um die Reaktivierung alter „Gelbe Gefahr“-Vorurteile.35 Bereits Ende Januar 2020 verlangten Massenproteste in Sdkorea ein Einreiseverbot fr Chinesinnen und Chinesen.36 Im April 2020 beschwerten sich mehrere afrikanische Staaten bei der Regierung in Peking ber die Drangsalierung von Afrikanerinnen und Afrikanern in China, denen die offiziellen Medien das Auslçsen einer zweiten Coronawelle zur Last legten.37 Durchreisende ebenso wie lange ansssige „Fremde“ sind in der Vergangenheit hufig fr das Einschleppen von Krankheiten verantwortlich gemacht worden.38 Das Misstrauen gegenber Chinesinnen und Chinesen ist eine Teilgeschichte dieser umfassenden negativen Imagologie. In Sdostasien flossen Anfang 2020 jahrhundertealte Ressentiments gegen chinesische Minderheiten mit akuter Furcht vor einer bermchtig und bergriffig werdenden Volksrepublik China zusammen; bereits whrend der asiatischen Finanzkrise von 1997 / 98 war es in der Region verbreitet zu anti-chinesischer Diskriminierung und Verfolgung gekommen. 2020 hat das Coronavirus dieses Aggressionspotenzial neu geweckt. Aus der Sicht „weißer“ Einwanderergesellschaften stellten Chinesinnen und Chinesen, zumal wenn sie in ethnischen Ghettos („Chinatowns“) lebten, seit etwa den 1860er Jahren Krankheitstrger dar, die als amorphe Massen aus einem angeblich verseuchten Kontinent herbeigestrçmt waren.39 Solche phobischen Vorstellungen wurden durch konkrete Anlsse verstrkt, etwa die Ankunft der dritten Pest-Epidemie in Kalifornien 1900, waren aber im allgemeinen von der tatschlichen Infektionslage in Ostasien abgekoppelt. China erschien als die fremdartige Peripherie eines Weltzentrums, das seine zivilisatorische berlegenheit nicht zuletzt durch den Triumph der Hygiene unter Beweis gestellt sah. Diese Zivilisiertheit blieb indes
35 Am 12. Mai 2020 verçffentlichte Human Rights Watch eine umfassende Dokumentation solcher Flle: Human Rights Watch, Covid-19 Fueling Anti-Asian Racism and Xenophobia Worldwide. National Action Plans Needed to Counter Intolerance, https://www. hrw.org/news/2020/05/12/covid-19-fueling-anti-asian-racism-and-xenophobia-world wide. 36 Motoko Rich, As Coronavirus Spreads, So Does Anti-Chinese Sentiment, in: New York Times, 30. 1. 2020, https://www.nytimes.com/2020/01/30/world/asia/coronavirus-chine se-racism.html. 37 O. A., Rassismus gegen Afrikaner in China. Virenjagd wird Menschenjagd, in: taz, 14. 4. 2020, https://taz.de/Rassismus-gegen-Afrikaner-in–China/!5675378. 38 Davor, dies zu einer allgemeinen historischen Regel zu machen, warnt allerdings Samuel S. Cohn, Pandemics. Waves of Disease, Waves of Hate from the Plague of Athens to A.I.D.S., in: Historical Research 85. 2012, S. 535 – 555. 39 Klassische Studien sind Alan M. Kraut, Silent Travelers. Germs, Genes and the Immigrant Menace, Baltimore 1995, und Nayan Shah, Contagious Divides. Epidemics and Race in San Francisco’s Chinatown, Berkeley 2001; breiter angelegt ist Philip Alcabes, Dread. How Fear and Fantasy Have Fueled Epidemics from the Black Death to Avian Flu, New York 2009.
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in einer Zeit von Pest und Cholera weiterhin bedroht. Angst herrschte in der Belle poque: vor dem Tod nicht nur in Venedig.
IV. China und die wissenschaftliche Medizin: von der Peripherie zum Zentrum Sogar das politisch schwache China der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts hatte es nicht nçtig, sich von westlichen Auslndern beleidigen und verachtungsvoll belehren zu lassen. Es verfgt ber eine der großen Traditionen der Kçrperbeobachtung und des Heilens. Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts kannte man bereits Klosterhospitler, eine pharmakologische Literatur mit Breitenwirkung und das Konzept des Impfens. Die Reaktionen auf Epidemien waren die auch in Europa blichen: Flucht, Isolation, in Anstzen organisierte Quarantne. Es gab ein leistungsfhiges System staatlicher Hungerhilfe nach Katastrophen, aber kein Konzept der systematischen Prvention.40 In den Jahrzehnten nach dem Opiumkrieg (1839 – 1842) fhrte China in zahlreichen Etappen zwei Neuerungen des Westens ein: die dort entstehende wissenschaftliche Medizin und die Idee von çffentlicher Gesundheit als zunchst privat-philanthropischer, spter auch staatlicher Aufgabe. Obwohl die offizielle Geschichtspropaganda heute die Periode vom Opiumkrieg bis zur „Befreiung“ 1949 in den schwrzesten Farben als „Zeitalter der Erniedrigung“ ausmalt, wurden diese Neuerungen China keineswegs imperialistisch aufgezwungen, sondern im – durchaus spannungsreichen – Zusammenwirken westlicher (Missionarinnen und Missionare, Kolonialadministratoren, humanitre NGOs) und chinesischer Akteure in China akklimatisiert und indigenisiert.41 Die Idee, der Staat kçnne auf den Verlauf von Epidemien Einfluss nehmen, griff an der Jahrhundertwende um sich. In den letzten Jahren vor ihrem Sturz 1911 begann die Qing-Dynastie mit dem Aufbau von gesundheitspolitischen Behçrden, wie sie bis dahin in China unbekannt waren.42 In der Kolonie Hongkong und den kolonieartigen Enklaven in Shanghai und anderen großen Vertragshfen waren westliche Behçrden bemht, das Infektionsrisiko fr Auslnderinnen und Auslnder zu minimieren, aber auch der einheimischen
40 Yu Xinzhong, Response to Epidemic Disease in Ancient China and Its Characteristics, in: Chinese Medicine and Culture 3. 2020, S. 55 – 59, hier S. 57. 41 Vgl. als neue Fallstudie Angela Ki Che Leung, Glocalizing Medicine in the Canton–Hong Kong–Macau Region in Late Qing China, in: Modern Asian Studies 54. 2020, S. 1345 – 1366. 42 Florence Bretelle-Establet, Les pidmies en Chine la croise des savoirs et des imaginaires. Le Grand Sud aux XVIIIe et XIXe si cles, in: ExtrÞme-Orient ExtrÞmeOccident 37. 2014, S. 21 – 60, hier S. 21.
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Bevçlkerung kam die Sanierung der großen Stdte zugute.43 In Reaktion auf die zweifellos verbreitete „Erniedrigung“ durch arrogante Fremde wurde die hygienische Neugestaltung zu einer nationalen Aufgabe und zu einem der wichtigsten Merkmale einer eigenstndigen und politisch souvernen Moderne erhoben.44 Junge Chinesinnen und Chinesen studierten in Japan, Europa und in den USA Medizin und kehrten als Fachleute in ihre Heimat zurck. Mit Hilfe westlicher Medizin, die teilweise auf dem Weg ber Japan importiert wurde, sollte China fr den Widerstand gegen die Imperialmchte gestrkt werden. Anders als in Europa war frhe Gesundheitspolitik in China weniger durch die Milderung von Industrialisierungsfolgen motiviert als durch den Willen zum kollektiven berleben in einer darwinistisch interpretierten Welt des Staaten- und „Rassen“-Kampfes.45 1937, am Vorabend des verheerenden japanischen Angriffskrieges, besaß das arme und politisch zersplitterte Land hervorragendes medizinisches Personal, moderne Kliniken, ein Gesundheitsministerium und respektable Anstze zu einem (primr stdtischen) System çffentlicher Gesundheitsvorsorge.46 Obwohl in der Republikzeit zu wenig erreicht wurde, zumal auf den Dçrfern, war ein medizinisch-hygienisches Erbe angelegt, das die Kommunistinnen und Kommunisten, die vor 1949 in ihren revolutionren Sttzpunktgebieten manche Gesundheitsmaßnahme eingefhrt hatten, bernehmen konnten. Das neue Regime der KP Chinas beruhte – und dies gilt bis heute – auf drei Pfeilern: der zentralisierten, autoritren Kontrolle via Partei und Sicherheitsapparat, der Loyalitt großer Teile der Bevçlkerung, die vom Regime profitieren sowie der Mobilisierung der „Massen“ durch Kampagnen. Auch die çffentliche Gesundheit wurde zum Gegenstand solcher Kampagnen, die viel strker als alle Bemhungen vor 1949 die Landbevçlkerung einbezogen. Obwohl ein Lob fr die chinesischen Kommunistinnen und Kommunisten heute leicht als Apologie der gegenwrtigen Parteidiktatur missverstanden wird, muss im Interesse historischer Gerechtigkeit anerkannt werden, dass China ber das gesamte 20. Jahrhundert hinweg eine nach Maßstben des Globalen Sdens erstaunliche Verbesserung des allgemeinen Gesundheitsstandards erreicht hat.47 Die Bekmpfung ansteckender Krankheiten war zwar nicht der Haupt43 Kerrie L. Macpherson, A Wilderness of Marshes. The Origins of Public Health in Shanghai, 1843 – 1893, Hong Kong 1987. 44 Ruth Rogaski, Hygienic Modernity. Meanings of Health and Disease in Treaty-Port China, Berkeley 2004. 45 Bridie Andrews, The Making of Modern Chinese Medicine, 1850 – 1960, Vancouver 2014, S. 93 f. Zum wichtigen Aspekt der Strkung der Kçrper durch Impfschutz vgl. Mary Augusta Brazelton, Mass Vaccination. Citizens’ Bodies and State Power in Modern China, Ithaca 2019. 46 John R. Watt, Saving Lives in Wartime China. How Medical Reformers Built Modern Healthcare Systems Amid War and Epidemics, 1928 – 1945, Leiden 2014, S. 35 – 72. 47 Lincoln Chen u. Ling Chen, China’s Exceptional Health Transitions. Overcoming the Four Horsemen of the Apocalypse, in: Bridie Andrews u. Mary Brown Bullock (Hg.), Medical Transitions in Twentieth-Century China, Bloomington 2014, S. 17 – 31.
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zweck der meisten Mobilisierungen, konnte aber leicht in die Kampagnenroutine eingebaut werden. Auch die Bekmpfung von COVID-19 ist 2020 in eine militante Kampagnenrhetorik gekleidet worden, die stark an den maoistischen „Kampf“ gegen alles Mçgliche erinnert. Nach dem Beginn der post-maoistischen Reformpolitik 1978 ging der allgemeine Gesundheitszustand, vor allem in den lndlichen Gebieten, zunchst einmal zurck. Dies war auch eine Folge von zaghafter politischer „Liberalisierung“, denn die vertikalen Kommandostrukturen von Partei und Staat wurden gelockert und damit der lokalen Verwaltungsebene ein grçßerer Spielraum zugestanden. Die Zentralmacht konnte keine einheitliche Gesundheitspolitik mehr durchsetzen.48 Hinzu kam, dass die politischen Prioritten vom maoistisch bevorzugten Land auf die Stdte verlagert wurden. Ein Nebeneffekt dieser Dezentralisierung war, dass es kein wirksames landesweites System der Erfassung von Gesundheitsdaten gab, etwa nach dem Vorbild der deutschen Gesundheitsmter. Das Coronavirus traf deshalb im Dezember 2019 auf einen Staat, der zwar auf eine Massenkatastrophe besser vorbereitet war als die meisten anderen Regierungen der Welt, der aber dennoch improvisieren musste und nicht einfach gut geçlte Notfallroutinen in Gang setzen konnte. Westliche Kommentare zu dem, was seit dem Januar 2020 in China geschehen ist, haben sich meist auf die brachialen Mittel der Staatsintervention fixiert und dahinter das Ausleben totalitrer Allmacht sehen wollen. Ebenso wichtig ist es aber, das Ziel zu verstehen: Die heutige Fhrung bezieht ihre Legitimitt aus einer Sorge fr die umfassende, also auch medizinisch-sanitre Wohlfahrt der Bevçlkerungsmehrheit. Damit steht sie in der Tradition eines ber hundert Jahre alten Grundprojekts des chinesischen Nationalismus: durch hygienische Modernitt den nationalen Fortschritt zu verkçrpern und damit auch international Gleichrangigkeit mit dem Westen zu erreichen und symbolisch zur Schau zu stellen.49 Das unerwartete Covid-Fiasko der USA und Großbritanniens hat es China leichtgemacht, erstmals wieder seit dem Triumph bei den Pekinger Olympischen Sommerspielen 2008 sogar Chinas berlegenheit zu proklamieren. In gtiger Herablassung hat Xi Jinping deshalb – brigens durch das Militr – rzteteams und medizinische Hilfsgter in bedrftige Lnder des lngst nicht mehr imperialen Westens entsenden lassen, allerdings ein weitgehend misslungenes Mançver von soft-power-Projektion.50 48 Florence Bretelle-Establet, Science, Demons, and Gods in the Battle against the COVID19 Epidemic, in: Centaurus 62. 2020, S. 344 – 353, hier S. 347. 49 Charlotte Furth, Hygienic Modernity in Chinese East Asia, in: dies. u. Angela Ki Che Leung (Hg.), Health and Hygiene in Chinese East Asia. Policies and Publics in the Long Twentieth Century, Durham, NC 2010, S. 1 – 21. 50 Helena Legarda, The PLA’s Mask Diplomacy. MERICS China Global Security Tracker no. 7, 3. 8. 2020, https://merics.org/en/analysis/plas-mask-diplomacy. Zu Chinas Coronapropaganda vgl. Jabin T. Jacob, „To Tell China’s Story Well“. China’s International Messaging during the COVID-19 Pandemic, in: China Report, 14. 7. 2020, S. 1 – 19.
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Wenig beachtet wird ein anderer Punkt: China hat seit den 1830er Jahren westliches medizinisches Wissen absorbiert. Nach zwei Jahrhunderten besitzt es erstklassige Epidemiologinnen und Epidemiologen sowie Expertinnen und Experten fr biosecurity und hat damit (fast) Paritt mit dem Westen erreicht. Es ist wissenschaftlich ein kreatives Zentrum, nicht lnger eine bloß lernende Peripherie. Chinesische Forscherinnen und Forscher haben in krzester Zeit die Genomsequenz des SARS-CoV-2-Virus ermittelt und sie am 10. Januar 2020 der internationalen ffentlichkeit mitgeteilt. In den entscheidenden Dezembertagen 2019 haben die chinesischen Behçrden jedoch ebenso wenig auf ihre eigenen warnenden Fachleute gehçrt, wie Trump es bis heute tut. Die Epidemie htte frher eingedmmt werden kçnnen. Schon zu Beginn der SARS-Infektionen im November 2002 hatte der chinesische Staat, stets um das Image perfekter Kontrolle bemht, den Ausbruch vier Monate lang gegenber der nationalen wie der internationalen ffentlichkeit verschwiegen. Wie man es besser macht, hat China selbst bereits 1910 – 1911 gezeigt. Als in der Mandschurei die ersten Pestflle auftraten, sorgte der verantwortliche Mediziner Dr. Wu Lien-teh (Wu Liande, 1879 – 1960) unverzglich fr grçßtmçgliche Informationstransparenz und lud internationale Fachleute zu Inspektion und Beratung ein. Dr. Wus erfolgreiches Rezept – sofort handeln, drakonisch eingreifen, nichts vertuschen – hat genau hundert Jahre spter wenig von seiner Bedeutung verloren.51
V. Das chinesisch geprägte Asien als Zentrum der Pandemiebekämpfung Meine Schlussthese drfte provokant klingen. Vom August 2020 aus gesehen war die Volksrepublik China, ein Land mit zeitweise 760 Millionen Menschen in rigorosem Lockdown,52 bei der Eindmmung der SARS-CoV-2-Pandemie ungewçhnlich erfolgreich.53 Deshalb kann man sie als ein Zentrum der Pandemiebekmpfung betrachten (die USA wren in dieser Sichtweise die ußerste Peripherie der Problembewltigung). Auch wenn die kommunistische Parteidiktatur mit ihrer vollkommenen Verachtung individueller Freiheit als Vorbild fr den Westen nicht taugt, muss doch die Erfahrung des eingangs 51 So bereits am 12. 2. 2020 ein kluger Kommentar von Wayne Soon und Ja Ian Chong, What History Teaches About the Coronavirus Emergency, https://thediplomat.com/ 2020/02/what-history-teaches-about-the-wuhan-coronavirus. 52 Raymond Zhong u. Paul Mozur, To Tame Coronavirus, Mao-Style Social Control Blankets China, in: New York Times, 15. 2. 2020, https://www.nytimes.com/2020/02/15/ business/china-coronavirus-lockdown.html. 53 Vgl. etwa die Datenanalyse des Imperial College London Han Fu u. a., Report 30 – The COVID-19 Epidemic Trends and Control Measures in Mainland China, 30. 7. 2020, https://www.imperial.ac.uk/mrc-global-infectious-disease-analysis/covid-19/report30-china.
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umrissenen grçßeren sinisch geprgten Raumes sehr ernst genommen werden. Hier wurden Anti-Coronamaßnahmen ergriffen, die weniger drastisch sind als die chinesischen, ihnen aber im Prinzip hneln: (1) landesweite, zentralisierte Verwaltungsanordnung von Bewegungseinschrnkungen, (2) allgemeine, obligatorische Testung, (3) personalisiertes, nicht-anonymes contact tracing durch Smartphones, (4) auf demselben Wege eine laufende und aktuelle Information der Bevçlkerung, (5) notfalls Zwangsquarantne – all dies mçglichst unter Vermeidung eines generellen, die Wirtschaft beschdigenden Lockdown. Zu den Lndern, die mit solchen Methoden erfolgreich waren, gehçren autoritre Ordnungen wie Vietnam oder Kambodscha, der zivilisierte Obrigkeitsstaat Singapur, aber auch Sdkorea und Taiwan, deren demokratische Systeme mindestens ebenso gut funktionieren wie die einstige Musterdemokratie USA. Nach allem, was man erfahren kann, wurden diese Maßnahmen von einem breiten Einverstndnis der Bevçlkerung getragen, die ihre Individualinteressen dem Gemeinwohl unterordnete: eine Variante der klassischen europischen Tugenden von Patriotismus und Brgerpflicht. Die alte Arroganz westlicher, sich autonom dnkender Subjekte gegenber angeblich ich-schwachen und unterwrfigen asiatischen Massenmenschen ist hier fehl am Platze. Der Politikwissenschaftler Victor Cha hat von einem neuen „Gesellschaftsvertrag“ zwischen Staat und Gesellschaft gesprochen: Schutz, wahrhaftige Information und Verzicht auf Notstandsmissbrauch gegen partielle Aufgabe von Privatheit.54 Wie war dies mçglich? Vielleicht hat ein gemeinsamer „kultureller Code“ eine Rolle gespielt. Nher liegt die Beobachtung, dass alle diese Lnder, anders als Europa und Nordamerika, die SARSKrise von 2002 – 2004 – im Rckblick Warnsignal wie Generalprobe fr COVID-19 – erlebt hatten und folglich Anfang 2020 den Ernst der Lage sofort erkannten. Weiter geht die bedenkenswerte Vermutung des GeorgetownProfessors und Korea-Experten Victor Cha, dass in den „kleinen Tigern“ um China herum das Konzept von public goods und das Verhltnis zwischen çffentlicher und privater Sphre in einer Weise neu ausgehandelt wird, die ein unsicher gewordener Westen nicht lnger ignorieren kann.55 Andrea Leung, eine namhafte Medizinhistorikerin aus Hongkong, ergnzt, dass sogar in der Volksrepublik die Pandemiebekmpfung nicht bloß autoritr und top-down erfolgt. In langfristiger Fortsetzung von Ideen ber philanthropische Pflichten der Elite gegenber der Allgemeinheit, die aus der Zeit vor 1949 stammen, sind in der chinesischen Katastrophenhilfe „low-profile organizations and individuals“ ttig, die so etwas wie eine nischenhafte Zivilgesellschaft innerhalb der Parteidiktatur bilden.56 Gegenber dem libertr-hedonistischen Individualis54 Victor Cha, Asia’s COVID-19 Lessons for the West. Public Goods, Privacy, and Social Tagging, in: The Washington Quarterly 43. 2020, S. 1 – 18, hier S. 12 f. 55 Ebd., S. 12. 56 Angela Ki Che Leung, Chinese State and Society in Epidemic Governance. A Historical Perspective, in: Centaurus 62. 2020, S. 257 – 262, hier S. 261.
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mus, der im Westen mitunter die Pandemiebekmpfung konterkariert, erinnert der konfuzianische Osten an den Vorrang des Gemeinwohls. Das hat mit der Illiberalitt, die man Asien gerne unterstellt, nichts zu tun. Die Denkfigur des „common good“ ist im Westen seit Aristoteles bekannt.57 Prof. Dr. Jrgen Osterhammel, Freiburg Institute for Advanced Studies, Albertstraße 19, 79104 Freiburg E-Mail: [email protected]
57 Waheed Hussain, Art. The Common Good, in: Edward N. Zalta (Hg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, 26. 2. 2018, https://plato.stanford.edu/archives/spr2018/ entries/common-good.
COVID-19 und die Europäische Union Zur Geschichte eines Erwartungshorizonts von Kiran Klaus Patel
COVID-19 and the EU. On the History of a Horizon of Expectations The current corona pandemic is a seismograph for changes in the EU over the past decades, particularly with regard to the horizon of expectations associated with European integration. The text argues that the crisis does not just reveal the EU’s problems and challenges, but also its immense accretion of power in recent times. After considering the counterfactual question of what would have happened had the pandemic unfolded several decades earlier, it summarizes the little-known history of EU health policies. It then discusses the measures the EU has employed in the fight against COVID-19 and argues that just a few decades ago, the EU’s ongoing prominent role would have been highly unlikely.
„Capax imperii, nisi imperasset“ – diese Lettern zierten im Mrz 1982 die Titelseite des britischen Economist. In seiner rund 180-jhrigen Geschichte drfte es nicht allzu oft vorgekommen sein, dass die Zeitschrift ein lateinisches Zitat auf ihrem Titelblatt abgedruckt hat. Die Formulierung geht auf den antiken Historiker Tacitus zurck, der damit Kaiser Galba beschrieb: Demnach schien dieser „fhig zur Herrschaft, wenn er nicht geherrscht htte.“ Der Economist mnzte diese tzende Kritik auf die Europische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) um, die damals ihr 25-jhriges Bestehen beging. Das Zitat fungierte als Epitaph eines schlicht gehaltenen Grabsteins. Auf diesem war außerdem zu lesen, dass die EWG am 25. Mrz 1957 gegrndet worden, nun jedoch „moribund“ sei. Vor den Grabstein hatte der Zeichner ein paar Callas als traditionelle Totenblumen platziert, außerdem einen Trauerkranz mit der Aufschrift „C. A. P.“, dem englischen Akronym fr die Gemeinsame Agrarpolitik der EWG. Jene sei, so die Botschaft, im Moment des Jubilums fr die Existenzkrise der EWG verantwortlich.1 „Capax imperii, nisi imperasset“: Im Frhjahr 2020, im Jahr des siebzigsten Jubilums der Montanunion als ltester Vorluferorganisation der EU, scheint – zumindest phasenweise – dieses Motto die Lage des institutionalisierten Europas noch besser zu beschreiben als 1982. Dieses Mal hat die Krise nicht mit der C. A. P., sondern mit COVID-19 zu tun. hnlich dem taciteischen Diktum ist die EU seit Ausbruch der Pandemie hufig als Schçnwetter-Projekt beschrieben worden: erfolgreich in der Theorie, vielleicht noch im Normalbetrieb, jedoch vçllig berfordert im Ernstfall. Auch der baldige Kollaps des 1 The Economist, 20. 3. 1982, Titelseite. Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 522 – 535 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Einigungsprojekts wurde von den einen einmal mehr beschworen, von anderen abgestritten.2 Im Folgenden geht es nicht um eine prospektive oder normative Bewertung, wie es um die Krisenreaktionskapazitten und das knftige Schicksal der EU bestellt ist oder sein sollte. Solche Fragen tragen ihre eigenen Probleme in sich; fr abschließende Urteile ist es außerdem zu frh.3 Vielmehr sieht der Beitrag die Coronakrise als Seismograf fr europapolitische Vernderungen der letzten Jahrzehnte, die zugleich tiefe Einblicke in den europapolitischen Erwartungshorizont der Gegenwart erlauben. Dabei wird eine kontraintuitive These vertreten: Demnach legt die Pandemie nicht nur die Probleme europischer Einigung offen, sondern auch den immensen Bedeutungsgewinn der EU in der jngsten Geschichte des Kontinents. Niedergangs- und Enttuschungsnarrativ und hoher Erwartungshorizont hngen eng zusammen, und genau dies gilt es zu erklren. Dabei wird zunchst kontrafaktisch gefragt, was wohl geschehen wre, htte die Welt sich einige Jahrzehnte frher mit dieser Pandemie konfrontiert gesehen. Anschließend wird die wenig bekannte Geschichte der EU-Gesundheitspolitik rekapituliert. Dabei wird unter anderem gezeigt, dass es in den letzten zwanzig Jahren nicht zuletzt Pandemien waren, die zu einem Kompetenzgewinn der Union gefhrt haben. Danach wird knapp erçrtert, auf welche anderen Maßnahmen die EU im Kampf gegen die Krise bisher gesetzt hat und woraus sich das erklrt. Vor diesem Hintergrund wird erst deutlich, wie neu die hohe Bedeutungszuschreibung in Bezug auf die EU fr eine derartige Krise ist, und wie unwahrscheinlich es noch vor wenigen Jahrzehnten gewesen wre, auf dieses Institutionengefge im Kampf gegen eine Pandemie und ihre gesellschaftlichen Folgen zu setzen. Sein Kernanliegen sieht der Beitrag somit darin, bereits jetzt zur Historisierung der Rolle der EU in der Coronakrise beizutragen – und zugleich neues Licht auf die Geschichte des europischen Einigungsprozesses sowie des Umgangs mit Pandemien zu werfen.
2 So etwa Sigmar Gabriels Begriff der „Schçnwetter-EU“, o. A., Vollstndiges Versagen der EU in der Corona-Krise, in: Bild, 29. 3. 2020, https://www.bild.de/news/inland/newsinland/coronavirus-sigmar-gabriel-rechnet-mit-europaeischer-union-eu-ab-69697130. bild.html. 3 Vgl. als einen der ersten lngeren Versuche in diese Richtung Ivan Krastev, Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verndert, Berlin 2020; vgl. zu COVID-19 und der Geschichte der EU außerdem die Artikelserie in H-Soz-Kult, Discussion Series: Crisis as Narrative? Perspectives on the History of European Unification, 18. 6. 2020, https://www.hsozkult.de/text/id/texte-5012?title=discussion-series-crisis-as-narrativeperspectives-on-the-history-of-european-unification.
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I. Capax imperii? Vor dem Hintergrund der lngeren Geschichte europischer Integration ist zunchst berraschend, dass die Europische Union gegenwrtig mit weitreichenden Erwartungen, tiefen Enttuschungen und hochfliegenden Hoffnungen im Kampf gegen die Pandemie und deren Folgen verbunden wird.4 Dies lsst sich nur mit der jngeren Geschichte europischer Einigung erklren, die ihren Anfang in den 1980er Jahren hat und besonders auf Entwicklungen seit den 2000er Jahren verweist. Um dieses Argument zu untermauern, ist zunchst eine kontrafaktische berlegung hilfreich: Auf welche Instanzen htten sich die Gesellschaften Europas – jenseits der nationalen Ebene mit ihrer offensichtlichen Bedeutung – im internationalen Bereich gesttzt, wenn das Coronavirus SARS-CoV-2 in gleicher Intensitt und mit hnlicher gesellschaftlicher Thematisierung einige Jahrzehnte frher ausgebrochen wre? Erstens ist bereits die Vorannahme hnlicher gesellschaftlicher Thematisierung unwahrscheinlich, wie ein Rckblick auf die beiden fr Europa gefhrlichsten Pandemiewellen der Zeit des Kalten Kriegs verdeutlicht – der Asiatischen Grippe von 1957 und 1958 und der Hongkong-Grippe von 1968 bis 1970. Zwar sind Erwartungen an den Staat angesichts von Pandemien in der Moderne allgemein hoch.5 Doch blieben die çffentliche Debatte und die politischen Reaktionen damals deutlich zurckhaltender als in der Gegenwart, wiewohl die Zahl der Toten global in die Millionen und in Deutschland in die Zehntausende ging.6 Auf einen wichtigen Faktor zur Erklrung des damals so anderen Umgangs mit Pandemiekrisen verwies jngst Malte Thießen: Infektionskrankheiten waren in den ersten Nachkriegsdekaden im Alltag deutlich prsenter und galten als Teil gesellschaftlicher Normalitt. Der medizinische Fortschritt hin zu einem Zustand relativer Immunitt hat in den letzten Dekaden dazu gefhrt, dass 4 Vgl. als erste Analysen dieser Erwartungen Hartmut Kaelble, Durch eine neuartige Krise berrascht. Die Europische Union und die Coronakrise, in: H-Soz-Kult, 25. 6. 2020, https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5015?title=forum-eu-h-kaelbledurch-eine-neuartige-krise-ueberrascht-die-europaeische-union-und-die-coronakrise &recno=8&q=&sort=&fq=&total=374; Ivan Krastev u. Mark Leonard, Europe’s Pandemic Politics. How the Virus Has Changed the Public’s Worldview, ECFR Policy Brief, 24. 6. 2020, https://www.ecfr.eu/publications/summary/europes_pandemic_poli tics_how_the_virus_has_changed_the_publics_worldview. 5 Vgl. dazu etwa Richard Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830 – 1910, Reinbek 1990. 6 Zu den nach wie vor umstrittenen Zahlen etwa George Dehner, A Century of Science and Public Health Response, Pittsburgh 2012, hier S. 89; vgl. auch Claude Hannoun, Hong Kong Flu (1968) Revisited 40 Years Later, in: Jennifer Gunn u. a. (Hg.), Influenza and Public Health. Learning from Past Pandemics, London 2010, S. 181 – 190; zum Umgang mit den Krisen in Deutschland z. B. Klaus Wiegrefe, Als die Grippe in Nachkriegsdeutschland wtete, in: Spiegel, 20. 4. 2020, https://www.spiegel.de/geschichte/pandemi en-als-die-grippe-im-nachkriegsdeutschland-wuetete-a-00000000-0002-0001-0000000170518603; Markus Wehner, Nur keine Panik!, in: FAZ, 22. 4. 2020, S. 3.
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sich Menschen in falscher Sicherheit vor todbringenden Infektionskrankheiten wogen. Auch deshalb sind die Erwartungen an die Politik im Fall von SARS-CoV-2 so viel hçher als in den Nachkriegsjahrzehnten.7 ber diesen medizinhistorischen Zusammenhang und seinen Einfluss auf die Sagbarkeitsregeln hinaus ist ein weiterer Kontext zu bedenken: Transnationale Herausforderungen werden heute wieder strker im Modus des Nationalen und des Staatlichen thematisiert, als es in den 1990er und 2000er Jahren der Fall war. Neo-Nationalismus, Populismus und Globalisierungskritik stellen Abwehrbewegungen gegen die Globalisierungswelle seit den 1970er Jahren und gegen das mit ihr verkoppelte Liberalisierungscredo dar. So hat vor allem die Weltwirtschaftskrise seit 2007 das Bewusstsein fr die Anflligkeit und die Schattenseiten des bis dahin verfolgten Kurses geschrft und zu einer vernderten Thematisierung der Risiken transnationaler Verflechtung in Europa und der Welt gefhrt, wie auch Philip Manow und Martin Schulze Wessel in ihren Beitrgen zu diesem Themenheft unterstreichen. Insofern ist die gegenwrtige Tendenz zu einem aktiv intervenierenden Staat – und analoge Debatten auf europischer Ebene – auch ein Reflex auf eine vorherige Phase von Globalisierung und Liberalisierung. Als zweite kontrafaktische berlegung ist auf die prominentere Rolle hinzuweisen, die die Weltgesundheitsorganisation WHO noch vor einigen Jahrzehnten jenseits der allzeit relevanten nationalstaatlichen Ebene gespielt htte. In der ersten Jahreshlfte 2020 stand die WHO eher als Teil des Problems denn als Teil der Lçsung in der Debatte, vor allem angesichts amerikanischer Vorwrfe, in der Frhphase der Pandemie zu chinafreundlich agiert zu haben. Wie immer man die Frage bewertet:8 Eine herausragende Bedeutung kommt der finanziell unzureichend ausgestatteten WHO im internationalen Kampf gegen die Krise nicht zu. Wichtige Staaten haben ihre Warnungen lange ignoriert. Ferner wurde sie durch die Maßnahmen von US-Prsident Donald Trump politisch geschwcht. Auch in ihrer Funktion als globale Koordinationsstelle von Wissen ber den Pandemieverlauf sieht sie sich herausgefordert, am prominentesten durch die Johns Hopkins Universitt, deren online verfgbare Karten und Graphiken denjenigen der WHO in der globalen Aufmerksamkeitsçkonomie den Rang abgelaufen haben und Teilhabe an Globalitt in Echtzeit in Szene setzen. Um ein drittes Beispiel zu nennen: Die 7 Vgl. Georgios Chatzoudis, „Wir sind Opfer unserer medizinischen Erfolge“. Interview mit Malte Thießen ber Seuchen und Impfen in der Moderne, 31. 3. 2020, https://lisa. gerda-henkel-stiftung.de/seuchen_und_impfen_thiessen; vgl. auch Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Gçttingen 2017; Bettina Hitzer, Eine emotionale Herausforderung ungeahnten Ausmaßes, in: FAZ, 5. 5. 2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-krise-imkopf-eine-emotionale-herausforderung-16753740.html. 8 Eine ausgewogene und aufschlussreiche Analyse liefert Kathy Gilsinan, How China Deceived the WHO, in: The Atlantic, 12. 4. 2020, https://www.theatlantic.com/politics/ archive/2020/04/world-health-organization-blame-pandemic-coronavirus/609820.
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WHO beteiligte sich zwar im April 2020 am Call der Global Response Initiative, einen Impfstoff zu entwickeln und weltweit verfgbar zu machen.9 Zur virtuellen Geberkonferenz lud jedoch die Prsidentin der Europischen Kommission Ursula von der Leyen ein. Sie war es auch, die die Konferenz erçffnete – und dabei eine beachtliche Bhne fr ihre Institution schuf.10 In den ersten Nachkriegsjahrzehnten trug die WHO dagegen wesentlich zum Kampf gegen Seuchenkrankheiten bei, etwa gegen Pocken. Ab 1967 fhrte sie eine globale Initiative an, an der sich sogar die beiden Supermchte in einem seltenen Fall systembergreifender Kooperation beteiligten.11 So weit ging das bereits zuvor geknpfte Bndnis gegen Malaria nicht, aber auch hier stellte die WHO in den 1950er und 1960er Jahren einen wesentlichen Faktor auf internationaler Ebene dar.12 Im Kampf gegen AIDS konnte sie ab 1987 ebenfalls eine wichtige Aufgabe fr sich reklamieren.13 Zwar verlor sie seit den 1970er Jahren an Einfluss und musste sich in einem zunehmend vielschichtigen Akteursfeld positionieren, in dem transnationale Akteure oder etwa die Weltbank an Bedeutung gewannen.14 Doch noch in der SARS-Krise 2002 und 2003 spielte die WHO unter Gro Harlem Brundtland eine zentrale Rolle. Sie bte erfolgreich Druck auf China aus und hatte maßgeblichen Anteil am schnellen Ende der Krise.15 Unabhngig davon, ob man die WHO als eigenstndigen Akteur oder als Forum ohne Autonomie jenseits der großen Mchte versteht: Die Coronakrise verdeutlicht, wie nachrangig die WHO und die Vereinten Nationen im Allgemeinen gegenwrtig sind. Der in den 1970er Jahren eingerichtete Zusammenschluss der G 7 sowie die G 20 aus den spten 1990er Jahren sind ebenfalls weitgehend passiv geblieben. Insofern ist das Virus auch ein Seismograf fr die Leerstellen im internationalen System unserer Zeit. 9 WHO Global, Department of Communications, Access to COVID-19 Tools (ACT) Accelerator. A Global Collaboration to Accelerate the Development, Production and Equitable Access to New COVID-19 Diagnostics, Therapeutics and Vaccines, 24. 4. 2020, https://www.who.int/who-documents-detail/access-to-covid-19-tools-(act)-accelerator 10 Europische Union, Coronavirus Global Response, https://global-response.europa.eu/ index_en. 11 Vgl. Erez Manela, A Pox on Our Narrative. Writing Disease Control into Cold War History, in: Diplomatic History 34. 2010, S. 299 – 323, aber etwa auch Sanjoy Bhattachary, WHO-Led or WHO-Managed? Re-Assessing the Smallpox Eradication Program in India, 1960 – 1980, in: Alison Bashford (Hg.), Medicine at the Border. Disease, Globalization and Security, 1850 to the Present, New York 2006, S. 60 – 75. 12 Thomas Zimmer, Welt ohne Krankheit. Geschichte der internationalen Weltgesundheitspolitik 1940 – 1970, Gçttingen 2017. 13 Leon Gordenker u. a., International Cooperation in Response to AIDS, London 1995. 14 Jennifer Prah Ruger, The Changing Role of the World Bank in Global Health, in: American Journal of Public Health 95. 2005, S. 60 – 70. 15 Stephen Buranyi, The WHO v Coronavirus. Why It Can’t Handle the Pandemic, in: The Guardian, 10. 4. 2020, https://www.theguardian.com/news/2020/apr/10/world-health-or ganization-who-v-coronavirus-why-it-cant-handle-pandemic; auch dazu, warum die WHO heute nicht an die Erfolge der frhen 2000er Jahre anknpfen kann.
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Vor dem Hintergrund dieser beiden kontrafaktischen berlegungen ist nunmehr zu fragen, warum sich heute mit der EU derart weitreichende Erwartungen verbinden, ohne dass sie global so kontrovers wahrgenommen wird wie etwa die Bill & Melinda Gates Foundation als transnationaler Akteur. Dabei geht es nicht zuletzt um ihre gesundheitspolitische Bedeutung. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Bis heute ist diese nachrangig – zugleich aber deutlich grçßer, als die meisten Menschen meinen. Der Bedeutungsgewinn fllt in die Zeit seit den 1980er Jahren und mehr noch in die letzten zwanzig Jahre, wurde jedoch von zahlreichen anderen Prozessen berlagert – was auch erklrt, warum er bisher so wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. In den drei Ursprungsvertrgen der heutigen EU aus den 1950er Jahren stellte die Gesundheitspolitik keinen eigenstndigen Zustndigkeitsbereich dar – das galt fr die Montanunion ebenso wie fr die EWG und Euratom. Trotzdem begann die Europische Gemeinschaft bereits in den 1960er Jahren, in Gesundheitsrecht und -politik ihrer Mitgliedstaaten einzugreifen, wenn es etwa um Fragen der Lebensmittelsicherheit, den Schutz vor Industrieunfllen oder radioaktiver Strahlung ging. Anfang der 1970er Jahre regelte sie zudem bei Arbeitsmigration den Zugang zu den Gesundheitssystemen anderer Mitgliedstaaten. Diese Bestimmungen waren von jener Marktlogik geleitet, die damals den Kurs der Europischen Gemeinschaft dominierte, und sie zeitigten zumeist nur indirekte Effekte fr den Gesundheitsbereich.16 Seit Mitte der 1980er Jahre wuchs der EG eine grçßere Rolle zu. Der Europische Rat entschied auf seiner Tagung in Mailand 1985 auf Grundlage eines franco-italienischen Vorschlags zugunsten eines Aktionsprogramms im Kampf gegen Krebs. Aus diesem Ansatz entwickelte sich in der Folgezeit eine Vielzahl von Aktionen, etwa bei der Krebsverhtung und dem Verbot von Tabakwerbung.17 Hinzu kam die transformative Wirkung des ebenfalls Mitte der 1980er Jahre etablierten Binnenmarktprogramms, hinter dem vor allem die Europische Kommission unter ihrem damaligen Prsidenten Jacques Delors stand. Nicht zuletzt durch eine juristische Innovation, die sogenannte „Neue Konzeption“, weitete die Gemeinschaft in den Folgejahren ihren Kompetenzbereich dynamisch aus.18 Das betraf nicht primr, aber auch den Gesundheitsschutz, der mit der Einheitlichen Europischen Akte von 1986 16 Vgl. zusammenfassend Tamara K. Hervey u. Jean V. McHale, European Union Health Law. Themes and Implications, Cambridge 2015, S. 30 – 33. 17 Katja Seidel, Auf dem Weg zu einer europischen Gesundheitspolitik, in: Vincent Dujardin u. a. (Hg.), Die Europische Kommission 1986 – 2000. Geschichte und Erinnerungen einer Institution, Luxemburg 2019, S. 362 – 368; zu Tabak etwa Sandra Boessen u. Hans Maarse, The Impact of the Treaty Basis on Health Policy Legislation in the European Union. A Case Study on the Tabacco Advertising Directive, in: BMC Health Services Research 8. 2008, Art. 77, S. 1 – 13. 18 Vgl. zuletzt Kiran Klaus Patel u. Hans Christian Rçhl, Transformation durch Recht. Geschichte und Jurisprudenz Europischer Integration 1985 – 1992, Tbingen 2020.
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erstmals als Dimension europischer Einigung benannt wurde.19 Wichtiger als der Rat und hnlich wichtig wie die Kommission war drittens eine Serie von Entscheidungen des Europischen Gerichtshofs.20 Neben konkreten Maßnahmen kam es nun zur verstrkten Institutionalisierung europischer Gesundheitspolitik, etwa durch Grndung der Europischen Arzneimittel-Agentur 1995.21 Die EU-Vertrge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1996) gaben der Gesundheitspolitik noch mehr Raum. Zugleich blieb es bei einem Vielerlei von Einzelmaßnahmen, in denen gesundheitspolitische Fragen hufig als Nebenprodukt anderer Ziele und Programme, wie des Binnenmarkts oder des Verbraucherschutzes, angesprochen wurden. Die trotz Ausweitung weiterhin nachrangige Rolle der EU in der Gesundheitspolitik erklrt sich primr aus dem Widerstand der Mitgliedstaaten. Gesundheitspolitik ist ein besonders ressourcenintensives Feld und eng mit Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit und nationaler Identitt verknpft. Hinzu kommt eine hohe Pfadabhngigkeit, aufgrund derer Finanzierungsmodelle, Frsorgesysteme, Zustndigkeiten und andere Regelungen nicht nur unbersichtlich, sondern je nach Gesellschaft auch unterschiedlich verfasst sind.22 All dies begrndet, warum die EU die Gesundheitspolitik ihrer Mitgliedstaaten bis heute lediglich ergnzt und bei der Verwirklichung ihrer Ziele untersttzt.23 EU-Gesundheitspolitik gleicht so einer zerklfteten Landschaft, die vor allem eines reflektiert: ihre eigene Geschichte. Dennoch sollte man die gegenwrtige Rolle der Europischen Union nicht unterschtzen. Ihr Bedeutungsgewinn ist primr ein Resultat der letzten zwanzig Jahre. Dabei bildete der Kampf gegen Ansteckungskrankheiten und Pandemien einen wichtigen Faktor. Seine Ursprnge hat dieser Trend im Kampf gegen AIDS in den 1980er Jahren, als die damalige EG dieses çffentlich viel beachtete Thema ebenso wie Krebs auf ihre Agenda hob.24 Die Pandemien der letzten zwanzig Jahre verstrkten diese Tendenz. So bildete die SARS19 Vgl. Amtsblatt der Europischen Gemeinschaft, L 169 / 1, 29. 6. 1987, Einheitliche Europische Akte, Art. 100 a, Abs. 3; dazu etwa Hervey u. McHale, European Union Health Law, S. 34 f.; fr das Beispiel Blutsicherheit siehe Anne-Maree Farrell, Is the Gift Still Good? Examining the Politics and Regulation of Blood Safety in the European Union, in: Medical Law Review 14. 2006, S. 155 – 179. 20 Vgl. z. B. das Urteil C-221 / 85 – Kommission / Belgien, 12. 2. 1987; dazu und allgemein Hervey u. McHale, European Union Health Law, S. 34 – 40. 21 Vgl. z. B. Govin Permanand u. Ellen Vos, EU Regulatory Agencies and Health Protection, in: Elias Mossialos u. a. (Hg.), Health Systems Governance in Europe. The Role of EU Law and Policy, Cambridge 2010, S. 134 – 185. 22 Vgl. als ein berblick etwa Justyna Matysiewicz, Introduction to the European Healthcare Market, in: Mario Glowik u. Sławomir Smyczek (Hg.), Healthcare. Market Dynamics, Policies and Strategies in Europe, Berlin 2015, S. 1 – 15. 23 So auch die offizielle Sicht in Europische Union, Fçrderung des Gesundheitswesens in Europa, o. D., https://europa.eu/european-union/topics/health_de. 24 Monika Steffen, The Europeanization of Public Health. How Does It Work? The Seminal Role of the AIDS Case, in: Journal of Health Politics, Policy and Law 37. 2012, S. 1057 – 1089.
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Pandemie 2002 und 2003 einen wichtigen Ausgangspunkt fr die Einrichtung des Europischen Zentrums fr die Prvention und Kontrolle von Krankheiten (bekannter unter dem englischen Akronym ECDC) 2004.25 Als Reaktion auf die Schweinegrippe 2009 und 2010 gelang es der EU durch eine Vielzahl formeller und informeller Schritte, ihre Rolle im Gesundheitssektor noch einmal auszuweiten.26 Vor diesem Hintergrund erlsst die EU heute unionsweit geltende Rechtsvorschriften und Normen fr Gesundheitsprodukte und -dienste; außerdem verfgt sie ber beachtliche eigene Mittel zur Fçrderung von Projekten im Gesundheitsbereich.27 Hinzu kommt das gewachsene Maß an Kohrenz im Vergleich zu frheren Jahrzehnten. Einzelprojekte werden strker miteinander verbunden. Außerdem hat sich die EU-Gesundheitspolitik in den letzten zwei Dekaden stark normativ und symbolisch aufgeladen, indem sie zunehmend mit Menschenrechts- und Sicherheitsfragen verknpft wurde. Artikel 21 der Charta der Grundrechte der EU etwa verbietet Diskriminierung aufgrund einer Behinderung.28 Außerdem hat die EU zum Beispiel Patientenrechte vermehrt mit der Frage der Menschenrechte verklammert, wenngleich dieser Nexus hufig eher symbolisch geblieben ist.29 Auch im Kampf gegen Bioterrorismus verschrnkten sich Gesundheits- und Sicherheitsinteressen.30 Anniek de Ruijter hat jngst zu Recht von einer „silent revolution in EU health law and policy“ gesprochen.31 Der Kompetenzgewinn der EU entfaltete sich angesichts gestiegener Mobilitt sowie der Zunahme internationaler Gesundheitskrisen. ffentlich viel beachtete Gefhrdungsszenarien bauten Handlungsdruck auf, dem sich die Mit25 Bei jenem Coronavirus handelte es sich um SARS-CoV-1; zum ECDC Scott L. Greer, The European Centre for Disease Control. Hub or Hollow Core?, in: Journal of Health Politics, Policy and Law 37. 2012, S. 1001 – 1030; aber auch Mark R. Roberts, The European Centre for Disease Prevention and Control. Science and Political Integration in Europe, 2. 8. 2013, https://blogs.ucl.ac.uk/sts-observatory/2013/08/02/the-european-centre-for-disease-pre vention-and-control-science-and-political-integration-in-europe/. 26 Anniek de Ruijter, EU Health Law & Policy. The Expansion of EU Power in Public Health and Health Care, Oxford 2019, insb. S. 121 – 150; vgl. auch Marco Liverani u. Richard Coker, Protecting Europe from Disease. From the International Sanitary Conferences to the ECDC, in: Journal of Health Politics, Policy and Law 37. 2012, S. 915 – 934. 27 Vgl. etwa Europische Kommission, EU4Health 2021 – 2027. A Vision for a Healthier European Union, o. D., https://ec.europa.eu/health/funding/eu4health_en. Bei Abschluss des Texts waren die Haushaltsverhandlungen fr die Jahre 2021 bis 2027 noch nicht abgeschlossen. 28 Amtsblatt der Europischen Union, 26. 10. 2012, Charta der Grundrechte der Europischen Union, C 326 / 400, Art. 21, https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do? uri=OJ:C:2012:326:FULL:DE:PDF. 29 Vgl. etwa Arjen Boin u. a., Protecting the Union. Analysing an Emerging Policy Space, in: European Integration 28. 2006, S. 405 – 421; Hervey u. McHale, European Union Health Law, S. 156 – 210. 30 Vgl. als ein Ausdruck davon Frantisˇek Gub sˇ, Health Security in the European Union, in: Science & Military 1. 2014, S. 58 – 62. 31 De Ruijter, EU Health Law & Policy, S. 1.
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gliedstaaten nicht entziehen konnten. hnliche Wirkung entfaltete die Verflechtung mit anderen Rechtsbereichen, wie der Menschenrechtsfrage. Triebkrfte dieser Kompetenzausweitung waren vor allem die Europische Kommission und der Europische Gerichtshof, die es an Gestaltungswillen und -anspruch keineswegs fehlen ließen. Die Gesundheitspolitik der EU behielt zwar ihren Patchwork-Charakter; zugleich wurde sie stark ausgebaut und normativ sowie symbolisch aufgewertet. Andere Probleme dominierten jedoch die çffentliche Agenda, weshalb dieser relative Bedeutungsgewinn der EU von der ffentlichkeit kaum bemerkt wurde.
II. Nisi imperasset? Bedenkt man diese jenseits von Fachkreisen wenig bekannte Geschichte, dann erscheinen die Entwicklungen der ersten Jahreshlfte 2020 als umso interessanter. Angesichts der Grçße der Krise gelang es der EU zunchst mitnichten, sich als wirkungsvoller Akteur in Szene zu setzen. In der ffentlichkeit wurde schnell ein Niedergangs- beziehungsweise Enttuschungsnarrativ virulent, demzufolge die Krisenreaktion der EU unzureichend sei. In Irland fiel laut einer Umfrage von Ende April die Untersttzung der EU-Mitgliedschaft auf das niedrigste Niveau seit Beginn dieses Meinungstests 2013;32 noch dramatischer sah der Vertrauensverlust etwa in Italien aus.33 Allgemein war das Enttuschungsnarrativ in Teilen Sdeuropas besonders stark und es bleibt abzuwarten, ob sich das durch die im Juli 2020 beschlossenen Milliardenhilfen dauerhaft ndern wird. Das Enttuschungsnarrativ speist sich nicht nur aus der Coronakrise, sondern kann nahtlos an die Erfahrungen mit der Austerittspolitik der letzten zehn Jahre anknpfen. Die EU hat demgegenber kontinuierlich ihre eigene Bedeutung unterstrichen – nicht zuletzt mit dem Hinweis, bereits Anfang Januar 2020 aktiv geworden zu sein, und zwar mit Maßnahmen, die der Gesundheitspolitik im engeren Sinne zuzurechnen sind.34 Angesichts dieser und vieler weiterer Schritte hat sich das Bild jngst aufgehellt, und tatschlich ist 32 Simon Carswell, Public Opinion Split on EU’s Response to Coronavirus Pandemic. Support for EU Membership Falls to 84 Per Cent, in: The Irish Times, 28. 4. 2020, https:// www.irishtimes.com/news/politics/public-opinion-split-on-eu-s-response-to-coronavi rus-pandemic-1.4239291. 33 Mauro de Donatis, Sondaggio Piepoli – Coronavirus. Italiani soddisfatti dal Governo, molto meno dall’Unione Europea, in: Sondaggio BiDiMedia, 14. 4. 2020, https://sondaggibidimedia.com/sondaggio-piepoli-coronavirus/; vgl. auch die EU-weite Zusammenfassung: Europisches Parlament, Directorate-General for Communication, Public Opinion Monitoring Unit, Public Opinion Monitoring at a Glance in the Time of COVID-19, 12. 5. 2020, https://www.europarl.europa.eu/at-your-service/files/be-heard/eurobarome ter/2020/covid19/en-public-opinion-in-the-time-of-covid19-20200512.pdf. 34 Vgl. dazu etwa die von der Kommission verçffentlichte Zeitleiste der EU-Maßnahmen: https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/health/coronavirus-response/timeline-euaction_de.
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bemerkenswert, mit welchem Tempo die EU zuvor unvorstellbare Maßnahmen aufgelegt hat. Erfolge werden jedoch hufig national verbucht; außerdem bleibt die Lage nicht zuletzt angesichts des kaum absehbaren weiteren Verlaufs der Pandemie fragil und unabsehbar. Wichtiger fr das hier verfolgte Argument ist, dass sich mit der EU eine hohe Erwartungshaltung verbindet. Diese bezieht sich interessanterweise jedoch kaum auf die gesundheitspolitischen Maßnahmen der Union im Kampf gegen das Virus selbst. Vielmehr geht es um ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Beitrag im Kampf gegen die (Langzeit-)Folgen der Krise sowie um ihre Rolle bei grenzberschreitendem Verkehr im Schengen-Bereich. Die der EU zugeschriebene wirtschafts- und sozialpolitische Rolle ist ihrerseits ein Produkt der letzten Jahrzehnte – im weiteren Sinne wiederum seit den 1970er, im engeren seit den 2000er Jahren. Durch eine Vielzahl kleiner, zunchst wenig sichtbarer Vernderungen wurde seit den 1970er Jahren die Grundlage dafr gelegt, dass die EU seit dem Folgejahrzehnt ber ihr vormaliges Dasein als Gemeinsamer Markt mit einem großen agrarpolitischen Appendix deutlich hinauswuchs. Dafr spielte das Binnenmarktprojekt ab Mitte der 1980er Jahre eine wichtige Rolle, sozialpolitisch etwa die Sderweiterung der EG um Griechenland, Spanien und Portugal sowie der sukzessive Ausbau der Regionalpolitik. Hinzu kamen spter Schengen und der Euro. Letztlich erlangte die EU so systemische Relevanz fr zentrale çkonomische und soziale Fragen ihrer Mitgliedstaaten.35 Dies ußerte sich besonders deutlich in der sogenannten Eurokrise ab 2010, als sie massive Eingriffe in einige besonders notleidende Staaten vornahm. Damals stellte transatlantische Kooperation noch einen tragenden Faktor im Umgang mit dem Crash dar –36 was gegenwrtig in frappanter Weise nicht der Fall ist und somit eine weitere zentrale Vernderung bezglich der Reaktion auf eine globale Krise markiert. Vor diesem Hintergrund sei nochmals unterstrichen: Wre das Coronavirus SARS-CoV-2 in gleicher Intensitt und mit hnlicher gesellschaftlicher Thematisierung Anfang der 1980er Jahre ausgebrochen, wre niemand auf die Idee gekommen, die damalige EG als einen Akteur mit hohem Potenzial zur Bewltigung der Krise zu sehen. Dafr waren ihre Mçglichkeiten zu nachrangig. Die heute an sie herangetragenen Erwartungen sind nur aus ihrem Kompetenzzuwachs seit Mitte der 1980er Jahre und vor allem der spezifischen Rolle erklrbar, die die EU im Kampf gegen die Eurozonenkrise gespielt hat. Denn wenngleich ihr Einsatz mit seiner Mischung aus Sttzungs- und Austerittspolitik ußerst kontrovers bewertet wird, ist unbestritten, dass sie wirtschafts- und sozialpolitisch beraus bedeutsam war. Allerdings waren die damals zum Einsatz gebrachten Ressourcen und Instrumente deutlich kleiner 35 Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, Mnchen 2018. 36 Adam Tooze, Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verndert haben, Mnchen 2018.
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als das, was heute angesichts der Pandemiekrise auf dem Tisch liegt und von verschiedenen Seiten verlangt wird. Zugleich sind die Herausforderungen – wie der Anstieg der Arbeitslosigkeit oder der Rckgang des Bruttosozialprodukts in der EU und darber hinaus verdeutlichen – heute erheblich grçßer. Insofern bildet die Eurokrise keinen Przedenzfall, sondern lediglich einen Referenzpunkt fr Erwartungshaltungen, die strker auf eine mçgliche Zukunft gerichtet als in vergangener Erfahrung verankert sind. Wenig beachtet ist eine gesundheitspolitische Folge des damaligen EU-Kurses. Seine Orientierung auf Austeritt hat einen direkt-kausalen, negativen Einfluss auf die Mçglichkeiten einiger ihrer Mitgliedstaaten genommen, die heutige Pandemie zu bekmpfen, indem sie deren Gesundheitssysteme nachhaltig geschwcht hat. In Griechenland erwirkte sie phasenweise Einsparungen von rund vierzig Prozent im Budget fr Krankenhuser – umso bemerkenswerter ist, wie sich das Land bis Sommer 2020 in der Krise schlug.37 Dennoch: Ein jngst publizierter Bericht zhlte zwischen 2011 und 2018 63 Empfehlungen der Kommission an die Mitgliedstaaten, die auf Kostenkrzung oder Privatisierung im Gesundheitsbereich hinausliefen, mit entsprechend negativen Folgen im Kampf gegen Corona.38 Zustzlich zu ihrem faktischen Bedeutungsgewinn mit seinen Implikationen fr wirtschafts-, sozial- und gesundheitspolitische Fragen hat ein diskursiver Faktor die Erwartungshaltung in Bezug auf die EU befeuert. „Ein Europa, das schtzt“: Das Motto gab sich die çsterreichische Ratsprsidentschaft der EU 2018.39 Zu diesem Zeitpunkt war der Begriff bereits seit lngerem im Umlauf und spielte etwa in der franzçsischen Europadebatte der 2000er Jahre lagerbergreifend eine wichtige Rolle.40 Schon seit den 1970er und mehr noch seit den 1980er Jahren wurde ber die Idee eines solidarischen und die Brgerinnen und Brger schtzenden Europas kontrovers diskutiert.41 So ist es kein Zufall, dass das oben erwhnte Aktionsprogramm im Kampf gegen Krebs, das der franzçsische Staatsprsident FranÅois Mitterrand und sein italienischer Amtskollege Bettino Craxi 1985 vorschlugen, in den entspre-
37 Hervey u. McHale, European Union Health Law, S. 53. 38 Emma Clancy, Discipline and Punish. End of the Road for the EU’s Stability and Growth Pact?, Brssel 2020, insb. S. 6; Tomislav Sokol u. Nikola Mijatovic´, EU Health Law and Policy and the Eurozone Crisis, in: Tamara Hervey u. a. (Hg.), Research Handbook on EU Health Law and Policy, Cheltenham 2017, S. 291 – 312. 39 sterreichischer Vorsitz im Rat der Europischen Union, „Ein Europa, das schtzt“. Schwerpunkte des çsterreichischen EU-Ratsvorsitzes, o. D., https://www.eu2018.at/de/ agenda-priorities/priorities.html. 40 Vgl. Cline Belot u. a., L’Europe comme enjeu clivant. Ses effets perturbateurs sur l’offre lectorale et les orientations de vote lors de l’lection prsidentielle de 2012, in: Revue franÅaise de science politique 63. 2013, S. 1081 – 1112. 41 Vgl. zu den mit dem Einigungsprozess verbundenen Erwartungshaltungen v. a. Hartmut Kaelble, Der verkannte Brger. Eine andere Geschichte der europischen Integration seit 1950, Frankfurt 2019, insb. S. 81 – 112.
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chenden Ratsbeschlssen im Kapitel „Europa der Brger“ untergebracht war.42 Die Krebs-Initiative stand beispielhaft fr ein Paradoxon, das die Einigungsgeschichte immer wieder geprgt hat: Angesichts einer Legitimationskrise wurde das „Projekt Europa“ mit noch weiter reichenden Hoffnungen und Erwartungen verbunden, die ber seinen vertraglich gesicherten Kompetenzbereich hinausreichten. Mangelnde Legitimation sollte nicht zuletzt durch symbolische Aufladung kompensiert oder hergestellt werden. Dieser Prozess verstrkte sich in den letzten Jahren, etwa in der Debatte ber die EU als Wertegemeinschaft, weiter. Dies hat hnlichkeiten und ist verknpft mit der normativen Aufladung ihrer Gesundheitspolitik, erreichte im Gegensatz zu dieser aber eine breitere ffentlichkeit. Es ist diese bedeutungsschwangere Selbstzuschreibung mit entsprechendem Erwartungshorizont, welche den politischen Debatten der Gegenwart zugrunde liegt. Dabei schließt das Enttuschungsnarrativ nahtlos an Topoi und Themen der Eurokrise an und aktualisiert diese. Umgekehrt liegt dem Hoffnungsnarrativ die Perspektive zugrunde, die Krise in eine Chance zu verwandeln und die EU angesichts der Herausforderungen mit neuen Kompetenzen auszustatten. Die Denkfigur der Krise als Motor gehçrt zu den zentralen Selbstbildern in der Geschichte europischer Einigung und hat daneben auch analytische Kraft.43 Der Corona-Zustand verdeutlicht, wie sehr sich das Sagbare und Erwartbare in eine europische Richtung verschoben haben. Im theoretisch Machbaren hat dies entsprechenden Niederschlag gefunden. Ob es auch zu durchschlagenden politischen Umsetzungen kommt, lsst sich momentan nicht beantworten. Das Erwartungsnarrativ bezieht sich in erster Linie auf eine Erfahrung mit einer Erwartung, nicht auf Erfahrung im Sinne bewerteter Vergangenheit. Oder, weniger abstrakt gesagt: Es ist unklar, ob es gelingen wird, die Enttuschungen einzuhegen oder Erwartungen gerecht zu werden und in neue Untersttzung zu verwandeln.
III. Conclusio Legitimitt und Stabilitt eines politischen Systems hngen nicht nur von seiner faktischen Leistungsfhigkeit ab, sondern auch von den Erwartungshaltungen, die sich mit ihm verbinden. Steigen die Erwartungen, erhçht sich das Enttuschungspotenzial, wobei letzteres hier als Reflex auf gesellschaft42 Tagung des Europischen Rates, Schlussfolgerungen, 28. / 29. 6. 1985, https://www. consilium.europa.eu/media/20641/1985_juni_-_mailand__de_.pdf. 43 Vgl. die klassische Formulierung von der Krise als Motor europischer Einigung bei Jean Monnet, Erinnerungen eines Europers, Mnchen 1980, S. 528; als analytische Perspektiven auf Krisen im europischen Einigungsprozess z. B. Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt 20202; Hartmut Kaelble, Crises of European Integration. A Downward Spiral or Productive Crises?, in: Journal of European Integration History 19. 2013, S. 277 – 289.
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liche Selbstverstndigungsprozesse gesehen wird, nicht als genereller Modus der Moderne.44 Dass zudem gestiegene Erwartungshaltungen nicht Hand in Hand gehen mit geschrumpften Handlungsspielrumen, wie dies Jçrn Leonhard als These fr das zwanzigste Jahrhundert vertreten hat,45 zeigt die aktuelle Krise ebenfalls: Es ist atemberaubend, wie sehr Maßnahmen, die vor kurzem noch undenkbar waren, in Deutschland, Europa und der Welt binnen weniger Wochen Realitt wurden – primr auf der staatlichen Ebene, daneben aber auch auf der europischen. Das momentane Erwartungsnarrativ bezieht sich strker auf den Mçglichkeitsraum EU als auf die tatschlich vorhandenen Institutionen. Die EU selbst hat maßgeblich dazu beigetragen, solche Erwartungen zu wecken. Die Zuschreibungen erfolgten teils durch die Institutionen selbst, etwa durch die Europische Kommission, teils durch Staaten wie Italien, die von eventuellen Maßnahmen besonders profitieren wrden. Gerade dort gibt es eine lange Tradition, europische Integration als vincolo esterno zu sehen – als von außen kommende Beschrnkung, aber auch als Mçglichkeit fr Reformen im Innern, die ansonsten nicht durchsetzbar wren.46 Dagegen fordern andere das, wofr Max Weber in den Anfangsjahren der Weimarer Republik pldierte: eine Politik abgesenkter Erwartungshaltungen.47 Das Feld der Zukunftsvorstellungen ist derzeit sehr heterogen; einmal mehr treffen unterschiedliche Ideen ber den Charakter der EU aufeinander. Es ist offen, ob als Ergebnis dieser transnationalen gesellschaftlichen Selbstverstndigungsprozesse die kollektive Enttuschung berwiegen wird. Selbst wenn das der Fall sein sollte, bleibt zu sehen, ob dies desintegrative Wirkung fr die EU entfalten wird oder sich als Ausdruck einer Bereitschaft zur Kooperation lesen lsst.48 Denkbar ist aber auch, dass COVID-19 als ein weiteres Exempel fr eine Krise in die Geschichtsbcher eingehen wird, die zu einer Vertiefung europischer Einigung fhrte. In jedem Fall ist auffallend, wie sehr es die EU ist, auf die sich die Erwartungen konzentrieren. 44 Vgl. zu diesem Problem Bernhard Gotto, Enttuschung in der Demokratie. Erfahrung und Deutung von politischem Engagement in der Bundesrepublik Deutschland whrend der 1970er und 1980er Jahre, Berlin 2018; auch bereits z. B. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und ffentlichkeit im Reichstag, Dsseldorf 2002. 45 Jçrn Leonhard, Politisches Sprechen im Zeitalter der Extreme. berlegungen zu einer Erfahrungsgeschichte der Moderne, in: Martin Sabrow (Hg.), ZeitRume. Potsdamer Almanach des ZZF, Gçttingen 2011, S. 107 – 126, hier S. 118. 46 Vgl. Roberto Gualtieri, L’Europa come vincolo esterno, in: Piero Craveri u. Antonio Varsori (Hg.), L’Italia nella costruzione europea. Un bilancio storico (1957 – 2007), Mailand 2009, S. 313 – 331; Antonio Varsori, La Cenerentola d’Europa? L’Italia e l’integrazione europea dal 1947 a oggi, Soveria Mannelli 2010; sowie als Anwendung auf Portugal: Mario Del Pero, La transizione portoghese, in: ders. u. a., Democrazie. L’Europa meridionale e la fine delle dittature, Mailand 2010, S. 95 – 174. 47 Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, Tbingen 1988, insb. S. 306 – 483. 48 Zu dieser Variante vgl. Gotto, Enttuschung in der Demokratie.
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„Capax imperii, nisi imperasset“: Kaiser Galba wurde nach kurzer Amtszeit von seinen Gegnern, die ihm Unfhigkeit im Amt vorwarfen, brutal ermordet. Der Historiker Tacitus fhrte ein langes Leben. Wann genau er starb, ist umstritten. Woran er starb, ist unbekannt.49 Prof. Dr. Kiran Klaus Patel, Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen, Historisches Seminar, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 Mnchen E-Mail: [email protected]
49 Anthony R. Birley, The Life and Death of Cornelius Tacitus, in: Historia 49. 2000, S. 230 – 247.
COVID-19, Europa und der Populismus von Philip Manow
COVID-19, European Integration and Populism Will COVID-19 “kill populism” – by exposing its incapacity to govern, its inadequate rhetoric, its hostility towards scientific expertise, and its political short-termism? In order to address this question in the European context it is necessary to account for two broader contextual factors. Firstly, that Europe’s recent crises – the European debt crisis of 2010 and the migration crisis of 2015 – overlap with the current crisis, both politically and economically. Secondly, that in Europe, populism in one country cannot be viewed as independent from populism in another. The article sets out to empirically map how (and why) populism has fared quite differently in different European countries and comes to a preliminary response to the “will it kill populism”question: no, it will not.
Wird zu den prominenten Opfern der Pandemie ein zuletzt um sich greifender Politikstil oder Politikertyp gehçren, dessen Unfhigkeit zu verantwortlichem Krisenmanagement – aufgrund von Faktenferne, polarisierender Kommunikation und seinem Programm „to deconstruct government“ (Steve Bannon) – COVID-19 gnadenlos offenlegt?1 Wird sich also das Virus in der Lage zeigen, „to kill populism“?2 Oder werden – ganz im Gegenteil – die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der Coronakrise, genau wie es bereits diese in vorhergehenden Krisen getan haben, einen fr einen polarisierenden Politikstil besonders fçrderlichen Kontext schaffen, werden sie gesellschaftliche Spaltungen vertiefen, die sich dann erfolgreich populistisch bewirtschaften lassen? Dieser Frage im Kontext Europas nachzugehen, bedeutet, den Populismus auch als lnderbergreifendes, europisiertes Phnomen zu verstehen, bei dem der Populismus in dem einen Land nicht zu denken ist ohne den 1 Kerim Can Kavakli, Did Populist Leaders Respond to the Covid-19 Pandemic More Slowely? Evidence from a Global Sample, in: Covid Crisis Lab. Laboratory for Coronavirus Crisis Research, 2020, https://www.covidcrisislab.unibocconi.eu/wps/ wcm/connect/861 fb424-a490-46a6-ba1e-f871867aa40d/Kerim+Can+Kavakli.pdf ? MOD=AJPERES&CVID=naYayF6. 2 Otto English, Coronavirus’ Next Victim: Populism, in: Politico, 18. 3. 2020, https://www. politico.eu/article/coronavirus-next-victim-populism-uk-boris-johnson-us-donaldtrump/; Cas Mudde, Will the Coronavirus „Kill Populism“? Don’t Count on It, in: The Guardian, 27. 3. 2020, https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/mar/27/coro navirus-populism-trump-politics-response; Jan-Werner Mller, The Pandemic Will Strengthen Smart Populists. It Is Wishful Liberal Thinking to Believe That Maladministration Will Undo Them, in: Financial Times, 20. 7. 2020, https://www.ft.com/content/ b9aca858-c17b-4c5f-8ce2-36b982489d95. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY-NC-ND 4.0 https://doi.org/10.13109/gege.2020.46.3.536 Geschichte und Gesellschaft 46. 2020, S. 536 – 549 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2020 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Populismus in dem anderen. Und da sich die populistischen Bewegungen in Europa, bei allen Unterschieden, in ihrer jeweiligen Europaskepsis komplementr treffen,3 etwa als linkspopulistische Kritik an der „vom Norden“ oktroyierten Austeritt oder als rechtspopulistische Polemik gegen die fiskalische Unverantwortlichkeit „des Sdens“, weitet sich das automatisch zur Frage, inwiefern die Pandemie dazu in der Lage sein wird, sich auch in eine grundstzliche Krise der EU zu transformieren. Auch hier sind zwei grundverschiedene Entwicklungsszenarien denkbar: zum einen die Desintegration aufgrund wachsender und dann auch noch politisch verstrkter wirtschaftlicher Divergenzen und der Asymmetrie des Schocks; oder, zum anderen, die Krise als Gelegenheit zur weiteren „Vertiefung“ – im Bewusstsein dessen, dass sich die Geschichte der europischen Integration als Abfolge von Vereinigungskrisen schreiben lsst.4 Fr beide Szenarien ist allerdings von Bedeutung, dass sich die zuletzt in kurzen Abstnden aufeinanderfolgenden Krisen Europas wirtschaftlich und politisch berlagern.
I. Krisensequenzen Denn mit einer erstaunlichen Gesetzmßigkeit wird Europa zuletzt in exakten Fnfjahresabstnden von Krisen erschttert, die das europische Integrationsprojekt jeweils grundstzlich herausfordern. Die Erklrung des griechischen Premierministers George Andrea Papandreou, verlesen am 23. April 2010 vor pittoresker Inselkulisse in der gis, in der er erklrte, Griechenland werde nun um Finanzhilfe bei seinen europischen Partnern nachsuchen mssen, weil dem Land auf den internationalen Finanzmrkten der Zugang zu weiteren Krediten verwehrt sei, markierte den Moment, an dem sich die internationale Finanzkrise im Zuge des Lehman-Brothers-Bankrotts in die Eurokrise transformierte.5 Fnf Jahre spter, im August und September 2015, war das Drama um die am Budapester Bahnhof gestrandeten Flchtlinge der Beginn der europischen Migrationskrise6 –die der aus der Eurokrise herrhrenden Nord- / Sd-Spaltung eine tiefgreifende politische Ost- / WestSpaltung hinzufgen sollte. Weitere fnf Jahre spter, zwischen Ende Januar und Mrz 2020, von Land zu Land mit leichter zeitlicher Versetzung, brach in 3 Liesbet Hooghe u. Gary Marks, Cleavage Theory Meets Europe’s Crises. Lipset, Rokkan, and the Transnational Cleavage, in: Journal of European Public Policy 25. 2018, H. 1, S. 109 – 135; Philip Manow, Die Politische konomie des Populismus, Frankfurt 2018. 4 Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, Mnchen 2018. 5 Richard Baldwin u. Francesco Giavazzi (Hg.), The Eurozone Crisis. A Consensus View of the Causes and a Few Possible Solutions, London 2015; Ashoka Mody, Euro Tragedy. A Drama in Nine Acts, Oxford 2018; Adam Tooze, Crashed. How a Decade of Financial Crises Changed the World, London 2018. 6 Will man den Beginn dieser (politischen) Krise mit einem konkreten Datum versehen, so wre die deutsche Grenzçffnung am 4. September 2015 ein mçglicher Kandidat.
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Europa das Coronavirus massenweise aus und traf auf Lnder, deren politische, çkonomische und soziale Situation von den Nachwirkungen der zwei Vorgngerkrisen in jeweils spezifischer Form geprgt war. Die Unterschiede in der Pandemiebetroffenheit schienen zunchst den Kontinent aufs Neue nach einem bekannten Muster geografisch zu spalten:7 Whrend Lnder, die immer noch mit den besonderen Altlasten der Eurokrise zu kmpfen hatten, wie Italien und Spanien, besonders frh und besonders schwer von COVID-19 betroffen waren, kamen die nord-, aber auch die ostmitteleuropischen Lnder offensichtlich besser durch die Pandemie – oder wurden von vornherein weniger von ihr in Mitleidenschaft gezogen. Das ließ befrchten, dass sich die ohnehin zunehmenden Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung im europischen Wirtschaftsraum, und noch einmal besonders in der Eurozone, durch den Coronaausbruch verstrken wrden – mit den sich daraus ergebenden politischen Desintegrationstendenzen. Natrlich ist das kein vçllig einheitliches Bild. Der „schwedische“ Weg erschien zunchst als problematische Abweichung vom erfolgreichen nordischen Muster, whrend das Krisenmanagement der griechischen Regierung als vorbildhaft gelten muss. Und auch Großbritanniens Umgang mit der Pandemie legte die besonderen Schwchen von Politik und Gesundheitssystem schonungslos offen. Sichtbar ist aber, dass nachfolgende Krisen sich jeweils mit den vorhergehenden berlagerten, was nicht zuletzt daran festzumachen ist, dass politische Akteure, die ihren Aufstieg der einen Krise verdankten, dann fr die Bewltigung der nchsten (oder bernchsten) verantwortlich wurden. Griechenland, sozusagen als erstes Krisenland, erlebte im Januar 2015 die Wahl einer radikalen Herausfordererpartei, Syriza, weil viele Whler und Whlerinnen dem langjhrigen Machtkartell von Nea Demokratia und PASOK die Hauptverantwortung fr die Malaise des Landes zuschrieben. Diese linkspopulistische Partei war es dann, die den Konflikt mit der Eurogruppe im Frhjahr und Sommer des Jahres eskalieren ließ, mit Oci-Referendum und Grexit-Drohung, zu einem Zeitpunkt, als Europas zweite Krise der jngsten Vergangenheit, die Flchtlingskrise, bereits anrollte. 2019 sah sich Syriza dann schon wieder aus dem Amt gewhlt. Als so viel besser als das der Altparteien schienen die griechischen Whler und Whlerinnen das Krisenmanagement dieser neuen Formation also auch nicht zu beurteilen: die „Veralltglichung des populistischen Charismas“ durch Regierungsverantwortung. In Italien und Spanien hingegen sind im Jahr 2020 (unter anderem) jene populistischen Protestparteien an der Macht, deren Aufstieg insbesondere mit den çkonomischen Verwerfungen in Verbindung steht, die die Eurokrise mit sich gebracht hatte – Movimento Cinque Stelle und Podemos, jeweils in Koalitionen mit den italienischen und spanischen Sozialdemokraten. In Osteuropa 7 Siehe zum epidemischen Geschehen etwa die Homepage des European Centre for Disease Prevention and Control, https://www.ecdc.europa.eu/en.
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hingegen tragen vor allem in Ungarn und Polen rechtspopulistische Parteien Regierungsverantwortung, die in den Wahlen der Jahre 2015, 2018 und 2019 von ihrer unversçhnlichen Haltung in der europischen Flchtlingspolitik und der klaren Abgrenzung zur Merkel-Regierung profitieren konnten: PiS und Fidesz. Die deutliche Niederlage der pro-europischen, liberalen Brgerplattform in den polnischen Parlamentswahlen vom Oktober 2015, zur Hochzeit der Migrationskrise, ist in diesem Kontext zu sehen. In der Zwischenzeit vollzog sich, als gravierender Einschnitt in der Geschichte der europischen Integration, mit dem Brexit auch erstmals der Austritt eines Mitgliedslandes aus der EU. Ukip oder die Nachfolgerpartei, die Brexit-Party, die diesen Austritt wesentlich vorangetrieben hatten, sind mittlerweile zwar vçllig marginalisiert, teils weil sie ihre Mission als erfllt ansehen kçnnen, teils weil das britische Mehrheitswahlrecht kleine Parteien besonders benachteiligt. Aber mit Boris Johnson ist ein – von vielen als populistisch charakterisierter – Brexiteer an der Regierung, und auch der Brexit selber ist ohne die beiden Vorgngerkrisen, „the Great Recession“ einerseits und die Migrationskrise andererseits, nicht zu verstehen.8 Europas potenzielle Spaltungslinien verlaufen also gegenwrtig nach berwiegend bekanntem Muster: zwischen Sd und Nord, Ost und West, zwischen links und rechts, nun aber zustzlich zwischen den populistischen Herausforderern – die sich mancherorts sogar in Regierungsverantwortung wiederfinden, aber mittlerweile berall in den Parlamenten vertreten sind – und den sogenannten etablierten Parteien. Wenn man Populismus wesentlich versteht als eine politische Reaktion auf die çkonomischen Verwerfungen der Globalisierung,9 und als deren europische Manifestation den Gemeinsamen Markt, wie er nach 1990 mit Maastricht, Schengen und dem Euro politisch und çkonomisch enorm intensiviert wurde, stellt sich die Frage nach dem politischen und vor allem populistischen „Fallout“ der Coronakrise fr dieses spezifische Globalisierungsprojekt. Dabei unterscheidet sich die Coronakrise jedoch auch in wichtigen Hinsichten von ihren beiden Vorgngerkrisen. Sie ist mit einer gewissen Spiegelbildlichkeit nicht Resultat der Verwerfungen, die aus den seit den 1990er Jahren sprunghaft gestiegenen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen folgen, sondern ihre zentrale wirtschaftliche Dimension ist durch den enormen Wohlstandseinbruch gekennzeichnet, der dann eintritt, wenn sich diese Verflechtungen urplçtzlich radikal reduziert finden. Ihr populistisches 8 Harold D. Clarke u. a., Brexit. Why Britain Voted to Leave the EU, Cambridge 2017; James Dennison u. Andrew Geddes, Brexit and the Perils of „Europeanised“ Migration, in: Journal of European Public Policy 25. 2018, H. 8, S. 1137 – 1153. Die Eurokrise betraf Großbritannien als nicht Euromitglied nur indirekt. Aber ihre Betrachtung wird den britischen Glauben an das europische Integrationsprojekt nicht befçrdert haben. 9 Manow, Die Politische konomie des Populismus; Dani Rodrik, Populism and the Political Economy of Globalization, in: Journal of International Business Policy 1. 2018, H. 1, S. 12 – 33.
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Potenzial ist daher auch wohl ein anderes. Nicht De-Globalisierung steht als politische Forderung im Raum, sondern die Frage lautet, welches Ausmaß an (Re-)Globalisierung sich unter Post-Corona-Bedingungen berhaupt wieder herstellen lsst. Die unmittelbaren politischen Reaktionen entsprachen ohnehin der Take-back-control-Agenda, die seit lngerem ein Kernelement des populistischen Protests ist. Es dominierten zunchst die traditionellen exekutiv-brokratischen Reflexe auf nationaler (und subnationaler) Ebene: Grenzen zu, die Renaissance wirtschaftlicher wie auch sicherheitspolitischer Autarkieplne, der Einsatz des Militrs „im Krieg“ gegen das Virus, das Schnren umfassender Konjunkturpakete et cetera. Jedes Land war zunchst mit sich selbst beschftigt und schien zuvçrderst auf sich selbst gestellt. Politik in Zeiten der Coronakrise sah plçtzlich nicht mehr nur aus wie die eher hilflose und immer nur reaktive Verwaltung von Sachzwngen in einer stark globalisierten Welt, sondern wie souvernes (und wesentlich re-nationalisiertes) Handeln, das einen Unterschied macht – und zwar einen nach Leben und Tod. Die çkonomischen Reaktionen auf den massiven Konjunktureinbruch mussten zunchst auch vorherrschend nationale sein, denn die komplizierten Abstimmungsprozesse und recht hohen Einigungshrden innerhalb der EU stehen ihrer Reaktionsschnelligkeit entgegen. Die Allgegenwrtigkeit europischer joint-decision traps10 verhindert in Normalzeiten jegliches Abweichen vom Integrationspfad, aber dann in Krisenzeiten eben auch zeitnahes Reagieren – oder nur in Form einer Politik des Ausnahmezustands, und das heißt jeweils auch: durch die situative Aufhebung des europischen Vertragswerks.11 Und bei einem Wirtschaftseinbruch in der Eurozone im Zuge der Pandemie von zwischen fnf im mildesten und zwçlf Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) im schlimmsten Szenario12 wrden sich mit einem EUHaushalt, der auf etwa ein Prozent des europischen BIPs begrenzt ist, auch nur begrenzt konjunkturelle Impulse setzen lassen. Der am 21. Juli auf einem EU-Gipfel beschlossene außerordentliche „Wiederaufbaufonds“ im Umfang von 750 Milliarden Euro (unter dem Namen „Next Generation EU“, mit der „Recovery and Resilience Facility“) prsentierte dann die fiskalische Krisen-
10 Fritz W. Scharpf, The Joint-Decision Trap. Lessons from German Federalism and European Integration, in: Public Administration 66. 1988, H. 2. S. 239 – 278. 11 Jonathan White, Emergency Europe, in: Political Studies 63. 2015, H. 2, S. 300 – 318. Was dann auch die jeweilige juristische Aufbereitung anbetrifft. So war es ein besonderes Beispiel fr die zeitliche „Krisenberlagerung“, dass das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Rechtmßigkeit des EZB-Anleihen-Aufkaufprogramms vom 5. 5. 2020 mitten in die Coronakrise fiel. 12 Niccol Battistini u. Grigor Stoevsky, Alternative Scenarios for the Impact of the COVID-19 Pandemic on Economic Activity in the Euro Area, in: ECB Economic Bulletin 3. 2020, https://www.ecb.europa.eu/pub/economic-bulletin/focus/2020/html/ecb.ebbox 202003_01~767f86ae95.en.html.
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antwort der EU –13 die, was die Zuweisungen fr einzelne Lnder anbetrifft, im Einzelfall durchaus die Grçßenordnung von bis zu zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts annehmen kann (allerdings gestreckt auf einen dreijhrigen Ausgabenzeitraum von 2021 bis 2023). Der Entschluss zur gemeinsamen Schuldenaufnahme ist dabei genau jene Ausnahmemaßnahme, die man fr einen nur in der Krise mçglichen außergewçhnlichen Integrationsschritt halten kann (der zudem europarechtlich auch nur in dieser Form, als einmalige Ausnahmemaßnahme, berhaupt zulssig scheint). Zugleich hat die Pandemie, obwohl sie die Lnder sehr unterschiedlich traf und diese Lnder aufgrund ihrer vorherigen Krisengeschichte in einem sehr unterschiedlichen Maße in der Lage sind, auf sie fiskalpolitisch zu reagieren, doch alle ohne Ausnahme getroffen. Auch Lnder, die – legt man Infiziertenund Verstorbenenzahlen zugrunde – die Pandemie bislang sehr gut bewltigten, sind doch mit einem massiven wirtschaftlichen Einbruch im europischen Wirtschaftsraum konfrontiert, zum Teil weil restriktive Shutdown-Maßnahmen zwar das Virus erfolgreich eindmmten, aber dafr auch die wirtschaftliche Aktivitt besonders radikal einschrnkten. Die unmittelbare Reaktion ist berall identisch: Krisen-Keynesianismus, also mehr Staatsausgaben, und das heißt, mehr Schulden. Was die neuen europischen Schulden anbetrifft, so stellt das vor allem eine verteilungspolitische Frage dar, und zwar eine, in der es um die Verteilung zustzlicher (durch europische Schuldenaufnahme „geschçpfte“) Gelder geht, deren Rckzahlung in die Zukunft verschoben ist (auf den Zeitraum 2028 bis 2058). Die sich hieraus ergebenden verteilungspolitischen Konflikte scheinen von vergleichsweise geringer Intensitt. Als Nebeneffekt der Coronapandemie ist auch das zweite Thema mit europischem Spaltungspotenzial, die Migration, sowohl tatschlich als auch in der Wahrnehmung momentan weniger dringlich. Dies wrde eher erwarten lassen, dass die Coronakrise nicht zu hnlichen innereuropischen Verwerfungen fhrt wie die vorherigen zwei, und kçnnte sogar Anlass zur Vermutung geben, die Krise wrde nun dem Integrationsprozess sogar neuen Schub verleihen. Trotzdem, so scheint es, sind die im Modus der intergouvernementalen Absprache abzusteckenden neuen europischen Handlungsspielrume jeweils durch die im „heimischen“ Parteienwettbewerb von populistischen Parteien artikulierte Integrationsskepsis beschrnkt. Das wird unter anderem auch ber Wahltermine vermittelt – wie bald sehen sich Regierungsparteien mit einem neuen Whlervotum konfrontiert? (Die Positionen der italienischen und der niederlndischen Regierungen auf dem EU-Gipfel vom Juli 2020 erklren sich unter anderem vor dem Hintergrund, dass im September in 13 Zsolt Darvas, The EU’s Recovery Fund Proposals. Crisis Relief with Massive Redistribution, 17. 6. 2020, https://www.bruegel.org/2020/06/the-eus-recovery-fund-proposalscrisis-relief-with-massive-redistribution/; ders., Having the Cake, But Slicing It Differently. How Is the Grand EU Recovery Fund Allocated?, 23. 7. 2020, https://www.brue gel.org/2020/07/having-the-cake-how-eu-recovery-fund/.
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sieben der zwanzig italienischen Regionen Parlamente gewhlt werden und in den Niederlanden im Mrz 2021 Parlamentswahlen anstehen; Forum und PVV sowie Lega und Fratelli fordern dabei die aktuellen Regierungsparteien unter anderem mit sehr prononcierter EU-Kritik heraus). Im europischen ZweiEbenen-Spiel14 kçnnen diejenigen ihre Interessen besonders gut wahren, die „zu Hause“ mit besonders europakritischen Strçmungen konfrontiert sind.15 Zumindest ist der Zusammenhang zwischen relativer Grçße der Zuweisungen aus der RR-Faszilitt und dem Ausmaß, mit dem ein Land von der Epidemie betroffen ist – entweder gemessen mit den Krankheits- oder Todeszahlen oder wirtschaftlich, nach prognostiziertem Einbruch des Bruttoinlandprodukts – ein besonders lockerer (fr den wirtschaftlichen Zusammenhang siehe Abbildung 1), whrend Logiken der Koalitionsbildung von „Norden“, „Sden“ und „Osten“ und der Verhinderung von Blockademinderheiten im Europarat eher das Verteilungsmuster erklren kçnnen.16 Anders ist zumindest schwer zu erklren, warum etwa ein Land wie Polen, das gut durch die Krise kam und in den letzten Jahren sehr hohe Wachstumsraten verzeichnete und sich ansonsten durch scharfe Anti-EU-Polemik und wiederholte Konflikte mit der Kommission im Bereich der Rechtsstaatlichkeit hervortat, von ebenjener Kommission so großzgig bedacht wurde.
II. Die Stunde der Exekutive? Krisen geben dem verantwortlichen Personal Gelegenheit zum tagtglichen Ausstellen von Entschlussfreude und Handlungsfhigkeit, bieten maximale ffentlichkeit, bestndiges „airplay“. Die jeweilige Opposition hingegen muss sich in diesen Zeiten der allgemeinen Bedrohung und des nationalen Zusammenstehens zurckhalten, sie dringt mit ihren Themen nicht mehr durch. Sie muss sich zudem vorsehen, in Zeiten existenzieller Bedrohung nicht wie der Querulant vom Seitenrand des Geschehens zu erscheinen. Ihr bleibt also nicht viel anderes brig, als auf grobe Schnitzer des handelnden Personals zu warten. Insofern waren gestiegene Zustimmungswerte fr die jeweils 14 Robert D. Putnam, Diplomacy and Domestic Politics. The Logic of Two-Level Games, in: International Organization 42. 1988, H. 4, S. 427 – 460. 15 Vgl. die Verteilung des EU Recovery Fonds. Darvas, The EU’s Recovery Fund Proposals; ders., Having the Cake. 16 „Erfahrene Haushaltsfachleute in der Europischen Kommission sagen dann auch hinter vorgehaltener Hand, es sei letztlich wie immer in Brssel, wenn es ums Geld gehe. Man berlege zuerst, wer das Geld bekommen solle, und suche sich anschließend den passenden Schlssel, um das zu rechtfertigen“. Hendrick Kafsack, Corona-Aufbaufonds der EU. Wer braucht das Geld wirklich?, in: FAZ, 22. 6. 2020, https://www.faz.net/aktuell/ politik/ausland/eu-wie-soll-der-corona-aufbaufonds-verteilt-werden-16825828.html. Der Zusammenhang zwischen der Pandemiebetroffenheit, etwa gemessen als Zahl der Infektionen oder der Toten per 100.000 Einwohner, und dem Umfang der Zuweisungen aus der Recovery and Resilience Facility ist ein negativer.
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Abbildung 1: Der Zusammenhang zwischen der Schwere des (prognostizierten) wirtschaftlichen Einbruchs und der Strke des konjunkturellen Impulses aus dem europischen Wiederaufbaufonds (die Kreisgrçße variiert mit der absoluten Hçhe des Zuweisungsbetrags). Quelle: Eigene Berechnungen nach Darvas, Having the Cake, https://www.bruegel.org/2020/ 07/having-the-cake-how-eu-recovery-fund/; Eurostat, Spring Economic Forecast, Brssel, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/api/files/attachment/865369/2020%20SEF% 20Tables_EN.pdf.
amtierende Regierung etwas, das zunchst ganz unabhngig vom einzelnen nationalen Kontext erwartet werden konnte. Selbst in den USA, wo fr jeden unbeteiligten Beobachter das Versagen der Trump-Administration im Management der Krise frh offenkundig sein musste, stiegen die Zustimmungswerte des Prsidenten zunchst. Die tgliche Pressekonferenz im Weißen Haus, die Dramatik des nationalen Notstands, die Reflexe des Zusammenstehens in Zeiten der allgemeinen Bedrohung das rallying behind the flag ist als Phnomen schon çfters beschrieben worden.17 Dass darin auch eine potenziell autoritre Komponente enthalten ist, ist offenkundig. Die Exekutive kann schnell Gefallen finden an den neuen Verhltnissen: Die spanische Regierung ließ in den virtuellen Pressekonferenzen nur noch vorab 17 Fr die Coronakrise siehe Andr Blais u. a., COVID-19 Lockdowns Have Increased Support for Incumbents, Trust in Government, and Satisfaction with Democracy, in: VoxEU, 7. 5. 2020, https://voxeu.org/article/rallying-effect-lockdowns.
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ausgewhlte Fragen zu und erlaubte kein kritisches Nachhaken der Journalisten und Journalistinnen, die italienische Regierung richtete unter dem Motto des Kampfes gegen Fake News einen Stab ein, der die Aufgabe hat, die „richtige“ Darstellung der Krise in der ffentlichkeit zur Geltung zu bringen und die „falsche“ zu bekmpfen. Es war auch nicht gerade ein Ausweis eines pluralistisch-liberalen Verstndnisses çffentlicher Meinungsvielfalt, als die Bundeskanzlerin meinte, mit ihrem Verdikt „ffnungsdiskussionsorgien“ eine kritische Debatte der Shutdown-Maßnahmen unterbinden zu kçnnen. Die polnische Regierung wollte die Gunst der Stunde dazu nutzen, die hohe Zustimmung zu ihrer Krisenpolitik und die Mobilisierungsschwierigkeiten der Opposition in Coronazeiten geschmeidig in eine zweite Amtszeit von Prsident Duda zu bersetzen. Bekanntlich hat die ungarische Notstandgesetzgebung, mit ihrer zeitlich unbeschrnkten Ermchtigung der Regierung zur Einschtzung gefhrt, hier habe sich die erste Corona-Autokratie auf europischem Boden etabliert. Die entsprechenden Vollmachten wurden allerdings im Mai wieder aufgehoben. Insofern wurde die besorgte Frage, wie die Demokratie durch die Pandemie kommen wrde (insbesondere, wenn sie durch populistische Vorerkrankungen geschwcht sei), vielfach gestellt. Bislang zeigt sich allerdings ein hohes Maß an demokratischer Resilienz.18 Wenn wir politische Umfragen seit Beginn des Jahres als Indikator fr die Zustimmung zu den jeweiligen nationalen Krisenpolitiken nehmen, zeigt sich allerdings, dass der Rallying-Effekt einer politischen Ausnahmesituation sich nicht berall gleichermaßen findet. Der Vergleich zwischen den Zustimmungswerten des linkspopulistischen Movimento Cinque Stelle als Regierungspartei und denen der rechtspopulistischen Fratelli dItalia in der Opposition auf der einen Seite (Abbildung 2, linkes Panel) – mit denen der deutschen Christdemokraten und der AfD auf der anderen (rechtes Panel) – kann das besonders verdeutlichen. Auf sehr viel niedrigerem Niveau, und konfrontiert mit sehr vokaler oppositioneller (rechtspopulistischer) Kritik, konnte das Movimento Cinque Stelle als Regierungspartei erst etwa ab Mitte April eine leichte Trendwende bei ihren zuvor stetig sinkenden Popularittswerten erreichen. Von der Krise profitieren konnten zunchst eher die Fratelli d’Italia (interessanterweise nicht die Lega unter Matteo Salvini, der sich frh als prononcierter Kritiker des harten Lockdowns der italienischen Regierung positioniert und sich damit angesichts 18 Amanda B. Edgell u. a., An Update on Pandemic Backsliding. Democracy Four Months After the Beginning of the Covid-19 Pandemic, in: Varieties of Democracy Institute (Hg.), Policy Brief 24. 2020, http://homepage.ntu.edu.tw/~hanstung/Home_files/vdem_policybrief-24_update-pandemic-backsliding_200702.pdf; dies. u. a., Pandemic Backsliding. Democracy During Covid-19 (PanDem), Version 3, in: Varieties of Democracy Institute (Hg.), 2020, https://www.v-dem.net/en/analysis/PanDem/; Anna Lhrmann u. a., Does the Coronavirus Endanger Democracy in Europe?, in: Carnegie Endowment for International Peace, 23. 6. 2020, https://carnegieeurope.eu/2020/06/23/ does-coronavirus-endanger-democracy-in-europe-pub-82110.
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Abbildung 2: Umfragewerte von M5S und Fratelli d’Italia, links, sowie CDU und AfD, rechts. Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Daten Europe Elects, https://euro peelects.eu/data/.
des bald erkennbaren Ausmaßes der Krise politisch grob verschtzt hatte). Die sehr deutlich gestiegenen Zustimmungswerte der deutschen Christdemokraten, von um die 27 Prozent zu Anfang des Jahres auf knapp unter vierzig Prozent im Juni 2020, bei einem stetigen Verlust der oppositionellen AfD, entsprechen hingegen vollstndig der Annahme des „politischen Mehrwerts“, den eine Krise den handelnden Akteuren beschert. Dabei ist einschrnkend anzumerken, dass – wie schon in den vorherigen Krisen – dies nicht gleichermaßen fr den kleineren Koalitionspartner gilt, sei es fr die FDP whrend der Eurokrise (sie scheiterte bekanntermaßen in der Bundestagswahl 2013 an der Fnfprozenthrde, whrend die CDU / CSU die absolute Mehrheit der Bundestagssitze nur knapp verfehlte), wie fr die SPD nach 2013. Auch jetzt schaffen es die deutschen Sozialdemokraten nicht, aus ihrem momentanen Umfragetief von um die 15 Prozent zu kommen. Zugleich gibt es erste Anzeichen zu einer leichten Korrektur von Auf- und Abstiegsbewegungen zwischen Regierung und Opposition im Deutschen Bundestag. Betrachten wir hingegen die Vernderungen in der Zustimmung fr die Parteien ber mehrere Lnder hinweg unterschieden nach (fhrender) Regierungspartei und (fhrender) Oppositionspartei sowie nach links- und rechtspopulistischen Parteien,19 lsst sich ein „Stunde der Exekutive“-Effekt feststellen, der zunchst parallel zur Pandemie selber verlief, aber im 19 Matthijs Roodujin u. a., The PopuList. An Overview of Populist, Far Right, Far Left and Eurosceptic Parties in Europe, o. D., https://popu-list.org/.
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Frhsommer 2020 bereits deutlich abgeflacht war. Zugleich wird sichtbar, dass sich der Zuspruch, den populistische Parteien erhalten, im Zeitverlauf wenig verndert hat – was unter anderem damit zusammenhngt, dass populistische Parteien teilweise eben auch als Regierungsparteien vom exekutiven Effekt profitieren. Grundlage meiner Analyse sind Umfragen fr die Lnder Dnemark, Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien, Niederlande, sterreich, Polen, Schweden, Spanien und Ungarn seit dem ersten Januar 2020.
Abbildung 3: Umfragewerte der (fhrenden) Regierungs- und Oppositionsparteien und rechts beziehungsweise linkspopulistischer Parteien. Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Daten von Europe Elects, https:// europeelects.eu/data/.
Fr prsidentielle Systeme lassen sich vergleichbare Umfragewerte weniger gut auf der Ebene von Parteien ermitteln, da Politik hier personalisierter ist. Entsprechend sind es die Zustimmungswerte („approval ratings“) der jeweiligen Prsidenten, die uns ein vergleichbares Bild liefern kçnnen.20 Abbil-
20 Es scheint bemerkenswert, dass persçnliche Zustimmungswerte von den Umfragewerten der jeweiligen Parteien weit entfernt sein kçnnen – und dass dies vermutlich insbesondere fr diejenigen neuen politischen Formationen gilt, die fr sich gerade bestreiten, den Charakter einer „Partei“ zu haben, und die stattdessen lieber „Bewegung“ sein wollen. So erhielt der parteilose, aber vom Movimento Cinque Stelle nominierte italienische Ministerprsident Guiseppe Conte in der Krise Zustimmungswerte von 71 Prozent, whrend sich zugleich das M5S in Umfragen bei etwa 15 Prozent befand.
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Abbildung 4: „Approval ratings“ fr Trump, Macron und Bolsonaro. Quelle: Eigene Berechnungen nach Wikipedia, Opinion Polling on the Emmanuel Macron Presidency, o. D., https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_on_the_Emmanuel_Ma cron_presidency; Wikipedia, Opinion Polling on the Jair Bolsonaro Presidency, o. D., https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_on_the_Jair_Bolsonaro_presidency; Five ThirtyEight, How (Un)Popular Is Donald Trump?, https://projects.fivethirtyeight.com/ trump-approval-ratings/. Whrend die Ratings in den Umfragen fr Emmanuel Macron und Donald Trump zwischen „approval“ und „disapproval“ unterscheiden (nur ersteres ist hier berichtet), differenzieren die brasilianischen Umfragen die Beurteilung der Prsidentschaft nach „good / excellent“, „regular“ und „bad / terrible“. Nur die erste Berichtskategorie ist hier berichtet.
dung 4 zeigt Umfrageergebnisse seit Januar 2020 fr Emmanuel Macron, und als Vergleichsflle fr Donald Trump sowie Jair Bolsonaro. In verschieden deutlicher Ausprgung und auf recht unterschiedlichen Niveaus zeigen alle drei Kurvenverlufe einen kurzfristigen Zugewinn an Zustimmung zu Beginn der Krise und nachfolgend einen teils deutlichen Verlust – teils als Rckfall auf das vor der Coronakrise vorherrschende Niveau (Macron), teils darunter (Trump, Bolsonaro). Fr Macron ist allerdings ebenfalls ein – vor allem nach dem EU-Gipfel Ende Juli – ausgeprgter Zustimmungsgewinn zu verzeichnen, Bolsonaro hat mit umfangreichen Conditional-Cash-Transfer-Programmen, die auf die sehr arme Bevçlkerung zielen, einen plçtzlichen Popularittssprung zu verzeichnen. Doch was erklrt die Unterschiede in den Zustimmungsgewinnen und -verlusten? Dieser Frage will ich abschließend kurz nachgehen.
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III. Was erklärt die Unterschiede? Wenn wir die Differenz zwischen den Zustimmungswerten auf Parteiebene zwischen erster und vorerst letzter im Zeitraum vom ersten Januar bis zum 29. Juli 2020 durchgefhrten Umfrage als abhngige Variable betrachten, und zunchst in dem einfachsten Modell als unabhngige Variablen nur danach fragen, ob eine Partei an der Regierung oder als populistisch einzuschtzen ist, zeigt sich trotz mittlerweile offensichtlichem Abklingen des Rallying-Effekts (vgl. Abbildung 3) ein signifikanter Zugewinn fr Regierungsparteien (im Durchschnitt von nahezu drei Prozent) und ein recht signifikanter Verlust der Populisten (von im Durchschnitt knapp zwei Prozent). Tabelle 1: Durchschnittliche Effekte auf die Zustimmungsveränderung DZustimmung Regierungspartei Populistische Partei Konstante R2 N
2.82 (3.6)** -1.834 (2.34)** -0.244 (0.64) 0.16 96
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