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German Pages 464 Year 1993
Conditio Judaica Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938 Dritter Teil
Conditio Judaica Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938 Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v. d. H. Dritter Teil Herausgegeben von Hans Otto Horch und Horst Denkler
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Conditio Iudaica] Conditio Judaica : Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur ; interdisziplinäres Symposion der Wemer-Reimers-Stiftung Bad Homburg / hrsg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. - Tübingen : Niemeyer. NE: Horch, Hans Otto [Hrsg.]; Werner-Reimers-Stiftung Teil 3. Vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938. - 1993 ISBN 3-484-10690-5
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Großbuchbinderei Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
Vorwort Arno Herzig (Hamburg): Zur Geschichte des politischen Antisemitismus in Deutschland (1918-1933)
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Wolfgang Häusler (Wien): Vom Antisemitismus des Wortes' zum .Antisemitismus der Tat'. Das österreichische Beispiel 1918-1938
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Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck): Judentum, Antisemitismus und Literatur in Österreich 1918-1938
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Michael Schmidt (Berlin): Im Westen eine .Wissenschaft' ... Antisemitismus im völkisch-faschistischen Roman der Weimarer Republik
92
Ingrid Belke (Marbach): Publizisten warnen vor Hitler. Frühe Analysen des Nationalsozialismus
116
Joachim Dyck (Oldenburg): Zur Rhetorik des Antisemitismus
177
Christoph Daxelmüller Wissenschaft? (Regensburg): Volkskunde eine antisemitische
190
Jens Malte Fischer (München): Das Judentum in der Musik'. Kontinuität einer Debatte
227
Hanni Mittelmann (Jerusalem): Expressionismus und Judentum
251
Klaus Müller-Salget (Bonn): .Herkunft und Zukunft4. Zur Wiederentdeckung des Judentums in den zwanziger Jahren (Arnold Zweig, Döblin, Feuchtwanger)
260
VI
Inhalt
Chaim Shoham (Haifa): Kosmopolitismus und jüdische Nationalität. Lion Feuchtwangers Josephus-Trilogie
278
Hans-Peter Bayerdörfer (München): Shylock in Berlin. Walter Mehring und das Judenporträt im Zeitstück der Weimarer Republik
307
Margarita Pazi (Tel Aviv): Der .Prager Kreis'. Ein Fazit unter dem Aspekt des Judentums
324
Roberta Malagoli (Bonn): Margarete Susman und der deutsch-jüdische Dialog
351
Manfred Voigts (Berlin): Oskar Goldberg und Thomas Mann. Die Revision eines Fehlurteils
363
Anat Feinberg (Stuttgart): Der permanente Ruhestörer: Juden in der deutschen Nachkriegsliteratur. Ein Ausblick
380
Anhang Heinz Knobloch (Berlin): Judenporzellan
391
Hermann Simon (Berlin): Das Berliner Jüdische Museum (1933-1938). Aufbau und Widerstand im Untergang
393
Walter Grab (Tel Aviv): Der Kreis für fortschrittliche Kultur in Tel Aviv (1942-1946)
398
Florian Krobb (Dublin) und Stefan Wirtz (Aachen): Über Judentum und Antisemitismus in Geschichte und Literatur zwischen 1917/18 und 1933/38: Grundzüge der Diskussion
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Personenregister
433
Teilnehmerliste
452
Vorwort der Herausgeber
Nachdem in einem ebenfalls interdisziplinär ausgerichteten und international besetzten zweiteiligen Symposion der Werner-Reimers-Stiftung (Sektion I ( 9. bis 14. März 1987; Sektion II 14. bis 19. März 1988) das Thema „Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur" für den Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg behandelt worden ist (die entsprechenden Sammelbände erschienen 1988 und 1989 im Max Niemeyer Verlag Tübingen), konnte nun der Themenkomplex abschließend für den Zeitraum vom Ersten Weltkrieg bis zum Beginn des Dritten Reichs 1933 (bzw. 1938 in Österreich) diskutiert werden. Obwohl weder die Weimarer noch die österreichische Verfassung politische oder rechtliche Restriktionen für die jüdischen Bürger enthielt und Juden in dieser Zeit zum ersten Mal in der deutschen und österreichischen Geschichte wirklich freien Zugang zu allen Berufen hatten, blieben gesellschaftliche Barrieren bestehen, da weder die weiterhin politisch aktiven Oberschichten des Kaiserreichs bzw. der Doppelmonarchie noch das Bürgertum und damit ein Teil der Intellektuellen durchgängig bereit waren, die Vorurteile Juden gegenüber aufzugeben. Das Kleinbürgertum hatte sich ohnehin seit langem als tragende Schicht antisemitischer Tendenzen herausgestellt, und auch Teile der Arbeiterschaft blieben anfällig für eine antikapitalistisch-antijüdische Argumentation. Als die Republiken vor und nach 1933 in die Krise gerieten, brach der Widerstand gegen die antidemokratischen Kräfte, zu deren Integrationsideologie vor allem auch die Antisemitismen verschiedenster Färbung gehörten, schnell zusammen; Antisemitismus wurde nach 1933 ohne jede Verkleidung Bestandteil offizieller staatlicher Politik. Ein zentrales Ergebnis der Debatten des abschließenden dritten Symposions kann dahingehend zusammengefaßt werden, daß alle wesentlichen allgemein kulturellen und speziell literarischen Entwicklungen in bezug auf das deutsch-jüdische Verhältnis bereits vor dem Ende des Ersten Weltkriegs abgeschlossen waren, die entsprechenden Argumentationsmuster also bereitstanden. Dies gilt für die inneijüdische Diskussion über Emanzipation, Akkulturation und Assimilation einerseits und über Nationaljudentum und Zionismus andererseits, die sich entsprechend der politischen Lage nach dem Ersten Weltkrieg nur weiter zuspitzte; es gilt aber
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Vorwort
auch für den Komplex des Antisemitismus, dessen ,moderne' Spielart eines biologisch-rassistisch begründeten Judenhasses bereits in der Kaiserzeit entstand und mit ihren Wurzeln - sieht man von der , Blut'-Diskussion im Umkreis der Marranen-Problematik im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts ab - bis zu Johann Gottlieb Fichte, also in die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zurückreicht. Neben dem Rassenantisemitismus blieb auch die religiös motivierte Judenfeindschaft virulent, ebenso das ökonomisch begründete Ressentiment. Ohnehin lassen sich die verschiedenen Spielarten des Antisemitismus - der primär religiös begründete, der ökonomisch argumentierende und der rassistisch motivierte - nur kategorial und heuristisch trennen, in der Praxis bilden sie eine fatale Mixtur. Alle Referate des Sympositions lassen sich auf die beiden bereits benannten Komplexe des Antisemitismus sowie der - von ihm meist unmittelbar beeinflußten - innerjüdischen Diskussion beziehen. Zunächst zum Antisemitismus. Den beiden historischen Vorträgen über politisch-historische Grundlinien des Antisemitismus in der Weimarer Republik (Arno Herzig) und in Österreich (Wolfgang Häusler) schließen sich Referate von Michael Schmidt und Sigurd Paul Scheichl über dezidiert antisemitische Literatur an. Antisemitische Bestseller wie Artur Dinters bereits 1917 erschienener Roman Die Sünde wider das Blut sind allerdings eher selten; der literarische Antisemitismus, sofern er sich nicht in primitiven Traktaten und Flugschriften manifestiert, deren Gefährlichkeit für kleinbürgerliche Schichten auf der Hand liegt, versteckte sich in negativen jüdischen Nebenfiguren von Dramen oder Romanen oder in kritischen Urteilen über kulturelle Phänomene, wie sie sich der antisemitischen Sicht seit langem darstellten. So operiert beispielsweise die Musikkritik dem Beitrag von Jens Malte Fischer zufolge nach dem Muster der Schrift Richard Wagners über Das Judentum in der Musik (1850/69) sowie der späten Wagnerschen Regenerationsschriften - was für die Wirkungsgeschichte eines Gustav Mahler wie eines Arnold Schönberg fatale Auswirkungen bis über das Dritte Reich hinaus hat. Auch Joachim Dyck verweist auf die Kontinuität einer Rhetorik des Antisemitismus, deren aggressive Spielart in der .Systemzeit' weniger mit dem traditionellen rhetorischen Instrumentarium zu fassen ist als mit Begriffen aus der sozialpsychologischen Analyse des Faschismus: auffällig ist eine dichotomisch-manichäische Struktur des Denkens, die auf die Absolutsetzung »soldatischer Männlichkeit' hinausläuft. Die Wissenschaft der .Volkskunde' hat bereits in ihren Anfängen, bei Jahn und Riehl, eine antisemitische Schlagseite, die mit dem ominösen Begriff des Volks selbst zusammenhängt. Die von Max Grunwald 1898 gegründete „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" versuchte diese Schlagseite aus jüdisch-kulturanthropologischer Sicht zu korrigieren, letztlich ohne jeden Erfolg, wie noch die Geschichte der Volkskunde nach 1945 belegt (Christoph Daxelmüller). Sehr konkret bezüglich
Vorwort
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ihrer antisemitischen Wirksamkeit wurden von Dietz Bering jüdische Namenswitze analysiert1 - mit dem erstaunlichen Ergebnis, daß reale und fiktionale Namen (also solche, die sich z.B. in Adreßbüchern nachweisen lassen, und solche, die etwa in jüdischen Witzsammlungen vorkommen) gänzlich verschiedene Areale ausmachen. Die appellative Herkunft der (den Juden oft aufoktroyierten) Namen wird ständig reaktiviert, weshalb in Witzen möglichst immer neue, noch nicht durch den Prozeß onomasiologischer Dissoziation aufs Individuum eingeschliffene Namen gewählt werden. Eine ,elitäre' und damit für Intellektuelle (u.a. der ,grünen' Bewegungen) durchaus gefahrliche Spielart von Antisemitismus stellt nach Gert Mattenklott der Neupaganismus eines Alfred Schuler und Ludwig Klages dar: im Sinn einer universalen antiaufklärerischen Ökophilosophie wird die .kosmische' Weltanschauung der Römer und Germanen der ,molochitischen' der Semiten gegenübergestellt, die dem „fressenden Brand des Kapitalismus" Vorschub leistet und damit für alle Weltkatastrophen verantwortlich gemacht wird. Daß neben Karl Wolfskehl und Friedrich Gundolf der gesamte George-Kreis in diesem Sinn der ,molochitisch'-modemen Seite zugehört, bedarf keiner Hervorhebung.2 Es mag mit diesen im ganzen doch sehr vielfältigen Spielarten des Antisemitismus zusammenhängen, daß sich demokratisch gesinnte Intellektuelle vor Beginn des Dritten Reichs schwer taten, die kommende Gefahr in ihrer Spezifik angemessen einzuschätzen: weder Theodor Heuss noch Konrad Heiden konnten sich von einer auf die Person Hitlers fixierten Betrachtung lösen, während die systematische marxistische Analyse Ernst Ottwalts - anders als die offiziöse Linie der Komintern - immerhin der Beurteilung des Antisemitismus breiten Raum einräumte (Ingrid Belke). Die innerjüdische Diskussion verläuft nicht unabhängig von der Bedrohung durch den Antisemitismus. Dies gilt bereits für die utopischen Entwürfe der expressionistischen Generation, deren Exponenten zur Hälfte Juden waren und von daher besonders intensiv über Fragen der Gemeinschaft und der Humanisierung der menschlichen Gesellschaft nachdachten (Hanni Mittelmann). Auch ein Zeitstück wie Walter Mehrings Der Kaufmann von Berlin (Hans-Peter Bayerdörfer) und seine zeitgenössische Rezeption reflektieren das komplexe Verschlungensein von Judendarstellung und antisemitischer Markierung: hatte Mehring im Rückgriff auf Shakespeares Shylock-Figur in The Merchant of Venice das liberale (jüdische) Bürgertum dazu zwingen wollen, sich selbst und seine gesellschaftliche Stellung auch im Shylock-Gewand des ein Freikorps finanzie1
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Dieser Beitrag ist nicht im Sammelband enthalten. Vgl. jedoch Dietz Bering: Kampf um Namen. Bernhard Weiß gegen Joseph Goebbels. Stuttgart: Klett-Cotta 1991. S. 195-224. In diesem Abschnitt geht es um „Namen in jüdischen Witzen" und um den „jüdischen Namenswitz", die von Goebbels antisemitisch funktionalisiert werden. Dieser Beitrag ist nicht im Sammelband enthalten.
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Vorwort
renden Ostjuden Kaftan zu erkennen und nicht nur, wie üblich, im Gewand des edlen Juden Nathan, so führte die allein auf den Klassenantagonismus abzielende Inszenierung Erwin Piscators zu einem Theaterskandal, der, wie die Kritik ausweist, kaum Erkenntnisse über die wirkliche Lage am Ende der Weimarer Republik ermöglichte. Demgegenüber kann man verschiedenen Versuchen Arnold Zweigs, Alfred Döblins und Lion Feuchtwangers, die Lage der Juden mit Blick auf das Ostjudentum zu analysieren, Hellsicht nicht absprechen (Klaus Müller-Salget): alle drei Autoren akzeptieren schließlich die Neuorientierung der Judenheit als Gemeinschaft und ihre (von den Verhältnissen erzwungene) Ansiedlung in Palästina, auch wenn sie selbst am Konzept des Kosmopolitismus, eines Lebens „in der Welt" und „für die Welt", im Zeichen eines universalen Humanismus festhalten. Die Konzeptionsänderung von Lion Feuchtwangers Josephus-Roman ist dafür ein wichtiges Indiz: was als Roman einer jüdisch-römischen Karriere begonnen hatte, endet in einer verspäteten Wiederkehr, einer Heimkehr in die jüdische Heimat (Chaim Shoham). Der unter dem Einfluß von Martin Buber stehende ,Prager Kreis' hat es leichter als etwa Döblin oder Feuchtwanger, die Lage der Juden nach dem Ersten Weltkrieg in der Tschechoslowakei und in Europa realistisch einzuschätzen: neben Max Brod stellen Oskar Baum, Ludwig Winder, Franz Werfel, Ernst Weiss, Paul Kornfeld, Franz Carl Weiskopf und Egon Erwin Kisch in ihren Romanen, Dramen und Erzählungen immer wieder jüdische Figuren und ihre durch den Antisemitismus hervorgetriebenen oder verschärften Probleme illusionslos dar (Margarita Pazi). Hannah Arendt hat zu Recht unterstrichen, daß die jüdische Identitätsfrage durch den Antisemitismus in besonderer Weise gestellt werde. Das Werk von Margarete Susman ist dafür ein besonders eindrucksvoller Beleg (Roberta Malagoli). Angeregt zunächst vom George-Kreis und von Georg Simmel, wandte sie sich unter dem Einfluß Martin Bubers und Franz Rosenzweigs sowie des Schweizers Leonhard Ragaz Fragen des jüdisch-christlichen Dialogs zu. Der spezifische Messianismus jüdisch-christlicher Provenienz mündet in die Begriffe Liebe und Hoffnung. Mit der Figur Hiobs aber wird die Frage der Theodizee gestellt: zunächst aufgeworfen als Thema Franz Kafkas, wird schließlich das jüdische Schicksal angesichts der Shoah im Zeichen Hiobs beschrieben. Zweifellos kommt der Existenzanalyse Margarete Susmans im Zusammenhang mit der inneijüdisehen Debatte, aber auch im Zeichen des jüdisch-christlichen Dialogs eine besondere Bedeutung zu. Eher umstritten ist dagegen die intellektuelle Potenz des Mythologen Oskar Goldberg, der mit seinem Buch Die Wirklichkeit der Hebräer (1925) zwar viele Intellektuelle an- und aufgeregt hat, u.a. Walter Benjamin und Gershom Scholem, aber in sich zu widersprüchlich ist, um eine andere als vorübergehende Wirkung haben zu können. Goldbergs Einfluß auf Thomas Manns Joseph-Tn\og\e - Mann hat ihn später im Chaim Brei-
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sacher des Doktor Faustus negativ porträtiert - ist gleichwohl offensichtlich (Manfred Voigts). Der als Ausblick gedachte Beitrag von Anat Feinberg leitet über zur entscheidenden Fragestellung nach dem Ende der Naziherrschaft: wie nämlich die Shoah, der .Holocaust' literarisch verarbeitet werden könne. Auch hier spielen figurale jüdische Klischees eine gewichtige Rolle, die je nach Einstellung der Autoren und der Leser zu unterschiedlichen Lesarten führen können. Zwei weitere Beiträge gehörten - neben einer öffentlichen Lesung zum Rahmenprogramm des Symposions; sie werden im Anhang, zusammen mit einem Diskussionsbericht, abgedruckt. Diese Beiträge sind zwar nicht unmittelbar auf die Thematik im engeren Sinn bezogen, zielen aber von der Peripherie und vom Ende her durchaus auf den zentralen Kern der Debatte. Hermann Simon informierte unter dem Stichwort „Aufbau und Widerstand im Untergang" über Gründung und Funktion des Berliner Jüdischen Museums in den Jahren 1933 bis 1938. Die öffentliche Lesung Heinz Knoblochs stand unter dem Titel ,Mißtraut den Grünanlagen. Spurensuche in Berlin' und bezog sich damit auf die stadtgärtnerisch gestaltete Rasenfläche, unter der der alte jüdische Friedhof mit Moses Mendelssohns Grab verschwunden ist; ausgewählt wurden Texte des Autors, die sich mit dem deutsch-jüdischen Verhältnis seit Mendelssohn befassen. Für den vorliegenden Sammelband hat Knobloch eigens ein Feuilleton über ,Judenporzellan' geschrieben. Walter Grab erinnerte - unter Beteiligung seiner Frau Alisa sowie des Ehepaars Ernst und Regina Loewy - an den „Kreis für fortschrittliche Kultur" in Tel-Aviv, in dem von 1942 bis 1946, also in der entscheidenden Phase des Zweiten Weltkriegs, deutschsprachige Exilierte deutsche Kultur pflegten und bewahrten - zunächst mit traditionsorientierten Lesungen und Vorträgen aus den Klassikern, dann zunehmend mit politischem, sozialistischem Akzent. Dabei machte Grab auf Hans Rosenthal (1906-1950), einen fast verschollenen proletarischen Exilautor, aufmerksam, dessen Gesamtwerk noch unveröffentlicht ist. Zu beiden angesprochenen Komplexen - Exil- und Holocaustliteratur gab es bereits spezielle Symposien; die diesen Themen gewidmeten Beiträge sollten im Rahmen des Symposions Anlaß sein, vom Ende her noch einmal die gesamte Entwicklung dessen in Erinnerung zu rufen, was das deutsch-jüdische Verhältnis im Spiegel von Literatur und Kultur ausmacht. Mit »Conditio Judaica Teil III' liegt nun die Dokumentation eines interdisziplinär angelegten Forschungsgesprächs über Probleme der deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland und Österreich vollständig vor. Mit ihren mehr als 50 Vorträgen gehört die entsprechende Symposien-Reihe der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v.d.H. sicher zu den umfangreichsten und anspruchsvollsten Unternehmungen auf
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Vorwort
diesem bisher systematisch noch immer unzureichend erforschten Gebiet; die in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Besprechungen und Rezensionen der ersten beiden Bände der Dokumentation3 zeigen, daß Idee und Durchführung der Symposien einem allgemeinen Interesse am Gegenstand entsprechen. Es ist gleichwohl selbstverständlich, daß auch diese Symposien-Reihe nicht zu einer abschließenden Klärung der komplexen Probleme deutsch-jüdischer Literatur- und Kulturgeschichte gelangen konnte, zumal sich nicht alle Themenwünsche erfüllen und alle Vorträge zum Druck befördern ließen. So bleibt es beim ,,geplante[n] Mosaik, für das man nicht alle Steine zur Verfügung" hat (Wolfgang Paulsen)4, dessen Teilchen jedoch einzelne Fragen schärfer formulieren helfen und so zu größerer Klarheit der Problemlage beitragen. Aufgabe des Lesers ist es, wie Paulsen empfiehlt, eine Synthese der hier versammelten Problemaufrisse und Lösungsansätze zu versuchen. Die Teilnehmer des dritten Symposions - ebenso wie die der beiden vorangegangenen Symposien - empfanden die Gastfreundschaft der Werner-Reimers-Stiftung als überaus förderlich für ihre Diskussionen über ein ebenso bedeutsames wie schwieriges Thema. Daß die Stiftung neben dem ursprünglich geplanten einmaligen Symposion zwei zusätzliche Folgeveranstaltungen bewilligt und damit eine Debatte ohne Zeitdruck ermöglicht hat, gehört zu den besonderen Vergünstigungen, für die die Organisatoren und Herausgeber zu Dank verpflichtet sind. Stellvertretend für alle Mitarbeiter der Stiftung gilt unser Dank dem Vorstand der Reimers-Stiftung, Herrn Konrad von Krosigk, sowie Frau Gertrude Söntgen. Für die Korrektur des Sammelbandes und für das Erstellen des Personenregisters sind wir schließlich Frau Beate Wunsch zu Dank verpflichtet. Aachen und Berlin, im Juni 1992
Hans Otto Horch Horst Denkler
Zu Teil I (1987, Druck 1988) liegen u.a. folgende Tagungsberichte, Besprechungen und Rezensionen vor: Frank Schirrmacher (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 64, 17. März 1987, S. 27); Matthias Richter (Germanistik 29, 1988/4, Nr. 5781); Rainer Erb (Jüdische Allgemeine Wochenzeitung Nr. 44/9, 3. März 1989); Ernst-Peter Wieckenberg (Süddeutsche Zeitung Nr. 68, 22. März 1989); Armin A. Wallas (Mnemosyne. Zsch. f. Geisteswissenschaften H. 5, April 1989, S. 63-66); Hans-Joachim Neubauer (Augustin-News Aachen, 2/1989, S. 21); Margarita Pazi (Zsch. f. Dt. Philologie 108, 1989, H. 4, S. 621625; Sander L. Gilman (Monatshefte Wisconsin, 82/1, 1990, S. 82-84). - Zu Teil II (1988, Druck 1989) gibt es bisher den Tagungsbericht von Frank Schirrmacher (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 70, 23.3.1988, S. 27) und u.a. folgende Besprechungen und Rezensionen: Rainer Hoffmann (Neue Zürcher Zeitung, 30. März 1988); Jacques Le Rider (Austriaca 1991, S. 151f.); Matthias Richter (Germanistik 31, 1990/3, Nr. 3817). Zu Teil III (1991) vgl. den Tagungsbericht von Gert Mattenklott (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 63, 15. März 1991). Vgl. Wolfgang Paulsen in seiner Betrachtung über die beiden ersten Teile von Conditio Judaica (CoUoquia Germanica 23, 1990, H. 3-4, S. 384-386, hier S. 386).
Arno Herzig (Hamburg)
Zur Geschichte des politischen Antisemitismus in Deutschland (1918-1933)
Die 14 Jahre der Weimarer Republik sind die einzige Zeit in der fast über 1900jährigen Geschichte der Juden in Deutschland, in der es für diese Minderheit keine gesonderten Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsmaßnahmen gab, in der uneingeschränkte Aufstiegsmöglichkeiten bestanden. Vergegenwärtigt man sich diesen Sachverhalt, so fällt es schwer, in den Jahren der Weimarer Republik das Vorspiel des völkermordenden nationalsozialistischen Antisemitismus zu sehen.1 Das abrupte und in dieser Form unvorstellbare Ende des europäischen Judentums bestimmt den Historiker sehr stark, die Weimarer Periode nur als Stufe einer Klimax zum Holocaust zu begreifen. Die großen kulturellen Beiträge der Juden zur deutschen Kultur dieser Jahre nehmen sich dabei aus wie ein Tanz auf dem Vulkan. Dennoch: Das Ende war nicht zwangsläufig, so sehr sich auch der Himmel schon in dieser Zeit verfinsterte. Hatten die meisten Juden, die 1914 begeistert in den Krieg zogen, mit diesem das Ende aller Einschränkungen und die vollständige Emanzipation erwartet, so mochte die Verfassung von 1919 diese Erwartungen erfüllen, die Bereitschaft der Gesellschaft zu einer hier vorgegebenen Verfassungswirklichkeit bestand jedoch nicht. Die seit der Kaiserzeit antisemitisch bestimmten politischen und kulturellen Milieus garantierten keineswegs eine endgültige Integration der jüdischen Minderheit; sie drohten vielmehr gerade den Antisemitismus als Vehikel zu benutzen, um die unerwartete (und wie man meinte, durch Verrat herbeigeführte) Niederlage und die daraus resultierende Wirtschaftskatastrophe zugunsten einer neuen nationalen Identität zu überwinden. Trotz der gemeinsamen antijüdischen Haltung war es in der Kaiserzeit nicht gelungen, die sozialen und kulturellen Gegensätze der führenden Milieus auf der Basis des Antisemitismus zu beseitigen. Die antisemitischen Parteien, die entstanden, bzw. die antisemitischen Fraktionen, die sich in den einzelnen Parteien bildeten, waren zu sehr dem betreffenden Milieu verhaftet, als daß sie identitätsstiftend hätten wirken können. Erst wenn diese Identitätsstiftung gelang und der Antisemitismus die Funktion übernahm, die vorher der Na1
Monika Richarz (Hrsg.): Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918-1945. Stuttgart 1982, S. 13.
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Arno Herzig
tionalismus ausgeübt hatte, war die Integration der jüdischen Minderheit in die Gesamtgesellschaft endgültig gescheitert. Der erste Versuch zu Beginn der Weimarer Republik, diese Identität durch aggressive nationalistisch-antisemitische Verbände wie den Alldeutschen Verband, den Schutz- und Trutzbund und die mit diesen sympathisierenden Parteien herzustellen, scheiterte spätestens 1923. In der sogenannten ,ruhigen' Phase der Weimarer Republik ebbte der Antisemitismus ab. Doch mit der katastrophalen sozialen Entwicklung nach 1929 gelang es dann doch, über die Milieus hinweg die antisemitische Basis der Wähler (bei 44% keineswegs die Mehrheit) herbeizuführen, die dem Nationalsozialismus zur Machtergreifung genügte. Die aufgezeigte Dreiphasen-Einteilung - Nachkriegszeit, ruhige Phase, Endphase - bestimmt die Anordnung dieser Studie. Sie zeigt auf, wie die wirtschaftliche Stabilisierung nach 1924 zu einem Rückgang des Antisemitismus führte, ohne daß damit freilich eine politische Kultur geschaffen worden wäre, die den Antisemitismus ein für alle Mal ausgeräumt hätte; es war jedoch eine für die Entwicklung in alle Richtungen hin offene Situation. Nach 1929 gelang das nicht mehr. Der nationalsozialistische Antisemitismus wurde zur großen Hoffnung weiter Kreise, die Krise zu überwinden. Allerdings ist sich die Wissenschaft auch heute noch nicht darüber einig, ob es der Antisemitismus war, der die Basis für die nationalsozialistische Machtergreifung geschaffen hat, oder ob er in diesem Prozeß nur eine sekundäre Rolle gespielt hat. Unumstritten ist jedoch, daß die knapp 14 Millionen der über 44 Millionen Wähler (also jeder Dritte), die am 31.7.1932 der NSDAP ihre Stimme gaben und Hitler damit 1933 an die Macht verhalfen, eine Partei wählten, die den Antisemitismus zu einem ihrer wichtigsten Wahlkampfthemen gemacht hatte. 2 Doch eine Mehrheit war das auch jetzt noch nicht, so daß die Argumentation, die politische Kultur sei in Deutschland vor 1933 so stark antisemitisch geprägt gewesen, daß sie notwendigerweise die Katastrophe herbeiführen mußte, keineswegs zwingend ist. Von den bestimmenden politischen und kulturellen Milieus der Kaiserzeit war das protestantische eindeutig antisemitisch geprägt. Zu diesem Milieu zählte nicht nur der kleinbürgerliche Mittelstand, sondern auch das Bildungsbürgertum, das seit der Aufklärung in Deutschland die politische Kultur bestimmte und in dem seit den 1880er Jahren Treitschke und Stoecker den Antisemitismus salonfähig gemacht hatten. Es zählt mit zu den Sündenfällen dieser - auch für die jüdische Minderheit faszinierend
Meine Argumentation stützt sich weitgehend auf die grundlegende Studie zu dieser Thematik: Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt/M. 1988, S. 212.
Zur Geschichte des politischen Antisemitismus in Deutschland
(1918-1933)
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wirkenden - Kulturelite, daß sie den Antisemitismus nicht nur still akzeptierte, sondern zu einem seiner wichtigsten Stimmführer wurde. 3 Im katholischen Milieu war der Antisemitismus stark durch wirtschaftliche Neidkomplexe bestimmt, die durch eine religiöse Ideologie verbrämt wurden. Diese Komplexe resultierten weitgehend aus dem politischen und sozialen Bedeutungsverlust, den der Katholizismus im 19. Jahrhundert erlebte. Im Kontrast dazu erfolgte der soziale und auch politische Aufstieg der Juden in Deutschland. Der Liberalismus stellte sich für die Wortführer des katholischen Milieus als eine besonders durch die Juden geförderte Ideologie dar, die alle christlichen, spezifisch katholischen Werte zu vernichten suchte. Im Kulturkampf gipfelte diese antisemitische Grundstimmung in einer ausfälligen Pamphletliteratur, ohne jedoch die politischen Vorgaben so stark zu bestimmen, wie das im protestantischen Milieu der Fall war. 4 Das Arbeitermilieu konnte sich dagegen weitgehend frei von allen antisemitischen Tendenzen behaupten. Doch war es auf der anderen Seite nicht fähig, die Juden insgesamt als soziale Gruppe zu akzeptieren und ihnen einen Raum in der Gesellschaft einzuräumen. Das Judentum war für die Arbeiterbewegung eine temporäre Erscheinung, die wie alle Religionen zugunsten einer klassenlosen und ideologisch egalitären Gesellschaft verschwinden würde. Diese .Intoleranz' verhinderte in der Weimarer Republik eine schlagkräftige Abwehrideologie.5 Der Erste Weltkrieg verschärfte das antisemitische Klima, obgleich viele Juden in Deutschland noch zu Beginn desselben das Ende des Antisemitismus und damit die volle Integration in die Gesellschaft erwartet hatten.6 Schon bald zeigte sich jedoch, daß mit dem ausbleibenden Sieg die Stimmung umschlug und im Antisemitismus sich ein auch für die Regierung nicht unerwünschter Blitzableiter fand. Antisemitische Flugschriften gelangten trotz Zensur zu den Soldaten an die Front und verstärkten das antisemitische (Greuel-)Bild, das in zwei Figuren eine symbolische Verkürzung fand: im Jüdischen Drückeberger' und im .jüdischen Kriegsgewinnler'. Die Heeresleitung kam dieser Stimmung entgegen. Mit Erlaß 3
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Werner Jochmann: Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus. In: W. E. Mosse/A. Paucker (Hrsg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Tübingen 1976, S. 389-478, S. 672ff. Arno Herzig: Judentum und Emanzipation in Westfalen. Münster 1973, S. 115ff.; Hermann Greive: Die gesellschaftliche Bedeutung der christlich-jüdischen Differenz. Zur Situation im politischen Katholizismus. In: W. E. Mosse/A. Paucker (Hrsg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Tübingen 1976, S. 349-388. Reinhard Rürup: Sozialismus und Antisemitismus in Deutschland vor 1914. In: W. Grab (Hrsg.): Juden und jüdische Aspekte in der deutschen Arbeiterbewegung 1848-1918. TelAviv 1977, S. 203-225. Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. Gütersloh 1988, S. 312ff.
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Arno Herzig
vom 11.10.1916 verfügte sie eine allgemeine Judenzählung im Heer. Schon dieser Akt stellte eine kolossale Brüskierung der jüdischen Minderheit dar, eine Brüskierung, die jedoch dadurch überboten wurde, daß das Ergebnis nicht veröffentlicht wurde, da es die antisemitische Intention dieser Aktion Lügen strafte. Es stellte sich nämlich heraus, daß Juden überproportional zu ihrem Anteil an der Gesamtgesellschaft an der Front eingesetzt worden waren und auch eine hohe Gefallenenquote aufwiesen. 7 Die kaiserliche Vision einer klassenlosen Gesellschaft vom August 1914 - „ich kenne nur noch Deutsche" - hatte bald die Realität mit ihren durch den Krieg sich verstärkenden sozialen Spannungen eingeholt. Auf der einen Seite mußten Arbeiter, Angestellte und Beamte, aber auch der kleine Mittelstand und Einzelhandel sowie kleine und mittlere Bauern einen realen Einkommensverlust hinnehmen, auf der anderen Seite erwies sich der Krieg dagegen für Unternehmer der Rüstungsindustrie, für die Großagrarier und die Kaufleute des grauen bis schwarzen Marktes als wahrer Segen. Dem allgemeinen Verarmungsprozeß, der im Hunger des Kohlrübenwinters von 1916/17 einen ersten Gipfel erreichte, stand der demonstrative Luxus derer gegenüber, die sich Lebensmittel in Hülle und Fülle leisten konnten. Selbstverständlich gab es unter der letzteren Gruppe auch Juden. Da jüdische Händler zudem traditionsgemäß als Aufkäufer der ländlichen Agrarprodukte und Kommissäre des Viehhandelsverbandes auftraten, fiel es den antisemitischen Gruppen nicht schwer, das alte Bild vom Jüdischen Wucherer' zu reaktivieren und die Legende von der Jüdisch beherrschten Kriegswirtschaft' in Umlauf zu setzen. Statistischer Beweise bedurfte es dafür nicht. Es reichte die symbolische Verkürzung des ,,System[s] Ballin-Rathenau", um die „jüdische Verfilzung des deutschen Wirtschaftslebens" (A. Roth: Die Juden in den Kriegsgesellschaften. Berlin 1920) zu beweisen. Es gelang vor allem dem antisemitischen „Reichshammerbund", daraus ein politisches Thema zu machen, das zu wiederholten Anfragen im Reichstag führte. Seit 1916 wird somit die Taktik der antisemitischen Verbände deutlich, die in den Nachkriegsjahren erheblich die politische Kultur bestimmte und die den Juden zum Sündenbock der verfahrenen Situation machte. Neben dem „Reichshammerbund" war es vor allem der „Alldeutsche Verband" (ADV), der eine rassistisch bestimmte Ausgrenzungs- und Verleumdungspolitik betrieb. Die neben dem Verbandsvorsitzenden Claß bestimmende Figur war der 2. Vorsitzende, Konstantin Freiherr v. Gebsattel. Er hatte mit seiner Deutung des Weltkriegs als „schicksalhaftem Ringen zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen Helden- und Händlergeist, zwischen Ariertum und Judentum" vor allem auf die Intellektuellen 7
Egmont Zechlin: Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Göttingen 1969, S. 529ff.
Zur Geschichte des politischen Antisemitismus
in Deutschland
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des Verbands Eindruck gemacht. Mit der endgültigen Sicherung des „Platz[es] an der Sonne" sollte - so Claß - die „Entfernung des Gifts aus unserem Volkskörper" verbunden sein. Dergleichen programmatische Äußerungen bestimmten allerdings noch nicht die Alltagspropaganda des Vereins, sondern finden sich in den Vereinsbroschüren und auch in dem von Claß unter einem Pseudonym publizierten Buch Wenn ich der Kaiser war. Es bestand kein Zweifel, daß dergleichen Forderungen vom Verband nicht auch als politische Alltagsprogrammatik verwendet werden konnten. Der ADV betrieb die Fixierung des jüdischen Antisymbols, wobei neben der Figur des Jüdischen Drückebergers' und .jüdischen Kriegsgewinnlers' bald auch der , Ostjude' auftauchte. Deutlich sollten damit alte Ängste reaktiviert werden, denkt man an das Diktum Treitschkes von den „hosenverkaufenden Jünglingen [...] aus der unerschöpflichen polnischen Wiege", die in der zweiten Generation auch für die Intellektuellen als Konkurrenz eine Bedrohung darstellten.8 In der unsicheren Situation der letzten Kriegsjahre schössen die antisemitischen Bünde wie Pilze aus dem Boden. Zu Beginn der Weimarer Republik gab es über hundert deutsch-völkische Zirkel, Verbände und Orden, deren erklärtes Ziel es war, die Juden gänzlich aus der Gesellschaft auszugrenzen. Unter ihnen kommt dem „Deutschen Schutz- und Trutzbund" (DSTB) besondere Bedeutung zu. Seine Gründung ging auf Pläne der ADV-Funktionäre Claß und Gebsattel zurück, an die Stelle der zahlreichen kleinen antisemitischen Verbände eine schlagkräftige völkische Massenorganisation zu setzen, deren Politik in der Chefetage des ADV bestimmt werden sollte. Der von Gebsattel an die Spitze des DSTB gebrachte Alfred Roth machte sich jedoch bald selbständig, als es ihm gelang, die drei bedeutendsten antisemitischen Bünde (Reichshammerbund, DSTB und den Deutsch-Völkischen Bund) in der „Gemeinschaft deutschvölkischer Bünde" zusammenzuführen. Der DSTB konnte von Ende 1919 bis Mitte 1922 seine Mitgliederzahl von 30.000 auf 200.000 steigern und die Zahl der aktiven Ortsgruppen von 85 auf 600. Der DSTB war eine bürgerlich-mittelständische Organisation, wobei die hohe Mitgliederzahl von Akademikern (40%) besonders auffällig war. Der Bundesvorstand setzte sich aus Vertretern großbürgerlicher Kreise und dem gehobenen Mittelstand zusammen. Damit rekrutierte der DSTB seine Anhängerschaft primär aus dem antisemitischen protestantischen Milieu der Kaiserzeit. Der DSTB betrieb eine aufwendige - und wie sich zeigte - erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit mit antisemitischen Klebezetteln und Plakaten an Litfaßsäulen, Hauswänden und Schaufenstern und erreichte vor allem durch die von ihm propagierten Trivialromane, z.B. Arthur Dinters Die Sünde wider das Blut, großen Einfluß. Ein zweites literarisches Machwerk, das 8
H. Berding (Anm. 2), S. 169ff. (Hier auch die Zitate).
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der DSTB unterstützte, waren die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, die im Juli 1919 unter dem Titel Die Geheimnisse der Weisen von Zion Ludwig Müller v. Hausen herausgebracht hatte und die in wenigen Jahren eine Verbreitung von mehreren 100.000 Exemplaren erreichten. Bekanntlich handelte es sich dabei um die Dokumente einer frei erfundenen Rabbiner-Versammlung, die ein russischer Professor namens Nilus im Auftrag des russischen Geheimdienstes unter Verwendung populär-historischer Schriften des deutschen Schriftstellers Hermann Goedsche gefälscht hatte. Zu den am stärksten verbreiteten vermeintlich wissenschaftlichen Schriften über die jüdischen Machenschaften zählte auch die antisemitische Kampfschrift Judas Schuldbuch, die ein Wilhelm Meister herausgebracht hatte. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der sächsische Oberfinanzrat Paul Bang, der der DNVP angehörte und diese Schrift anläßlich der Gründung des DSTB 1919 in Bamberg verfaßt hatte. Später arbeitete er dann auch für Hitler und die NSDAP in München. Das Buch erreichte innerhalb von zwei Jahren eine Auflage von 30.000 Exemplaren. Der Inhalt bestand aus einem Sammelsurium gängiger stereotyper Vorwürfe gegen die Juden. Der Akzent lag auf den im Weltkrieg erhobenen Anschuldigungen, wobei eine Entwicklungslinie zwischen den sogenannten ,Judenwahlen' von 1912 und der Etablierung der sogenannten .Judenrepublik' 1918/19 in Weimar hergestellt wurde. 9 Diese Schriften knüpften an die Vielzahl antisemitischer Schriften der Kaiserzeit an. Verstärkt traten nun aber folgende Elemente hervor: Zum einen: durch die politische Entwicklung (gemeint ist die politische Machtergreifung) in Deutschland sei die Gefährlichkeit der deutschen Juden eindeutig bewiesen; durch die von ihnen (Hugo Preuß!) entworfene Weimarer Verfassung hätten sie sich alle Voraussetzungen für eine Herrschaft geschaffen. Als historischer Beweis diente der Verweis auf die jüdische' Revolution der Münchner Räterepublik, deren Spitze hauptsächlich durch Juden gestellt wurde: Levine, Mühsam, Landauer, Ernst Toller. Zum anderen verdeutlichten nach Meinung dieser Propagandisten die Protokolle der Weisen von Zion, daß es sich bei der Machteroberung nicht nur um eine Taktik der deutschen Juden handelte, sondern daß das Weltjudentum international agiere. Rassistische Theorien untermauerten die angebliche ,Wissenschaftlichkeit' der Schmarotzerthese, die mit der statistisch zu belegenden Drückebergerei, Wucher- und Schiebertätigkeit belegt wurde. „Der Jude war es", - so hieß es in einem Flugblatt des DSTB - „der durch seine Zersetzungsarbeit den deutschen Siegeswillen geschwächt, die Widerstandskraft des Volkes gebrochen und die Revolution angezettelt hat". Mit dem Sturz des monarchistischen Deutschland sei das letzte 9
Uwe Lohalm: Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutzund Trutzbundes, 1919-1923. Hamburg 1970, S. 1 Iff.; Η. Berding (Anm. 2), S. 182ff.
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Bollwerk gegen die jahrtausendealten jüdischen Herrschaftspläne zum Einsturz gebracht und die Judenrepublik errichtet worden. Auf diese jahrtausendealten Herrschaftspläne war alles zurückzuführen, was den nationalgesinnten Deutschen hassenswert erschien: die inneren Gegensätze und Parteienkämpfe der Weimarer Demokratie, die Inflation und sozialen Spannungen der Nachkriegsjahre, der .Ausverkauf' Deutschlands durch das Diktat von Versailles und die .Erfüllungspolitik' des jüdischen Außenministers Rathenau. Auf der Basis dieses geklitterten Weltbildes verdichtete sich alles in dem ,Antisymbol Jude', und mit der Forderung nach dessen Ausscheiden aus dem , Volkskörper' (die medizinischen Metaphern suggerieren Wissenschaftlichkeit und erfordern Konsequenzen) war die politische Strategie eindeutig vorgegeben. Offen bleibt, inwieweit mit diesen Vorstellungen die Anhänger der einzelnen Milieus gewonnen werden konnten. Voll erfaßt wurde das protestantische Milieu, das sowohl das Fußvolk als auch die Intellektuellen des DSTB stellte. Neben den Funktionären Roth und Werner, den Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern Dinter und Bartels, den Generalen v. Gebsattel und Lettow-Vorbeck traten als Redner in den Massenveranstaltungen auf: der Völkerrechtler Axel v. Freytagh-Loninghoven, der protestantische Theologe und Flensburger Hauptpastor Friedrich Andersen und der Industrielle Emil Kirdorf. Ihr Auftreten auf den Massenveranstaltungen verdeutlicht das reale (aber auch potentielle) Zusammengehen von Radauantisemitismus und gehobenem Bürgertum aus dem protestantischen Milieu. 10 Unterstützung aus dem katholischen Milieu erhielt der Antisemitismus vor allem in Bayern, wo er aber durch den Antisemitismus der „Bayerischen Volkspartei" (bayerisches Zentrum) aufgefangen und, verglichen mit dem Radauantisemitismus, gemildert wurde. Der Antisemitismus des politischen Katholizismus vor allem in Bayern aktivierte die stereotypen wirtschaftlichen und sozialen Vorurteile, wobei zwar das Klischee von der jüdischen Weltreligion entfiel, dafür aber das Klischee vom Juden als Urheber des ,Modernismus' aktiviert wurde, wodurch die Juden zum Verursacher und Träger der liberalen, sozialistischen, antiklerikalen, atheistischen, intellektuell-avantgardistischen und traditionszerstörenden Tendenzen wurden. Für den politischen Katholizismus verdichtete sich die Gefährlichkeit dieser jüdischen Tendenzen in der Münchner Räterepublik, deren Marxismus als „das theoretische Produkt jüdisch-zersetzenden Geistes" als Gegenbild bei der Gründung der betont antisozialistischen BVP herhalten mußte. 11 10
"
H. Bertling (Anm. 2), S. 182ff.; U. Lohalm (Anm. 9), S. 177ff. (Zitate). Hermann Greive: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland. Darmstadt 1983, S. 116ff.; H. Berding (Anm. 2), S. 216f.
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Es steht außer Zweifel, daß die Massenveranstaltungen des DSTB eine Pogromstimmung erzeugten, die zwar noch nicht zu Verfolgungen führte, aber immerhin pogromartige Ausschreitungen wie die im November 1923 im Berliner Scheunenviertel zur Folge hatte. Auf das Konto dieser antisemitischen Massenveranstaltungen gehen wohl auch die Friedhof- und Synagogenschändungen, die sich in diesen Jahren häuften, von der Justiz aber nur sehr lahm verfolgt wurden. Besonders gefährlich war, daß durch die antisemitische Propaganda der zahlreichen Bünde in diesen Jahren unter der Maske der angeblichen Wissenschaftlichkeit - auf die Bedeutung der medizinischen Metapher wurde bereits hingewiesen - das Gewissen ausgeschaltet wurde. Die Bezeichnung der Juden als „Schädlinge, Ungeziefer, Schmarotzer" hatte zwar schon eine lange Tradition (1819: v. Hundt-Radowskis Mordvorschlag an den Juden: „Um das ganze Land von dem Ungeziefer zu reinigen"), war aber als Appell an die niedrigsten Instinkte nie so gezielt eingesetzt worden wie in den ersten Nachkriegsjah12
ren. Bedingt durch die neue politische Situation nach 1918/19 und den dadurch befürchteten politischen Machtverlust hatte die antisemitische Kamarilla des ADV vor allem auf breite Massenagitation gesetzt, um von der Straße her auf die politische Elite einzuwirken. Auf die Weimarer Koalitionsparteien SPD, Zentrum und DDP hatte sie damit jedoch kaum Einfluß gewinnen können. Lediglich die DNVP machte aus ihrem Antisemitismus keinen Hehl. In ihren Grundsätzen hieß es 1920: „Wir wenden uns nachdrücklich gegen die seit der Revolution immer verhängnisvoller hervortretende Vorherrschaft des Judentums in Regierung und Öffentlichkeit. Der Zustrom Fremdstämmiger über unsere Grenzen ist zu unterbinden." Die DNVP war primär eine konservativ-monarchistische Partei. In ihren Reihen duldete und unterstützte sie zumindest bis 1923 Mitglieder wie den bereits erwähnten Paul Bang alias Wilhelm Meister. Gemäßigter, dafür aber einflußreicher, war in der DNVP der Pfarrer Gottfried Traub, Herausgeber der „Eisernen Blätter". Traub knüpfte an die christlich-soziale Tradition Adolf Stoeckers an und sprach damit vor allem den kleinen Mittelstand an. Die DNVP war allerdings schwerpunktmäßig die Partei der großagrarischen und schwerindustriellen Kreise. Die Gegensätze zum Mittelstand waren damit programmiert. Hier diente vor allem der Antisemitismus als Scharnier. Je nachdem, wie es diesen Interessentenkreisen opportun erschien, nutzte man bald die eine oder die andere Spielart des Antisemitismus, um das Kleinbürgertum, in dessen Reihen der Antisemitismus besonders verbreitet war, als Massenbasis zu mobilisieren. Vor allem in der neu einsetzenden Wirtschaftskrise nach 1929 nutzte die DNVP 12
Rainer Erb/Werner Bergmann: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland. Berlin 1989, S. 178ff. (Zitat); H. Berding (Anm. 2), S. 186f.
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diese Karte. Sie Schloß Juden von der Parteimitgliedschaft aus und verschärfte nun ihre antisemitische Propaganda, so daß die Wähler, die 1932 die DNVP wählten, wohl ähnlich antisemitisch motiviert waren wie die Wähler der NSDAP. 13 Wie die DNVP rekrutierte auch die DVP, die Partei Stresemanns, ihre Gefolgschaft aus dem protestantischen Milieu. Es waren weitgehend Industrielle und Akademiker, aber auch mittelständische Schichten, in denen der Antisemitismus traditionell eine Rolle spielte. Als integrierende Ideologie nutzte die DVP jedoch nicht den Antisemitismus, sondern den Antimarxismus. Die - wie es auch hier hieß - ,Judenfrage' wurde tabuisiert und es damit den Anhängern und Wählern überlassen, wie sie sich gegenüber dem Antisemitismus verhielten. 14 So sehr der Antisemitismus die politische (Un-)Kultur der Nachkriegsjahre bestimmte, so abrupt ist sein politischer Bedeutungsverlust, den er nach 1923 erlebte und der deutlich macht, daß der Antisemitismus vor allem in Krisenzeiten aktiviert werden konnte und politisch einsetzbar war. Nach 1918 war es ihm nicht gelungen, wesentlich über das protestantische Milieu hinauszuwirken. Die Zäsur markiert hier der Mord an Außenminister Rathenau am 24. Juni 1922. Das Republik-Schutzgesetz ermöglichte das Verbot des DSTB und entzog damit dem Radauantisemitismus eine wichtige Basis. Hinzu kamen erbitterte Machtkämpfe und Rivalitäten in den antisemitischen Bünden, so daß eine gemeinsame gezielte Agitation nicht mehr möglich war. Der diktatorische Führungsstil der Führungskräfte stieß (noch) auf Ablehnung der Anhängerschaft, so daß der DSTB in den Staaten, in denen er nicht verboten war, wie in Württemberg und Bayern, dennoch zerfiel. Der Mord an Rathenau, der nicht zu Unrecht als Folge des Radauantisemitismus gedeutet wurde, löste im Bildungsbürgertum einige Zweifel aus, ob es richtig sei, die Aktionen des DSTB und ähnlicher Organisationen weiterhin zu unterstützen. Auch die DNVP Schloß nun Leute wie Bang aus, um nicht in den Geruch zu kommen, allzu eng mit dem Radauantisemitismus zusammenzugehen. Allerdings versuchte diese Partei, das Erbe des DSTB anzutreten und dessen Anhängerschaft für sich zu gewinnen. Doch Schloß sich dessen ehemalige Klientel in der Deutsch-völkischen Freiheitspartei zusammen, an die, wie in Mecklenburg-Schwerin, die DNVP fast zwei Drittel ihres dortigen Landesverbandes verlor. Immerhin erreichte diese Partei bei den Reichstagswahlen im Mai 1924 mit den Nationalsozialisten zusammen 6,5 % der Wählerstimmen und 32 Reichstagsmandate, schrumpfte aber mit ihrem Stimmenanteil bis Dezember 1924 auf 3 %. 15 13 14 15
H. Greive (Anm. 11), S. 132ff.; H. Berding (Anm. 2), S. 213 (Zitat). H. Berding (Anm. 2), S. 213f. Ebd., S. 187ff.
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In der Krisenperiode von 1916 bis 1923 hatte der Antisemitismus erheblich an Einfluß auf das protestantische, aber auch katholische Milieu gewinnen können. Er hatte sich allerdings als unfähig erwiesen, eine über die Milieus hinaus geschlossene politische Basis zu bilden, die all die divergierenden antirepublikanisch eingestellten Kräfte zusammengefaßt hätte. In den folgenden Jahren der politischen Stabilisierung (1924-1929) verloren die antisemitischen Bünde und Parteien politischen Einfluß. Es blieben jedoch die antisemitischen Ressentiments, die jederzeit aktiviert werden konnten, wenn in Krisenzeiten für die politisch und sozial komplexen Verhältnisse der Jude' als alles erklärendes Antisymbol herhalten mußte. Die antisemitische Propaganda dieser Phase hatte äußerst geschickt das Erscheinungsbild der jüdischen Minderheit auf einige Stereotypen reduziert, die in sich widersprüchlich sein mochten, aber vielleicht gerade deshalb als ,Erklärung' für alles herangezogen werden konnten. Es war das Stereotyp vom Drückeberger, vom Kriegsgewinnler und dazu widersprüchlich das Stereotyp vom Ostjuden. Mit der sozialen Situation der Juden in Deutschland während der Weimarer Zeit hatte dies alles wenig zu tun. Sowohl in ihrer sozialen Entwicklung als auch in ihrem Selbstverständnis war die jüdische Minderheit in eine Krise geraten und unterschied sich darin kaum von der Gesamtgesellschaft. Sozioökonomische Krisenerscheinungen machten sich schon im ausgehenden 19. Jahrhundert bemerkbar. Sowohl demographisch als auch wirtschaftlich war die Aufwärtsentwicklung, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmt hatte, gebremst. Krieg und Inflation hatten vielfach die Altersersparnisse vernichtet und die wirtschaftliche Stellung untergraben. Auch die demographische Entwicklung war sowohl relativ als auch absolut rückläufig, eine im Vergleich zur Gesamtgesellschaft höhere Überalterung für diese Gruppe typisch. Zur Entfremdung von der jüdischen Gemeinde, wenn auch nicht unbedingt vom jüdischen Milieu, trugen die Mischehen bei, die in Hamburg z.B. fast ein Drittel der von Juden geschlossenen Ehen ausmachten. Der prozentuale Anteil der jüdischen Minderheit war im Reich zwischen 1871 und 1933 von 1,25 % auf 0,76 % zurückgegangen. Was der antisemitischen Propaganda entgegenkam, war die weitgehende Konzentration der jüdischen Gruppe auf die Großstädte und auf bestimmte Berufs- und Handelssparten. In den sieben größten jüdischen Gemeinden (Berlin, Frankfurt/Main, Breslau, Hamburg, Köln, Leipzig, München) lebten seit 1910 über die Hälfte aller Juden Deutschlands, wobei die jüdische Gemeinde in Frankfurt/Main mit einem Anteil von 6,3 % (19ΙΟΙ 925) und 4,7 % (1933) den höchsten Prozentanteil an einer städtischen Einwohnerschaft aufweisen konnte. Doch war zwischen 1910 und 1933 der relative Anteil in allen Großstädten rückläufig, zumal bis zur Volkszählung im Juni 1933 schon ca. 25.000 bis 30.000 Juden vor den Nazis
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geflohen waren. Dies machte sich vor allem in Berlin bemerkbar, wo vom Jahr 1910 ab die jüdische Bevölkerung von 144.000 (3,9 % der Bevölkerung) auf (1925) 172.672 (4,3 %) angestiegen, dann aber 1933 auf 160.564 (3,8 %) wieder zurückgegangen war. Berlin war jahrzehntelang der Magnet für die jüdische Bevölkerung; noch 1933 wohnte hier ein Drittel (32,1 %) der jüdischen Bevölkerung Deutschlands. Die tendenzielle Überalterung der jüdischen Bevölkerung konnte auch nicht durch die sogenannten Ostjuden aufgefangen werden. 16 Seit der Aufklärung gab es starke innerjüdische Bestrebungen, die eigene Sozialstruktur der allgemeinen anzupassen, um somit alle Voraussetzungen für eine Integration zu schaffen. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten alle Vereine zur Förderung der Handwerke unter den Juden ihre Tätigkeit eingestellt und den Dingen freien Lauf gelassen. Die seit Jahrhunderten erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten im Sektor Handel zahlten sich unter der liberalen Wirtschaftsordnung aus und provozierten nicht gerade eine Umorientierung; die Wirtschafts- und Sozialstruktur der Juden veränderte sich deshalb kaum. Angestrebt wurde nach wie vor die selbständige Existenz im kommerziellen Wirtschaftssektor, was allerdings gegenüber der großbetrieblichen Konzentration im Zuge der Industrialisierung ein besonders bemerkenswertes Beharrungsvermögen bedeutete. Noch 1925 waren über 51 % der jüdischen Erwerbspersonen selbständig, 1933 immerhin noch 46 % gegenüber 17 % bzw. 16 % der Gesamtbevölkerung. Im beginnenden 20. Jahrhundert hatte ein neuer Trend eingesetzt. Gefragt war nun die Unabhängigkeit und Selbständigkeit in einem akademischen Beruf als Rechtsanwalt oder Arzt. Die jüdischen Erwerbstätigen waren also weitgehend im „alten Mittelstand" stekkengeblieben, was durch den Drang nach wirtschaftlich unabhängigen Stellungen bedingt war, so daß auch im Zuge der Industrialisierung eine gewisse Nichtanpassungsfähigkeit für die jüdische Minderheit typisch war. 17 Wenn auch die sozialgeschichtlichen Erhebungen eine relativ große Geschlossenheit des jüdischen Milieus aufzeigen, so war die Gruppe doch alles andere als homogen. Zumindest zwei kulturelle Milieus lebten weitgehend getrennt nebeneinander: das akkulturierte und das Milieu der sogenannten Ostjuden, das aber in sich noch einmal zersplittert und in die einzelnen unterschiedlich Jiddisch sprechenden Gruppen aufgeteilt war, die zudem unterschiedliche Traditionen hatten. Doch gab es weitere interne Differenzierungen: nicht alle Ostjuden lebten als Fromme und kleideten sich im traditionellen Kaftan; ein großer Teil war sozialistisch orientiert 16
17
Avraham Barkai: Die Juden als sozio-ökonomische Minderheitsgruppe in der Weimarer Republik. In: W. Grab/J. H. Schoeps (Hrsg.): Juden in der Weimarer Republik. Stuttgart/ Bonn 1986, S. 330-346, S. 330ff.; M. Richarz (Anm. 1), S. 14ff. A. Barkai (Anm. 16), S. 333f.
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und schon deshalb nicht zu den Gläubigen zu zählen. Was Sozialisten und Orthodoxe verband, war eventuell der Zionismus, für den es Anhänger in beiden Gruppen gab. Die Kontakte zu den jüdischen Gemeinden gestalteten sich eher problematisch. Viele Gemeinden hatten versucht, ostjüdischen Mitgliedern als Ausländern das Wahlrecht zu verweigern, und waren, wie in Sachsen, damit erfolgreich. Die alten Honoratiorengruppen in den Gemeinden fürchteten vor allem ein zionistisch-ostjüdisches Bündnis bei den Wahlen, wobei die zionistische Bewegung, die in Deutschland während der Weimarer Periode nur 10.000 aktive Mitglieder zählte, erheblich an Bedeutung gewinnen konnte. Zur Vertretung der zionistischen Interessen in den Gemeinden wurde 1920 die Jüdische Volkspartei gegründet. Die Gemeindewahlen zeigten deutlich die internen Interessengegensätze und Konflikte zwischen Zionisten und Liberalen, wobei die Liberalen eine allzu starke Betonung des spezifisch Jüdischen (eigene Schulen!) zu verhindern suchten. 18 Der sich in der Endphase der Weimarer Republik wieder verstärkende Antisemitismus zwang jedoch zu einem stärkeren Zusammengehen in der organisierten Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. So versuchte der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" statistisch die Leistungen der Juden im Weltkrieg herauszustellen, um somit das Stereotyp vom jüdischen Drückeberger zu widerlegen. Eine gezieltere Abwehrpolitik leistete der 1893 gegründete „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (CV), dessen Gründungszweck u.a. der Kampf gegen den Antisemitismus gewesen war. Im Gegensatz zu den Zionisten, die als ihre Aufgabe die Schaffung eines eigenen Staates für die jüdische Nation sahen, fühlten sich die CV-Anhänger politisch und kulturell als Deutsche jüdischer Religion bzw. jüdischer Herkunft. Im Gegensatz zu den Zionisten, aber auch zu den Orthodoxen, kamen sie in Schwierigkeiten, ihr .Judesein ' zu definieren. Den Kampf gegen Antisemiten verfolgte der CV durch seine Rechtsschutzabteilung, vor allem durch Dutzende von Abwehrschriften, darunter das sogenannte Anti-Anti-Handbuch, ein Weißbuch über den NS-Terror, aber auch mit Widerlegungen aller antisemitischen Argumente vom Ritualmord bis zur Rassenlehre. Wichtige Arbeit leistete vor allem der Pressedienst, ein äußerlich unabhängig vom CV operierender Nachrichtendienst, der die nicht-antisemitischen Parteien mit Material gegen die antisemitischen Angriffe versorgte. Trotz der enormen Aktivitäten gab es nur kleine Erfolge, wie die 1932 erfolgten 200 Verurteilungen wegen Boykotthetze oder die Beschlagnahmung einiger Nummern des „Stürmer"; es kam aber nicht zu einer grundlegenden Verhinderung der antisemitischen Hetz- und Pogromaktionen. Die weitgehend 18
M. Richarz (Anm. 1), S. 34ff.; Trude Maurer: Ostjuden in Deutschland 1918-1933. Hamburg 1986, S. 587ff.
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nach rechts orientierte Justiz hatte von sich aus kein Interesse, gegen dergleichen Aktionen vorzugehen. Privatprozesse, die z.B. gegen Synagogen- oder Friedhofsschändungen angestrengt wurden, endeten, wenn überhaupt, mit lächerlich kleinen Bestrafungen. Politisch setzte der CV zunächst auf die DDP. Als diese sich aber 1932 mit dem antisemitischen ,Jungdeutschen Orden" zur Staatspartei Zusammenschloß, war eine Zusammenarbeit kaum mehr möglich. Trotz der sozialen Unterschiede setzte der CV nun fast ausschließlich auf die SPD. Vereinzelt schlossen sich auch Gruppen dem „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" an und vertraten einen gewaltsamen Widerstand. Doch blieben das vereinzelte Aktionen.19 Diese Aktionen leiten über in die Zeit nach 1929, als mit der neuen Krise der Antisemitismus einen neuen Aufschwung erlebte und nun die Integrationsbasis für die Beseitigung der Weimarer Republik bildete. Was den nationalsozialistischen Antisemitismus schlagkräftiger und wirkungsvoller machte als den Antisemitismus der Nachkriegszeit, waren die pseudo-religiösen Züge, die er besaß. Es war nicht mehr nur eine Antihaltung, die propagiert wurde, sondern als sozialer Mythos war er in der Lage, Instinkte, Bedürfnisse, Vorstellungen, Sehnsüchte und Hoffnungen breiter Bevölkerungskreise anzusprechen und Heilserwartungen zu wecken. In den Erschütterungen der Krise nach 1930 sprach vor allem sein Fundamentalismus, sein Manichäismus an. Hitlers Weltanschauung gab vor, mit ihrer ins Kosmologische gesteigerten Deutung von dem ewigen Kampf der Rassen um Lebensraum den Schlüssel zur Weltgeschichte gefunden zu haben. Der Orientierungs- und Perspektivlosigkeit der Massen kam die manichäische Weltsicht entgegen, die die Welt in Gut (= arische Herrenrasse) und Böse (= satanisches Weltjudentum) aufteilte. Diese ,Pseudo-Religiosität' wirkte über das protestantische Milieu hinaus und fand nach anfänglichem Widerstand bald zahlreiche Anhänger im katholischen Milieu. Die pseudo-religiöse Sehnsucht ging konform mit der kanonischen Deutung, die Hitlers Wort besaß. Sie erfüllte die Sehnsucht nach einer starken Führung, die im Führermythos gipfelte. Die fundamentalistische Weltsicht, die gierig aufgenommen wurde und vom Führer die Lösung der Probleme erwartete, fragte nicht nach sozialen Hintergründen oder gar Widersprüchen, sondern akzeptierte schlechthin die Gleichsetzung des Judentums mit dem Bösen und konnte auch dort wirksam werden, wo es überhaupt keine Juden gab. Der Antisemitismus als Pseudo-Religion bedeutete nicht, daß nun auf die jüdischen Stereotypen verzichtet wurde. Es war auch hier die Taktik, den Teufel ikonographisch möglichst schwarz zu malen, um die Engel besonders klar hervortreten zu lassen, was vor allem Streichers „Stürmer" 19
Arnold Paucker: Die Abwehr des Antisemitismus in den Jahren 1893-1933. In: Η. A. Strauss/N. Kampe (Hrsg.): Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Frankfurt/New York 1985, S. 143-171, S. 152ff.; M. Richarz (Anm. 1), S. 36f.
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von 1923 bis 1945 mit seinem vulgären, brutalen und primitiven Judenhaß erreichte. Goebbels ging darüber hinaus, indem er das Stereotyp personifizierte, so in der Figur des Berliner Polizeipräsidenten »Isidor* (Bernhard) Weiß. Auch auf die alte Taktik der Bünde, Skandale, an denen Juden beteiligt waren, groß aufzubauschen und sie als typisch jüdisch darzustellen, verzichtete man nicht. Skurrile rassentheoretische Auslassungen wie die des Sozialanthropologen Hans F. K. Günther oder des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg wirkten wohl kaum auf breite Bevölkerungskreise. 20 Den alten Kern der NS-Anhängerschaft stellten die mittelständischen Gruppen (Handwerker, Kaufleute, Angestellte, Beamte), doch gab es auch Arbeiter, Bauern und Angehörige der Oberschicht in der NSDAP. Die Wahlerfolge zwischen 1929 und 1932 beruhten auf einer wesentlichen Erweiterung der sozialen Basis, die nun auch im neuen Mittelstand, vor allem in der protestantischen Landbevölkerung, Anhänger fand. Überraschend ist der Zulauf aus der gehobenen Mittel- und Oberschicht der protestantischen Großstädte. So wählten z.B. im April 1932 bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen in den Stadtteilen Rotherbaum und Harvestehude, typische Quartiere der gehobenen Mittel- und Oberschicht, in denen die meisten Hamburger Juden wohnten, mehr als 45 % NSDAP und DNVP. (Ob zwischen beidem, hoher jüdischer Bevölkerungsanteil und hohe Stimmenzahl für antisemitische Parteien, ein Zusammenhang besteht, bedarf noch einer Klärung.) Die Ausweitung der NSDAP auf das gesamte protestantische Milieu und darüber hinaus in das katholische und auch in das Arbeitermilieu hinein stärkte den Mythos von der .deutschen Volksgemeinschaft', in der alle sozialen Konflikte ohne Kampf im gegenseitigen Interesse gelöst würden. Der Antisemitismus war einer der wichtigsten Integrationsfaktoren dieses Mythos, denn nach seiner Deutung waren alle bisherigen Konflikte entweder durch Juden verursacht oder aber, wie im Klassenkampf, von Juden angeheizt worden. War das Weltjudentum erst beseitigt, gab es keine Konflikte mehr, so die Propaganda und der schlich91 te Glaube breiter Bevölkerungsgruppen. Damit erfüllte der Antisemitismus nun eine Integrationsfunktion, die er nach dem Ersten Weltkrieg noch nicht erreicht hatte, obgleich er auch hier als Integrationsfaktor dienen sollte. Die Integrationsfunktion, die der Antisemitismus in den Jahren zwischen 1930 und 1933 ausüben sollte, um Hitler schließlich die Machtergreifung zu ermöglichen, wird von der historischen Forschung nicht eindeutig eingeschätzt. Während ihm Golo Mann und auch Eva Reichmann keine allzu große Rolle zugestehen wollen, betont dagegen George L. Mosse, erst Hitler habe den Antisemitis20 21
H. Berding (Anm. 2), S. 198ff. Ebd., S. 209f.; Ina Lorenz: Die Juden in Hamburg zur· Zeit der Weimarer Republik. 2 Bde. Hamburg 1987. 1. Bd., S. CL.
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mus zu einem politischen Vehikel gemacht, ein Schachzug, dessen Richtigkeit durch die Aufnahme in der Öffentlichkeit bestätigt wurde. Es gab vor allem drei Zielgruppen, die in den Wahlkämpfen von 1932 durch antisemitische Parolen angesprochen wurden und dann bei den Wahlen (vor allem bei den propagandistisch entscheidenden Landtagswahlen in Lippe und Oldenburg) den Ausschlag gaben: einmal die mittelständischen Berufsgruppen, denen die Bedrohung durch jüdische Warenhäuser, jüdisches Finanzkapital und den jüdischen Bolschewismus als Schreckgespenst aufgezeigt wurde, dann die Studenten- und Akademikerschaft, die mit dem Klischee von der ,Verjudung' der Hochschulen, der Wissenschaft und der deutschen Kultur geködert wurde. Beide Gruppen mußten freilich von der ,Gefahr des Judentums' nicht erst überzeugt werden. Die dritte Gruppe stellten die Landwirte. Die populistischen Parolen der 20er Jahre wurden Anfang der 30er Jahre durch eine antisemitische völkische Ideologie ersetzt, für die seit Sommer 1930 einer der fanatischsten Rasseantisemiten, der Bauernführer Walther Darre, propagandistisch tätig war. Die Wahlerfolge in Schleswig-Holstein und Oldenburg bestätigten den Erfolg einer antisemitisch-nationalsozialistischen Agrarpropaganda. 22 Der Antisemitismus allein hätte es sicher nicht vermocht, Hitler an die Macht zu bringen und ihm die Möglichkeit zum Holocaust zu geben. Die antisemitische Prädisposition der deutschen Bevölkerung über die sozialen und kulturellen Milieus hinweg schuf jedoch eine wichtige Plattform für die nationalsozialistische Machtergreifung.
22
H. Bertling (Anm. 2), S. 211; Eva G. Reichmann: Die Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe. Frankfurt/M. o. J., S. 277; George L. Mosse: Ein Volk - Ein Reich - Ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus. Königstein 1979, S. 309.
Wolfgang Häusler (Wien)
Vom »Antisemitismus des Wortes' zum »Antisemitismus der Tat' Das österreichische Beispiel 1918-1938
1938, nach Österreich, war unsere Welt schon so sehr an Inhumanität, an Rechtlosigkeit und Brutalität gewöhnt wie nie zuvor in Hunderten Jahren. Während vordem allein, was in dieser unglückseligen Stadt Wien geschehen, genügt hätte zur internationalen Ächtung, schwieg das Weltgewissen im Jahre 1938 oder murrte nur ein wenig, ehe es vergaß und verzieh. Stefan Zweig1
Ende und Neubeginn „An einem frühen Morgen", so erzählt Manes Sperber in seinen die verschlungenen Wege jüdischen Schicksals in unserem Jahrhundert nachzeichnenden Lebenserinnerungen, hörte ich meinen Vater zum ersten Mal schluchzen. Er hatte schon die Gebetsriemen um den Arm geschlungen, doch immer wieder unterbrach er das Gebet. Der 86jährige Franz Joseph I., der Kaiser war gestorben - nach 68jähriger Regierungszeit. Als der Vater merkte, daß mich diese Todesnachricht nicht sonderlich betrübte, wiederholte er: „Mit ihm endet Österreich. Er ist ein guter Kaiser gewesen; jetzt wird alles ungewiß. Für uns Juden ist das ein großes Unglück!" Mich erschütterten die Tränen des Vaters, das Ereignis beeindruckte mich zwar auch, aber nicht tief. Der Nachfolger hatte schon den Thron bestiegen, und daß dieser Tod das Ende Österreichs, einer Welt bedeuten sollte, das leuchtete mir nicht ein. Erst später begriff ich, daß es in der Tat ein Ende bezeichnete, und noch viel später, daß meines Vaters tiefe Trauer nicht unbegründet war.2 Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt 1978. S. 368. Manös Sperber: Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene... Wien 1974. S. 190.
Vom ,Antisemitismus des Wortes' zum ,Antisemitismus der Tat'
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Joseph Roth, dessen literarisches Werk die untergegangene Habsburgermonarchie und das hier einst beheimatete Judentum reflektiert, schrieb im Rückblick (Der stumme Prophet)'. Und doch war zu meinen Zeiten, als noch der Mensch wichtiger war als seine Nationalität, die Möglichkeit vorhanden, aus der alten Monarchie eine Heimat aller zu machen.3
Die Perspektive einer Symbiose, eines Gebens und Nehmens in fruchtbarer Begegnung der Nationen und Kulturen eines Vielvölkerstaates war zum posthumen Mythos geworden. 4 Aus den Trümmern des Weltkriegs und dem Grauen der „Letzten Tage der Menschheit" richtete sich der Blick aber auch auf die Utopie einer neu zu schaffenden, von Unterdrückung und Ausbeutung freien Ordnung. Julius Braunthal, 1919 bis 1934 Redakteur der „Arbeiter-Zeitung" und nach dem Zweiten Weltkrieg Sekretär der Sozialistischen Internationale, gab dieser eschatologischen Stimmung in prophetischem Enthusiasmus Ausdruck: „Revolution" - welch eine kühne Vorstellung! Schon sah ich im Geist, wie sich das Riesenheer der Arbeiter aller Sprachen und Rassen zum endgültigen Ansturm gegen die bürgerliche Gesellschaft sammelte. Das Signal zur letzten Schlacht war erklungen! Die Arbeiterklasse rückte vor, rote Fahnen wiesen wie Riesenfackeln den Weg, so wie glühende Wolkensäulen Israel auf seinem Weg nach Kanaan geleitet hatten. Der Sturm würde das letzte Bollwerk der Besitzenden zerbrechen, und ein Zeitalter würde beginnen, da die Menschen „Häuser bauen und darin wohnen, Weinstöcke pflanzen und ihre Früchte essen".5
Nicht wenige dem Judentum entstammende Zeitgenossen waren in diesen düsteren Herbsttagen 1918, inmitten des Zusammenbruchs des alten Staatsgebäudes, von der Hoffnung auf die große, die letzte Revolution der Brüderlichkeit bewegt, wie etwa das Engagement Franz Werfeis oder Egon Erwin Kischs zeigt. Für die in der kleinen, von der überwiegenden Mehrheit ihrer Bürger für nicht lebensfähig gehaltenen Republik Deutschösterreich lebenden Juden erfüllte sich die Erwartung einer grundlegenden demokratischen und sozialen Erneuerung nicht. Es galt, sich in einer von Hunger und Elend überschatteten und von wachsender Feindseligkeit bedrohten Umwelt zu behaupten. 3
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Zit. nach Steven Beller: Vienna and the Jews 1867-1938. A Cultural History. Cambridge 1989. S. 212. Vgl. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966. Julius Braunthal: Auf der Suche nach dem Millennium. Wien-Köln-Stuttgart-Zürich 1964. S. 43.
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Die Juden, wie auch immer als Konfession, Kulturgemeinschaft oder Nationalität selbst oder von ihrer Umgebung definiert, waren in der Donaumonarchie eine von vielen Minderheiten gewesen - nunmehr wurden sie, ob assimiliert oder nicht, zur Minderheit schlechthin in einem von Krisen geschüttelten, politisch und sozial zerklüfteten Kleinstaat. Die „Hochroitzpointner" hatten das Wort - die klarsichtige „Komödie" Arthur Schnitzlers Professor Bernhardt wurde, nachdem die österreichische Aufführung zur Zeit der Monarchie von der Theaterzensur verhindert worden war, am 21. Dezember 1918 im Wiener Volkstheater gespielt. Das Bekenntnis zu Österreich, das dem großen alten Staat gegolten hatte, übertrugen die Juden allen Anfeindungen zum Trotz auf die demokratische Republik, deren gleichberechtigte Bürger zu sein ihnen freilich mit allen Mitteln bestritten wurde. Mitten im Weltkrieg hatte Nathan Birnbaum, der Schöpfer des Begriffs .Zionismus', die Juden das „österreichreifste Volk" genannt. 6 Österreichische Juden aller politischen und weltanschaulichen Lager haben sich in der Folge zur Republik bekannt, bis zu ihrer letzten Stunde. Es war der jüdische Kommunist und von den Nazis erschossene Widerstandskämpfer Alfred Klahr, der als erster eine historisch-kritische Grundlegung des Begriffs „Österreichische Nation" unternahm und damit der deutschen Vereinnahmung Österreichs entgegentrat.7 Die Erforschung der Geschichte der Ersten Republik hat immer wieder von Konflikten der Zweiten Republik Impulse erhalten.8 Lange Zeit wurde die Tatsache, daß Österreich als erster Staat der gewaltsamen Annexion durch Hitlerdeutschland zum Opfer gefallen war, zur Abwälzung jeglicher Verantwortung für das an den Juden Österreichs seit 1938 durch Erniedrigung, Beraubung, Vertreibung und Tötung verübte Unrecht mißbraucht. Die Pflicht zur Wiedergutmachung, ja auch zur Erinnerung des Geschehenen wurde verdrängt. Mehr noch: Der Antisemitismus des Nationalsozialismus und seine menschenverachtenden und lebensvernichtenden Konsequenzen konnten gewissermaßen als fremder Import aus dem Tradi6 7
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Nathan Birnbaum: Den Ostjuden ihr Recht! Wien 1915. S. 24. Wolfgang Häusler: Wege zur österreichischen Nation. Der Beitrag der KPÖ und der Legitimisten zum Selbstverständnis Österreichs vor 1918. In: Römische Historische Mitteilungen 30 (1988) S. 381-411. Vgl. John Bunzl - Bernd Marin: Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien. Innsbruck 1983 (= Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 3); Hilde Weiss: Antisemitische Vorurteile in Österreich. Theoretische und empirische Analysen. Wien 1984 (= Soziologica 1); Karl Stuhlpfarrer: Judenfeindschaft und Judenverfolgung in Österreich seit dem Ersten Weltkrieg. In: Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte. Wien-München 1988. S. 141-204; Klaus Braunecker: Antisemitismus und Antisemitismusforschung in Österreich. Wien 1988; Shulamit Volkov: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990.
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tionszusammenhang österreichischer Geschichte gelöst werden. Noch 1961 entfachte eine Behandlung des heiklen Themas „Österreicher und Judenverfolgung" auf kabarettistischer (freilich in dieser Gattung höchster) Ebene Entrüstungsstürme: Carl Merz' Herr Karl wurde in der genialen Interpretation Helmut Qualtingers zum erschreckend getreuen Spiegelbild des gemütlichen österreichischen Unmenschen. Anders als in der Ersten Republik hatte nach 1945 keine Partei ein antisemitisches Programm; unter der Oberfläche der offiziellen politischen Kultur aber fanden alter und neuer Antisemitismus Gelegenheit, miteinander zu verschmelzen. Dies zeigte sich anläßlich der Abspaltung des ehemaligen Innenministers Franz Olah von der SPÖ (1964) und - aus dem akademischen Bereich auf die Straße getragen - in der Affäre um den durch antisemitische Ausfälle hervorgetretenen Professor an der Hochschule für Welthandel Taras Borodajkewycz, zu dessen Gunsten Studenten mit „Hoch Auschwitz ["-Parolen demonstrierten. Der Kommunist Ernst Kirchweger, der an einer Gegenkundgebung teilnahm, fiel als das erste politische Todesopfer der Zweiten Republik (1965). Diese Auseinandersetzungen mobilisierten und sensibilisierten nicht nur die historische Forschung, sondern auch das politische Bewußtsein. Insbesondere sind als Wegbereiter in Wissenschaft und öffentlichem Leben Friedrich Heer 9 und Erika Weinzierl 10 zu nennen, die mit großem persönlichem Einsatz an die Aufarbeitung der lange verschwiegenen Geschichte des österreichischen Antisemitismus schritten. Zahlreiche jüngere Zeithistoriker folgten mit ideologiekritischen und soziologischen Methoden. An aktuellen Anlässen fehlt es diesen wissenschaftlichen Untersuchungen und der historischen Gewissenserforschung nicht. Bruno Kreiskys Haltung zu seiner jüdischen Herkunft wie auch zu den Problemen des Staates Israel sorgte für Diskussionen, die sich angesichts des Verhältnisses des Bundeskanzlers zu dem ehemaligen SS-Mann und FPÖ-Politiker Friedrich Peter einerseits, Simon Wiesenthal andererseits um die Mitte der siebziger Jahre zuspitzten. Der Streit um die österreichische Vergangenheitsbewältigung anläßlich der Bundespräsidentenwahl 1986, die wohl nicht zuletzt durch die Mobilisierung antisemitischer Ressentiments entschieden wurde, ist mit seinen Nachwirkungen noch im Gange; er erhielt neue Nahrung durch das „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus" Alfred Hrdlickas auf dem Albertinaplatz, das im Gedenkjahr 1988 zum Politi9
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Vgl. Adolf Gaisbauer: Friedrich Heer (1916-1981) - Eine Bibliographie. Wien-Köln-Graz 1990 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 79). Die wichtigsten Beiträge zum Thema sind wieder abgedruckt in: Erika Weinzierl: Ecclesia semper reformanda. Beiträge zur österreichischen Kirchengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Wien-Salzburg 1985. Eine Bibliographie dieser Autorin in: Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag. Wien-Salzburg 1985.
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kum wurde. Erwähnt sei, daß eine derzeit aktuelle Auseinandersetzung um das von der deutschnational-antisemitischen Studentenschaft 1923 errichtete Kriegerdenkmal („Siegfriedkopf') in der Aula der Wiener Universität gegenwärtig die Frage nach der Tradition von Faschismus und Antisemitismus auf hochschulpolitischem Gebiet aufgeworfen hat. Das .Jahr der Zeitgeschichte" 1988, das der Erinnerung an die Auslöschung Österreichs im März 1938 gewidmet war, hat eine Fülle von Publikationen hervorgebracht, nicht zuletzt zu dem uns hier beschäftigenden Thema. 11 Viele Forschungslücken sind sichtbar geworden; vor allem bleibt das Problem der staatsbürgerlichen Aufklärung und der Vermittlung dieser immer noch an Tabus in allen politischen Lagern rührenden Fragen akut.
Die österreichischen Juden in der Ersten Republik Fällt es schon schwer, angesichts der Differenzierungen in der Epoche der bürgerlichen Emanzipation und Assimilation von einem österreichischen Judentum' zu sprechen, so ist dies gegenüber dem Pluralismus jüdischer Gruppierungen und Existenzmöglichkeiten im 20. Jahrhundert nahezu unmöglich. Das Interesse am Jüdischen' Beitrag zur österreichischen Identität und Kultur gilt ja auch in der Regel den einzelnen, deren große Namen in der Geschichte der Philosophie und Psychologie, Literatur, Kunst und Wissenschaft immer wieder genannt werden. 12 Sie gehören nicht ihrem Staat allein, der dem Wirken des Genies und des Talents oft genug Unterstützung und Anerkennung versagte, sondern der Welt. 1926 formulierte Sigmund Freud in einer Versammlung der B'nai B'rith: 11
Eine nützliche Übersicht in: Sonderheft der Neuen Wiener Bücherbriefe 2/1988. Über die Neuerscheinungen informiert am raschesten: Mitteilungen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands.
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Vgl. Harry Zohn: Wiener Juden in der deutschen Literatur. Tel Aviv 1964; Joseph Fraenkel (Hrsg.): The Jews of Austria. Essays on their Life, History and Destruction. London 1967; Norbert Leser (Hrsg.): Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit. Wien 1981; Carl E. Schorske: Wien: Geist und Gesellschaft im Fin de siöcle. Frankfurt 1982; William M. Johnston: österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848-1938. Wien-Köln-Graz 3 1984; Traum und Wirklichkeit: Wien 1870-1930. Katalog zur Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien 1985; Hilde Spiel: Glanz und Untergang. Wien 1866-1938. Wien 1987; George E. Berkley: Vienna and its Jews. The Tragedy of Success 1880s-1980s. Cambridge/Mass. 1988; Walter Grab: Das Wiener Judentum. Eine historische Übersicht. In: Wolfgang Plat (Hrsg.): Voll Leben und voll Tod ist diese Erde. Bilder aus der Geschichte der jüdischen Österreicher (1190-1945). Wien 1988. S. 4 1 - 7 9 ; Rachel Salamander (Hrsg.): Die Jüdische Welt von Gestern 1860-1938. Text- und Bildzeugnisse aus Mitteleuropa. Wien 1990.
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Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränken, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ,kompakten Majorität' zu verzichten.13
Der Aufbruch Wiens in die Moderne zur Zeit des Fin de siecle setzte sich auch in den Jahren der Ersten Republik fort, freilich durch die Verengung des einst kosmopolitischen Lebensraumes unter wesentlich ungünstigeren Bedingungen. Die jüdischen Künstler und Intellektuellen waren zu einem erheblichen Teil durch gemeinsame soziale Faktoren ihrer Herkunft geprägt. Zumeist entstammten sie einem bürgerlich-assimilierten Elternhaus. Die heterogene österreichische Bourgeoisie, in deren Reihen emanzipierte jüdische Unternehmer eingerückt waren, hatte ihre noch kaum gefestigte politische Macht an die aufsteigenden Massenparteien des späten 19. Jahrhunderts abtreten müssen. Die Söhne dieser Generation waren so prädestiniert, auf ästhetische und wissenschaftliche Lebensaufgaben auszuweichen. Sie waren die letzten Repräsentanten von Liberalismus und Aufklärung und wurden die Avantgarde des wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritts. Diese geborenen .Außenseiter' standen als Analytiker und Kritiker einer von irrationalen Ideologien und Massenbewegungen erfaßten Welt gegenüber; aus diesen spezifischen Gegebenheiten ist letztlich auch das Engagement so vieler jüdischer Intellektueller für die Sache der Sozialdemokratie und ihre Bedeutung als Theoretiker des Austromarximus zu erklären. Viele Angehörige dieser Bildungsschichten schieden infolge Konversion oder aufgeklärt agnostischer Haltung aus der jüdischen Religionsgemeinschaft, doch begründete der Antisemitismus Solidarität. Otto Bauer, einst gefragt, wie er die von ihm aufrechterhaltene formale Mitgliedschaft zur Israelitischen Kultusgemeinde mit seiner marxistischen Weltanschauung vereine, antwortete nach dem Zeugnis Ernst Fischers: Das können Sie nicht verstehen, denn hinter Ihnen hat niemals wer das Wort Saujud gemurmelt.14
Auch Freud definierte sein Judentum' als Abwehrhaltung: Meine Verdienste um die Sache der Juden beschränken sich auf einen einzigen Punkt - nämlich den, daß ich mein Judentum niemals verleugnet habe.
Und noch knapp vor seinem Tod 1939 im Londoner Exil: 13 14
Steven Beller (Anm. 3), S. 208. Leopold Spira: Feindbild ,Jud'. 100 Jahre politischer Antisemitismus in Österreich. Wien-München 1981. S. 55.
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Zweifellos wissen Sie, wie gerne und stolz ich mein Judentum bekenne, obwohl meine Einstellung allen Religionen, einschließlich der unseren, gegenüber kritisch negativ ist.15
Man kann für unsere Epoche, ohne sich allzu grober Vereinfachung schuldig zu machen, von Wiener Juden als Synonym für österreichische Juden sprechen. Die Statistik weist die jüdische Bevölkerung der einstigen Metropole, die nun vielfach als .Wasserkopf' der kleingewordenen Republik bezeichnet wurde, mit einem Anteil von über 90 Prozent aus. Die Gemeinden in St. Pölten, Krems, Graz, Salzburg und Innsbruck, um die wichtigsten zu nennen, fielen in ihrer Vereinzelung demgegenüber kaum ins Gewicht; ihre Geschäftsleute und Wirtschaftstreibenden hatten nur regionale Bedeutung, wenngleich sie den zumeist rabiaten Provinzantisemiten als Beispiel des jüdischen Plutokratismus dienen mußten. Aus alter Tradition fürstlichen Schutzjudentums ragten die jüdischen Gemeinden des Burgenlandes (des an Österreich gefallenen Teils des mehrheitlich deutsch besiedelten Westungarn) in das 20. Jahrhundert. Ihrer orthodoxen Glaubens- und Lebensordnung gemäß führten sie ein halb verschollenes Dasein (das ,Ghetto' von Eisenstadt/Unterberg bildete bis 1938 eine selbständige politische Gemeinde), bis auch über ihre kleinbürgerlich-ländliche Welt die in diesem Fall besonders brutale Vernichtungswelle der NSZeit hinwegging. 16 Die Angaben der Volkszählung von 1923 nennen in Österreich 220 208 Juden, davon 201 513 (10,8 % der Bevölkerung) in Wien; 1934 191 481 Juden in Österreich, davon 176 034 (9,4 % der Bevölkerung) in Wien. Das demographische Bild war durch die starke Zu- bzw. Durchwanderung von jüdischen Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten im Nordosten der Monarchie geprägt. Bis Ende 1915 waren 340 000 Menschen aus Galizien geflohen; 137 000 kamen nach Wien, davon 77 000, großteils unbemittelte Juden. 17 Die oft vielköpfigen entwurzelten Familien aus dem Shtetl waren angesichts der angespannten allgemeinen Versorgungslage kaum unterzubringen und zu verpflegen; ihre Eingliederung in das Erwerbsleben stieß auf Schwierigkeiten, die durch die anwachsende antisemitische Strömung vergrößert wurden. Noch 1918 zählte man in Wien 15
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Marsha L. Rozenblit: Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität. WienKöln-Graz 1989 (= Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 11). S. 16f. Vgl. Hugo Gold: Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes. Tel Aviv 1970; ferner die vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes herausgegebenen Bände über Widerstand und Verfolgung in den einzelnen österreichischen Bundesländern. Eine wichtige regionalgeschichtliche Studie aus Niederösteireich ist Friedrich B. Polleroß: 100 Jahre Antisemitismus im Waldviertel. Krems 1983 (= Schriftenreihe des Waldviertier Heimatbundes 25). Vgl. Ivar Oxaal - Michael Pollak - Gerhard Botz: Jews, Antisemitism and Culture in Vienna. Leipzig-New York 1987. S. 154f.; Christian Mertens: Das jüdische Vereinswesen Wiens in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Diplomarbeit Wien 1988. S. 8f.
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unter 38 772 mittellosen Flüchtlingen 34 223 Juden. 18 Obwohl in Wien die Behandlung der Flüchtlinge nicht so hart war wie in Prag oder Ungarn, wo die Juden zum Teil unter elenden Bedingungen in Auffanglagern untergebracht wurden, hat der Weltkrieg ein jüdisches Arbeitslosenproletariat geschaffen, welches das mit Mühe bewahrte soziale Gleichgewicht der Wiener Gemeinde zu zerstören drohte. 19 Noch im Jahre 1918 machte der Wechsel im Amt des Oberrabbiners den Wandlungsprozeß innerhalb der bis dahin von den Liberalen dominierten Wiener jüdischen Gemeinde deutlich. Auf Moritz Güdemann folgte als geistiger Führer Zwi Perez Chajes, der ein profilierter Vertreter nationaljüdisch-zionistischer Interessen war, gleichwohl um Ausgleich und Frieden in der Gemeinde bemüht blieb. Die Mehrheitsfraktion in der Israelitischen Kultusgemeinde stellte die „Union Österreichischer Juden", die aus der 1886 gegründeten „Österreichischen Israelitischen Union" hervorgegangen war und ihren Zielen nach am besten mit dem einige Jahre später ins Leben getretenen „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" verglichen werden kann. 20 Schon die Namengebung drückt das Programm dieser liberalen, von den zionistischen Gegnern abwertend als , Assimilan ten4 bezeichneten Gruppe aus. Sozial den bürgerlichen Mittel- und Oberschichten angehörend, betrachtete diese Mehrheitsfraktion das Judentum ausschließlich als Konfession (.jüdische Österreicher", „Österreicher mosaischen Glaubens") und hielt an den Prinzipien des Liberalismus fest. Die sehr komplizierte innere Entwicklung der Zionisten, deren nationaljüdische Vorläufer sich ja gerade in der Habsburgermonarchie formiert hatten, ist hier nur anzudeuten. Mit Robert Stricker, der am 4. November 1918 im Sinne des VÖlkermanifests Kaiser Karls I. einen „Jüdischen Nationalrat für Deutschösterreich" ins Leben rief und 1919/20 aufgrund einer nationaljüdischen Liste in die konstituierende Nationalversammlung entsendet wurde, hatte die „Judenstaatspartei" einen sehr aktiven publizistischen und organisatorischen Führer. Die Spaltung zwischen der von Chaim Weizmann geführten zionistischen Mehrheit und den militanten Λ 1
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Jonas Kreppel: Juden und Judentum von heute. Ein Handbuch. Zürich-Wien-Leipzig 1925. S. 137ff. Vgl. Otto Abeles: Jüdische Flüchtlinge. Szenen und Gestalten. Wien 1918; Bruno Frei: Jüdisches Elend in Wien. Wien-Berlin 1920; Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. Berlin 1927 (= Berichte aus der Wirklichkeit 4). Sylvia Maderegger: Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934-1938. Wien-Salzburg 1973 (= Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Salzburg 8). S. 4ff.; Avshalom Hodik - Peter Malina - Gustav Spann: Materialienmappe Juden in Österreich 1918-1938. Wien 1982. S. 10ff.; Christian Mertens (Anm. 17). S. lOff. Adolf Gaisbauer: Davidstem und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882-1918. Wien-Köln-Graz 1988 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 78).
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„Zionisten-Revisionisten" Vladimir Jabotinskys bahnte sich auf dem XIV. Zionistenkongreß an, der in Wien (übrigens vor dem Hintergrund massiver antisemitischer Demonstrationen) 1925 abgehalten wurde. 22 Gegen einen säkularisierten Nationsbegriff wandten sich die religiösen Zionisten („Misrachi"), die sich, 1909 in Wien gegründet, 1920 aufs neue konstituierten. Die nichtzionistischen Orthodoxen faßte die „Agudas Jisroel" zusammen (begründet 1912 in Kattowitz). Assimilatorische und zionistische Orientierung differenzierte nicht nur die bürgerlichen, sondern auch die Arbeiterfraktionen. Die 1903 in Wien entstandene „Poale Zion" ging 1919 in der KPDÖ auf, der sie einen wichtigen Teil der intellektuellen Kader stellte.23 Eine gleichnamige sozialistische Gruppierung folgte 1924; ihr wurden 1934 im Gefolge der Februarkämpfe ebenso wie den nichtzionistischen „Werktätigen Juden" die Mandate in der Kultusgemeinde aberkannt. Die Union behauptete ihre Mehrheit bis zu den Wahlen 1932 (Präsident Dr. Alois Pick), dann folgte der Zionist Dr. Desider Friedmann. Die Atmosphäre zwischen den kontroverse Ziele verfolgenden Gruppen war häufig durch heftige Polemiken getrübt. Die zionistische „Stimme" (10. 12. 1936) etwa ging einmal so weit, die Assimilierten als »jüdische Antisemiten" zu bezeichnen. In der schon kritisch angespannten Situation der Wochen vor dem ,Anschluß' veröffentlichte das Blatt der Union, „Die Wahrheit" (18. 2. 1938), einen beschwörenden Aufruf Zehn Gebote für Österreichs Juden: Höre es, Jude von Österreich! Du bist Österreicher! Gleichzeitig der österreichischen und jüdischen Nation anzugehören - je nach Bedarf - ist unmöglich. [...] Sich zum jüdischen Nationalismus bekennen, heißt, vor dem Hakenkreuz kapitulieren! Nur die jüdische Religion hat die Juden durch zweitausend Jahre als Juden erhalten. Nur die Aufnahme der deutschen Kultur hat dich zum Europäer gemacht! Wer vaterlandslos ist, muß nach Palästina, wer sich vaterlandslos macht, soll nach Palästina! (In der Tat, nicht mit Worten!) [...] Christliches Österreich! Sei christlich zu Deinen Juden! Du wirst Deine treuesten Bürger in ihnen haben!
Auf Befehl Adolf Eichmanns mußte der Amtsdirektor der Kultusgemeinde, Dr. Josef Löwenherz, 1938 die jüdischen Vereine erheben, die der Auflösung und Vermögenskonfiskation zum Opfer fielen. Er fand die 22
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Haim Hillel Ben-Sasson (Hrsg.): Geschichte des jüdischen Volkes. Bd. 3. München 1980. S. 348f. Vgl. Hans Hautmann: Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs. Wien-Frankfurt-Zürich 1971.
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Zahl von 444, eine selbst in dieser so vereinsfreudigen Zeit überraschend hohe Dichte differenzierter Organisation.24 Da gab es Bethaus- und Tempelvereine (Wien zählte 94 Synagogen und offizielle gottesdienstliche Stätten, ungerechnet die „Klausen" und Betstuben kleiner Gruppen), Turn- und Sportvereine (am bedeutendsten „Hakoah", 1909 gegründet), Landsmannschaften, Kultur-, Schul- und Wohltätigkeitsvereine. Für die Sozialisation der akademischen Jugend bedeutsam waren die jüdischen Verbindungen, deren erste, die nationaljüdische „Kadimah", schon seit 1882 bestand. Es gab ferner eine „Maccabäa", „Emunah", „Jordania", „Libanonia", „Ivria", „Unitas" und einen „Gesamtverband jüdischer Hochschüler Österreichs Judäa"; in Graz die „Chariten".25 Auch die österreichischen B'nai B'rith-Logen hatten in der Zwischenkriegszeit ihre Blütezeit. Am dichtesten pulsierte jüdisches Leben in dem seit dem 17. Jahrhundert traditionellen Niederlassungsgebiet der Wiener Juden, in der Leopoldstadt, wobei heute Nostalgie die in den überbelegten Kleinwohnungen vielfach herrschende Armut gerne verklärt: In der Leopoldstadt war die Vielfalt Prinzip. Man konnte jüdischer Sozialist oder Kommunist sein, Chassid an einem der nach Wien emigrierten , H ö f e ' , 2 6 Mitglied der kleinen sephardischen Gemeinde, 2 7 oder Zionist. Man konnte auch Zionist und gleichzeitig in der Sozialdemokratie aktiv sein, man konnte sich als assimilierter Wiener Jude fühlen und von den Ostjuden distanzieren, man konnte sein Judentum ablegen, oder man wußte gar nicht mehr, daß man Jude war 2 8
Diese bunte Welt, Chaos und Kosmos zugleich, verschlang der Holocaust; ihre Stätten sind versunken und die Spuren ihrer Menschen verweht. Im Schicksal Tausender österreichischer Juden aus der Wiener Leopoldstadt und all den anderen Orten jüdischen Lebens vollzog sich ein Teil des millionenfachen Verbrechens, das Stefan Zweig so geschildert hat: 24
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Jens Budischowsky: 444 Vereine? Jüdische Gruppen und die politischen Parteien 1918 bis 1938. In: Das Jüdische Echo 38 (1989) S. 54-62. Fritz Roubiczek: So streng war'n dort die Bräuche. Erinnerungen eines alten jüdisch-nationalen Couleurstudenten. Wien 1983; ders: Von Basel bis Czernowitz. Die jüdisch-akademischen Studentenverbindungen in Europa. Wien 1986 (= Beiträge zur österreichischen Studentengeschichte 12). Der Antisemitismus hatte Juden aus nahezu allen Verbindungen verdrängt; eine Ausnahme bildete etwa das nationalfreiheitliche Corps Marchia. In Wien verstarben die Rebben von Czortköw und Brody - ihre erst kürzlich renovierten Mausoleen auf dem Wiener Zentralfriedhof (Alte Israelitische Abteilung) werden heute noch besucht, wie die niedergelegten Steine, Lichter und Quittein zeigen. Die sephardischen (türkischen) Juden, die seit dem Passarowitzer Friedensschluß (1718) das Niederlassungsrecht in Wien hatten, bildeten eine wohlhabende Gruppe mit einer reich ausgestatteten Synagoge. Ruth Beckermann (Hrsg.): Die Mazzesinsel. Juden in der Wiener Leopoldstadt. WienMünchen 1984. S. 13.
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Jetzt erst, da man sie alle zusammenwarf und wie Schmutz auf den Straßen zusammenkehrte, die Bankdirektoren aus ihren Berliner Palais und die Synagogendiener aus den orthodoxen Gemeinden, die Pariser Philosophieprofessoren und die rumänischen Droschkenkutscher, die Leichenwäscher und Nobelpreisträger, · die Konzertsängerinnen und die Klageweiber der Begräbnisse, die Schriftsteller und die Branntweinbrenner, die Besitzenden und die Besitzlosen, die Großen und die Kleinen, die Frommen und die Aufgeklärten, die Wucherer und die Weisen, die Zionisten und die Assimilanten, die Aschkenasim und die Sephardim, die Gerechten und die Ungerechten, und hinter ihnen noch die verstörte Schar derer, die längst dem Fluche entflüchtet zu sein glauben, die Getauften und die Gemischten - jetzt erst zwang man den Juden zum erstenmal seit Hunderten Jahren wieder eine Gemeinsamkeit auf, die sie längst nicht mehr empfunden, die seit Ägypten immer wiederkehrende Gemeinsamkeit der Austreibung. Aber warum dies Schicksal ihnen und immer wieder ihnen allein? [...] Selbst Freud, das klarste Ingenium seiner Zeit, mit dem ich oft in jenen Tagen sprach, wußte keinen Weg, keinen Sinn in diesem Widersinn. Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch seine rätselhaft überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen werde auf Erden.29
Österreichischer Antisemitismus in Wort und Tat Die .Theorien' der Antisemiten nach dem Ersten Weltkrieg waren nicht originell, neu waren der totalitäre Anspruch und das aggressive Auftreten, die den Antisemitismus zum integrierenden Bestandteil faschistischer Strömungen machten. Die unvollkommene bürgerliche Umgestaltung der Donaumonarchie hinterließ die ,Judenfrage' als gesamtgesellschaftliches Emanzipationsproblem ungelöst. Alte und neue Stereotypen hatten in einer immer wieder von wirtschaftlichen und nationalen Krisen heimgesuchten Epoche Zeit gefunden, sich zu einem Konglomerat irrationaler Scheinlösungen, Vorurteile und Haßgefühle zu verfestigen. 30 Für die antiliberalen Massenparteien wurde der Antisemitismus zum zentralen Programmpunkt. In der christlichsozialen Bewegung erwies sich der adaptierte katholische Antijudaismus als wirkungsvolles politisches Agitationsmittel für Kleinbürgertum und Bauernschaft. Ein beträchtlicher Teil der um ihre Hegemonie bangenden deutschen Intelligenz verschrieb sich dem Deutschnationalismus, der sich eng mit einem völkischen, rassisch-biologistisch argumentierenden Antisemitismus verband. Wien, das seinen Rang unter den europäischen Metropolen seiner Funktion als , Schmelztiegel' unterschiedlichster nationaler Kulturelemen29 30
Stefan Zweig (Anm. 1) S. 388f. Vgl. Wolfgang Häusler in: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. v. Hans Otto Horch u. Horst Denkler. Tübingen. Teil I (1988), S. 47-70; Teil II (1989), S. 19-34.
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te zu verdanken hatte, drohte zugleich zu einem ,Hexenkessel' gärender Konflikte zu werden. 31 Unter der glanzvollen Oberfläche taten sich Abgründe auf. Adolf Hitler, der von 1906 bis 1913 in Wien lebte, sah in dieser wahrhaft multikulturellen Stadt die Verkörperung eines blutschänderischen „Rassenbabylon": „Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden." 32 Im Untergrund der Entwurzelten formte sich sein Weltbild, das in Schönerer den genialen Verkünder völkischen Herrenmenschentums, in Lueger den erfolgreichen Demagogen bewunderte. Die Sozialdemokratie repräsentierte gegenüber diesen verhängnisvollen Entwicklungen das Erbe der bürgerlichen Revolution. In Konsequenz dessen verweigerte sie der konfessionellen und kulturellen Besonderheit der Juden, auch und gerade wenn diese in die Reihen der Arbeiterbewegung traten, die Anerkennung und forderte die sofortige und bedingungslose Assimilation, wie sie zahlreiche politische und ideologische Führer der Partei in ihrer Person vollzogen hatten. Die Pointierung des Klassenkampfes gegen jüdische' Kapitalisten, die in der Propaganda an der Basis eine erhebliche Rolle spielte, sollte, wie wir noch sehen werden, die prinzipielle Gegnerschaft zum Antisemitismus beeinträchtigen. Wichtig ist die Frage, wieso vielfach auch bürgerlich sozialisierte Juden im politischen Bereich die Sozialdemokratie unterstützten. Die prinzipielle emanzipatorische Haltung der Partei repräsentierte das liberale Prinzip der Gleichberechtigung aller Staatsbürger, das die bürgerlichen Parteien vor allem durch den Antisemitismus verraten hatten. Felix Saiten (Siegmund Salzmann) verdeutlichte diese Situation in einem Brief aus dem Jahr 1927: Da muß man die Leute freilich daran erinnern, daß die Zustände nicht mehr so harmlos sind wie in den Tagen der k.k. Luegerei, daß wir alle vor wichtigen Entscheidungen stehen, die das Antlitz dieser Welt gründlich verändern werden. Man muß die Leute daran erinnern, daß die ganze, vom Gedudel der Schrammelmusik begleitete Komödie der Luegerzeit ein Kinderspiel war, verglichen mit dem gewaltigen Umsturz, der ja doch erst begonnen hat und den wir alle wohl kaum bis an seinen Abschluß miterleben dürften. [...] Wenn der Herr Riehl sie [die Juden] Fremdlinge schilt, sollen sie ihm antworten, daß sie ebenso lange hier im Lande wohnen, wenn nicht länger als die Riehls und die anderen Hakenkreuzler. Wenn er ihnen droht, sie unter ein Fremdengesetz zu stellen, müssen sie ihm entgegenhalten, daß die Juden seit mehr als tausend 31
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Vgl. Egon Schwarz: Melting Pot or Witch's Cauldron? Jews and Anti-Semites in Vienna at the Tum of the Century. In: David Bronsen (Hrsg.): Jews and Germans from 1860 to 1933: The Problematic Symbiosis. Hamburg 1979. S. 262-287. Adolf Hitler: Mein Kampf. München 5 'l933. S. 69, 138. Vgl. William A. Jenks: Vienna and the Young Hitler. New York 1960; Wilfried Daim: Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Von den religiösen Verirrungen eines Sektierers zum Rassenwahn des Diktators. Wien-Köln-Graz 2 1985.
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Jahren drei- und vierfach so viel um dieses Land gelitten, blutiger dafür gezahlt haben als manche Arier. [...] Nennt aber Herr Riehl den Gott unserer Väter, Jehova, „verbrecherisch", braucht man nur festzustellen, daß alle Christen zu diesem Gott beten. Sogar der Bundeskanzler Dr. Seipel. [...] Mag sein, daß die Geschäftsleute, daß die Unternehmer und Kapitalisten mit ihrem Haß gegen Breitner [der wegen seiner Steuern verhaßte sozialdemokratische Wiener Stadtrat] im Recht sind. Aber ich sehe nur das eine: Der Dr. Riehl und alle seine Verbündeten streben zurück in die schwärzeste Vergangenheit; der Breitner dagegen will die Zukunft.33
Man wird bei der Beurteilung der politischen Szene der Ersten Republik nicht von einem .Antisemitismus' im allgemeinen sprechen dürfen, sondern von .Antisemitismen4, die untereinander koalitions- und kombinationsfähig waren. Charakteristisch für die österreichische Situation ist die Rivalität von faschistischen Strömungen gewesen, deren Spektrum von ständisch-konservativen Ordnungsmodellen (Heimwehrfaschismus, ,austrofaschistischer' Ständestaat) bis zur .revolutionär' auftretenden nationalsozialistischen .Bewegung' reichte. Typisch in dieser Auseinandersetzung ist der in der Propaganda geradezu leidenschaftliche Wetteifer der antidemokratischen Kräfte um den .besseren', radikaleren' Antisemitismus. Es war nicht zuletzt diese Konkurrenz, die schließlich auch die Massen der Anhänger eines .gemäßigten' Antisemitismus für den rassischen Antisemitismus der Nazis und seine Terrormaßnahmen disponierte oder zumindest abstumpfte. Die Kriegszensur hatte das gewohnte antisemitische Ventil verbaler Auslassungen gegen ein Feindbild einige Zeit geschlossen. Seit dem Jännerstreik 1918 brach dieser Damm. In der sich angesichts der russischen Oktoberrevolution radikalisierenden Arbeiterbewegung sahen die Konservativen ein Werk jüdischer Agitation und Verschwörung, das den Sieg bedrohte. Am Beispiel Salzburgs mag gezeigt werden, daß der Antisemitismus über konkrete Probleme jüdischer Zuwanderung hinaus das Instrument zur Ablenkung von Konflikten bot. Gewiß hatte auch Salzburg einen Teil der Flüchtlingsmassen aufzunehmen: Unter 13 831 Kriegsflüchtlingen im Jahre 1917 waren 1915 Juden. Das Problem war jedoch im Sommer 1918 bereits weitgehend gelöst: Unter 2729 am 1. August 1918 gezählten Flüchtlingen waren 8 (!) Juden. Die ansässige jüdische Gemeinde Salzburgs (1934: 239 Juden im Bundesland, davon 198 in der Hauptstadt) war keineswegs wirtschaftlich dominant. Ein gemeinsam von DeutschFortschrittlichen und Christlichsozialen organisierter „Deutscher Volkstag" in Salzburg am 26. Mai 1918 - Plakat: „Zutritt haben nur Deutsche (Arier)" - rückte nichtsdestoweniger die ,Judenfrage' in das Zentrum ei33
Wolfgang Häusler - Erich Lessing - Max Berger: Judaica. Kult und Kultur des europäischen Judentums. Wien-München 1979. S. 60f.
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ner von Geistlichen und Lehrern lebhaft geschürten Agitation. Das „Volk" gelobte, „zum Kampf gegen die Juden, gegen diese semitischen Vampyre" zu schreiten: Schlägst du diesen semitischen Schuften tot, dann fallen mit ihm hundert andere; erschlägst du, Siegfried, mit einem mutigen Schwertstoß diesen Lindwurm, dann ist der Zugang frei zum reichen Nibelungenschatze deutscher Volksgüter. Schmeißt ihn hinaus den stinkenden Preßlumpen aus Euren deutschen Heimstätten, aus den Unterhaltungs-, Bildungs- und Erholungsräumen! Nicht Worte, Taten!34
Karl Hermann Wolf, ein Veteran der Deutsch-radikalen Partei, rief bei einer Kundgebung des „völkisch-antisemitischen Kampfausschusses", zu dem sich u. a. Nationalsozialisten, Deutscher Turnerbund, Alldeutscher Verband und Antisemitenbund zusammengeschlossen hatten, im Jänner 1923 vor 15 000 Versammelten auf dem Wiener Rathausplatz dazu auf, „jetzt endlich vom theoretischen zum praktischen Antisemitismus überzugehen".35 Die Christlichsozialen hielten es für notwendig, hier mitzuziehen und wenn möglich zu überbieten, obschon sie sich gleichzeitig vom militanten Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten zu distanzieren versuchten. So bekannte der nach 1934 Bürgermeister von Wien gewordene Richard Schmitz 1932 in seinem Kommentar zum christlichsozialen Programm angesichts des Einbruchs der Nationalsozialisten in den Wiener Gemeinderat, „praktischer Tatantisemitismus [sei] wertvoller als radikaler Wortantisemitismus".36 Hitlers Machtergreifung und die Boykottkampagne des NS-Regimes gegen Juden erschienen der christlichsozialen Arbeiterbewegung aus dieser Perspektive ungenügend: Heute noch dürfen sich die österreichischen Nationalsozialisten an der Parole „Juda, verrecke!" begeistern, ihre Brüder im Reich haben schon das Kommando „Kehrt euch!" vernommen und befolgt: Statt „Juda, verrecke!" heißt es nun im Dritten Reich: „Juda, mache Rebbach nach wie vor!" Die vor den jüdischen Geschäften aufgestellten Posten hatten nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dafür zu sorgen, daß dem jüdischen Geschäftsbesitzer keinerlei persönliches Leid angetan werde und dessen Existenz geschützt sei. Marmelade mit Streichkäs! [...] Nun sind sie alle wieder an der Leine, die unzähmbaren Helden von „Juda, verrecke!" Der Maulantisemitismus ist blamiert, der Tatantisemitismus hat versagt! [...] Wir machen die obige Feststellung besonders gegenüber den österreichischen Nationalsozialisten, 34 35
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Günter Fellner: Antisemitismus in Salzburg 1918-1938. Salzburg 1979. S. 83. Francis L. Carsten: Faschismus in Österreich. Von Schönerer zu Hitler. München 1977. S. 96. Richard Schmitz: Das christlichsoziale Programm. Wien 1932. S. 70.
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Wolfgang Häusler die trotz der bitteren Erfahrung ihrer deutschen Brüder noch immer so tun, als ob sie den Antisemitismus gepachtet hätten. 37
U m d a s p a r a d o x e B i l d n o c h u m e i n e w e i t e r e F a c e t t e zu bereichern, sei eine S c h r i f t a u s d e m s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n Parteiverlag ( W i e n e r V o l k s b u c h h a n d l u n g ) zitiert, d i e d e n bürgerlichen Parteien vorwarf, nur aus taktis c h e n G r ü n d e n d e m A n t i s e m i t i s m u s zu h u l d i g e n und e s an K o n s e q u e n z g e g e n ü b e r d e n „ j ü d i s c h e n Kapitalisten" f e h l e n z u lassen; d i e L u e g e r s c h e B e z e i c h n u n g „Judenschutztruppe" w u r d e z u r ü c k g e g e b e n : Die Christlichsozialen unter Seipels Führung verteidigen also die Festung des jüdischen Kapitals. [ . . . ] Mit dem Mund - Antisemiten, in der Tat - die Schutzgarde des jüdischen Kapitals. 38 V o n d i e s e m ersten Ü b e r b l i c k , der d e n a n t i s e m i t i s c h e n . W e t t b e w e r b '
in
der E r s t e n R e p u b l i k erkennen läßt, haben wir z u ihren nicht nur v o n m a t e rieller
Not, sondern auch von politischer Verzweiflung gekennzeichneten
U r s p r ü n g e n zurückzukehren.
S c h o n die D u r c h s i c h t der P r o g r a m m e
der
b ü r g e r l i c h e n P a r t e i e n z e i g t d e n A n t i s e m i t i s m u s als zentralen Punkt. D a s W a h l p r o g r a m m der Christlichsozialen v o m 15. D e z e m b e r 1 9 1 8 formulierte: Die auch im neuen Staate hervortretende Korruption und Herrschsucht jüdischer Kreise zwingt die christlichsoziale Partei, das deutschösterreichische Volk zum schärfsten Abwehrkampf gegen die jüdische Gefahr aufzurufen. Als eigene Nation anerkannt, sollen die Juden ihre Selbstbestimmung haben; die Herren des deutschen Volkes aber dürfen sie nicht sein. 3 9 37
Christlichsoziale Arbeiter-Zeitung (1. 4.1933 und 8. 4. 1933). Zit. nach Anton Pelinka: Stand oder Klasse? Die christliche Arbeiterbewegung Österreichs 1933-1938. WienMünchen-Zürich 1972. S. 227f. Daß dies keine vereinzelte Entgleisung war, zeigen die Ausführungen der Reichspost (17. 3. 1933): „So beginnt das .gigantische Aufbauwerk des Nationalsozialismus', von dem in diesen Tagen auf marktschreierischen Plakaten und in Reklameartikeln der nationalsozialistischen Parteipresse zu lesen ist, de facto mit einer großen Judenschutzaktion, und die Massen, die den Aposteln des radikalen Rassenantisemitismus zur Macht verhelfen haben, haben das Nachsehen. [...] Kurz, es ist nichts mit dem Antisemitismus im Zeichen des Hakenkreuzes. Jüdische Staatsbürger gelten im Dritten Reich wie andere Staatsbürger. Die großen Sprüche vor der Mahlzeit waren eben nur Sprüche, nach dem Mahl liest sich's anders. [...] Das Dritte Reich kennt, seit es angebrochen ist, keinen Antisemitismus, und alle p. t. Parteigenossen sind genötigt, Hals über Kopf umzudenken." Zit. nach Walter Hannot: Die Judenfrage in der katholischen Tagespresse Deutschlands und Österreichs 1923-1933. Mainz 1990 (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte Β 51). S. 187.
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Christoph Hinteregger (Pseudonym?): Der Judenschwindel. Wien 1923. S. 23. Klaus Berchtold (Hrsg.): österreichische Parteiprogramme 1866-1966. Wien 1967. S. 357. Ähnlich auch das Programm von 1919. Ebd. S. 364. Das „Linzer Programm" der Christlichen Arbeiter Österreichs (1925) forderte, „daß der zunehmende Einfluß des Judentums aus dem Geistes- und Wirtschaftsleben des deutschen Volkes verdrängt werde". Ebd. S. 374. Diese radikalere Formulierung fand auch in das Christlichsoziale Parteiprogramm von 1926 Eingang. Ebd. S. 376.
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Eine eigene umfangreiche Abhandlung widmete das „Salzburger Programm" (1920) der aus deutschnationalen Gruppen zusammengeschlossenen Großdeutschen Volkspartei der Judenfrage'. Hier wurde das ganze Arsenal des völkischen Rassenantisemitismus ausgebreitet: Der Gedanke der Volksgemeinschaft hat auch eine negative Seite: In ihm liegt das Gebot der Abwehr volksfremder, schädlicher Einflüsse und das Bedürfnis nach Schutz gegen Fremdkörper, die dem Volksorganismus gefährlich sind. Ein solcher Fremdkörper ist das Judentum. [...] Die jüdische Moral entspricht der jüdischen Rassen- und Interessengemeinschaft. [...] Wir verkennen endlich keineswegs, daß es viele Deutsche gibt, die von den Juden Denkart und Gesinnung angenommen haben. Diese betrachten wir nicht als Gegner, sondern als Verräter am Volke [...] Die Rassenveranlagung treibt den Juden dazu, die Herrschaft über das Wirtsvolk anzutreten. [...] Die Judenverfolgungen, von denen die Geschichte aller Zeiten und Völker berichtet, gehen auf dieses Verhalten der Juden zurück. [...] Es ist kein Zufall, daß die von den Juden so sehr begünstigte liberale Lehre ganz ebenso wie die Lehre des Juden Karl Marx (Mardochai) dem Volke vorspiegelt, daß aus einem Kampf der Menschen untereinander das Heil für die Menschheit erwachsen werde. [...] Zermürbung der bodenständigen Machtorganisation, Zersplitterung des Volkes in einander bekämpfende Gruppen, Untergrabung der sittlichen Kraft des Volkes, das ist das Zerstörungswerk, das der jüdischen Weltherrschaft den Weg bahnt. [...] Jüdisch-nationalistischer Geist hat sowohl den neuzeitlichen Kapitalismus wie auch den Marxismus hervorgebracht. [...] Seine unserem Volke schädlichen, ererbten und unabänderlichen Eigenschaften sind es daher, die uns zu einer sich als Rassenantisemitismus darstellenden Gegnerschaft zum Judentume führen. Wir verlangen die Behandlung der Juden als eigene Nation mit allen sich daraus ergebenden Forderungen, eine Forderung, die ja auch von einem Teile der Judenschaft selbst vertreten wird. [...] Die vollendete Verwirklichung der Volksgemeinschaft würde das Ende der jüdischen Herrschaft bedeuten.40 Wie bereits angedeutet, wurde das Problem der ostjüdischen Kriegsflüchtlinge zum Katalysator einer Deutschnationale und Christlichsoziale einenden antisemitischen Bewegung. Die Hetze gegen die Juden, die pauschal als Preistreiber, Schleichhändler, Kriegsverdiener und Drückeberger bezeichnet wurden, setzte im Sommer 1918 voll ein. In den Reihen der Christlichsozialen tat sich namentlich Leopold Kunschak durch heftige Angriffe hervor. Auf dem Parteitag vom 16. Dezember 1918 rief dieser Führer der christlichen Arbeiterbewegung aus: Die Kreise, die in diesem Kriege unsere Zivil- und Militärverwaltung korrumpiert, die sich aus dieser Korruption Millionen- und Milliardengewinne heraus40
Ebd. S. 478-482. Vgl. Isabella Ackerl: Die Großdeutsche Volkspartei 1920-1934. Versuch einer Parteigeschichte. Diss. Wien 1967; Rudolf G. Ardelt: Zwischen Demokratie und Faschismus. Deutschnationales Gedankengut in Österreich 1919-1930. Wien-Salzburg 1972.
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geholt haben, wissen, daß im Volk im Hinterland und auch beim Volk an der Front in den letzten Jahren von nichts anderem mehr gesprochen wurde, als von der großen Stunde [...], in der dann die Abrechnung beginnen wird. [...] Die Juden wissen, wenn das Volk dazu kommt, diese Abrechnung vorzubereiten, so wird für sie ein Urteilsspruch erwachsen, vor dem ihnen grauen muß.41
Unter dem Druck judenfeindlicher Massenkundgebungen erließ der sozialdemokratische Landeshauptmann von Niederösterreich (Wien war damals noch kein eigenes Bundesland) am 10. September 1919 einen Erlaß betreffend die „Abreisendmachung der in Deutschösterreich nicht beheimateten Personen", der vor allem die jüdischen Kriegsflüchtlinge betraf. Ihre Rückkehr war allerdings unmöglich, da die Heimat der Flüchtlinge durch die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Sowjetrußland und Polen wieder zum Kriegsgebiet wurde. Aufgrund des im Vertrag von Saint Germain vorgesehenen Optionsrechtes konnten die aus der Monarchie stammenden Juden die österreichische Staatsbürgerschaft beanspruchen; 1920 bis 1925 erhielten 20 360 Juden das Heimatrecht in der Gemeinde Wien. In dieser Zeit gehörten antisemitische Versammlungen und Demonstrationen zum gewohnten Bild der Wiener Tagespolitik, wobei Christlichsoziale, Großdeutsche und Nationalsozialisten vielfach gemeinsam agierten. Der frühe österreichische .Nationalsozialismus' hatte ja eine autochthone Vergangenheit. Die im böhmischen Trautenau gegründete Deutsche Arbeiterpartei hatte Anhängerschaft und .radikales' Programm aus der Schärfe des deutsch-tschechischen Konflikts bezogen, wozu sich alsbald ein forcierter Antisemitismus gesellte.42 Ihr Programm, das in vieler Beziehung an Schönerers „Linzer Programm" von 1882 erinnerte, bekannte: Wir sind eine fortschrittliche völkische Partei, die mit aller Schärfe bekämpft die rückschrittlichen Bestrebungen, die mittelalterlichen, kirchlichen und kapitalistischen Vorrechte und jeden fremdvölkischen Einfluß, vor allem den überwuchernden Einfluß des jüdischen Geistes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. 43
Im August 1918 benannte sich die Partei in Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) um; ihr Führer war der Rechtsanwalt Dr. Walter Riehl.44 Der antitschechische, xenophobe Affekt der Partei, die bei den Wahlen von 1920 mit 33 898 Stimmen einen Achtungserfolg er41
42 43 44
Jonny Moser: Die Katastrophe der Juden in Österreich 1938-1945 - ihre Voraussetzungen und ihre Überwindung. In: Studia Judaica Austriaca 5. Eisenstadt 1977. S. 83. Andrew G. Whiteside: Austrian National Socialism before 1918. Den Haag 1962. Klaus Berchtold (Anm. 39) S. 226. Rudolf Brandstötter: Dr. Walter Riehl und die Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich. Diss. Wien 1969.
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zielte, ging im Antisemitismus auf; mit der deutschen NSDAP bestanden enge Beziehungen. Auf einer Antisemiten Versammlung in Wien im März 1921 sprach Hitlers Mitstreiter Hermann Esser markige Worte: Wenn der erste Jude in die Isar geworfen würde, müßten auch in Wien und Budapest Juden schwimmen. Ein Oberst Zborowski aus Graz fügte hinzu: Im Kampfe gegen das Judentum befinde sich das deutsche Volk in Notwehr und habe das Recht, alle Mittel anzuwenden, selbst das Mittel des Pogroms, was lebhafte zustimmende Zwischenrufe auslöste.45
Zum antisemitischen Ritual der Nationalsozialisten, aber auch der christlichen Judenfeinde sollte bald auch die ständige Berufung auf die Protokolle der Weisen von Zion gehören. 46 Bis zum Münchener Putschversuch von 1923 bestanden mit der Partei Hitlers, der 1920 eine Vortragsreise durch Österreich unternommen hatte, gute Kontakte, dann kam es zur Spaltung in die .österreichischen' Nationalsozialisten und die Hitler-Bewegung. 1923 breitete Julius Streicher, dessen „Stürmer" die so fruchtbare österreichische Antisemiten-Szene stets im Auge behielt, vor einem Wiener Auditorium seinen sexualneurotischen Rassenwahn aus: Er warnte im Verlaufe einer Rede die in der Versammlung anwesenden Frauen und Mädchen vor einem Geschlechtsverkehr mit Juden, denn eine solche Frau sei für das deutsche Volk für immer verloren.
Frauen sollten, „wenn sie ein deutsches Mädchen mit einem Juden sehen, diesem eine schallende Ohrfeige versetzen". Wenn man schließlich so wie Streicher den Talmud kenne, verstehe man, „wohin die tausende Kinder gekommen sind", die Opfer jüdischer Ritualmorde geworden seien. 47 Dergleichen stieß im österreichischen Antisemitenbund auf Verständnis. Hier wirkten Christlichsoziale, Großdeutsche und Nationalsozialisten seit 1919 einträchtig zusammen; hier zirkulierten Flugschriften wie Rassenverschlechterung durch Juda (1921), welche die sexuelle Zwangsneurose, die dem völkischen Blutmythos zugrunde lag, enthüllte: 45
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Francis L. Carsten (Anm. 35) S. 72f. Vgl. Johann Auer: Antisemitische Strömungen in Wien 1921-1923. In: Österreich in Geschichte und Literatur 10 (1966). S. 23-27. Norman Cohn: Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung. Köln-Berlin 1969; Fritz Werner: Das Judentumsbild der antijüdischen Literatur. Dargestellt anhand der .Protokolle der Weisen von Zion' und der .Forschungen zur Judenfrage'. Diss. Wien 1972. Francis L. Carsten (Anm. 35) S. 75. Vgl. Nira Feldman: Motive des „Stürmer". Anatomie einer Zeitung. Diss. Wien 1967.
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Es werden nämlich nur durch einmalige Berührung die Mädchen durch das Sperma vom jüdischen Geist durchtränkt, der auf alle späteren Nachkommen einen unausweichbaren Eindruck macht. Der „dominierende Geruch der jüdischen Rasse" werde mit dem „Ausdünstungsgeruch des männlichen Samens germanischen Mädchen gewissermaßen eingeimpft". 48 Daß extremer Rassenantisemitismus nicht nur in Hitlers und Streichers pervertiertem Weltbild oder in obskuren Kleinparteien und Bünden zu Hause war, belegt die Durchsicht der Veröffentlichungen des Deutschen Turnerbundes, dessen ,Dietwarte' für die entsprechende Aufklärung zu sorgen hatten. So heißt es in der „Bundesturnzeitung" (1. 10. 1924): Hüte Dich, deutsches Mädchen. Ein großes Kaufhaus. Vor den glänzenden und geschmückten Riesenschaufenstern ein Mädchen. Hoch und schlank gewachsen, blonde Haarfülle um das schlanke, sonnengebräunte Gesicht, helle Augen blitzen lebenslustig in den strahlenden Tag. Germanin! Deutsches Mädel! Aus dem Laden tritt ein junger Mann. Kleiner als sie, schwarz. Trotz des Fehlens typischer Rassenmerkmale als Jude erkennbar. Mit schmeichelndem Lächeln reicht er ihr ein Paket. Arm in Arm gehen sie weg. Hüte Dich, deutsches Mädchen! Denk an das Schicksal so vieler Tausender Deiner blonden Schwestern! [...] Jüdische Ladenjünglinge und Kommis, Börsenschieber und Lebemänner aller Art sind es, die jährlich unzählige deutsche Mädchen verführen und untauglich machen zur gesunden Ehe. Juden sind es, die sie aus ihren Stellungen vertreiben, damit der jüdische Mädchenhandel blühen kann. Und gerade Ihr Blonden seid es, auf die es der Fremdrassige abgesehen hat! Mit Haß denkt er, der sich ja selbst als Fremder fühlt, an alles Nichtjüdische, höchste Wollust bereitet es ihm, Euch, Ihr blonden Mädel, zu unteijochen!49 Der Deutsche Turnerbund zählte in der Ersten Republik um 100 000 Mitglieder; doppelt so groß war die Mitgliederzahl des Alpen Vereins. Konnten die Söhne Turnvater Jahns schon auf eine lange antisemitische Tradition zurückgreifen, mochten auch die rassebewußten arischen Bergsteiger nicht zurückstehen. Es war der Schönerer-Biograph Hofrat Ingenieur Eduard Pichl, der den Ausschluß der jüdischen Mitglieder (Sektion „Donauland") aus dem Alpenverein 1924 durchsetzte. 50 48
49
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Herbert Rutgen: Antisemitismus in allen Lagern. Publizistische Dokumente zur Ersten Republik in Österreich 1918-1938. Graz 1989 (Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz 78). S. 362. Vgl. Roland Schmidl: Der Deutsche Tumerbund (1919) und seine politische Relevanz in der Ersten Republik Österreich. Diss. Wien 1978. S. 80. Rainer Amstädter: Antisemitismus in den alpinen Vereinen Wiens von ihren Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Diplomarbeit Wien 1992.
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Der ,Tatantisemitismus' dieser Gruppen hatte sein Pendant in einem österreichischen Specificum, dem seit 1920 feststellbaren ,Sommerfrischenantisemitismus': Nicht wenige Fremdenverkehrsorte erklärten unter Berufung auf ihren ,arischen' Charakter jüdische Gäste als .unerwünscht'. Antisemitische Verengung des politischen Horizonts war keineswegs nur ein Stigma ungebildeter und deklassierter Personengruppen oder dumpfer Provinzler; es war vielmehr akademischer Boden, wo die Ausgrenzung der Juden vehement gefordert wurde, bald auch die persönliche Verunglimpfung, Beleidigung und Mißhandlung jüdischer Studenten an der Tagesordnung war. Dies ging schließlich so weit, daß 1936 die Ermordung des Philosophen Moritz Schlick auf der Stiege der Wiener Universität durch einen fanatisierten ehemaligen Schüler geschah, der Schlick fälschlich für einen Juden hielt - in Wahrheit trug Schlick seinen Vornamen zur Erinnerung an seinen Vorfahren Ernst Moritz Arndt. Die bürgerlichen Studentengruppen waren sich in dem Wunsch nach der Entfernung der aus Galizien stammenden jüdischen Studenten einig diese Animosität wurde bald auf alle jüdischen Kollegen übertragen. Das Bildungsstreben der Juden - 1927 waren 23,5 % der Jus-, 37,6 % der Medizinstudenten und 17,2 % der Hörer der Philosophischen Fakultät Juden - sollte durch einen Numerus clausus gehemmt werden. 51 Um dies zu erreichen, stellte der Akademische Senat die „jüdischen Galizianer" gegenüber der „bodenständigen" Studentenschaft als „fremdländische, zum Teil lichtscheue und fahnenflüchtige Elemente" dar (1919). Deutschnationale und katholische Studentenverbindungen schlossen sich am 2. Juni 1919 zu einer „deutsch-arischen Liste" zusammen. Die von Ignaz Seipel sekundierten Bestrebungen (1920: ,Notwehrantisemitismus') wurden vom Staatsamt für Unterricht (Otto Glöckel) jedoch zurückgewiesen. Der niederträchtige Überfall ,arischer' Studenten auf eine jüdische Mensa leitete die traurige Serie von Prügelszenen ein, die zum Alltag der Wiener Universität werden sollten. Der Abgeordnete Kunschak aber sprach im Parlament vom „elementaren Ausbruch einer unterdrückten Volksseele [und] lange zurückgehaltenen Grolls (Großer Beifall und Händeklatschen. So ist es!)" und setzte hinzu: Wir könnten aber auch auf das zurückgreifen, wir könnten die Juden vor die Wahl stellen, entweder freiwillig auszuwandern oder aber in die Konzentrationslager gesteckt zu werden. Wenn unser Staat kein Mittel hat, die Juden auszuweisen, dagegen gibt es völkerrechtlich und nach dem Friedensvertrag von Saint Germain gar keine Einwendung und keine Befürchtung, daß die Juden in Konzentrationslager hineingesteckt werden; dagegen ist gar nichts einzuwenden, von keinem Gesichtspunkte aus, und wir fordern daher, daß, wenn die Ju51
Vgl. Brigitte Fenz: Volksbegriff und Staatsbürgerschaft. Das Studentenrecht in Österreich 1918-1932. Diss. Wien 1977.
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den, soweit sie nicht ausgewiesen werden können und soweit sie nicht freiwillig gehen, unverzüglich in solchen Konzentrationslagern interniert werden. Als ich kürzlich diesen Gedanken aussprach, hat mir ein Herr gesagt: Wer wird denn das zahlen, was das kostet? Wer das zahlen wird? Ich bin überzeugt, wenn unser Volk weiß, daß es von diesen Elementen nicht mehr bewuchert wird, wird es gerne seine Zustimmung geben, daß aus Staatsmitteln, eventuell durch Einhebung einer eigenen Kopfsteuer, die Kosten für die Erhaltung der Juden in den Konzentrationslagern aufgebracht werden.52 Rektor Karl Diener polemisierte in der „Reichspost" (10. 12. 1922) gegen die „Invasion rassen- und landfremder Elemente"; die Wiener Alma Mater müsse „ein Hort deutschen Geistes, deutscher Wissenschaft und deutschen Wesens" bleiben: Der Abbau der Ostjuden muß heute im Programm jedes Rektors und Senates einer deutschen Hochschule einen hervorragenden Platz einnehmen. Der fortschreitenden Levantisierung muß wenigstens an der Hochschule Einhalt geboten werden. Ein zweiter Versuch zur Dissimilierung der jüdischen Studenten erfolgte 1930 mit dem Entwurf einer Studentenordnung, die der Strafrechtler Professor Wenzel (Graf) Gleispach ausarbeitete. Im Sinne des Prinzips der , Volksbürgerschaft' sollten die Studenten in Nationen gegliedert werden, für Zweifelsfalle („jüdische Studenten, die sich als Deutsche bekennen") dachte man fürsorglich an eine „gemischte Studentenschaft". In völkischen Kreisen wurde dieses Vorhaben begeistert begrüßt. In der „Bundesturnzeitung" vom 21. Erntemond 1930 ging „Hermann Kämpfer" (Pseudonym für den produktiven antisemitischen Schriftsteller Dr. Robert Körber, der als Kulturamtsleiter des Kreises VIII der Deutschen Studentenschaft - damit war Österreich gemeint - fungierte), hinsichtlich rassisch Kompromittierter noch einen Schritt weiter gegen jene, die wegen der Sünde wider Blut und Art ihrer Eltern oder Großeltern ausgestoßen werden müssen, um so dem verletzten heiligen Grundsatz der gebotenen Zeugung unter Artgleichen die gesuchte Sühne zu geben und die Rassenschande zu brandmarken. [...] Seit einem Jahrhundert entstand wieder zuerst an einer ostmärkischen Universität deutsches Volksrecht, das deutsches Volkstum schützen soll. Rechtliche Anerkennung der deutschen Nation auf volksbürgerlicher Grundlage entsprechend dem Blutrechte, trotzdem dies alles dem liberalen rassenchaotischen Staate von heute gesetzlich unbekannt ist; Erklärung des Judentums als völkische Minderheit, trotzdem es sich die Alleinherrschaft über die Deutschen auf allen Gebieten anmaßt, Verlust der Volkszugehörigkeit bei Blut und Rassenschande; dies alles in Recht und Gesetz gegossen! 52
7 8. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich am 29.4. 1920. S. 2381f.
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Die „Reichspost" stellte sich am 16. Mai 1930 die bange Frage, wenn sich diejenigen, gegen deren anarchistisch zersetzenden Geist die deutsche akademische Jugend sich schützen will, nur taufen ließen, um ungehindert in den Organismus der deutschen Studentenschaft eindringen zu können? Die Isolierung dieser zersetzenden Kräfte bedeutet nicht nur eine Rassenangelegenheit, sondern auch Schicksal christlicher Kultur.
Diesmal war noch der Rechtsstaat stärker; der Verfassungsgerichtshof verfügte am 23. Juni 1931 die Aufhebung der Gleispachschen Studentenordnung (der 1933 zwangspensionierte Professor wurde 1935 als Ordinarius nach Berlin berufen). Dies führte zu den schwersten studentischen Unruhen der Ersten Republik. Unter dem Ruf „Deutschland erwache! Juda verrecke!" wurden jüdische Studenten verprügelt, nachdem schon früher Boykottlisten mit den Namen jüdischer Professoren zirkulierten. Das Institut des bedeutenden Reformers des Wiener Gesundheits- und Fürsorgewesens, Julius Tandler, wurde verwüstet. Die Exzesse richteten sich auch gegen die Linke. Obgleich es Verletzte gab, wurde die Polizei unter Berufung auf altes Gewohnheitsrecht von akademischem Boden ferngehalten. Außer den jüdischen Verbindungen formierte sich zum Selbstschutz angesichts dieser Attacken, die auch sonst die Sicherheit und das Leben von Juden gefährdeten - 1933 fiel in Wien-Meidling der jüdische Juwelier Futterweit einem Attentat zum Opfer, und der „Antisemitenbummel" am Franz-Josephs-Kai wurde zur gewöhnlichen „Judenhetze" - der „Bund Jüdischer Frontsoldaten" (1932). Akademiker waren es auch, welche die schlimmsten antisemitischen Literaturprodukte lieferten. Als besonders fruchtbar erwies sich Regierungsrat Dr. Karl Huffnagl in Graz, der unter dem Pseudonym Karl Paumgartten schrieb. Unter der Überschrift „Die Juden - eine Köterrasse" geiferte dieser klassisch gebildete Mann („Ceterum censeo, Judaeos esse delendos"), offenbar in der Nachfolge der Theoreme des Jörg Lanz von Liebenfels: Eine zweitausend Jahre lang mit Tieren und Halbmenschen, den Überbleibseln früherer Entwicklungsstufen, intensiv betriebene Sodomie neben einer mit Menschen der verschiedensten niedrigen Rassen immer wieder hunderttausendfach durchgeführten Kreuzung kann auf die Entwicklung eines Volkes nicht ohne tiefgehenden und nachhaltigen Einfluß bleiben.53
Dem wahrhaft mörderischen Humor dieses Autors sekundierte kein geringerer als Fritz Schönpflug mit kongenialen Karikaturen (Repablick. Eine galgenfröhliche Wiener Legende aus der Zeit der gelben Pest und des roten Todes, Graz 1924). 53
Karl Paumgartten (= Karl Huffnagl): Judenfibel. Das ABC der vieltausendjährigen Judenfrage. Graz o.J. S. 32. Zit. nach Herbert Rütgen (Anm. 48) S. 433f.
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Nicht ohne literarische Qualität und mit geschicktem Einsatz Meyrinkscher Stilmittel schrieb Karl Hans Strobl, Verfasser vielgelesener Burschenschaftsromane aus dem böhmischen Nationalitätenkampf, seinen „phantastischen Wiener Roman" Gespenster im Sumpf (Leipzig 1920), der wohl von allen Produkten dieser breit entfalteten Gattung den dichtesten Eindruck von der verzweifelten geistigen Situation und von der Aufnahmebereitschaft für irrationale Ideologien in den Anfängen der Ersten Republik vermittelt. In der von degenerierten Menschentieren und ekelhaften Riesenspinnen bewohnten Ruinenstadt ist es die dämonische Ahasvergestalt des Leib Moische Seelenheil, der die Fäden des Untergangs in der Hand hält. Strobls Roman ist wohl das markanteste Beispiel einer antisemitischen Schauerbelletristik, die in den zwanziger Jahren Hochkonjunktur hatte. Erwähnt sei nur, daß Söhne berühmter Väter in diesem Genre tätig waren: Roderich Müller-Guttenbrunn, dessen Vater Leiter des Wiener „Antisemiten-Theaters" gewesen war, und Hans Ludwig Rosegger, Sohn von Peter K. Rosegger. 54 Großes Aufsehen erregte 1925 der Mord an dem Schriftsteller Hugo Bettauer, dessen Roman Die Stadt ohne Juden (1922) satirisch die Verdorfung und Versumperung nach der von den Antisemiten glücklich bewerkstelligten Ausweisung der Juden beschreibt. Bettauers geschickt gemachte und vielgelesene Kolportageromane mit sozialkritischem Akzent dienten auch als Filmvorlage, so Die freudlose Gasse, mit der Greta Garbo als Schauspielerin bekannt wurde. Als Herausgeber von aufklärenden Zeitschriften („Er und Sie") wurde Bettauer als „jüdischer Pornograph" verfemt. Das in der antisemitischen Propaganda gefällte ,Urteil' vollstreckte der nationalsozialistische Dentistengehilfe Otto Rothstock. Rothstock, dem Dr. Walter Riehl als Verteidiger beistand, wurde in eine Irrenanstalt eingewiesen, doch schon 1927 freigelassen. Noch in den siebziger Jahren bekannte er sich als Antisemit. Robert Musil schrieb über Bettauer: Es leitete ihn - die ehrliche Überzeugung zu bessern. Und er fiel für die vornehmste Aufgabe seines Berufes: das auszusprechen, was man für richtig hält!
Demgegenüber nahm Österreichs prominentester Literaturhistoriker dieser Zeit, Josef Nadler, in seiner großen Literaturgeschichte des deutschen Volkes die Partei des Mörders: Es war eine sinnvolle Handlung, als Hugo Bettauer 1925 seines schmutzigen Handwerks wegen von einem jungen Mann erschossen wurde.55 54
55
Erika Weinzierl: Antisemitismus in der österreichischen Literatur. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 20 (1967) S. 356-371. Murray G. Hall: Der Fall Bettauer. Wien 1978. S. 25, 142.
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Ein nur schwer in die Genese des österreichischen Antisemitismus einzuordnendes Phänomen stellt Arthur Trebitsch dar, der es als Philosoph in der Tradition Nietzsches, Otto Weiningers und H. St. Chamberlains unternahm, den „morbus judaicus" in sich - er entstammte einer der bedeutendsten Seidenfabrikantenfamilien Österreichs, sein Halbbruder Siegfried war Übersetzer G. B. Shaws - und in der Gesellschaft zu überwinden. Der Judenhasser Trebitsch, der sich über den Radauantisemitismus erhaben dünkte, meinte dennoch, daß nur von den Kreisen der unter der Flagge der national-sozialistischen Bewegung Zusammengeschlossenen eine Reform ausgehen kann! 56
Zeitweise hielt er sich zum Führer der Bewegung gegen den „sekundären Judengeist" erwählt. Sein vergeistigter und elitärer Antisemitismus hinderte ihn aber nicht, jüdische Erkennungsmerkmale penibel anzugeben wie das „orientalische Auge", ja für den Beitritt zu Parteien, Vereinen, Kongressen, Verbänden, Gewerkschaften usw. eine körperliche Untersuchung auf Beschneidung zu fordern. Dem erblindeten und 1927 verstorbenen Trebitsch blieb die praktische Erprobung seiner verstiegenen arischen Philosophie erspart. Einzelgänger wie Trebitsch können gewiß nicht als repräsentative Beispiele antisemitischer Einstellungen herangezogen werden; die paranoide Wendung ihrer geistigen Krise und die Aporien ihres Denkens müssen aber als Symptome eines politischen und gesellschaftlichen Klimas gewertet werden, das ,den Juden' mit der Schuld an allem Bösen der Welt belastete. Eine kritische Untersuchung von Trebitschs Biographie und Weltanschauung ist noch ausständig; sie müßte in Parallele zu Otto Weininger und Karl Kraus gestellt werden. 57 Nach den Extrembeispielen antisemitischer Publizistik und Praxis in der Ersten Republik ist der Blick noch einmal auf das Profil der Großparteien zu richten. Der bedeutendste Staatsmann der Christlichsozialen und des bürgerlichen Lagers überhaupt, der hochgebildete Prälat Ignaz Seipel, meinte zwar, der Antisemitismus sei „für die Gasse", trat aber dennoch in akademisch moderatem Ton für eine Zurückdrängung des „jüdischen Einflusses" ein - in seinem Bewußtsein als Priester bildeten Marxismus und Judentum den zu bekämpfenden Komplex: Die bolschewistische Gefahr ist eine jüdische Gefahr. Wollen wir ihr auf die Dauer Widerstand leisten, dann müssen wir uns national gründlich von den Juden scheiden. Sie sind nun einmal [...] unter dem Druck ihres tausendjährigen 56
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Arthur Trebitsch: Arische Wirtschaftsordnung. Wien-Leipzig 1925. S. 167. Vgl. ders.: Geist und Judentum. Wien 1919. Zum Jüdischen Selbsthaß' vgl. kritisch Walter Grab: „Jüdischer Selbsthaß" und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur und Publizistik 1890 bis 1933. In: Conditio Judaica II (Anm. 30) S. 313-336.
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Unglücks zu einem zersetzenden Element geworden, aus dem zwar immer wieder einzelne große und edle Menschen emporsteigen, das in seiner Masse aber, wohin seine Wellen schlagen, die Felsen des Volkstums zernagt und zersprengt.58
Diese seine Einstellung war es, die Seipel zum Unglück für die österreichische Innenpolitik letztlich hinderte, mit seinem intellektuellen Widerpart Otto Bauer, der seinerseits in Seipel den einzigen ebenbürtigen Gegner sah, in einen Dialog über weltanschauliche Barrieren hinweg einzutreten. Dr. Joseph Eberle, 1913-1918 Redakteur der „Reichspost", dann Herausgeber der Zeitschrift „Das Neue Reich" und ab 1925 der auch über Österreichs Grenzen hinaus beachteten „Schöneren Zukunft", begleitete den Weg Seipels zum Faschismus mit publizistischem Sperrfeuer gegen Sozialismus und Demokratie. Richard (von) Kralik, der katholisch-integralistische Schriftsteller und Historiker, steuerte für das „Neue Reich" (30. 1. 1919) einen Textvorschlag für die Bundeshymne bei, der das Haydnsche „Gott erhalte" so paraphrasierte: Gott erhalte, Gott beschütze vor den Juden unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze, Christen haltet festen Stand! Laßt uns unser Väter Erbe schirmen vor dem ärgsten Feind, Daß nicht unser Volk verderbe, bleibt in Treue fest vereint!
Noch vor dem verhängnisvollen Brand des Justizpalastes und der Todesopfer des 15. Juli 1927 erklärte Seipel in der „Schöneren Zukunft" (30. 1. 1927): Daß die Führer und Propagandisten des russischen Bolschewismus, des mit ihm zusammenhängenden Kommunismus in Deutschland und Österreich und auch des sehr radikalen und kulturkämpferisch eingestellten österreichischen Sozialismus zum Großteil Juden sind, erklärt den antisemitischen Einschlag in der Volksstimmung wohl zur Genüge. 59
Seipel schloß zur Bekämpfung der Sozialdemokratie den Bund mit dem Heimwehrfaschismus. Schon in der Frühzeit dieser Verbände hatte es seitens ihrer Führer markante Äußerungen im rassenantisemitischen Sinn gegeben; die Auslassungen Starhembergs um 1930 wie die berüchtigte über den im Sand rollenden Kopf des .Asiaten' Hugo Breitner richteten sich nach dem jeweiligen Hörerkreis und offenbarten den opportunistischen Charakter dieser Spielart des Antisemitismus. 58 59
Volkswohl (1919). Zit. nach Jonny Moser (Anm. 41) S. 85. Vgl. Walter Hannot (Anm. 37); Peter Eppel: Die Haltung der Zeitschrift „Schönere Zukunft" zum Nationalsozialismus in Deutschland 1934-1938. Diss. Wien 1977.
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Auch für große Teile des katholischen Klerus blieb das .Judentum' in Verquickung des traditionellen Antijudaismus der Kirche mit dem politischen Antisemitismus der Christlichsozialen Partei eine dunkle, zu bekämpfende Macht.60 Wie tief atavistische Vorstellungen im gläubigen Volk Wurzel fassen konnten, zeigt beispielhaft die bis in unsere Tage geführte Auseinandersetzung um den Kult des angeblichen Opfers eines Ritualmordes im Spätmittelalter, des Kindes Anderl von Rinn, dessen Verehrung in der Kirche von Judenstein erst der gegenwärtige Bischof von Innsbruck Reinhold Stecher ein Ende setzte. Der merkwürdige Hirtenbrief, den der Linzer Bischof Johannes M. Gföllner am 21. Jänner 1933, wenige Tage, bevor Hitler deutscher Reichskanzler wurde, veröffentlichte, ist wohl das wichtigste Dokument für das gespaltene Verhältnis der Kirche zu diesem Problem. Gföllners Position war entschieden antinationalsozialistisch (1938 unterschrieb er nicht die Aufforderung des Episkopats, mit Ja für den ,AnschIuß' zu stimmen); er lehnte den Rassenantisemitismus als „mit dem Christentum völlig unvereinbar" ab. Aber, weiter im Text, heißt es: Das entartete Judentum im Bund mit der Weltfreimaurerei ist auch vorwiegend Träger des mammonistischen Kapitalismus und vorwiegend Begründer und Apostel des Sozialismus und Kommunismus, der Vorboten und Schrittmacher des Bolschewismus. Diesen schädlichen Einfluß des Judentums zu bekämpfen und zu brechen ist nicht nur gutes Recht, sondern strengste Gewissenspflicht jedes überzeugten Christen, und es wäre nur zu wünschen, daß auf arischer und christlicher Seite diese Gefahren und Schädigungen bekämpft und nicht, offen oder versteckt, gar nachgeahmt oder gefördert würden.61
Andere hohe Vertreter des Klerus hielten Nationalismus und Katholizismus für vereinbar, so der aus Österreich stammende Bischof Alois Hudal, Rektor der „Anima" in Rom: Eine solide Rassenwirtschaft, eine besonnene Rassenpflege und deshalb ein Rassenschutz innerhalb gewisser Grenzen ist etwas durchaus Wünschenswertes und Notwendiges.
Die nationalsozialistische Politik sei eine notwendige Schlußfolgerung aus der Rassenlehre unter dem Gesichtspunkt der völkischen Logik. 62 60
61 62
Die wichtigste Auseinandersetzung mit dem Thema Katholische Kirche und Judentum bleibt das opus magnum von Friedrich Heer: Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler. Eßlingen 1967. Leopold Spira (Anm. 14) S. 87f. Alois Hudal: Die Grundlagen des Nationalsozialismus. Leipzig-Wien 1937. S. 77, 81.
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Der Wiener Erzbischof, Kardinal Theodor Innitzer, hatte als Rektor der Wiener Universität gegen die antisemitischen Ausschreitungen protestiert; aber auch ihm gelang es letztlich nicht, die Grenzen der amtskirchlichen Auffassung vom Judentum zu durchbrechen. Für diese Ambivalenz ist die Haltung P. Georg Bichimairs SJ signifikant, der am 18. März 1936 einen vielbeachteten Vortrag Der Jude und der Christ hielt. Bichlmair war Leiter des „Paulus-Werkes", das der christlich-jüdischen Verständigung dienen sollte, namentlich der Betreuung von ,Judenchristen'. Der Pater erklärte sich entschieden gegen die Zulassung von Konvertiten zu höheren Stellungen in Kirche und Staat. Bichlmair war es andererseits auch, der noch die Vorarbeit für den Aufbau des „Erzbischöflichen Hilfswerkes für nichtarische Katholiken" (1940) leistete, ehe er aufgrund dieser Tätigkeit ,gauverwiesen' wurde. Das Hilfswerk bot in der Zeit der Verfolgung dieser in Wien zahlreichen Menschengruppe Unterstützung bzw. Emigrationshilfe. 63 In der Neuen Israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs findet sich an abgelegener Stelle noch eine Gruppe dürftiger Grabmäler, deren Inschriften das Kreuz zeigen. Ein Stein weist das Relief des Kopfes Christi auf - es dürfte wenige Stätten geben, an denen Tragik und Hoffnung der Begegnung von Juden und Christen so tief zu erleben sind wie an den einsamen Gräbern der ,nichtarischen Katholiken' Wiens. In der Historiographie der SPÖ existierte die Frage nach dem Verhältnis der Partei zu Juden, Judentum und Antisemitismus lange Zeit nicht. In ihrer Programmatik gab es ja niemals einen Judenparagraphen wie bei den Bürgerlichen; die Sozialdemokratie war die antifaschistische Kraft gegen Dollfuß und Hitler gewesen. Die Frage nach Antisemitismus in ihren Reihen schien sinnlos zu sein, zumal seit ihrer Einigung und Organisation durch Victor Adler bedeutende Persönlichkeiten jüdischer Herkunft zu ihren ideologischen und politischen Führern zählten. Schon vor dem Weltkrieg hatte Otto Bauer, der einer jüdischen Fabrikantenfamilie entstammte, die Leitlinie der Partei festgelegt. Bauer lehnte die Autonomie einer jüdischen Arbeiterbewegung ebenso ab wie die Möglichkeit der Juden, eine .Nation' zu werden. 64 Assimilation war für Bauer ein ebenso notwendiger wie im Sinne der Führung des Klassenkampfes wünschenswerter und zu beschleunigender Prozeß 6 Als einer der ersten hat Otto Bauer die Zusammenhänge des Antisemitismus mit Antimarxismus und Faschismus erkannt und in seinem Buch 63
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Erika Weinzierl: Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung 1938-1945. Graz-Wien-Köln 1969. S. 95ff. Otto Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien 1907 (= Marx-Studien 2). S. 366ff. Otto Bauer: Die Bedingungen der nationalen Assimilation. In: Der Kampf 5 (1912) S. 253f.
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über die Österreichische Revolution (1923) analysiert; auch in diesem Zusammenhang fehlte nicht ein scharfer Seitenhieb auf das Jüdische' Kapital im Sinne eines Zitats von Friedrich Engels. 66 In seiner Abhandlung Der Kampf um die Macht (1924) führte Bauer diesen dann in der Propaganda der Partei weidlich ausgeschlachteten Gedanken weiter aus: Heute dient die ganze Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik der Christlichsozialen und Deutschnationalen selbst den Interessen der ebenso wie damals zum großen Teil jüdischen Großbourgeoisie, vor allem der Hochfinanz. Trotzdem können diese Parteien auch heute den Antisemitismus nicht ganz entbehren. Sie brauchen volkstümliche antisemitische Schlagworte gegen die Sozialdemokratie. Der jüdische Kapitalist bezahlt gern die Druckkosten antisemitischer Wahlflugblätter, um die Sozialdemokratie zu schwächen.67
Es steht fest, daß Bauers Argumentation die Masse der armen Juden weniger ins Gespräch brachte als die jüdischen Kapitalisten, die als Partner des Klassengegners denunziert werden. Hier liegt auch der Ansatz für antisemitische Motive in der Werbearbeit für die Sozialdemokratie, die auf eine längere Tradition zurückblicken können. Es ist etwa an die volkstümliche Agitation des „Tribuns von Ottakring", Franz Schuhmeier, zu erinnern wie auch an die arge Verunglimpfung Robert Dannebergs durch den sozialdemokratischen Deutschnationalen Engelbert Pernerstorfer. Der am linken Flügel der Partei stehende Danneberg opponierte der kriegsbejahenden Parteilinie. In der „Volkstribüne" (28.4.1915) ging Pernerstorfer unter dem Titel Der Typus Danneberg in beleidigenden Wendungen mit ihm und den jüdischen Intellektuellen im allgemeinen ins Gericht: Der Typus Danneberg zeichnet sich durch besondere Kaltschnäuzigkeit aus. Seine Leute sind reine Rationalisten. Alles wollen sie mit dem Verstand machen. [...] Zwei Menschenalter fast hat die deutsche Sozialdemokratie den falschen Gedanken des Altinternationalismus gepredigt - es kommt der Krieg, und wie Zunder fällt die unlebendige Theorie vom deutschen Arbeiter ab, und er steht zu seinem Volke. /TO
In unserem Zusammenhang ist weiters zu vermerken, daß Danneberg 1926 einen Bankenskandal zum Anlaß nahm, dem Finanzminister Ahrer und dem Außenminister Mataja Börsengeschäfte im Bunde mit den berüchtigten Bankiers Camillo Castiglioni und Siegmund Bösel vorzuwerfen. Dannebergs Rede im Parlament wurde sogar als Sonderdruck veröffentlicht (Die Schiebergeschäfte der Regierungsparteien. Der Antisemitismus im Lichte der Tatsachen). Als Präsident des Wiener Landtags war Danneberg seit dem Einzug einer starken nationalsozialistischen Fraktion mit 66 67 68
Vgl. Conditio Judaica II (Anm. 30) S. 33. Leopold Spira (Anm. 14) S. 60. Ebd. S. 64.
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persönlichen Beleidigungen konfrontiert; mit stoischer Ruhe wahrte er das formale Recht der Redefreiheit und ließ die Zwischenrufe „Saujud!" über sich ergehen. Das Dilemma der Sozialdemokratie gegenüber dem Judentum' spiegelte sich konkret in der Propaganda der Partei. Antisemitische Karikaturen in den Wahlkämpfen der frühen zwanziger Jahre waren keine Seltenheit. 69 Die schlimmste Entgleisung war die bereits zitierte Broschüre Der Judenschwindel von 1923, die zwar den Antisemitismus als „Helfershelfer des Kapitals und gefährlichen Feind des arbeitenden Volkes" verurteilte, aber mit Schlagworten wie „Die veijudeten Antisemiten", „Hakenkreuz und reiches Judentum gehören zusammen", „östliche Aasgeier" und dergleichen mehr eindeutig auf antijüdische Ressentiments abzielte. 70 Die Diskussion der Linken um die Stellung zum Zionismus hier auszubreiten ist nicht möglich. Hingewiesen sei auf die kontroverse Debatte, die Jacques Hannak und Mendel Singer im „Kampf (1927) führten, und auf das Buch des österreichischen jüdischen Kommunisten Otto Heller, Der Untergang des Judentums (Wien-Berlin 1931), dessen Illusionen später konkretisiert auf Stalins Birobidshan-Projekt - zu tragischem Scheitern verurteilt waren. Ein schwierig zu beurteilendes Problem bleibt auch die Haltung der österreichischen Arbeiterschaft nach dem Trauma der Februarniederlage 1934 gegenüber den jüdischen' Führern und die Frage der Aufnahmebereitschaft der in die Illegalität gedrängten Sozialdemokraten für nationalsozialistische Parolen. 71 Die Ausschaltung des Parlaments durch Dollfuß und die Niederlage der Arbeiterbewegung im Kampf gegen den österreichischen Faschismus modifizierte auch die Situation der Juden. Die Maiverfassung des christlich-deutschen' Ständestaats (1934) stellte die bürgerliche Gleichberechtigung der Staatsbürger aller Konfessionen nicht in Frage. 72 Jüdische Honoratioren wurden in die das autoritäre Regime verbrämenden Körperschaften kooptiert; nicht wenige den bürgerlichen und orthodoxen Gruppierungen angehörende Juden setzten Hoffnungen in den Aufbau der berufsständischen konservativen Ordnung. Wie in der Frühzeit der Republik gab es allerdings wieder Bestrebungen, die Juden als nationale Minderheit zu konstituieren, die aber über das Stadium theoretischer Erörterungen nicht 69 70
71
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Beispiele ebd. S. 156ff. Vgl. John Bunzl: Arbeiterbewegung und Antisemitismus in Österreich vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Zeitgeschichte 5 (1977) S. 161-171; ders.: Arbeiterbewegung, .Judenfrage' und Antisemitismus. Am Beispiel des Wiener Bezirkes Leopoldstadt. In: Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. Wien 1978. S. 7 4 3 763. Joseph Buttinger: Am Beispiel Österreichs. Ein geschichtlicher Beitrag zur Krise der sozialistischen Bewegung. Wien 1953; Rudolf G. Ardelt - Hans Hautmann (Hrsg.): Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. Wien-Zürich 1990. Sylvia Maderegger (Anm. 20).
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hinausgelangten. Für das programmatische Buch Ordnung in der Judenfrage (1933) schrieben der hochrangige christlichsoziale Politiker Emmerich Czermak und der Zionist Oskar Karbach. Von christlichsozialer Seite wurde zwar die Zurückdrängung der „Gehässigkeit" des Antisemitismus in Aussicht gestellt, der „Kampf gegen die wurzellosen, die entarteten Juden" sollte jedoch weitergehen. 1936 publizierte Leopold Kunschak einen von ihm schon 1919 niedergeschriebenen Gesetzesentwurf „Über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Nation", der seinerzeit auch die prinzipielle Zustimmung Seipels erfahren hatte und namentlich auf dem Gebiet des Schulwesens „jüdisch-nationale oder israelitisch-konfessionelle Minderheitsschulen" vorgesehen hätte. Als „Angehörige der jüdischen Nation im Sinne dieses Gesetzes" waren definiert a) alle Mitglieder der israelitischen Religionsgesellschaft als Bekenner der mosaischen speziellen Nationalreligion des jüdisch-israelitischen Volkes; b) alle jene, die sich, ohne der israelitischen Religionsgesellschaft anzugehören, dennoch zur jüdischen Nation gehörig erklären.74
Der Bedrohung von außen durch Hitlerdeutschland und von innen durch die illegalen Nationalsozialisten, auf deren Konto die Ermordnung von Bundeskanzler Dollfuß ging, hatte das autoritäre österreichische Regierungssystem nur geringe Kräfte entgegenzusetzen; ein Brückenschlag zur gedemütigten sozialdemokratischen Arbeiterschaft kam ebensowenig zustande wie eine Herstellung demokratischer Verhältnisse. Eine grundsätzliche Besinnung hinsichtlich des Verhaltens zu den jüdischen Österreichern blieb aus. Immerhin sind die Bemühungen einzelner hervorzuheben, die mutig, doch mit geringer Öffentlichkeitswirkung dem Antisemitismus entgegentraten. Hier ist der Kreis um Irene Harand zu nennen, die mit ihrer Wochenschrift „Gerechtigkeit" (seit 1933) den Kampf „gegen Rassenhaß und Menschennot" aufnahm, und der für die paneuropäische Einigung werbende Richard N. Coudenhove-Kalergi, dessen Vater schon sich als liberaler Gegner des Antisemitismus bewährt hatte.75 Es gelang nicht, rabiaten Antisemiten aus dem .christlichen' Lager das Handwerk zu legen. Anton Orel, der sich 1909 mit dem „Bund der Arbeiteijugend Österreichs" von der christlichen Arbeiterbewegung separiert hatte, stand nach dem Krieg im Antisemitenbund in Gemeinschaft und 73 74
75
Nikolaus Hovorka - Viktor Matejka (Hrsg.): Ordnung in der Judenfrage 1933. S. 48. Anton Pelinka (Anm. 37) S. 297ff. - Der Versuch des Innenministers Waber, bei der Volkszählung 1923 die Kategorie .Rasse' einzuführen, scheiterte - viele Befragte setzten in die betreffende Rubrik ,weiß' ein. Irene Harand: So oder so? Die Wahrheit über den Antisemitismus. Wien 1933; dies.: Sein Kampf. Eine Antwort an Hitler. Wien 1935; Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi: Das Wesen des Antisemitismus. Leipzig 1923; Richard N. Coudenhove-Kalergi: Judenhaß von heute. (Wien 1935).
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Konkurrenz mit den völkischen Antisemiten. Seinen sich auf Carl von Vogelsang berufenden religiösen und rassischen Antisemitismus speisten Quellen des romantischen Antikapitalismus. Den Höhe- oder besser gesagt Tiefpunkt seiner einschlägigen Publikationstätigkeit76 erreichte dieser Fanatiker mit einem umfangreichen Traktat über Jüdische Ritualmorde,71 aus dem nur eine Stelle als Stilprobe zitiert sei: So wollten denn die Judaisten ihrem Gott, den sie für Jahwe hielten, der aber doch der Teufel war, ein wohlgefälliges Opfer des Hasses und der Rache darbringen, indem sie Christus der Kreuzigung überlieferten. [...] Von dieser Erkenntnis aus ist es nun aber nicht schwer, in weiterem Schlüsse zu verstehen, wieso fanatische Judaisten dazu kommen konnten, nach Erneuerung und Fortsetzung dieses nach ihrer Auffassung gottesdienstlichen Haß- und Racheopfers zu streben. Daher Hostienschändungen, Durchbohrung, Zerschneidung, Annagelung des konsekrierten Opferbrotes, in dem, wie die Judaisten wußten, die Christen den darin verborgenen gegenwärtigen Erlöser verehrten. Daher Kreuzigungen und sonstige blutige Opferungen von in Christi Namen (Wesen) getauften, dadurch zu Gliedern seines mystischen Leibes gewordenen Christen.
Eine Anklage zur Unterbindung dieses Machwerks blieb erfolglos; es handle sich um ein wissenschaftliches Werk bzw. um die subjektive Meinung des Autors, befand die Behörde. Politische Verfolgung von Sozialdemokraten traf auch Juden, etwa im Fall der Entfernung von Ärzten aus dem Gemeindedienst. Der .deutsche Weg', den der hilflos zwischen den faschistischen Mächten taumelnde Schuschnigg-Staat 1936 einschlug, ließ auch die Dämme der nationalsozialistischen Propaganda bersten. Der Geschichtsprofessor Dr. Theodor Pugel und der uns bereits bekannte Dr. Robert Körber veröffentlichten einen imposanten Band Antisemitismus der Welt in Wort und Bild. Der Weltstreit um die Judenfrage (Wien 1936) mit so überraschenden wissenschaftlichen Ergebnissen wie der jüdischen Abstammung Karls des Großen und der Südtiroler Grödnertaler. Hier konnte man aber nicht nur die für das historische Selbstverständnis der Nationalsozialisten zentrale ,Weltgeschichte' des Antisemitismus nachlesen, sondern auch seine zur vielberufenen ,Tat' gewordenen Konsequenzen kennenlernen: Die Dissimilation hat die Ausscheidung der Juden aus den Lebensbereichen durch Gesetz zur Folge: Aus dem Blutsgefüge durch Verbot von rassischen Mischehen; aus dem gesamten Kultur- und Kunstleben durch Einführung des Arierparagraphen; aus dem politischen Leben durch Aufstellung des Grundsat76
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Anton Orel: Der judaistische Weltkrieg und das Kulturprogramm der Volkspartei. Wien 1919; ders.: Judaismus oder deutsche Romantik. Wien 1924; ders.: Judentum als weltgeschichtlicher Gegensatz zum Christentum. Graz 1934. Christian Loge (= Anton Orel): Gibt es jüdische Ritualmorde? Eine Sichtung und psychologische Klärung des geschichtlichen Materials. Graz-Leipzig 1934. S. 181.
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zes von der artgemäßen und blutsverwandten Führung in Staat, Verwaltung und Politik; wirtschaftlich durch allmähliche Überleitung der spekulativ erworbenen jüdischen Vermögenswerte in die Hand des deutschen Wirtschaftsführers des deutschen Volkes. 7 8
Der Anfang des Endes Österreichs und der österreichischen Juden kündete sich an.
Das Jahr 1938 Noch in der letzten Stunde der Ersten Republik, am 11. März 1938, als die politischen und militärischen Aktionen Hitlerdeutschlands zur Auslöschung des österreichischen Staates bereits angelaufen waren, konnte man in dem Wiener jüdischen Blatt „Die Stimme" den verzweifelten Appell lesen: „Wir bejahen Österreich! Alles an die Urnen!" Die bürgerlichen Schichten waren bereit, den Ständestaat zu akzeptieren, als letztes Bollwerk gegen den Nationalsozialismus. So kam es, daß der Präsident der Kultusgemeinde, Dr. Desider Friedmann, Schuschnigg am 10. und 11. März Schecks über insgesamt 800 000 S für die Durchführung der Volksbefragung über Österreichs Weiterbestand zur Verfügung stellte.79 Die Katastrophe Österreichs in den Märztagen 1938 war zugleich die Katastrophe des österreichischen Judentums: Der irrationale Haßausbruch im Taumel des .Anschlusses', schon so lange von der Ideologie der Antisemiten vorbereitet und geschürt, wurde im Unrechtsstaat des NS-Regimes Schritt um Schritt institutionalisiert, die Beleidigung, Demütigung, Erpressung und Ausplünderung der Juden zum System gemacht. Was Toleranz und Emanzipation, immer wieder gehemmt und gestört, in einer langen historischen Entwicklung erstrebt hatten - die Integration der jüdischen Minderheit in Staat, Gesellschaft und Kultur - , wurde nun rückgängig gemacht. Mit rasender Geschwindigkeit drehte sich das Rad der Geschichte zurück zur Barbarei des Pogroms. Mehr noch: In scheinbar gesetzlich korrekten, administrativen Prozeduren wurden die Juden ihrer Menschen- und Bürgerrechte, ihrer persönlichen Würde und ihres Eigentums beraubt, unter Anwendung psychischen Drucks und physischer Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben. Die Vergleichsmöglichkeit mit Judenver78
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Theodor Pugel - Robert Körber: Antisemitismus der Welt in Wort und Bild. Der Weltstreit um die Judenfrage. Wien 1936. S. 257. Körber hat nach dem ,Anschluß' ein triumphales, reich ausgestattetes Werk veröffentlicht: Rassesieg in Wien, der Grenzfeste des Reiches. Wien 1939. Jonny Moser: Das Schicksal der Wiener Juden in den März- und Apriltagen 1938. In: Wien 1938. Wien 1978 (= Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 2). S. 173.
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folgungen vergangener Jahrhunderte, der für diese Maßnahmen noch gegeben erscheint, endet dort, wo die Deportationen, bürokratisch präzis geplant und als lediglich technisches Problem exekutiert, den organisierten Massenmord in die Wege leiteten. Angesichts dieser Perspektive ist es heute nicht mehr möglich, all das, was 1938 an Juden verübt und verbrochen wurde, von der nachfolgenden ,Endlösung der Judenfrage' isoliert zu sehen. Mit dem ,Anschluß' Österreichs und den 1938 gesetzten Maßnahmen war der Weg zur Vernichtung bereits beschritten. Daß die wehrlosen Opfer des Terrors erst zu spät seine Dimensionen und Konsequenzen erkannten, ja meist nicht für möglich hielten, ist vielfach bezeugt. Käthe Leichter etwa, die als eine der ersten Frauen in Österreich in Staatswissenschaften promoviert worden war und sich zur Sozialdemokratie bekannte, sagte stolz angesichts der Schreckensszenen der Märztage: „Ich fürchte mich doch nicht vor den Lumpen." Sie habe, schrieb sie in jener merkwürdigen Blindheit gegenüber der Gefahr, „bis zum Jahre 1938 keinen Antisemiten kennengelernt".80 Während ihrem Mann und ihren Söhnen die Flucht gelang, blieb Käthe Leichter in Wien, um ihre alte Mutter nicht allein zu lassen. Im Nazikerker schrieb sie ihre Erinnerungen nieder - eines der erschütterndsten menschlichen Dokumente dieser Zeit - , kam 1940 in das Konzentrationslager Ravensbriick und wurde zwei Jahre später bei einer .Versuchsvergasung' ermordet. Unter den Flüchtlingen, die noch am 11. März mit dem Nachtzug die Tschechoslowakei zu erreichen hofften, war auch Dr. Robert Danneberg.81 Der Zug wurde in Lundenburg angehalten, seine Insassen unter dem gröhlenden Jubel der SA nach Wien zurücktransportiert. Danneberg sollte nicht mehr freikommen; er ging durch die Hölle der Konzentrationslager bis zu seiner Ermordung in Auschwitz. Schon in der Nacht vom 11. zum 12. März begannen die Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen durch SA- und NSDAP-Angehörige. Die hysterische Begeisterung bei Hitlers Heldenplatzansprache am 15. März fand ihren Kontrapunkt in sadistischen Quälereien von Juden. Zur ,Hetz' eines gaffenden Publikums wurden Juden unter Hohn und Mißhandlungen gezwungen, die Propagandaparolen der von Schuschnigg geplanten Volksabstimmung mit scharfer Lauge und bloßen Händen vom Straßenpflaster zu waschen. Läden und Gaststätten jüdischer Inhaber wurden mit antijüdischen Symbolen und Schimpfnamen beschmiert, vielfach Juden dazu genötigt. Dies alles ist durch zahlreiche Photographien dokumentiert: Das fassungslose Entsetzen in den Gesichtern der Opfer, giftige 80 81
Herbert Steiner (Hrsg.): Käthe Leichter. Leben und Werk. Wien 1973. S. 178, 309. Leopold Kane: Robert Danneberg. Ein pragmatischer Idealist. Wien-München-Zürich 1980 (= Schriftenreihe des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 11).
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Aggressivität oder dumpfe Gleichgültigkeit in den Mienen der Peiniger spiegeln dieses düsterste Kapitel in der Geschichte Wiens wider. 82 Der britische Journalist Gedye hat die Szenen dieses Infernos der Unmenschlichkeit und Niedertracht zornbebend beschrieben: Am frühen Morgen war das Gebäude [der Synagoge bzw. der Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse] von der SS besetzt worden. Dorthin pflegten die ärmsten der armen Juden zu kommen, um in der Ausspeisung eine Suppe zu empfangen. Die SS Schloß diese Ausspeisung und stahl alle Lebensmittelvorräte. Dann gab sie an bedürftige Juden, die um Unterstützung kamen, besondere Passierscheine aus. Unter diesen hatten sich auch die beiden befunden, mit denen ich nun sprach. Sobald sie das Gebäude betreten hatten, wurden sie in die Synagoge geschleppt, wo SS-Leute herumlungerten, die Pfeifen und Zigaretten rauchten. Die Juden wurden gezwungen, „körperliche Übungen" zu machen, insbesondere Kniebeugen, wobei sie in jeder Hand einen Sessel halten mußten. Die alten und schwachen, die hinfielen oder zusammenbrachen, wurden von den Nazi auf die brutalste Art mit Füßen getreten und geschlagen. Was aber die beiden Männer, mit denen ich sprach, vollkommen gebrochen hatte, war nicht der physische Schmerz - sie waren jung, hatten die Übungen zur Zufriedenheit ihrer Peiniger ausgeführt und waren selbst nicht geschlagen worden - , sondern der Religionsfrevel gewesen, der nun folgte. Man hatte sie gezwungen, die heiligen Tefillin, die Gebetsstreifen mit den zehn Geboten Gottes, an ihren Handgelenken zu befestigen und so den Fußboden und die Klosettmuscheln zu reinigen.83 Die nationalsozialistische Machtübernahme war durch die Legalisierung von Terror, Habsucht und Machtgier gekennzeichnet. Die im Laufe von fünf Jahren gegen die deutschen Juden auf .gesetzlichem' Weg verfügten Schikanen und Pressionen wurden in der angeschlossenen ,Ostmark' in wenigen Wochen und Monaten nachvollzogen und geschäftig überboten. Hier war das Experimentierfeld für jene Praktiken gewinnbringender Unterdrückung, Einschüchterung und Austreibung, die dann auch im ,Altreich' angewendet wurde. 84 82
83
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Kurt Schmid - Robert Streibel: Der Pogrom 1938. Judenverfolgung in Österreich und Deutschland. Dokumentation eines Symposiums der Volkshochschule Brigittenau. Wien 1990; Hans Witek - Hans Safrian: Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938. Wien 1988. George E. R. Gedye: Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte. Wien (1947). S. 296f. Vgl. Gerhard Botz: Wien vom „Anschluß" zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39. WienMünchen 1978; Herbert Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938-1945. Wien 1978; ders.: Entrechtung, Verfolgung und Selbsthilfe der Juden in Österreich März bis Oktober 1938. In: Gerald Stourzh - Brigitta Zaar (Hrsg.): Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses" vom März 1938. Wien 1990 (= Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 16). S. 367—417.
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Am Morgen des 18. März wurden Präsidium und Angestellte der Wiener Kultusgemeinde verhaftet. Heydrichs Bevollmächtigter, der Judenreferent beim SD in Wien, Adolf Eichmann, gab eine erste Probe seiner Fähigkeiten, den Terror praktisch und einträglich zu administrieren. Die Kultusgemeinde wurde gezwungen, einen Zuschlag zur Kultussteuer auszuschreiben, dessen Höhe der erwähnten Spende an die Vaterländische Front entsprach. In der Folge sollte dieser Verwaltungsbeamte des Holocaust sein Geschick bewähren, aus den zur Auswanderung Genötigten soviel wie möglich an Geld und Geldeswert herauszupressen. Die von Goebbels in seiner Wiener Rede zynisch kommentierte Selbstmordwelle unter den Wiener Juden war letzter, tragischer Ausdruck der Unmöglichkeit, dem sich immer dichter zusammenziehenden Netz der Verfolgung zu entrinnen. Die Namen jener prominenten Vertreter von Literatur, Theater, Musik und Kunst aufzuzählen, die als .Juden' - unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis - in ein ungewisses Exil getrieben wurden, hieße ein Bild der geistigen Welt Österreichs entwerfen, jenes größeren Österreich, dessen Erbe der Internationalität, der Aufgeschlossenheit für Neues und Bahnbrechendes nunmehr in der Nazibarbarei versank. 85 Lassen wir von den Tausenden Sigmund Freud zu Wort kommen, der, im 82. Lebensjahr und bereits schwer krank, nach London emigrieren mußte: „Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt" (Brief aus London 6. Juni 1938). Vor seiner Abreise hatten die Nazis von ihm eine Erklärung erpreßt: Ich, Prof. Freud, bestätige hiemit, daß ich nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich von den deutschen Behörden und im besonderen von der Gestapo mit der meinem wissenschaftlichen Ruf gebührenden Achtung und Rücksicht behandelt wurde, daß ich meiner Tätigkeit ganz meinen Wünschen entsprechend frei nachgehen konnte und nicht den geringsten Grund zu einer Beschwerde hatte.
In der höflichen Frage Freuds an den Nazikommissar, ob er den Satz „Ich kann die Gestapo aufs beste jedermann empfehlen" beifügen dürfe, triumphierte der Intellekt über die brutale Geistfeindlichkeit der Machthaber. 86 Für die Legion der Vertriebenen hat Stefan Zweig das vernichtende Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, beschrieben, 85
86
Vgl. Franz Goldner: Die österreichische Emigration 1938 bis 1945. Wien-München 1977; Österreicher im Exil 1934 bis 1945. Protokoll des internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945. Wien 1977. Emest Jones: Sigmund Freud. Leben und Werk. Frankfurt 1969. S. 674f.
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jenen grauenhaften, jenen keinem, der ihn nie am eigenen Leib erlebt, erklärbaren Zustand der Vaterlandslosigkeit, dieses nervenzermürbende Gefühl, mit offenen wachen Augen im Leeren zu taumeln und zu wissen, daß man überall, wo man Fuß gefaßt hat, in jedem Augenblick zurückgestoßen werden kann.87
In den Reihen des ersten Transports (1. April 1938) von österreichischen Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in das Konzentrationslager Dachau waren 60 Juden. Im Mai folgte dann eine 2000 .unliebsame' Juden erfassende Verhaftungswelle. Die Demagogie des Antisemitismus und die Wirtschaftspolitik des Dritten Reiches verbanden sich in den Arisierungen von Betrieben und Geschäften jüdischer Inhaber, die auf die erste ,wilde' Enteignungsaktion durch selbsternannte .Kommissare' folgten. Dieser Aspekt der nationalsozialistischen Judenpolitik schuf zusammen mit der Verteilung von freigewordenen Wohnungen jenen materiellen Anreiz, der aus den Nutznießern bedingungslose Anhänger und Abhängige des Regimes machte. Es war eine logische Konsequenz des »Anschlusses', daß schon am 15. März jüdische Beamte von der Eidesleistung ausgeschlossen wurden; selbstverständlich ließ die Regierung Seyß-Inquart Juden zur .Volksabstimmung' am 10. April nicht zu. Die Nürnberger Rassegesetze traten am 20. Mai in Kraft. Die Absurdität, mit der die ,Rasse' durch das Religionsbekenntnis der Vorfahren definiert wurde, konnte der von den Nazibehörden angeordneten Ahnenforschung keinen Abbruch tun. Die Ausstellung „Der ewige Jude" und Julius Streichers Hetzblatt „Der Stürmer" trugen dazu bei, das negative Stereotyp ,Jude' im Bewußtsein der Bevölkerung zu verankern. Die systematisch betriebene Propaganda machte die Juden zu ,Volksschädlingen', ,Staatsfeinden' und .Ungeziefer', dessen Vertilgung immer unverhüllter gefordert wurde. Die Abstumpfung des Gewissens im totalitären Staat wurde gegenüber den Juden erschreckende Realität. Umso höher muß das auch nach der Befreiung Österreichs vielfach unbemerkte und unbelohnte Heldentum jener „zu wenigen Gerechten" (E. Weinzierl) unter den Österreichern gewürdigt werden, die sich gegen den Strom stellten und unter Gefahr ihrer eigenen Existenz jüdischen Freunden, Bekannten, Nachbarn Hilfe leisteten und Zuflucht boten. Für die Folgezeit bedeutsam wurde das Umdenken vieler Katholiken, Priester und Laien gegenüber den verfolgten Juden. Bis Kriegsausbruch wurden über 250 gegen die Juden gerichtete Verordnungen erlassen. Sie aufzuzählen bedeutete, die Einschränkung des Lebensraumes der Juden zu protokollieren, wie sie Zug um Zug, ganz normal, legal und pedantisch erfolgte. Stefan Zweig berichtete über seine greise, in Wien zurückgebliebene Mutter: 87
Stefan Zweig (Anm. 1) S. 354.
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Gleich eine der ersten Wiener Verfügungen hatte sie hart getroffen. Sie war mit ihren vierundachtzig Jahren schon schwach auf den Beinen und gewohnt, wenn sie ihren täglichen kleinen Spaziergang machte, immer nach fünf oder zehn Minuten mühseligen Gehens auf einer Bank an der Ringstraße oder im Park auszuruhen. Noch war Hitler nicht acht Tage Herr der Stadt, so kam schon das viehische Gebot, Juden dürften sich nicht auf eine Bank setzen - eines jener Verbote, die sichtlich ausschließlich zu dem sadistischen Zweck des hämischen Quälens ersonnen waren. Denn Juden zu berauben, das hatte immerhin noch Logik und verständlichen Sinn, weil man mit dem Raubertrag der Fabriken, der Wohnungseinrichtungen, der Villen und mit den freigewordenen Stellen die eigenen Leute füttern, die alten Trabanten belohnen konnte. [...] Aber einer alten Frau oder einem erschöpften Greis zu verweigern, auf einer Bank für ein paar Minuten Atem zu holen, dies war dem zwanzigsten Jahrhundert und dem Mann vorbehalten, den Millionen als den größten dieser Zeit anbeten. 88
Bereits im April 1938 wurde ein Numerus clausus (2 Prozent) für jüdische Hochschüler verfügt; auch im Volksschul- und Mittelschulbereich wurde die Isolierung der jüdischen Schüler rasch durchgeführt. Am 14. November wurde Juden das Universitätsstudium überhaupt untersagt. Im gleichen Monat erfolgte das Verbot des Besuchs von Theatern, Kinos, Tanzlokalen und Ausstellungen. Buchhandlungen von Juden wurden in diesem Feldzug gegen den Geist geschlossen, Ende des Jahres auch die Bibliotheken für Juden gesperrt. Das Berufsausübungsverbot für jüdische Ärzte und Apotheker für nichtjüdische Patienten trat gleichfalls noch Ende 1938 in Kraft. Die Einführung einer ,Kennkarte' und die Stempelung der Pässe mit einem ,J' gaben die Möglichkeit unablässiger Kontrolle und Schikane. Die Verfolgungswelle des Jahres 1938, die zum Pessach- und Versöhnungsfest aufs neue in von der Obrigkeit geduldeten und geförderten Exzessen ausbrach, erreichte ihren Höhepunkt in dem von höchsten Parteistellen angeordneten Pogrom der ,Reichskristallnacht', die nunmehr die akute Bedrohung der jüdischen Bevölkerung in ihrer Gesamtheit an Leib und Leben offenkundig machte. Gegen 23 Uhr des 9. November erhielt die Wiener Gestapo Weisungen aus München zu einer .spontanen' Aktion in .Räuberzivil' gegen die Juden - das Attentat Herschel Grynszpans war der willkommene Anlaß, die im Frühjahr zu kurz gekommenen Parteianhänger zufriedenzustellen. Tausende zerstörte und geplünderte Wohnungen und Geschäfte, 42 demolierte, meist ausgebrannte Synagogen und Bethäuser, mindestens 27 getötete, 88 schwerverletzte und 6547 allein in Wien verhaftete Juden zeichneten die blutige Spur der .kochenden Volksseele'. Auch in anderen österreichischen Städten, vornehmlich in Graz 88
Ebd. S. 369.
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und Innsbruck, kam es zu gelenkten Ausschreitungen gegen Juden und systematischen Zerstörungen von Synagogen. 89 Heydrich konnte am 12. November 1938 berichten, daß seit März aus Österreich 50 000 Juden zur Auswanderung gebracht worden waren, während im ,Altreich' nur 19 000 Juden emigrierten. Nach der ,Reichskristallnacht' lief die Uhr für die Auswanderungswilligen, für die es zunehmend schwerer wurde, aufnahmebereite Staaten zu finden, immer schneller ab. Im ganzen emigrierten mehr als 125 000 Juden aus dem österreichischen Raum; das verbleibende Drittel der österreichischen Juden, 65 000, geriet in die Räder der erbarmungslosen Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager. Das Jahr 1938 hatte in Konsequenz der antisemitischen Tradition den Juden das Recht abgesprochen, zur bürgerlichen und menschlichen Gemeinschaft zu gehören - es gab kein Halten mehr auf der Bahn, die in den Abgrund führte. Aller Erniedrigung, allen Qualen und selbst dem Tod zum Trotz haben jüdische Menschen, welcher Weltanschauung und welcher politischen Richtung immer, standgehalten. Stellvertretend für sie, die ersten und letzten Opfer dieser „Zeit ohne Gnade" (Rudolf Kalmar), möge der am 16. Februar 1939 im KZ Buchenwald verstorbene Dichter Jura Soyfer das Wort haben. Der obszönen Schändung des Wortes „Arbeit macht frei" am Tor der Konzentrationslager stellte Soyfer das ungebrochene Bekenntnis zur Menschenwürde in einer befreiten, solidarischen Gesellschaft gegenüber - sein Dachaulied: Stacheldraht, mit Tod geladen, Ist um unsre Welt gespannt, Drauf ein Himmel ohne Gnaden Sendet Frost und Sonnenbrand. [...] Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt, Und wir wurden stahlhart dabei. Bleib ein Mensch, Kamerad, Sei ein Mann, Kamerad, Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad: Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei, Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei! 90
In der letzten großen Zerstreuung haben jüdische Menschen aus Österreich, dem ausgelöschten Österreich, die Fackel des Geistes durch eine Zeit der Dunkelheit getragen. Die Erinnerung daran zu bewahren ist wichtig. Aber wir alle - die Juden und die .anderen' - müssen mit der Trauer leben, die aus den Zeilen des Gedichts Judengrab von Berthold Viertel spricht: 89 90
Herbert Rosenkranz: „Reichskristallnacht". 9. November 1938 in Österreich. Wien 1968. Jura Soyfer: Das Gesamtwerk. Wien-München-Zürich 1980. S. 245.
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Nicht in Jerusalem Will ich gebettet sein. Nicht am Berg Horeb Raste mein Gebein. Nein, in der Welt zerstreut, Auf fremden Wegen Soll man mich unbesorgt Irgendwo niederlegen. Nicht wo mein Vater blieb, Nicht wo die Söhne wandern, Begrabt mich, wo ich sterbe, Bei allen andern.91
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Berthold Viertel: Dichtungen und Dokumente. München 1956. S. 51. Zum Thema dieses Beitrages vgl. noch Friedrich Stadler (Hrsg.): Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. 2 Bde. Wien-München 1987-1988; Michael John - Albert Lichtblau (Hrsg.): Schmelztiegel Wien - einst und jetzt. Wien 1990; Syllvia Steinbauer: Antisemitismus in der Ersten Republik. Aspekte eines Phänomens anhand ausgewählter zeitgenössischer Quellen mit besonderer Berücksichtigung von Arbeiterzeitung und Reichspost. Diplomarbeit Wien 1990; Jens Budischowsky: Assimilation, Zionismus und Orthodoxie in Österreich 1918-1938. Jüdisch-politische Organisationen in der Ersten Republik. Diss. Wien 1990; Leon Botstein: Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938. Wien 1991; Bruce Ε Pauley: From prejudice to persecution. A history of Austrian anti-semitism. Chapel Hill 1991; Robert Streibel: Plötzlich waren sie alle weg. Die Juden der „Gauhauptstadt Krems" und ihre Mitbürger. Horn-Waidhofen/Thaya 1991 (= Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 33).
Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck)
Judentum, Antisemitismus und Literatur in Österreich 1918-1938
Die Erste Republik war, gerade auch im Milieu der Intellektuellen und insbesondere der Universitäten, anders als die untergegangene Monarchie, ein Hexenkessel des Judenhasses und der Gewalt. Gewalt gegen Juden war vor allem an der Universität Wien etwas ganz Alltägliches; den berüchtigten Wiener Exzessen des März 1938 wurde hier zwei Jahrzehnte lang präludiert. Die zahlreichen jüdischen Studierenden der Wiener Universität hatten unter systematischen Prügelüberfällen ihrer deutschnationalen und bald nationalsozialistischen Kollegen zu leiden, unter einem „Hakenkreuzterror",1 der ihnen das Studium erschweren, es ihnen gar unmöglich machen sollte. Richard Thieberger, der 1931 an der Universität Wien immatrikulierte, erinnert sich: Der akademische Boden war der Polizei nicht zugänglich, sodaß die akademischen Freiheiten für einen Teil der Studenten alles andere denn Freiheit bedeuteten. Von Zeit zu Zeit - und immer öfter - wurde eine Hörsaaltür aufgerissen und eine Horde von Schlagwaffen schwingenden Rowdys gröhlte: .Juden hinaus!' [...] Unter solchen Verhältnissen waren besonders Studenten mit prononciert jüdischem Aussehen de facto vom Studium ausgeschlossen. Aber auch alle anderen waren natürlich verunsichert und gefährdet. Vor allem zwischen zehn und zwölf Uhr, wenn die Hauptvorlesungen stattfanden, war der Besuch der Universität besonders bedenklich.2
Gegen den Hakenkreuzteiror. In: Neue Welt (Wien), 30.11.1928. Faksimiliert in: Harald Seewann: Zirkel und Zionsstern. Bilder und Dokumente aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationsstudententums. Begleitband. Graz 1990. S. 348; vgl. die Darstellung von John Haag: Blood on the Ringstraße. Vienna's Students 1918-1933. In: The Wiener Library Bulletin 29. 1976. S. 29-34. Richard Thieberger: Die assimilierte jüdische Jugend im Wiener Kulturleben um 1930. In: Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus im Wien seit dem 19. Jahrhundert. Hrsg. von Gerhard Botz, Ivar Oxaal und Michael Pollak. Buchloe 1990. S. 271-284, 397. Hier S. 280f.
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Hemmungslose Anwendung von Gewalt war für die Erste Republik überhaupt charakteristisch; außer der Gewalt gab es aber gerade auch an den Hochschulen genug andere, mindestens ebenso böse Formen der antisemitischen Diskriminierung. Die jüdische Zeitung „Die Stimme" berichtete etwa 1928 empört von einem Vorfall an der Universität Wien: der Dekan der medizinischen Fakultät, Arzt, hatte „einer Abordnung von jüdischen Studenten, welche ihm Vorschläge zur Verhinderung der unwürdigen Exzesse machte", geantwortet: „,Mit Ezes bin ich versehen!' Man kennt wohl die schmierigen, aus dem antisemitischen Instinkt geborenen, Jargonanwandlungen der Figuranten vom Schlage des Herrn Dekans Arzt und nimmt sie nicht tragisch; doch sei der Öffentlichkeit nicht vorenthalten, wie sich ein Dekan der Wiener Universität benimmt." 4 Auf einer zionistischen Versammlung löste der Bericht über diese „symptomatische Episode" 5 „stürmische Pfuirufe" aus.6 Ähnlich erinnert sich Elias Canetti an Assistenten des Instituts für Chemie, denen die Namen galizischer Juden „unwiderstehlich komisch erschienen", so daß es vorkam, „daß man einen solchen Namen dehnte und genüßlich auf der Zunge zergehen ließ." 7 In diesem Klima kam es selbstverständlich auch vor, daß die Studenten heftigst gegen die Habilitation eines Juden protestierten - beispielsο
weise in Innsbruck 1925 - und daß in akademischen Kreisen 1929/30 am lautstärksten die Verurteilung des lettischen Juden Philipp Halsmann in einem fragwürdigen Indizienprozeß gefordert wurde; der ursprünglich dem deutschnationalen Lager nahestehende angesehene Strafrechtler Theodor Rittler, der aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit für einen Freispruch Halsmanns eingetreten war, wurde von den antisemitischen Studenten geradezu geächtet.9 3
Vgl. dazu Gerhard Botz: Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1934. München 1976. Botz* hervorragendes Buch behandelt die Gewalt in der Ersten Republik allerdings vor allem in Hinblick auf die Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten und schenkt der antisemitischen Gewalt nur wenig Aufmerksamkeit; die antisemitischen Exzesse an der Universität Wien werden als eine „Nebenfront" (S. 188) nur in einem Satz erwähnt (S. 189), in der Statistik der Opfer politischer Gewalt (S. 236f.) wird ebenfalls auf spezifisch antisemitisch motivierte Verbrechen nicht eingegangen, und so erscheint beispielsweise Bettauer offensichtlich als „sonstiger Zivilist".
4
Eine würdige Republikfeier. In: Die Stimme. Jüdische Zeitung (Wien), 15.11.1928. Faksimiliert in Seewann (Anm. 1), Begleitband, S. 346. Ebenda. Gegen den Hakenkreuzterror (wie Anm. 1). Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. München 1980. S. 208f. Dazu Michael Gehler: Studenten und Politik. Der Kampf um die Vorherrschaft an der Universität Innsbruck 1918-1938. Innsbruck 1990 (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, 6). S. 105ff. Vgl. dazu ebenda, S. 110.
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Die Gründe für diese Radikalisierung des Judenhasses und für seine zunehmende Gewalttätigkeit sind bekannt. Die Kriegserfahrung hatte wohl überhaupt das Verhältnis der Bevölkerung zur Gewalt verändert, den Wert des Menschenlebens verringert. Auch der Rechtsstaat war nach Jahren der Außerkraftsetzung des Rechts manchen fragwürdig geworden. Die Verunsicherung der Bevölkerung nach dem verlorenen Krieg und die materielle Not, in vielen Fällen der Vermögensverlust, ließen das Bedürfnis nach Schuldzuweisungen wachsen. Der Umstand, daß 1914/15 zahlreiche durch Kleidung und Sprache sehr deutlich als solche zu identifizierende orthodoxe Juden aus den von den Russen besetzten oder mindestens bedrohten Gebieten in Galizien und der Bukowina nach Westen, vor allem nach Wien, geflohen waren, hatte, obendrein in einer Zeit einer sehr schlechten Versorgung mit Nahrungsmitteln, die Abneigung gegen die Juden geschürt. Allein die Auffälligkeit ihrer Namen, die man bislang wohl vor allem aus dem Witz kannte, erregte Befremden. Fritz von Herzmanovsky-Orlando, der freilich zum Antisemitismus tendierte, schrieb etwa am 18. November 1914 an Alfred Kubin: 10 Meine größte Freude ist jetzt die Lektüre der Namen der jüdischen Flüchtlinge. Da gibts seltene Funde, z.B. Leiser Leib Christusmörder, Nuchem Grabschänder, Aron Seitensprung, Hintergedanke etc.
Die Zwangsmaßnahmen zur Rückführung der nun polnische und rumänische Staatsbürger gewordenen Juden waren dann nach 1918 ein wichtiges innenpolitisches Thema. 11 Man kann auch nicht bestreiten, daß aus verschiedenen in der Sozialstruktur liegenden Gründen sowohl Wiener Juden als auch manche dieser geflüchteten Ostjuden zu erfolgreichen »Schiebern' geworden waren, denen man mit einer gewissen Berechtigung einen Anteil am materiellen Elend der Kriegs- und Nachkriegsjahre zuschrieb. Daß auch unter den ,neuen Reichen' der zwanziger Jahre einige Juden waren - als die erfolgreichsten präsentierten sich Siegmund Bösel und Camillo Castiglioni 12 verstärkte den latenten Antisemitismus besonders in den verarmenden Schichten des Bürgertums. 10
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Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Der Briefwechsel mit Alfred Kubin 1903 bis 1952. Hrsg. von Michael Klein. Salzburg 1983 (= FHO: Sämtliche Werke, 7). S. 89. Herzmanovsky ist allerdings überhaupt an Namen sehr interessiert gewesen. Vgl. Leopold Spira: Feindbild ,Jud". 100 Jahre politischer Antisemitismus in Österreich. Wien 1981. S. 75ff. Siehe femer Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft (1927). In: Roth, Werke 2 (Das journalistische Werk 1924-1928). Köln 1990. S. 827-902. Hier S. 864f. (im Rückblick). 1919/20 scheint sich Roth zu diesem Thema nicht geäußert zu haben; auch in den neu zugänglichen Texten finden sich höchstens Anspielungen (Roth, Werke 1: Das journalistische Werk 1915-1923. Köln 1989). Zu diesem vgl. Franz Mathis: Camillo Castiglioni und sein Einfluß auf die österreichische Industrie. In: Historische Blickpunkte. Festschrift für Johann Rainer. Innsbruck 1988 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, 25). S. 423-432.
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Dazu kam dann noch, daß in der die Republik tragenden Partei, der Sozialdemokratie, die man für die Veränderungen zum Schlechten leicht verantwortlich machen konnte, der Anteil der Juden unter den führenden Politikern relativ groß gewesen ist; in einer antisemitischen Hetzschrift wird Victor Adler parodistisch die Sorge zugeschrieben: „,Ach ja, es is ä Jammer, daß in ünserer Partei so viele von ünsere Laite sind!'" 13 Diese Verhältnisse spiegeln sich auch in Literatur, die keineswegs als antisemitisch bezeichnet werden kann. Ich beschränke mich auf ein Beispiel, den Roman Wohin rollst du, Äpfelchen ... von Leo Perutz (1928), der für eine Berliner Zeitschrift und einen Berliner Verlag geschrieben wurde. 14 Zum Bild der Nachkriegszeit in Wien gehören hier - als Nebenfiguren - der Advokat Sigismund Eichkatz und der Spekulant Dr. Bamberger, beide nur durch ihre Namen als Juden gekennzeichnet. Eichkatz, der unter Umgehung der Gesetze und nach dem Grundsatz ,Rupfen, rupfen, rupfen!' einem Jonas Eiermann, „keinem Österreicher", die Einreise in ein anderes Bundesland verschafft, wird nicht unbedingt negativ dargestellt; dazu ist die Figur auch zu unwichtig.15 Sie dient vor allem der Darstellung eines Milieus der Nachkriegszeit, in dem die alte Ordnung nicht mehr gültig ist; daß Perutz dafür eine jüdische Figur erfindet, ist bezeichnend. Ähnliches gilt von dem Großspekulanten Bamberger, der zwei Mal erscheint (72-77, 219-222), zuerst mit dem, in der Sprache der zwanziger Jahre formulierten, Plan, vom Zusammenbruch des „alten Reichtums" zu profitieren (77), dann als erfolgreicher und Respekt einflößender „Präsident Bamberger". Auch diese Figur, für die Castiglioni ein Vorbild gewesen sein mag, hat keine unmittelbare politische Bedeutung; für uns interessant ist, daß ein Neureicher gleichsam selbstverständlich einen jüdischen oder als jüdisch empfundenen Namen trägt, auch in einem von einem Juden geschriebenen Roman. Wie in der Literatur und noch mehr als in ihr spiegelt sich diese Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse auch in der zeitgenössischen Publizistik. 16 Besonders auffällig und irritierend ist dabei die verantwor13
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Karl Paumgartten [= Karl Huffnagl]: Repablick. Eine galgenfröhliche Wiener Legende aus der Zeit der gelben Pest und des roten Todes. Graz 1924. S. 200f. Zu den Entstehungsumständen und zum Erfolg dieses Romans vgl. Hans-Harald Müller und Brita Eckert: Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek. Frankfurt am Main 1989 (= Sonderveröffentlichungen der Deutschen Bibliothek, 17). S. 185ff. Leo Perutz: Wohin rollst du, Äpfelchen ... Reinbek 1989 (= rororo, 12338), S. 62-67, Zitate auf S. 67 und 66. Vgl. die Zitate vor allem aus konservativen Zeitungen bei Robert Julien: Antisimitisme et/ou antijudaisme dans la presse autrichienne au ddbut de la premiöre röpublique. In: Austriaca (Rouen). Heft 31. 1990. S. 49-60; femer die zahlreichen antisemitischen Flugschriften, aus denen die sehr materialreiche, wenn auch etwas chaotische Arbeit von Herbert Rütgen: Antisemitismus in allen Lagem. Publizistische Dokumente zur Ersten Republik Österreich 1918-1938. Graz 1989 (= Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz, 78), zahlreiche Auszüge bietet.
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tungslose Gleichsetzung von ,Kapitalist' und ,Jude' in der Presse der österreichischen Sozialdemokratie,17 nicht zuletzt auch in der Karikatur, in der Schieber und Spekulanten gerne mit Jüdischen' Attributen ausgestattet werden. Die Sozialdemokratie, die als einzige große Partei „keinen antisemitischen Programmpunkt hatte"18 und die „für viele ostjüdische Flüchtlinge einen starken materiellen und moralischen Rückhalt bedeutete", 19 glaubte auf den Appell an antisemitische Gefühle in ihrer Agitation doch nicht verzichten zu können: so heißt es etwa in einem sozialdemokratischen Plakat zu den Parlamentswahlen von 1923, mit einer entsprechenden Illustration, „UNTER DER CHRISTLICHEN REGIERUNG an deren Spitze ein Prälat steht, haben die jüdischen Banken das Volk ausgequetscht wie noch nie!"; 20 das Bild des Juden in diesem Wahlplakat unterscheidet sich kaum von christlichsozialer oder späterer nationalsozialistischer Bildpropaganda.21 Eine Analyse der steirischen sozialdemokratischen Zeitung „Arbeiterwille" in den Jahren 1919 und 1920 führt zur Schlußfolgerung: „Die steten Angriffe gegen den reichen Juden ebnen auch allgemeinen, von der Kapitalismuskritik völlig losgelösten antisemitischen Angriffen den Weg, so daß der Eindruck entsteht, man spekuliere hier offen mit antisemitischen Ressentiments."22 Solche schon an sich verwerflichen Formen der Propaganda boten obendrein radikaleren , nationalen' Antisemiten die bequeme Möglichkeit, ihren eigenen Judenhaß durch einen Verweis auf ähnliche Tendenzen bei den .internationalen' Sozialdemokraten zusätzlich zu rechtfertigen. Der Antisemitismus, dessen Nährboden solche Verhältnisse waren, und die Gewalt, durch die er sich artikulierte, trafen durchaus auch Literaten. Ein frühes Beispiel - von Anfang 1920 - ist die Verhinderung einer Lesung von Karl Kraus in Innsbruck, wiederum vor allem durch die deutschnationalen Studentenverbindungen, aber durchaus im Einverständnis mit dem Innsbrucker Gemeinderat und mit dem Senat der Universi17
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Vgl. recht differenziert, auch den Kampf der Sozialdemokraten gegen den Antisemitismus berücksichtigend, Rütgen, ebenda, S. 8-69; stärker polemisch Spira (Anm. 11), S. 8Iff.; zur Tradition dieser Form von sozialdemokratischer Propaganda vgl. auch Sigurd Paul Scheichl: Nuancen in der Sprache der Judenfeinde. In: Eine zerstörte Kultur (Anm. 2), S. 141-167, 374-379. Hier S. 142ff., mit Zitaten (zur Dreyfus-Affäre) aus der „Arbeiter-Zeitung" von 1898. Spira (Anm. 11), S. 81. Ebenda, S. 84. Abbildung ebenda, S. 160. Vgl. z.B. den jüdischen Begleiter des Bundeskanzlers in einer nationalsozialistischen Karikatur auf Schuschnigg aus dem Jahr 1938, abgebildet in: Tirol 1938. Voraussetzungen und Folgen. Ausstellung des Landes Tirol. Innsbruck 1988. S. 26. Dieter A. Binder Der „reiche Jude". Zur sozialdemokratischen Kapitalismuskritik und zu deren antisemitischen Feindbildern in der Ersten Republik. In: Geschichte und Gegenwart (Graz) 4.1985. S. 43-53. Hier S. 53.
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tat. 23 Schwerer wiegt die Ermordung des Wiener Schriftstellers Hugo Bettauer im Jahre 1925, für die neben Bettauers publizistischem Eintreten für eine freiere Sexualmoral auch das Motiv des Judenhasses in hohem Maße ausschlaggebend gewesen ist. 24 Sucht man nach den Spuren dieses Judenhasses in der Literatur oder bei den Schriftstellern, wird man freilich weniger leicht fündig, als man erwarten würde. Wendelin Schmidt-Dengler hat auf die Notwendigkeit hingewiesen, gerade in Hinblick auf solche politische Aspekte das Feuilleton und den Trivialroman der Ersten Republik zu untersuchen 25 und es ist ihm und seinen Schülern auch gelungen, manche aussagekräftigen Werke und Machwerke ausfindig zu machen. Aber obwohl in vielen im Zeitraum der Ersten Republik entstandenen Werken judenfeindliche Motive in beachtlichem Ausmaß nachzuweisen sind und obwohl zweifelsohne ein großer Teil der damals schreibenden Autorinnen und Autoren den Juden nicht wohlgesinnt war, scheint es doch überraschenderweise damals eine wirklich breite und vielgelesene nur-antisemitische Trivialliteratur mit der ,Judenfrage' als zentraler Thematik nicht gegeben zu haben; diesen Eindruck bestätigt auch Erika Weinzierls nützliche, wenn auch im einzelnen nicht immer ganz verläßliche Übersicht über einschlägige Publikationen.26 Freilich ist der Stellenwert der judenfeindlichen Motive und Themen in den einzelnen Büchern nicht immer ganz leicht zu bestimmen. Man muß bei einer solchen Aussage auch bedenken, daß gerade diese Art von Literatur wenig Spuren hinterläßt und daß im übrigen einschlägige Produkte aus dem Deutschen Reich - Artur Dinter! - in Österreich zweifellos gekauft und mehr oder minder eifrig gelesen worden sind. Da Romane wahrscheinlich doch das wirkungsvollste literarische Transportmittel der judenfeindlichen Ideologie gewesen sind, werde ich mich hier auf diese Gattung konzentrieren. Massiv judenfeindliche Dramen ließen sich außer einem, meines Wissens nicht einmal veröffentlichten, Ritualmordstück eines Tiroler Geistlichen 27 von wohl nur lokaler Be23
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27
Vgl. dazu Gerhard Oberkofler: Der .Fall Kastil'. Akademischer Antisemitismus und die Innsbrucker Kraus-Vorlesungen. In: Kraus-Heft 21.1982. S. 2-6; Gehler (Anm. 8), S. 98ff. Vgl. Murray G. Hall: Der Fall Bettauer. Wien 1978. Wendelin Schmidt-Dengler: Die Erste Republik in der Literatur. „Wiener Roman" und Feuilleton. In: Staat und Gesellschaft in der modernen österreichischen Literatur. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger. Wien 1977 (= Publikationen des Institutes für Österreichkunde, 32). S. 65-78. Hier S. 66f. Erika Weinzierl: Antisemitismus in der österreichischen Literatur 1900-1938. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 20. 1967. S. 356-371. Der Text von Gottfried Schöpf (aus den dreißiger Jahren?) über den angeblichen Ritualmord von Rinn ist jedenfalls in der Universitätsbibliothek Innsbruck mit ihrer umfangreichen Tirolensiensammlung nicht vorhanden. Vgl. zu diesem Stück, dessen Aufführungen durch den .Ständestaat' von 1934 bis 1938 zensiert wurden, Gretl Köfler: „Wir wollen sehen, ob das Kreuz oder der siebenarmige Leuchter siegt!" Antisemitismus in Nordund Osttirol seit 1918. In: Sturzflüge (Bozen) Nr. 15/16 (Die Geschichte der Juden in Tirol). 1986 (5. Jg.). S. 89-95. Hier S. 91f.
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deutung nicht ermitteln; auch antisemitische Gebrauchslyrik habe ich in den Literaturzeitschriften der Zeit kaum entdecken können, obwohl es sie zweifellos gegeben hat; ein Beispiel sind Verse des als „Einpeitscher der Gewalt"28 aus dem Hintergrund geltenden Kaspar Hellering. 9 Die Möglichkeit, die Rolle des Problems in der Literatur Österreichs vom Literaturbetrieb und vor allem vom Verlagswesen her zu erfassen, 30 sei hier wenigstens angedeutet. Von drei in Frage kommenden Romanen, die Schmidt-Dengler 1977 exemplarisch untersucht hat,31 scheint nur in einem, in Paumgarttens Λ Λ
Repablick, die antisemitische Tendenz dominant zu sein. Daneben waren als Romane, in denen die ,Judenfrage' das beherrschende Thema ist, noch Die Weltverschwörer von Dietrich Arndt [= Roderich Müller-Guttenbrunn] (1926) 33 und Grete von Urbanitzkys im weiteren näher vorgestelltes Das andere Blut34 ermittelbar. Auch nachmalige Nationalsozialisten unter den österreichischen Autoren wie Mirko Jelusich und Robert Hohlbaum - über die neuere Untersuchungen vorliegen 35 - scheinen bei aller Betonung einer rechten politischen Position aus welchen Gründen immer dem Antisemitismus in ihren zahllosen Romanen wenig Platz eingeräumt zu haben.
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Rütgen, Antisemitismus (Anm. 16), S. 216. Zitiert bei Botz (Anm. 3), S. 132f.; dort auch einige Informationen zu diesem aktiven Judenhasser. Diesen Zugang versucht, mit interessanten Ergebnissen, Herbert Rütgen: Der Leopold Stocker Verlag von der Verlagsgründung bis 1938. In: Dieter A. Binder, Gudrun Reitter, HR: Judentum in einer antisemitischen Umwelt. Am Beispiel der Stadt Graz 1918-1938. Graz 1988. S. 173-202: derselbe: Antisemitismus (Anm. 16), S. 430ff. Für den Hinweis auf Rütgens Arbeit über den Stocker-Verlag danke ich Wolfgang Häusler. Bei Schmidt-Dengler (Anm. 25) werden behandelt: Karl Hans Strobl: Gespenster im Sumpf (1920) (vgl. Erika Weinzierl, Anm. 26, S. 364), Karl Paumgartten: Repablick (1924; bei Erika Weinzierl, S. 364f., nur flüchtig erwähnt); Heinrich Maria Seibert: Volk in der Wiege (1932). Der Aufsatz untersucht daneben auch Romane von demokratischer Tendenz. Strobls „Gespenster im Sumpf war mir allerdings nicht zugänglich. Wie Paumgarttens „Repablick" im Stocker-Verlag erschienen. Vgl. das Feuilleton in der nationalsozialistischen „Deutschösterreichischen Tages-Zeitung" (Wien), 29.5.1927, S. 12, wo das Buch als „Judenroman" bezeichnet wird; es war mir nicht zugänglich. Das von Rütgen, Stocker-Verlag (Anm. 30), S. 167, angegebene Erscheinungsdatum ist allenfalls das einer weiteren Auflage. Grete von Urbanitzky: Das andere Blut. Leipzig 1920. Johannes Sachslehner: Führerwort und Führerblick. Mirko Jelusich. Zur Strategie eines Bestsellerautors in den Dreißiger Jahren. Königstein/Ts. 1985 (= Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, 11); Johann Sonnleitner: Die Geschäfte des Herrn Robert Hohlbaum. Die Schriftstellerkarriere eines Österreichers in der Zwischenkriegszeit und im Dritten Reich. Wien 1989 (= Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, 18).
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Die antisemitische Einstellung Robert Hohlbaums (1886-1955) ist schon aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer österreichischen Burschenschaft 36 gegeben; briefliche Äußerungen seit Beginn seiner Karriere belegen sie eindeutig. 1921 klagt er etwa über seinen Brotberuf, seinen Dienst als Bibliothekar, mit den Worten:37 Wenn man den letzten Rest der ambitionierten Studentenschaft, der ja zum Großteil aus polnischen Juden besteht, mit Rattengift vertilgen könnte, wäre es für mich eine große Erleichterung.
In einem polemischen Brief über Otto Forst de Battaglia, der Hohlbaum -ίο zu Recht! - literaturkritisch abgewertet hatte, heißt es dann, schon 1933: Wenn sich jemand die Mühe nähme, die Ahnentafel des Herrn Forst-Battaglia zu untersuchen, so würde man draufkommen, daß seine Ahnen [...] im Tale Josaphat schliefen. Der Kerl ist bestimmt ein polnischer Jud, und man könnte das üble Reptil erwürgen [...]
Als, nach 1933, eine antisemitische Denunziation der eigenen Karriere nützen konnte, ergriff Hohlbaum wie selbstverständlich diese Möglichkeit. Gegen eine Würdigung Hofmannsthals in einer im Hitlerstaat erscheinenden Zeitschrift protestiert er so im Namen der völkischen Autoren Österreichs 1933 unter anderem auch mit der Feststellung, Hofmannsthal sei „Halbjude" gewesen;39 und in ähnlichem Zusammenhang stellt er, ebenfalls in einem Brief an Hans Friedrich Blunck, verärgert fest: „Heute erfahre ich, daß auch Felix Braun (Jude) sehr herausgestrichen ist." 40 1936 heißt es, 41 der neuen Terminologie schon völlig angepaßt: Außerdem ist neben Max Meli als bedeutender Dichter des bajuwarischen Stammes Felix Braun angeführt. Ich will menschlich nichts gegen ihn sagen und liegt mir ferne [!], ihn mit den üblichen Emigranten in einen Topf zu werfen. Aber hier handelt sich's doch um Grundsätzliches. Er ist Volljude. Daß man also in einer nationalen Literaturgeschichte uns ignoriert und einen Juden als Vertreter nationaler Dichtung behandelt, das geht denn doch nicht mehr! 36
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Sonnleitner, ebenda, S. 16ff. Aus dem Buch Harald Seewanns (Anm. 1), Textband, S. 7Of., geht allerdings hervor, daß die Burschenschaft Stiria, der Hohlbaum angehört hat, noch nach dessen Studienzeit .Mensuren' mit Juden gefochten, also offenbar nicht die radikalste antisemitische Position eingenommen hat. Brief Hohlbaums an Franz Karl Ginzkey, 4.6.1921; zitiert bei Sonnleitner (Anm. 35), S. 45; Sonnleitner druckt fälschlich „politische Juden". Brief Hohlbaums an Franz Karl Ginzkey, 29.5.1933; zitiert bei Sonnleitner (Anm. 35), S. 185f. Brief Hohlbaums an Hans Friedrich Blunck, 17.9.1933; zitiert ebenda, S. 188f. Brief Hohlbaums an Hans Friedrich Blunck, 27.9.1933; zitiert ebenda, S. 190. Brief Hohlbaums an Hans Friedrich Blunck, 14.10.1936; zitiert ebenda, S. 193.
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Nicht zu Unrecht trägt Sonnleitners Hohlbaum-Monografie den Titel Die Geschäfte des Herrn Robert Hohlbaum. So eindeutig Hohlbaum hier mit dem Argument des Judentums gegen einen urbaneren Konkurrenten Stellung bezieht, so gering scheint doch in seinen Romanen die Rolle der antisemitischen Motive zu sein. An negativ gezeichneten jüdischen Figuren ist in seinen zahlreichen wo nicht zahllosen Büchern zwar offenbar kein Mangel,42 und sie treten mehrfach in einer für den Antisemitismus bezeichnenden Funktion auf: als Verführer junger Frauen, oft der Verlobten des deutschen Helden; doch erscheinen in dieser Rolle nicht nur Juden, sondern auch andere Fremde, wie Tschechen und Franzosen.43 Für den durch seine sudetendeutsche Abkunft geprägten Hohlbaum ist das wohl recht bezeichnend: sein Haß galt dem Fremden im allgemeinen und vielleicht dem Tschechen noch mehr als dem Juden. Das mag ein Grund dafür sein, daß die negativ gezeichneten jüdischen Figuren zumeist nur Nebenfiguren in seinen Romanen sind; der Antisemitismus ist in diesen Büchern zwar als Botschaft präsent, scheint aber so wenig im Vordergrund zu stehen, daß es sogar gelegentlich einen positiv gezeichneten Juden gibt.44 Ähnliches dürfte auch für Mirko Jelusich gelten, dessen historische Romane von vornherein weniger Gelegenheiten für die Vorführung aktueller jüdischer Figuren bieten. Auch an Jelusich' antisemitischer Gesinnung ist nicht zu zweifeln; sie war wohl die Voraussetzung für seine leitende Tätigkeit im Kulturteil der „Deutschösterreichischen Tages-Zeitung (Dötz)",45 eines Blattes, das sich seit 1926 als österreichisches Organ der Nationalsozialisten bezeichnete46 und zu dessen Charakterisierung die Angabe genügt, daß man 1927, aufgemuntert durch die Worte: „Völkische, Antisemiten, auf zur Tat!", als Prämie für die Werbung eines neuen Abonnenten - dort hieß es selbstverständlich „Neubezieher" - die Protokolle der Weisen von Zion als Werbegeschenk erhielt.47 Jelusich war damit beispielsweise auch verantwortlich für die Rezension einer Operette von Edmund Eysler, in der die Frage gestellt wird: „Was sollten ein Krakauer, ein Eysler, ein Berte oder ein Granichstädten um das deutsche Wien wis42
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Hier stütze ich mich auf Sonnleitners (Anm. 35) Inhaltsangaben ausgewählter Romane Hohlbaums: Zukunft. 1922 (S. 273ff.; vgl. auch S. 57); Deutsche Passion. 1924 (S. 276f.); Der Gang nach Emmaus. 1925 (S. 277ff.); Zweikampf um Deutschland. 1936 (S. 294ff.). Sonnleitner (Anm. 35), S. 82f. Laut Sonnleitners Aufstellung sind die jüdischen Verführer in der Minderheit. Vgl. ebenda, S. 115 (über den Roman „Das klingende Gift", 1929). Vgl. Sachslehner (Anm. 35), S. 23 (leider ohne genaue Angabe des Datums von Jelusich' Eintritt in die Zeitung). Ebenda, S. 34. Z.B. Deutschösterreichische Tages-Zeitung, 1.7.1927, S. 6.
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sen?" 48 oder für eine von Ε. Klenow, vielleicht einem Mitarbeiter aus dem Deutschen Reich, stammende Besprechung einer nur als „Dreck" zu bezeichnenden „schamlosen jüdischen Frechheit" von „einem der betulichsten Literaturjuden Neudeutschlands" - nämlich der Hauspostille von Brecht. 49 Jelusich' zahlreiche historische Romane in der Zeit der Ersten Republik waren hingegen keine antisemitische Kampfliteratur, so bedenklich sie insgesamt sind. Erst nach dem ,Anschluß' findet sich in einem Roman Jelusich' ein massiver Angriff auf das Judentum, 50 wie dann auch in Vorträgen „bösartige Seitenhiebe auf das Judentum" 51 häufiger geworden zu sein scheinen. Zu Jelusich' Tätigkeit im Feuilleton der „Deutschösterreichischen Tages-Zeitung" ist allerdings noch einiges anzumerken. In dem von mir durchgesehenen halben Jahrgang (April bis September 1927) stehen mehrere von ihm gezeichnete, durchwegs negativ akzentuierte Rezensionen von Theaterstücken jüdischer Autoren (Beer-Hofmann, Auernheimer, Werfel); 52 man hat bei ihrer Lektüre zwar das Gefühl, daß der Rezensent nur mit Mühe auf antisemitische Äußerungen verzichtet, doch über eine Formulierung wie die von einer „uns unverständlichen Sentimentalität" 53 - über Werfeis Paulus unter den Juden - geht er doch nirgends hinaus. Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, daß Leo Perutz sich noch 1947 in einem Brief dankbar daran erinnert, daß Jelusich „die einzig anständige und respektvolle Kritik" seines Dramas Die Reise nach Preßburg geschrieben habe. 54 In nicht-gezeichneten Artikeln hingegen, in denen die „Dötz" zu allgemeinen Fragen des Wiener Theaterlebens Grundsätzliches sagt und deren Autor höchstwahrscheinlich Jelusich ist, erreicht die antisemitische Schärfe des Kulturteils - an dem übrigens häufig der nachmalige Wiener Gauleiter Frauenfeld mitarbeitete - durchaus die der politischen Seiten. Ein Artikel Jüdische Festspiele55 etwa errechnet, daß im Programm des Wie48
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Mit „a" gezeichnete Besprechung einer Aufführung von Edmund Eyslers Operette „Die gold'ne Meisterin", Deutschösterreichische Tages-Zeitung, 15.9.1927, S. 5. Deutschösterreichische Tages-Zeitung, 29.5.1927, S. 12. Vgl. Sachslehner (Anm. 35), S. 177f., über Jelusich* „Der Traum vom Reich" (1941). Sachslehner (Anm. 35), S. 70; der hier zitierte Vortrag dürfte im Herbst 1938 gehalten worden sein. Neben der in Anm. 53 zitierten Rezension handelt es sich um Beiträge vom 26.5., S. 7, und vom 19.6.1927, S. 7 (über zwei verschiedene Aufführungen von Beer-Hofmanns „Graf von Charolais"), sowie vom 21.6.1927, S. 6 (über ein Stück von Auernheimer). Deutschösterreichische Tages-Zeitung, 6.5.1927, S. 8. Brief von Leo Perutz an Hugo Lifczis, 21.1.1947; zitiert in: Leo Perutz (Anm. 14), S. 342. Die Rezension erschien in der „Deutschösterreichischen Tages-Zeitung" vom 7.12.1930, S. 9. Jüdische Festspiele. In: Deutschösterreichische Tages-Zeitung, 17.4.1927, S. 7.
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ner Burgtheaters neben Bahr, Nabl, Schönherr und Wildgans die „folgenden jüdischen Schriftsteller" aufscheinen: „Auernheimer, Beer-Hofmann, Schnitzler und Werfel." Eine kurze Zählung ergibt also, daß bei den Festspielen ebensoviel jüdische wie deutsche Autoren zu Worte kommen! Ist es noch notwendig, über diese erschreckende Tatsache viel zu sprechen? Beweist diese Gleichstellung nicht für sich allein, wie weit es mit uns schon gekommen ist, wie das Judentum sich unserer deutschen Kultur bereits bemächtigt und sie verfälscht hat? Wie der jüdische Ungeist unsere Bühnen beherrscht? Mit vollendeter Deutlichkeit erkennt man hier die Vormachtstellung des Judentums in der deutschen Dichtung. Zahllose begabte deutsche Dichter warten vergeblich darauf, auf einer deutschen Bühne ihre Werke aufgeführt zu sehen: für sie hat man nur Ablehnung und Vertröstung. Den Juden aber öffnet sich Tür und Tor, sie werden mit offenen Armen aufgenommen, gefördert und emporgelobt und zum Schluß womöglich noch als deutsche Dichter gefeiert.
Man soll bei dieser lebhaften Klage über „Judas Triumph" freilich in Erinnerung behalten, daß Jelusich' Bühnenstücke erfolglos waren. 56 Ähnliche Argumente finden sich in anderen Artikeln von Jelusich auch. Erklärungsbedürftig erscheint mir weniger die Zielrichtung und die Ursache der antisemitischen Angriffe als der Umstand, daß Jelusich in gezeichneten, lebende Personen betreffenden Artikeln wesentlich zurückhaltender gegenüber Juden ist als in globalen kulturpolitischen Polemiken - bei denen seine Verfasserschaft freilich nur wahrscheinlich ist. 57 Abgesehen von diesem Problem der Zuschreibung antisemitischer Artikel an bestimmte Verfasser ist an diesem Beispiel hoffentlich auch schon deutlich geworden, daß das Feuilleton, der Kulturteil, der rechten Wiener Tageszeitungen in der antisemitischen Propaganda eine große Rolle gespielt hat. Leider ist dieses Feuilleton schwerer zugänglich und noch schlechter erforscht als die Schriften trivialer Autoren; was man im Zeitroman an antisemitischer Hetze nicht findet, mag in der Kulturberichterstattung mancher Blätter wie eben der „Deutschösterreichischen Tageszeitung" und der „Reichspost" stehen. Gerade bei den Buchbesprechungen habe ich freilich den Eindruck, daß man Publikationen jüdischer Autoren lieber nicht behandelte - oder von ihnen keine Rezensionsexemplare erhielt - als gegen sie polemisierte. Hier müßten noch viel genauere Untersuchungen angestellt werden. Beiträge von jüdischen Autorinnen 56 57
Vgl. Sachslehner (Anm. 35), S. 19f. Die von Sachslehner (Anm. 35), S. 33 und 35, zitierten Artikel Jelusich', die ähnlich .argumentieren' wie der hier charakterisierte, konnte ich in der Zeitung zu den angegebenen Daten nicht ermitteln, sodaß auch nicht feststellbar war, ob sie gezeichnet sind oder ob Sachslehner sie (eventuell aufgrund des von ihm eingesehenen Nachlasses) Jelusich nur zugeschrieben hat; verantwortlich für derartige Äußerungen im Feuilleton seiner Zeitung war Jelusich allemal.
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und Autoren dürften in diesen Zeitungen auf jeden Fall ausgeschlossen geblieben sein. Jedenfalls sind die Artikel im Feuilleton der „Deutschösterreichischen Tages-Zeitung" sehr viel schärfer antisemitisch als die Romane ihres wichtigsten Kritikers. Auch die christlichsoziale „Reichspost" hielt mit ihrem Judenhaß nicht hinter dem Berg. In ihrem Kulturteil konnte Karl Paumgartten anläßlich der Wiener Aufführung von Schnitzlers Reigen vom „Lüsternheitskitzel eingedrungener Asiaten" schreiben und in Hinblick auf die sozialdemokratische Wiener Gemeindeverwaltung, die die Aufführungen nicht verboten hatte, die folgenden Schlußfolgerungen 58 ziehen: Schnitzler ist Jude, [der Theaterdirektor] Bernau ist Jude - die Sozialdemokratie ist also [...] wieder als Schützer und Schirmer des Judentums aufgetreten. Auch das Publikum der Residenzbühne ist fast ausschließlich aus jüdischen Schiebern und Schleichhändlern zusammengesetzt. Die Sozialdemokratie steht wieder, ihrer Sendung gemäß, hinter jenem Judentum, das unser Volk moralisch und wirtschaftlich zu vernichten bestrebt ist. Das wird man sich gut merken müssen.
Bei allen derartigen Berichten über zu Skandalen stilisierte kulturelle Ereignisse „hatte der Antisemitismus eine wesentliche Funktion; er war Argumentationshilfe und rhetorische Würze zugleich [,..]". 59 Diese Beobachtung von Ulrich Weinzierl scheint mir sehr wichtig; denn für den heutigen Leser und die heutige Leserin dieser Texte ist schwer festzustellen, wogegen sie sich nun mehr richten: gegen ein .unsittliches' Theaterstück oder gegen das Judentum, weil es den Autor dieses Stückes hervorgebracht hat, oder auch vorwiegend gegen die Sozialdemokratie, der man den Makel der Sittenlosigkeit anhängen möchte. Für das Klima der Zeit ist wahrscheinlich die engere Zielrichtung der Polemik gleichgültig gewesen; auch wo der Antisemitismus nur als „rhetorische Würze" eingesetzt wurde, haben die einschlägigen Passagen das ihre zur allgemeinen Diffamierung und Diskriminierung beigetragen. Während ich mangels entsprechender Vorarbeiten über den Antisemitismus im Feuilleton der rechten Tagespresse mich auf diese Beispiele beschränken muß, kann ich immerhin einen antisemitischen Roman etwas ausführlicher vorstellen: Karl Paumgarttens Repablick von 1924. 60 Der „pathologische Judenhasser" 61 Paumgartten (eigentlich Karl Huff58
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Karl Paumgartten: Hinter den Kulissen der „Reigen"-Schützer. In: Reichspost, 14.2.1921, S. lf. Ulrich Weinzierl: Die Kultur der „Reichspost". In: Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Hrsg. von Franz Kadrnoska. Wien 1981. S. 325344. Hier S. 330. Paumgartten (Anm. 13). Knappe Inhaltsangabe bei Schmidt-Dengler (Anm. 25), S. 76. Rütgen, Stocker Verlag (Anm. 30), S. 181.
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nagl 62 ), dessen Beiträge zur „Reichspost" ich eben zitiert habe, hatte im Grazer „Heimatverlag" 63 mehrere antisemitische Schriften veröffentlicht: Judentum und Sozialdemokratie (1921), 1924 bereits im 30. Tausend vorliegend; Juda. Kritische Betrachtungen über Wesen und Wirken des Judentums, 1924 in 3. Auflage erschienen; Judenfibel (1924). 64 Ein weiteres Buch (Arbeiter auf ein Wortl) wird als Anprangerung der „schändlichen Weltlüge .Marxismus'" angepriesen. 65 Daß der Roman Repablick mehr als Fortsetzung derartiger Publizistik denn als fiktionales Werk einzuschätzen ist, wird unter anderem durch seine Ausstattung mit Karikaturen nahegelegt, die zumeist nur einen sehr lockeren Bezug zum Text haben und unter denen jeweils ein satirischer Vierzeiler steht. Illustrator war der damals recht bekannte und populäre Fritz Schönpflug. 66 Paumgarttens Haß richtet sich in diesem Buch wie in dem zitierten Angriff auf Schnitzlers Reigen und in den erwähnten Pamphleten gegen die Sozialdemokraten wie gegen die Juden und vor allem gegen die Sozialdemokraten als Juden, gegen die Juden als Sozialdemokraten, gegen den neuen Reichtum der .Schieber' ebenso wie, vielleicht etwas weniger rabiat, gegen den 48er Liberalismus und insgesamt gegen die neue Staatsform. Es ist schwer zu entscheiden, inwieweit in Repablick, einem außerordentlich schlecht strukturierten Buch, der Schwerpunkt des Angriffs auf den Sozialdemokraten oder auf den Juden liegt; es ist im Grunde auch gleichgültig, da der Autor sie miteinander identifiziert. Auf einem Werbeblatt für das Buch, ebenfalls gezeichnet von Fritz Schönpflug 67 tanzen ein Jude und ein Arbeiter um den Stephansturm, mit dem Text: Ringele, Ringele Reiha! Mer sennen unser zweia, De Geister von der Repablick: Der Moische und der Galgenstrick.
Diese Identifikation von Judentum und Linker, die in der Propaganda der Rechtsparteien eine große Rolle spielte,68 beherrscht das Buch, das die Republikgründung in unfaßbarer Weise diffamiert. Ich kann darauf im ein62
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Zur Person Huffnagls vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Literatur in der „Muskete". In: Murray G. Hall et al.: Die Muskete. Kultur- und Sozialgeschichte im Spiegel einer satirisch-humoristischen Zeitschrift 1905-1941. Wien 1983. S. 35-50. Hier S. 40, 41, 43, 44. Zum verlegerischen Umfeld des Pamphlets vgl. Rütgen, Stocker Verlag (Anm. 30). Die Daten der durchwegs ohne Jahresangabe veröffentlichten Broschüren ermittelt nach Rütgen, ebenda, S. 178, und nach dem Gesamtverzeichnis. Verlagswerbung im Anhang zu Paumgartten (Anm. 13). Eine kurze Charakterisierung der genannten Broschüren bei Rütgen, Stocker Verlag (Anm. 30), S. 178ff. Über Schönpflug als Begründer einer Tradition antisemitischer Karikaturen vgl. Ulrich Weinzierl (Anm. 59), S. 331. Werbeblatt in meinem Besitz. Vgl. z.B. die Abbildungen bei Spira (Anm. 11), S. 161ff.
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zelnen nicht eingehen, möchte nur durch einige Zitate Techniken der Vermittlung des Judenhasses in diesem Buch vorstellen, das wohl die Spitze eines Eisbergs gewesen sein könnte, eine Verschriftlichung sonst wohl vor allem mündlich tradierter Vorstellungen von Juden, die man allenfalls in Sektiererblättchen formuliert finden konnte. Ganz wesentlich für den Ideologietransport in Repablick ist die Beschreibung des Äußeren von jüdischen Figuren, etwa des Gewerkschafters Silbermann, von dem auch gleich erwähnt wird, daß er aus Kolomea in Galizien stammt (29): Von dem jungen Mann ragten nur Kopf und Hals und eine Hand über die Tischplatte. Aus seinem blaßgrauen, schmalen Gesicht, dessen Kinn und Oberlippe mit einem schütteren schwarzen Bartflaum geziert war, stach eine erschreckend große Hakennase hervor, zu deren beiden Seiten unheimlich aus den Höhlen quellende Augen funkelten. Diese Augen hatten etwas KrankhaftDämonisches, aus ihnen sprachen Irrsinn und Bestialität zugleich. Das Haar des jungen Mannes glich einem dicken schwarzen Schaffell, das von einer klebrigen Schmiere zu einer unlösbaren Masse vereinigt wird, und auf dieser verfitzten [!] Wollkugel lagen Tausende von winzigen Schuppen, die ihr einen höchst unappetitlichen, schleimigen Schimmer gaben. Der Hals, den das schmutzig-fette Hemd freiließ, war wie das Gesicht grau, hatte lichtere und dunklere Streifen und war besät mit kleinen Pickeln und Pusteln in allen Entwicklungsstadien. Die Hand [...] hatte Finger, die an Spinnenbeine erinnerten. (28)
Die Stelle bedarf kaum einer Interpretation: der Jude ist anders, er ist häßlich, er ist schmutzig, er ist unheimlich, und er erinnert an Tiere („Schaffell", „Spinnenbeine"). Dieses Element des Tierischen kommt in einer zweiten Figurenbeschreibung noch deutlicher heraus, der einer historisch identifizierbaren Person, nämlich des führenden österreichischen Sozialdemokraten Friedrich Adler, der im Roman als „Wilhelm Geyer der Jüngere" verschlüsselt ist: Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt und stierte finster vor sich auf den Boden. Langsam schlurfend schob er sich vorwärts, dabei baumelten seine Arme seltsam, als wären sie aus den Gelenken gerissen und hingen an Hautresten. Er sah aus, wie eine vierhändige Majestät aus den Urwäldern der afrikanischen Westküste in menschlicher Verkleidung. Und wer ihm scharf prüfend in die Augen sah, merkte gleich, daß er eine ganz sonderbare Mischung animalischtriebhafter und menschlich-pathologischer Wesenserscheinungen vor sich hatte. Der Mann schien eine Kreuzung zu sein zwischen einer tückisch-verschlagenen, unersättlich blutlüsternen großen Katze und einem eisig kalt und hämisch berechnenden Zeloten. Die Paralyse war unverkennbar, aber auch die unüberwindliche grausame Willenskraft. (84)
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Selbstverständlich werden die jüdischen Figuren auch durch ihre Sprache charakterisiert; insbesondere in der Redaktion der „Arbeiterpresse" läßt der Autor die Figuren mit syntaktischen Mustern sprechen, die man seit langem in der Literatur jüdischen Gestalten in den Mund zu legen pflegte (75ff.). Ein effektvolles Element der antisemitischen Satire sind auch hier die Namen. Einmal werden die als typisch geltenden ostjüdischen Namensformen sehr häufig eingesetzt, etwa bei der Vorstellung von Zeitungskorrespondenten: Sie hießen der Reihe nach: Mendel Abeles, Siegfried Goldstaub, Chaim Jeitteles, Moriz Kohen, Fritz Nechamkes, Isidor Parcheles, Paul Rosenstingl, David Rosenspitz, Levy Selig, Reinhold Tinef, Otto Weinstein und Aron Zwiebelsaft. (198)
Anderen negativ gezeichneten Figuren im Roman, auch solchen, die wichtiger sind als die nur an dieser Stelle vorkommenden Journalisten, hat der Autor Namen des gleichen Typs gegeben. Ein zweites Element der Namensdenunziation läßt sich ebenfalls bereits an dieser Stelle erkennen; denn Paumgartten sagt von all diesen Journalisten, sie hätten „Schriftstellernamen" wie Karl Golz, Paul Rosen, Ingomar von Teutoburg und Sepp Innerebner (ebenda). Die Veränderung des Namens zum Zweck einer besseren Tarnung wird auch bei anderen Figuren zum Thema; so heißt ein Kuno Kempf in Wahrheit Chaim Izzeles (69), und der „Sümche Schweißkind, der gehabt hat in Kischinew die Geschichte mit dem verschwundenen Christenmädel" (143) - Paumgartten verschmäht, wie man sieht, auch Anspielungen auf Ritualmordmärchen nicht 69 nennt sich jetzt Oberkofler - so wie der eben genannte „Innerebner" ein sehr bäuerlich wirkender typisch österreichischer Familienname (134). Es gehört zu den Stärken der Hauptfigur, des Übermenschen Dr. Klaar, daß er die richtigen Namen aller Juden kennt. Die Betonung des Motivs der Namensänderung hat eine eindeutige Funktion: sie soll in der antisemitischen Leserin, im antisemitischen Leser das Gefühl - und die Angst - auslösen, eigentlich könne jeder ein Jude sein. Zugleich unterstreicht das Motiv, daß ein Jude immer Jude bleibt, wie immer er heißt und wie immer sein Religionsbekenntnis ist. Alle Juden in dem Roman sind korrupt, bestechlich, ja kriminell; auch die Revolution von 1918 ist nur das Ergebnis geschickt eingesetzter Bestechungsgelder. Auf diese Argumentation möchte ich im einzelnen nicht eingehen, nur noch ein anderes Motiv erwähnen, da es sich mit den ,wis69
Daß die Ritualmordlegenden in der antisemitischen Propaganda der Ersten Republik herangezogen wurden, beweist auch eine Veröffentlichung von Anton Orel (2. Aufl., 1928); vgl. Rütgen, Antisemitismus (Anm. 16), S. 140ff. Siehe auch das in Anm. 27 erwähnte Ritualmordstück von Gottfried Schöpf.
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senschaftlichen' Exkursen in den Machwerken Artur Dinters berührt und auch sonst in den zeitgenössischen antisemitischen Haßtiraden immer wieder nachzuweisen ist. Es geht um die schöne Nelly, von der wir bereits (138) wissen, daß sie die Geliebte mehrerer neureichen Juden gewesen ist, und die nun den liberalen Fabrikanten Melzer heiraten wird. Klaar kommentiert diese Ehe mit dem „brutalen Argument": Wenn eine Rassehündin, sei es auch erfolglos, nur ein einziges Mal von einem fremdrassigen Hund gedeckt wurde, ist sie für immer zur Reinzucht untauglich. Darauf hat [Melzer] nur gelacht [...] (164) Und im gleichen Zusammenhang sagt Klaar, in dem wir den Sprecher des Autors erblicken müssen, daß „jeder Geschlechtsverkehr mit Nichtariern" durch Kastration zu bestrafen sei: „Wenn das Volk schon nicht selbst genug Rassestolz hat, müßte man ihm wenigstens die Achtung vor seiner Rasse auf dem Wege durch das Strafgesetz beibringen." (165) Letztlich läuft die Konfrontation zwischen Nichtjuden und Juden in diesem Buch auf den „Ruf , H i e M e n s c h - h i e T i e r ! ' " (219) hinaus. Der Erfolg dieser Ideen dürfte größer als der des Buches gewesen sein, und unabhängig von diesem. Repablick scheint eine Auflage von etwa 5.000 nicht überschritten zu haben und war 1933 noch im Handel; eine öffentliche Diskussion des Machwerks dürfte ausgeblieben sein. 71 In diesem Buch haben wir vielleicht den extremsten Fall von literarisiertem Antisemitismus der Ersten Republik vor uns, für den wie für kaum einen anderen das zurecht nicht gerade wissenschaftlich formulierte Urteil gilt: „Von keinen Rücksichten auf Parteiräson, kirchliche Lehre oder Stand der Wissenschaft gehemmt, boten die Werke dieser , Schriftsteller' einen durch nichts mehr zu überbietenden Unrat und stellten mit ihren Haßtiraden einen Gipfelpunkt der Verächtlichmachung von Menschen und der Verhetzung dar."' 2 Es ist vielleicht noch anzumerken, daß in vielen .völkischen' Romanen der Ersten Republik, etwa solchen, die den Ersten Weltkrieg zum Thema haben, 73 oder auch in historischen Romanen wie denen von Jelusich andere Feindbilder dominieren: der tschechische Überläufer, der Italiener usw. und daher auf das Feindbild des Juden mehr oder minder 70 71 72
73
Vgl. einschlägige Zitate bei Rütgen, Antisemitismus (Anm. 16), S. 152, 362f. Rütgen, Stocker Verlag (Anm. 30), S. 182. Rütgen, Antisemitismus (Anm. 16), S. 430. Rütgen meint damit allerdings vor allem die antisemitischen .Aufklärungsschriften' von dem Typ, wie sie auch Paumgartten verfaßt hat. Vgl. z.B. die im großen und ganzen ebenfalls schon pränationalsozialistischen, aber auf judenfeindliche Motive verzichtenden Südtirolromane, die Hansjörg Waldner behandelt: „Deutschland blickt auf uns Tiroler". Südtirol-Romane zwischen 1918 und 1945. Wien 1990.
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schweren Herzens verzichtet wird. Davon war auch schon in Zusammenhang mit Hohlbaum die Rede. Neben dem aus welchen Gründen immer manchmal nicht explizit gemachten Antisemitismus der nachmaligen Nationalsozialisten und neben dem aggressiven antisemitischen Pamphlet lebt in der Literatur Österreichs auch die vor dem Krieg, etwa bei Weininger, ausgeprägte kulturkritische Judenfeindschaft 74 fort, die den abgelehnten Geist der Moderne als jüdisch empfindet, aber wie Weininger selbst politische Maßnahmen gegen Juden ablehnt. 75 Diese Judenfeindschaft verbindet sich mit einer gewissen Abneigung gegen eine jüdisch dominierte Wiener gute Gesellschaft von Wirtschaftstreibenden, Freiberuflern und Journalisten. Es ist allerdings auffällig, daß ein so expliziter Vertreter dieser Spielart der Abneigung gegen bestimmte Gruppen des Judentums wie Karl Kraus in den Jahren der Ersten Republik im Ausdruck dieser Antipathie, die er gleichwohl bis zu seinem Tod nicht aufgegeben hat, sehr viel zurückhaltender wird und mindestens auf Generalisierungen verzichtet; er bezieht nun auch neben den liberalen Juden die vorher kaum beachteten Antisemiten in seine Satire ein. Ein Symptom für seine geänderte Haltung ist das Gedicht Liebeserklärung an Zerline Gabillon (1926), in dem Kraus ausdrücklich von der jüdischen Herkunft der bewunderten Burgschauspielerin spricht („eine deutsche Jüdin, Fräulein Würzburg"). 77 In solchen Modifikationen seiner bisherigen Position ist ohne Zweifel eine Reaktion Kraus' auf die veränderten, viel gefährlicher gewordenen politischen Verhältnisse zu erblicken. Auch im Kreis der Zeitschrift „Der Brenner" läßt sich ein Rückgang derartiger von der Kulturkritik geprägter Äußerungen über und gegen Juden feststellen, 78 wohl auch als Versuch einer Distanzierung vom politischen Antisemitismus Paumgartten'scher Prägung. Wie lebendig die Vorurteile und Ängste dennoch geblieben sind, möge ein Brief von Ludwig von Ficker, dem Herausgeber des „Brenner", an Paula Schlier beweisen, eine von ihm geförderte und ihm auch persönlich nahestehende junge Schriftstellerin, von der soeben die Traumdichtung Choronoz erschienen 74 75 76
77
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Vgl. dazu Scheichl, Nuancen (Anm. 17). Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Wien 1903. S. 418. Vgl. Michael Lazarus: Nachwort. In: Karl Kraus. Briefe an Sidonie Nädherny von Borutin. München 1977 (= dtv, 6072). 1. Band. S. 691-695. Hier S. 695; Sigurd Paul Scheichl: Karl Kraus und die Politik (1892-1919). Diss, (masch.) Innsbruck 1971. S. 886f. Karl Kraus: Liebeserklärung an Zerline Gabillon. In: Kraus, Gedichte. Frankfurt 1989 (= KK: Schriften, 9). S. 605f. Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Aspekte des Judentums im „Brenner". In: Untersuchungen zum „Brenner". Festschrift für Ignaz Zangerle. Salzburg 1981. S. 70-121.
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war. Es heißt in diesem Brief vom 18.12.1927, 79 in dem es um Joseph Roths Flucht ohne Ende geht, unter anderem: Ich habe heute vormittag das Buch von Roth gelesen. Gewiß, es ist gut beobachtet, aber ohne innere Tragweite des Geschauten. Gerade in der Resigniertheit, mit der es der Welt zu Leibe rückt, spürt man die Verschlagenheit der Absicht, mit ihr eins zu werden, handelseins. „So überflüssig wie er war niemand in der Welt". Nun, das sollte einmal einer wagen, diese Ansicht zu akzeptieren und sie dem Autor des Buches, das sich stolz einen ,JJericht" und keine Dichtung nennt, als dessen eigentlichstes Problem zu verstehen zu geben! Aus diesem einen Punkte ist das ewig klug verheimlichte Weh und Ach des jüdischen Ressentiments, das noch die kühnste und selbst wie eine (künstliche) sibirische Eisdecke anmutende Form der Darstellung durchbricht, zu kurieren: aus seiner noch weit geringeren Erlösungsbedürftigkeit, als sie die Welt empfindet, an deren Unerlöstheit es sich stößt. Hiefür ist dieses Buch, das seine heimliche Sentimentalität wie seinen heimlichen Zynismus sehr geschickt (aber nicht im Sinne einer „Schickung", sondern eben einer - Geschicklichkeit) in eine scheinbar vollkommene psychische Gelassenheit und Überlegenheit umlügt, ummünzt, und daher nicht nur menschlich, sondern auch intellektuell (hier strandet jede jüdische Intelligenz, die der christlichen gegenüber sich so überlegen fühlt!) einen aussichtslosen Standpunkt bezieht, ein geradezu klassisches Beispiel. Es ist im Grunde ein unlauterer Begattungsprozeß mit der Welt, der es zu Leibe rückt, an seiner greifbaren Seelenoberfläche sehr geschickt vertuscht. Es lebt von jenem psychisch kompliziert erscheinenden, in seinem Ressentimentcharakter aber leicht durchschaubaren jüdischen Dreh, die Welt des Dostojewski, die in ihrer Kompliziertheit christlich feststand und der sie alle ihre Einsichten und „Fertigkeiten" verdanken, im Handumdrehen, im Nachtumdrehen, so auf den Kopf zu stellen, daß sie bei Tag glauben, sich in christlicher Maskierung zurückziehen und diese verdrehte Welt für sich selbst sprechen lassen zu können. Und immer sind es die galanten Liebhaber des Christentums wie dieser Blei, die bei diesen jüdischen Leichtgeburten als Hebammen erfolgreich assistieren, während die Wöchnerin, die nie etwas gebären wird, was einem Faust ähnlich sieht, und dies spürt, wenn auch nicht sicher weiß, sich - so oder so - ins Fäustchen lacht, auch wenn sie ein wehleidiges Gesicht macht und es doch wieder zu verbeißen sucht. Nein, an solchen Berichten aus der Welt, in der man sich langweilt und wieder nicht langweilt, weil man als ihr kaltgestellter Liebhaber sich interessant dünkt und ihr nun mit Mitteln an den Leib rücken kann, die ihr, da man sie bloßstellt, schon wieder warm machen werden; an der Modekurzweil solcher ,3erichte", die sich verbitten, als „Dichtung" genommen zu werden, obwohl sie der Aufmachung als Dichtung nicht entbehren können; an solchem Quiproquo der Darstellung läßt sich erst ermessen, in welch unvergleichlich homogener Weise „Chorönoz" sowohl Bericht wie höchste Dichtung ist! Gerade 79
Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1926-1939. Innsbruck 1991 (= Brenner-Studien, 11). S. 104f. Der Brief wurde mir von Walter Methlagl und Anton Unterkircher, denen ich dafür danke, bereits vor der Veröffentlichung des Briefbandes zur Verfügung gestellt.
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das Erscheinen dieser beiden Bücher nebeneinander und im gleichen Verlag ist der beste Anschauungsunterricht für das, was als Vita Nuova des Geistes in der Literatur angesprochen werden darf und was nicht. Wem da die Augen nicht aufgehen, dem ist nicht zu helfen! Bei vielen, ja fast allen, ist das Revolutionäre eine Attrappe und bestenfalls Gesinnungsmoment, bei Dir ist es eine Geisteshaltung, ein Besinnungsmoment. Das hast Du allen voraus: daß in Dir die wahre Revolution in Erscheinung tritt, aus Dir heraus - die einzige, die Geistesgegenwart und Zukunft hat: die des Menschen! [...]
Ficker argumentiert hier klischeehaft mit dem vorgeblich Unechten des Judentums, dem alles zum Geschäft gerate: Wörter wie „handelseins", „ummünzt", „Aufmachung" passen durchaus zum antisemitischen Klischee, wie auch die Vorstellung von „Verschlagenheit", „Geschicklichkeit" und „jüdischer Intelligenz". Für den christlichen Dichter, für die christliche Dichterin - immerhin nicht die .deutsche'! - wird damit von vornherein größere Echtheit, Tiefe, wahres Erlösungsbedürfnis postuliert, gegen jeden literarischen Jüdischen Dreh". Getroffen wird damit eine großstädtische, zeitoffene Literatur - der Ficker, vereinfacht ausgedrückt, eine existenzielle Literatur als Ideal gegenüberstellt, die ganz persönliche religiöse Erfahrungen ausspricht; solche „Dichtung" traut er jüdischen Autoren nicht zu. Im Grunde artikuliert der Herausgeber des „Brenner" hier eine antimoderne Position und identifiziert wieder Judentum und Moderne. Vom Ressentiment gegen den Erfolg jüdischer Autoren mag der Brief angesichts des geringen Echos auf Paula Schliers Werk nicht ganz frei sein; aber gewiß ist er weit entfernt von der Forderung politischer (auch kulturpolitischer) Maßnahmen gegen Juden; es spricht auch für Ficker, daß er derartiges im „Brenner" nicht mehr veröffentlicht hat. 80 Dieser Brief zeigt auch schon einen neuen religiösen Aspekt der Auseinandersetzung mit dem Judentum im „Brenner" und nicht nur dort, in der der alte judenfeindliche Aspekt eher zurücktritt und die bis zu einer christlichen Apologie des Alten Bundes gehen konnte.81 In den dreißiger Jahren, schon unter dem Eindruck der Judenverfolgungen im Deutschen Reich, erhalten solche Bestrebungen in der Zeitschrift „Die Erfüllung" (1934-1938) des zum Katholizismus übergetretenen Johannes Oesterreicher ein eigenes Organ.82 Daß daneben auch der alte religiöse Antisemitismus weiterlebte, zeigen weniger literarische als kirchliche Zeugnisse, etwa die unglückseligen 80
81 82
Vgl. Scheichl, Aspekte (Anm. 78), S. 93, über vergleichbare Gedanken Ludwig von Fikkers. Vgl. Scheichl, ebenda, S. 105ff. Hermann Broch hat sich für diese Zeitschrift interessiert; vgl. seine Briefe an Ruth Norden vom 3.11.1935 und an Ludwig von Ficker vom 3.10.1936; Hermann Broch: Briefe 1. Frankfurt 1981 (= HB: Kommentierte Werkausgabe 13/1). S. 368ff., 428f.
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Formulierungen in einem den „Rassenstandpunkt" ausdrücklich ablehnenden Hirtenbrief des Linzer Bischofs Gföllner von 1933 über den „geistigen Unrat und die unsittliche Schlammflut, die vorwiegend vom Judentum aus die Welt zu überschwemmen drohen", oder das Bekenntnis eines Monsignore Kolb von 1931 zwar gegen den „Antisemitismus der Gewalt und der Pogrome", aber zu einem „Kulturantisemitismus, der sich gegen die jüdische Kulturinflation auf allen Gebieten wendet." 84 Selbstverständlich haben die beiden Geistlichen nicht an konkrete Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden gedacht; sie hätten aber daran denken müssen, daß sie durch ihre Äußerungen ebensolchen Vorschub leisteten. Der sich zum Christentum hin entwickelnde „Brenner" war da sensibler, obwohl eine gewisse Nähe zwischen den Worten der beiden Kirchenmänner und den Gedanken Fickers nicht zu bestreiten ist; doch sind diese differenzierter, und vor allem: sie stehen in einem Privatbrief. In den Zusammenhang dieser kulturkritischen Judenfeindschaft ist wohl auch Grete von Urbanitzkys schwülstiger Roman Das andere Bluft5 einzuordnen, obwohl er, wie schon der Titel andeutet, sehr stark von der Rassentheorie bestimmt ist. 86 Es geht darin um einen an die Erlösungskraft des „Lichts des Nordens" (423) glaubenden und das Prinzip „Blut ist unser höchstes Gut!" (480) hochhaltenden Rassenfanatiker, der spät erkennen muß, daß seine Mutter Jüdin war, und unter dieser „Erbsünde" (480) entsetzlich leidet; es ist von tiefer Symbolik, daß seine blonde (skandinavische!) Frau eine Fehlgeburt erleidet und er mit ihr keine Kinder mehr haben kann. Was das Buch, ein arges Machwerk, trotz dieser Rassengläubigkeit von Pamphleten wie denen Paumgarttens unterscheidet, ist aber die ambivalente Darstellung der Juden. Einerseits ist die Hauptfigur, auch wenn sich herausstellt, daß jüdisches Blut in ihren Adern kreist, eben doch sympathisch, was letztlich bedeutet, daß dieses Blut auch ,überwunden' werden kann; auch gibt es positive jüdische Figuren, vor allem den jüdischnationalen Doktor Abraham (277ff.), der „wie ein Prophet aus einer versunkenen Welt" (278) an die unsterbliche Seele des Judentums erinnert. Andererseits wird aber die Macht der Juden in Wirtschaft und Wissenschaft eindringlich vorgeführt und durchaus - besonders im Bereich der Wirtschaft, von der die Autorin zwar keine Ahnung hat, über die hier jedoch viel zu lesen steht - als das Ergebnis einer Verschwörung gegen die soliden deutschen Wirtschaftstreibenden dargestellt. Der Kampf der 83
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Gföllner, zitiert bei Scheichl, Aspekte (Anm. 78), S. 104; vgl. auch Rütgen, Antisemitismus (Anm. 16), S. 316ff. Zitiert bei Scheichl, Nuancen (Anm. 17), S. 163. Urbanitzky (Anm. 34). Erika Weinzierls (Anm. 26), S. 366f., Einordnung des Buches unter den „zahlreichen Stimmen gegen den Antisemitismus" (S. 365) ist auf jeden Fall unrichtig.
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Hauptfigur Fritz von Bergen gegen diesen Einfluß des Judentums bleibt unbestimmt und schlägt sich nicht in konkreter politischer Programmatik nieder; so sehr die Juden als Feinde gezeichnet sind, so wenig werden Vorstellungen entwickelt, was nun eigentlich mit ihnen geschehen soll. Wie hoch die Distanz zwischen diesem Buch und den Hetzschriften eines Paumgartten letztlich einzuschätzen ist, kann freilich bei dieser ersten Bestandsaufnahme nicht endgültig entschieden werden. Zwei abschließende Belege zu dieser fortlebenden kulturkritischen Judenfeindschaft, die mehr Abneigung als politisches Programm ist. Noch 1954 artikuliert der aus Israel auf Besuch nach Wien gekommene Leo Perutz in einem Brief an ebenfalls vertriebene jüdische Freunde seine Abneigung gegen ein bestimmtes jüdisches Milieu mit dem, gewiß nicht allzu ernst zu nehmenden, Satz: 87 [...] Wien ist freilich nicht mehr, was es war (es fehlen auf Schritt und Tritt, besonders mir für das Letztere, die Juden, das Salz jeder Stadt. Tel Aviv ist leider zu arg versalzen), aber Charme hat es noch immer, [...]
Der zweite Beleg, der vielleicht keiner ist, findet sich im Werk von Hermann Broch, dessen Äußerungen zum Thema .Judentum' etwa in seinen Briefen sehr spärlich gesät sind, mindestens bis 1938; auch jüdische Figuren sind in seinen Romanen selten. Es gibt aber in den Schlafwandlern eine Figur, die relativ genau dem Bild, das die Kulturkritik von dem die Werte der Tradition zersetzenden, ganz auf Geschäft und Modernität setzenden Juden entworfen hat. Diese Figur ist freilich in der Fiktion des Romans kein Jude: Huguenau aus dem dritten Teil der Trilogie. Obwohl Broch sich zu seiner Ausbildung einige Zeit im Elsaß aufgehalten hatte, ist es von vornherein auffällig, daß er einen Elsässer zur negativen Hauptfigur dieses gewichtigsten Teils der Schlafwandler gemacht hat. Ich möchte die Frage aufwerfen - ich kann sie nicht beantworten! ob diese Figur aus einer kulturellen Minderheit des deutschen Kaiserreichs nicht in Wahrheit Stellvertreter für eine Figur aus einer anderen ist, nämlich den Juden. Brochs Roman, der einiges mit den kulturkritischen Positionen der 88
Zeit gemeinsam hat, wäre dann in den Zusammenhang der von mir skizzierten kulturkritischen Judenfeindschaft einzuordnen - und wäre zugleich ein Dokument politischer Klugheit, die es spätestens in den zwanziger Jahren jedem menschlich Denkenden verbieten mußte, aus welchem Grund immer, aus welcher vermeintlichen Einsicht heraus immer Öl in das bereits unkontrollierbar hoch auflodernde Feuer des politischen Antisemitismus zu gießen. Das Risiko, 1932 ein Gegenstück zu Soll und Ha87
88
Brief von Leo Perutz an Annie und Hugo Lifczis, 25.10.1954; zitiert nach: Leo Perutz (Anm. 14), S. 364. Vgl. z.B. Manfred Durzak: Hermann Broch. Der Dichter und seine Zeit. Stuttgart 1968 (= Sprache und Literatur). S. 11-23; über Broch und Weininger.
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ben oder zum Hungerpastor zu schreiben, wollte Broch zurecht nicht eingehen; er hätte damit, wenn denn meine zugegeben spekulative Hypothese zur Figur Huguenau stimmen sollte, mehr politische Klugheit an den Tag gelegt als etwa ein Karl Kraus, der „in der Behandlung jüdischer Probleme" in der Tat „nicht unfehlbar gewesen" ist. 89 Nach den theoretischen Gegnern und den sowohl theoretischen als auch praktischen Feinden der österreichischen Juden ist auch von jenen zu sprechen, die als Juden, oder auch, seltener, als Nicht-Juden, Stellung gegen den Antisemitismus bezogen, die Juden publizistisch und/oder vor allem literarisch verteidigt haben. Wie in der Darstellung judenfeindlicher Positionen werde ich hier vor allem publizistische Zeugnisse von Literaten und erzählende Texte behandeln, obwohl gerade eine bejahende Einstellung zum (eigenen) Judentum nicht selten auch in Gedichten ihren Niederschlag gefunden haben dürfte, etwa bei Ernst Waldinger und Theodor Kramer. Selbstverständlich ist eine dem Judentum freundliche Haltung von vielen ausdrücklich eingenommen worden, nicht zuletzt in einer ganzen Reihe von Zeitungen, unter denen sich freilich auch wenig reputierliche Boulevard-Blätter wie der „Tag" und die „Stunde" hervorgetan haben. In diesen beiden Blättern finden sich immer wieder Angriffe auf die Judenfeinde, freilich, was auch der Situation zwischen Minderheit und Mehrheit entspricht, kaum je in der Schärfe, die die Antisemiten gegen die Juden verwendet haben. Besonders in der „Stunde" 90 hat man dabei manchmal den Eindruck, daß sich die Zeitung ohnehin vorwiegend an ein jüdisches Publikum richte. Unter den Verteidigern der Juden gegen den überhandnehmenden Antisemitismus ist als einer der ersten Joseph Roth zu nennen, schon mit seinen Artikeln im liberalen Wiener „Neuen Tag", etwa in denen über das in St. Germain und Trianon Österreich zugesprochene Westungarn, das heutige Burgenland, ein Gebiet mit einem nicht ganz unbeträchtlichen jüdischen Bevölkerungsanteil, das von Ungarn gegen Österreich verteidigt wurde. Über den weißen Terror der Ungarn in diesem Gebiet schreibt Roth beispielsweise: Ein Kommunist ist jeder, der ein ausgesprochen jüdisches Aussehen hat. Die [...] an die Grenzorte kommandierten Offiziere sind fanatische Judenfresser. Daß sie in ihrem Judenhasse, der eigentlich Kommunistenhaß ist, es sich nicht nehmen lassen, hie und da Prügel auszuteilen, [...] ist nur natürlich. [...] Man hat das Christentum zu Agitationszwecken gepachtet. Da man die nötige Liebe nicht aufbringen kann, um sein Christentum zu beweisen, bringt man 89 90
Erika Weinzierl (Anm. 26), S. 371. Durchgesehen habe ich den Jahrgang 1925.
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den nötigen Haß auf und widerlegt es. Noch nie ist mit dem Namen Christi schändlicherer Mißbrauch getrieben worden als jetzt in Ungarn. [...] dieser neuzeitliche Antisemitismus ist politische Geschäfts- und niemals Überzeugungssache. Wenn es wahr ist, daß man die Kultur eines Volkes danach abschätzt, wie es seine Juden behandelt, so müßte man die ungarische Kultur nicht sehr hoch einschätzen. Zum Glück ist wenigstens, was Westungarn betrifft, die Judenhatz, wie übrigens auch bei uns, nur der Zeitvertreib der Halbgebildeten, der Pseudointelligenz.
Der Bericht91 bezieht sich zwar an der zuletzt zitierten Stelle auf Verhältnisse in Österreich, ist aber insgesamt aus einer Perspektive geschrieben, die die Verhältnisse in Ungarn eher negativ zeichnen will: um die Eingliederung Westungarns in Österreich zu fördern und um den Terror der ungarischen Rechten nach dem Räteregime anzuprangern. Dennoch ist die Sympathie für die Opfer merkbar, nicht nur für die als Juden diffamierten Kommunisten, sondern auch für sie als Juden. In diesem Sinn ist auch die Umkehrung eines Paumgartten'sehen Motivs zu verstehen, die Geschichte eines ungarischen Hauptmanns und gefürchteten antisemitischen Rohlings namens Zolan, der auf die Begrüßung durch einen Gast „,Wie geht's, Herr Hirschler?4" spurlos verschwand. Die von Sympathie geprägte Darstellung einer westungarischen Judengemeinde, ohne Bezugnahme auf den Antisemitismus, gehört ebenfalls in dieses Bild auch schon des jungen Journalisten Roth: Die Juden von Deutsch-Kreuz und die SchwehKhilles.93 Auch gegen den Antisemitismus in Österreich hat sich Roth gelegentlich gewandt,94 doch ist seine Stimme in Österreich bald nur noch selten zu hören gewesen, da er nach Berlin übersiedelt ist und nur noch gelegentlich in Wiener Zeitungen veröffentlicht hat. Ein Werk wie Juden auf Wanderschaft, das übrigens auf die Wiener Verhältnisse Bezug nimmt 9 5 oder auch der Roman Hiob gehören so nicht eigentlich zur Literaturszene in Österreich 9 6 Als entschiedene Vertreter von Demokratie und Humanität müssen in diesem Zusammenhang auch Karl Tschuppik und der oft unterschätzte
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Joseph Roth: Die Lage in Westungarn (Der Neue Tag, 5.9.1919). In: Roth, Werke 1 (Anm. 11), S. 132-139. Zitate auf S. 135, 136. Ebenda, S. 139. Ebenda, S. 115f. (Aus dem „Neuen Tag" vom 9.8.1919). Z.B. Joseph Roth: Deutschösterreich 1930. Ein Kapitel aus einer Weltgeschichte (1919). Ebenda, S. 149-151; Die reaktionären Akademiker (1920), ebenda, S. 233-236; doch sind die Äußerungen gegen den Antisemitismus in diesen Texten nicht von zentraler Bedeutung. Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft (Anm. 11), S. 857ff. Ein Kapitel aus „Hiob" erschien freilich in der Wiener jüdischen Familienzeitschrift „Menorah" 8, 1930, S. 433-443.
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Anton Kuh genannt werden, beide wichtige Mitarbeiter der „Stunde". 97 In der Auswahlausgabe wichtiger Artikel Tschuppiks nimmt allerdings die Stellungnahme gegen den Judenhaß keinen hervorragenden Platz ein, doch ist seine grundsätzliche Position unmißverständlich. In den EntQ O
täuschten (1923), einer Polemik gegen die Großdeutsche Volkspartei und ihre „Mannen in Linz, Krems, Vöcklabruck, unterm Manhartsberg und in Währing", verbindet sich - in einer Umkehr der antisemitischen Land-Stadt-Polemik - der Angriff auf die Politiker aus den Bundesländern, denen Tschuppik den Wunsch nach einer Provinzialisierung Wiens nachsagt, mit der Distanzierung vom Rassismus: Wenn jemand zum Beispiel Herrn Waber plausibel zu machen versuchte, daß es ein Unding sei, die Weltstadt Wien nach den Hochgedanken einer Tafelrunde in Krems und der Rassenmerktafeln des Turnvereins von Vöcklabruck zu regieren, wenn dies jemand unternahm, bekam er als Antwort den donnernden Fluch „Jud" und „Ausländer" zu hören. Wegen der Argumentationsstrategie ist auch der Artikel Arnstein99 von 1924 bemerkenswert, der an die allgemeine Begeisterung für die Erfolge des Grafen Zeppelin und seiner Luftschiffe anknüpft, um nachdrücklich vom eigentlichen Schöpfer der endgültigen Form des Ozeanluftschiffs zu sprechen, von Karl Arnstein: „der triumphierende Zeppelin ist das Kind eines jüdischen Kopfes." Daran schließt Tschuppik aktuelle Überlegungen zum Antisemitismus in Österreich an: [...] Karl Arnstein entstammt einer armen jüdischen Familie aus Karolinental bei Prag, hat in Prag studiert und war als junger Mann Assistent an der dortigen deutschen technischen Hochschule. Die Deutschen Böhmens, die so gerne ihren Nationalismus betonen, haben schon vor Jahren jene kulturfeindliche Dummheit praktiziert, die auch jetzt an den Wiener Hochschulen so prächtige Blüten treibt, Studenten jüdischer Abstammung nur als Menschen zweiten Ranges gelten zu lassen, ihnen das Studium zu erschweren und den Weg zu Lehrkanzeln zu verschließen. Diesem bösartigen Verhalten nationalistischer Dummheit hat es Karl Arnstein, wie sein berühmter Kollege Einstein, zu danken, daß er von Prag wegkam. Die deutsch-böhmischen Studenten und Professoren gestatteten weder Einstein noch Arnstein, Lehrer an den Prager deutschen Hochschulen zu werden. Die nationalistisch organisierte Mittelmäßigkeit vertrieb die jüdischen Gehirne. Im weiteren unterstreicht Tschuppik, daß der „Knüppel- und Tumultnationalismus" (105) an den Wiener Hochschulen ebenso agiere. 97
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In seiner gerechtfertigten Sympathie für Tschuppik zeichnet Klaus Amann: Karl Tschuppik - Der streitbare Bohemien. In: Karl Tschuppik: Von Franz Joseph zu Adolf Hitler. Polemiken, Essays und Feuilletons. Hrsg. von Klaus Amann. Wien 1982. S. 9-30, hier S. 14, wohl ein zu positives Bild des sensationshaschenden Blattes von Imre Bdkessy. Tschuppik, ebenda, S. 79-81; Zitate auf S. 79 und 80. Ebenda, S. 103-105; Zitate auf S. 104.
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Auf Anton Kuh kann ich nicht näher eingehen, da trotz den vereinzel1ΠΠ ten Auswahlausgaben zu wenig Texte zugänglich sind; bei Kuh kommt noch zusätzlich die Schwierigkeit hinzu, daß er sowohl das jüdische Milieu mit dem Vokabular der kulturkritischen Judenfeindschaft oder des jüdischen Witzes sehr kritisch charakterisiert als auch andererseits sich sehr deutlich zu diesem Judentum bekennt und dessen Feinde zum Gegenstand seiner Satire macht. Ich erwähne nur den Nachruf auf den Jargon-Komiker Heinrich Eisenbach (1923), 101 aus dem man leider ohne längere Kommentare kaum zitieren kann. Kuh analysiert die Wirkung dieses Komikers auch auf ein nichtjüdisches Publikum und sieht sie nicht zuletzt im Mangel an Pathos, der den jüdischen Jargon von Wien ebenso wie die Sprache des authentischen Wieners auszeichne. Der Text ist auch bemerkenswert als ein Beispiel für die Umwertung antisemitischer Angriffsstrategien. Was die Antisemiten als typisch jüdisch der Verachtung preisgeben wollen, wird hier gepriesen, gerade weil es jüdisch ist und nicht weil ihm die Anpassung an die nicht-jüdische Umgebung gelungen ist. Eine ähnliche Stelle habe ich sonst nur einmal gefunden, in einer 1925 im „Tag" erschienenen Opern-Rezension von - vermutlich - Max Graf über die Königin von Saba, „das repräsentative Opernwerk des gütigen, milden Meisters Goldmark, der im Leben voll war mit alter rabbinischer Weisheit" und dessen Werk die Bezüge zur Volksfantasie des Ghettos und zur Musik der Synagoge nachgerühmt werden. 102 Nicht erfaßbar waren in diesem Zusammenhang anti-antisemitische Kaba1 ftt rett-Texte, die zum Beispiel bei Anton Kuh Spuren hinterlassen haben. Es ist zu befürchten, daß davon auch nur wenige erhalten geblieben sind. Eine der massivsten Schriften aus dem Geist der Abwehr gegen den Antisemitismus ist selbstverständlich Hugo Bettauers berühmte Stadt ohne Juden1M von 1922, ein außerordentlich erfolgreiches Buch, das „meistgekaufte und meistgelesene Werk" des auch sonst vielgelesenen Autors, das samt Übersetzungen eine Auflage von 250.000 Stück erreicht haben soll, 105 also weit mehr als Paumgarttens unselige Repablick. Der 100
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Anton Kuh: Luftlinien. Wien 1981 (In dieser Ausgabe sind obendrein die für publizistische Texte doch sehr wichtigen Daten der Erstveröffentlichungen nur zum Teil nachgewiesen.); Zeitgeist im Literaturcaf6. Wien 1985. Anton Kuh: Eisenbach. In: Kuh, Luftlinien (Anm. 100), S. 438-441. Die mit mg. gezeichnete Rezension steht in: Der Tag, 12.3.1925, S. 9; Graf war Mitarbeiter dieser Zeitung. Vgl. Anton Kuh: Das Gesicht des deutschen Arztes. In: Kuh, Luftlinien (Anm. 100), S. 332-335. Hier S. 332f. Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden. Salzburg 1980 (= HB: Gesammelte Werke, 4). Murray G. Hall: Der Fall Bettauer. Ein literatursoziologisches Kapitel der Zwischenkriegszeit. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 3. Folge. 13. 1978. S. 141-158. Hier S. 147. [Auch als unpaginierte Broschüre beigelegt dem von Hall veranstalteten Bettauer-Reprint, Salzburg 1980],
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gespenstische Grundgedanke des Romans, in dem reale Figuren verschlüsselt (zum Beispiel Bundeskanzler Dr. Michael Mayr als Kanzler Dr. Karl Schwertfeger) auftreten,106 ist die, immerhin geordnete, Zwangsaussiedlung aller Juden aus Wien; da diese sich aber für die Stadt als eine wirtschaftliche und kulturelle Katastrophe erweist, gelingt es schließlich einem jungen jüdischen Künstler, der aus Liebe zu einem nicht-jüdischen Mädchen aus liberaler bürgerlicher Familie handelt, die Bevölkerung so umzustimmen, daß nach Neuwahlen ein neues Gesetz die Rückkehr der Vertriebenen ermöglicht. Der insgesamt harmlose, ausgesprochen schlechte und schlecht strukturierte Roman bemüht sich immerhin, einer reinen Schwarz-Weiß-Zeichnung zu entgehen, etwa im Falle des für die Aussiedlung verantwortlichen Bundeskanzlers Schwertfeger. Zur Karikatur des kleinbürgerlichen Wiener Antisemiten gerät der vermutlich christlichsoziale Nationalrat Wenzel Krötzl, ein Trunkenbold, der in mancherlei unsaubere Affären, mit Häusern wie mit sehr jungen Mädchen, verwickelt ist; indem er ihn betrunken macht, beraubt der Held, Leo Strakosch, bei der alles entscheidenden Abstimmung die Antisemiten der ausschlaggebenden Stimme. Immerhin arbeitet Bettauer mit dem Mittel der Karikatur und dämonisiert den Antisemiten nicht, was ihn von der antisemitischen Literatur mit ihrer Stilisierung des Juden zu einer diabolischen Gestalt ganz wesentlich unterscheidet, den gleichwohl schlechten Roman auch von der Form her humaner macht. Interessant ist Bettauers Insistieren auf den Leistungen der Juden in den Bereichen von Wirtschaft und Kultur; selbst die Mode reduziert sich ohne jüdische Klientel auf „rote, blaue und gemusterte Flanellröcke, [...] gestrickte Miederleibchen, [...] Baumwollstrümpfe und solides Schuhzeug, [...] Lodenstoffe in Braun, Grau und Schwarz [...]" (79). Dem entspricht das auf Ganghofer und Anzengruber reduzierte Schauspielprogramm (72). Nicht ganz uninteressant ist auch, daß Bettauer ein Hauptmotiv des Antisemitismus, nämlich die sexuelle Gefährlichkeit des Juden für das deutsche Mädchen aufnimmt und aus der Sicht der Frauen in sein Gegenteil verkehrt. „Bei der Lona in der Gumpendorferstraße" treffen sich gleich zu Beginn des Romans Mädchen, die von jüdischen Liebhabern ausgehalten werden, und beklagen ihr künftiges Los (37ff.); später heißt es dann: „Seit einem halben Jahrhundert hatte es sich eingebürgert, daß das hübsche Wiener Mädel aus den kleinen Bürgerkreisen einen Schatz besaß, der Jude war." (117). Denn jüdische Liebhaber behandelten ihre Freundinnen großzügig; einen , Juden aber gar zu heiraten, das galt als Haupttreffer, als Garantie für Wohlstand, Pelzmantel und schöne Kleider." (117) 106
Vgl. ebenda, S. 145; femer Schmidt-Dengler, Erste Republik (Anm. 25), S. 68.
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Und im weiteren ist noch davon die Rede, daß die Mädchen unter sich von der Vielfältigkeit der erotischen Neigungen jüdischer Männer „im Gegensatz zu ihren gut christlichen, sehr braven, aber weitaus weniger amüsanten arischen Freunden ..." schwärmen. (118). Mehrfach kehrt der Gedanke wieder, daß die Juden, unabhängig davon, ob sie einem sympathisch sind oder nicht, in einer Großstadt wie Wien die Funktion eines unentbehrlichen „Sauerteigs" (162) haben - wie es der Held Strakosch formuliert - oder, in den Worten eines die klugen Gespräche mit jüdischen Kollegen vermissenden antisemitischen Anwalts, die der „Magensäure": Ich wer' Ihnen was sagen, Josef. Wenn ich gegessen hab', muß ich, Sie wissen's ja am besten, immer mein Soda-Bikarbonat nehmen, um die elendige Magensäure zu bekämpfen. Wenn ich aber gar keine Magensäure hätt', so könnt ich überhaupt nichts verdauen und müßt krepieren. Und wissen S \ der Antisemitismus, der war das Soda zur Bekämpfung der Juden, damit sie nicht lästig werden! Jetzt haben wir aber keine Magensäure, das heißt keine Juden, sondern nur Soda und ich glaub', daran wer'n wir noch zugrund' geh'n! (82)
Daß eine biologische Metapher, wie er sie hier gebraucht, für das Problem denkbar ungeeignet war, hätte Bettauer wohl schon 1922 auffallen können. Interessant und zeittypisch ist die Vorstellung von einer gewissen Berechtigung des Antisemitismus selbst in diesem Werk. Von den Reaktionen auf Bettauers Roman kann ich nur einen bezeichnenden Satz aus der „Reichspost" zitieren, wo es, in der ersten Stellungnahme nach dem Mordanschlag auf den Autor - der zunächst das Attentat zu überleben schien - heißt: [...] Nicht genug, daß er den Wienern seine Schweinerei täglich in die Ohren schrie. Er höhnte in seinem Roman „Die Stadt ohne Juden" die christliche Bevölkerung offen, sie solle froh sein, Juden zu besitzen, die für die Jungfrauenschaft der Christenmädchen gut bezahlen. [...]
Das nimmt selbstverständlich auf die zitierten Stellen Bezug. Im weiteren allerdings ist sowohl in diesem Artikel wie in anderen doch vor allem davon die Rede, daß Bettauer durch seine pornographisch genannten Schriften zur sexuellen Aufklärung die Bevölkerung aufgebracht habe, nicht so sehr von seinem Judentum. Umgekehrt wird auch im liberalen „tag" die Hetze vor allem der nationalsozialistischen „Arbeiter-Presse" für den Mordanschlag an Bettauer verantwortlich gemacht. Im Lebenslauf des „großen Publizisten" 108 Bettauer wird aber das Judentum gar nicht erwähnt, hingegen ausdrück107
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Ein Revolverattentat. In: Reichspost, 11.3.1925, S. 1. Vgl. Hall, Fall Bettauer (Anm. 24), S. 25. Leitartikel „Ein Attentat auf Hugo Bettauer". In: Der Tag, 11.3.1925, S. 1.
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lieh betont, daß der Vater des Attentatsopfers Protestant gewesen sei. 109 Von antisemitischen Beweggründen des Verbrechens ist kaum die Rede; der Mord wird zur Gänze mit den Themen von Bettauers Zeitschrift erklärt. Freilich kann man angesichts der Diffamierung der Juden als sexuell unmoralisch die Erklärung der Bluttat mit dem Motiv des Judenhasses von der mit dem Motiv der Verteidigung der .Sittlichkeit' kaum auseinanderhalten. Auch in der Stellungnahme des Schutzverbandes deutscher Schriftstel110 ler ist nicht von Bettauers Judentum die Rede. Die „Reichspost" replizierte dennoch höhnisch auf diese maßvolle Äußerung und setzt das „deutsch" im Vereinsnamen unter Anführungszeichen, da, was übrigens falsch war, 111 die „arischen Mitglieder" von den Journalisten Margulies und Karpfen, Mitarbeitern des „Tag", verdrängt worden seien. 112 Die daran anschließende briefliche Auseinandersetzung zwischen Musil, der selbst Mitarbeiter des „Tag" war, und der „Reichspost" über die „vollständige Veijudung" des Schutzverbandes - selbstverständlich keine Formulierung Musils - ist für das Klima der Zeit sehr instruktiv. J Insgesamt scheint in dieser Affäre auch den Parteigängern des Ermordeten jedenfalls nicht die Verteidigung des Juden Bettauer vordringlich gewesen zu sein. Distanzierung vom Antisemitismus gibt es selbstverständlich gelegentlich auch bei nicht-jüdischen Autoren; 114 ich führe nur zwei sehr verschiedenartige Beispiele an: Musil, 115 der sich in dem Aufsatz Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit vom Dezember 1921 116 weniger vom immerhin genannten Antisemitismus im speziellen als von der als unhistorisch empfundenen Rassenlehre im allgemeinen distanziert, worauf er sich noch 1933 in einem Brief beruft, in dem er auch seine freundschaftlichen
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Der Tag, 27.3.1925, S. 6. Eine Kundgebung für Bettauer. In: Der Tag, 15.3.1925, S. 11. (sehr unauffällig abgedruckt). Vgl. dazu und zur Rolle Musils Murray G. Hall: Robert Musil und der Schutzverband deutscher Schriftsteller in Österreich. In: Österreich in Geschichte und Literatur 21. 1977. S. 202-221. Hall, ebenda, S. 219. Das „Komplott" gegen Hugo Bettauer. In: Reichspost, 15.3.1925, S. 6. Vgl. Hall, Musil (Anm. 110), S. 218ff. Vgl. zu entsprechenden publizistischen Äußerungen Rütgen, Antisemitismus (Anm. 16), S. 158ff., 425ff. über Irene Harand, Wilhelm Börner und andere. Bemerkenswert erscheint als eine Art Plaidoyer für Ehen zwischen Juden und Christen ein Roman des reformfreudigen Sozialdemokraten Johann Ferch (1879-1954): Mensch, nicht Jude! (Leipzig 1924). Vgl. zu Musil, in seiner Funktion im Schutzverband deutscher Schriftsteller in Österreich, auch Hall: Musil (Anm. 110, 113). Zuerst in der „Neuen Rundschau" von 1921; jetzt in: Robert Musil: Gesammelte Werke 8: Essays und Reden. Reinbek 1978. S. 1059-1075. Zitat auf S. 1065.
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Beziehungen zu vielen Juden unterstreicht. 117 Zitierenswert ist auch Musils Brief an Franz Blei vom 11. August 1933, in dem er zu einer möglichen Indizierung von dessen Werken im Deutschen Reich meint, Blei sei wohl irrtümlich für einen Juden gehalten worden; Musil fährt fort: „man dementiert heute so etwas ungern als anständiger Mensch [...]" 1 1 8 Aber nicht nur der urbane Musil, sondern auch der Provinzautor Franz Kranewitter aus Tirol, der obendrein noch kurz vor dem ,Anschluß' Nationalsozialist werden sollte, schreibt 1924 einen Beitrag für eine Broschüren-Reihe über den „Kulturwert des Judentums", in dem er nicht nur von positiven persönlichen Erfahrungen mit Juden spricht, die Bibel rühmt und sich dazu bekennt, von jüdischen Autoren beeinflußt worden zu sein, sondern auch gegenüber den zionistischen Plänen den Vorbehalt artikuliert, daß dadurch den „Völkern in ihrem Gefüge ein treibendes Element, gewissermaßen der Sauerteig des Evolutionismus, verloren gehen würde, ebenso wie eine ungeheure Arbeitskraft." 119 Es gab also auch unter den Vertretern der Heimatliteratur offensichtlich verschiedene Positionen, der Antisemitismus hatte auch unter den .bodenständigen' Autoren nicht nur und nicht immer eingeschworene Anhänger. Ans Ende dieses Abschnitts stelle ich einen Hinweis auf den schon einmal erwähnten Innsbrucker Halsmann-Prozeß von 1928/29, 120 in dem ein wahrscheinlich unschuldiger Jude aufgrund von Indizien verurteilt worden ist, die für eine Verurteilung nicht ausreichten. Vieles spricht dafür, daß das Urteil gegen Halsmann aufgrund der Beeinflussung der Geschworenen durch eine antisemitische Öffentlichkeit fiel. Für Halsmann sprachen sich vier nicht-jüdische Universitätsprofessoren aus, die daraufhin „wie alle, die sich für Halsmann einsetzten, [...] als Juden bezeichnet" wurden. 121 Nach der zweiten Verurteilung des jungen Mannes richtete nun Jakob Wassermann in der „Neuen Freien Presse" einen Offenen Brief an den Präsidenten der Republik}22 der schon durch diese Stilisierung 117
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Brief Musils an Else Meidner, 3.3.1933. In: Robert Musil, Briefe 1901-1942. 1. Band. Reinbek 1981. S. 563f. Ebenda, S. 577. Zitiert nach Johann Holzner: Franz Kranewitter (1860-1938). Innsbruck 1985. S. 204ff. Über die juristischen Aspekte des Falls informiert die zeitgenössische Broschüre: Der Fall Halsmann. Mit Beiträgen von Carl Brockhausen, Franz Pessler und Josef Hupka. Wien 1931 (= Schriften der Österreichischen Liga für Menschenrechte, 3); vgl. femer Hans Haider: Der Fall Philipp Halsmann. Vom Justizskandal zum Fernsehgeheimnis. In: Das jüdische Echo (Wien) 38. 1989/90. Nr. 1. S. 75-81. Pessler, in: Der Fall Halsmann (Anm. 120), S. 49. Jakob Wassermann: Offener Brief an den Präsidenten der Republik. In: Neue Freie Presse, 27.10.1929, S. lf. (als Aufmacher einer Sonntagsausgabe). Jetzt leicht zugänglich in Wassermann, Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904-1933. Heidelberg 1984 (= Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, 57), S. 149-152.
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(„Präsident der Republik" statt dem korrekten ,Bundespräsident') an Zolas berühmtes J'accuse von 1898 gemahnen soll. Wassermann, der damals schon lange in Österreich lebte, spricht in diesem Brief sehr deutlich von den Beweggründen hinter den ihm ungerecht erscheinenden Urteilen: [...] Philipp Halsmann ist unschuldig. Wenn Ihnen dieses Diktum allzu vermessen und unbedingt erscheint, so kann ich mich zu seiner Bekräftigung auf die Meinung von ganz Europa berufen, das heißt, auf die aller anständigen, unbefangenen, klar empfindenden und von der Pestatmosphäre des Rassenhasses noch unvergifteten Menschen dieses Erdteils, Christen wie Juden. (150) [·..] Das Urteil, das ergangen ist, ist nicht ergangen gegen die Tat, die hat er nie und nimmer verübt, es ist ergangen gegen den Mann und seinen Stamm [...] Ich lebe seit einundreißig Jahren in Österreich. Ich liebe dieses Land wie meine Heimat. Es schmerzt mich, daß es mehr und mehr ein Schauplatz des Hasses, der Verfolgung und des Unrechtes werden soll. (151)
Trotz der Zola-Pose kann man sich dem Eindruck dieser deutlichen Worte nicht entziehen. Zu einer österreichischen Dreyfus-Affäre ist der Fall Halsmann dennoch nicht geworden, auch nicht aufgrund der mutigen Stellungnahmen der vier Professoren. Auf beiden Seiten gab es nicht genug Kämpfer: der Staat behalf sich mit einer juristisch fragwürdigen Begnadigung, die wegen des juristisch kaum haltbaren Urteils wohl auch Halsmanns Feinde hinnahmen; in der politisch äußerst unstabilen Situation nach 1930 gaben sich aber offenbar auch Halsmanns Parteigänger mit dem Gnadenakt zufrieden. Zu einem Exempel für den Zusammenstoß von Judenhaß und Recht ist diese Affäre jedenfalls nicht geworden, vielleicht auch deshalb nicht, weil ihr die im Fall Dreyfus zentralen allgemeinen politischen Aspekte abgingen. Ein großes Werk, das sich mit dem Antisemitismus auseinandergesetzt hätte, ist in der Ersten Republik nicht entstanden; immerhin durfte in ihr 10'λ Professor Bernhardt aufgeführt werden, was den Theatern in der österreichischen Reichshälfte vor 1918 verboten gewesen war. Davon daß Joseph Roths große Bücher über das Judentum außerhalb Österreichs entstanden und außerhalb Österreichs erschienen sind, war schon die Rede; auch über ihre Rezeption in Österreich weiß man noch wenig, 124 so daß ich auf eine Einbeziehung dieser ohnehin bekannten Werke verzichten zu können glaube. In Österreich selbst hat jedenfalls 123 Ygj Werner Wilhelm Schnabel: „Professor Bemhardi" und die Wiener Zensur. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 28. 1984. S. 349-383; über die Aufführung von 1918 S. 368. 124
Margarete Willerich-Tocha: Rezeption als Gedächtnis. Studien zur Wirkung Joseph Roths. Frankfurt 1984 (= Europäische Hochschulschriften, 1/736) beachtet mögliche Abweichungen zwischen österreichischer und .reichs-' bzw. bundesdeutscher Rezeption nicht.
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meines Wissens niemand eine derartig affirmative Darstellung des ostmitte ieuropäischen Judentums geschrieben, obwohl Ähnliches, wenn auch nicht in der Qualität von Roths Werken, in jüdischen Zeitungen und Zeitschriften durchaus erschienen sein mag; ich denke etwa an ein Gedicht Ernst Waldingers (Polnisches Petroleumgebiet) und Prosa der aus Czernowitz stammenden, damals in Wien lebenden Klara Blum (Die seidenen Zures) in der jüdischen Wiener Familienzeitschrift „Menorah". 125 Dort sind auch Übersetzungen aus dem Jiddischen erschienen (und sicher nicht nur dort). Selbstverständlich gab es auch vereinzelt literarische Veröffentlichungen aus zionistischer Sicht; der prominenteste Autor, der ein solches Buch vorgelegt hat, war der als Journalist bei der „Neuen Freien Presse" und als PEN-Club-Präsident einflußreiche Felix Saiten, von dem 1925 das Reisebuch Neue Menschen auf alter Erde. Eine Palästinafahrt erschienen ist. Das ist übrigens insofern recht auffällig, als Saiten sonst in seinem Werk trotz seinem persönlichen Engagement für den Zionismus kaum jüdische Themen gestaltet hat. Ein letztes Werk sei in diesem Zusammenhang noch erwähnt, das aber eigentlich schon in die Exilliteratur und nicht mehr in die österreichische Situation der Ersten Republik gehört: Ferdinand Bruckners Die RassenP"1 In diesem 1933 spielenden und im selben Jahr sowohl entstandenen wie auch, in Zürich, uraufgeführten (in Wien erst 1951 gespielten) Werk geht es schon um Probleme des entstehenden Dritten Reichs; es wird zu den „antifaschistischen Kampfstücken" 128 gezählt. Das für mich überraschendste Ergebnis meiner Recherchen läßt sich relativ knapp darstellen. An vielen Beispielen, etwa an dem der „Neuen Freien Presse", der großbürgerlich-liberalen Wiener Tageszeitung schlechthin, mit vielen jüdischen Mitarbeitern, mit einer zu einem großen Teil jüdischen Leserschaft. 129 Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus nahm in ihr nie besonders breiten Raum ein, da sie gerade nicht als Judenzeitung in Erscheinung treten wollte. Immerhin hat sie Wassermanns Offe125
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Zu dieser vgl. Sigurd Paul Scheichl: Galizische Themen und Motive in der Wiener jüdischen Familienzeitschrift MENORAH (1923-1932). In: Galizien als gemeinsame Literaturlandschaft. Hrsg. von Fridrun Rinner und Klaus Zerinschek. Innsbruck 1988 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 62). S. 121-130; freilich mit dem Ergebnis, daß ostjüdische Motive in dieser Zeitschrift nicht sehr häufig sind. Zitate: Klara Blum, Jg. 3, 1925, S. 257f.; Emst Waldinger, Jg. 9, 1931, S. 430. Felix Saiten: Neue Menschen auf alter Erde. Eine Palästinafahrt. (Wien: Zsolnay 1925). Königstein/Ts. 1986. Ferdinand Bruckner: Die Rassen. In: Bruckner, Dramen. Hrsg. von Hansjörg Schneider. Berlin (DDR) 1990 (= Österreichische Bibliothek, 12). S. 345-443. Anmerkungen zu den Stücken, ebenda, S. 620. Die Beobachtungen beziehen sich auf vier durchgesehene Monate des Jahres 1928.
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nen Brief für Halsmann veröffentlicht, obendrein in großer Aufmachung auf der ersten Seite einer Sonntagsausgabe. In dieser Zeitung nun schreiben jüdische Mitarbeiter wie Raoul Auernheimer über Theaterstücke und Bücher von später (oder schon damals) nationalsozialistisch engagierten Autoren wie Egmont Colerus;130 neben Beiträgen von Richard Beer-Hofmann und Felix Braun, Max Brod und Felix Saiten, auch Hermann Hesse und Thomas Mann stehen nicht ganz vereinzelt solche von Franz Karl Ginzkey, Robert Hohlbaum (der ein Buch von Bruno Hans Wittek, sichtlich einen Heimatroman, lobt),131 Franz Spunda und anderen; und ein Paul Wertheimer schreibt, zum Teil durchaus anerkennend, über Paula Grogger,132 Karl Hans Strobl,133 Ottokar Kernstock (ein Nachruf) 134 und Erwin H. Rainalter.135 Gewiß dominieren sowohl bei den Rezensenten als auch bei den Rezensierten die Urbanen, oft jüdischen Autorinnen und Autoren, doch sind die .bodenständigen' nicht ausgeschlossen: ihre Bücher werden zur Kenntnis genommen; sie selbst dürfen gelegentlich in der Zeitung veröffentlichen - worauf zum Beispiel Hohlbaum, allerdings vor 1914, großen Wert gelegt zu haben scheint.136 Ein ähnliches Bild ergibt sich im „Tag" von 1925, wo neben Bettauer und Max Brod auch Grete v. Urbanitzky - nach dem Anderen Blut - und Franz Spunda137 veröffentlichen.138 Grete v. Urbanitzky, die nach 1933 „eine der Hauptfiguren" auf nationalsozialistischer Seite im „konspiratorischen politischen Geschäft mit der österreichischen Literatur", insbesondere um den P.E.N.-Club, werden sollte,139 scheint 1924/25 sogar als Verfasserin eines Fortsetzungsromans (Miriams Sohn) auf. Die Kontakte zwischen nicht-jüdischen, zum Antisemitismus tendierenden und jüdischen Autoren waren also offensichtlich enger, als wir uns das heute vorstellen können; unserem Bild der Zeit entspricht die „Deutschösterreichische Tages-Zeitung", in der ausschließlich völkische 130
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R. Α.: Burgtheater. „Politik" von Egmont Colerus. In: Neue Freie Presse, 16.3.1928, S. lf. (Es handelt sich bei diesem und den folgenden Zitaten jeweils um das Morgenblatt der Zeitung). Robert Hohlbaum: „Sturm über'm Acker". Roman von Bruno Hans Wittek. In: Neue Freie Presse, 25.11.1928, S. 38. Neue Freie Presse, 30.12.1928, S. 13. Neue Freie Presse, 14.10.1928, S. 28. Neue Freie Presse, 6.11.1928, S. 6. Neue Freie Presse, 8.12.1928, S. 41. Brief Hohlbaums an Franz Karl Ginzkey vom 17.2.1914, zitiert bei Sonnleitner (Anm. 35), S. 24. Über diesen und seine Beziehungen zum Nationalsozialismus vgl. Karl Müller: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimodeme Österreichs seit den 30er Jahren. Salzburg 1990. S. 189-200. Von Spunda erschien im „Tag" vom 6.3.1925, S. 4, der Beitrag „Mistra". Klaus Amann: P.E.N. Politik. Emigration. Nationalsozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerclub. Wien 1984. S. 39.
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Stimmen zu hören waren (wobei noch zu untersuchen wäre, wieweit einzelne von deren Autoren dann doch auch in liberalen Blättern veröffentlicht haben). Diese Kontakte mögen auch die Ursache dafür sein, daß manche völkische Autoren mindestens vor 1938 vor einem allzu deutlichen Artikulieren ihres Antisemitismus zurückschraken; Jelusich' vermutete Anonymität etwa oder die nur wenig ins Gewicht fallenden jüdischen Figuren in Hohlbaums Romanen könnten damit zu tun haben, ebenso könnte sich durch diese Kontakte eine gewisse Unterschätzung der Gefährlichkeit des Antisemitismus durch die liberalen Schriftsteller erklären lassen. Man nahm auf persönliche Beziehungen Rücksicht, vielleicht auch auf Publikationsmöglichkeiten (die eher in den Händen von Juden waren) und auf das Publikum (das selbstverständlich vorwiegend aus Nicht-Juden bestand). Was bei diesem Miteinander-Auskommen auf geschäftliche Rücksichtnahme und was auf menschlich ehrenwerte Motive zurückzuführen ist - bei den Autorinnen und Autoren der einen wie der anderen Gruppe -, wird sich wohl nur in genauen Einzelanalysen klären lassen. Im Falle Hohlbaums freilich lassen die Reaktionen nach 1933 vermuten, daß der Autor allein an den Publikationsmöglichkeiten in der jüdischen Presse interessiert war, bei anderen wird es nicht anders gewesen sein. Auch veröffentlichte Briefe lassen ein ähnliches Bild entstehen. Weinheber etwa stand unter anderem in durchaus ehrerbietiger Korrespondenz mit Leo Perutz, Hugo Sonnenschein, Otto Koenig, Theodor Lessing; nach 1933 verschwinden diese Namen allerdings aus dem Verzeichnis seiner Briefpartner, 140 obwohl bezeugt ist, daß der Lyriker den persönlichen Verkehr mit Perutz bis in die Mitte der dreißiger Jahre fortsetzte. 141 Ähnlich sind wohl die Äußerungen Perutz' aus der Zeit nach 1945 einzuschätzen, in denen er über dezidierte Nationalsozialisten wie Jelusich und Bruno Brehm mit andauernder persönlicher Hochachtung schreibt, auch in Hinblick auf die gegen die beiden anhängigen gerichtlichen Verfahren. Einem jüdischen Freund gegenüber rechtfertigt er aus dem palästinensischen Exil diese Haltung: [...] Was Jelusich betrifft, so war ich seit 1918 mit ihm befreundet, und er blieb mir zugetan, auch als er Nazi geworden war. [...] Und bis zum letzten Augenblick, und da besonders, hat er sich nicht nur gentlemanlike, sondern auch freundschaftlich zu mir verhalten. [.·.] Ich vergesse vornehmes Verhalten nicht, auch wenn es sich um einen Nazi handelt. 140
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Josef Weinheber: Briefe. Hrsg. von Josef Nadler und Hedwig Weinheber (= JW: Sämtliche Werke, 5). S. 655ff. Vgl. Leo Perutz (Anm. 14), S. 145. Brief von Leo Perutz an Hugo Lifczis, 21.1.1947; ebenda, S. 342.
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Und über den Fall Bruno Brehm: 143 [...] Glauben Sie doch nicht der Schwarz-Weiß-Technik unserer Zeit: Daß alle Faschisten, nur deswegen, weil sie faschistisch gesinnt waren, automatisch Schurken sein müssen, und daß die Ulmanns [!], nur weil sie als Juden zur Welt kamen, schon Edelmenschen sind. [..·] Im Juni 1938, als ein solcher Besuch für einen Arier schon gefährlich werden konnte, erschien [Bruno Brehm] in meiner Wohnung und bot mir seine Hilfe an. Ich kann Lumpereien eines Menschen restlos vergessen, aber ich bin nicht imstande, eine mutige, anständige und freundschaftliche Handlung einfach aus meinem Gedächtnis zu streichen. [...] Dr. Brehm war ein wirklicher Freund, und darum lasse ich ihn heute, wo es ihm schlecht geht, nicht im Stich [...]
In dieser Situation war es sogar möglich, daß ein Werk des jüdischen Mitarbeiters der „Neuen Freien Presse" Raoul Auernheimer nicht nur in dem auf bodenständige österreichische Literatur spezialisierten StaackmannVerlag 144 in Leipzig erscheinen, sondern von diesem in einer Annonce des Verlagsprogramms auch im höchst völkischen „Getreuen Eckart", einer verbreiteten Zeitschrift, angezeigt werden konnte. 145 Und schließlich wäre der berühmte Eklat im PEN-Club aus Anlaß der antinationalsozialistischen Resolution beim internationalen PEN-Kongreß in Ragusa (Dubrovnik) 1933 146 nicht möglich gewesen, wenn bis 1933 die nationalen und die fortschrittlichen Autorinnen und Autoren in diesem Verein nicht hätten koexistieren können. Noch 1933 konnte der Vorstand beschließen, daß sich der österreichische Klub in Ragusa gegenüber dem Deutschen Reich neutral verhalten würde, was die Stärke der »bodenständigen' Autorinnen und Autoren im Verein erkennen läßt. Hier interessiert weniger ihr geschlossener Austritt aus dem P.E.N. als die Möglichkeit einer über zehnjährigen offenbar halbwegs konfliktfreien Zusammenarbeit zwischen Menschen, von denen wir uns heute nur vorstellen können, daß sie sich eigentlich ständig als Todfeinde hätten gegenüberstehen müssen. Aus den Konflikten zwischen Juden und Nicht-Juden im literarischen Leben Österreichs von 1918 bis 1933 bzw. 1938 sind kaum bedeutende Werke hervorgegangen. Ich möchte dennoch mit Fragen über drei Bücher 143
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Brief von Leo Perutz an Hugo Lifczis, 15.4.1947; ebenda. Mit dem Typus „Ulmanns" könnte der seinerzeit einflußreiche Kritiker Ludwig Ulimann gemeint sein. Zu diesem vgl. Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938. Band II: Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien 1985 (= Literatur und Leben, N. F., 28/ II). S. 532-547. Der Getreue Eckart 10. 1932/33. 1. Halbband. Wegen der Bibliotheksbindung des mir zugänglichen Exemplars läßt sich eine genauere Angabe nicht machen. Dazu Amann (Anm. 139), S. 23ff.
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schließen, die man vielleicht auch im Lichte dieser Problematik betrachten sollte. Erst vor kurzem hat Gerald Stieg ein Dokument veröffentlicht, das hier unbedingt erwähnt werden muß: Heimito von Doderers Lebensbeschreibung im Fragebogen für die Reichsschrifttumskammer (1936), mit wesentlichen Aussagen über die Planung der Dämonen, an deren erster Fassung der Schriftsteller in den dreißiger Jahren arbeitete.147 Doderer stellt sein Projekt mit der Überlegung vor: Ich hatte unzweideutig erkannt - aus einer ausserordentlichen Fülle privater, gesellschaftlicher und beruflicher Erfahrungen - dass dem Judentume in Oesterreich und besonders in Wien bei Entscheidungen, deren Heran-Nahen man damals schon fühlte, eine geradezu überwältigende Bedeutung werde zukommen müssen. Alle gesellschaftliche Kommunikation war und ist bei uns vom jüdischen Elemente durchwachsen, [...] Ich glaube, es ist das erste Mal, dass die jüdische Welt im Osten deutschen Lebensraumes von einem rein deutschen Autor in den Versuchsbereich der Gestaltung gezogen wurde. Denn die bisher darüber schrieben (Schnitzler, Wassermann etc. etc.) waren selbst Juden und ihre Hervorbringungen können wohl seit langem schon nicht mehr ernsthaft gelesen werden. [...] Stets werde ich an der Behauptung festhalten, dass die österreichische Geschichte der letzten Jahre ohne eine profunde Kenntnis des hiesigen Judentums überhaupt nicht verstanden werden kann.
Doderer mag sich bei dieser Präsentation für den Plan eines „Theatrum Judaicum"1 über seinen damaligen Antisemitismus hinaus an den Adressaten des Fragebogens angebiedert haben; aber so unsympathisch uns die Absicht ist, die hinter diesen Gedanken steht, so richtig sind manche Einsichten, und der letzte zitierte Absatz könnte wohl als Motto auch über den vorliegenden Ausführungen stehen. Denn eben die Wichtigkeit des österreichischen Judentums, und eben seine besondere Bedeutung in allen Bereichen der Kommunikation, steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, von denen hier zu berichten war. Doderer hat freilich, als ein - damals - wie Hohlbaum, Jelusich, Weinheber und andere Erfolgloser, aus der Einsicht die falschen Konsequenzen gezogen. Wie wichtig das Problem des Verhältnisses zum Judentum für viele war, wird aus diesen Formulierungen allemal deutlich. Ein zweites Werk, auf das ich zu sprechen kommen möchte, ist Leo Perutz' 1953 in Frankfurt erschienener Roman Nachts unter der steinernen Brücke,149 ein locker konstruiertes, vielfiguriges Buch aus der Zeit 147
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Gerald Stieg: Frucht des Feuers. Canetti, Doderer, Kraus und der Justizpalastbrand. Wien 1990. S. 216-227. Zitat auf S. 225f. Ebenda, S. 226. Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke. Reinbek 1990 (= rororo, 12281). Perutz arbeitete an dem Roman seit den zwanziger Jahren.
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Rudolfs II. in Prag, unter dessen Gestalten jüdische Figuren in einem bei Perutz sonst nicht festzustellenden Ausmaß das Übergewicht haben, obwohl das Buch nicht nur im Ghetto spielt. Perutz nennt das Buch eine „Verbeugpng vor dem alten Prag", 150 es sei „kein jüdischer Roman". 151 Gegen diese Selbstdeutung spricht freilich schon der erst ganz zuletzt aufgegebene Titel „Meisls Gut", dagegen spricht auch der Zeitpunkt des Abschlusses des Romans. Ein Buch, in dem das Ende einer Traum-Liebe zwischen dem Kaiser und einer schönen Jüdin und die auch für den Kaiser verheerenden Folgen dieses Endes ein zentrales Motiv sind, muß man auf das Ende eines konfliktreichen, aber auch fruchtbaren Zusammenlebens zwischen deutschen und österreichischen Christen einerseits, deutschen und österreichischen Juden andererseits beziehen, wobei Perutz' Annäherung an den Stil des historischen Romans, wie ihn gerade die Jelusich, Hohlbaum, Handel-Mazzetti gepflegt haben, besonders zu beachten wäre. Auch hier vielleicht ein Theatrum Judaicum, von dem aus die Geschichte Österreichs besser zu verstehen wäre. Und eine letzte Frage, zu einem der bedeutendsten Bücher, die in der Ersten Republik Österreich entstanden sind, zu Elias Canettis Blendung (1930 geschrieben, 1935 veröffentlicht). Der Roman, der eng mit politischen Erfahrungen des Autors zusammenhängt, 152 ist bisher, soweit ich sehe, noch nie in Zusammenhang mit einer jüdischen Thematik analysiert worden, obwohl mindestens eine Figur, der Zwerg Fischer, implizit und explizit als Jude, ironisch als „der harmloseste Jud von der Welt", 153 charakterisiert wird. Nichts zwingt dazu, in der Hauptfigur Kien einen Juden zu sehen; doch er könnte es sein, mindestens ein Satz deutet darauf hin: „Das Erbteil des Kapitalismus, in seiner Familie jahrhundertelang beliebt und geübt, erwachte mit ungeheurer Kraft, [...]" 154 „Kien" kann ein jüdischer Name sein, obwohl das im komplexen Prozeß der Findung dieses Namens 155 vielleicht keine Rolle gespielt hat; auf jeden Fall ist eine gewisse klangliche Ähnlichkeit zum Namen ,Kohn' gegeben. Wichtiger sind die betont bodenständig-österreichischen (gar nicht wienerischen) Namen von Kiens Gegenspielern, Therese Krumbholz und Benedikt Pfaff, die beide aus dem für den brutalen Antisemitismus anfälligen Milieu kommen. 150 151
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Brief von Leo Perutz an Hugo Lifczis, 2.7.1951; zitiert in Leo Perutz (Anm. 14), S. 368. Brief von Leo Perutz an Hans Reimann, 12.1.1954; zitiert in Leo Perutz (Anm. 14), S. 374. Vgl. Stieg (Anm. 147), S. 139. Elias Canetti: Die Blendung. Frankfurt 1965 (= Fischer-Tb, 696/97), S. 156. Ebenda, S. 121. Vgl. dagegen S. 160. Vgl. Elias Canetti: Das erste Buch: Die Blendung (1973). In: Canetti, Das Gewissen der Worte. München o.J. (1975). S. 222-233. Hier S. 222, 225, 231f.
Judentum, Antisemitismus und Literatur in Österreich
1918-1938
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Nichts zwingt dazu, Die Blendung als eine Vorwegnahme der Zerstörung des österreichischen Judentums durch seine Landsleute zu lesen; aber die Frage, ob eine solche Lektüre nicht legitim ist, möchte ich doch aufwerfen. Und zwar gerade am Ende dieser Ausführungen: denn Überlegungen zu diesem Thema müssen im Bild einer Katastrophe enden.
Michael Schmidt (Berlin)
Im Westen eine , Wissenschaft'... Antisemitismus im völkisch-faschistischen Roman der Weimarer Republik*
für Hans-Jürgen Schräder zum fünfzigsten Geburtstag Man hat Nachtstühle, die wie aneinandergelegte Folianten aussehen. Einige Schriftsteller scheinen Gefallen an der umgekehrten Methode zu finden und Bücher zu schreiben, die sich wie Nachtstühle präsentieren. Lichtenberg
Im christlichen Mitteleuropa stellt Judenfeindschaft eine Struktur von schier endlos langer Dauer dar. Indessen hat es in der Geschichte des zentraleuropäischen Antisemitismus immer wieder Fokussionsphasen gegeben, Zeiten, in denen die Feinde der Juden ihre zunächst meist literarischpolemischen Waffen bündelten. Solche Phasen waren in der neueren deutschen Geschichte die Jahre nach den napoleonischen Kriegen, nach der Gründung des Deutschen Reiches und nach 1917, als die infame Judenzählung im deutschen Heer die letzte Hochkonjunktur des deutschen Antisemitismus einleitete, der im Zweiten Weltkrieg die weitgehende Vernichtung der europäischen Judenheit folgte. Diese Fokussionsphasen gehorchen offenbar nicht einem überdies umstrittenen und fragwürdigen sozialhistorischen Krisenmodell, das die Macht der Rede als analytischen Faktor ebenso vernachlässigt wie die an-
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Ich hatte meinen Aufsatz unter dem Arbeitstitel „Zur Poetik und Soziologie des antisemitischen Kitschromans" voreilig bereits 1986 als „demnächst" erscheinend angekündigt; vgl. Michael Schmidt: Regionale Literatur, kleine Literatur, erzählte Provinz? Überlegungen zur hochdeutschen Prosa Moritz Jahns. In: Studien zu Moritz Jahn. Hrsg. v. Dieter Stellmacher. Rinteln 1986, S. 63-92, S. 84, Anm. 63. Erste Ausformulierungen finden sich als Schlußkapitel in dem Band: Stefan Rohrbacher und Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991, S. 371-391. Für wichtige Hinweise zur hier vorgelegten Fassung möchte ich den Berliner Freunden Katharina Ochse, Kordula Doerfler und Hans-Joachim Neubauer auch an dieser Stelle ganz herzlich danken.
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gesichts der notorischen Krisenhaftigkeit der europäischen Geschichte evidente mangelnde Randschärfe des eigenen Ansatzes. Vielmehr scheint es sich bei diesen diskursiven Höhepunkten der Judenfeindschaft um eine antisemitische Variante innerhalb der Universalgeschichte der Niedertracht (Borges) zu handeln. Die Weigerung der historischen Wissenschaften, „Metamorphosen der Niedertracht"1 in den Blick zu nehmen, hängt vermutlich mit der engen und trotz vieler Enttäuschungen unverzichtbaren Bindung der Historiographien an die Positionen der Aufklärung zusammen. Freilich hat die europäische Aufklärung als Anthropologie Phänomene der Niedertracht durchaus reflektiert. Bemerkenswert ist in diesen historischen Phasen das Auftreten von Schriften, die ich bereits früher einmal als „Klassiker des Antisemitismus"2 bezeichnet habe: Schriften, die versuchen, ältere Vorwürfe und Beschuldigungen gegen die Juden exemplarisch und umfassend, gewissermaßen mit enzyklopädischem Anspruch darzustellen, um die antisemitischen Metaphern vor dem Vergessen zu bewahren und den Diskurs virulent zu halten. Das Vorbild solcher Schriften ist offenbar der spätmittelalterliche Hexenhammer Malleus Maleficarum.3 Für die früheste Phase der deutschen Aufklärung intendierte dies des barocken Polyhistors Eisenmenger Entdecktes Judenthum,4 für die Friih1
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Helmut Plessner: Unmenschlichkeit. In: ders., Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, S. 198-208, hier S. 202. Vgl. Michael Schmidt: Marginalität als Modus der ästhetischen Reflexion. Juden und .unehrliche Leute' im Werk Wilhelm Raabes. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hrsg. v. Rainer Erb und Michael Schmidt, Berlin 1987, S. 381^05, hier S. 400. Vgl. [Jakob Sprenger und Heinrich Institoris:] Malleus Maleficarum. Der Hexenhammer. Verfaßt von den beiden Inquisitoren [...] Zum ersten Male ins Deutsche übertragen und eingeleitet von J.W.R. Schmidt. 3 Teile. Berlin 1906. Vgl. [Johann Andreas Eisenmenger:] Des bey 40. Jahr von der Judenschafft mit Arrest bestrickt gewesene, nunmehro aber Durch Autorität eines Hohen Reichs-Vicariats relaxierte Johann Andreae Eisenmengers, Professoris der Orientalischen Sprachen bey der Universität Heydelberg, Entdecktes Judenthum, oder: Gründlicher und Wahrhafftger Bericht, Weichergestalt die verstockten Juden Die Hochheilige Dreyeinigkeit, Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist, erschrecklicher Weise lästern und verunehren, die Heil. Mutter Christi verschmähen, das Neue Testament, die Evangelisten und Aposteln, die chrisdiche Religion spottlich durchziehen, und die gantze Christenheit auf das äusserste verachten und verfluchen; Dabey noch viele andere, bisher unter den Christen entweder gar nicht, oder nur Zum Theil bekant-gewesene Dinge und Grosse Irrthüme der Jüdischen Religion und Theologie, wie auch viele lächerliche und kurtzweilige Fabeln und andere ungereimte Sachen an den Tag kommen; alles aus ihren eigenen, und zwar sehr vielen, mit grosser Mühe und unverdrossenem Fleiß durchlesenen Büchern, mit Anziehung der Hebräischen Worte, und deren treuen Übersetzung in die Teutsche Sprach, kräfftiglich erwiesen und in Zweyen Theilen verfasset, Deren jeder seine behörige allemal von einer gewissen Materie ausführlich handelnde Capitel enthält. Allen Christen zur treuherzigen Nachricht verfertiget, und Mit vollkommenen Registern versehen, o.O. 1700.
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phase der Restauration nach 1815 Hundt-Radowskis Judenspiegel.5 Wenn eine solche enzyklopädisch-antijüdische Schrift in der Zeit nach 1870 zunächst fehlt, um später durch ein ganzes Ensemble derartiger Texte ersetzt zu werden, charakterisiert dieses Defizit die Tatsache, daß die frühen völkischen Antisemiten durch die Begründung des Begriffs Antisemitismus und die damit einhergehende Begründung einer ,arisch'-antijüdischen Rassentheorie mit wissenschaftlichem Anspruch eine entscheidende Innovation des Diskurses beabsichtigten. Diese Innovation läßt sich als Phänomen der Säkularisation begreifen: während die alte christliche Judenfeindschaft letztendlich stets religiös begründet war, sollte fortan die Wissenschaft den modernen Antisemitismus letztendlich legitimieren. Im Westen sei der Antisemitismus zur Wissenschaft geworden, schreibt Joseph Roth am Schluß seiner Mitte der zwanziger Jahre als feuilletonistisches Ergebnis einer Rußlandreise entstandenen Studie Juden auf Wanderschaft.6 Roths sarkastische These trägt nicht nur der Tatsache Rechnung, daß antisemitische Autoren des späten 19. Jahrhunderts wie Chamberlain, Lagarde und Langbehn sich durchaus als Denker in dürftiger Zeit verstanden und gelierten, daß sie als Wissenschaftler und Philosophen auftraten und mit diesem ihrem schöngeistigen Anspruch erheblich zur Akzeptanz von Antisemitismus in jenen bürgerlichen Schichten beitrugen, die einen Radau-Antisemitismus, der sich etwa an Wuchervorwürfen oder Ritualmordbeschuldigungen entzündete, zunächst ablehnten. In diesen Zusammenhang gehören auch die Institutionalisierung des Rassenwahns als Wissenschaft7 an deutschen Universitäten seit den zwanziger Jahren und der Versuch des deutschen Nobelpreisträgers Philipp Lenard, eine .arische' Physik als Gegenentwurf zur jüdischen' Relativitätstheorie zu formulieren. Roths marginale, doch scharfsichtige Äußerung läßt sich aber auch auf den zuletzt von Anne Lagny8 in einer noch ungedruckten französischen
[= Johann Hartwig von Hundt-Radowski]: Der Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde alter und neuer Zeit. Würzburg 1819. Vgl. Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. In: Roth, Werke 2. Hrsg. u. mit e. Nachw. v. Klaus Westermann. Köln 1990, S. 891: „Aber während er [der Antisemitismus, M. Sch.] im Westen eine »Wissenschaft' geworden ist, der Blutdurst bei uns eine politische .Gesinnung* ist, bleibt im neuen [bolschewistischen, M. Sch.] Rußland der Antisemitismus eine Schande." Vgl. Michel Pollak: Rassenwahn und Wissenschaft. Anthropologie, Biologie, Justiz und nationalsozialistische Bevölkerungspolitik, Frankfurt am Main 1990. Vgl. Anne Lagny: Figuration du Juif et de l'Antis^mitisine dans le Zeitroman de la R£publique de Weimar, Universite de Lille III, o.J. Ich daake Anne Lagny für die Erlaubnis, ihre Arbeit einzusehen.
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Dissertation über Antisemitismus im Zeitroman der Weimarer Republik herausgestellten Befund beziehen, daß die deutsche Gegenwartsliteratur nach dem Ersten Weltkrieg, als der Antisemitismus organisatorisch und publizistisch wucherte, vergleichsweise arm an antisemitischen Darstellungen ist. Gerade bei erfolgreichen Literaten der Rechten wie Ernst von Salomon oder Ernst Jünger spielt Antisemitismus nur eine Nebenrolle. Selbst in Joseph Goebbels' Roman Michael steht er nicht im Zentrum der literarischen Handlung. Tatsächlich könnte die Dimension des Wissenschaftlichen bzw. des Philosophischen - die Begriffe im breiten zeitgenössischen Wortsinn gebraucht - hinsichtlich des Antisemitismus das Tertium sein, welches epochenstilistisch derart unterschiedliche Texte wie Artur Dinters spätnaturalistischen Roman Die Sünde wider das Blut,9 Joseph Goebbels' spätexpressionistischen Roman Michael10 und Ernst von Salomons Roman Die Stadt11 in der tendenziell ironischen Schreibweise der Neuen Sachlichkeit überhaupt erst vergleichbar macht. Daß die Autoren der völkisch-faschistischen Bewegung den Antisemitismus eher für einen Gegenstand der wissenschaftlichen als der literarischen Darstellung hielten, zeigt exemplarisch ein in der Frühphase der Weimarer Republik sehr erfolgreich verkaufter Roman, in dem der Antisemitismus das nahezu einzige Moment der literarischen Handlung ist. Ende 1917, nachdem die völkische Rechte den für die Dauer des Krieges proklamierten innenpolitischen Burgfrieden aufgekündigt und mit der Judenzählung im deutschen Heer eine wichtige Basis für die spätere Dolchstoßlegende geschaffen hatte, veröffentlichte Artur Dinter den Zeitroman Die Sünde wider das Blut. Als summa cum laude promovierter Chemiker und wissenschaftlicher Assistent, zeitweiliger Oberlehrer in Konstantinopel und Direktor des botanischen Gartens in Straßburg, als populärwissenschaftlicher Publizist, Komödienschreiber und Bühnenschriftstellerverbandsfunktionär, Regisseur und Theaterverleger in Berlin und in der Provinz, als Reserveoffizier im Ersten Weltkrieg und antisemitischer Traktatautor im Genesungsurlaub blickte der 1876 in Mülhausen im Elsaß geborene Autor, der es später noch zum nationalsozialistischen Landtagsabgeordneten und NS-Spitzenfunktionär (Gauleiter) in Thüringen, gleichzeitig zum Gründer (1927) und Spitzenfunktionär einer Deutschen Volkskirche bringen sollte, bis die Nazis ihn 1937 kaltstellten und seine Organisation verboten, um die Kir-
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Vgl. Artur Dinter: Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman, Leipzig und Hartenstein, 16. Aufl. 1921. Zitatnachweise im folgenden Text in (...) beziehen sich auf dieses Buch. Vgl. Joseph Goebbels: Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebüchern, München 1934. Vgl. Emst von Salomon: Die Stadt, Berlin 1932.
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chen und deren Gefolgschaften nicht zu vergrätzen, zu diesem Zeitpunkt bereits auf ein recht bewegtes Leben zurück. Er starb 1948. 12 Der Verkaufserfolg dieses von einem weitgehend unbekannten Autor in einem obskuren Verlag publizierten Romans war gerade in den Jahren der Inflation immens. Mit der 16. Auflage 1921 waren 200.000 Exemplare gedruckt, weitere Auflagen erreichten bis 1926 235.000, bis 1934 250.000 Stück. Nach „vorsichtigen Schätzungen" Werner Jochmanns soll „dieses Buch in Deutschland" - hier wäre freilich eher von den deutschsprachigen Räumen im damaligen Mitteleuropa zu sprechen - „eineinhalb Millionen Leser gefunden"13 haben. Dieser Erfolg veranlaßte Dinter, der seine frühen naturwissenschaftlichen Schriften teilweise im noch 1921 unverkauften Manuskriptdruck hatte erscheinen lassen müssen, während sein unter „Kritische Schriften" rubriziertes Traktat Lichtstrahlen aus dem Talmud 1921 erst vergleichsweise bescheidene 60.000 Druckexemplare in 5 Auflagen erreicht hatte, zwei weitere Zeitromane folgen zu lassen: Die Sünde wider den Geist erschien 1920 und erreichte in der 12. Auflage 1921 hunderttausend gedruckte Exemplare, die allerdings 1926 noch nicht verkauft waren; Die Sünde wider die Liebe erschien 1922, die Auflagenzahl stagnierte 1927 bei freilich immerhin doch 30.000 Exemplaren. Bei dieser Die Sünden der Zeit betitelten Trilogie von .Zeitromanen', wie Dinter selbst seine Produkte im Untertitel klassifiziert, handelt es sich also um antisemitische Bestseller aus der Frühphase der Weimarer Republik, mit deren politischer und wirtschaftlicher Konsolidierung Mitte der zwanziger Jahre der Verkaufserfolg stagnierte. Der Aufstieg des Nationalsozialismus seit Ende der zwanziger Jahre beeinflußte den weiteren Verkauf der Bücher offenbar kaum. Bevor ich am Beispiel des ersten, besonders erfolgreichen Romans der Trilogie auf das die literarische Wirkung des Textes lenkende Verhältnis von literarischem und wissenschaftlichem Antisemitismus eingehe, möchte ich einige Schlaglichter zur Rezeption dieser Bücher beibringen. In einem sarkastischen Feuilleton aus dem Jahre 1924, das er der Schilderung 12
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Vgl. zur Biographie Kürschners Deutscher Literatur-Kalender. Nekrolog 1936-1970. Hrsg. v. Werner Schuder. Berlin u. New York 1973, S. 118f.; Emst Loewy: Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und seine Dichtung. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main 1983, S. 310f. Vgl. weiter: Jens Malte Fischer: Literarischer Antisemitismus im zwanzigsten Jahrhundert. Zu seinen Stereotypen und seiner Pathologie. In: Erkundungen. Beiträge zu einem erweiterten Literaturbegriff. Helmut Kreuzer zum sechzigsten Geburtstag. Hrsg. v. Jens Malte Fischer, Karl Priimm u. Helmut Scheuer, Göttingen 1987, S. 117-138, insbes. 127ff.; Christina von Braun: Die .Blutschande'. Wandlungen des Begriffs: Vom Inzesttabu zu den Rassengesetzen. In: dies., Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte. Frankfurt am Main 1989, S. 81-111, insbes. S. 8Iff. Werner Jochmann: Die Ausbreitung des Antisemitismus. In: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Hrsg. v. Werner E. Mosse. Tübingen 1971, S. 4 0 9 510, hier S. 460, Anm. 177; vgl. auch Donald Ray Richards: The German Bestseller in the 20th Century. A Complete Bibliography and Analysis 1915-1940. Bern 1968.
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eines ,,Ostertag[s] bei den Völkischen" mit vorgeblich popularethnologischem Anspruch - „ihre Sitten und Gebräuche" betreffend - widmete, schreibt Joseph Roth: Die Klosetts waren meist besetzt. Gelang es dennoch, einen unbesetzten Augenblick zu erwischen, so las man an den Wänden die poetischen Ergebnisse der Ehe zwischen Geist und Sexualität, einen tiefgezüchteten Antisemitismus reinster Rasse, literarische Produkte, wie sie nur eine ergiebige Onanie und Arthur Dinter hervorzubringen imstande sind.14 Hier werden tatsächlich Schlagwörter Dinters rezensiert. Wenn Roth „die Völkischen" sarkastisch-soziologisch als „Nachkommen heldischer Buchhalter, reckenhafter Zollbeamten, drachentötender Oberlehrer" und als „Heldensöhne alliterirender Monarchisten und Kleinbürger" klassifiziert, 15 so bezeichnet dies nicht allein das wichtigste jener sozial deklassierten Milieus, aus denen sich die völkischen Antisemiten in den frühen zwanziger Jahren tatsächlich rekrutierten, sondern spielt sehr direkt auf Dinter, den gewesenen Oberlehrer und Sohn eines elsässischen Zollbeamten an, dessen kitschig obsolete Stilmittel akkumulierendes Schreiben ihn zeitweilig zu einer Leitfigur dieser Szene gemacht hatte. Mochte Dinter auch als erbärmlich verächtlich und abgeschmackt, als literarischer Onanist erscheinen, so war sein Werk in den frühen zwanziger Jahren zu sehr präsent, als daß es nicht tiefe Spuren in der zeitgenössischen Kritik hinterlassen hätte. Der bereits an der satirischen Nachahmung der Stilmittel der Hedwig Courths-Mahler geübte Hans Reimann persiflierte Dinter und die Schreibweise seiner Sündenromane in einer sofern man auch die parodierende Umformulierung eines bierernsten Werkes so bezeichnen kann - Travestie; die Die Dinte wider das Blut. Von Artur Sünder16 betitelte Parodie hat immerhin den Umfang eines schma14 15 16
Joseph Roth: „Nur ein Bild". In: Roth, Werke 2 (Anm. 6), S. 108. Ebd. S. 107. [Hans Reimann:] Die Dinte wider das Blut. Von Artur Sünder. 39. wildgewordene und vermasselte Auflage, 640.-683. Tausend, Hannover o.J. (= Die Silbergäule, Bd. 132-134). Diese Auflagenangabe wurde von Richards (Anm. 13) für Dinter übernommen. Reimann schrieb auch ein Feuilleton zu einer Lesung Dinters in einem Münchener Bierkeller, vgl. Hans Reimann: Dinter in München. In: Die Weltbühne, 19. Jg. 1923, 1. Halbjahr, S. 501-504. Ebd. S. 504 schreibt Reimann, er trete „zum Kafferntum über", wenn die Dinters sich durchsetzten. Tatsächlich trat er nach 1933 zum Nationalsozialismus über. Der höflich-verständnisvolle Leo Perutz schrieb ihm 1951: „Man hat mir alles Mögliche von Ihnen erzählt, ich achtete nicht darauf, ich kannte Sie, und so war u. blieb ich der Überzeugung, daß Sie innerlich nicht eine Minute lang ein Nazi waren. Ich wußte und dachte oft daran, daß Sie es im dritten Reich nicht leicht haben würden. Sie hatten ein Buch gegen Dinter geschrieben, und Sie hatten unter ganz veränderten Verhältnissen Frau und Kinder zu erhalten. So mußten Sie wohl tun und schreiben, was man von Ihnen verlangte." Vgl. den Katalog: Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek. Frankfurt am Main, Wien und Darmstadt 1989, S. 338f„ hier S. 339.
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len Bändchens. Auch Robert Neumann widmete Dinter eine stilsichere Parodie: Der Kommerzienrat näherte seine wulstigen Lippen dem schlanken Halse der Jungfrau und grinste: „Wie heißt Maschineschreiben? Ze was (= Wozu)? Wenn Se nur sonst sind gelehrich [...]" Und er umfing sie! Da aber hatte Teut Kämpfer schon die Portiere beiseite gerissen und schrie „Halt Jude!"17
Ein weiter nicht bekannter Autor namens Emil Felden veröffentlichte 1920 einen Roman Die Sünde wider Das Volk}* der in der Tradition der Heimatkunst-Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine Abwehr der Dinterschen Sünden-Romane versuchte, in dem er offenbar in Anspielung auf den Lebensweg Dinters den häßlichen Werdegang einer scheiternden Existenz aus kleinbürgerlichen Verhältnissen im Elsaß heraus zum Antisemiten schildert. Werner Jochmann zufolge 19 waren Felden und Dinter Klassenkameraden. Ein vergleichbarer Verkaufserfolg war Feldens Roman, der auch zur Widerlegung von Dinters philosophisch-wissenschaftlichem Antisemitismus viel Redlichkeit aufwendet, freilich nicht beschieden. Dinters Romane wurden offenbar von Angehörigen hinsichtlich Einkommen und formaler Bildung sehr unterschiedlicher sozialer Milieus rezipiert. In einem Nachwort schreibt der Autor: Tausende von Zuschriften habe ich erhalten und erhalte ich noch täglich, vom ehemals regierenden Fürsten bis zum schlichten Arbeiter herab, vom Gelehrten und Arzte bis zum einfachen Volksschullehrer, vom Professor der Theologie bis zum Seminaristen und Landgeistlichen, von Offizieren und Mannschaften unseres ruhmgekrönten ehemaligen Heeres und von Angehörigen eines jeglichen Berufes. 20
Es gibt Hinweise, die diese Behauptung verbürgen. Bei den Lesern der Romane handelte es sich offenbar tatsächlich um jene ominöse, vorgeblich alle gesellschaftlichen Gruppengrenzen überschreitende , Volksgemeinschaft', deren Mitglieder vor allem die Gemeinsamkeit der in den Antisemitismus geretteten Deklassierungserfahrungen verband. So trägt mein Exemplar des Blut-Romans den Stempel der „Parlaments-Bibliothek Wien". 21 In einem Feuilleton aus dem Jahre 1925 glossiert der damalige Gelegenheitspublizist Hans Fallada, der in der Nachkriegszeit als landwirtschaftlicher Eleve durch ostelbische Güter strömte und dieses Milieu spä17 18 19 20 21
Robert Neumann: Mit fremden Federn. Der Parodien erster Band. Berlin 1960, S. 128f. Vgl. Emil Felden: Die Sünde wider das Volk. Roman. Berlin o.J. [1921], Vgl. Jochmann (Anm. 13), S. 460, Fußnote 178. Artur Dinter: Die Sünde wider den Geist. Ein Zeitroman. Leipzig 1921, S. 243f. Zur - einschlägigen und massiven - Rezeption Dinters in antisemitischen Kreisen Österreichs vgl. die Beiträge von Wolfgang Häusler und Sigurd Scheichl in diesem Band.
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ter in seinem Roman Wolf unter Wölfen eindrücklich beschreiben sollte, daß Dinters Romane häufiger in Gutsbibliotheken vorhanden seien. 22 Der bereits als Verfasser einer Arischen Physik erwähnte Nobelpreisträger Lenard schätzte Dinter. 23 Manche Formulierungen in dem autobiographisch-politischen Traktat Mein Kampf des Parteifunktionärs Adolf Hitler deuten eine Kenntnis Dinters an, der allerdings seinerseits selbst eher fokussierender Multiplikator eines stereotyp-klischeehaften Diskurses denn originärer Vordenker war. 24 In einer Umfrage über das „deutsche Volk und seine Dichter" äußerte ein neunzehnjähriger Monteur 1928: Ich lese gern zur Unterhaltung. Und zwar möglichst Spannendes, etwa: Bücher der Courths-Mahler. Sonntags allerdings lieber etwas zum nachdenken, z.B. A. Dinter Die Sünde wider das Blut. Denn da steckt Philosophie drin. Dieser Roman war mir das interessanteste Buch. 25 22
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Vgl. Hans Fallada: Was liest man eigentlich in Hinterpommern? In: Die literarische Welt, 1. Jg. 1925, Nr. 1, S. 4-5. Über die Lektüre der „Agronomen" heißt es ebd. S. 4: „Eigentlich liest er nur Romane. [...] Es ist ein Irrtum zu glauben, daß sich das Publikum der Courths-Mahler, Werner, Wothe, Eschstruth nur von der Hintertreppe rekrutiert: den Dienstmädchen, Köchinnen, Waschfrauen nebst körperlichem und seelischem Anhang. Auch der reckenhafte Militarist versinkt in Träumen über den sylphenhaften Schleiergestalten der Kolportage." Ebd., S. 5: „Diese .schöne4 Literatur im Bücherschränke des Landwirts führt über die Brücke von Dinters Sünde wider das Blut zu jenen Werken, die der Weltkrieg oder der Große Krieg heißen und ihre letzte Ergänzung in den Memoirenwerken großer Feldherrn und in Regimentsgeschichten fanden. Friedlich daneben steht die Schweinezucht und Kellners Fütterungslehre." Vgl. Alan D. Beyerchen: Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich. Mit einem Vorwort v. Karl Dietrich Bracher. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1982, S. 115ff., hier S. 314, Anm. 91.: „Der Physiker unterstützte auch den .christlichen Antisemitismus' von Theodor Fritsch [...] und - eine Zeitlang - den germanischen .christlichen' Glauben von Artur Dintner [sie!], der sich dann der berüchtigten Bewegung der deutschen Christen anschloß." Vgl. Volker Losemann: Rassenideologie und antisemitische Publizistik in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: Judentum und Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Th. Klein, V. Losemann u. G. Mai. Düsseldorf 1984, S. 137-159, hier S. 157f. Zitiert nach: Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933. Hrsg. v. Anton Kaes, Stuttgart 1983, S. 309. Vgl. ebd. S. 124 zur Aufnahme von Texten Dinters in Schulbücher. Die Parallele zu Hedwig Courths-Mahler, die implizit auch von Fallada (Anm. 22) gezogen wird, betonte bereits Hans Reimann in seinem Weltbühnen-Feuilleton (Anm. 16) S. 504: „Dinter spricht wie die Menschen, die ihm zuhören. Er spricht, wie seine Zuhörer sprechen würden, wenn Sie an seiner Statt auf der Tribüne stünden. Man vergleiche hierzu den Fall Courths-Mahler. Diese Frau schreibt so, wie ihre Leserinnen [!? - M. Sch.] schreiben würden, wenn sie schrieben. Das ist das Geheimnis ihres Erfolges. Die Courths-Mahler will weiter nichts (hat sie mir gestanden), als dem deutschen Volke durch ihre harmlosen Plaudereien ein bischen von der berühmten Sonne bringen, die durch Caesar Flaischlen in Mißkredit geraten sein dürfte. Und Artur Dinter aus Thüringen will weiter nichts als auf völkische Art das Vaterland reinigen; also die Juden kaputt machen."
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Auch diese Äußerung eines jungen Facharbeiters hat den Charakter einer prägnanten Rezension. Wie die erfolgreichen Romane der Hedwig Courths-Mahler ist Dinters Sünde wider das Blut eine Liebesgeschichte, in der der literarische Spannung schaffende Schatten des Schicksals zwischen einem Helden und den Frauen steht. Im Rahmen solcher Irrungen und Wirrungen werden den Lesern Einblicke in das Leben der Reichen an mondänen Wintersportorten, in Monte Carlo oder dem Berliner Westend vermittelt. Tatsächlich ist Dinters Roman in mancherlei Hinsicht ,Schema-Literatur' 26 ä la Courths-Mahler. Während der Schatten des Schicksals bei der Courths-Mahler freilich den Regeln der literarischen Ökonomie des spätsentimentalen Frauen- und Unterhaltungsromans folgt, ist er bei Dinter präziser formuliert: als Wissenschaft oder Philosophie des Antisemitismus. Dies markiert auch zugleich den epochalen Unterschied zwischen der Frauenschriftstellerin und Dinter: während die Courths-Mahler einem trivialen Realismus verpflichtet ist, ist der Antisemit ein besonders trivialer Naturalist. Den wissenschaftlichen Anspruch seiner Zeitromane postuliert der Autor nicht allein, indem er seine mit antisemitischen Literaturhinweisen gespickten Nachworte mit dem akademischen Grad zeichnet. Vielmehr stattet er den 282 Druckseiten umfassenden Roman Die Sünde wider das Blut mit einem wissenschaftlichen Apparat - Anmerkungen, Schriftenkunde zur Einführung in die Judenfrage, Nachwort - von nicht weniger als siebzig Druckseiten aus: im Durchschnitt werden also vier Seiten Erzählhandlung, die ihrerseits lange Zitate, philosophische Ergüsse und wissenschaftliche Darstellungen zu den verschiedensten Themen im Umfeld des Antisemitismus, ausführliche Bildungsprogramme und gelegentliche Lektürehinweise enthalten, durch eine Seite wissenschaftlichen Apparat belegt. Dieser Apparat soll nicht nur die Wahrheit des zuvor literarisch Dargestellten legitimieren, sondern stellt auch einen Versuch dar, den antisemitischen Diskurs im oben beschriebenen Sinne zu bündeln. Mit der literarischen Struktur von Goethes um Noten und Abhandlungen erweiterten West-Östlichen Divan hat Dinters Vorgehen freilich ebenso wenig gemein wie mit der langen, seit dem Barock zumeist ironischen Tradition der marginalisierenden Fußnote im literarischen Text, wie sie Lawrence Sterne und Jean Paul köstlich pflegten. Humor kommt bei Dinter allenfalls unfreiwillig vor, wenn er etwa die Behauptung, daß „die Führer der russischen Revolution und des Bolschewismus [...] fast nur Juden" seien, in einer Fußnote mit einem aus der Figurenkonstellation und dem Kontext gelösten Satz aus einem viktorianischen Roman des Jahres 1844 über den Einfluß des jüdischen Geistes auf die Geschicke Europas belegt. Beweis26
Zum Begriff vgl. Hans Dieter Zimmermann: Trivialliteratur? Schema-Literatur! Entstehung, Formen, Bewertung. 2. Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1979, S. 28ff.
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Charakter erhielt die Aussage in den Augen ihrer zeitgenössischen Leser wohl vor allem durch den suggestiven Hinweis, daß der viktorianische Autor J u d e ' war (S. 345). Daß die bolschewistischen Führer gerade eben Kinder waren, als Disraeli 1881 starb, geht aus der Fußnote nicht hervor. Wahrscheinlich wußte Dinter nicht einmal, daß sein Gebrauch von Fußnoten in einer Tradition der gesellschaftlich engagierten „Tendenzkolportage" 27 steht. Auch Eugene Sue hatte sich gelegentlich umfänglicher Fußnoten bedient, als es ihm darum ging, seinen freilich vergleichsweise sehr viel spannenderen Feuilletonroman Die Geheimnisse von Paris aus den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die Formulierung gesellschaftskritischer Anliegen, etwa zur Gefängnisreform, gegenüber der 28
Kritik aufzuwerten. Und jedenfalls folgt Dinters Unsinn den Regeln wissenschaftlicher Methode. Denn der gelehrte Apparat dieses Romans hat erkennbar das Ziel, zu verhindern, daß seine Erzählhandlung als Hirngespinst, gar als eine Art Dienstmädchenlektüre gleich Courths-Mahler abgetan werde. Die mit der Romanlektüre erworbenen Kenntnisse über die jüdische Gefahr sollen in den Anmerkungen belegt, ergänzt und vertieft werden. Der Apparat fungiert also innerhalb der Textökonomie als Mittel einer möglichst hohen Akzeptanz der Botschaft des Romans beim Leser, dessen Bildungsbewußtsein durch die Machart des Apparates geschmeichelt wird. Wie jeder wissenschaftliche Apparat beruft sich auch der des Romans auf Autoritäten und rationale Verfahren. „Urteile hervorragender Geister", u.a. Goethe, Hebel, Schopenhauer und Kant, werden mit teilweise umfangreichen Textstellen ebenso angeführt wie „Eingeständnisse^.. ] hervorragender Juden" (S. 303), insbesondere des ,,edle[n] Jude[n] Moses Mendelssohn, dessen Autorität kein Mensch anzweifeln kann" (S. 304). Als Beispiele für rationale wissenschaftliche Verfahrensweisen in diesem Apparat seien Statistik und Zitat genannt. Statistik ist ein traditionell hochgeschätztes Beweisverfahren der Antisemiten. Obwohl ihm die „öde Prozentrechnung" (S. 27) in der Schule schwer fiel - selbstverständlich (in der Logik des Romans) lag da ein jüdischer Klassenkamerad vorn - , zitiert der Held des Romans gern Zahlenbeispiele für jüdische Dominanzen. Die im Apparat beigebrachten Berufsbildstatistiken gelten vor allem dem jüdischen Anteil unter den Hochschullehrern, den Studenten und den höheren Schülern. Womöglich bildet das vor allem in der Fassung Rahlen lügen nicht4 seit 1833 im Deutschen sprichwörtlich nachweisbare Diktum Rahlen beweisen" des Vormärz-Publizisten Johann Friedrich Ben-
27
28
Max Herrmann-Neiße: Eine Satire auf den Antisemitismus. In: Kölner Tageblatt, 59. Jg., Nr. 393, 11.9. 1921 Vgl. Eugene Sue: Die Geheimnisse von Paris. Aus dem Französischen von Helmut Kossodo. 3 Bde. Frankfurt am Main 1988, etwa Bd. 1, S. 643ff., Bd. 3, S. 1609ff.
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zenberg den mentalen Hintergrund der antisemitischen Faszination für die Statistik, wie sie sich auch in der bereits erwähnten Judenzählung im deutschen Heer ausdrückt. Als anscheinend „sachlich und objektiv" überzeugender, kaum zu widerlegender Beweis für einen „Prozeß der stetig und unaufhaltsam zunehmenden Überfremdung des deutschen Volkslebens in Politik, Wirtschaft und Kultur durch eine rassisch fremde Minderheit" kam der Statistik noch in einer Broschüre Das neue Deutschland und das Judentum Bedeutung zu, die das Propagandaministerium zu Beginn der Nazizeit zur publizistischen Begleitung der ersten Diskriminierungsgesetze herausbrachte. Der deutliche Unterschied zu den gleichzeitigen Hervorbringungen in Streichers „Stürmer", aber auch zu früheren antisemitischen Äußerungen von NS-Spitzenfunktionären, vor allem die abschließende Behauptung des Broschürentextes, daß die Judenpolitik der NS-Regierung „von den Grundsätzen christlicher Moral bestimmt" sei und bleiben solle, zeigen, daß das Heft auf die Täuschung bürgerlicher Schichten und des Auslandes abzielte. Dinters Roman zitiert Textstellen aus dem Alten Testament und dem Talmud in hebräischen Lettern wie in angeblich sinngetreuer Übersetzung. Der Autor betont, daß die „Korrekturen der [...] hebräischen Texte [... von einem] Gelehrten der orientalischen Literatur" (296) gelesen worden seien. Dies ist ein Fingerzeig, daß hier ein alter antijüdischer Trick angewendet wird: bereits Eisenmenger hatte in seinem 1711 erschienenen Werk Entdecktes Judenthum hebräische Textstellen angeführt, die die Aggressivität der Juden gegenüber den Andersgläubigen belegen sollten. Dinter, der Eisenmenger hier ausdrücklich erwähnt und dessen Aussagen und Textstellen den Fachgelehrten zur Prüfung anempfiehlt, hat, soweit ich sehe, einfach Eisenmenger nach einer Ausgabe aus dem späten 19. Jahrhundert ausgeschrieben und die sprachlich modernisierten Übersetzungen von einem Orientalisten prüfen lassen. Es spricht viel dafür, daß auch bereits Eisenmenger selbst dasselbe Verfahren der Ausschreibung älterer Texte angewendet hat. Jedenfalls hat dies Hundt-Radowski hundert Jahre vor Dinter mit Eisenmenger getan, so daß ein Stemma der Abhängigkeiten allein mit in diesem Zusammenhang nicht zu rechtfertigendem Aufwand zu rekonstruieren wäre. Festzuhalten ist: Dieses Verfahren gewährleistet, daß Aussagen des Alten Testaments und des Talmuds unberücksichtigt von den seit dem frühen 19. Jahrhundert entstandenen und weiterentwickelten Erkenntnissen und Methoden der philologisch-kritischen Methode, der Bibelwissenschaft und der Wissenschaft vom Judentum festgeschrieben werden auf dem Erkenntnisstand der frühen Neuzeit. So erscheinen die inkri29
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Vgl. Richard Zoozmann: Zitatenschatz der Weltliteratur, überarbeitet von Otto A. Kielmeyer. Reinbek 1989, S. 534. Die Broschüre im Format Din A 4 erschien 1933 oder 1934 ohne Titelblatt und ohne Impressum.
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minierten Aussagen als ewige, unveränderte Wahrheit, überdies ausgestattet mit der Dignität historischer Patina. Unbestritten vermag die bereits gelegentlich formulierte Behauptung gradliniger Kontinuitäten von Luther zu Hitler zu ennuyieren. Indessen scheinen die Wahrnehmungsweisen und Darstellungsmuster des christlichen Abendlandes gerade im Bereich der Judenfeindschaft über jeden historischen Wandel hinaus relativ wenig zu variieren. Möglicherweise basiert diese Beharrlichkeit auf dem Modus der geradezu unendlichen Kumulation und Repetition antijüdischer Exempel, von rhetorischen Verwandlungsfiguren oder Metamorphosen. 31 Auch die angeblich moderne wissenschaftliche Methode Dinters steht in der bis in die Incunabelzeit zurückzuverfolgenden Tradition des exemplarischen Wissens, 32 das die Klassiker der Judenfeindschaft als Argumentationsmuster miteinander verbindet und den gelehrten Judenhaß in die Popularkultur einschrieb: „Die alten geschichten machen die neuen glaubwürdig". 33 Diese gerade für die Geschichten von den Juden geltende Überzeugung verband Johannes Eck, den Freund und späteren Gegner Luthers, über alle ideologischen Gegensätze hinweg mit dem Reformator. Der schrieb: „Ich habe viel Historien gelesen und gehört von den Jüden, so mit diesem urteil Christi stimmen." 34 Als Exempel, Historien, Geschichten in diesem Sinne fungieren tatsächlich noch, über den historischen Wandel von Jahrhunderten hinweg, die wissenschaftlichen Aussagemodi in Dinters Roman. Eine wichtige unmittelbare Autorintention bei der Anführung hebräischer Texte zielt auf die Fundierung des Versuchs, die christlichen Religionen vom Judentum durch den Nachweis, daß Jesus Christus kein Jude gewesen sei, abzutrennen. Dies war ein Lieblingsthema Dinters wie seines Helden mit dem klangvoll sprechenden Namen Dr. Hermann Kämpfer, der den ihn umgebenden und teils umschwärmenden Frauen eine ausformulierte Theorie eines arischen Christentums entwickelt. Die durch „seelische Analyse" mit naturwissenschaftlicher Präzision bewährte „Ge31 32
33
34
Vgl. dazu Rohrbacher/Schmidt (s. oben) S. 28f. Vgl. Michael Schmidt: Ritualmordbeschuldigungen und exemplarisches Wissen. In: Stereotypvorstellungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder - Selbstbilder - Identität. Festschrift für Georg R. Schroubek. Hrsg. v. Helge Gemdt. München 1988, S. 44-56. [Johannes Eck:] Ains Judenbüechlins Verlegung: darin ain Christ gantzer Christenhait zuo Schmach will es geschehe den Juden unrecht in bezichtigung der Christen Kinder mordt. Durch Doctor Joh. Ecken zuo Ingoldstat. Hierin findst auch vil histori was Übels und Büeberey die Juden in allem teütschen land und auch andern künigreichen gestift haben. gedruckt zuo Ingoldstat durch Alexander Weissenborn, M.D. XXXXII, Bl. Μ I verso. Martin Luther: Von den jüden und jren Lügen. In: ders., Werke, Abt. I, Bd. 53. Weimar 1920, S. 530.
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wißheit", daß Jesus „rein arischen Stammes war" (S. 129), formuliert Kämpfers Vortrag im Roman durchaus fragend: „Können Sie sich eine abgrundtiefere Kluft vorstellen als die, welche zwischen seinem [= Jesus, M. Sch.] und dem jüdischen Denken und Empfinden gähnt?" (S. 123) Die Frage appelliert freilich katechismusartig an den impliziten Leser, die ,Gewißheit' der These steht außer Frage. Als Gemeinplätze der antisemitischen Belletristik der Zwanziger Jahre finden sich eine arische Herkunft Christi wie die These, daß Christus nicht - wie in der christlich-kirchlichen Tradition - Überwinder, sondern der diametrale Gegenpol des Judentums gewesen sei, etwa auch bei Joseph Goebbels. Der schreibt in seinem am Modell von Goethes Werther orientierten Tagebuch-Roman Michael·. Christus ist das Genie der Liebe, als solches der diametrale Gegenpol zum Judentum, das die Inkarnation des Hasses darstellt. [...] Christus ist der erste Judengegner von Format.35
Goebbels, der seinen Nationalsozialismus zunächst als antijüdischen wie antimarxistischen ,Christsozialismus' verstand und stilisierte, ging es ebensowenig wie Dinter um eine Überwindung, sondern um eine antisemitische, gerade auf die pietistisch ,Stillen im Lande' abzielende Radikalisierung des Christentums, dessen Mythen und Ideologeme durch eine rassistische Interpretation modernisiert werden sollten. 36 Auch auf der Ebene der erzählten Handlung dient Dinters Roman also vor allem der Vermittlung von heute obskurer, damals freilich von breiten Schichten akzeptierter Wissenschaft und Philosophie. Die haben allerdings bei Kämpfer wie bei Dinter und in den damaligen völkisch-antisemitischen Kreisen etwa gerade auch um das Ehepaar Ludendorff eine ausgeprägt okkultistische Dimension: der Roman Die Sünde wider den Geist schildert seitenlang ,,geistwissenschaftlich[e]" 37 Seancen mit tischerückenden Poltergeistern. Darüber kann man lachen. Man darf indes nicht übersehen, daß derartige Episoden dem wissenschaftlichen Anspruch der Romane beim zeitgenössischen Lesepublikum nicht unbedingt schadeten. Vielmehr war ein solcher Okkultismus - wie etwa auch die gleichzeitigen Romane der englischen Kriminalroman-Autorin Agatha Christie, die das Motiv allerdings ironisch verwenden, zeigen - ein Phänomen der westlichen gebildeten Welt. Es scheint, als hätte die zunächst sogar hochqualifizierten Naturwissenschaftlern unverständliche, abgelehnte und bekämpfte Relativitätstheorie Albert Einsteins bei vielen Gebildeten ein Bewußtsein 35 36
37
Goebbels (Anm. 10) S. 82. Vgl. Claus-Ε. Barsch: Das Katastrophenbewußtsein eines werdenden Nationalsozialisten. Der Antisemitismus im Tagebuch des Joseph Goebbels vor Eintritt in die NSDAP. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1990, S. 125-151. Dinter, Die Sünde wider den Geist (Anm. 20) S. 79ff.
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von Relativität erzeugt, das auch Tischerücken für relativ möglich hielt. Es ist gewiß nicht auszuschließen, daß Dinter seine „Geistwissenschaft" für eine Entdeckung vom Range der Relativitätstheorie hielt. Und die „Geistwissenschaft" dürfte vielen zeitgenössischen Lesern eingängiger gewesen sein als die moderne Physik. Jedenfalls gewann sie erheblich mehr Leser. Die Eingangsepisode des Romans Die Sünde wider das Blut zeigt den Helden, einen Privatdozenten der Chemie, einsam im mitternächtlichen Labor einer „Hölle der Zweifel an sich und seinem Forscherberuf' (S. 2) ausgesetzt. Daß Kämpfer hier in der Pose Fausts - wie Goebbels Romanheld Michael in der Pose Werthers - erscheinen soll, unterliegt keinem Zweifel, wenn bald auch noch eine motivverschobene Gretchentragödie erzählt wird. Als Kämpfer in dieser Nacht an den durch jüdische Güterschlächterei bewirkten Untergang seiner bäuerlichen Familie denkt, heißt es: Das Jüngste aber, das schöne blonde sechzehnjährige Grethel, das Ebenbild der Mutter, ging in die Stadt, um sich eine Dienstbotenstelle zu suchen. A l s sie einem Kinde das Leben gab, und ihr Verführer, der ihr die Ehe versprochen hatte, [sie] sitzen ließ, ging sie ins Wasser. (S. 7)
Da diese unterste Ebene des Faustischen als einem an Albernheiten reichen Kapitel deutscher Ideologie bislang kaum in den Blick der germanistischen Forschung geraten ist, sei hier erwähnt, daß bereits „in dem franzosen- und judenfeindlichen Schmutzroman >Biarritz< eines verlumpten Journalisten der 1848er Revolution"38 - Walter Mehring meint hier den unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe schreibenden Hermann Goedsche, der, zunächst Postbeamter, von 1850 bis 1874 der Redaktion der ig Kreuzzeitung angehörte - das Faustische 1864 in den antijüdischen Diskurs eingebunden wurde: Auf Beth-Chaiim, dem berühmten alten jüdischen Friedhof der Prager Josephsstadt, belauscht ein deutscher Gelehrter mit dem anspruchsvollen Namen Dr. Faust eine konspirative Versammlung jüdischer „Stammesfürsten",40 angeblich Vertreter der großen europäischen Judengemeinden: die Episode gilt als eine der wichtigen Vorlagen des antisemitischen Trivialmythos von den .Geheimnissen der Weisen Zions', der trotz seiner baldigen Entlarvung als Fälschung gleichzeitig mit Dinters Romanen die Gemüter der Judenfeinde bewegte.41 Ent38
39
40 41
Walter Mehring: Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur. Icking u. München 1964, S. 59. Vgl. Volker Neuhaus: Der zeitgeschichtliche Sensationsroman in Deutschland 1855— 1878. „Sir John Retcliffe" und seine Schule. Berlin 1980. John Retcliffe: Biarritz. Historisch-politischer Roman, 4 Bde. O.O., o.J., Bd. 1, S. 152. Vgl. Hermann Bernstein: The History of a Lie. New York 1921; Rohrbacher/Schmidt (s. oben) S. 202ff.
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deckt, kann Retcliffes Dr. Faust in ein schwüles Boudoir flüchten. Dort erlebt er etwa 300 Druckseiten später eine wüste Liebesnacht mit einem ΛΟ
jüdischen „Mädchen", die ihn derart schwächt, daß seine Verfolger ihn hilflos in eine Irrenanstalt verschleppen können. Ich erwähne die Stelle keineswegs nur als obskures Detail aus der an obskuren Details reichen Kulturgeschichte des Antisemitismus. Indessen biedert sie antijüdische Ressentiments in einer durchaus signifikanten Weise einem seinem Selbstverständnis nach gebildeten, .faustischem' Publikum an. Und sie ist ein frühes Beispiel für die neuartige Verbindung von Sexualität und Antisemitismus. Auch jener Publizist Wilhelm Marr, dem die Prägung des Begriffs Antisemitismus um 1880 43 heute zugeschrieben wird, gab vor, durch eine unglückliche Ehe mit einer jüdischen Frau zum „Judenkrieg" - so der Titel einer seiner Broschüren - veranlaßt worden zu sein. Und die Verbindung von Sexualität und Antisemitismus steht im Zentrum des ersten Sünden-Romans von Arthur Dinter, der 1896 als Zwanzigjähriger mit einem Roman Jugenddrängen debütiert hatte. Dinters literarische Anfänge wurzeln in einem Naturalismus, von dem die zeitgenössische Kritikerin Irma von Troll-Borostyani sagte, er verdiene eher den Namen ,Trivialismus'; sein Blut-Roman ist ein literarhistorisch spätes Beispiel für jenen in Deutschland vor allem durch Wilhelm Bölsche popularisierten Roman experimental. Dessen Begründer Emile Zola hatte sein Lebenswerk freilich gerade durch eine tapfere publizistische Attacke gegen den Antisemitismus im französischen Militärapparat gekrönt, dessen Generalstab das Modell seiner Intrige - ein schönes Beispiel für die Wechselwirkung von Trivialität, Literatur und Gesellschaft! - gegen den jüdischen Offizier Dreyfus in einem Feuilletonroman gefunden hatte. 44 Der naturalistische Roman experimental war dem Anspruch nach ein wissenschaftlicher Roman: Studienobjekt des Romandichters ist der [...] .natürliche Mensch, der den physisch-chemischen Gesetzen unterworfen ist und durch die Einflüsse des Milieus bestimmt wird'. Der Romandichter arbeite auf dem Felde des geistigsozialen Lebens wie der Forscher auf dem Felde der Physik oder der Chemie. Das Gefühl gebe nur den Anstoß, nämlich die Problemstellung. Die Ausarbeitung selber, die Darstellung im Roman, vollziehe sich ganz unter wissenschaft42 43
44
Retcliffe (Anm. 40) Bd. 2, S. 40. Vgl. den Artikel .Antisemitismus' v. Thomas Nipperdey u. Reinhard Rvirup in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 129-152, hier S. 138f. Vgl. dazu die Dokumentensammlung: Die Affäre Dreyfus. Hrsg. v. Siegfried Thalheimer. München 1963; Dietz Bering: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1982; die Zivilcourage Zolas als politisches Programm für die Gegenwart formuliert der amerikanische Beat-Poet Edward Sanders: The Z - D Generation. Banytown, New York 1981.
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licher Methodik, und die Wahrheit, unter deren Kontrolle der Dichter arbeite und die er um eine Erkenntnis erweitern wolle, sei ,das Gesetz der Phänomene' [ . . . ]
45
Der studierte Chemiker und Vorlesungsassistent Dinter folgt dieser Anweisung präzise. Die Logik seines Erzählens gehorcht an entscheidenden Stellen des Romans der Logik eines naturwissenschaftlichen Experiments. In entscheidenden Momenten dominiert diese Methodik die Logik des spätsentimentalen Liebesromans. Wie in einem Roman der Courths-Mahler fährt Kämpfer bald nach der faustischen Eingangsnacht in den Wintersport, wo er sich während eines Ballbesuchs in eine schöne junge Frau verliebt. Dort lernt er auch den nabobreichen Kommerzienrat Burghamer kennen, der den mit dem „Urgeheimnis der Natur" ringenden Forscher alsbald der reinen Wissenschaft entfremdet, indem er ihm eine leitende Stellung in der petrochemischen Industrie anbietet. Trotz seiner antijüdischen Ressentiments - und Burghamer ist physiognomisch als ein Jude gekennzeichnet, wie er später in Streichers Hetzblatt „Der Stürmer" stehen wird - nimmt der Privatdozent die hochdotierte Stellung an, die schöne Unbekannte aus der Ballnacht ist nämlich die mit einer Christin erzeugte Tochter des häßlichen Juden. Kämpfer heiratet Elisabeth, nachdem er sie in langen Monologen über Rasse und Religion ihrem Verlobten, der als Regierungsassessor und „zukünftige^] Kultusminister" (S. 75) die jüdische Dominanz im deutschen Kulturbetrieb verkörpern soll, obwohl er die moderne Kunst nach der Jahrhundertwende recht deutsch-national - hier dominieren Dinters Ressentiments die Logik der Figurenkonstellation - als „Geschwätz" (S. 66) und „Heuchelei" (S. 67), ablehnt, abspenstig gemacht hat. Wenn Kämpfer in der Verlobungszeit postuliert hatte, daß Rasse Religion ist, so muß er auf der Hochzeitsreise erfahren, daß jüdische Rasse Sexualität ist. Hatte Elisabeth ihre Herkunft unter dem Einfluß des Verlobten als „Makel" und „Fluch" erkennen gelernt, so beginnt jetzt das „chaotische Blut" ihres Vaters - von dem der Leser später erfährt, daß er in über ganz Deutschland verteilten Harems 117 Kinder erzeugt hat „seine Natur geltend zu machen": „Das sinnliche Begehren der jungen Frau war derart wild und ungezügelt, daß Hermann sich geradezu abgestoßen von ihr fühlte." (S. 171) Wie Retcliffes Dr. Faust gerät er an den Rand des Zusammenbruchs, doch kann er immerhin entfliehen, als „schließlich dieses an Ausschweifung grenzende Liebesleben seine Geisteskräfte zu lähmen drohte". (S. 174) 45
Wolfgang Kayser: Die Wahrheit der Dichter. Wandlung eines Begriffes in der deutschen Literatur. Hamburg 1959, S. 43. Vgl. ebd. im Anhang die Textauszüge aus Zolas Le roman experimental, S. 122ff. und aus Irma von Troll-Borostyanis Aufsatz über Die Wahrheit im modernen Roman, S. 129ff.
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Das Scheitern der Aufklärung an Elisabeth kumuliert in deren Niederkunft mit einem ,,menschenunähnliche[n] Etwas" (S. 181), das die Züge des jüdischen Großvaters trägt. „Eine ganz bekannte Erscheinung. Man nennt das Atavismus." (S. 181) Das naturalistische „Gesetz der Phänomene" ist damit benannt und wird ausführlich dargestellt. Nach dieser Phase der Überprüfung der Voraussetzungen des wissenschaftlichen Versuchs und einer langen Entfremdung der Eheleute wagt Kämpfer ein weiteres Experiment. Er ändert die Versuchsanordnung unter der Hypothese: [Die] Möglichkeit ist grundsätzlich nicht auszuschließen, daß auch das Edle einmal sich ebenso widerstandsfähig zeigen kann wie das Unedle, zumal wenn es, wie in diesem unsern Falle, dem Unedeln gegenüber im Stärkeverhältnis von drei zu eins steht, ihm also dreifach überlegen ist. Du mußt doch zugeben, daß unter diesen Voraussetzungen nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Wahrscheinlichkeit besteht, daß unser deutsches Wesen den Sieg behält. (S. 197)
Die neue Versuchsanordnung besteht darin, Elisabeth während ihrer erneuen Schwangerschaft ausschließlich ,,reine[n] und schöne[n]" (S. 200) Eindrücken auszusetzen: „Von besonders wohltätigem Einfluß [...] war Beethovensche Musik". Doch dem trial folgt der error: , 3 s war wieder ein schwarzer, diesmal aber bildhübscher Judenknabe." (S. 204) In seiner furiosen Studie über Männerphantasien schreibt Klaus Theweleit in Hinblick auf Goebbels' Michael-Roman, daß die Frauenfiguren in den völkisch-faschistischen Romanen der zwanziger Jahre die Eigenschaft hätten, sich nach und nach im Text zu verflüchtigen. Diese „faschistische Schreibweise" 46 kumuliert bei Dinter geradezu, wobei die textökonomischen Momente der Repetition und Kumulation als sicheres Kennzeichen literarischen Kitsches gelten 47 können: die Körper der zu Müttern gemachten Frauen fungieren als experimentelles Verbrauchsmaterial im alltäglichen Laborbetrieb. Insofern antizipiert Dinters Gedankenexperiment die rassentheoretischen und anderen auf dem Antisemitismus als Wissenschaft basierenden Experimente deutscher Forscher in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Der Tod von Mutter und Kind im Wochenbett eröffnet Dinter und seiner Identifikationsfigur Kämpfer die Möglichkeit einer Neuordnung des Experiments. Erst jetzt führt der Text in die Erzählhandlung das Element ein, daß der Chemiker im nächtlichen Universitätslabor auch ein faustischer Verführer eines unschuldigen Mädchens war, die er nicht nur im Elend sitzen ließ, sondern schlichtweg vergessen hat. Das Kind dieser gleich als Tote in den Text kommenden Frau nimmt Kämpfer, der sich, 46 47
Klaus Theweleit: Männerphantasien, 2 Bde. Reinbek 1980, Bd. 1, S. 44. Walter Killy: Deutscher Kitsch. Ein Versuch in Beispielen. Göttingen 1962, S. 11.
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vom Stadtleben in Berlin angewidert, in ein einfaches Leben auf dem Land zurückzieht, zu sich, um anhand der gemeinsamen Erziehung seines „jüdischen" und seines „germanischen" Sohnes Rassenmerkmale experimentell zu demonstrieren. Zwecks Ablauf dieses Experiments ertrinken beide Kinder bei einem Bootsunglück, als der sinkende jüdische' Knabe seinen schwimmenden .germanischen' Halbbruder mit in die Tiefe zieht. Einmal mehr richtet Dinter das Experiment neu ein. Aufgrund einer von einer jüdisch dominierten Presse und einer jüdisch unterwanderten Justiz organisierten Verfolgungskampagne gegen den aufrechten Antisemiten, der sein ererbtes Vermögen in Stiftungen und Institute zur Abwehr der jüdischen Gefahr gesteckt hatte, ökonomisch ruiniert und gesellschaftlich isoliert, lernt Kämpfer eine arische Krankenschwester kennen: „ein wohlgebautes, blauäugiges, blondes, vollerblühtes Weib von etwa dreißig Jahren. ,Die müßte dir Kinder schenken!' war sein erster Gedanke." (S. 261). Das tut sie auch, nachdem sie „auf den ersten Blick die Seine geworden" (S. 261) ist: „sie gebar ein Kind mit schwarzem Kraushaar, dunkler Haut und dunklen Augen, ein echtes Judenkind." (S. 262) Unkontrollierte Bedingungen hatten sich in die Kämpfersche Versuchsanordnung eingeschlichen, freilich nur, um die Dintersche Experimentaldemonstration gelingen zu lassen: die Frau hatte eine Vergangenheit, sie war von einem getauften jüdischen Offizier verführt, geschwängert und verlassen worden. Als Ergebnis des Experiments kann die Variante einer wissenschaftlichen Erkenntnis protokolliert werden: Es ist eine bedeutungsvolle, in der Tierzucht gemachte Erfahrung, daß ein edelrassiges Weibchen zur edlen Nachzucht für immer untauglich wird, wenn es nur ein einziges Mal von einem Männchen minderwertiger Rasse befruchtet wird. Durch eine solche aus unedlem männlichen Blut erzeugte Mutterschaft wird der ganze Organismus des edelrassigen Geschöpfes vergiftet und nach der unedlen Rasse hin verändert, so daß es nur noch imstande ist, unedle Nachkommen zur Welt zu bringen, selbst im Falle der Befruchtung durch ein edelrassiges Männchen. Je höher entwickelt ein Lebewesen ist, um so eindringlicher tritt dieses Rassegesetz in die Erscheinung, und seine höchste und folgenschwerste Wirkung erreicht es natürlich beim Menschen. (S. 266)48
Man ist geneigt, mit Joseph Roth von ausgiebiger literarischer Onanie zu sprechen. Ihr Produkt ging freilich vorübergehend in die deutsche Allgemeinbildung ein. So lassen sich entsprechend „manipulierte Bedeutungs48
Eine fast wörtlich gleiche Formulierung findet sich auch, freilich stärker ins Antikatholische und Häuslschmähhafte gewendet, in einem österreichischen Text von Karl Paumgartten, Repablick, o.O., o.J., S. 162ff.: „Wenn eine Rassehündin, sei es auch erfolglos, nur ein einziges Mal von einem fremdrassigen Hund [...]" (S. 164); „Das Thema ist uralt und lebt im Instinkt des deutschen Volkes seit Urzeiten. Aber bewußt wird es nur in der - Tierzucht beachtet." (S. 165). Freundlicher Hinweis von Sigurd Paul Scheichl, Innsbruck; vgl. dessen Beitrag in diesem Band.
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änderungen" in verschiedenen Auflagen eines deutschen Lexikons beobachten: Über den .Abstammungsnachweis' wußte Meyers Lexikon 1936 mitzuteilen: ,Geneaologischer Nachweis der deutschen oder artverwandten Abstammung, auf Grund der Nürnberger Grundgesetze vom 15.9.1935...', während dafür 1924 der vergleichsweise aufschlußreiche Hinweis gegeben wurde ,s. Viehzucht'. 49
Nach dem Ende der Experimentalreihe wird dieser Roman experimental rasch und melodramatisch zum Abschluß gebracht. Nach dem Tod seiner zweiten Frau und ihres Kindes ermordet Kämpfer den jüdischen Offizier und verwandelt den anschließenden Prozeß in ein Tribunal über die „Verführungskünste" der „zahllosen jüdischen Laden- und Lebejünglinge, diese Kommis, Handlungsreisenden, verheirateten und unverheirateten Oberund Unterchefs" an ahnungslosen deutschen Mädchen. Er fällt im bald darauf ausbrechenden Weltkrieg: „So ward ihm doch noch der Wunsch erfüllt fürs heilige Vaterland zu sterben." (S. 282) Dieses Ende macht deutlich, daß die aufdringliche Darstellung von Sexualität im Roman final auf einen Todeswunsch abzielt. Dieses Element unterscheidet die experimentelle Sexualität Kämpfers spezifisch von der Sinnlichkeit der „Lebejünglinge", einer jüdischen Sexualität, wie sie vor allem Kämpfers mit einer abstrusen Virilität ausgestatteter Schwiegervater verkörpert. Nach dessen Tod mußte Kämpfer nicht nur feststellen, daß der sein „ungeheures Vermögen" (S. 209) zur jüdischen Manipulation der gesamten deutschen Presse bis hin zum letzten Provinzblättchen und zur letzten Frauenzeitschrift verwendet hatte. Im Nachlaß Burghamers findet er außer den „117" mit „Blondinen" in „Privatpensionen" erzeugten „Kindern" auch ein mit Anstreichungen des Erblassers versehenes Gedicht, das Dinter offenbar als Beispiel für „jüdische Unterhaltungsliteratur" (S. 275) ausführlich zitiert. Paul Mayer, der spätere Verlagslektor und Autor einer Biographie des Verlegers Ernst Rowohlt, 50 hatte Ahasvers froehlich Wanderlied 1913 in der Januarnummer der Zeitschrift „Aktion" veröffentlicht. In der poetischen Tradition Goethes, Heines und wohl auch Nietzsches persifliert Mayer darin eben jene Vorstellungen von jüdischer Sexualität, die in den Köpfen und den Schriften der Antisemiten als Bedrohung spukt. Auch die bereits erwähnte Broschüre des NS-Propagandaministeriums Das neue Deutschland und die Juden zitiert es als „weltanschauliche^] Bekenntnis", um dann zu kommentieren: 49
50
Albrecht Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert. Mit einem Textanhang. Göttingen 1965, S. 19. Vgl. Paul Mayer: Ernst Rowohlt. Hamburg 1962; zu Mayers Ruf als Dichter des Wanderliedes vgl. auch Emst von Salomon: Der Fragebogen. Hamburg 1952, S. 261f.
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Man weiß nicht, was man an dieser sonderbaren Lyrik mehr bestaunen soll, ihre grenzenlose Offenheit oder ihren frivolen Zynismus. Jedenfalls, unverhüllter und treffender als in dieser authentischen Weise konnte der Geist des Judentums nicht in Worte gegossen werden. Ohne jeden Ballast von Tradition und Pietät wird hier das Ideal der ,Wurzellosigkeit4 proklamiert, werden die Ideale anderer Völker leichtfertig verhöhnt. Dieser Geist, dem nichts heilig ist, der sich sogar seiner animalischen Gelüste in fast gotteslästerlicher Überhebung rühmt, dieser Geist war es, der immer mehr unter dem Einfluß des Judentums zur Ausbreitung gelangte. [...] Gegen ihn mußte eine jede Regierung, die auf christliche Sitte und auf die primitivsten Regeln des Anstandes hielt, Front machen. Ein längst vergessenes Gedicht, das sich selbst ,,reife[n] Übermut [...]" bescheinigt, mußte als literarische Legitimation von Diskriminierungsgesetzen und ersten Terrormaßnahmen herhalten, so ungewollt die aggressive Breite des Wortfeldes »Politische Lyrik' im zwanzigsten Jahrhundert demonstrierend. Da der Lyriker Paul Mayer nach wie vor der Wiederentdeckung harrt, sei es hier vollständig hergesetzt: Seht, ich bin der Wurzellose Kein der Umwelt Anvermählter, Keines Heimwehtraumes Narkose Treibt das Herz mir in die Hose Denn ich bin ein Leidgestählter. Friedlich sitzt ihr in der Wolle Eurer heiligsten Gefühle Pflügend die ererbte Scholle Während ich die wandertolle Sehnsucht in Gesängen kühle. Manchmal zerrt ihr mich am Rocke Und ihr kitzelt meine Wunden Doch ich greif zum Wanderstocke Ich bin frei und ich frohlocke Weil ich nicht, wie ihr, gebunden. Treibt ihr mich von euren Schwellen, Bin ich doch der Meistbegehrte Eure Neidgeschreie gellen Denn ich trinke eure Quellen Und ich wäge eure Werte. Und mit eines Königs Geste Schenke ich euch meine Gabe Und ich schmücke eure Feste Spende euch dazu das beste, Was ich selbst errungen habe.
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Meiner Seele glatte Häute Bergen, was ich bettelnd büsste Doch es türmt sich meine Beute Und es jauchzen eure Bräute Mir, dem Auswurf fremder Wüsten. Gähnend dampft ihr euren Knaster Zu der ehrbaren Verdauung Doch ich bin ein kluger Taster Und ich reize eure Laster Zu höchsteigener Erbauung. Also treibe ich die Spiele, Meines reifen Uebermutes Sonderbare, sehr subtile Letzte, euch verhüllte Ziele Meines Asiatenblutes.51
Gewiß kann und soll die kaum mehr überschaubare Menge der Studien, die sich mit der Psyche von völkisch-faschistischen Deutschen beschäftigen, hier nicht um einen weiteren, notwendig dilettantischen Versuch vermehrt werden. Indessen ist die Kombination von frustrierter Sexualität, antisemitischer Aggressivität und einem selbstaggressiven Todeswunsch als psychischer Zusammenhang in Dinters Roman auch nicht einfach zu ignorieren. Angesichts einer traditionellen psychoanalytischen Theorienbildung, die die faschistischen Männer und deren Autoritätshörigkeit auf eine starke Vaterimago zurückführt, ist der wenig camouflierte Mutterhaß in Dinters Roman bemerkenswert: nicht aus einer ohnehin als jüdisch denunzierten Lust heraus unterwirft Kämpfer sich die Frauen, denen er begegnet; vielmehr läßt der Roman ihn dies tun, um diese Frauen ganz rasterhaft-regelmäßig zu Müttern zu machen und sie dann exemplarisch für die Rassentheorie zu töten. Tatsächlich läßt sich in der neueren Psychohistorie ein Paradigmenwechsel mit der Tendenz beobachten, den Faschismus nicht länger als eine Ideologie der Väter, sondern als Mutter-ImagoIdeologie zu interpretieren. Im Vorwort zum Neuansatz einer „Objektbeziehungstheorie der Triebe" schreibt Janine Chasseguet-Smirgel gegen das Klischee, in den Nazis „weiterhin Väter" zu sehen: Dies zu glauben bedeutet in Wirklichkeit, bereits der Verwirrung anheimgefallen zu sein, die im Reich der primitiven Mutterimago herrscht. [... Dieser Fehlglaube untermauere und verstärke] eine zwar allgemeine, aber doch S1
Hier mit der originalen, in den antisemitischen Zitaten zumeist verbesserten Interpunktion nach dem Erstdruck: Paul Mayer: Ahasvers froehlich-Wanderlied. In: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst. 3. J. 1913, Nr. 5, Sp. 139f.
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gleichwohl sehr deutsche Tendenz [...], nämlich sich von der Vernunft, vom Vater loszusagen, um in der faszinierenden Urmutter aufzugehen. Als ob nicht gerade der Nazismus das Reich der primitiven, verschlingenden Mutter, der Hexe, der Gorgo oder der Sphinx, des Irrationalen und der Mystik errichtet hätte - was Heine in seiner prophetischen Vision über Deutschland so gut zu erkennen vermochte und was Thomas Mann, als Zeitgenosse der ,braunen Jahre', seit dem Aufkommen des Nazismus wahrgenommen hatte, indem er die Anziehung der .mütterlichen chthonischen Tiefen' auf das deutsche Volk in mehreren Texten anprangerte [...] 5 2
In diesem Zusammenhang sei abschließend auf eine historisch bemerkenswerte symbolische Zeitgenossenschaft 53 hingewiesen: Auf den Einbänden von Dinters Sünden-Trilogie finden sich auch Hakenkreuze, jene merkwürdigen Zeichen, die bald nach dem Ersten Weltkrieg an den Stahlhelmen deutscher Freikorpssöldner auftauchten und fortan den aggressiven Antisemitismus, aber auch den Todeswunsch deutscher Nationalisten symbolisieren sollten. Von den Völkischen - so von Dinter selbst, der dem Hakenkreuz zu Beginn der Nazi-Zeit eine Broschüre widmete - wurde dieses Zeichen stets als altarischer „Sonnenkreis" gedeutet, dessen Rundform einer „technisch bequemeren linearen Darstellung" gewichen sei: „So entstand aus dem Kreis die Raute, aus dem Radkreuz das Rautenkreuz." 54 Nun hatte eine der Identifikationsfiguren der völkischen Rechten, der durchaus von der Sonne Homers bestrahlte Amateurarchäologe Kaiser Wilhelm II, das Hakenkreuz 1911 auf der Insel Korfu in einem ganz anderen Zusammenhang entdeckt, nämlich als Knielauf einer archaischen Gorgo. Wilhelm weist durch Zeichnungen die enge Beziehung zwischen dem Hakenkreuz und dem Knielaufschema der Gorgo nach und formuliert die Annahme, daß das Hakenkreuzskelett als das ältere Symbol mit der Götterfigur umkleidet wurde. Jedenfalls steht soviel unwidersprochen fest, daß beide Bewegungssymbole, das Hakenkreuz und das Knielaufschema, also auch die Gorgo, in enger Beziehung zu der sich scheinbar über den Himmel bewegenden Sonne stehen.55 52
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Janine Chasseguet-Smirgel: Vorwort. In: Peter Zagermann: Eros und Thanatos. Psychoanalytische Untersuchungen zu einer Objektbeziehungstheorie der Triebe. Darmstadt 1988, S. IX-XIX, hier S. XV. Zum schwierigen Begriff der Zeitgenossenschaft vgl. Rudolf Vierhaus: Heinrich von Kleist und die Krise des preussischen Staates um 1800. In: Kleist-Jb. 1980, S. 9 - 3 3 , S. 10: „[...] Zeitgenossenschaft [ist] ein komplexes, vielschichtiges und weitgehend indirekt vermitteltes Verhältnis [...], das die Menschen auch dann prägt, wenn sie sich dessen nicht bewußt sind oder sich ihm bewußt zu entziehen versuchen." Artur Dinter: Entstehung und Symbolik des Hakenkreuzes. Patschkaum, 2. Aufl. 1932, S. 2f. Wilhelm II: Studien zur Gorgo. Berlin 1936, S. 36f. Als altphilologisches Grundlagenwerk wird diese Schrift angeführt u.a. in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hrsg. v. Konrat Ziegler u. Walther Sontheimer. Bd. 2. München 1979, Sp. 852; es handelt sich also keineswegs um obskure Broschürenliteratur.
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In gewisser Weise kam der frühere deutsche Kaiser mit seiner kulturenvergleichend angelegten Gorgo-Studie aus dem Jahre 1936 einem (ihm freilich unmöglich bekanntgewordenen) Wunsch Sigmund Freuds nach, der 1922 in einer erst postum 1940 veröffentlichten Notiz gefordert hatte, „der Genese dieses isolierten Symbols des Grauens in der Mythologie der Griechen und seinen Parallelen in anderen Mythologien nach[zu]gehen." 56 Das „Grauen erweckende Haupt der Meduse", der in der griechischen Mythologie einzig sterblichen Schwester unter den drei Gorgonen, interpretierte Freud als „Kastrationsschreck", als „das erschreckende Genitale der Mutter": Wenn das Medusenhaupt die Darstellung des weiblichen Genitales ersetzt, vielmehr dessen grauenerregende Wirkung von seiner lusterregenden isoliert, so kann man sich daran erinnern, daß das Zeigen der Genitalien auch sonst als apotropaeische Handlung bekannt ist. Was einem selbst Grauen erregt, wird auch auf den abzuwehrenden Feind dieselbe Wirkung äußern.57
Daß das wie die antike Gorgo als Helm- und Waffenzier getragene Hakenkreuz diese grauenerregende, bannende und lähmende Wirkung auf die Gegner der Nazis nicht nur in Deutschland zunächst ausübte, ist kaum bestreitbar: „Aber was dann kam, war nicht die Revolution. Mit aufgerissenen Augen starrten wir der Niederlage in den dunklen Schlangenblick." 58 Freuds Identifikation des Medusenhauptes mit dem verbotenen und abschreckenden mütterlichen Genital erscheint durchaus evident, wenn Kaiser Wilhelm sich unreflektiert, ein royal Freudian slip gleichsam, durch seine „Gorgo-Betrachtung in die unheimlichen Tiefen der Unterwelt" und damit „in das faustische Reich der Mütter" 59 geführt sieht. Bezeichnend genug entstanden des Kaisers Forschungen im wissenschaftlichen Umfeld jenes zunächst in München, dann in Frankfurt am Main angesiedelten „Instituts für Kulturmorphologie", dessen Leiter Wilhelm Frobenius „30 Jahre in Afrika nach Beweisen für seine matriarchalischen Theorien gesucht" hatte. 60 Der Zusammenhang zwischen der Gorgo und dem Hakenkreuz wird aber auch in Dinters Roman deutlich ausgesprochen, wenn Kämpfer am Ende seiner großen Rede gegen das Judentum die durch Sperrdruck hervorgehobene Hoffnung äußert: 56
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Sigmund Freud: Das Medusenhaupt. In: ders., Gesammelte Werke. Hrsg. v. Anna Freud u.a. Bd. 17. Frankfurt am Main, 7. Aufl. 1983, S. 4 5 ^ 8 , hier S. 48. Ebd., S. 47f. Alfred Andersch: Kirschen der Freiheit. Ein Bericht. München 1954, S. 30. Wilhelm II (Anm. 55) S. 84. Hans Erich Nossack: Jahrgang 1901. In: ders., Pseudoautobiographische Glossen. Frankfurt am Main 1971, S. 119-156, hier S. 139. Zu Frobenius und seinem Institut vgl. auch Wolfgang Schivelbusch: Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren. Frankfurt am Main 1985, S. 25ff.
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Wann endlich wird uns deutschen Christen der neue Luther entstehn, der des ersten Luthers Tat zu Ende bringt, unsere christliche Religion vom Judentume und uns selbst vom Juden in uns und um uns befreit, der der jüdischen Gorgo ein für alle Mal das Haupt abschlägt. (137) 61
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Womöglich noch fragwürdiger als meine eigenen, sehr hypothetischen Überlegungen zum historischen Symbolcharakter des Hakenkreuzes im Deutschland der Zwischenkriegszeit erscheinen mir die Spekulationen von Konrad Wolff: Zur Symbolgeschichte des Hakenkreuzes. In: Welt der Symbole. Interdisziplinäre Aspekte des Symbolverständnisses. Hrsg. v. Gaetano Benedetti u. Udo Rauchfleisch. Göttingen, 2. Aufl. 1989, S. 5 7 75. Wolff ordnet ein „Schichtenmodell der menschlichen Psyche" (57) in Gestalt des Hakenkreuzes an: „Was wir hier verfolgen konnten, ist eigentlich etwas ganz Außerordentliches. Indem wir uns von rein psychologischen Gegebenheiten leiten ließen, sind wir auf ein sehr altertümliches kosmisches Symbol gestoßen, dessen Konfiguration mit dem empirisch gefundenen Strukturmodell der menschlichen Psyche eine völlige Kongruenz aufweist. Die Struktur der menschlichen Psyche wird so zum Ausdruck eines kosmischen Geschehens oder also der erlebten Weltstruktur." (S. 61 f.) Nach einem Überblick über historische Verwendungen des Hakenkreuzes (S. 65: „Daß das Heilszeichen aber auch zum Unheil ausschlagen oder von Unheilsmächten mißbraucht werden kann, hat auch an diesem Beispiel wieder die jüngste Geschichte gezeigt.") löst Wolff en passant auch noch das Problem der Quadratur des Kreises, nicht mathematisch zwar, „sondern im Menschen selbst, in den Maßen der menschlichen Gestalt, sobald er nämlich in seinem Leibe die Gebärde des Kreuzes realisiert."
Ingrid Belke (Marbach)
Publizisten warnen vor Hitler Frühe Analysen des Nationalsozialismus *
Überrascht von den stürmisch verlaufenen politischen Veränderungen in Osteuropa, fragten sich in den letzten Jahren historisch und politisch Interessierte mehr als einmal, ob man einschneidende Entwicklungen der Zukunft überhaupt voraussehen oder auch nur vorausahnen kann - oder, bezogen auf den hier untersuchten Zeitabschnitt, ob politisch informierte Zeitgenossen in der Weimarer Republik die Gefahren diagnostizieren konnten, die von Adolf Hitler und der nationalsozialistischen Partei ausgingen. Und wenn sie diese Gefahr denn erkannten, wie beurteilten sie die potentiellen Kräfte des Widerstandes? Worin sahen sie die treibenden Kräfte für den schließlichen Erfolg Hitlers? Welche Symptome, welche Tendenzen konnten sie wahrnehmen, die auf einen zweiten Weltkrieg und den Völkermord vorauswiesen? Und wer hatte den Mut, auch die Überzeugungskraft, vor einem wahrscheinlichen Sieg der Nationalsozialisten zu warnen, die ideologischen Verhärtungen auf der einen Seite, die involvierten wirtschaftlichen Interessen auf der andern aufzudecken, auch die Defizite an politischer Einsicht und entschlossenem Handeln? Dabei interessieren hier weniger aktuelle, auf bestimmte Ereignisse und Personen bezogene Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, sondern Gesamtdarstellungen, die die Entstehung und ideologischen Hintergründe der NSDAP, ihre Interessen und ihre Taktik, ihre führenden Vertreter, ihre Verbündeten und Gegner analysierten. Man nimmt ja zu einem aktuellen Ereignis meist spontaner, polemischer, auch kämpferischer Stellung, als wenn man eine längere Entwicklung überschauen, Quellenmaterial studieren und sich - parallel zu den deutschen Ereignissen - über den bereits erfolgreichen italienischen Faschismus informieren kann. Nicht berücksichtigt werden hier all die Analysen, die nach Hitlers Machtübernahme im Ausland erschienen, da sich mit dem Erfolg der Nationalsozialisten und dem Ende der Weimarer Republik die Perspektive, die Bewertung, ja sogar, wie bei Konrad Heiden zum Beispiel, der Stil
Der Vortrag wurde für die Veröffentlichung überarbeitet und wesentlich ergänzt.
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des Darstellers änderten.1 An einige der Warner und Kritiker des Nationalsozialismus soll jedoch hier zunächst kurz erinnert werden. Da sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu einer christlichen Konfession bekannte, ist die Haltung der beiden großen Kirchen gegenüber dem Nationalsozialismus von nicht unerheblicher Bedeutung gewesen. Bis zu seiner Kapitulation' im Februar/März 1933 stellte der deutsche Katholizismus - wie Klaus Scholder in seiner großen Monographie Die Kirchen und das Dritte Reich erstmals dargestellt hat - „eine nahezu geschlossene Front gegen Hitler" dar.2 Das galt sowohl für die offiziellen Erklärungen der Bischöfe als auch für die meisten katholischen Organisationen, die sich der Entscheidung der Bischöfe anschlossen. Verstärkt wurde diese Abwehrfront durch einige katholische Publizisten, die ausgesprochen kämpferisch die Vorstellungen und Ziele von Hitler und seiner Bewegung analysierten und ablehnten.3 Zu „den entschieden1
Die Fortsetzung von Konrad Heidens Geschichte des Nationalsozialismus - Die Karriere einer Idee (Berlin 1932) erschien bereits im schweizerischen Exil unter dem Titel Geburt des Dritten Reiches - Die Geschichte des Nationalsozialismus bis Herbst 1933 (2. Aufl., Zürich 1934). - Zu den wichtigsten Monographien über A. Hitler und die Geschichte der NSDAP, die nach 1933 im Exil geschrieben wurden, gehören außer Heidens Hitler-Biographie die Darstellungen von Franz Neumann: Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism New York 1942. Eine überarbeitete, erweiterte Fassung erschien 1944 in Toronto-New York-London. Erstmals in deutscher Sprache: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Aus dem Amerikanischen von Hedda Wagner und Gert Schäfer. Hrsg. von Gert Schäfer. Köln 1976; und von Ernst Fraenkel: The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship. London-New YakToronto 1941. Erstmals in deutscher Sprache: Der Doppelstaat Recht und Justiz im .Dritten Reich'. Übersetzt von Manuela Schöps in Zusammenarbeit mit dem Autor, Frankfurt a.M. 1984. - Zu den frühen Reaktionen und Deutungsversuchen aus Italien vgl. Emst Nolte: Theorien über den Faschismus. Königstein/Ts. 5. Aufl. 1979; Renzo de Feiice (Hrsg.): Π fascismo. Le interpretazioni dei contemporanei e degli storici. Bari 1970; Renzo de Feiice: Die Deutungen des Faschismus. Göttingen-Zürich 1980. Eine wichtige Anthologie über den internationalen .Faschismus' erschien unter der Herausgeberschaft von Wolfgang Abendroth: Faschismus und Kapitalismus Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus. Eingeleitet von Kurt Kliem, Jörg Kammler und Rüdiger Griepenburg. Frankfurt a.M. 1967 (Texte von August Thalheimer, Herbert Marcuse, Arthur Rosenberg, Otto Bauer, Angelo Tasca).
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Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934, Frankfurt a.M.-Berlin-Wien 1977, bes. S. 160-183. Zu den zahlreichen Publikationen gegen Hitler und den Nationalsozialismus gehören u.a. die Schrift des Reichstagsabgeordneten der Bayerischen Volkspartei Karl Troßmann unter dem Titel Hitler und Rom (Nürnberg 1931); Troßmann prophezeite nüt Hitlers Machtübernahme „eine brutale Parteiherrschaft, die mit allen Volksrechten aufräumen würde. Die Aussicht auf einen neuen Krieg, der bei den gegebenen Verhältnissen noch verhängnisvoller enden müßte als der letzte Krieg. Der Ruin Deutschlands und ein nachfolgendes vergrößertes Elend." (zitiert nach: Klaus Scholder Die Kirchen und das Dritte Reich [Anm 2], S. 169). - Alfons Wild: Hitler und das Christentum. Augsburg 1931. - Hans Rost: Katholizismus und deutsches Vaterland Augsburg 1932. Hans Rost, Schriftleiter der Wissenschaftlichen Beilage d a Zentrum-nahen .Augsburgs Postzeitung", wertete fur seine Attacke gegen Hitler und dessen Bewegung vor allem Hitlers Mein Kampf, Schriften von Alfred Rosenberg und Artikel im „Stürmer" aus. Vgl. dazu K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich (Anm. 2), S. 169ff., und Gerhard Schreiber Hitler. Interpretationen 1923-1983. 2. verb, und durch eine annotierte Bibliographie fur die Jahre 1984-1987 ergänzte Auflage. Darmstadt 1988, S. 92ff.
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sten und kompromißlosesten Gegnern Hitlers" zählten der katholische Publizist Dr. Fritz Gerlich und der Kapuzinerpater Ingbert Naab, die seit 1930 in der Zeitschrift „Der Weg" und ab 1932 in dem in München erscheinenden Blatt „Der gerade Weg" ihre kritischen Analysen und Angriffe gegen Hitler veröffentlichten.4 Schonungslos stellte Gerlich in einem Wahlaufruf zu den Reichstagswahlen im Juli 1932 dar, was eine Machtübernahme Hitlers für Konsequenzen hätte: Nationalsozialismus...bedeutet: Feindschaft mit den benachbarten Nationen, Gewaltherrschaft im Innern, Bürgerkrieg, Völkerkrieg. Nationalsozialismus heißt: Lüge, Haß, Brudermord und grenzenlose Not. Adolf Hitler verkündigt das Recht der Lüge. [·•·] Ihr, die Ihr diesem Betrüge eines um die Gewaltherrschaft Besessenen verfallen seid, erwacht! Es geht um Deutschlands, um Euer, um Eurer Kinder Schicksal. Nicht das Volk, welches von den Generalen und von Hitler, der ihr Trommler ist, beschuldigt wird, hat den Krieg verloren: Die Kaiserliche Regierung mit Hindenburg und Ludendorff verloren ihn. Nicht die Parteien, welche von Hitler beschuldigt werden, sind für den Frieden und die Reparationslasten verantwortlich, sondern alle diejenigen, [...] welche heute durch Hitler wieder zur Macht kommen wollen und Euch in neue Kriege stürzen werden. [...] Wir, die hier zu Euch sprechen, wollen nicht an die Macht, wir dienen keiner Partei, wir sind niemandens Sprachrohr als unseres Gewissens. [...] Und wir sagen Euch: Es ist eine Gewissenspflicht jedes Katholiken, jene Parteien zu wählen, die die unverlöschlichen Rechte seiner Kirche zu verteidigen entschlossen sind. [...] Der kommende Sonntag ist ein Tag des Kreuzzuges. (96f.)5
Es ist erwiesen, daß Katholiken in ihrem Wahlverhalten nur etwa halb so anfällig gegenüber der NSDAP waren wie die Protestanten.6 Das hat mehrere Gründe: Der hierarchisch gegliederten und relativ homogenen Katholischen Kirche standen auf protestantischer Seite nicht nur die verschiedenen Landeskirchen, sondern auch verschiedene Strömungen und Gruppierungen gegenüber, die bis zum einzelnen hin ein Recht auf eigene Meinungsbildung beanspruchten. Infolge des .Kulturkampfes' hatte sich in den von Katholiken bewohnten Orten und Regionen eine katholische Sub4
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Aufsätze der beiden Autoren sind zusammen mit einigen Zeitdokumenten in einem Sammelband nach Kriegsende zugänglich gemacht worden: Prophetien wider das Dritte Reich. Aus den Schriften des Dr. Fritz Gerlich und des Paters Ingbert Naab, gesammelt von Dr. Johannes Steiner. München 1946. - Gerlich wurde am 9. März 1933 verhaftet, schwer mißhandelt und am 1. Juli 1934 im Konzentrationslager Dachau ermordet. Pater Ingbert Naab konnte in die Schweiz fliehen und starb am 28. März 1935 in Straßburg (Nach: Gerhard Schreiber: Hitler. Interpretationen 1923-1983 [Anm. 3], S. 95f., Anm. 170). Zitiert nach Gerhard Schreiber: Hitler. Interpretationen 1923-1983 (Anm. 3), S. 96f. Vgl. Jürgen F. Falter Hitlers Wähler. München 1991, S. 169-193. Am Ende der Weimarer Republik waren 63 Prozent der Reichsbevölkerung evangelisch, ein knappes Drittel katholisch.
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kultur mit eigenen Vereinen, Freundeskreisen und einer auf Tradition und bestimmten Moralvorstellungen gegründeten Wahlnorm herausgebildet; Katholiken wählten, weitgehend unabhängig von Stand und Einkommen, die Zentrumspartei oder - wenn sie in Bayern wohnten - die Bayerische Volkspartei.7 Für die Protestanten gab es eine solche konfessionell und milieugebundene Partei nicht. Dem Protestantismus fehlte alles, was die Geschlossenheit der katholischen Abwehrfront gegen den Nationalsozialismus bestimmte, auch die naturrechtliche Basis ihrer Morallehre. Auf protestantischer Seite wurde seit den Septemberwahlen 1930 das Problem Nationalsozialismus bzw. Nationalsozialismus und Kirche zu einem der am meisten diskutierten und umstrittensten Themen bei kirchlichen Tagungen und Gesprächsrunden. Ein Spiegelbild der widersprüchlichen, völlig ungeordnet und unversöhnt verlaufenen Diskussionen bildet das 1932 von Leopold Klotz herausgegebene zweibändige Sammelwerk Die Kirche und das ο
Dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen. Nach einer späteren Analyse setzen sich die Verfasser der 43 Stellungnahmen zum Nationalsozialismus aus 12 Befürwortern, 12 Unentschiedenen und 19 Gegnern zusammen. Keiner von ihnen argumentierte so unerschrocken und eindeutig gegen Hitler und seine Bewegung wie der evangelische Theologe und Philosoph Paul Tillich, der - damals der führende Theoretiker des religiösen Sozialismus - 1929 als Nachfolger Max Schelers den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt a.M. übernommen hatte und in Zeitschriften und eigenen Publikationen die Krise und politische Gefährdung der Weimarer Republik analysierte. 9 Die protestantischen Gegner Hitlers lassen sich im wesentlichen drei größeren Gruppen zuordnen: 1. dem linken Flügel des kirchlichen Liberalismus, also dem Kreis um den evangelischen Theologen Martin Rade 1 0 und die von ihm bis 1931 mitherausgegebene „Christliche Welt"; sie lehnten den Nationalsozialismus ab, weil er fundamental gegen die christliche Ethik verstoße. - 2. den »Religiösen Sozialisten', die sich um den Hamburger Ökonomen Eduard Heimann und den schon genannten Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich und ihre Zeitschrift „Neue Blätter für den Sozialismus" sammelten; sie argumentierten vor allem politisch-ideologisch, gewannen aber keine große Resonanz in Deutsch-
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Jürgen F. Falter: Hitlers Wähler (Anm. 6), S. 172. Leopold Klotz Verlag. Gotha 1932. Paul Tillich: Die religiöse Lage der Gegenwart. Berlin 1926; Die sozialistische Entscheidung. Potsdam 1932. Wegen seines politischen Engagements gegen die Nationalsozialisten wurde Tillich bereits im Februar 1933 entlassen und emigrierte in die USA. Auch Martin Rade wurde wegen seiner entschieden demokratischen Haltung im November 1933 von seinem Lehrstuhl in Marburg entfernt.
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land.11 - 3. dem Kreis der dialektischen Theologie, der maßgeblich von Karl Barth geprägt wurde; Vertreter dieser Richtung bestanden auf einer theologischen Analyse und Kritik des Nationalsozialismus und vermochten noch viele Unentschiedene zu beeinflussen. 12 Auch Vertreter der jüdischen Gemeinschaft, die sich ja schon vor der Machtübernahme Hitlers durch die antisemitische Hetze und Terrorakte der Nationalsozialisten bedroht sahen, versuchten über die drohende Gefahr aufzuklären und vor einer Machtübernahme Hitlers zu warnen. Diese aufklärerische Tätigkeit übernahm fast ausnahmslos der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.), der als die größte jüdische Organisation die Interessen der liberalen Mehrheit der deutschen Juden vertrat.13 Zu den wichtigsten Abwehrschriften gegen die antisemitischen Exzesse der Nazis zählen die folgenden Publikationen des C.V.: Anti-Anti: Blätter zur Abwehr - Tatsachen zur Judenfrage. Berlin 1923, ein Handbuch, das in Lose-Blatt-Form, also ständig ergänzbar, alle antisemitischen Vorstellungen von der Rassenlehre bis zum Ritualmordvorwurf widerlegte und das von 1923 bis 1932 sieben Auflagen erlebte. 14 Friedhofsschändungen in Deutschland 1923-1932: Dokumente der kulturellen und politischen Verwilderung unserer Zeit, 5. Ausgabe, Berlin 1932; HitlerDeutschland? Wahlen 1930. Berlin [1930]; [1932] - Das Jahr der Entscheidung. Berlin [1932]; Die Stellung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zur Judenfrage. Eine Material Sammlung, vorgelegt 11
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Mit Einschränkungen gehörten zu dieser Gruppe auch die Vertreter des Christlich-sozialen Völksdienstes, einer kleinen Partei, die 1930 erstmals an einer Reichstagswahl teilnahm und 14 Mandate gewann. Sie fand ihre Unterstützung vor allem in der pietistischen Gemeinschaftsbewegung und in den Freikirchen. Ihre gegnerische Haltung zum Nationalsozialismus fand Ausdruck in der kritischen Analyse Nationalsozialistische Weltanschauung?, die der Erlanger Theologieprofessor Hermann Strathmann 1931 veröffentlichte. Der Christlich-soziale Volksdienst befürwortete schließlich dennoch die Einbeziehung der Nationalsozialisten in die Regierungsverantwortung, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß Hitler seine Ziele so energisch und brutal realisieren werde (Nach Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich [Anm. 2], S. 176). Karl Barth war 1934 maßgeblich an der Formulierung der Barmer Theologischen Erklärung beteiligt, dem Griindungsmanifest der Bekennenden Kirche. Da er den geforderten Treueid auf Hitler verweigerte, mußte er 1935 Deutschland verlassen. Der C.V. war schon 1893 zur Abwehr des wachsenden Antisemitismus in Berlin gegründet worden; um 1925 zählte er ca. 65.000 Mitglieder. Im Gegensatz zu den Zionisten verstanden sich die C.V.-Mitglieder politisch und kulturell als Deutsche jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft. In den massiven antijüdischen Kampagnen sahen sie zu Recht einen Angriff auf die Errungenschaften der Emanzipation. Zu diesem Thema vgl. besonders Arnold Paucker: Der jüdische Abwehrkampf. In: Entscheidungsjahr 1932 Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik. Ein Sammelband, hrsg. v. Werner E. Mosse unter Mitwirkung v. Arnold Paucker. Tübingen 1965 (= Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 13), S. 406-499. Der Anti-Anti wurde für jede neue Auflage revidiert und erweitert. Die 6. und 7. Auflage von 1932 erhielt den Untertitel: Tatsachen zur Judenfrage.
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vom C.V. Berlin [1932]. Seit 1929 berichtete auch ein getarnt operierender Nachrichtendienst, das sogenannte Büro Wilhelmstraße, an Presse und Parteien über die Aktivitäten der NSDAP und deren Organisationen und bot Rechtsschutz an. Seine bekannteste Publikation war der Anti-Nazi, ein Handbuch, das nach dem Vorbild des Anti-Anti ebenfalls in LoseBlatt-Form erstmals im Frühjahr 1930 erschien.15 Stärker im öffentlichen Interesse standen die politischen und kulturpolitischen Zeitungen bzw. Zeitschriften, die ungeschützt von einer Religionsgemeinschaft oder Partei eindeutig und kämpferisch gegen den Nationalsozialismus Stellung bezogen. Allerdings gab es in den letzten Jahren der Weimarer Republik nicht so viele Zeitungen und Zeitschriften, die ganz entschieden eine republikanische Politik forderten und vor der latenten Zerstörung der ersten deutschen Demokratie warnten. Dazu zählten - um die wichtigsten zu nennen - in erster Linie die Wochenschrift „Die Weltbühne" und ihr mutiger Herausgeber Carl von Ossietzky, „Die Aktion" (bis 1932) unter Franz Pfemfert, auch Leopold Schwarzschilds Zeitschrift „Das Tage-Buch" und - auf hohem literarisch-weltbürgerlichen Niveau „Die Neue Rundschau" sowie Hellmuth von Gerlachs „Welt am Montag" (bis 1931), Fritz Küsters Monatsschrift „Das andere Deutschland", in Süddeutschland Erich Schairers „Sonntags-Zeitung" und „Die Menschenrechte", das von Kurt Grossmann herausgegebene Organ der „Deutschen Liga für Menschenrechte". Die nationalkonservativen und nationalistischen Blätter waren zahlenmäßig weitaus stärker. Keineswegs gering ist die Zahl der Publizisten, die immer wieder vor den Nationalsozialisten, der schleichenden Aushöhlung demokratischer Rechte und Freiheiten und vor dem brutalen Antisemitismus warnten. Stellvertretend seien hier wenigstens einige von ihnen genannt: Bernhard von Brentano, Walter Dirks, Axel Eggebrecht, Hellmuth von Gerlach, Kurt Hiller, Berthold Jacob, Siegfried Kracauer, Heinrich und Thomas Mann, Walter Mehring, Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Heinz Pol, Fritz Sternberg, Ernst Toller und - wahrhaftig nicht zuletzt! - Kurt Tucholsky.
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In der Auflage von 1932 erhielt es den Untertitel Handbuch im Kampf gegen die NSDAP. Als Herausgeber wurde jeweils der „Deutsche Volksgemeinschaftsdienst" angegeben. Unter diesem und anderen Namen firmierte das „Büro Wilhelmstraße", da der C.V. als überparteiliche Organisation konstituiert worden war und offiziell nicht mit dem „Büro" identifiziert werden durfte.
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Ernst Niekisch Ein Außenseiter unter diesen linksliberalen und sozialistischen Warnern war der Politiker und Publizist Ernst Niekisch (1889-1967), der - 1919 Vorsitzender des revolutionären Zentralrats in Bayern - seit 1926 um seine Zeitschrift „Widerstand - Blätter für nationalrevolutionäre Politik" eine nationalkonservative Oppositionsbewegung der Eliten organisierte. Er opponierte gegen die West-Orientierung Deutschlands und die alliierte Reparationspolitik, durch die sich nur das Großbürgertum bereichert habe, und trat für eine Kooperation mit Rußland ein. In seiner kämpferischen Schrift Hitler - Ein deutsches Verhängnis16 geht er davon aus, daß der verhängnisvolle Erfolg Hitlers auf dem Widerstand beruhe, den die deutsche Bevölkerung dem importierten .Demokratismus' der Westmächte entgegenbringe. Dieser ,Demokratismus' sei als Überfremdung ebenso abzulehnen wie der „römische Cäsarismus" der Nationalsozialisten, der „ein Gewächs des Mittelmeergestades" sei (12). Dieser verstehe sich auf „Stimmung", „Aufmärsche" ebenso gut wie die Katholische Kirche; er sei „eine Form von nationalem Messianismus; der Messias ist Hitler. Nationaler Messianismus ist jüdischen Ursprungs." (12) Es sei nur konsequent, wenn München die Capitale des Nationalsozialismus sei, wenn Hitler im Rheinland und südlich des Mains, wo einst die römischen Legionen und heute die Katholische Kirche ihre wichtigsten Bastionen hätten, so viel Resonanz finde. Als Gegenwerte rühmt Niekisch „die Nüchternheit, Kühle und Strenge des deutschen protestantischen Menschen", er setzt auf „Haltung" statt auf „Stimmung", auf „Zucht" statt auf „Rausch", auf den „Staat als sittliche Leistung". (12) Diese Werte sieht er eher in der Freundschaft mit Rußland gefestigt als in der mit den westlichen Staaten. Er wirft Hitler schließlich vor, daß er nach dem Erfolg der Septemberwahlen 1930 nicht den Staatsstreich gewagt habe, wie alle Demokraten befürchtet hatten: „Er marschierte nicht, sondern watete in den Sumpf des Parlamentarismus [...]: man erwartete Großes; ein politisches Glanzstück war fällig. Die Zeit verstrich, und es geschah nichts." (34) 17 Er warnt vor dem „Hochstapler" Hitler: Der Nationalsozialismus „ist das verwegenste Kreditschwindelgebäude, das auf politischem Boden errichtet wurde". (35) Er warnt vor dem „Byzantinismus", dem „seichten Optimismus", dem „blutigen Dilettantismus": „Der Nationalsozialismus ist kein Beginn - er ist ein Ende. Er ist der Ausklang der wilhelminischen Zeit" (35), und „[...] das Ergebnis des unerhörten Aufwandes ist am Schluß die 16
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Die Schrift erschien mit Zeichnungen von A. Paul Weber im Widerstands-Verlag, Berlin 1932. Sie erreichte noch im selben Jahr das 26. Tausend. Die Parallele zu dem Urteil Konrad Heidens ist frappierend, vgl. dazu S. 152f. dieser Arbeit.
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Katastrophe" (36).18 Damit sollte er - trotz seiner zum Teil phantastischen Prämissen - leider recht behalten ...
Emil Julius Gumbel Einer der frühesten und unerbittlichsten Warner vor der .Gefahr von rechts' war der Hochschullehrer und Publizist Emil Julius Gumbel (18911966), der sich als Pazifist und engagierter Republikaner immer wieder für die Aussöhnung mit Frankreich, für Abrüstung und Frieden einsetzte und gegen den verbreiteten Antisemitismus, gegen die Reaktion in Verwaltung, Justiz und in der Reichswehr kämpfte.19 Schon 1921 erschien seine, im Auftrag vom „Bund Neues Vaterland"20 erstellte Dokumentation Zwei Jahre Mord.21 Ihr Thema waren die Morde, die in Deutschland seit 1919 aus politischen Gründen begangen worden waren. Den 318 Morden von rechts (die berühmtesten Opfer waren Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Gustav Landauer) standen 16 Morde von links gegenüber. Während die 318 Verbrechen der Rechtsradikalen mit insgesamt 31 Jahren und 3 Monaten Einsperrung und einer lebenslangen Festungshaft bestraft wurden, bestand die Gesamtsühne für die 16 Verbrechen der Linksradikalen in 8 Todesurteilen und 239 Jahren Einsperrung. Die ersten 5000 Exemplare dieser gut recherchierten Dokumentation waren schon nach vier Wochen vergriffen. Es folgten mehrere Neuauflagen, die fünfte und erweiterte im Oktober 1922 unter dem Titel: „Vier Jahre politischer Mord".22 Die Morde von rechts waren inzwischen auf 354 angewachsen, unter den Opfern zwei Minister der jungen Republik, Walther Rathenau und Matthias Erzberger. Die Resonanz der deutschen Justiz auf diese Broschüre ist dagegen erschütternd: Obwohl nicht ein einziger Versuch gemacht worden war, die Ergebnisse von Gumbels Recher18
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Ernst Niekischs Zeitschrift wurde 1934 von den Nationalsozialisten verboten; er selbst wurde 1937 als Gegner des NS-Regimes verhaftet und wegen Hochverrats zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt Die Rote Armee befreite ihn 1945; er war teilweise gelähmt und fast erblindet. Über Emil Julius Gumbel vgl. den Beitrag von Wolfgang Benz: Die Karriere eines deutschen Pazifisten. In: Ulrich Walberer (Hrsg.), 10. Mai 1933. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen. Frankfurt a.M. 1983, S. 160-198. - Christian Jansen: Emil Julius Gumbel - Portrait eines Zivilisten. Heidelberg 1991. Der pazifistische „Bund Neues Vaterland", in den der Kriegsfreiwillige Emil J. Gumbel schon 1915 eintrat, war 1914 gegründet worden und bestand bis 1922; aus ihm ging die „Deutsche Liga für Menschenrechte" hervor. Emil J. Gumbel: Zwei Jahre Mord. Mit einem Vorwort v. Georg Friedrich Nicolai u. einem Anhang: Ergebnisse des Ausschusses zur Prüfung des Verhaltens der Offiziere während der Märzvorgänge (Kapp-Putsch). Verlag Neues Vaterland: Berlin 1921. Emil J. Gumbel: Vier Jahre politischer Mord. Berlin 1922 (= 5. verbesserte Auflage von Zwei Jahre Mord). Nachdruck, mit einem Vorwort v. Hans Thill: Heidelberg 1980.
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chen anzufechten, ist auch nach deren Veröffentlichung keiner der über 300 straflos davongekommenen Mörder zur Rechenschaft gezogen worden. Auch die Denkschrift des Justizministers blieb folgenlos. 23 1924, ein Jahr nach seiner Habilitation für Statistik an der Universität Heidelberg, veröffentlichte Gumbel im Berliner Malik-Verlag eine neue Dokumentation über die geheimen paramilitärischen Organisationen der Rechtsradikalen, die sich als „vaterländisch" ausgaben, jedoch die deutsche Innen- und Außenpolitik aufs schwerste gefährdeten und die in enger Verbindung, zum Teil sogar unter dem Schutz der Reichswehr und militärischer Schlüsselfiguren der Weimarer Republik standen. Das Buch erschien unter dem Titel Verschwörer - Beiträge zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde seit 191824 und enthielt ein mutiges Vorwort von Senatspräsident A[rnold] Freymuth 25 vom Kammergericht Berlin: [...] Unter dem Vorwande der Reichstreue, des nationalen', des ,völkischen' Gedankens erblicken weite Kreise des deutschen Volkes ihre Aufgabe darin, den bittersten, durch keinerlei innerliche Skrupel eingeschränkten Kampf gegen die Weimarer Verfassung, den »Marxismus1, die ,Judenrepublik' und wie die Schlagworte alle lauten, zu führen. Die Betonung .vaterländischer' Gesinnung deckt dabei jede Niedertracht, jede Gemeinheit, jedes Verbrechen. Politische Morde (zum Beispiel an Erzberger, an Rathenau) sind nicht etwa fluchwürdige Verbrechen, sondern äußersten Falls mit verständnisvollem Schmunzeln betrachtete Ausschreitungen einer hochgestimmten, nationalen, heldenhaften Gesinnung; oft aber werden die rechtsradikalen Mörder geradezu als bewunderungswürdige Helden gefeiert, deren Taten die Jugend zur Nacheiferung anspornen sollen [...] (7).
Über die „Deutsche Liga für Menschenrechte" wurde das Buch an über 300 demokratische Abgeordnete gesandt. Die Reaktion auf Gumbels Enthüllungen klären allerdings über die politische Situation des damaligen Deutschland mindestens ebenso auf wie sein Inhalt. In der Tat hatten sich einige Parlamente mit Gumbels Buch beschäftigt, allerdings mit der einzigen Folge, daß sich in der Öffentlichkeit eine infame Hetzkampagne gegen Gumbel zusammenbraute, an der sich auch die Heidelberger Universi23
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Denkschrift des Reichsjustizministers zu Vier Jahre politischer Mord. Mit einem Kommentar hrsg. v. Emil J. Gumbel. Berlin 1924. Nachdruck: Heidelberg 1980 (zusammen mit Vier Jahre politischer Mord; vgl. Anm. 22). Emil J. Gumbel: Verschwörer. Beiträge zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde seit 1918. Mit einem Vorwort v. A[rnold] Freymuth. Wien 1924. (Nachdruck, mit einem Vorwort v. Karin Buselmeier: Heidelberg 1979). Der Senatspräsident am Kammergericht Berlin, Arnold Freymuth (1872-1933), war Mitarbeiter in mehreren republikanischen und pazifistischen Organisationen, u.a. bei der Republikanischen Beschwerdestelle in Berlin. 1933 emigrierte er nach Paris und wählte dort zusammen mit seiner Frau den Freitod.
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tat beteiligte, und die Polizeidirektion in München gegen das Buch ein Verfahren wegen Landesverrat beantragte. Gumbels Vortragstätigkeit und sein Auftritt bei der Veranstaltung „Nie wieder Krieg!" am 26. Juli 1924 in Heidelberg brachten das Faß der Volksempörung schließlich zum Überlaufen. Der spontan beschlossene Entzug der Lehrerlaubnis wurde zwar wieder zurückgenommen, das von der Philosophischen Fakultät beantragte Untersuchungsverfahren gegen Gumbel zog sich jedoch zehn Monate hin. Da die Landes verratsverfahren - insgesamt drei! - eingestellt werden mußten, sich also keine Handhabe bot, mit der man Gumbel hätte von der Universität entfernen können, veröffentlichten die Kollegen von der Philosophischen Fakultät 1925 ihren Beschluß mit Auszügen aus den diffamierenden Gutachten. Dieses Pamphlet wurde nicht nur an alle Universitäten des Deutschen Reiches, sondern auch an die wichtigsten Zeitungsredaktionen, an den Badischen Landtag und an das badische Unterrichtsministerium in mehreren Exemplaren geschickt. Erst im August 1930 wurde Gumbel - gegen den Willen der Fakultät - zum a.o. Professor ernannt, was eine Flut von Demonstrationen, Krawallen, öffentlichen Beschimpfungen vor allem aus den Reihen der rechtsradikalen Studenten zur Folge hatte. Die Universität wich schließlich dem Druck von Antidemokraten und Antisemiten und entzog Gumbel im August 1932 die Lehrerlaubnis.26 Der Rekurs Gumbels beim Badischen Staatsministerium wurde am 28. Februar 1933 abschlägig beschieden. Gumbel war schon im Juli 1932 aus Deutschland emigriert und einer Einladung des „Institut Poincare" der Universität Paris gefolgt; Anfang 1934 erhielt er eine Forschungsprofessur für Versicherungsmathematik an der Universität Lyon. 27 Als 1940 die deutschen Truppen in Frankreich einmarschierten, floh er nach den USA, wo er sich aufgrund von - allerdings nur jeweils befristeten - Lehraufträgen an der „New School for Social Research" und anderen amerikanischen Universitäten wieder verstärkt der mathematischen Statistik zuwandte. Gumbel ist trotz seines wissenschaftlichen Ansehens nach 1945 an keine deutsche Universität zurückberufen worden. In den letzten Jahren der Weimarer Republik waren noch zwei Bücher von Gumbel erschienen, zunächst 1929 im Berliner Malik-Verlag eine 26
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Am Schicksal Gumbels läßt sich besonders deutlich demonstrieren, wie stark der Einfluß der Rechtsradikalen in Heidelberg nach den Septemberwahlen 1930 bereits war. Mit dem Entzug der Lehrberechtigung hatte sich die Heidelberger Universität schon vor der Machtübernahme Hitlers selbst „gleichgeschaltet". Vgl. die ausführliche Dokumentation der Vorgänge bei Christian Jansen, Emil Julius Gumbel (Anm. 19), S. 35ff. Die frühe Emigration Gumbels war wahrscheinlich seine Lebensrettung. Schon am 7. März 1933 erließ der Polizeipräsident von Berlin einen Haftbefehl gegen Gumbel, in den folgenden Wochen wurde in Heidelberg „sein Haus geplündert, seine Bibliothek zum Teil verbrannt, sein Vermögen beschlagnahmt" (Christian Jansen, Emil Julius Gumbel [Anm. 19], S. 40).
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Art Abschlußdokumentation unter dem Titel Verräter verfallen der Feme. Opfer - Mörder - Richter 1919-1929,28 in der Gumbel nicht nur alle politischen Morde bis 1929 dargestellt und ihre unzulängliche strafrechtliche Verfolgung nachgewiesen hat, sondern wo er auch stärker als bisher als Interpret des politischen und sozialen Geschehens hervorgetreten ist: [...] Die zentrale Ursache der politischen Morde von rechts war das Schutzbedürfnis des Großkapitals, dessen Herrschaft während kurzer Zeit aussetzte und auf längere Zeit erschüttert schien. Die psychischen Voraussetzungen für die Anwendung dieser politischen Waffe lieferten Krieg und Inflation; die Garantie dafür, daß die Methode gefahrlos angewandt werden konnte, bot die deutsche Justiz. Der Krieg hat die tief wurzelnde Auffassung von der Heiligkeit des menschlichen Lebens zerstört, den Massenmord zur Selbstverständlichkeit, unbedingten Gehorsam gegenüber der herrschenden Schicht zur Lebensnotwendigkeit werden lassen [...]
Weder Heuss und Heiden noch der kritische Ottwalt haben die radikalen und zerstörerischen Wirkungen des Weltkrieges so klar erkannt wie Emil J. Gumbel. Die letzte Schrift dieser Thematik erschien 1931 unter dem Titel ,Laßt Köpfe rollen' - Faschistische Morde 1924-1931, wiederum in Auftrag gegeben von der „Deutschen Liga für Menschenrechte".30 Der Auflistung und Analyse von 63 Morden, die Nationalsozialisten bis Mitte 1931 begangen hatten, folgte Gumbels vorausschauendes Fazit: Diese Zahlen verlaufen ungefähr parallel dem Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung, von 1924 bis 1929 sehr langsam, dann sprunghaft rasch. In diesen Bluttaten offenbart der Faschismus sein wahres Gesicht. Er zeigt dem deutschen Volk die Methoden, deren er sich bedienen wird, wenn er zur Macht kommen sollte. (23)
Nur wenige waren damals so hellsichtig.
Paul Kampffmeyer In ähnlicher Richtung und mit ähnlichen Argumenten wie Emil J. Gumbel äußerte sich ebenfalls zu Beginn der zwanziger Jahre Paul Kampffmeyer. Mit seiner Broschüre Der Fascismus in Deutschland, die 1923 im 28
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Diese von Emil Julius Gumbel unter Mitarbeit von Berthold Jacob und Ernst Falck erarbeitete „abschließende Darstellung" erschien 1929 im Berliner Malik-Verlag. Vorabdruck des Abschnitts Die Ursachen der politischen Morde. In: Das Forum, 9. Jg., Dezember 1928, S. 152ff„ zitiert nach: Christian Jansen, Emil Julius Gumbel (Anm. 19), S. 254. Berlin 1931. - „Laßt Köpfe rollen" ist eine Parole der Nationalsozialisten gewesen.
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J.H.W. Dietz Verlag erschien, verfolgte auch Kampffmeyer das Ziel, die auf eine Militärdiktatur zusteuernden Geheimbünde zu entlarven und vor der politischen „Gefahr von rechts", besonders vor den Nationalsozialisten zu warnen. Paul Kampffmeyer (1864-1945) betätigte sich als Vorkämpfer der Gartenstadtbewegung und als Historiker der Arbeiterbewegung. 1921 wurde er als Archivleiter und literarischer Berater des J.H.W. Dietz Verlages nach Berlin berufen. Für die „Sozialistischen Monatshefte" hatte er seit 1885 regelmäßig Beiträge geschrieben und mehrere Schriften zur Geschichte der Sozialdemokratischen Partei veröffentlicht. Er war Mitglied der SPD und gehörte zum revisionistischen Flügel um Eduard Bernstein. Paul Kampffmeyer besaß zwar nicht die akribische und systematische Forscherbegabung eines Gumbel, der sich um eine möglichst vollkommene Aufklärung aller Geheimorganisationen in Deutschland bemühte und immer wieder neu ergänzte Beschreibungen ihrer Ziele, Mitglieder, Besitzstände und Verquickungen mit anderen Tarnorganisationen bzw. mit der Reichswehr publizierte; aber Kampffmeyer hatte doch über die größten und gefährlichsten Geheimorganisationen, nämlich die Brigade Ehrhardt, die Organisation C, Oberland, Orgesch und Orka und die Nationalsozialisten sehr viel Material gesammelt und dies in leicht faßlicher Form zugänglich gemacht. Die Flugschrift des Sozialdemokraten Kampffmeyer wurde auch sehr viel intensiver in Arbeiterkreisen gelesen als die gründlichen und auf Vollständigkeit zielenden Schriften des Intellektuellen Gumbel. Stärker als Gumbel betonte Kampffmeyer schon 1923, daß es strukturelle Gemeinsamkeiten des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus gebe. (3) Dazu zählte er: Die Priorität der militärischen Organisationen, die propagierte Militarisierung des Zivillebens, besonders der Wirtschaft, der übersteigerte Nationalismus, die Ablehnung des Parlamentarismus, des Liberalismus einerseits und des Sozialismus 34 31
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Der genannten Schrift folgte bald eine zweite: Der Nationalsozialismus und seine Gönner (Berlin 1924), die mir leider nicht zugänglich war. Über Paul Kampffmeyer vgl. den biographischen Abriß in Franz Osterroth: Biographisches Lexikon des Sozialismus. Hannover 1960, S. 151f. Nach der Machtübernahme Hitlers lebte Paul Kampffmeyer zurückgezogen in Wilhelmshagen/Mark Brandenburg und schrieb an einer Geschichte seiner Familie. - Über die reformfreudige Familie Kampffmeyer vgl. auch Kristiana Hartmann: Deutsche Gartenstadtbewegung - Kulturpolitik und Gesellschaftsreform. München 1976, S. 31. Kampffmeyer hat Gumbels Buch Vier Jahre politischer Mord (Berlin-Fichtenau 1922) in seiner Schrift nicht genannt, und auch Gumbel hat Kampffmeyers Schriften nicht in die Bibliographie seiner Dokumentation Verschwörer. Beiträge zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde seit 1918 (Anm. 24) aufgenommen. Die vermeintlich „sozialistischen" Programmpunkte der NSDAP seien nicht ernstzunehmen und nur als Lockmittel für die Arbeiterschaft gedacht, deren Parteien und Institutionen Hitler zu zerschlagen beabsichtige (P. Kampffmeyer, Der Fascismus in Deutschland, S. 29).
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bzw. Kommunismus andererseits, die Propagierung der Gewalt und die enge Verbindung zum Großkapital. Im Unterschied zu Gumbel geht Kampffmeyer in seinen Darlegungen von einem Idealbild der deutschen Nation aus, das ihm die Maßstäbe für seine starke Gegenwartskritik gebe: Die militärischen Geheimbünde und „der den Staat zersetzende" Faschismus paßten nicht zum „deutschen Wesen", die Verschwörertätigkeit sei „undeutsch" und „bedrohe die deutsche Freiheit und die deutsche Kultur". (2) Kampffmeyer denkt national; eine „Lebensmacht" könnte die nationale Idee jedoch erst gewinnen, wenn der Staat durch die Demokratie zur Volkssache werde. Von den „Faschisten" werde der Staat jedoch „auf die Bahn einer terroristisch-diktatorischen Entwicklung" gedrängt (31): Durch ihre verbrecherische Hetze gegen die ,Novemberverbrecher' treibt der nationalsozialistische Fascismus niederträchtigen Verrat an der nationalen Sache; denn ohne die arbeitende Novemberdemokratie ist keine Abwehr der Fremdherrschaft, keine wirtschaftliche und politische Gesundung Deutschlands möglich. Die organisierte Zusammenarbeit sozialer Klassen hat die politische und wirtschaftliche Demokratie zur Voraussetzung, das heißt einen der fascistischen Diktatur gerade entgegengesetzten Zustand. Den Fascismus befördern, das heißt in Deutschland zurzeit die politische Einheit zerstören und den katastrophalen Zusammenbruch der Wirtschaft vorbereiten. (40)
Gemeinsam ist den Analysen Gumbels und Kampffmeyers, daß sich beide Autoren auf die Darstellung der radikalen Organisationen, auf deren Mobilisierungstechniken, Zielsetzungen und Verbrechen konzentrierten und deren Gefahr für die junge Republik aufzeigten, sich jedoch nicht für die Wirkung konservativer und rassistischer Ideologen interessierten, wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn, Houston Stewart Chamberlain, Moeller van den Bruck, Oswald Spengler u.a., die ja die Wegbereiter der nationalsozialistischen Erfolge waren. Eine Theorie über die Entstehungsursachen faschistischer bzw. nationalsozialistischer Bewegungen gab nur Gumbel, und das auch erst in dem 1929 erschienenen, mit Berthold Jacob und Ernst Falck erarbeiteten Buch Verräter verfallen der Feme. Opfer Mörder - Richter 1919-1929.36
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Gumbel wies 1924 in seinem Buch Verschwörer (Anm. 24) sogar auf einen internationalen Zusammenhang hin: Eine „gewaltsame, antidemokratische Welle" durchziehe unsere ganze Kultur. Den deutlichsten Ausdruck habe diese nationalistische und militaristische Bewegung wahrscheinlich im Ku-Klux-Klan gefunden (218f.). Vgl. S. 126 dieses Beitrags.
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Entscheidungsjahr 1932 Im folgenden sollen drei Monographien über Hitler und die nationalsozialistische Bewegung dargestellt und analysiert werden - drei sehr unterschiedliche Monographien, nämlich Hitlers Weg - Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus von Theodor Heuss, die Geschichte des Nationalsozialismus - Die Karriere einer Idee von Konrad Heiden, und Deutschland erwache! - Geschichte des Nationalsozialismus von Ernst Ottwalt. Es ist sicher kein Zufall, daß alle drei Bücher im Impressum das Erscheinungsjahr 1932 tragen. Schließlich war es allerhöchste Zeit, sich mit dem Nationalsozialismus genauer zu beschäftigen: Die parlamentarische Demokratie hatte schon 1930 abgedankt; Brüning und sein Minderheitskabinett (Zentrum, Deutsche Staatspartei, Deutsche Volkspartei und einige Splitterparteien) regierten mit der Autorität des Reichspräsidenten, d.h. mit einer Kombination von Notverordnungen und Auflösung des Reichstags aufgrund des § 48. Die SPD war unter dem Druck von Reichspräsident Hindenburg ausgeschaltet worden. Die Deutsche Demokratische Partei, die infolge des allgemeinen Niedergangs des Liberalismus immer mehr Stimmen verlor, verband sich 1930 mit der Volksnationalen Reichsvereinigung und dem Jungdeutschen Orden unter Arthur Mahraun und gründete die Deutsche Staatspartei. Auch das Zentrum hatte sich unter Prälat Ludwig Kaas nach rechts geöffnet. Die Wirkungen der internationalen Weltwirtschaftskrise wurden verstärkt durch Brünings Spar- und Deflationspolitik (Senkung der Löhne und Gehälter, Herabsetzung der Sozialleistungen und der Staatsausgaben, Steuererhöhung); die Arbeitslosenquote stieg bis Ende Dezember 1930 auf 4,4 Millionen. Die Nationalsozialisten errangen nach einem brutal geführten Wahlkampf am 14. September 1930 einen sensationellen Erfolg: Sie konnten ihre Reichstagsmandate von 12 auf 107 erhöhen. Dabei hatte sich Hitler auf ein Bündnis mit den Deutschnationalen (Hugenberg!), einen Teil der Großindustrie, des Militärs und des Großgrundbesitzes gestützt. Die NSDAP demonstrierte durch wirksame Großkundgebungen, Aufmärsche, Fackelzüge und Parteitage ihre Macht und beeindruckte bereits große Teile des mittleren Bürgertums. In dieser Zeit der sogenannten Präsidialkabinette, nämlich am 26. Februar 1931, hielt Theodor Heuss als Reichstagsabgeordneter der Deutschen Staatspartei in Tübingen einen Vortrag über das Thema Ist der Nationalsozialismus Deutschlands Rettung? Dieser Vortrag bildete das Fundament für sein späteres Buch Hitlers Weg, zu dessen Abfassung ihn der Leiter der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart unmittelbar nach dem Vortrag angeregt hatte. Es war die erste breiter angelegte „historisch-politische Studie", die umfassender, sachlicher und kritischer als die reiche Kampfliteratur über den Nationalsozialismus unterrichten woll-
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te. Dabei ist nicht unwichtig, daß Heuss damals bereits 47 Jahre alt war und auf eine lange parlamentarische Erfahrung zurückblicken konnte, als er 1931 die Monographie über Hitlers Weg schrieb, im Unterschied sowohl zu Konrad Heiden als auch zu Ernst Ottwalt, die sich als Zwanzigjährige mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen begannen und als Dreißigjährige in einem Buch über ihre Eindrücke und Erkenntnisse Rechenschaft ablegten.
I. THEODOR HEUSS
Der Schriftsteller, Politiker und spätere Bundespräsident Theodor Heuss (1884-1963) hatte schon als junger Mann seine nationalökonomisch-politischen Interessen mit den literarisch-künstlerischen Neigungen in verschiedenen Funktionen erfolgreich zu verbinden gesucht. 37 Bereits als Student begeisterte er sich für die sozial-liberalen Ideen von Friedrich Naumann (1860-1919), der für ihn wichtigster Lehrer, Vorbild und Freund wurde und mit dessen Anhängerkreis Heuss zeitlebens verbunden blieb. Seit 1905 arbeitete er in der Redaktion von Naumanns Zeitschrift „Die Hilfe". Nach einem relativ kurzen Intermezzo in Heilbronn, wo er von 1912 bis Kriegsende die Redaktion der liberalen „Neckar-Zeitung" übernommen hatte, kehrte er 1918 wieder nach Berlin zurück, wo er größere Wirkungsmöglichkeiten für sich sah und die große Politik aus nächster Nähe beobachten konnte. Zunächst übernahm er die Schriftleitung der Wochenzeitung ,»Deutsche Politik", zu deren Herausgebern die Naumann-Anhänger Ernst Jäckh und Paul Rohrbach zählten. Als diese angesehene Zeitschrift ein Opfer der Inflation wurde, übernahm Heuss 1923 die Schriftleitung der Wochenzeitschrift „Die Deutsche Nation". Er blieb auch ständiger 37
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Zu Theodor Heuss vgl. folgende Publikationen: Theodor Heuss - Der Mann, das Werk, die Zeit. Katalog der Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum, bearbeitet v. Eberhard Pikart unter Mitarbeit v. Dirk Mende. Stuttgart 1967; Eberhard Pikart: Theodor Heuss. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 9. Berlin 1972, S. 52-56; Jürgen C. Heß: Theodor Heuss vor 1933 - Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Denkens in Deutschland. Stuttgart 1973 (= Kieler Historische Studien, Bd. 20), bes. Kapitel X: Verwerfung des Nationalsozialismus, S. 177-191. Der evangelische Pfarrer und Politiker Friedrich Naumann hatte zusammen mit einigen anderen Liberalen 1896 den National-Sozialen Verein gegründet, der 1897 in NationalSoziale Partei umbenannt wurde. Die Partei verstand sich als Initiative zur Integration von Bürgertum und Arbeiterbewegung („Politik der Macht nach außen und der Reform nach innen"). Auch nach dem Scheitern der Partei 1903 faszinierte Naumann durch sein vielseitiges Engagement, u.a. als Mitbegründer des Deutschen Werkbundes 1907, Mitglied des Reichstags (1907/1913), als Herausgeber der Wochenzeitung „Die Hilfe", als politischer Publizist (Mitteleuropa, 1915) und 1919 als Mitbegründer und 1. Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei.
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Mitarbeiter der „Hilfe" und schrieb außerdem Beiträge für mehrere überregionale liberale Zeitungen, seit 1926 auch für die von Gustav Stolper herausgegebene Wochenschrift „Der deutsche Volkswirt". 1918 wurde Heuss auch Zweiter Vorsitzender des „Schutzverbandes deutscher Schriftsteller" (SDS) und bis 1924 Geschäftsführer des „Deutschen Werkbundes", dessen Vorstand er bis 1933 angehörte. Einen Schwerpunkt seiner Tätigkeit bildete jedoch die 1920 eröffnete Deutsche Hochschule für Politik in Berlin, an der er bis 1924 als Studienleiter tätig war und bis 1933 Vorlesungen und Seminare über Themen der Zeitgeschichte, der deutschen Parteien- und Verfassungsgeschichte hielt. Diese Tätigkeit brachte ihn in Kontakt zu politisch engagierten Wissenschaftlern und „aktiven Praktikern" der Politik. Seinem eigenen Einstieg in die Politik war nicht sofort Erfolg beschieden: Vergeblich ließ er sich als Kandidat der noch von Friedrich Naumann 1918 mitbegründeten Deutschen Demokratischen Partei (DDP) für die Verfassunggebende Nationalversammlung aufstellen. 1920 gelang es ihm aber, in die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Schöneberg gewählt zu werden. Von 1924 bis 1928 vertrat Heuss schließlich seine Partei auch im Reichstag und, zwei Jahre später, auch die Nachfolgerin der DDP: Vom September 1930 bis zum November 1932 und vom 5. März bis zum 12. Juli 1933 gehörte er als Abgeordneter der Deutschen Staatspartei nochmals dem Reichstag an. Eine seiner großen Reden galt der Befürwortung des „Gesetzes zur Bewahrung der Jugend vor Schmutz und Schund", das vor allem unter Schriftstellern auf heftige Kritik stieß, da diese darin zu Recht eine Verschärfung der „Restaurationstendenzen" und eine weitere Handhabe zur Ausübung staatlicher Zensur sahen. 39 Heuss legte daraufhin seinen Vorsitz im SDS nieder. Die Öffnung der DDP zur Volksnationalen Reichsvereinigung (Arthur Mahraun) und ihre Umwandlung zur Deutschen Staatspartei trug Heuss, wenn auch skeptisch, mit. 40 Trotz Bedenken stimmte er auch mit den andern vier Abgeordneten der Deutschen Staatspartei am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zu. Theodor Heuss verlor mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten sein Reichstagsmandat und seine öffentlichen Ämter. So konzentrierte er sich auf die ihm verbliebenen publizistischen Möglichkeiten: Er schrieb weiterhin für „Die Hilfe", deren Schriftleitung er bis 1936 innehatte, und vor allem für die „Frankfurter Zeitung" über Themen der Kunst und Literatur, seit 1942 unter Pseudonym. Daneben widmete er sich in diesen Jah39
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Vgl. dazu den kritischen Brief Thomas Manns an Th. Heuss vom 17. Dezember 1926. In: Theodor Heuss: Der Mann, das Werk, die Zeit (Anm. 37), S. 141f. Der SPD-freundliche Teil der DDP (Ludwig Bergsträsser, Anton Erkelenz) ging damals zu den Sozialdemokraten über, die Pazifisten (u.a. Ludwig Quidde) und zahlreiche Jungdemokraten gründeten die Radikaldemokratische Partei.
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ren immer intensiver seinen biographischen Studien, die bis auf die Biographie über Robert Bosch noch erscheinen konnten.41 Die Emigration hatte Theodor Heuss nie ernsthaft ins Auge gefaßt, obwohl ihm der Freund Gustav Stolper dazu geraten hatte.
Hitlers Weg Vor 1930 hatte Heuss die Nationalsozialisten nur gelegentlich und keineswegs warnend erwähnt. Große Zukunftschancen gab er ihnen nicht. 1924 zum Beispiel betrachtete er sie - übrigens wie die kommunistische Bewegung - als typische Inflationserscheinung.42 Noch Anfang 1930, nachdem die Nationalsozialisten in verschiedenen Landtagswahlen beträchtliche Stimmengewinne erreicht hatten, hielt er die völkische Bewegung nicht für eine Gefahr; sie werde immer nur vorübergehende Erfolge haben und wie eine Welle mit dem jeweiligen Stand der Arbeitslosigkeit steigen und fallen. 43 Erst als er sich nach den Septemberwahlen 1930 durch die Lektüre mehrerer programmatischer Schriften und biographischer Darstellungen intensiver mit dem Nationalsozialismus beschäftigte, wurde er sich der unübersehbaren Vitalität der völkischen Bewegung bewußt. Hitler hatte er aber auch damals noch unterschätzt: In seinem Buch Hitlers Weg44 betrachtete er ihn als „großen unermüdlichen Organisator" (119), der einen „zähen Willen" (117) besitze und als wendiger Taktiker alle andern Mitglieder der NSDAP-Führungsriege übertreffe (136ff.) und der darüber hinaus ein virtuoser „nimmermüder Propagandist und Seelenfänger" sei (11), ein „Meister der Gefühlsekstase" (131) mit einem „wachen Gefühl für das Unterbewußte" (132). Wie viele andere, zum Beispiel auch Konrad
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Es handelt sich um die Biographien: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. Stuttgart 1937; Hans Poelzig. Bauten und Entwürfe. Das Lebensbild eines deutschen Baumeisters. Berlin 1939; Anton Dohm in Neapel. Berlin und Zürich 1940; Justus von Liebig. Vom Genius der Forschung. Hamburg 1942. Theodor Heuss' Biographie über Robert Bosch. Leben und Leistung erschien erst 1946 im Wunderlich Verlag, Stuttgart-Tübingen. Theodor Heuss: Reichstagsauflösung. In: Die Deutsche Nation, VI. Jg. (1924), S. 319. Weitere Belege über die Beurteilung des Nationalsozialismus durch Theodor Heuss in der wichtigen Arbeit von Jürgen C. Heß: Theodor Heuss vor 1933 (Anm. 37), bes. S. 179. Theodor Heuß (sie!): Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus. Stuttgart-Berlin-Leipzig: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1932. - Alle folgenden Zitate beziehen sich auf die Neuherausgabe durch das Theodor Heuss Archiv: Theodor Heuss: Hitlers Weg. Eine Schrift aus dem Jahre 1932. Neu hrsg. u. mit einer Einleitung versehen v. Eberhard Jäckel. Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag - Hermann Leins 1968.
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Heiden, 45 hielt er die Passagen über das Wesen der Propaganda in Hitlers Mein Kampf für die „wichtigsten" (129) und präziseren. Bei aller latenten Bewunderung für diese demagogischen Talente hielt er ihn jedoch nicht für einen wirklichen Staatsmann, der eine schlüssige Konzeption seiner Politik entwickle. Er habe weder ein originelles Programm entworfen (19ff.) noch sei er originell im Erfinden von politischen Symbolen; sein „stärkstes Talent" sei das Vereinfachen (LIX). Dem entspreche auch seine Intellektuellenfeindlichkeit und sein Mißbehagen an Debatten. Ihm fehle die Aufrichtigkeit (130). Er sei auch kein begabter Schriftsteller (132), seine literarischen Erzeugnisse hätten „etwas Gequältes" (62). Noch im Mai 1932 soll Heuss in einem Interview mit einer Stockholmer Tageszeitung gesagt haben, daß Hitler nicht die konstruktive Phantasie besitze, die für die Lösung der komplizierten Probleme in Deutschland notwendig sei; überdies umgebe er sich mit Männern, die kompetenten Fachleuten gegenüber sehr mißtrauisch seien. 46 Und daran war ja wohl auch etwas! Heuss wollte zwar in erster Linie die historische Entwicklung und die Ziele der nationalsozialistischen Bewegung bzw. der Partei darstellen, aber die entscheidenden Fragen mußten doch an ihren .Führer' gerichtet werden, ohne den die Partei nicht vorzustellen war. Auch die Frage nach deren Zukunftschancen konzentrierte sich nach Heuss auf die Überlegung, ob sich dieser offen antidemokratische Parteiführer durch Einbindung in die Regierungsarbeit ,zähmen' ließe, also nicht darauf, wie er zu verhindern wäre. Wie viele Zeitgenossen 47 nahm Heuss das Legalitätsversprechen Hitlers ernst und dachte mit seiner psychologischen Argumentation völlig im Rahmen der parlamentarischen Demokratie: Hitler habe sich zwar als Verächter der Masse ausgegeben, aber er könne ohne die Masse nicht sein: „[...] die Agitation, das Atmen mit der Masse, ist der Motor und die Sinnerfüllung seines persönlichen Seins", folglich sei er „selber aus seiner Natur heraus an die Voraussetzungen des demokratischen politischen Betriebs gebunden". 48 Heuss konnte sich offensichtlich nicht vorstellen, wie schnell und wie radikal Hitler Deutschland verändern würde, sollte er einmal an die Macht kommen. Wie stark Heuss' Denken von den eigenen historischen Erfahrungen bis zurück ins Kaiserreich - geprägt war, zeigen auch seine Ausführun45
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Konrad Heiden: Adolf Hitler - Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biographie. Zürich: Europa Verlag, Bd. 1, 1936, S. 223. Über das Interview in der Stockholmer Tageszeitung Nya Daligt Allehanda am 25. Mai 1932 berichtet Jürgen C. Heß, Theodor Heuss vor 1933 (Anm. 37), S. 180. Vgl. dazu Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München 1962, S. 380ff. Wenn Heuss auch an dieser Stelle nicht explicit die vieldiskutierte Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten thematisiert, so suggeriert er doch deren Anpassungswilligkeit, wenn es dahin kommen sollte.
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gen über potentielle Koalitionsabsichten der Nationalsozialisten nach dem Wahlsieg im September 1930. Da sie die parlamentarische Mehrheit nicht erreichen könnten, aber unbedingt an die Macht kommen wollten, sah Heuss das Problem der „Koalition" als „das Problem der NSDAP" an (139f.)· Einerseits ging er davon aus, daß Hitler ernsthaft Koalitionsabsichten verfolge, andererseits glaubte er jedoch, daß die scharfen Koalitionsforderungen nur die Funktion hätten, naheliegende „Koalitionsmöglichkeiten zu zerstören": „Denn neben dem Machttrieb sitzt auch die Angst, es könnte morgen Ernst werden und übermorgen aus sachlichen Verlegenheiten die Krise in die Partei zurückschlagen." (141). Offensichtlich hat Heuss nicht damit gerechnet, daß eine Koalition das Sprungbrett für eine .legale' Machtübernahme sein könnte. Auch in dem schon erwähnten Interview mit einer Stockholmer Zeitung im Mai 1932 meinte er, daß Hitler „Furcht vor der Verantwortung der Macht" habe und ängstlich vor seinen eigenen Leuten sei. 49 Hier manifestiert sich eine der grundlegenden Schwächen des Heussschen Buches: Geprägt von der damals in Deutschland vorherrschenden Schule des Historismus, bemühte sich Heuss um Verständnis für jeden einzelnen Zug Hitlers, auch da, wo zumindest das kriminelle Umfeld der Bewegung es geboten hätte, mißtrauisch und kritisch zu bleiben. Da er nicht auf Distanz hielt, geriet er mehrfach in die Gefahr, einfühlsam die Denkweise Hitlers zu übernehmen oder diese für seine Leser verständlich zu machen bzw. diese aus den äußeren Umständen zu rechtfertigen, statt sie kritisch zu hinterfragen. Ein paar Beispiele mögen das illustrieren. So schrieb er über Hitlers Putsch am 8. November 1923: Nicht er hatte sich über ein Versprechen hinweggesetzt, die geschichtliche Lage [= Zuspitzung der Beziehungen zwischen München und Berlin, d. V.] hatte den Sinn der früheren Abmachungen entwertet und ihm das Recht, wenn nicht die Pflicht auferlegt, mit dem fait accompli der gemeinsamen Grundstimmung Gestalt, Bewegung, Blut zu geben. So sah er den Ablauf der Dinge und blieb dadurch mit sich selber im reinen. (3)
Und wie beurteilte Heuss diesen Coup? „Bewundernswert ist die Spannkraft, mit der er diese böse Geschichte hinter sich brachte" (3), und abschließend: „Der Putsch, sein Ausgang, seine Folgen waren das große Geschenk des Schicksals an Adolf Hitler." (18) Besser hätte es Hitler selbst nicht formulieren können. Kein Wort davon, daß damals aufgrund der Putschgefahren im ganzen Reichsgebiet der Ausnahmezustand erklärt worden war, daß Hitler an der Spitze der radikalen „vaterländischen Kampf49
Jürgen C. Heß: Theodor Heuss vor 1933 (Anm. 37), S. 187.
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verbände" die Diktatur vorbereitete, kein Wort von der dubiosen Rolle des Regierungspräsidenten von Oberbayern, Gustav Ritter von Kahr. 50 Einen großen Teil seines Buches widmet Heuss dem Programm der Nationalsozialisten. Wichtig sind ihm da vor allem Hitlers außenpolitische Konzeptionen, die in den meisten frühen Darstellungen des Nationalsozialismus vernachlässigt worden sind. Hitler benutze diese außenpolitischen Konzeptionen ständig als innenpolitische Waffe, um die Anstrengungen des Kabinetts um die „Wiedergewinnung deutscher Freiheit" (104) zu durchkreuzen. Heuss registriert einerseits das „Nebeneinander eines nüchtern-realistischen Erkennens und Anerkennens der Machtbestände und eines leidenschaftlichen Planens, wie diese Machtbestände beseitigt werden könnten" (96), andererseits tadelt er Hitlers „Hemmungslosigkeit" (99) und das „Ressentiment" (103), das vor allem seine Haltung zu Frankreich bestimme. Die „Bodennahme im europäischen Osten" (99) - das Kernstück von Hitlers außenpolitischen Plänen, emotional gestützt durch seine Verachtung gegenüber den Slawen - lehnt Heuss aus moralischen und volkswirtschaftlichen Gründen ab: Das Recht auf Erde - nach Hitler „das heiligste Recht auf dieser Welt" - könnten ja andere Völker ebenso in Anspruch nehmen wie das deutsche. Im übrigen beweise die Statistik, daß das Bevölkerungswachstum in Deutschland zurückgehe. Heuss erkennt auch klar, daß Hitler mit der Expansion nach Osten einen Weltkrieg riskiert: Hitler weiß, was Krieg ist. Er wehrt sich g e g e n den Vorwurf, daß er zu neuem Krieg treibe, aber er geht von der Erkenntnis aus, daß neuer Krieg sein
muß,
und darauf, daß dieser Krieg für Deutschland siegreich ausgehe, ist die deutsche Außenpolitik abzustellen. (100)
Von Heuss kein Wort des Erschreckens, des Protestes. Dagegen begrüßt er ausdrücklich Hitlers Verzicht auf Kolonialpolitik und den Ausbau der Handelsflotte. Nach dem Wahlerfolg 1930 diagnostiziert Heuss eine Akzentverschiebung in Hitlers außenpolitischen Äußerungen: Unter dem Eindruck der wachsenden Weltmachtgeltung der USA glaube er sich der „angelsächsischen Mentalität" stärker anpassen zu müssen und bitte fast leidenschaftlich um die Anerkennung Deutschlands als Bollwerk gegen Sowjetrußland und die weltrevolutionäre Bewegung (104). 50
Über den Putschrivalen Gustav Ritter von Kahr, dem die „Vereinigten Vaterländischen Verbände" zur Verfügung standen, und dessen Beziehungen zu Hitler macht Heuss nur einige vage euphemistische Andeutungen: „Es gibt in dem Zusammenspiel von Hitler und Kahr, in dem Drum und Dran der Vorbereitung irgendeiner Münchner Tat zur Rettung Deutschlands, noch einige Stellen, die für die Erkenntnis unscharf sind; man hat sie, bei aller Heftigkeit des späteren Kampfes, in einem mildernden Grau belassen [...] Kahr ist eine unglückliche Erscheinung in der Flucht dieser Jahre." (6) Auch Gustav von Kahr wurde mit Empathie bedacht.
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Eine klare Absage erteilt Heuss dem Rassismus und Antisemitismus der Nationalsozialisten. Die rassistische Klassifikation des Volkes (in den „nordischen", „ostischen", „dinarischen" Typ usw.) nannte er ein „kindisches Verfahren" (33), das die Einheit des Volkes gefährde. Das auf Heimat, Sprache, Dialekt, gemeinsamer Sitte und Geschichte beruhende Volksgefühl war für den nationaldenkenden Theodor Heuss ein heiliges Gut, seine Kritik am nationalsozialistischen Antisemitismus eine logische Konsequenz aus dieser Werthaltung des „Volkstums". Hitlers Ausführungen über die Juden hält er daher für „verzerrt und kenntnislos in der Charakteristik der historischen Wirtschaftswirkung des Juden" (40) und in der Tonlage für „subaltern und brutal". (41) Die Herabsetzung der Juden, die Zerstörung jüdischer Friedhöfe beschmutze auch die nichtjüdischen Deutschen: „Wir tragen einen Fleck an uns herum, seit in Deutschland solches, feig und ehrfurchtslos, möglich wurde." (42). Merkwürdigerweise fürchtete Heuss keine Gefahr für die Juden. Hatte er vergessen, daß die Ermordung Rosa Luxemburgs, Walther Rathenaus, Kurt Eisners von antisemitischen Rechtsradikalen besorgt worden war? Er wollte doch in diesem Buch „die zeitgeschichtlichen Bedingtheiten" der Entwicklung herausarbeiten51 - nur warum tut er das gerade in diesem Zusammenhang nicht? Der Antisemitismus reichte in seinen vielen Facetten weit in die Geschichte zurück und war seit Gründung der NSDAP ein integrierender Bestandteil der NS-Bewegung gewesen. Wußte Heuss nicht, daß Nationalsozialisten schon Anfang 1930 acht jüdische Bürger in Berlin ermordet hatten, daß im September 1931 jüdische Gottesdienstbesucher von SA-Männern überfallen worden waren, daß es an der Berliner Universität Ausschreitungen gegen jüdische Studenten und Hochschullehrer gab? 52 Warum also warnte er nur vor einer Gefahr für die Auslandsdeutschen? Denn, so argumentierte Heuss, wenn das nationalsozialistische Programm Fundament der neuen Staatsauffassung werde, so könnte es im Ausland als Rechtfertigung dafür dienen, daß man den dortigen CT
Deutschen die staatsbürgerlichen Rechte entziehe. Möglicherweise ist Heuss auch deshalb um die Juden unbesorgt, weil er davon ausgeht, daß Hitler zu dieser Zeit - 1931! - „diese Melodie" schon nicht mehr spiele: „[...] sie war der Rhythmus seines Münchner Aufstiegs, da Eisner, Toller noch im verstimmten Gedächtnis der Masse saßen." (41) 51
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5j
In der „Vorbemerkung" zu seinem Buch hatte Heuss von dem Versuch gesprochen, „eine geistige Grundhaltung und eine Entwicklung aus zeitgeschichtlichen und persönlichen Bedingtheiten aufzuhellen" (1). Ismar Elbogen/Eleonore Sterling: Die Geschichte der Juden in Deutschland. Eine Einführung. Frankfurt a.M. 1966, S. 292. Theodor Heuss war von 1925 bis 1932 zweiter Vorsitzender des „Bundes der Auslandsdeutschen" und fühlte sich für deren Schicksal besonders verantwortlich.
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Daß Heuss sich tatsächlich der Illusion hingab, Hitler und seine Partei seien, unter dem Druck der parlamentarischen Auseinandersetzung und stärker dem Licht der Weltöffentlichkeit ausgesetzt, auf dem Weg zur Anpassung und Mäßigung, ist wohl auch die einzige Erklärung für die merkwürdigen Analogiebildungen, die sein Buch durchziehen: Kaum ein charakteristischer Wesenszug oder eine ideologische Position der Nationalsozialisten, die nicht von Heuss in Analogie zu Weltbild und Programm der Sozialdemokraten gesetzt wurden. Dieses Analogie-Denken verführte ihn zu den verwegensten Vergleichen und zu einer Verharmlosung der nationalsozialistischen Bewegung; es muß auch auf die Sozialdemokraten damals einigermaßen provozierend gewirkt haben. So habe zum Beispiel Bebels Buch Die Frau und der Sozialismus für die sozialdemokratische Bewegung die gleiche Rolle gespielt wie Hitlers Mein Kampf für die NSDAP (14); der Hitler um 1920 wird verglichen mit Bakunin, der Hitler um 1931 mit August Bebel (138); und nicht zuletzt vergleicht Heuss die Lehren des Marxismus mit der nationalsozialistischen Rassenlehre (31 f.). Da er die ideologische Auseinandersetzung mit dem Marxismus nurmehr für eine „Oberflächenangelegenheit" hielt, hoffte er wahrscheinlich, daß auch der Rassismus bald zu einem „modischen Betrieb" verkomme (78). Im wesentlichen zutreffend erscheinen auch noch aus heutiger Perspektive die von Heuss angeführten Ursachen für den Erfolg des Nationalsozialismus. An erster Stelle nannte er die Abwehrhaltung gegen den Friedensvertrag von Versailles und die französische Nachkriegspolitik, den „verletzten Nationalstolz" der Deutschen. Die Frage nach der Kriegsschuld lehnte Heuss übrigens ab - um des „gemeinsamen Volksgefühls" willen (153f.). Als zweite Ursache für den Erfolg der NSDAP nannte Heuss die desolate Lage der deutschen Jugend, die zu einem großen Teil ohne Arbeit, ohne Zukunftsperspektiven dem Appell an das Irrationale am zugänglichsten sei. Da die Väter ihre Positionen gegenüber den Jungen - den geburtenstarken Jahrgängen von 1908 bis 1911 - zu behaupten suchten, verschärfe die Wirtschaftskrise auch noch den Generationenkonflikt (156f.). Eine dritte Ursache sieht er im Kampf des „Mittelstandes" gegen seine Proletarisierung, gegen den rapiden Verlust von Besitz und Prestige. Diesen dritten Aspekt behandelte er nur sehr kurz, obwohl er das meiste Gewicht hat. 54 Heuss ist auch als Verfasser dieser Analyse in erster Linie Geisteswissenschaftler. Nur so ist erklärlich, weshalb er so viele Seiten und so viel Bedeutung dem schriftlich fixierten Programm der NSDAP zumißt, aber zum Beispiel kaum danach fragt, inwieweit Großkapital und Industrie die 54
S. 163. - Heuss hatte übrigens auch erkannt, daß viele Arbeiter zu den Nationalsozialisten übergelaufen waren, von den .Jungbauern" ganz zu schweigen (164).
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Partei Hitlers unterstützten. Wahrscheinlich hätte Heuss diese Frage schon als ,Vulgärmarxismus' abgelehnt.55 Es fehlten ihm offensichtlich auch sowohl das Interesse als auch das Informationsmaterial über die internen Auseinandersetzungen und Richtungskämpfe der Partei, die ja, wie zum Beispiel die Abspaltung der Gruppe um Otto Strasser 1930, eine Richtungsänderung der Partei anzeigen konnte. Heuss erkennt auch nicht die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus, obwohl er ausdrücklich hervorhebt, daß Hitler viel von dem verehrten Mussolini übernommen habe, wie z.B. die Parteiorganisation (117), die „Schwarzhemden" (bei Hitler sind es die „Braunhemden"), den Gruß mit der gestreckt erhobenen rechten Hand (131f.). Heuss erklärte die Entstehung des Faschismus völlig aus italienischen Voraussetzungen, nämlich als „militaristische Überkompensation der relativen militärischen Erfolglosigkeit der Italiener im Weltkrieg".56 Und auf der anderen Seite berief er sich auf „die staatliche Autorität" in Deutschland, die, „ausweichend oder zugreifend, mit schwierigeren Lagen fertig geworden" sei als Italien und eine nationalsozialistische Machtergreifung zu verhindern wisse (126). Er sah daher auch gar keinen Anlaß, eine Theorie über Entstehung, Mitgliedschaft, Interessen und Ziele dieser neuartigen Massenbewegung zu entwickeln. Im Unterschied zu den meisten andern Autoren, die über den Nationalsozialismus schrieben, hat sich Heuss jedoch sehr deutlich über die „antifeministische" Tendenz der NSDAP geäußert (133f.). Wahrscheinlich sehe Hitler in der Frauenemanzipation „eine der infamen Machenschaften des Judentums" oder interpretiere sie zumindest als „eines der vergifteten Geschenke der westlichen Demokratie" (134). Er berichtet auch über die Vorstellungen Alfred Rosenbergs, der „aus Gründen der rassischen Regeneration" den Wert der Frau ganz auf die Mutterschaft reduziere und „die kinderlose Frau (ihre Rassetüchtigkeit vorausgesetzt)" für „eine verlorene Chance" halte (134). Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise werden sich daher die Wirkungsmöglichkeiten für die berufstätige Frau und für die politisch tätige Frau im besonderen verschlechtern. Das komme allerdings breiten Schichten der männlichen Bevölkerung entgegen, die sich mit der Emanzipation der Frauen noch nicht abgefunden hätten. Dem Erfolg der Nationalsozialisten habe dieser Antifeminismus bei den weiblichen Wählern kaum geschadet. Zusammenfassend muß festgestellt werden, daß Theodor Heuss die nationalsozialistische Ideologie grundsätzlich ablehnt, wenn auch nicht ohne 55
56
So erwähnt Heuss S. 122 den Bettelbrief Hitlers an Robert Bosch, erklärt aber eilfertig, daß in den Fragen nach den Parteifinanzen viel Pharisäertum stecke: „Man wird von Hitler oder Goebbels nicht verlangen können, daß sie sich spröde zeigen, wenn ihnen von begeisterten Damen größere Beträge zur Verfügung gestellt werden." Zitiert nach Jürgen C. Heß, Theodor Heuss vor 1933 (Anm. 37), S. 177.
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eine gewisse Bewunderung und Achtung von den organisatorischen und propagandistischen Leistungen Hitlers. Aber seinem vorwiegend geistesgeschichtlich geschulten Blick entging doch das Neuartige und Bedrohliche des Nationalsozialismus: die verführerische Wirkung der großen Machtdemonstrationen, der Aufzüge, Parteitage, Kundgebungen mit dem propagandistischen Einsatz der neuen Medien (Rundfunk, Film), die Bejahung des Terrors, die ungeheure Brutalität des Nationalismus und Rassismus und vor allem das Ziel dieser antidemokratischen, militärisch organisierten, auf dem Führer-Gefolgschafts-Prinzip basierenden Massenpartei: die Errichtung einer nationalen Diktatur. Er sah nicht, wie bedroht die Welt seiner eigenen Werte war, und er übersah vor allem, wie stark das öffentliche Leben, die Justiz, die Verwaltung, das Militär und die Universitäten bereits vom Rechtsradikalismus durchsetzt waren und wie viel Boden die bürgerlichen Parteien, zu denen Heuss sich ja zugehörig fühlte, bereits preisgegeben hatten. Das erklärt, weshalb dieses Buch nicht mahnt, rät, kämpft, sondern allenfalls indirekt eine Warnung ausspricht und mit seinem optimistischfreundlichen Grundton eine eher verharmlosende Wirkung hat. Das Buch fand eine überraschend große Resonanz: Die Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart druckte im ganzen bis Ende März 1932 acht Auflagen. Wie hoch die einzelnen Auflagen waren, ist unbekannt, da das Verlagsarchiv verbrannte. Außerdem erschienen eine schwedische, eine italienische und eine holländische Übersetzung schon im Frühjahr 1932. Und 36 Jahre später veröffentlichte Eberhard Jäckel diese Schrift von Theodor Heuss nochmals, mit den Vorbemerkungen von Heuss zur 6. und 8. Auflage und einer ausführlichen Einführung, die auch über die Wirkungsgeschichte des Buches informiert. 57 Fast alle großen demokratischen Zeitungen brachten positive Besprechungen, die den vornehmen Gegner Hitlers würdigten und das Buch als „sehr gut geschriebene[n] Baedeker durch den Nationalsozialismus" empfahlen. 58 Kritisch äußerte sich nur das „Berliner Tageblatt": Das Buch wolle sicher eine kritische Einstellung vorbereiten, es fehle ihm jedoch „die Schärfe der .politischen' Wehrstellung gegen das, was am Nationalsozialismus nicht ideologisch, sondern höchst robust ist [...]", 59 und, schärfer noch, der „Vorwärts": 57
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Die Neuausgabe erfolgte als photomechanischer Nachdruck; sie enthält außer der Einführung von Eberhard Jäckel die späteren Ergänzungen und Korrekturen von Theodor Heuss, einen ausführlichen Anmerkungsapparat und ein Personenregister mit biographischen Angaben. Die folgenden Anmerkungen beziehen sich auf die Einführung von Eberhard Jäckel (S. XI-XLIV). Frankfurter Zeitung vom 31. Januar 1932, zit. nach Theodor Heuss: Hitlers Weg (Anm. 44), Einleitung S. XXII. Berliner Tageblatt vom 10. April 1932, zitiert nach Theodor Heuss: Hitlers Weg (Anm. 44), Einleitung S. XXIV.
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Kann man, darf man nur Verständnis aufbringen, w o sich Gewalt, Brutalität, Terror und bewußte Unvernunft in dieser Bewegung organisiert und gesammelt haben? [ . . . ] Heuß steht in keiner Massenbewegung; es fehlt ihm der feste Bezugspunkt, von dem aus er die nationalsozialistische Bewegung einordnen kann. Der Faschismus fügt sich keiner idealistischen Humanität [ . . . ] . 6 0 T h e o d o r H e u s s hatte auf d i e s e Kritik erwidert, daß m a n s e i n e „ S p r a c h e der Ironie" n i c h t verstanden h a b e , g e s t a n d aber, als n a c h s e i n e r W a h l z u m B u n d e s p r ä s i d e n t e n die D i s k u s s i o n u m d i e s e s B u c h n o c h e i n m a l a u f flackerte,
e i n e g e w i s s e S c h w ä c h e zu, i n d e m er auf d i e E r z i e h u n g s e i n e s
Vaters v e r w i e s : Er hat, selber ein sehr bewegter ,Politiker' bezirklicher Art, mir eine Erziehung bürgerlicher Anständigkeit gegeben, in der das Verbrechen als aktuelle Form des öffentlichen Lebens nicht vorkam. Unsere Phantasie, auch wenn wir einige Übersicht über Greuel des historischen Geschehens besaßen, reichte nicht so weit, das Verbrechen als institutionelle Form staatlichen Wirkens einzusetzen. 61
II. K O N R A D HEIDEN D e r P u b l i z i s t Konrad
Heiden
( 1 9 0 1 - 1 9 6 6 ) 6 2 war z w a r in M ü n c h e n g e b o -
ren, hatte aber n a c h d e m frühen V e r l u s t der Eltern - d i e Mutter, ü b r i g e n s 60
61
62
Vorwärts vom 12. März 1932; zitiert nach Theodor Heuss: Hitlers Weg (Anm. 44), Einleitung S. XXIV. Theodor Heuss. In: Der Spiegel, 13. Jg., Nr. 21 (20.5.1959), S. 24f. Zitiert nach Theodor Heuss: Hitlers Weg (Anm. 44), Einleitung S. XXXI. Das erklärt, weshalb sich die Nationalsozialisten überhaupt nicht getroffen fühlten, wie die Tagebucheintragung von Joseph Goebbels am 24. Januar 1932 bestätigt: „Ich lese eine Broschüre, die ein Demokrat über .Hitlers Weg' geschrieben hat. Das ist alles so dumm, daß es kaum einer Beachtung wert erscheint. Die bürgerliche Welt versteht uns nicht und kann uns wohl auch nicht verstehen. Ihre Argumente gehen haarscharf an den eigentlichen Wesenheiten unserer Bewegung vorbei." (Joseph Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, Berlin 1934, S. 31; zitiert nach: Theodor Heuss, Hitlers Weg [Anm. 44], Einleitung von Eberhard Jäckel, S. XXVI). Über Konrad Heiden vgl. die biographischen Angaben in: 1) Exil-Literatur 1933-1945, Katalog der Ausstellung der Deutschen Bibliothek in Frankfurt a.M., hrsg. v. Werner Berthold unter Mitarbeit v. Christa Wilhelmi. Frankfurt am Main 1965, S. 59. - 2) Neue Deutsche Biographie. Hrsg. v. der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 8, Berlin 1969, S. 246f. (Verfasser des Beitrags ist Werner Maser). - 3) Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-Bibliographisches Handbuch, begr. von Wilhelm Kosch. Dritte, neu bearb. Aufl. Bd. 7, hrsg. v. Heinz Rupp u. Carl Ludwig Lang, Bern u. München 1979, Spalte 658. - 4) International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933-1945, hrsg. ν. Herbert A. Strauss u. Werner Röder. Bd. II, Teil 1, München-New York-London-Paris 1983, S. 474f. Von Konrad Heiden existiert nur ein Teilnachlaß mit Manuskripten und Korrespondenzen aus den Jahren 1941-1966 im Institut für Zeitgeschichte in München.
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russisch-jüdischer Herkunft, starb schon 1906 - seine entscheidenden Jugendjahre im Hause des Frankfurter Anwalts und Rechts Soziologen Hugo D. Sinzheimer (1875-1945) verbracht. Sinzheimer, der seit 1920 als ordentlicher Honorarprofessor für Arbeitsrecht und Rechts Soziologie an der Universität Frankfurt und an der von ihm mitbegründeten Akademie für Arbeit bis zu seiner Verhaftung im März 1933 lehrte, war auch politisch sehr aktiv: Seit 1914 Mitglied der SPD, betätigte er sich als Stadtverordneter in Frankfurt und war 1919/20 als Mitglied der Weimarer Nationalversammlung maßgeblich an der Ausarbeitung der Reichsverfassung beteiligt. 63 Der Einfluß dieser politisch und sozial engagierten Persönlichkeit auf Konrad Heiden kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Von 1919 bis 1923 studierte Heiden Geschichte und Germanistik 64 an der Universität München, wo er 1922 den Demokratischen Studentenbund gründete und leitete. Schon als Student wurde Heiden Assistent bei dem Zeitungswissenschaftler und Journalisten Otto Groth (1875-1965), dem Münchner Korrespondenten der „Frankfurter Zeitung", der ihm dann auch den Weg für eine freie Mitarbeit an diesem angesehenen linksliberalen Blatt ebnete. 1929 trat er dem Redaktionsverband der „Frankfurter Zeitung" bei, die ihn anschließend als politischen Korrespondenten nach Berlin schickte. Die Einflußnahme der Großindustrie auf den politischen und wirtschaftspolitischen Teil der „Frankfurter Zeitung" veranlaßten Heiden jedoch sehr bald, seine Kündigung einzureichen. 65 Von 1931 bis zu seiner Emigration 1933 war Konrad Heiden nur noch als freier Mitarbeiter, vor allem für die „Vossische Zeitung", tätig. Heiden hatte seit den frühen zwanziger Jahren in München den Aufstieg der NSDAP aus nächster Nähe beobachtet; er besuchte deren Versammlungen und lernte Hitler sowie die wichtigsten Nazi-Führer kennen. Die abkürzende Bezeichnung , Nazi4 soll übrigens von ihm erstmals und mit negativem Akzent verwandt worden sein. Noch im Herbst 1932 war in einer Auflage von 5.000 Exemplaren seine Geschichte des Nationalsozialismus bei Rowohlt in Berlin erschienen. Aufgrund dieses Buches, das als eines der ersten bei den Bücherverbrennungen im Mai 1933 den Flam63
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Es ist wohl kein Zufall, daß Behemoth (1942), die umfassendste und kenntnisreichste zeitgenössische Analyse des Nationalsozialismus, von dem Soziologen und Politologen Franz L. Neumann (1900-1954) stammt, der von 1923 bis 1927 wissenschaftlicher Assistent Hugo Sinzheimers war. Die Angaben über die Studienfacher Heidens differieren. Nach den Angaben im Katalog Exil-Literatur 1933-1945 (Anm. 62, 1) habe Heiden „Rechts- und Wirtschaftswissenschaften" studiert. Ich stütze mich hier auf die Angaben in der Neuen Deutschen Biographie (Anm. 62, 2) und im International Biographical Dictionary (Arim. 62, 4), die die meisten Informationen über Heiden enthalten und auch deshalb wahrscheinlich richtig sind, weil Heiden in seinen Büchem gerade für (verfassungsrechtliche und wirtschaftliche Fragen kaum Interesse bekundet. Diese Information enthält nur Werner Masers Artikel in der NDB (Anm. 62, 2).
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men übergeben und anschließend konfisziert wurde, und aufgrund seiner SPD-Mitgliedschaft gehörte Heiden zu den meistgefährdeten Emigranten. Er floh zunächst nach Zürich, wo er sein nächstes Buch Geburt des Dritten Reiches - Die Geschichte des Nationalsozialismus bis 1933 fertigstellte, das dann dort im Europa Verlag 1934 erschien und auch ins Englische, Französische und Spanische übersetzt wurde. Der größte Erfolg war seine zweibändige Hitler-Biographie, die 1936/37 ebenfalls im Europa Verlag erschien, mehrere hohe Auflagen erlebte und fast gleichzeitig auch in London, New York und Paris herauskam. Nach einem kurzen Aufenthalt im Saarland floh Heiden 1935 nach Frankreich, wo er sich im Juli 1935 an der Konstituierung des „(Vorläufigen) Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront" beteiligte, bei den späteren Zusammenkünften als Vertreter der wiedergegründeten „Liga für Menschenrechte". Nach dem Scheitern der Volksfront griff er 1939 sehr engagiert in die Diskussion über das zukünftige, von den Nationalsozialisten befreite Deutschland ein, eine Diskussion, die Leopold Schwarzschild durch ein paar provozierende Artikel im „Neuen TageBuch" entfacht hatte. Schwarzschild rechnete mit einem Weltkrieg und konnte sich einen „geistigen" Wiederaufbau im Nachkriegsdeutschland nur durch die Siegermächte vorstellen. Heiden appellierte dagegen an den „Antifaschismus" der Emigranten, der zu der Hoffnung berechtige, daß die Deutschen die „Erziehung zur Demokratie" selbst leisten könnten und auch sollten! Erziehung könne nicht importiert werden. 66 Nach Kriegsausbruch mehrere Monate interniert, gelangte Heiden schließlich als Schützling Varian Frys, also mit Hilfe des „Emergency Rescue Committee", das ihm einen gefälschten Paß ausstellte, und eines „Emergency Visa" über Lissabon nach New York. Dort und in Berkeley schrieb er sein Buch Der Führer,67 das nach Erscheinen 1944 als „Book of the Month-Club" ausgezeichnet wurde. Heidens Arbeiten über Hitler und den Nationalsozialismus dienten bis in die 60er Jahre als wichtiges Quellenmaterial für historische Darstellungen des Nationalsozialismus und Hitler-Biographien, nicht selten ohne Nennung des Autors. Konrad Heiden kehrte nur noch einmal vorübergehend nach Deutschland zurück, als er im Auftrag des „Life Magazine" 1951 das Land bereiste und darüber in der Zeitschrift berichtete. Die letzten fünf Lebensjahre 66
67
Vgl. dazu Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 4: Exilpresse. Stuttgart 1978, S. 119ff. Konrad Heiden: Der Führer: Hitler's Rise to Power. Boston 1944. Die Monographie erschien noch im selben Jahr auch in London und in Stockholm. - Auch die zweibändige Hitler-Biographie, die 1936/37 im Europa Verlag herausgekommen war, erschien gleichzeitig, d.h. noch 1936 in englischer Übersetzung in London und New York und in französischer Übersetzung in Paris.
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verbrachte er schwerkrank (Parkinson) in einem New Yorker Pflegeheim, wo er am 18. Juli 1966 verstarb.
Geschichte des
Nationalsozialismus
Ein Thema hat das ganze Leben des Publizisten Konrad Heiden beherrscht: Die Entwicklung des Nationalsozialismus, die Physiognomie seiner Führerpersönlichkeiten, besonders die Adolf Hitlers. Er hatte die nationalsozialistische Bewegung und ihre Partei von Anfang an in der Gründungszelle München beobachten können und als politischer Publizist nicht nur die großen liberalen Zeitungen, sondern auch den „Völkischen Beobachter" regelmäßig gelesen: Diese Zeitung - zunächst nur als Wochenblatt erschienen - nannte er mehrfach als ergiebige Informationsquelle: Die damals noch kleine Partei hatte sie schon Ende 1920 gekauft mit Geldern der Reichswehr, zu der sie von Anfang an gute Beziehungen unterhielt. Konrad Heiden kannte auch die meisten Hitler-Vertrauten der ersten Stunde persönlich und bezog so manche vertrauliche Information von ihnen, leider ohne diese Herkunft zu vermerken. Das gilt besonders von Reinhold Hanisch, dem Kompagnon Hitlers in Wien, von Dietrich Eckart, dem Chefredakteur des „Völkischen Beobachters" und „besten finanziellen Werber der Partei", und Anton Drexler, dem ,Vater' der Deutschen Arbeiterpartei, der sich 1925 von Hiüer trennte, weil er mit der neuen Führungsriege Esser und Streicher nicht mehr zusammenarbeiten wollte. Kaum ein anderer kannte die Talente und Schwächen dieser ersten Nationalsozialisten so gut wie Konrad Heiden, kaum ein anderer, der außerhalb der Bewegung stand, wußte so viel von den divergierenden Ambitionen, Interessen und Intrigen in dieser Partei. Das wurde Konrad Heiden nicht nur von späteren Historikern attestiert, die über mehr Distanz und Kenntnisse verfügten, da ihnen das Archivmaterial zur Verfügung stand und da sie wußten, wie die Geschichte ausgegangen war, sondern auch Zeitgenossen bezeugten, daß Heiden Anfang der dreißiger Jahre als der beste Kenner des Nationalsozialismus galt - neben Walter Gyssling, dem Archivar des „Büro Wilhelmstraße", der bereits erwähnten Tarnorganisation des „Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens".68 Heidens Buch ist sicher das informativste, das von einem außenstehenden Zeitgenossen vor 1933 über die nationalsozialistische Bewegung geschrieben wurde. Es ist wohl auch das stilistisch brillanteste über die Geschichte des Nationalsozialismus bis 1932. Heiden hatte wirklich die 68
Vgl. S. 120f. dieser Arbeit u. Anm. 15.
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„Sprache der Ironie" (Th. Heuss) beherrscht, die eine Distanz zwischen Darsteller und Dargestelltem schuf. Die große Stärke des Buches liegt in der Charakterisierung der führenden Nationalsozialisten, deren Ambitionen, Widersprüche und Verstiegenheiten Heiden analysiert und psychologisch verständlich macht. Das gilt natürlich in erster Linie für Hitler selbst, dessen negative und gefährliche Seiten Heiden durchaus erkennt. Dem unreifen Egozentriker gehe völlig der gesunde Menschenverstand ab, Achtung und Empfinden für den Mitmenschen fehlten ganz. Er habe keine Freunde, und die Kameraden in der Kompagnie hielten ihn für verrückt. Aber der „Führer" der NSDAP, der vom einfachen Mitglied und „bescheidenen .Trommler'" (50) zum größten Redner und „Cäsar der Propaganda" (51) aufgestiegen sei, wird von Heiden auch positiv beurteilt. Er charakterisiert ihn als intelligent, lernfähig, fleißig, beharrlich, als ein „kombinierendes Talent" (11), das ungewohnte Situationen rasch erfasse. Ursprünglich ein konservativer Untertan, ein Verehrer Friedrichs des Großen und Bismarcks, der nur malen oder bauen wollte, habe er die Revolution als einen „Angriff auf sein Innerstes" (59f.) empfunden und protestiert: „Temperament genug hat er, den Protest bis zur Gegenrevolution zu treiben, aber seiner Denkweise läuft alles Revolutionäre schnurstracks zuwider. Der Mann des Führerprinzips, des autoritären Staatsgedankens, der Verehrer Bismarcks lebt nunmehr seit vierzehn Jahren gezwungen als Revolutionär." (60) Ein Führer, der sich letztlich „nach Beherrschung sehnt" (60). Quer zu diesem politischen Bruch laufe der persönliche seines Bildungsgangs. Obwohl intelligent und mit einem erstaunlichen Gedächtnis begabt, sei er als Schüler gescheitert und habe seine Examina verbummelt. Das erkläre seine Unsicherheit gegenüber denen, die in bürgerlichen Berufen zu Ansehen und Titeln gekommen seien, denen er entweder servil oder brüsk begegne: „Überkompensation ist ein Wesenszug dieses einseitigen Talents." (62) Letztlich scheint aber auch Heiden die Widersprüche dieses „flackernden, beeinflußbaren, aber ständig explodierenden Temperaments" (54) nicht erklären zu können: Er sei kein Instinktmensch, der „dank einem hellseherischen Verhältnis zur Volksseele" (63) das ausspreche, was diese erwarte; so sähen ihn seine Gegner. Was ihn eigentlich auszeichne, sei eine „zwingende Folgerichtigkeit des Denkens" (63), eine logische Begabung, Mut, aus „einer gegebenen Situation die unabweisbaren Folgerungen zu ziehen" (63). Nur stimmten leider die Voraussetzungen seiner scharfsinnigen Schlußfolgerungen, nämlich seine Wahrnehmungen nicht; sie seien „fahrig, schnellfertig und weltfremd" (64). Auch Heiden berichtet immer wieder von Widersprüchen und Sprüngen in Hitlers Denken (94f.) und kennzeichnet diese auch als solche. Aber wenn Hitler seinen Irrtum eingesehen habe, sei er - auch im Handeln - bereit gewesen, daraus Konsequenzen zu ziehen. Heiden spricht
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ihm einerseits „einen stetigen Willen" ab und beschreibt seine Unbeherrschtheit, „das hysterische Schäumen", auch im privaten Gespräch, die Unfähigkeit, eine Niederlage einzustecken (62f.), und dann andererseits, nicht ohne Bewunderung, seine „Willenskraft", mit der er tage-, ja wochenlang sein taktisches Verhalten einübe und dann losschlage (70f.). Einerseits beurteilt er ihn als leicht beeinflußbar (54): Dankbar habe Hitler Gottfried Feders Vorstellungen von der Brechung der Zinsknechtschaft, einer nationalorientierten Bodenreform amalgamiert, die dann in das Programm der Deutschen Arbeiterpartei Eingang fanden (für Hitler aber nie verbindlich waren); er amalgamierte seiner Weltanschauung auch die besonderen Facetten von Alfred Rosenbergs Antisemitismus und Antibolschewismus und die Doktrinen des Sudetendeutschen Rudolf Jung vom Niederschlag des jüdischen Geistes in Bolschewismus, Parlamentarismus, Liberalismus und Christentum. Andererseits stellte Heiden skeptisch fest: „Dieser Mann, der aus einer Stimmung in die andere fällt, hält an seinen Meinungen mit einer Zähigkeit fest, daß er die politischen Dilettanten langweilt [...]" (71f.). Auch die Tendenz zur Gewalt beschönigt Heiden nicht: Schon zu Beginn der zwanziger Jahre seien Ordnungsmänner der Partei nachts durch die Straßen gezogen, provozierten Schlägereien, und der „Völkische Beobachter" feierte am Tage darauf den „Geist rücksichtslosen Draufgehens" (40). Schon von Beginn an hätten Ordnertruppen nicht nur in den eigenen Versammlungen Zwischenrufer überwältigt und hinausgeworfen, sie sprengten auch gegnerische Versammlungen und hinderten die Teilnehmer durch Gewalt an der Wahrnehmung des alten liberalen Rechts auf Diskussionsfreiheit. Auch die ersten Mordandrohungen gab es schon 1920, als Hitler am 28. April erklärte: Wir fordern, daß die Nationalverbrecher, angefangen von Erzberger bis Simons (der spätere Reichsgerichtspräsident) einschließlich des ganzen parlamentarischen Gesindels, das sich an ihren Verbrechen mitschuldig gemacht hat, vor einen Staatsgerichtshof gestellt werden. Wir erwarten aber unbedingt, daß unsere Verderber nicht den Tod erleiden durch eine ehrenvolle Kugel, sondern durch den Strang. (52)
Unverkennbar ist jedoch in Heidens Schilderung - trotz Distanz und Kritik - eine latente Bewunderung für den Diktator, dem er ein ganz beachtliches Quantum an Rationalität, ja Intellektualität und Modernität zugesteht. Nicht nur der Inhalt, auch die Färbung seiner Worte verrät diese Einschätzung. 69 Er nennt Hitlers Mein Kampf ein „vorzügliches Buch" 69
Als Beispiel möge der Passus über Hitlers „Weltbild" genügen: „[...] in sich ist es so geschlossen, so reich an aufeinander abgestimmten Zügen wie keines seiner Tendenz vor ihm. Irrtümer mögen vorhanden sein, aber sie sitzen an der richtigen Stelle. Die einzelnen Züge stammen von fremden Paletten; ihre Zusammenfügung ist das Werk eines starken Kopfes, der nicht die Wahrheit, aber den Entwurf einer interessanten Welt zustandegebracht hat. Der Geist, der dieses System zusammenbaute, siegt mit ihm über die Tatsachen" (70).
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(64) und findet die rhetorische Umgestaltung antisemitischer Pamphlete „genial" (67). Die banalen Gemeinplätze, die Hitler als seine Auseinandersetzung mit den Problemen der Zeit, mit Marxismus und Parlamentarismus offeriert, stilisiert Heiden - trotz aller Vorbehalte - zu „scharfen Überlegungen" (64). Wie die Mehrheit der Zeitgenossen vertraute Heiden auch Hitlers Berichten über eine frühe Lungenkrankheit, die angeblich durchlebte Armut im Elternhaus, den konsequenten Entschluß zur Politik und all den andern „Kunstgriffen", mit denen der „arbeitsscheue Phantast" seine Autobiographie schmückte; diese Legenden entlarvten erst spätere Historiker. 70 Der Sinn für das Individuelle prägte auch Heidens Darstellung der Partei, die weitaus eindringlicher und konkreter ausfällt als bei jedem anderen zeitgenössischen Geschichtsschreiber der NSDAP. Indem er sich auf die verschiedenen Temperamente und Ziele der führenden Persönlichkeiten konzentriert, zeigt er, daß die Partei keinen monolithischen Block bildete; nicht einmal in ihren Anfängen war sie das. Das Ordnungsprinzip in Heidens Darstellung ist der chronologische Ablauf. Das wirkt sich vorteilhaft für die Entwicklungsgeschichte der Partei aus: Nirgendwo sonst ist die Mauserung von der ursprünglich kleinbürgerlichen Reformpartei zur rechtsradikalen Massenpartei so beeindrukkend geschildert worden. Dem kommt auch das erzählerische Talent Heidens zugute: Er verfügt über Witz und Ironie, über ein breites Spektrum sprachlicher Möglichkeiten vom nüchternen Bericht bis zum dramatischen Dialog, vom kraftvollen Bild bis zum unaufdringlichen Parlando des distanzierten Kommentators. Aber eben da manifestieren sich auch die Schwächen des Autors: Das dominierende erzählerische Element und die chronologische Ordnung lassen systematische Ansätze, wie zum Beispiel eine Diskussion über die Ursachen des Nationalsozialismus, verkümmern. So hat Heiden zum Beispiel mit Recht darauf hingewiesen, daß nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur in der Arbeiterschaft und bei den Soldaten, sondern auch im Bürgertum das Gefühl vorherrschte, daß eine Revolution, eine völlige Neuordnung notwendig sei (37f.). Aber die Regierung unmittelbar nach Kriegsende scheute das Experiment und zog Ruhe und Ordnung vor. Nach Heiden habe sich aus den frustrierten, nicht erfüllten Revolutionshoffnungen wenig später die Gegenrevolution der Nazis entwickelt (37). Diesen Ausführungen folgt ein Porträt Hitlers und ist ein Kapitel über die Vorausgänger der Nationalsozialisten in Böhmen, Mähren und Österreich vorangestellt. Dieses Nebeneinander hat eine neutralisierende Wirkung: Wenn schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Böhmen und Mähren 70
Dazu Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung - Struktur - Folgen des Nationalsozialismus. 6., erw. Aufl. Köln 1980, S! 61 ff.
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deutschnationale Arbeitnehmervereine gegen tschechische Unternehmer und deutsche Sozialdemokraten antraten, dann fragt sich der Leser, ob durch diese Tatsache nicht die Theorie von den enttäuschten Revolutionshoffnungen 1918/19 entwertet wird und wie denn diese ursprünglich regionalen ideologischen und sozialen Auseinandersetzungen plötzlich in ganz Deutschland eine explosive Sprengkraft entwickeln konnten. Heiden hatte versäumt, die politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus genauer und zusammenhängend zu erörtern. Bezeichnend für diesen Mangel ist schon das Eingangskapitel über den „Dreifachen Ursprung", in dem als erster Ursprung „das Werk einiger, meist norddeutscher Intellektueller aus den Jahren 1926/28" genannt wird (es folgt keine weitere Erklärung: Meinte er Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg? Merkwürdig auch, daß er in diesem Zusammenhang nicht die Brüder Strasser nennt, für die er doch eine gewisse Achtung hatte); als zweiter immerhin die „Erbmasse der riesigen Vaterlandspartei und des Alldeutschen Verbandes" (allerdings geht Heiden kaum mehr auf diesen Faktor ein). Als dritten „Ursprung" nennt er die Reichswehr und die eigentlichen „Gestalter" Adolf Hitler und Ernst Röhm (7). Die Reichswehr, nach dem Ersten Weltkrieg aus kampflustigen Freikorps rekrutiert, war alles andere als republikfreundlich, und als die Entente die deutsche Armee auf 100.000 Mann begrenzte, sorgten ihre monarchistisch gesinnten Offiziere sehr schnell dafür, daß kein Republikaner mehr in ihren Reihen diente. Konrad Heiden hat zwar an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß sowohl die antisemitische und antikommunistische Thüle-Gesellschaft als auch die Reichswehr, die über Geld und Waffen verfügte, eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der NSDAP gespielt haben. 71 Aber er informiert nicht darüber, daß es eine große Anzahl von ähnlichen deutschvölkischen Vereinigungen, paramilitärischen Organisationen und Geheimbünden gab, die Kontakt untereinander hatten und die alle das gemeinsame Interesse verband, in Deutschland wieder eine schlagkräftige Wehrmacht aufzubauen, die Weimarer Republik zu beseitigen, alles Internationale und Antinationale zu bekämpfen; es verband sie das Interesse an der Niederschlagung revolutionärer Unruhen, an der Bekämpfung der Sozialdemokratie, der linksradikalen Parteien und nicht zuletzt - der Juden. Dabei standen sie in Verbindung mit einigen wirtschaftlichen Interessenverbänden, die - wie zum Beispiel der mitgliederstarke „Deutschnationale Handlungsgehilfenverband" - mit dem Instrument des Antisemitismus gegen die „Linken" und gegen „die Erfüllungspolitik der Judenrepublik" kämpften. Wenn auch nicht zu allen diesen Organisationen ein Verhältnis der Zusammenarbeit, ja bisweilen sogar Gegensätze bestanden, so konnte Hitler doch deren Mitglieder als ein poten71
Konrad Heiden: Geschichte des Nationalsozialismus (Anm. 1), S. 12f. und 81ff.
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tielles Reservoir für seine Partei betrachten. Man hatte es also nicht mit einem einsamen, steil aufsteigenden „Euphorion" (295) zu tun, zu dem Heiden Hitler in seinem Schlußkapitel stilisierte, sondern mit einem geschickten Taktiker und Demagogen, der sich 1923 auch an die Spitze der „Arbeitsgemeinschaft der vaterländischen Kampfverbände" manövrierte, die militantere der beiden nationalistischen Dachorganisationen in Bayern. Obwohl Heiden berichtet, daß Hitler einige äußere Symbole des italienischen Faschismus (z.B. den Gruß mit dem gestreckten Arm; die „Braunhemden") übernahm und Mussolinis kampfloser Marsch auf Rom Hitler und dessen Anhänger sehr beeindruckt habe, diskutiert er an keiner Stelle die Frage, ob es zwischen dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus strukturelle Gemeinsamkeiten gebe. Ende der zwanziger Jahre ging man ja auch in sozialdemokratischen Kreisen von der Annahme aus, daß der Faschismus eine „internationale Erscheinung" sei, die latent in allen Ländern Europas vorhanden sei, wenn es auch höchst unterschiedliche Ausprägungen gebe. Aber an solchen theoretischen Diskussionen hatte Heiden offensichtlich kein großes Interesse. 72 Auch die Frage nach der sozialen Basis der Partei bzw. nach der sozialen Herkunft der Führungselite hat Heiden nicht systematisch erörtert, obwohl er durch seine persönlichen Kontakte zu Erkenntnissen kam, die den Zeitgenossen meist noch verschlossen blieben. So wies er schon in seinem ersten Buch darauf hin, daß keineswegs nur der verarmte Mittelstand in Hitlers Partei strömte, sondern daß sich auch Akademiker von dieser Partei angezogen fühlten und bis in die Spitzenpositionen aufstiegen und daß die NSDAP sich als eine Partei der Jugend und in Opposition zu den traditionellen Honoratiorenparteien der Mitte verstand. Im Fortsetzungsband Geburt des dritten Reiches äußert sich Heiden dann etwas kritischer und differenzierter zu dieser Frage. Zu wenig berücksichtigt hatte Heiden in seinem ersten Buch auch das Verhältnis Hitlers zu Großindustrie und Finanzkapital. Man kann natür72
Diese Diskussionen über den .Faschismus' wurden seit 1929 vor allem in der sozialistischen Zeitschrift „Die Gesellschaft" ausgetragen. Dabei griff man häufig auf die Bonapartismus-Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels zunick, nach denen das autoritäre Regime des französischen Kaisers Louis Bonaparte (1852-1870) aufgrund eines „Gleichgewichts der Klassenkräfte" entstanden sei: Die Revolution von 1848 habe die französische Bourgeoisie so sehr geschwächt, daß sie nicht mehr in der Lage gewesen sei, die politische Macht im Parlament zu behaupten; das Proletariat sei dagegen noch nicht stark genug gewesen. Aus Angst vor einer sozialen Revolution hätten die Repräsentanten daher die politische Macht an Louis Bonaparte abgetreten. - Diskutiert wurde auch, ob der Begriff des .Faschismus' ohne weiteres auf andere Länder übertragbar sei, wobei jedoch Einmütigkeit darüber bestand, daß er latent in allen kapitalistischen Ländern vorhanden sei. Vgl. dazu Wolfgang Wippermann: Faschismustheorien - Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion. 5., völlig neubearb. Auflage. Darmstadt 1989, S. 28ff.
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Konrad Heiden, Geburt des Dritten Reiches (Anm. 1), S. 229ff. und S. 258.
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lieh einwenden, daß Hitlers wirtschaftspolitische Pläne, die ihren Niederschlag in einem angekündigten, aber nie veröffentlichten „Wirtschaftsmanifest" vom Frühjahr 1931 fanden, damals weitgehend unbekannt und unklar blieben. 74 Aber die Frage hätte spätestens diskutiert werden müssen, als die NSDAP im Zusammenhang mit dem Volksbegehren gegen den Young-Plan im Oktober 1929 ein Bündnis mit der Deutschnationalen Volkspartei einging („Nationale Opposition"), an dessen Spitze Alfred Hugenberg stand. Hugenberg, einst Mitglied der Deutschen Vaterlandspartei und Krupp-Generaldirektor, schuf in den zwanziger Jahren durch Zusammenfassung von Tageszeitungen, Nachrichtenbüros, Anzeigenunternehmungen und Filmgesellschaften einen rechtskonservativen Medienkonzern, der über beträchtliche Finanz- und Einflußmittel verfügte. Durch den Hugenberg-Konzern erhielt die NSDAP nicht nur unvorhergesehene Entfaltungsmöglichkeiten für ihre Agitation, sondern auch Zugang zu größeren Finanzmitteln aus einflußreichen Wirtschaftskreisen, wie der Montanindustrie. Heiden hat von diesem profitablen Bündnis zwar kurz berichtet (275ff.), aber auch in diesem Zusammenhang treten in seiner stark personen- und aktionszentrierten Darstellung ideologiekritische und soziologische Fragestellungen in den Hintergrund. Diese hätten aber dem Zeitgenossen die notwendige Orientierung vermittelt, ihn davor gewarnt, in der NSDAP eine .Arbeiterpartei' zu sehen, wie das die „Frankfurter Zeitung" noch zu Beginn des Jahres 1933 tat. Einen wichtigen Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie bildeten die Rassenlehre und der brutale Antisemitismus. Die Mehrheit der Sozialdemokraten konnte mit der nationalsozialistischen Rassendoktrin nichts anfangen und unterschätzte deren - damals noch kaum vorstellbare - Konsequenzen; die rassenbiologischen Vorstellungen markierten für sie auch einen entscheidenden Unterschied zum italienischen Faschismus. Die meisten Sozialdemokraten unterschätzten auch den Antisemi74
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Über das damals noch unbekannte „nationalsozialistische Wirtschaftsmanifest" vom 5. März 1931 vgl. Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, Theorie, Politik 1933-1945. Frankfurt a.M. 1988 (= Fischer T. 4401), S. 39ff. Angekündigt waren darin der Staatsdirigismus der Wirtschaft trotz positiver Einstellung der Partei zum kapitalistischen Privateigentum und Profitanreiz durch „gesunden Wettbewerb"; Vorrangstellung der Landwirtschaft; „Ausdehnung des staatlichen Lebensraums" u.a. Es fehlt noch jede Art von Arbeitsbeschaffungsprogramm gegen die akute Arbeitslosigkeit. Wolfram Pyta: Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1989 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd. 87), S. 63ff., bes. S. 67. Nur wenige Sozialdemokraten hätten die rassenbiologische Verankerung des Antisemitismus erkannt, den die meisten dem „traditionellen europäischen .Normalantisemitismus'" zuordneten. Als Cheftheoretiker des Rassismus sahen sie Alfred Rosenberg an. Nur ganz wenige prophezeiten, daß der Rassenkampf zur systematischen Vernichtung alles als rassisch minderwertig abqualifizierten Lebens führen werde (S. 67f. und Anm. 16-19).
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tismus; denn einmal hinderte sie ihre aufklärerische humanistische Tradition daran, diese unübersehbare Ausprägung des Rassismus genügend ernstzunehmen, zum andern interpretierten sie diese ökonomisch als „die schlau ausgeklügelte Entlastungsoffensive zugunsten des Großkapitals." 76 Auch in Heidens Darstellung wird der Antisemitismus unterschätzt, der Rassismus fast unterschlagen. Zwar hielt auch er, wie die meisten Autoren, den rassistischen Antisemitismus für einen integralen Bestandteil des Nationalsozialismus, der schon in das 25-Punkte-Programm von 1920 Eingang gefunden und von dem Hitler zu keiner Zeit abgelassen hatte; 77 fast in jedem Kapitel taucht er auf, kein Parteimitglied ist frei davon, auch nicht die Vertreter des linken Flügels, wie die Brüder Strasser. 78 Von der langen Tradition des Antisemitismus in Deutschland spricht Heiden jedoch kaum; dagegen berichtet er ausführlich über die nationalsozialistischen Vorläufer in Österreich und in Böhmen, wo antislawischer, antideutscher und antisemitischer Nationalismus eine besondere Explosivkraft entwickelt hatten. Deutlicher wird Heiden bei der Charakterisierung Alfred Rosenbergs, der seit 1923 als Chefredakteur des „Völkischen Beobachters" fungierte und vor allem durch sein pseudowissenschaftlich-rassistisches Hauptwerk Der Mythus des 20. Jahrhunderts bekannt wurde: „Ein Deutscher von Abstammung, der in russischen Begriffen denkt." (46) Er habe dem Nationalsozialismus schon Anfang der zwanziger Jahre die weißrussische Außenpolitik gebracht, den Plan eines deutschen Kreuzzugs nach Rußland: Für den Antibolschewismus der weißrussischen Emigranten ist der alte russische Antisemitismus das gegebene Instrument. Jetzt wird er, am gänzlich falschen Platz, zum Träger der außenpolitischen Vorstellungen des deutschen Nationalsozialismus. (47)
Auch den brutalen deutschen Antisemitismus erklärt er als ein Produkt des russischen Einflusses: „Der düstere, blutige russische Antisemitismus durchtränkt den gemütlicheren deutschen [...] der Antisemitismus, in den Hitler und sein Kreis von den Balten eingesponnen werden, ist keine deutsche Sache." (47) Das war kein zufälliger Ausrutscher, nicht mal ein zeitbedingter. Als Heiden im Exil sein zweites Buch schrieb, die Geburt des 76
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Die Nazi-Fibel. Eine Handvoll Nazilügen und ihre Widerlegung. Redematerial zur Abwehr der Hakenkreuzhetze. Darmstadt 1930, S. 10; Wolfram Pyta: Gegen Hitler und für die Republik (Anm. 75), S. 64. Auch der Sozialdemokrat Heiden unterschätzte den Antisemitismus des 25-Punkte-Programms (bes. Punkt 4-8 und 23/24): „Es ist ein sozusagen gepflegter Bücherantisemitismus völkischen Hochziels, weit entfernt von ,Haut den Juden!'" (Heiden, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 25). Vgl. den Programmentwurf der Brüder Strasser vom Herbst 1925 (sogenanntes „ B a m b e r ger Programm"), abgedruckt in Otto Strasser: Mein Kampf - Eine politische Autobiographie. Frankfurt a.M. 1969 (= Streit-Zeit-Bücher 3), S. 215, Punkt V, 1.
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Dritten Reiches, widmete er es im Vorwort „allen, die gegen die undeutsche Despotie Hitlers kämpfen, weil sie einfach kämpfen müssen; weil es für sie gegen dieses Hunnentum nichts als Kampf gibt." (5) Konnten die Sozialdemokraten auch mit der abstrusen Rassenlehre der Nationalsozialisten nichts anfangen, so erkannte die Mehrheit von ihnen doch schon vor der Machtübernahme Hitlers die Gefahren, die in dessen außenpolitischen Plänen steckten, allerdings - wie Wolfram Pyta mit Recht einschränkend hinzufügte - „ohne deren neue Qualität zu erkennen, die sich von dem traditionellen deutschen Imperialismus abhob." (73) Heiden ist dagegen noch im Herbst 1933 davon überzeugt, daß die deutsche Regierung „in Frieden leben" möchte, daß sie einen - letztlich wahrscheinlich unvermeidlichen - Krieg am ehesten im Westen vermeiden wolle und daß sie im Osten nur „eingreifen" („nicht angreifen"!) werde, wenn die Sowjetunion, wie Hitler fest glaube, schließlich zusammenbrecher79 Mit Recht hat Heiden das 1920 verkündete, sechs Jahre später von Hitler für „unabänderlich" erklärte Parteiprogramm nicht eingehend diskutiert. Die Bewegung war längst darüber hinweggegangen; niemand nahm Anfang der 30er Jahre die einzelnen Programmpunkte sehr ernst. Anders steht es mit dem zweibändigen Werk Mein Kämpft das Hitlers Grundanschauungen, Ziele und Methoden offenlegt und auf das sich deshalb auch die besorgtesten Warner beriefen - mit Recht, wie sich bald herausstellen sollte.81 Merkwürdigerweise hat sich Heiden in seiner Geschichte des Nationalsozialismus fast nie auf Hitlers Mein Kampf bezogen. 82 Wahrscheinlich hielt ihn die Überzeugung davon ab, daß die Politik Hitlers stärker von den jeweiligen politischen Umständen als von seinen Überzeugungen bestimmt werde. So erklärt sich möglicherweise auch, daß Heiden in diesem ersten Buch den außenpolitischen Perspektiven der Nationalsozialisten gar keine Aufmerksamkeit widmete. Auch in dessen Fortsetzungs79 80 81
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Konrad Heiden: Geburt des Dritten Reiches (Anm. 1), S. 248. Bd. 1 München 1925; Bd. 2 München 1928. Vgl. zum Beispiel die prophetischen Analysen des Berliner Korrespondenten der „Basler National-Zeitung", Tete Harens Tetens, die unter dem Titel Was will Hitler? Außenpolitik und , letzte Schlußziele' nach Hitlers eigenen Worten, noch im Herbst 1935 auch als selbständige Broschüre in Basel erschienen, herausgegeben von J. B. Rusch, C. A. Loosli und A. Kundert. Tetens betonte im Vorwort gegenüber potentiellen skeptischen Einwürfen, daß Hitler selbst nach seinem Machtantritt bei jeder Gelegenheit darauf hingewiesen habe, daß es nur ein nationales Lehrbuch für das deutsche Volk gebe, nämlich Mein Kampf. Darin unterschied er sich von Theodor Heuss, der sich bei der Analyse der außenpolitischen Vorstellungen fast ausschließlich auf Hitlers Mein Kampf stützte und deutlich machte, daß Hitler auf einen Krieg zusteure, zunächst gegen Frankreich, dann nach Osten. Allerdings trug Heuss diese Analyse zwar sehr kritisch, aber doch nicht als unmittelbare Bedrohung vor.
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band, der Geburt des Dritten Reiches, den er Ende 1933 im Exil abschloß, widmete er den außenpolitischen Zielen nur ein paar Seiten. 83 Unbestreitbar ist, daß Heiden die Gefahren Ende 1933 besser einschätzte als zwei Jahre früher; zwar stützen sich seine Analysen immer noch stärker auf die politischen Handlungen und Reden der Nationalsozialisten und auf die Reaktionen der Nachbarvölker als auf die Darstellung in Hitlers Mein Kampf, und er ist wahrhaftig nicht unbeeindruckt von Hitlers „Friedensrede" am 17. Mai 1933 (245f.), auch nicht von dessen außenpolitischer Verhandlungsoffensive. Heiden setzt auch immer noch Hoffnung auf die Krisen im Innern des Deutschen Reiches, innerhalb der Führungsschicht, auf die Widersprüche zwischen Reaktion und Revolution und auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten (261). Aber er erkennt doch Ende des Jahres 1933, daß Deutschland auf einen Krieg zutreibe, den Hitler allerdings gerne noch ein paar Jahre hinausschieben möchte. Wirklich ernstgenommen hat Heiden das von Hitler im zweiten Band von Mein Kampf offengelegte außenpolitische Programm erst 1937: In seiner Hitler-Biographie zitiert er seitenweise aus Hitlers Buch, 84 Passagen über die Überlegenheit des Ariers, die Notwendigkeit, daß der Starke herrschen sollte (240), daß das Judentum „kulturzerstörend" wirke (241), daß Frankreich ein Werkzeug des Judentums und deshalb „unser nächster, unbedingtester Todfeind" (242) sei, gegen den es nicht „Abwehr", sondern nur planmäßig aufgebauten „Angriff gebe (242). Heiden zieht daraus auch die richtige Schlußfolgerung: „Das Programm Adolf Hitlers ist das Programm der deutschen Weltherrschaft." (254) Offensichtlich hat Heiden von Kritikern und früheren Warnern inzwischen gelernt. Merkwürdig erscheint nur die Interpretation, mit der er dieses Kapitel über Hitlers Außenpolitik abschließt: „Der Nationalsozialismus ist sicher eine Praxis der Herrschaft, keine Ideologie. Seine Außenpolitik ist ihrem Wesen nach eine Methode, kein Ideengefüge internationalen Handelns." (265) Wenn man Hitlers Erfolge und Mißerfolge verstehen wolle, müsse man weniger sein Handeln, als das seiner Gegner verstehen (266). Soll das heißen, Hitler hätte dem „Erbfeind" Frankreich nicht mit Krieg gedroht, wenn dieser 1933 auf Mussolinis Angebot eines Viermächtepaktes zwischen England, Frankreich, Italien und Deutschland eingegangen wäre? Und während Heiden 1931 in seinem ersten Buch Hitler die Fähigkeit der realistischen Wahrnehmung abgesprochen hatte, argumentierte er dagegen 1937: Dieser Geist [= Hitler] kennt seine Gegner in jedem Augenblick besser als sie sich selbst, weil er sie aufmerksamer beobachtet; und er beobachtet sie aufmerksamer, weil das Antworten, Zurückschlagen, Ausnutzen fremder Blößen 83 84
Konrad Heiden, Geburt des Dritten Reiches (Anm. 1), S. 185f. und S. 243-252. Konrad Heiden: Adolf Hitler. Bd. II: Ein Mann gegen Europa. Eine Biographie. Zürich: Europa Verlag 1937, S. 237ff.
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sein Lebenselement ist [...] Genügte scharfes Sehen zum Verständnis der Welt, so wäre er vielleicht der klügste Mensch der Erde. (266)
Heidens Bild von Hitler bleibt ambivalent.85 Als Heiden 1931 sein erstes Buch abschloß, beschäftigten ihn die Zukunftspläne Hitlers und seiner Partei nur wenig. Denn aus seiner Sicht war die Geschichte der „Bewegung" am 14. September 1930 zu Ende; 86 das letzte Kapitel, „Ein Nachruf überschrieben, stellt sich eher als ein Rückblick denn als Prognose dar, verrät aber etwas von den persönlichen Enttäuschungen und Hoffnungen Heidens. Heiden hatte seine Geschichte des Nationalsozialismus als Patriot geschrieben, geprägt von den tradierten Bildungsbeständen des deutschen Bürgertums, von der Lektüre der Klassiker und der idealistischen Philosophie: Dafür sprechen nicht nur die Motti, die er seinen Werken voranstellt - Ranke, Goethe und immer wieder Goethe - , sondern auch sein eigentlich traditioneller Erzählstil, seine Vorliebe für die Biographie. Gleichzeitig ist ihm bewußt, daß die Vorkriegswelt des deutschen Bürgertums der Vergangenheit angehört, daß sich eine neue Gesellschaftsordnung herausbilden müsse, die neue Leitfiguren und neue Visionen finden werde und die dem Bedürfnis nach größerer sozialer Gerechtigkeit ebenso Rechnung tragen müsse wie dem „ewigen Bedürfnis" nach individueller Freiheit. Die Zukunftsträume der Kriegsgeneration hätten auch die Anfänge der NSDAP gefördert: In einer materiell verhältnismäßig gesättigten Vorkriegszeit hatte die Seele des Bürgertums wenig Bedürfnis nach Idealen gehabt. Der Krieg weckte, nährte und enttäuschte dies Bedürfnis nach Idealen ungeheuer. Da brach mit der Revolution das zweite Reich der großen Verheißungen an. Es kam die Illusion des gerechten Friedens, des sozialen Aufstiegs und neuer Geistesblüte. Aber die Revolution verwirklichte diese Illusion nicht und mutete statt dessen dem Volk den nüchternen, liberalen, rationalistischen Alltag von Weimar zu. Dem Glauben, der nach einem neuen Reich schrie, wurde ein ausgeklügelt werktägliches Staatsgebilde vorgesetzt, ein stählerner Roboter von Staat, der alle politische Experimentierlust untersagte [...] (291). 85
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Die Widersprüche in Heidens Deutung liegen dicht beieinander, sind also kaum durch längere Schreibpausen oder neuen Erkenntnisgewinn zu erklären. Während Heiden noch auf S. 260 Hitler vorwirft, daß er Englands Interesse am Status quo auf dem Kontinent nicht erkannt habe, rühmt er sechs Seiten später Hitlers ausgezeichnete „praktische Erfassung der Tatsachen" (S. 266). Mit dem Erfolg der Septemberwahlen begann - nach Heiden - der Niedergang einer Partei, die sich von ihren alten elitären Idealen - Führertum und auserwählter Gefolgschaft - gelöst habe, um wie alle anderen Parteien um Stimmenmehrheiten zu kämpfen. Auch die Kommunistische Partei ging davon aus, daß die NS-Bewegung ihren Höhepunkt überschritten habe und nun nur noch Instrument der großen Monopole sei.
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Da kam Hitler - und nicht ohne Erschrecken liest man im Rückblick diese grandiose Stilisierung seiner kleinbürgerlichen Anfänge: „Er war aufgebrochen mit einer kleinen Schar glühender, todesverachtender, ja todeslustiger Jugend, die ihre Leiber in die Flammen warf." (291) Leider sei es nicht bei diesem Aufbruch einer nach Veränderung drängenden Elite geblieben, die sich durch den bewaffneten Kampf ein Territorium und die Herzen der Arbeiter erobern wollte, sondern Hitler sei gezwungen worden, durch Wahlen, Verhandlungen, Kompromisse den Weg aller Parteien zu gehen: „Er war viel zu lange marschiert" (291). Die Partei war keine Partei der Auserlesenen geworden, sondern die des „großen Haufens" (292). Heidens emphatische Worte verleihen Hitler fast den Charakter eines Märtyrers: „Aus der Abendröte eines untergehenden Zeitalters war er losmarschiert, und angekommen war er bei den dürftigen Hauslampen eines verzweifelten Volkes, das nicht von seinen Tischen weg wollte." (291) Ein tragischeres und größeres Ende wäre für den Nationalsozialismus angemessener gewesen, als jetzt zur „Krämerei" überzugehen: „Ihm wäre besser, er endete wie der Jüngling Euphorion im Faust, der nach glänzendem Aufstieg in die Unterwelt versank, doch Kleid und Leier zurückließ" (295). Zurückgelassen hat er - nach Heiden - im Volk die politische Leidenschaft. Diese Leidenschaft habe zwar eine Fülle von Untaten erzeugt, aber das Volk auch vor zuviel Nüchternheit bewahrt. Nach dem Rückblick folgt die Prognose für die kommenden Jahre für uns Nachgeborene eine phantastische Illusion: Was der Nationalsozialismus der politischen Rechten zu geben suchte: eine neue Weltanschauung, wird vielleicht als Aufgabe wieder an die Linke übergehen. Sie hat diese Aufgabe dreizehn Jahre lang vergessen und sich in tausend Meinungen und Eigensinnigkeiten zersplittert, während es rechts sich sammelte. (295)
Eine kurze Zeit werde zwar voraussichtlich Hitlers Partei die Hauptrolle spielen. Sie werde alle Vorgänge des öffentlichen Lebens durchdringen; die Staatsführung werde das Volk zu ihrer Selbstverherrlichung zwingen; aber sie werde nichts weiter sein als der „Nachtalp einer schlummernden Nation", sie werde ein „Spuk" bleiben (296). Der Seele der Nation aber wird es, wenn sie erst aus dem Schlummer erwacht, wahrlich besser sein, daß sie vielleicht lange Zeit wieder um ihre Freiheit kämpfen muß, als daß'die Freiheit weiter in ihrer Fülle unbegehrt und ungenossen verfault. (296)
Die Aufgabe einer neuen Linken werde dann sein, einen freiheitlichen Sozialismus zu schaffen, bei dem „das Individuum nicht von der Gemeinschaft ausgelöscht werde, die Freiheit des Denkens nicht vom Kadavergehorsam gegen das Ideal ersterbe" (296).
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Nach diesem Bekenntnis wäre zu fragen, ob auch Heiden selbst, der der nationalsozialistischen Bewegung das Verdienst anrechnete, unter den Deutschen die Flamme politischer Leidenschaft entzündet und erhalten zu haben, den „nüchternen, liberalen, rationalistischen Alltag" der Weimarer Republik als eine Zumutung empfand. Daß er als kraftvollere Flammenträger die Jugendbewegung und Stefan George nannte (292), deutet möglicherweise auf Erfahrungen hin, die ihn persönlich geprägt haben. Für diese Hypothese sprechen Stil und Inhalt des Nachworts, seine Parteinahme für die Jugend, sein Elite-Ideal und die Vorstellung vom zukunftsweisenden Führertum, die Ideale der Freiheit und Höherentwicklung. An vielen Stellen des Buches bricht noch die Faszination hervor, die Hitler und seine Bewegung offensichtlich auch bei Heiden auslösten, bevor deren .Verbürgerlichung' einsetzte; diese frühe Faszination könnte auch die vielen Widersprüche erklären, die sich selbst in die späteren und kritischeren Darstellungen eingeschlichen haben. So ließe sich auch Heidens gelegentliche Anfälligkeit für rassistische und völkerpsychologische Verallgemeinerungen verstehen. 87 Für diese Hypothese sprechen vor allem die sehr persönlichen Nachworte seiner späteren Bücher. Die Unterschiede verdekken nur oberflächlich dieselbe Grundhaltung, ähnliche Ideale. Rühmte Heiden in seiner Geschichte des Nationalsozialismus noch das „neue, irrationale Lebensgefühl", das sich dank Jugendbewegung, Stefan George und Hitlers Bewegung gegen den „nüchternen, liberalen, rationalistischen Alltag von Weimar" behauptet habe (291f.), so kritisierte er zwar Ende 1933 aus dem Exil „die Überschätzung des Gefühls und die UnterSChätOO
zung der Vernunft", aber der Gegensatz wird sofort wieder aufgehoben, denn in unmittelbarem Zusammenhang tadelt er an der Regierungskoalition im Januar 1933 „die Angst vor dem Aufstieg, vor neuen Winden und unbekannten Sternen", den „Protest des ruhebedürftigen Fleisches gegen den rastlosen Geist" (266). Hierin manifestiere sich der „weibische" Charakter des Zeitalters. 89 Und wie erklärt nun Heiden den Mangel des vermeintlich „Männlichen"? Einmal sei „unter den geistigen Ahnherren des völkischen Gedankens" der Erforscher des Mutterrechts, „der Basler Bachofen, selbst ein Muttersohn und Frauenknecht zeitlebens" gewesen 87
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So schilderte er zum Beispiel den bayerischen Ministerpräsidenten von Kahr: „Äußerlich ein kleiner, stämmiger, schwarzhaariger Hunne - ein in Bayern nicht seltener Rassetyp war er politisch nur ein revoltierender Privatier auf dem Präsidentenstuhl [...]." (Heiden, Geschichte des Nationalsozialismus, S. 83). Konrad Heiden: Geburt des Dritten Reiches (Anm. 1), S. 266. Konrad Heiden: Geburt des Dritten Reiches (Anm. 1), S. 266. - In allen Büchern Heidens gibt es eine latente Frauenfeindlichkeit. Das folgende Beispiel ist besonders grotesk, da es sich beim NS nur um Männer handelte: „Und so hat der Nationalsozialismus, wie eine hysterische Frau, durch die Drohung mit seinem Selbstmord die führenden deutschen Wirtschaftskreise gezwungen, ihn zu retten, indem sie ihn zur Regierung brachten." (S. 104)
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(266). Und eine andere Ursache sei vielleicht, „daß die besten Männer der meisten Völker auf den Schlachtfeldern des Krieges geblieben sind; die Heimkehrer, die keine homerischen Wüstlinge, sondern moderne Nervenmenschen waren, fielen schleunigst wieder in ihr Bedürfnis nach Ruhe und geordneten Verhältnissen zurück" (266). Das Werte-Feld, das Heidens Urteilen zugrundeliegt, hat sich kaum geändert: Kampferprobtes Heldentum gilt ihm mehr als die Sensibilität des modernen Großstadtmenschen, der Mann mehr als die Frau; mit Unwillen registriert er Phlegma und Materialismus, wo .faustisches' Streben Maßstäbe setzen sollte. Seine Wertmaßstäbe berühren sich zum Teil mit der NS-Ideologie: Sie schöpften aus denselben Quellen. In den Jahren des Exils erhält Heidens idealistisches Streben ein neues Ziel: Die Bewegung für ein freies, d.h. demokratisches und einiges Europa, die die Scheidung „in starke und schwache, bevorrechtigte und minder berechtigte Nationen" beseitigen und auch Deutschland darin in Frieden und Freundschaft einen Platz geben werde. 90 Ihr Ziel werde die wirtschaftliche Einheit Europas und die Europäisierung der Kolonien sein. Politischen Ausdruck werde sie durch ein Völkerparlament finden, das sich aus frei gewählten Vertretern aller europäischen Nationen zusammensetzt. Tatkräftig mitwirken werde in dieser Bewegung die deutsche Opposition, um einen drohenden Krieg zu verhindern und den Europa-Gedanken in die diktatorisch regierten Länder zu tragen. Als Träger dieser Europa-Bewegung hat er die Jugend bestimmt, „eine alle Volksschichten erfassende europäische Jugendbewegung", die für die Freiheit kämpfe (370). Die idealistische Vision Heidens geht davon aus, daß der Mensch „fortschreiten", „aufsteigen" wolle, wenn er sich auch der vollkommenen Freiheit „dieses ewig über uns schwebende, nie erreichte, aber mit Zauberkraft ziehende Ziel" - nur nähern könne (371). In diesem Emanzipationsprozeß des Menschen, in seinem Willen zum Höheren aber liege „das Stück Ewigkeit in der unbeständigen Geschichte der Menschheit" (372). Nicht in „Gesetzen, Wirtschaftsordnungen oder weisen Machtverteilungen" bestehe die Freiheit, sondern in eben diesem Willen der Menschen zum Höheren" (372). Die bereits von der Europa-Idee Ergriffenen werden die Motoren der Bewegung sein, die Elite gründet sich auf ihr Europäertum und auf das Ausmaß des enthusiastischen Feuers: In verhältnismäßig wenigen ist dieser Wille [= zum Höheren; d. V.] ein den ganzen Menschen durchleuchtendes Feuer; in vielen bricht er von Zeit zu Zeit immer wieder durch; in allen schlummert ein, wenn auch noch so kleiner Funke von ihm; fast keiner, der ihn nie gespürt hätte. (372). 90
Zu Heidens Vision über die Zukunft Europas vgl. den zweiten Band seiner Hitler-Biographie: Adolf Hitler - Ein Mann gegen Europa. Zürich 1937, Zwölftes Kapitel: Das Kommende, S. 363-373. Zitat S. 367.
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Geschrieben im Frühjahr 1937, angesichts einer begeisterten Hitler-Jugend und der forcierten Aufrüstung Deutschlands zu einem zweiten Weltkrieg. Obwohl Heiden kritischer war als Heuss, hatte auch er keine Phantasie für Diktaturen; ganz offensichtlich unterschätzte auch er die geballte Aggressivität und Zerstörungskraft dieser Bewegung. Noch im Dezember 1932, als er auf Einladung des Republikanischen Reichsbundes in Berlin im Haus des Demokratischen Clubs einen Vortrag über Aufstieg und Krise [sie!] des Nationalsozialismus hielt, vertrat er seine These, daß die „Hitler-Bewegung bis 1929 eine Diktatur über das gemeine Volk durch eine abgesonderte, hochrassige Führungsschicht" erstrebt habe; erst mit dem ungeheuren Wahlerfolg 1930 habe der „Kampf um den letzten und schlechtesten Wähler" im Zeichen der Legalität eingesetzt, der zu einer Stil- und Strukturänderung der Bewegung und zum Beginn ihres Verfalls geführt habe. 91 Offensichtlich glaubte Heiden damals auch noch an die sozialistische Komponente des ersten Programms; denn er charakterisierte den Nationalsozialismus als „analphabetischen Sozialismus", womit er sich in der Diskussion - zu Recht! - den Protest des anwesenden Theodor Heuss einhandelte. Die „Vossische Zeitung", die über diesen Vortrag und die „fast dramatisch bewegte" Diskussion berichtete, hatte unmittelbar nach den Reichstagswahlen (am 6. November 1932) vom 8. bis zum 13. November 1932 einige Kapitel aus Heidens Buch abgedruckt und damit schon viel getan. Weder in der „Frankfurter Zeitung" noch in einer der großen Berliner Zeitungen erschien bis zum Reichstagsbrand Ende Februar 1933 eine eingehende Besprechung von Heidens Geschichte des Nationalsozialismus, die noch im November 1932 auf den Markt gekommen war. Nur der „Vorwärts", das Organ der SPD, brachte eine kurze Anzeige, kaum vierzig Zeilen, von J.P. Mayer, der es als „eins der besten Bücher über den Werdegang des deutschen Faschismus" besonders dringend den Politikern empfahl. 92 Das Buch sei „nicht parteiisch" geschrieben, dennoch falle sein Urteil „vernichtend für die NSDAP" aus. Wirklich „vernichtend"?
III. ERNST OTTWALT
Noch vergessener als Heidens Monographie, wenn auch als Nachdruck inzwischen wieder zugänglich, ist Ernst Ottwalts Geschichte des Nationalsozialismus, die Anfang des Jahres 1932 unter dem Titel Deutschland erwa91 92
Vossische Zeitung, 21. Dezember 1932, AA. Vorwärts, 7. Dezember 1932.
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che! herausgekommen war. Wäre sie nicht vor Heidens Buch erschienen, könnte man sie als eine Art Gegenentwurf verstehen zu dessen idealistischer, auf die Psychologie der Hauptfiguren konzentrierter Darstellung. 93 Wer war Ernst Ottwalt? Wir wissen nur sehr wenig von seinem Leben: 94 Eigentlich hieß er Ernst Gottwalt Nicolas und war am 13. November 1901 in Zippnow/Pommern als Sohn eines Pfarrers geboren. Seine beiden älteren Brüder waren im Ersten Weltkrieg gefallen, seine Schwester, an der er sehr hing, hat sich Ende der zwanziger Jahre aus wirtschaftlichen Gründen das Leben genommen. Ernst Ottwalt, das jüngste der vier Pfarrerskinder, wollte nach dem Besuch des Gymnasiums in Berlin und Halle zunächst Schauspieler werden, immatrikulierte sich jedoch im Frühjahr 1921 an der juristischen Fakultät der Universität Jena. Schon nach zwei Semestern brach er dort das Studium ab - wahrscheinlich aus finanziellen Gründen (Inflation!). Schon am Ende seiner Schulzeit war Ottwalt als Zeitfreiwilliger in das Freikorps Halle eingetreten, um seine „Bedeutungslosigkeit" zu überwinden. Er bespitzelte Versammlungen der KPD, USPD sowie der SPD und der Gewerkschaften. Während des Kapp-Putsches kämpfte er gegen die Arbeiter. 95 Über seine Aktivitäten im Auftrag des rechtsradikalen Militärverbandes berichtete Ottwalt später in seinem autobiographischen Roman Ruhe und Ordnung (Berlin 1929). Folgt man diesem Roman, so hat er sich schon 1922 vollständig von diesen Kreisen losgesagt. Es folgten Jahre der Orientierungslosigkeit, Unruhe und Verzweiflung; damals entstanden erste - nie veröffentlichte - Gedichte. Der Vetter und Freund Friedrich Mattenklott vermittelte Ottwalt eine Volontärstelle in einer Berliner Privatbank. Nach einem verzweifelten Ausbruch lebte Ottwalt in Düsseldorf bei seinen Eltern und arbeitete in ei93
94
95
Der Titel war ein nationalsozialistischer Kampfruf, den einer der ersten Anhänger Hitlers, Dietrich Eckart, zum tragenden Element eines blutrünstigen Kampfliedes gemacht hat. Das Verdienst, das Wenige in mühsamer Spurensuche recherchiert und dokumentiert zu haben, kommt Andreas W. Mytze zu. Das Ergebnis seiner Recherchen erschien unter dem Titel Ottwalt. Leben und Werk des vergessenen revolutionären deutschen Schriftstellers. Im Anhang bisher unveröffentlichte Dokumente. Berlin: Verlag Europäische Ideen 1977. Andreas W. Mytze besorgte auch die Neuherausgabe von Ernst Ottwalt: Deutschland erwache! Geschichte des Nationalsozialismus. Wien-Leipzig: Hess & Co Verlag 1932 (Berlin: Verlag Europäische Ideen 1975, 3. Aufl. 1978). - Inzwischen ist im Rowohlt Verlag der umfangreiche Band Die Säuberung - Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung erschienen (hrsg. v. Reinhard Müller. Reinbek bei Hamburg 1991, als rororo aktuell 13012). Er enthält das Protokoll einer nichtöffentlichen Versammlung deutscher Exilschriftsteller, die nach dem ersten Moskauer Schauprozeß 1936 die Partei von angeblichen .Abweichlern', .Parteifeinden' und .Opportunisten' säubern wollten. Zu diesen Exilschriftstellem gehörte auch Emst Ottwalt. Der Band enthält auch die Kaderakte von Emst Ottwalt (S. 552-556). Die Säuberung (Anm. 94), S. 552.
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ner Lokomotivfabrik. In dieser Zeit griff er nochmals frühere Pläne auf und nahm Schauspielunterricht bei Agnes Straub. 1927 vermittelte ihm der Vetter Mattenklott eine Redakteurstelle im Berliner Grieben-Verlag; die Beschäftigung mit Reiseführern ließ ihn jedoch unbefriedigt, so daß er schon im folgenden Jahr den Verlag verließ und eine Tätigkeit als Reporter der „Berliner Volkszeitung" begann. In diese Zeit fielen Erfahrungen und Ereignisse, die dem weiterhin äußerst bescheidenen Leben Ottwalts mehr Sicherheit und Stetigkeit gaben. Spätestens 1928 lernte er Waltraut Bartels kennen, die damals mit Mattenklotts jüngerem Bruder verheiratet war. Nach ihrer Scheidung heirateten beide, und Ottwalt unterstützte seine Frau bei der Abfassung von Gerichtsreportagen für die „Deutsche Allgemeine Zeitung". Von großer Bedeutung war auch die Freundschaft mit Bert Brecht und dem Verleger Wieland Herzfelde, die er beide in Berlin kennenlernte. 96 Seit dieser Zeit hat sich Ottwalt intensiv mit den Schriften von Karl Marx beschäftigt; 97 in der Überzeugung, „daß der Marxismus die Gesellschaftsordnung der Zukunft bestimmen würde", 98 widmete er sich fortan schriftstellerischen Arbeiten, die alle von seinem politischen und aufklärerischen Engagement geprägt sind. Die geistig-politische Neuorientierung dokumentierte er auch durch die Änderung seines bürgerlichen Namens im Erstlingswerk von 1929. In kurzer Zeit veröffentlichte Ottwalt - neben kleineren Arbeiten mehrere Bücher: 1929 im Malik-Verlag den schon erwähnten Roman Ruhe und Ordnung, in dem er in Ich-Form über die Erfahrungen der nationalgesinnten Jugend zur Zeit des Kapp-Putsches in Halle berichtete; 1931 erschien, wiederum im Malik-Verlag, der Roman über die Klassenjustiz in der Weimarer Republik Denn sie wissen was sie tun. 1932 schrieb er zusammen mit Bert Brecht das Drehbuch für den Film Kuhle Wampe, und im selben Jahr erschien schließlich seine Geschichte des Nationalsozialismus Deutschland erwache!, die ihn 1933 zu einem der meistgehaßten Schriftsteller machte. Ottwalt war im September 1931 in die KPD eingetreten; 99 Ende 1932 wurde er in die Fraktionsleitung des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" (BPRS) gewählt. Von 1931 bis 1933 war er Lehrer an der Marxistischen Arbeiterschule in Berlin. 96
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98 99
Außer Brecht, den er sehr hoch schätzte, und seinem ersten Verleger Wieland Herzfelde gehörten zu Ottwalts Freundeskreis Helene Weigel, Hanns Eisler, Alfred Kantorowicz, Wilhelm Sternfeld und Günther Weisenbom (A.W. Mytze, Ottwalt [Anm. 94], S. 16). Wann genau Ottwalt mit diesen Studien begann, ist ungewiß, möglicherweise auch unter dem Einfluß von Brecht. Zitat nach dem Bericht von Friedrich Mattenklott (A.W. Mytze, Ottwalt, S. 16). Diese und die folgenden Lebensdaten stammen aus dem biographischen Abriß und dem in der Kaderakte enthaltenen Lebenslauf in: Die Säuberung (Anm. 94), S. 68f. und S. 552f.
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Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 wurde Ottwalts Wohnung von der SA demoliert. Ottwalt war zunächst einige Wochen illegal tätig, emigrierte jedoch dann nach Dänemark. Auf Veranlassung der „Roten Hilfe" übernahm er die Redaktion der „Neuen Deutschen Blätter" in Prag. 1934 emigrierte er nach Moskau. Nachdem Ottwalt 1936 nicht als Mitglied oder Kandidat in die KPDSU „überführt" wurde, Schloß ihn Anfang 1937 das Politbüro aus der KPD aus. Im November 1936 wurde er wegen angeblicher Spionage zusammen mit seiner Frau Waltraut Nicolas auf dem Roten Platz in Moskau verhaftet. Während seine Frau 1940 nach Moskau zurücktransportiert und 1941 mit anderen politischen Gefangenen nach Deutschland ausgetauscht wurde, verurteilte man Ottwalt zu 5 Jahren Lagerhaft. 100 Am 23. August 1943 kam er in einem sibirischen Lager ums Leben. 101
Deutschland erwache! Der theoretische Ansatz von Ottwalts Analyse des Nationalsozialismus ist marxistisch: Er geht davon aus, daß jede Staatsform bedingt ist von den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen. Oder umgekehrt: Jede Stufe der Wirtschaftsentwicklung verlange nach einer ihr gemäßen Staatsform. So habe der Hochkapitalismus - in dem einen Land früher, in dem anderen Land später - die Staatsform der Monarchie als inadäquate Ordnung gesprengt, da für den Konkurrenzkapitalismus die gemäßeste Staatsform die Republik sei. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts finde jedoch in den USA, seit Ende des Ersten Weltkriegs auch in Deutschland eine Entwicklung vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus 102 statt, d.h. es dominiere die Tendenz, konkurrierende Einzelunternehmen mit dem Ziel monopolistischer Marktbeherrschung zusammenzuschließen. Diesem Monopolkapitalismus entspreche politisch am besten die faschistische Diktatur (12f.). Man dürfe sich bei der Analyse des Faschismus bzw. des Nationalsozialismus also nicht auf die Charakterisierung der Hauptakteure oder auf die ideologischen Auseinandersetzungen beschränken, zumal diese mehrdeutig seien und in den einzelnen europäischen Ländern je nach den nationalen Traditionen unterschiedlich verliefen. Ottwalt versteht unter Fa100
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102
Waltraut Nicolaus hat über ihre Erfahrungen zwei Bücher veröffentlicht: Die Kraft, das Ärgste zu ertragen. Frauenschicksale in Sowjetgefängnissen. Bonn: Athenäum Verlag 1958; Viele tausend Tage. Erlebnisbericht aus zwei Ländern. Stuttgart: Steingriiben Verlag 1960. Weitere Einzelheiten über E. Ottwalts Exiljahre in Prag und in der Sowjetunion bei Andreas W. Mytze, Ottwalt (Anm. 94), S. 53ff., und in: Die Säuberung (Anm. 94), bes. S. 68f., S. 552ff. Ottwalt hat an allen aufgezeichneten Gesprächen teilgenommen und sich an der ,Entlarvung' von angeblich .schädlichen' Genossen beteiligt. Ottwalt spricht von .Trustkapitalismus'.
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schismus also ein gesamteuropäisches Phänomen, das im Ansatz oder bereits vorherrschend in den meisten Ländern Europas wahrzunehmen sei; er erwähnt neben dem ,Fascismo' in Italien faschistische Tendenzen auch in Finnland, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und „die lärmenden Proklamationen von Herbert Mosleys ,New Party' im Londoner Hyde-Park" (10f.). Gemeinsam sei den verschiedenen Ausprägungen des internationalen Faschismus die Mobilisierung des .Kleinbürgertums', die durch die schweren ökonomischen Krisen eine besondere Schubkraft erhalte. Diese wenig scharf umrissene Schicht des Kleinbürgertums sei nicht fähig, eigene revolutionäre Energie zur Befreiung ihrer Klasse zu entwickeln. Aber, führt Ottwalt aus, „jeder Versuch einer Revolutionierung des Kleinbürgertums in bewußtem Gegensatz zur revolutionären Aktion des Proletariats muß zwangsläufig dazu führen, daß die Revolutionierung des Kleinbürgertums bei der Vertretung der Interessen der herrschenden Klasse endet" (14). Die Grundzüge des Nationalsozialismus hätten sich schon seit Jahren, ja Jahrzehnten in eben diesem Kleinbürgertum angekündigt: Im Kaiserreich sowohl durch den Antisemitismus als auch durch das übersteigerte Nationalgefühl und, seit 1919, durch die Anfänge der deutschen Konterrevolution (15). Dem Antisemitismus in Deutschland widmete Ottwalt das erste und längste Kapitel seines Buches, 65 Seiten. Er hielt den Antisemitismus für so eminent wichtig, weil er der einzige Bestandteil des NSDAPProgrammes gewesen sei, der nicht im Laufe der Jahre modifiziert oder ganz über Bord geworfen wurde. Allerdings seien sowohl die Interpretationsbemühungen von Psychoanalytikern, Rassetheoretikern u.a. als auch der bisherige Abwehrkampf nutzlos, da sie auf einer falschen Ebene verliefen: So verschieden die Erscheinungsformen des Antisemitismus seit dem Mittelalter gewesen seien, letztlich gingen sie immer auf Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zurück; der Antisemitismus sei in solchen Umbruchszeiten ein Instrument, das Politiker - wie zum Beispiel Bismarck - für ihre politischen Ziele nutzbar machten, das sie dann aber, nach Erreichung dieses Zieles, ebenso bedenkenlos wieder fallen ließen. Auch die Nationalsozialisten heizten den Antisemitismus an, um dadurch die antikapitalistischen Neigungen des Kleinbürgertums aufzufangen und auf ein für sie unverfängliches Ziel zu lenken. Das war um so notwendiger, als die Nationalsozialisten spätestens Ende der zwanziger Jahre die sozialen Forderungen ihres 25-Punkte-Programms - , Brechung der Zinsknechtschaft', Verstaatlichung der Trustbetriebe, Gewinnbeteiligung an Großbetrieben, Kommunalisierung der Warenhäuser u.a. aufgaben und sich immer stärker in den Dienst der Großindustrie stellten. Um die wirtschaftlich-sozialen Ursachen der Judenfeindschaft in Deutschland aufzuhellen, analysiert Ottwalt in seiner historischen Darstellung besonders Perioden mit einschneidenden wirtschaftlichen Struktur-
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Veränderungen, die ein neues Ausmaß und eine neue „Qualität" von Antisemitismus auslösten, wie zum Beispiel die Gründerjahre. 103 Eine weitere starke Antisemitismuswelle registrierte er Anfang der zwanziger Jahre: Nachdem sich die Antisemiten in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts - einmalig in Deutschland! - in Parteien organisiert hätten und dank einer neuen Wissenschaftsgläubigkeit das Judentum nicht mehr als Religions- und Traditionsgemeinschaft, sondern als Rasse bekämpft worden sei, ging zwar mit der Stabilisierung der Wirtschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts der öffentliche Erfolg der Antisemiten zunächst zurück. Ottwalt hebt hervor, daß auch unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zwar noch eine große Anzahl völkischer Vereinigungen existiert hätten, diese aber mehr esoterischen Charakter trugen, wie der Wälsungen-Orden, Germanenorden, Bund für deutsche Erneuerung u.a. Mit der steigenden Inflationsrate und der raschen Verarmung des Bürgertums nach dem Weltkrieg seien jedoch bald wieder gefährlichere Organisationen auf den Plan getreten, die über größere Finanzmittel verfügten, wie zum Beispiel der „Verband gegen Überhebung des Judentums" oder der mächtige „Deutsch-Völkische Schutz- und Trutzbund". Wie Pilze schössen sie Anfang der zwanziger Jahre aus dem Boden: Völkische Glaubensgemeinschaften, genealogische Vereinigungen, agrarische Organisationen, der Hochschulring Deutscher Art, der sämtliche studentischen Korporationen an deutschen und österreichischen Hochschulen umfaßte, Kriegervereine und vor allem Wehrverbände. Allesamt .völkisch', schlossen sie jüdische Mitglieder aus und verbreiteten antisemitisches Gedankengut: „Der politische Willensausdruck aller dieser Organisationen ist die NSDAP" (81f.). Was diese an antisemitischer Verhetzung nicht leisten könne, das leisteten diese kleinen Vereine, die ihre Mitglieder in der Hand hätten und unaufhörlich antisemitisch beeinflussen könnten: Es fügt sich zwanglos in das hier entworfene Bild ein, wenn in diesem völkischen Hexentanz reaktionäre Cliquen wie die Deutsche Adelsgenossenschaft und die deutschen Offiziersverbände neben wirtschaftsfriedlichen Angestellten- und Arbeitsverbänden stehen, die „Deutsche Industriellenvereinigung" neben „Werksgemeinschaften", die die Lohnpolitik der Gewerkschaften bekämpfen. Kleinbürgertum und Kapitalismus Hand in Hand, geeint unter dem völkischen Gedanken - das ist das Endergebnis der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland. (82)
Noch seien die praktischen Auswirkungen dieses Antisemitismus gering: Kleine Pogrome, nicht im Bayerischen Viertel oder am Kurfürstendamm, sondern in der Grenadierstraße, im Berliner Scheunenviertel (wo die är103
Die Darstellung der großen Antisemitismuswelle in den Gründeijahren und der Haltung Bismarcks gegenüber diesem Phänomen gehört zu den interessantesten Passagen des Buches (S. 28-68).
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meren ,Ostjuden' wohnten). „Man verprügelte keine jüdischen Großbankiers", kommentierte Ottwalt, „sondern armselige kleine Händler, deren Jahresumsatz nur den Bruchteil dessen ausmachte, was die anderen in einer Stunde an der Börse verdienten. Auch hier wurden die antikapitalistischen Tendenzen des Kleinbürgertums sehr geschickt auf unverfängliche Ziele gelenkt." (82f.). Nur folgerichtig habe der Oberbefehlshaber der Reichswehr, Generaloberst von Seeckt, die von der Liga für Menschenrechte initiierte Flugblattaktion gegen die Pogrome im Scheunenviertel verboten; daß aber rings um Berlin „die Heerhaufen der Schwarzen Reichswehr bedrohlich aufmarschiert waren" (83) - das hat ihn kaum beunruhigt. Ottwalt erkennt sehr wohl die emotionale Wucht dieses Antisemitismus, seine Sorge gilt aber weniger der verfolgten Minderheit als der Möglichkeit, daß die antisemitisch Verhetzten eines Tages durchschauen, wovon man sie bisher mit dieser Judenfeindlichkeit ablenken wollte: Fraglich ist freilich, ob die Bewegung ihren Führern nicht aus der Hand gleiten wird, ob die von der NSDAP irregeleiteten Massen nicht eines Tages ihre antisemitischen und ihre antikapitalistischen Neigungen miteinander verwechseln werden. (83f.)
Der
Nationalismus
Eine wichtige Rolle bei der ideologischen Wegbereitung des Nationalsozialismus spielte auch der Nationalismus. Diesem Phänomen widmete Ottwalt ebenfalls ein einführendes Kapitel, kürzer zwar, aber auch mit einem historischen Rückblick und mit dem gleichen aufklärerischen Elan geschrieben wie das erste - eine kritische Auseinandersetzung mit der großdeutsch-nationalistischen Ideologie des Kaiserreichs. Im Mittelpunkt seines Interesses steht wiederum das Kleinbürgertum, das, zwischen zwei mächtigen Klassen stehend, sich der kapitalistischen Entwicklung entgegenzustellen versuchte.104 Unklar bleibt jedoch bei Ottwalt, weshalb sich das Kleinbürgertum „so völlig von der Großbourgeoisie ins Schlepptau nehmen" ließ (94). Hier vermißt man etwas die gerade von Ottwalt geforderte materialistische Interpretation. Denn der rückwärtsgewandte Nationalismus, die Schwärmerei für die Germanen, für die großen Männer, die „die Geschichte machen" (98f.), das Festhalten am Idealismus (obwohl es um ganz handfeste Interessen ging), die Lehre vom Übermenschen - alle diese Vorstellungen
104
Ernst Ottwalt: Deutschland erwache! (Anm. 94), S. 86-128.
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wurden ja nicht vom Kleinbürgertum entwickelt.105 Die Vorfahren von Lagarde und Langbehn waren Geistliche und Gymnasiallehrer, Treitschke stammte aus dem Offiziersadel, und Moeller van den Bruck war in jeder Hinsicht ein Außenseiter. Ottwalt selbst spricht in diesem Zusammenhang von den „namhaftesten deutschen Universitätsprofessoren" (109), die während des Ersten Weltkrieges „Deutsche Reden in schwerer Zeit" hielten. Hier hat sich in die berechtigte kritische Analyse des deutschen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert der in der Parteidiskussion übliche unscharfe Begriff des .Kleinbürgertums' eingeschlichen, den Ottwalt - und viele andere zeitgenössische Autoren - ebenso undifferenziert und unbedacht übernahmen wie den ebenso diffusen Begriff des Faschismus'.
Ursachen und Entwicklung des
Nationalsozialismus
Ottwalts Geschichte des Nationalsozialismus beginnt nicht - wie bei Heiden - mit dem Stammtisch der Gründungsväter und einem Porträt ihres ,Führers' Adolf Hitler, d.h. mit den Persönlichkeiten, die an der Spitze der Bewegung standen. Hitler ist für Ottwalt nur interessant als Objekt der Hoffnungen von Millionen Deutschen: „Wie sich Herr Müller den Retter Deutschlands vorstellt ..." (169). Er hält ihn für einen „wildgewordenen Kleinbürger", der nicht einen einzigen originalen Gedanken hat, und charakterisiert ihn als selbstgerecht, unwahrhaftig, aufgeblasen, borniert (172f., 177). Seine „Tat" bestehe darin, daß er durch geschickte Agitation die verschiedenen reaktionären Gruppierungen „gesammelt und in einer schlagkräftigen Organisation zusammengefaßt und nutzbar gemacht hat" (189). Im Unterschied zu Heiden geht Ottwalt davon aus, daß Hitler von Anfang an nur ein einziges Ziel gehabt habe, nämlich das, die Massen zu gewinnen. Dieses Ziel habe er erreicht, nur nehme er nicht wahr, daß auch für ihn der Faust-Vers gelte: „Du glaubst zu schieben, und Du wirst geschoben." (195). Kein Kapitel ist mit so viel bitterer Ironie geschrieben wie das über 1 (Y> den „großdeutschen Diktator". Respekt vor dessen Talenten oder gar latente Bewunderung lassen sich bei Ottwalt ganz gewiß nicht nachweisen; es muß jedoch die Frage gestellt werden, ob er nicht mit der Vernachlässigung der ,Führer'-Figur ein wesentliches Strukturlement des Nationalsozialismus bzw. des Faschismus übersehen hat. 105
Im Unterschied zu der sonst bei Sozialhistorikern und Soziologen üblichen Begriffsbildung verstand Ottwalt unter .Kleinbürgertum' offensichtlich das gesamte Spektrum des Bürgertums vom großbürgerlichen .Schwerindustriellen' bis zum Gelehrten, vom General bis zum Postsekretär. Äußerungen, wie die über die Verfechter der .deutschen Sendung' S. 109 oder S. 128, legen das nahe.
106
Ernst Ottwalt, Deutschland erwache! (Anm. 94), S. 165-195.
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Größeres Interesse wandte Ottwalt jedoch dem Umfeld zu, den sozialen und politischen Strukturen, aus denen heraus sich die NSDAP entwikkelte. Er schildert die zahlreichen rechtsradikalen Geheimbünde und paramilitärischen Verbände, die sich bald nach dem Ersten Weltkrieg konstituierten und von Großagrariern und Schwerindustrie als „Schutzgarde gegen die Sozialisierungsbestrebungen" (129) gefördert wurden. In den republikfeindlichen Kampfverbänden, deren Aktivitäten von der Reichswehr und von Regierungsstellen unterstützt und deren Verbrechen von einer rechtsorientierten Justiz gedeckt wurden, sah Ottwalt - wie Emil J. Gumbel - die Wegbereiter des Nationalsozialismus.107 Wie Heiden hebt er dabei die besondere Rolle der bayerischen Einwohnerwehr hervor, die mehr oder weniger offen von „legalen Regierungsstellen" materielle und moralische Hilfe erhielt: „München wird zum Mekka der Nationalisten, der Freistaat Bayern die ,Ordnungszelle', an der die Hoffnungen der Reaktionäre aller Richtungen sich entzünden" (138f.). Nach München strömten sozial entwurzelte Kleinbürger, Landsknechte und Offiziere, die arbeitslos geworden waren, ehrgeizige Offiziere der alten Armee, junge Leute, die sich woanders „durch Übernahme eines .vaterländischen Auftrags' strafbar gemacht haben" (139); auch „General Ludendorff, der Stockpreuße, läßt sich um diese Zeit in einem Münchner Vorort nieder" (139). Die Hochschulen Münchens werden Sammelpunkte der Reaktion. Für diese verschiedenen nationalistischen Aktivisten habe es bis zum Auftreten Hitlers keine Partei gegeben; die Deutsche Volkspartei, „ein exclusiver Klub von Interessenten", habe nie eine Massenpartei sein wollen. Erst die NSDAP habe - mit den alt-neuen Parolen: „Los von Weimar! Los von Versailles! Nieder mit dem Sozialismus!" - diesen verschiedenen Gruppen einen gemeinsamen politischen Willensausdruck gegeben (144f.). „Der kaufmännische Angestellte, der in der Einwohnerwehr organisiert ist, der Student, der auf Ehrhardt [und dessen Freikorps-Brigade] schwört, der Offizier, der auf Zivildienstvertrag in einer Reichswehr stelle arbeitet, der wütende Polenfresser aus dem Freikorps Oberland - sie alle sehen in Hitler ihren persönlichen Führer." (145) Aus den konkreten Analysen Ottwalts spricht die persönlich gewonnene Erfahrung des ehemaligen Zeitfreiwilligen im Freikorps Halle: Es war nicht nur das Kleinbürgertum, das Hitler nachlief. 108 Auch das nachgeordnete Kapitel „Der unsichtbare Nationalsozialismus", das zu den interessantesten und wichtigsten des Buches gehört, 107
108
Von Emil J. Gumbel, den er mehrfach zitiert, nennt er in der Bibliographie Verschwörer (Anm. 24) und Verräter verfallen der Feme (Anm. 28). - Im Unterschied zu Ottwalt haben weder Konrad Heiden noch Theodor Heuss die kritischen Analysen Gumbels in ihre Bibliographie aufgenommen. Ernst Ottwalt, Deutschland erwache! (Anm. 94), S. 363-388.
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zeigt ganz deutlich, daß Ottwalt das Ausmaß der Gefahr schärfer erkannte als die meisten seiner Parteigenossen. 109 Obwohl kein Beamter eingeschriebenes Mitglied der NSDAP sein dürfe, sei es doch „ein offenes Geheimnis", daß „gerade in den Kreisen des Berufsbeamtentums der Nationalsozialismus seine meisten Anhänger hat." (366) Und wenn schon in den verschiedenen preußischen Ministerien die mittleren und unteren Beamten nationalsozialistisch dächten und wählten, wie sollte es da in den vielen kleinen Zoll- und Finanzämtern auf dem Lande anders aussehen! Es sei nur bezeichnend, daß der bisherige sozialdemokratische Senatspräsident am Oberverwaltungsgericht in Preußen, Walther Grützner, nach seiner Pensionierung zur NSDAP übertrat (366). Der Nährboden für diese Anhängerschaft in den Behörden - bis hin zu deren Leitern - seien die reaktionären Studentenkorporationen, die auch über den späteren beruflichen Erfolg entscheiden. Wie korrumpiert weite Teile der Beamtenschaft seien, manifestiere unübersehbar die Justiz: „Die dreiste und unverfrorene Bevorzugung rechtsradikaler Rechtsbrecher vor deutschen Gerichten ist so weit Alltäglichkeit geworden, daß die große Öffentlichkeit nur noch in ganz besonders krassen Fällen sich um diese Dinge kümmert." (367f.) Auch in allen größeren Polizeiverbänden befänden sich Nationalsozialisten, in Berlin und Hamburg habe man sogar umfangreiche Zellenbildungen aufgedeckt; in Berlin mußten mehrere Polizeioffiziere wegen ihrer Verbindung zur NSDAP entlassen werden (369). Die engen Verbindungen der Reichswehr zur NSDAP seien so alt wie die Partei selbst. Hitlers philosophische Verbrämung seiner Recht-des-Stärkeren-Politik als das „aristokratische Grundprinzip in der Natur" (373) habe seine Wirkung nicht verfehlt: Selbst der Sohn des letzten deutschen Kaisers, Prinz August Wilhelm von Hohenzollern („Auwi"), sei Mitglied der NSDAP. Er werde sicher noch weitere Feudale im Gefolge haben. Ottwalt erinnert daran, daß vor allem die evangelische Kirche seit ihrem Entstehen ein In109
Eine ungewöhnlich differenzierte und kenntnisreiche Analyse der nationalsozialistischen Anhängerschaft gibt auch der Publizist Hans H. F. Jaeger (1899-1975), trotz seines damaligen kommunistischen Standpunkts. Vgl. dazu den Wiederabdruck seines Artikels vom 3. Juni 1932 (Internationale Pressekorrespondenz, S. 1427-1431) in: Theo Pirker, Komintern und Faschismus 1920-1940, Stuttgart 1965 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Nr. 10), S. 158-167. Der Einfluß auf Ottwalt, der „mehrere Aufsätze" von Hans Jaeger in den Zeitschriften „Der rote Aufbau" und „Die Front" nennt, ist unverkennbar. - Hans Jaeger, der seit 1925 Mitglied des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt und Leiter des Marx-Engels-Verlags war, stand nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auf den ersten Fahndungslisten. Er emigrierte zunächst nach Dänemark, um dort eine Neugründung seines Verlages zu erkunden. Eine Übernahme des Marx-Engels-Verlages in Leningrad lehnte er ab; im Juni 1935 erfolgte der Austritt aus der KPD und der Parteiausschluß durch die Komintern. 1939 emigrierte er von der CSR nach London. (Daten nach: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hrsg. von Werner Röder und Herbert A. Strauss u.a., Bd. 1, München - New York - London - Paris 1980, S. 327f.)
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strument der herrschenden Klasse gewesen sei und daß es deshalb nicht verwundere, daß sich viele evangelische Pastoren zum Nationalsozialismus bekennen. Aber auch die Katholiken seien nicht immun: Merkwürdigerweise seien fast alle führenden Nationalsozialisten Katholiken, und keiner dieser Katholiken sei bisher wegen dieser Parteizugehörigkeit exkommuniziert worden. Im übrigen habe Goebbels im NS-Organ „Der Angriff den katholischen Parteigenossen zugesichert, daß Kultur- und Sozialpolitik der NSDAP weitgehend mit den Forderungen des Papstes vereinbar seien. Daß „der NSDAP im einzelnen nicht unerhebliche Einbrüche in die proletarische Front gelungen" seien, stellt Ottwalt schon in der Einleitung fest (13), indirekt, aber nicht weniger eindeutig auch im Schlußkapitel, das die Erfolge der Nationalsozialisten analysiert: 1922 brauchte man die junge Bewegung, um den Durchbruch des Sozialismus in Deutschland zu verhindern. 1931 sind die Aufgaben, die das Kapital an die NSDAP stellt, klarer, entschiedener und einfacher: man braucht Herrn Hitler, um eine Arbeiterschaft heranzuziichten, deren „restlose Gesinnungstreue" sich in Streikbrecherarbeit, Tarifbruch und Terror in den Betrieben äußert. Und am Endpunkt dieser proletarischen Erziehungsarbeit steht die gesetzliche Arbeitsdienstpflicht, deren Existenz in Italien die deutschen Kapitalisten seit langem vor Neid erblassen läßt... (376)
Spätestens bei der Lektüre dieses IV. Kapitels über den „unsichtbaren Nationalsozialismus" mußte sich der Parteigenosse Ottwalts fragen, wie sich diese Ausführungen zur offiziellen Faschismus-Doktrin der KPD und der Komintern verhielten. Diese Frage stellte sich auch der amerikanische Literaturwissenschaftler David Pike, der einzige, soweit ich sehe, der sich mit Ottwalts Buch Deutschland erwache! nach 1945 eingehend auseinandergesetzt hat. 110 Die offizielle Theorie über die Entstehung des Faschismus, die die Komintern auf ihrem 6. Weltkongreß 1928 in einer Resolution formulierte, hat bis 1934 uneingeschränkt Gültigkeit gehabt: Einerseits sei die gegenwärtige Periode gekennzeichnet durch einen gewaltigen Aufschwung der Technik, dessen Wirkung fast einer Revolution gleichkomme. Andererseits konzentrierten sich die Produktionskapitalien auf relativ wenige Monopole, die marktbeherrschende Positionen einnehmen und über das Schicksal der von ihnen abhängigen Betriebe (Zuliefererfirmen u.a.) bestimmen. Diese Großkonzerne geraten aufgrund der hohen Investitionskosten für technologische Neuerungen in immer größere Abhängigkeit von den Großbanken, deren internationale Verflechtung ebenfalls zunimmt. Da sich in den Industrieländern der Staat zum größten Abnehmer und Auftraggeber entwickle, werde auch die Verzahnung zwischen politischen 110
David Pike: Eine Faschismustheorie der Komintern? Emst Ottwalts Geschichte des Nationalsozialismus. In: Exil 2 (1982), Nr. 1, S. 56-68.
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und wirtschaftlichen Interessen immer enger. Mit der Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunktes nach den USA verschärften sich sowohl die Konkurrenz zwischen der neuen aufsteigenden Weltmacht USA und der alten Kolonialmacht Großbritannien als auch die innereuropäischen Gegensätze (Wiedererstarken Deutschlands!); mit dem Fortschritt der Technik, der zunehmenden Rationalisierung und Organisation entstehe eine chronische Arbeitslosigkeit und sinke die Aufnahmekapazität der Binnenmärkte. Es drohen militärische Auseinandersetzungen, eine proletarische Revolution und ein Krieg gegen die Sowjetunion. - Die Bedrohung durch eine proletarische Revolution und der ständige Kampf um Konkurrenzfähigkeit veranlaßten das Großbürgertum zu direkter Gewaltanwendung, um eine „ungeteilte, offene und konsequente Diktatur zu verwirklichen". Das Parlament werde entmachtet, ein „neuer Staatstypus" werde geschaffen, „der sich offen auf Gewalt und Zwang stützt und die Korrumpierung nicht nur kleinbürgerlicher Schichten, sondern auch gewisser Elemente der Arbeiterklasse betreibt [.. J." 1 1 1 Pike unterstreicht, daß die Grundzüge der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie auch der Analyse Ottwalts zugrunde liegen. Es gebe jedoch vor allem einen gravierenden Unterschied, der, wenn er zuträfe, Ottwalt in die Nähe des verfemten Trotzki rücken würde: Während nämlich die Komintern und ihre gläubigste Gefolgschaft, die KPD und deren Vorsitzender Ernst Thälmann, die größte Gefahr im sogenannten „Sozialfaschismus", d.h. in der reformistischen SPD sahen und Thälmann schon 1929 die von einem Sozialdemokraten geführte Weimarer Regierung als „sozialfaschistische Diktatur" bezeichnete und ein Jahr später verlauten ließ, „daß jetzt in Deutschland der Faschismus herrsche", 112 kennzeichnet Ottwalt schon durch den Titel seines Buches die Nationalsozialisten als die größten und bedrohlichsten Gegner. Zwar bezeichnet auch Ottwalt die Brüning-Regierung mit ihren Notverordnungen als „legale Diktatur" (317), aber seine große Sorge richtet sich auf Schlimmeres, auf das „blutige Schreckbild des Faschismus" (388). Die Sozialdemokraten jedoch, argumentiert Pike, glänzten in Ottwalts Buch geradezu durch Abwesenheit, und nicht zu Unrecht hält er es für möglich, daß der Autor „grundsätzliche Kritik in implizite Andeutungen einhüllte und die Grundpfeiler der politischen Linie von Komintern und KPD in Frage stellte, ohne je gegen ihre Hauptaspekte direkt Stellung zu beziehen." 113 111
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Die internationale Lage und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale. Resolution, angenommen am 29. August 1928. In: Protokoll des 6. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Juli-September 1928. Vierter Band: Thesen/Resolutionen/Programm/Statuten, Hamburg 1929. Nachdruck: Mailand 1967, S. 24. Zitate nach: David Pike, Eine Faschismustheorie der Komintern? (Anm. 110), S. 57. David Pike, Eine Faschismustheorie der Komintern? (Anm. 110), S. 60.
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Bei diesen „Hauptaspekten" handelte es sich um die Theorie der KPD, die ausdrücklich 1928 von der Komintern bestätigt wurde, daß sich Deutschland trotz oder gerade wegen des Sieges des .Faschismus' in einer revolutionären Situation befinde, daß das Proletariat bereits zur Offensive übergegangen sei und das „Sterben der kapitalistischen Klasse" nahe bevorstehe. Haupthindernis sei die Sozialdemokratie - übrigens besonders ihr linker Flügel - , die einen Prozeß der Faschisierung durchmache und zusammen mit der NSDAP eine faschistische Diktatur vorbereite. Der führende Funktionär der Komintern, Dimitrij Z. Manuilskij, begründete das mit drei Argumenten: 1. sei die SPD die „aggressivste Kriegspartei gegen die Sowjetunion"; in der Tat votierte die SPD ausdrücklich für die Bindung an die Westmächte und für die Erfüllung des Versailler Vertrags; 2. verhindere die Sozialdemokratie Aufstände des revolutionären Proletariats; leider wurde dieser Vorwurf bestärkt durch den sogenannten „Berliner Blutmai" 1929: Eine nicht genehmigte Mai-Demonstration kommunistischer Arbeiter wurde durch den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten von Berlin, Karl Zörgiebel, blutig niedergeschlagen; 3. weise die SPD große Übereinstimmung mit der faschistischen Ideologie auf; das gelte u.a. für das Konzept der Wirtschaftsdemokratie (eine grandiose Mißinterpretation der nationalsozialistischen Ziele!) und für das Bestreben, die Macht mit demokratischen Mitteln zu erobern.114 Die KPD hielt völlig realitätsfern auch noch nach den Reichstagswahlen im September 1930 die Sozialdemokraten für gefährlicher als die NSDAP, die nunmehr zur zweitstärksten Partei aufgerückt war. Nur folgerichtig initiierte die KPD gemeinsam mit der NSDAP ein Volksbegehren, das die sozialdemokratische Regierung in Preußen ablösen sollte (das aber mißlang!). Mit Recht betont Pike, daß dagegen Ottwalt immer wieder auf „die wirkliche Bedrohung" durch den Nationalsozialismus aufmerksam mache. 115 - Mehr noch: Ottwalt erklärt sogar an unauffälliger Stelle, daß „die NSDAP Jahre hindurch in erstaunlichem Maß unterschätzt worden ist". 116 Und so ganz „abwesend" sind die Sozialdemokraten in Ottwalts Buch nicht, im Gegenteil; wann immer er sie erwähnt, bemüht er sich um Anerkennung ihrer Verdienste, oder er zeigt Verständnis, zumindest Mäßigung, wenn er ein Unterlassen oder Versagen der SPD im historischen Rückblick beim Namen nennen muß: So beklagt Ottwalt, daß die SPD den Antisemitismus des Kleinbürgertums unterschätzt und daher unglück114
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Nach Wolfgang Wippennann: Zur Analyse des Faschismus - Die sozialistischen und kommunistischen Faschismustheorien 1921-1945. Frankfurt a.M. - Berlin - München 1981, S. 84f. David Pike, Eine Faschismustheorie der Komintern? (Anm. 110), S. 60 und 61f. Ernst Ottwalt: Deutschland erwache! (Anm. 94), S. 856.
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licherweise Rudolf Hilferding mit der Aufgabe betraut habe, die Inflation zu beenden (79). Unmittelbar nach Kriegsende sei die Sozialdemokratie außerstande gewesen, die ihr zuströmenden „ungeheuren Wählermassen" ideologisch zu durchdringen - wegen der „Kürze der ihr zur Verfügung stehenden Zeit" (113), und es habe sich unweigerlich eine Bundesgenossenschaft zwischen Sozialdemokraten und Kapitalisten bilden müssen, wenn man die Forderungen des Versailler Friedensvertrages erfüllen wollte (114). 117 Geradezu ketzerisch mußte für die Parteigenossen Ottwalts dessen Feststellung über die ersten immensen Erfolge der NSDAP 1921 und über die Abwehrtätigkeit der SPD klingen: „Die Sozialdemokratie Münchens wehrt sich verzweifelt gegen den Aufschwung des Nationalsozialismus [...] Unter dem gemeinsamen Ansturm der klerikalen und nationalsozialistischen Agitation verliert die Sozialdemokratie in München immer mehr an Boden." (240f.). An keiner Stelle eine Verfemung der Sozialdemokratie; nirgends bezichtigt er sie des „Sozialfaschismus", wie das die KPD bei jeder Gelegenheit damals tat. Pikes Vermutung, daß Ottwalt sich mit dieser Abweichung von der Parteilinie dem Standpunkt Trotzkis nähere, ist sicher richtig, gleichviel, ob Ottwalt Trotzkis Stellungnahmen zum Faschismus und Nationalsozialismus nun gelesen hat oder nicht. 118 Fraglich ist jedoch, ob Ottwalt wie Pike nahelegt - auch die Vorstellungen Trotzkis über das Kleinbürgertum teilte: „[...] wenn die revolutionäre Hoffnung die ganze proletarische Masse erfaßt hat, zieht sie auf der Straße der Revolution beträchtliche und wachsende Teile des Kleinbürgertums hinter sich her." 119 Damit war allerdings von Trotzki eher die Bedingung eines Sieges über den Nationalsozialismus ausgesprochen als die Gewißheit, daß es so kommen 117
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Schon 1923 interpretierte die KPD diese Vorgänge ganz anders. Vgl. dazu Theo Pirker: Komintern und Faschismus 1920 -1940 (Anm. 109), S. 144ff. Über die Bezichtigung der Sozialdemokraten als .Sozialfaschisten' vgl. auch die Einleitung Pirkers, S. 62ff.; Siegfried Bahne: ,Sozialfaschismus' in Deutschland. Zur Geschichte eines politischen Begriffs. In: International Review of Social History 10 (1965), S. 211-242. Trotzki hatte sich damals mehrfach, aufklärend und kämpferisch, über die Gefahren des Faschismus bzw. Nationalsozialismus und über die fehlerhafte Analyse der Komintern in Zeitschriften geäußert; die wichtigsten Beiträge sind auch als selbständige Publikationen erschienen, wie: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland (hrsg. von der Reichsleitung der Linken Opposition der KPD, Berlin 1930); Soll der Faschismus wirklich siegen? Deutschland - der Schlüssel zur internationalen Lage (Berlin-Neukölln 1932); Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats (Berlin 1932). Alle damaligen Veröffentlichungen sind zugänglich in Leo Trotzki: Schriften über Deutschland. 2 Bde., hrsg. v. Helmut Dahmer, eingel. v. Emest Mandel, Frankfurt a.M. 1971. - In Ottwalts Bibliothek (soweit sich diese erhalten hat) befinden sich keine Veröffentlichungen von Trotzki. Für diese Information danke ich Prof. Dr. Gert Mattenklott, Marburg/Berlin. Leo Trotzki, Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland (1930), zitiert nach: David Pike, Eine Faschismustheorie der Komintern? (Anm. 110), S. 61.
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werde. Immerhin, Trotzki hoffte, daß das Kleinbürgertum die „konterrevolutionäre Verzweiflung" überwinden und sich auf die Seite des Proletariats stellen werde. Ottwalt dagegen stellt schon in der Einleitung, also an exponierter Stelle fest, daß die „wenig scharf umrissene Schicht" des Kleinbürgertums wie bisher immer in der Geschichte - keine eigenen revolutionären Energien zur Befreiung herausbilde: Jeder Versuch einer Revolutionierung des Kleinbürgertums in bewußtem Gegensatz zur revolutionären Aktion des Proletariats muß zwangsläufig dazu führen, daß die Revolutionierung des Kleinbürgertums bei der Vertretung der Interessen der herrschenden Klasse endet. (14)
Damit unterscheidet sich Ottwalt sowohl von der Linie der Komintern/ KPD als auch von derjenigen Trotzkis, die davon ausgingen, daß das Kleinbürgertum sich schließlich auf die Seite des „Siegers", und das hieß: auf die Seite des Proletariats schlüge. Nur betrachtete Trotzki diesen Sieg des Proletariats keineswegs als sicher. Pike vermutet, daß Ottwalt aber nicht so fatalistisch denke, wie es oberflächlich gesehen, den Anschein habe. Seiner Ansicht nach habe Ottwalt sein Buch als Aufklärungsprogramm verfaßt, das mithelfen sollte, die Illusionen des Kleinbürgertums zu zerschlagen und diese Klasse doch noch zur Unterstützung des Proletariats zu bewegen. Von dieser aufklärerischen Intention seien besonders die beiden ersten Kapitel mit ihrem historischen Rückblick bestimmt.120 Verfolgte Ottwalt wirklich dieses Ziel, nämlich die Umstimmung des Kleinbürgertums, so fragt man sich, warum er dann mehrfach betonte, daß eben diese diffuse Schicht „zwangsläufig" zur herrschenden Klasse tendiere, daß es „unfähig [sei], jemals den Solidaritätsgedanken des Proletariats aufzunehmen" (258). Ist es nicht im Gegenteil gerade die historische Analyse, die Ottwalt zu der endgültigen und schmerzlichen Einsicht bringt, daß die unter den Linken verbreiteten Hoffnungen auf ein gewandeltes, antifaschistisches Kleinbürgertum nichts weiter sind als Illusionen, unerfüllbare Wunschträume? Antisemitismus, völkischer Gedanke, Versailles, Weimar, die deutsche Sendung, Kriegsschuldlüge, Ruhrbesetzung, nichts hat das Kleinbürgertum aus der tödlichen Entschlußlosigkeit zu wecken vermocht, in der es als Klasse zu erstarren drohte. Der Kleinbürger hat die Revolution hingenommen, wie er den Chauvinismus der Kriegszeit hingenommen hatte. Er hat das Ende der Revolution und die beginnende Offensive des Unternehmertums miterlebt, ohne sich seiner Lage bewußt zu werden. Alle politischen Katastrophen der Nachkriegs120
David Pike, Eine Faschismustheorie der Komintern? (Anm. 110), S. 61.
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zeit, alle ideologischen Erschütterungen, nichts hatte ihn zur befreienden Tat aufrütteln können. Inflation! Der ungeheuerlichste Betrug, der jemals in der ganzen Weltgeschichte an einem Volk begangen worden ist. Die Vernichtung des Kleinbürgertums, die sich die Väter des Sozialismus als eine Folge der Revolution oder als das Endprodukt eines langwierigen ökonomischen Prozesses vorgestellt hatten, jetzt vollendet sie sich innerhalb weniger Monate. In einem Tempo, das auch die Besonnensten und Urteilsfähigsten blind macht für das, was um sie her vorgeht. Der Kleinbürger verliert den Halt, der Boden unter seinen Füßen wankt: die große Sintflut! Weltuntergangsstimmung! Chiliastische Ängste und Bedrükkungen. Not, Verzweiflung, Zorn, Verachtung, der simple, unheimliche, banale Hunger, Umwertung aller Werte... [...] In einem einzigen Aufschrei der Rebellion, der Empörung entlädt sich alles, was jemals der Kleinbürger über seine Stellung im Staat und in der Wirtschaft gedacht und räsoniert hat: das Kleinbürgertum wird revolutionär. Eine Entscheidungsstunde geht über Deutschland auf. Zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat steht eine vielgestaltige und gestaltlose Masse voller rebellierender Instinkte und revolutionärer Energien, die vom Proletariat nichts mehr unterscheidet als der Plunder einer Ideologie, die sinnlos geworden ist. Aber es wiederholt sich dieselbe Erscheinung, die schon nach der Revolution zu erkennen war: selbst die vollendete Proletarisierung ist nicht kräftig genug, das Kleinbürgertum zu einem revolutionären Faktor im Sinne der sozialistischen Wissenschaft zu machen. Das Kleinbürgertum findet den Anschluß an das kämpfende Proletariat nicht. Es kann keine ökonomischen Zusammenhänge sehen. (125ff.) Wie viele enttäuschte Hoffnungen sprechen aus diesen Worten! Wenn Ottwalt also am Ende seines Buches in einer „Volksbewegung" (385) die einzigen „Möglichkeiten zu einer erfolgversprechenden Abwehr" (385) sah, zielte er dann wirklich - wie Pike annimmt (61 f.) - auf eine gemeinsame .Volksfront* aller Sozialisten, wie sie auch Trotzki propagierte? Oder sollten die folgenden Vorbemerkungen mit ihrer ausgrenzenden Funktion gerade vor einer Einheitsfront aller antifaschistischen Kräfte warnen? Aber sind in dem politischen Gefüge der Diktaturrepublik Deutschland Kräfte zu erkennen, von denen energische Impulse zur Unterbrechung oder Überwindung des Fascismus ausgehen werden? Die Analyse der antifascistischen Front wird dadurch erschwert, daß dem äußeren Anschein nach die NSDAP von den bürgerlichen Parteien der Mitte und der Linken heftig bekämpft wird. Man darf sich aber von diesem äußeren Anschein nicht täuschen lassen: diese Kampfstellung gegen den Nationalsozialismus richtet sich lediglich gegen deren exzessiven antisemitischen und chauvinistischen Charakter, denn es werden weder die engen Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und Trustkapital erkannt, noch will man sich zur Anerkennung der Identität von Fascismus und Monopolkapitalismus entschließen. (384f.)
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Nimmt man diese Sätze am Ende des Buches ernst - und es gibt keinen Grund, sie nicht ernstzunehmen, da sie nochmals das Hauptmotiv des Buches zusammenfassen so kann es sich hier nur um einen letzten verzweifelten Appell Ottwalts an die Basis der SPD und der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), einer linken Absplitterung der SPD, handeln, sich auf die Seite der kommunistischen Arbeiterbewegung zu stellen und sich mit dieser gegen das drohende „blutige Schreckbild des deutschen Faschismus" (388) zur Wehr zu setzen. „Volkserhebung" bedeutet dabei offensichtlich „kämpferische Erhebung", „Kampf. 1 2 1 Indirekt hat sich Ottwalt mit diesem letzten Appell nochmals von der , Sozialfaschismus'-These der KP-Führung distanziert: Er gesteht den .Linken' - d.h. wohl der SPD und den linken Splittergruppen - und offensichtlich auch den Linksliberalen und Radikaldemokraten durchaus eine ehrliche Abwehrhaltung gegen den Nationalsozialismus zu, die sich aber nur gegen dessen exzessive Auswüchse, den Antisemitismus und Chauvinismus, richte, nicht aber gegen dessen Ursache; nur folgerichtig wollten diese Gegner auch weiterhin für eine parlamentarische Demokratie eintreten und den alten politischen Apparat von Weimar erhalten. Ottwalt dagegen appelliert an eine antifaschistische „Volksbewegung", die sich von der Einsicht leiten läßt, daß der Monopolkapitalismus mit keiner anderen Staatsverfassung als der faschistischen kompatibel sei, und die deshalb nicht bei der Niederschlagung des Nationalsozialismus haltmachen dürfe, sondern endlich auf eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft hinarbeiten müsse. Es spricht für die werbende Funktion des Buches, daß Ottwalt an dieser Stelle auch nicht von der „Diktatur des Proletariats" spricht, sondern nur davon, daß „die heutige Struktur der deutschen Republik" nicht unangetastet bleiben dürfe (385). 122 Ottwalt wirbt meines Erachtens - ganz im Einklang mit der Partei um die Menschen an der Basis der linken Parteien, die er mit seiner ökonomischen Analyse des Nationalsozialismus, mit der Infragestellung der parlamentarischen Demokratie und der gesamten bürgerlich-idealistischen Kulturtradition auf die Seite der Kommunisten ziehen möchte. Für diese Interpretation spricht möglicherweise auch eine Erfahrung, die Ottwalt kurz vor der Fertigstellung seines Buches machte und die seiner Faschismustheorie geradewegs zuwiderlief: Ende Juli 1931 fand in Wien der Vierte Kongreß der Sozialistischen Arbeiterinternationale statt 121
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David Pike, Eine Faschismustheorie der Komintern? (Anm. 110), teilt in Anm. 27 mit, daß auch die KPD-Komintern-Propaganda gerade zu jener Zeit eine ähnliche Parole, nämlich .Volksrevolution', einführte, um eine größere Unterstützung für ihr Programm zu finden (67). David Pike hat recht, wenn er zu dem Schluß kommt (Anm. 110, S. 63), daß Ottwalts Perspektiven in die Zukunft (bewußt?) im Unklaren gelassen werden, so daß wir unsere Deutungen letztlich nicht beweisen können.
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(das Gegenstück zu den Weltkongressen der Kommunistischen Internationale), auf dem Otto Bauer, der langjährige Führer der Sozialdemokratischen Partei Österreichs und hervorragender Theoretiker des Austromarxismus, eine für damalige Ohren kühne Resolution vorschlug: Die Regierungen der kapitalreichen Länder sollten durch „eine schnelle und großzügige Aktion internationaler Solidarität" den wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands und die schwerste Erschütterung der deutschen Demokratie verhüten helfen. Denn die Wirtschaftskatastrophe Deutschlands würde die Gefahr des politischen Zusammenbruchs der deutschen Demokratie vervielfachen. Ein Sieg einer nationalistischen Diktatur in Deutschland würde die Demokratie in ganz Europa östlich des Rheins in größte Gefahr bringen. Sie würde den Frieden Europas schwer gefährden [...], sie würde Europa einem neuen Krieg entgegenführen.123
Nicht alle Delegierten sahen in einem solchen Wirtschaftsplan „die sozialistische Idee der internationalen Solidarität" verwirklicht. Vor allem der Führer der englischen Labor Party, James Maxton, erklärte befremdet, es könne doch nicht Aufgabe einer Sozialistischen Internationale sein, den deutschen Kapitalismus zu retten. Ottwalt wird sicher von dieser Resolution gelesen, seine Freunde mögen diese diskutiert haben. Am Ende hat ihn gerade diese Resolution darin bestärkt, immer wieder gegen diejenigen zu polemisieren, die den Zusammenhang zwischen Monopolkapitalismus und Faschismus nicht erkennen wollten. Möglicherweise beschleunigte dieses Ereignis sogar seinen Eintritt in die Kommunistische Partei im September 1931. Die Unterschiede zum Standpunkt Trotzkis erscheinen dagegen nicht so erheblich; es handelt sich dabei im wesentlichen um drei Punkte, einmal abgesehen davon, daß der auf die türkische Insel Prinkipo Verbannte eine klarere Sprache spricht als Ottwalt: Trotzki unterschied sich von Ottwalt in dreierlei Hinsicht: 1. durch seine deutliche und scharfe Kritik an der Führung der eigenen Partei und an der stalinistisch dominierten Komintern. Er forderte dringend eine Demokratisierung der Kommunistischen Partei von unten durch eine Revitalisierung der Räte (.Sowjets'); 2. angesichts der akuten Bedrohung aller Arbeiterorganisationen durch den Faschismus bzw. den Nationalsozialismus erklärte er die Diffamierung der Sozialdemokraten als ,Sozialfaschisten' ausdrücklich für absurd 123
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Die Lage in Deutschland und Zentraleuropa und der Kampf der Arbeiterklasse um die Demokratie. Resolution des Vierten Kongresses der Sozialistischen Arbeiter-Internationale. Wien, 25. Juli - 1. August 1931. Abgedruckt in: Julius Braunthal, Geschichte der Internationale, Bd. 2. Berlin - Bonn - Bad Godesberg 21974, S. 570-572 (Zitat S. 570). Julius Braunthal: Geschichte der Internationale, Bd. 2 (Anm. 123), S. 383.
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und sah in der allgemeinen Unterschätzung des Nationalsozialismus eine verhängnisvolle Entwicklung; 3. Weit klarer als die meisten Kommunisten erkannte Trotzki - und da stimmte ihm Ottwalt sicher zu welche große Bedrohung ein nationalsozialistisches Deutschland für die Nachbarvölker, besonders die Sowjetunion sein würde. Er forderte deshalb zur Bildung einer Einheitsfront auf, deren oberstes Ziel lauten sollte: „Kühne, heroische Verteidigung der proletarischen Organisationen vor dem Faschismus." 125 Dabei sollten alle Organisationen des Proletariats ihren Platz in der Einheitsfront gegen die (faschismusfreundliche) Bourgeoisie einnehmen: „Jede Organisation bleibt unter eigenem Banner und eigener Führung. Jede Organisation beachtet in der Aktion die Disziplin der Einheitsfront." (306) Das praktische Programm sollte festgelegt werden „durch Verständigung der Organisationen vor den Augen der Massen." (306). Daß Ottwalt sich mit seinem Buch „zwischen alle Stühle gesetzt" hatte, sollte er in den folgenden Monaten am Ausbleiben fast jeder Resonanz zu spüren bekommen. Keine .bürgerliche' Zeitung hat sein Buch besprochen oder wenigstens seine eindringlichen Warnungen zur Kenntnis genommen. 126 Nur in dem kommunistischen Blatt „Die rote Fahne" erschien am 9. Januar 1932 eine ungezeichnete Rezension, die Ottwalts Geschichte des Nationalsozialismus trotz gewisser „Entgleisungen", wie die Charakterisierung des Kleinbürgertums und die fehlende Identifizierung von Sozialdemokratie und Faschismus, als ausgezeichnet empfahl. Am folgenden Tag wurde berichtet, daß die Rezension ohne Zustimmung des „verantwortlichen politischen Redakteurs" erschienen sei und daß eine grundsätzliche kritische Stellungnahme folge. Dieser angekündigte Artikel vom 23. Januar stellte schon in der Überschrift fest: „Kein marxistisches Buch." In der Besprechung wurde vor allem die These Ottwalts in Frage gestellt, daß der .Faschismus' die dem Monopolkapitalismus entsprechende Staatsform sei. 127 Die Folgen sind bekannt: Die KPD führte weiterhin den „Hauptschlag" (Ernst Thälmann) gegen die Sozialdemokraten, und noch auf dem XII. Plenum des Exekutivkomitees der Komintern im September/Oktober 1932 wurde erklärt, daß der „Sieg der proletarischen Revolution in 125
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Leo Trotzki: Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats (Prinkipo, 27. Januar 1932). In: Trotzki, Schriften über Deutschland, Bd. I, hrsg. v. Helmut Dahmer, eingeleitet v. Ernest Mandel. Frankfurt a.M. 1971, S. 306. Bei Andreas W. Mytze, Ottwalt (Anm. 94), S. 126f., kann man nachlesen, daß auch die Neuherausgabe von Deutschland erwache! kaum wahrgenommen wurde. Auch von Gerhard Schreiber: Hitler. Interpretationen 1923-1983 (Anm. 3) wurde Ottwalts Buch nicht erwähnt. David Pike, Eine Faschismustheorie der Komintern? (Anm. 110), S. 63ff. David Pike analysiert in seinem kenntnisreichen Aufsatz die politischen Hintergründe für die gewandelte Auffassung der Kommunistischen Internationale.
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Deutschland" unmittelbar bevorstehe.128 Als am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde und die Arbeiter in gewaltigen spontanen Massendemonstrationen ihren Widerstand zum Ausdruck brachten da endlich kam von der Kommunistischen Partei der Aufruf zum Generalstreik. Doch es wurde nicht gestreikt. Die kommunistischen Arbeiter hatten ihrer Partei die Gefolgschaft versagt. Und die Sozialdemokraten? Sie sprachen sich bis zuletzt für eine parlamentarisch demokratische Verfassung aus, die schon längst außer Kraft gesetzt war, die kaum noch jemand ernsthaft wollte. Bis zuletzt diskutierten sie über das Problem der Gewalt und zögerten. Als nach Papens Staatsstreich am 20. Juli 1932 die Verbände des Reichsbanners und der „Eisernen Front" 129 auf das Signal zum Generalstreik warteten, warnte der Preußische Innenminister Carl Severing die erregten Massen vor unüberlegten politischen Abenteuern und rief dazu auf, sich auf den Wahlkampf am 31. Juli zu konzentrieren. Es war die letzte Chance gewesen ... Goebbels hatte begriffen, daß kein Widerstand mehr drohte, und notierte sich am 21. Juli 1932 in sein Tagebuch: A l l e s rollt w i e am Schnürchen ab. D i e Roten sind beseitigt. Ihre Organisationen leisten keinen Widerstand. [ . . . ] Der Generalstreik unterbunden. Es laufen zwar Gerüchte von einem bevorstehenden Reichsbanneraufstand um, aber das ist ja alles Kinderei. D i e Roten haben ihre große Stunde verpaßt. Die kommt nie wieder [ . . . ] . 1 3 0
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Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien - Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion. Darmstadt 5 1989, S. 21. Das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" war ein republikanischer Schutzbund, der 1924 im Einvernehmen mit dem SPD-Vorstand als Gegengewicht gegen die bestehenden Kampfverbände der politischen Rechten zum Schutz der Weimarer Republik gegründet wurde; im Dezember 1931 wurden das Reichsbanner, die SPD, die Gewerkschaften und die Arbeitersportvereine zur „Eisemen Front" zusammengeschlossen. Joseph Goebbels: Die Tagebücher. Sämtliche Fragmente. Hrsg. v. Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte u. in Verbindung mit dem Bundesarchiv. Teil I: Aufzeichnungen 1924-1941, Bd. 2: Tagebuch vom 1. Januar 1931 bis 31. Dezember 1936. München - New York - London - Paris 1987, S. 208.
Joachim Dyck (Oldenburg)
Zur Rhetorik des Antisemitismus
Das Thema .antisemitische Rhetorik' hat zwei Pole, die Rhetorik und den Antisemitismus in Deutschland. Obwohl es so scheint, ist es nicht leicht, die beiden Begriffe miteinander zu verbinden. Denn in einem Verständnis, das den Begriff der Rhetorik aus der Antike herleitet, in der Cicero und Quintilian das Ideal dieser praktischen, auf den sozialen Dialog zielenden Wissenschaft verkörpern und eine eigene positive Ethik gegenüber der Philosophie gleichrangig mit dieser behaupten, hat der Antisemitismus keinen Platz, und bei einer Nennung im gleichen Atemzuge mit diesem sinkt die Rhetorik auf eine Stufe des gemeinen Bewußtseins zurück, das in ihr nichts weiter erkennen will als hohle Rabulistik. Rhetorik des Antisemitismus kann daher in unserem Zusammenhang nur heißen: Welche Bedeutung hatte die Rede im Nationalsozialismus, und welchen Ausdruck findet der Antisemitismus in der Öffentlichkeit? Natürlich kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Rede des einzelnen Redners als Vermittlungsform der nationalsozialistischen Ideologie eine große Rolle gespielt hat. Hitler selbst hat sich in Mein Kampf ausführlich über den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland und der mündlichen Rede geäußert. Und damit den Grund zu der Legende gelegt, die die persönliche Rede und den Erfolg des Nationalsozialismus in Verbindung bringt. In der Rückschau heißt es über den Jungen: „Ich glaube, daß schon damals mein rednerisches Talent sich in Form mehr oder minder eindringlicher Auseinandersetzungen mit meinen Kameraden schulte."1 Das Bild des Redners, der durch sein Wort zum Revolutionär wird, da „alle gewaltigen, weltumwälzenden Ereignisse nicht durch Geschriebenes, sondern durch das gesprochene Wort herbeigeführt worden sind", wird in Mein Kampf mit kräftigen Farben gemalt; im übrigen gibt Hitler der mündlichen Rede vor der Schrift den Vorzug, weil sich die freie Rede auf aktuelle Themen einstellen könne, und er hält der bürgerlichen Intelligenz vor, sie verachte die freie Rede, weil ihr selbst die Kraft und Fähigkeit der Massenbeeinflussung durch das gesprochene Wort ersichtlich fehlt, da man sich immer mehr auf die reine schriftstellerische Tätigkeit geworfen hatte und auf die wirklich agitatorische der 1
Adolf Hitler: Mein Kampf. 656.-660. Auflage. München 1941, S. 3.
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Joachim Dyck
Rede verzichtete. Eine solche Gepflogenheit führt aber mit der Zeit zwangsläufig zu dem, was unser Bürgertum heute auszeichnet, nämlich zum Verlust des psychologischen Instinktes für Massenwirkung und Massenbeeinflussung.2
Durchaus korrekt ist die Einsicht, daß es in der Rhetorik, soweit sie sich als Beeinflussung von anderen Menschen durch das Wort versteht, auf die Veränderung der emotionalen Befindlichkeit ankommt. Hitler stellt fest, daß es sich um „Beeinträchtigungen der Willensfreiheit des Menschen handelt" 3 . Im Gegensatz zu Leuten am Schreibtisch würde „in diesem Ringkampf des Redners mit den zu bekehrenden Gegnern dieser allmählich jene wundervolle Feinfühligkeit für die psychologischen Bedingungen der Propaganda bekommen" 4 . Und nachdem Hitler seinem Glauben Ausdruck gegeben hat, daß die Französische Revolution eigentlich durch eine „Armee von Hetzern in Gang gebracht wurde, die die Leidenschaften des gequälten Volkes aufpeitschten, bis endlich jener furchtbare Vulkanausbruch erfolgte", fällt der Begriff einer „überragenden Redekunst einer beherrschenden Apostelnatur", der für das Bild der faschistischen Propaganda so zentral geworden ist. So ernst dieser Selbstanspruch aus Mein Kampf genommen werden muß, weil er über die ideologischen Inhalte des Faschismus Auskunft gibt, so bleibt er doch Teil eines Selbstbildes, das den einsamen Kämpfer in der verbalen Überzeugungsschlacht gegenüber den Massen zeigt. Die faschistische Propaganda ist auf diese Selbstdarstellung ununterbrochen zurückgekommen, hat sie zu ihrem locus classicus gemacht. Die Einzelpersönlichkeit des Führers garantiert, wenn sie charismatisch genug ist, die Indoktrination der Zuhörer. Das ist eine sehr einfache Vorstellung, die gleichwohl von großer Wirksamkeit war, weil sie den Gedanken vermittelte, daß der Einzelne aufgrund seiner Sprache ohne Berücksichtigung der sonstigen Realität die Welt zu seinen Gunsten verändern kann. Das von Hitler gezeichnete Bild in Mein Kampf wurde zur Grundlage aller weiteren Überlegungen zu Rede und Rhetorik, besonders in den internen Parteizeitschriften, die nur für führende Parteibonzen in bestimmten Ämtern zugänglich waren und deren Mitteilungen vertraulich behandelt werden sollten. 2 3 4 5
Hitler, S. 525. Hitler, S. 531. Hitler, S. 532. Dieses Material ist bisher noch nicht genügend ausgewertet worden. Besonders die Parteizeitschrift „Der Hoheitsträger" ist eine wichtige Quelle für künftige Arbeiten. In der Nummer 8/1938, S. 38 etwa heißt es: „Die Bedeutung der Rede als entscheidendes politisches Führungsmittel ist vom Führer in ,Mein Kampf' eingehend dargestellt worden. Für jeden politischen Leiter und Formationsführer ist die Bedeutung der Rede ein selbstverständlicher Begriff geworden. Die NSDAP hat damit wieder der Rede jene Bedeutung gegeben, die ihr seit der Antike nur die Kirche zugemessen hatte."
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Der Mythos vom Redner der Bewegung reicht bis in die individuelle Biographie des Nazis hinein. Ich glaube, daß es für die Biographie eines Arbeiters, eines Angestellten, eines Intellektuellen jeweils bestimmte Topoi gibt, an denen die Idealität seiner Entwicklung gemessen wird. Für den guten Nazi gehört es zum Topos seiner Biographie, in der sogenannten ,Kampfzeit* bis 1933 zum Redner geworden zu sein: „Die Redner sind die ewigen Former der deutschen Volksseele und bleiben das, was wir von Anfang an schon als Kampfredner waren: die leidenschaftlichsten Glaubensträger der nationalsozialistischen Idee!" 6 Der Mythos vom Redner wird auch nach 1933, als die Zeit der sogenannten „Kampfreden" vorbei ist, durchaus beibehalten, obwohl die Rede von nun an eine andere Funktion erhält. Dieser Gegensatz wird folgendermaßen begründet: Das damalige Regime bot uns dermaßen viel Stoff zur Kritik, daß wir damit allein unsere Versammlungen ausfüllen konnten. Jetzt ist es dagegen unsere Aufgabe, die Aufbauarbeit durch unsere Reden zu unterstützen und die Gegner, die heute nicht mit lauter Diskussion, sondern mit heimlicher Flüsterparole umgehen, zu entlarven. Kampfzeit ist aber auch heute noch [...]. Trotzdem müssen wir es als unsere ehrenvollste Aufgabe auffassen, gerade auch die Gebiete zu behandeln und hier die Volksgenossen in positiver Hinsicht zu erziehen, deren Behandlung eventuell unpopulär ist! Hier können wir dann wieder zeigen, ob wir als Redner wirklich etwas können und verstehen.7
Der Hinweis auf die Rechtfertigung „unpopulärer" Maßnahmen - Begründungen etwa für die Verfolgung der Juden, die Einschränkung des Lebensstandards in Kriegszeiten, Auseinandersetzungen mit Widerstandsformen usw. - zeigt die veränderte Funktion des Redners an, der ab 1933 in ein durchorganisiertes Netz von hierarchisch geordneten Stellen innerhalb der Partei eingegliedert wird, um das durchzusetzen, was die Nazis .Weltanschauung' nannten. Eine Anordnung des Reichsorganisationsleiters konnte in den Gauen, den Kreisen und den Ortsgruppen an folgende Positionen übertragen werden: Gauleiter, Stellv. Gauleiter, hauptamtlicher Gauamtsleiter, Gaubeauftragter für Schulungsbriefe, Leiter der Gauschule, Kreisleiter, Kreispersonalamtsleiter, Kreisorganisationsleiter, Kreisschulungsleiter, Kreisgeschäftsführer, Kreiskassenleiter, Kreispropagandaleiter, Kreispresseamtsleiter, Kreisrichter der NSDAP, Kreisobmänner der DAF, Kreisgruppenleiter. Außerdem gab es: Kommandanten, Stammführer und Junker der Ordensburg, in denen der Parteinachwuchs geschult wurde, die Reichs-, Stoßtrupp- und Gauredner der NSDAP, die Obergruppenführer und Gruppenführer der SA, SS und des NSAK, die Obergebietsführer und Gebietsführer der Hitlerjugend. 6 7
Hoheitsträger 1/1939, S. 24. Hoheitsträger 1/1939, S. 24.
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Diese Liste gibt einen Eindruck über die Dichte des Netzes von potentiellen Rednern, die grundsätzlich für die Schulung der Nazi-Partei verantwortlich waren. Wir haben es hier mit einem Unterdrückungs- und Überwachungssystem zu tun, das mit der überlieferten Form der Rede nur noch den Namen gemein hat: Die rigide Organisation von Veranstaltungen, das Klima des Zwangs, also gesellschaftliche Faktoren, die von der Überzeugungsfähigkeit eines einzelnen Redners nicht abhängen, bestimmen die »Rhetorik des Nationalsozialismus'. Propaganda und Indoktrination mit allen Mitteln, d.h. auch durch die Rede in kleineren Zirkeln und bei großen Massenaufläufen, werden .Schulung' genannt. Dabei ist von Anfang an deutlich, daß die Propaganda darauf abzielt, diejenigen Deutschen, die die Partei an die Macht gebracht haben, auch dazu zu bringen, den Konsequenzen der Machtergreifung, Liquidierung des inneren und äußeren Gegners, Durchsetzung der imperialistischen Ziele, zumindest nicht zu widersprechen. .Schulung' heißt Rechtfertigung, heißt die Idee durchsetzen, daß der Diktatur gleichwohl noch der Glanz der Freiwilligkeit gegeben wird, heißt Einschwören auf das Führer-Prinzip: Schulung muß sagen, was unsere Weltanschauung fordert, und warum sie es fordert; Schulung muß daher auch brutal und unpopulär sein können. Schulung muß immer nur Forderungen stellen, sie hat nie die Erfüllung bürgerlicher Wünsche zu geben. Schulung darf nie über die Sorgen und Nöte des Einzelnen hinwegzutäuschen trachten, sie muß im Gegenteil immer neue Nöte und Sorgen aufzeigen; aber sie muß klarmachen, warum es ohne diese Nöte nicht geht, ja sie muß darüber hinaus klarmachen, daß die Not und Sorgen im Leben des Einzelnen eine Notwendigkeit für sein Leben als Kämpfer ist, daß alle großen Werte im Leben nur durch Opfer erzeugt werden.8
Der Redner als Einzelkämpfer, der durch die Kraft seiner Ideen und seiner Stimme die Masse bekehrt: Dieses Bild ist nur ein Teil der faschistischen Ideologie selbst, das uns nicht den Blick auf die Wirklichkeit, die in totalem Zwang bestand, verstellen darf. Es ist daher fragwürdig, die Funktion der faschistischen Rede isoliert als ,Hitlers Rhetorik' oder .Goebbels' Rhetorik' zu untersuchen: Alle faschistischen Phänomene sind Gruppen·, Schichten- und Organisationsphänomene, weil sie gesellschaftliche Phänomene sind. Macht man sich diesen Gesichtspunkt zu eigen, dann ist es sinnvoll, nach den psychischen Beweggründen für die Beziehung zwischen Redner und Zuhörer zu fragen und für die Bestimmung der faschistischen Rhetorik' eine Methode zu bevorzugen, die vom faschistischen Feld her den Blick auf den Führer richtet: Hitler ist der „bedeutendste Zusammenfasser 8
Hoheitsträger 3/1939, S. 3.
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dessen, was den soldatischen Normalmann nach 1918 bewegt" 9 - ein Urteil, das sich in der nationalsozialistischen Ideologie folgendermaßen ausnimmt: Der Führer als die vollendetste Darstellung des deutschen Menschen schlechthin, spricht letzten Endes nur all das aus und setzt es in die Tat um, was die Summe aller gesunden deutschen Menschen - und damit jeder Einzelne zu seinem Teil - bewußt oder unbewußt im Herzen, weil aus dem Blute kommend, trägt.10
Die im öffentlichen Saal gehaltene Rede ist das Kernstück der faschistischen Propaganda. Sie orientiert sich an der Ansprache des Führer-Kommandeurs an die Truppe und ist damit ein genaues Abbild der offiziellen Kommunikation in der militärischen oder militärähnlich organisierten Männergesellschaft. Denn jeder Ortsstaffelführer, Fähnleinführer, Gruppenführer, Ortsgruppenführer, Gauleiter usw. hielt unentwegt Reden. Das geschriebene Wort war für diese Kommunikationsstruktur in der Tat erst in zweiter Linie wichtig, und über den Rundfunk verfügten die Nazis direkt erst nach der Machtergreifung. Orientiert an Einsichten und Gedanken Theweleits, müssen wir uns die Frage stellen: „Was wird denn von diesen Reden eigentlich erwartet?" Und vor allen Dingen: „Was beabsichtigen die Redner?" Die Antwort auf die letzte Frage wird am einfachsten sein: „Redner formen die Volksseele", wie „Der Hoheitsträger" dieses Ziel bereits ausformuliert hatte: Unter den vielen Aufgaben, die der Führer an seine Männer zu vergeben hat, ist sicher die eines Redners die allerschönste. Menschen höchste Ideale, Ewigkeit predigen, den gierig Lauschenden die Wahrheit vom Blut und der großen Sendung unseres Blutes vermitteln dürfen, aus eigenem Fanatismus, eigener Begeisterung einen Sturm in die Seelen der anderen hinüberfließen lassen, das ist nicht nur groß, sondern macht uns auch glücklich.11
Ein Sturm soll in die Seelen der anderen hinüberfließen, Redner formen die Volksseele, und in genau diesem Sinne, nur detaillierter, heißt es: „Ich fühle, der Höhepunkt der Einwirkungsmöglichkeit ist erreicht, Gläubigkeit und Liebe zu Volk und Führer erfüllen uns fühlbar, der Zweck 19 des Abends ist erfüllt." Seele erscheint häufig im Zusammenhang mit der Redesituation; der Begriff muß etwas mit dem Akt der Rede zu tun haben, der wichtiger zu sein scheint als das Mitgeteilte. Ich komme zurück auf den Führer als Redner oder den Redner als Führer. Er „offenbart 9 10 11 12
Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. 2. Frankfurt am Main 1978, S. 137. Hoheitsträger 3/1939, S. 3. Hoheitsträger, X/1938, S. 25. Zit. b. Theweleit, Bd. 2, S. 137.
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seinen tiefinnersten Glauben an die Idee frei" 13 . Er „verbreitet mit heißem Herzen die Lehre unserer so herrlichen Idee und vertieft sie" 14 , er findet den „Schlüssel zur Herzkammer der anderen" 15 , er macht die Masse reif für einen ganz bestimmten Gedanken und willig. Die Rede des Führers gipfelt in einem Befehl. Er heißt, wir bleiben zusammen. Theweleit hat darauf hingewiesen, daß die Wirkung der faschistischen Rede in Zusammenfügungen besteht: „Was in mir seit Jahren lebte, hier wird es Gestalt und nimmt greifbare Form an", schreibt Goebbels, zusammengefügt wird der Einzelne mit Anderen zum Volk der Kameraden, die Zuhörer müssen vor dem Redner stehen wie ein Mann, die Masse verliert ihre Vielgestalt, wird selbst zum Einen. 16 Immer sind es diese zwei Bewegungen, die im Zentrum faschistischen Agierens stehen: Zusammenfügen (in der Eigengruppe) zu Hierarchien; Abstoßen, was sich nicht einfügen läßt, also es töten. Theweleit hat sicher recht, wenn er feststellt, daß es sich zwischen Hörer und Redner um Berührungen handelt, zu deren erlösender Wirkung gehört, daß das Bewußtsein ausgeschaltet ist. 17 Das würde erklären, warum über den Inhalt der faschistischen Rede so merkwürdig wenig gesagt wird, und es würde einen zentralen Widerspruch der faschistischen Rhetorik einsichtig machen, nämlich den Widerspruch zwischen der Rationalität ihrer äußeren Fügung und der ,Unlogik' ihres Gedankenablaufs. Faschistische Rhetorik dient, so kann zusammenfassend festgestellt werden, nicht der Sinnvermittlung, sondern ausschließlich der affektiven Beeinflussung im Dienste der Bestätigung von Vorurteilen. Die antisemitischen Vorurteile jedoch ,lagen auf der Straße', sie wurden verstärkt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von Philosophen und Kulturkritikern, Journalisten und Literaten aufgenommen und häufig zu pseudo-wissenschaftlichen Systemen ausgebaut, verbreitet, popularisiert. Schon im Kaiserreich war der Antisemitismus hof- und salonfähig geworden, und in der Weimarer Republik wurde er von den vielen völkisch-reaktionären Gruppierungen radikalisiert, die die Krisenhaftigkeit der Zeit als Werk einer jüdischen Weltverschwörung wahrnahmen. 18 Es fiel den Nationalsozialisten nicht schwer, dieses Reservoir auszuschöpfen und für ihre Zwecke einzusetzen. Ich komme damit zum zweiten Teil meines Vortrages und der These über den Zusammenhang von faschistischer Rhetorik und Antisemitismus. Die Geschichte der antisemitischen Literatur, der Pamphlete, Bro13 14 15 16 17 18
Hoheitsträger X/1938, S. 25. Ebd. Ebd. Vgl. Theweleit, Bd. 2, S. 144f. Vgl. Theweleit, Bd. 2, S. 141. Zur Situation im Wilhelminischen Deutschland vgl. Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt am Main 1965, S. 239ff.
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schüren, Romane, der Flugblätter, Gedichte und Anspielungen muß, stärker als dies in den Forschungen zur Sprache des Faschismus bisher geschah, in den Blick genommen werden. Es könnte sonst leicht so scheinen, als sei der nationalsozialistische Antisemitismus mit den sprachlichen Formen, in denen er zum Ausdruck gebracht wird, etwas Einmaliges und Voraussetzungsloses. Die Geschichte der latenten Ressentiments, die seit dem Mittelalter häufig in konkreten anti-jüdischen Aktionen zum Ausbruch kamen, soll hier nicht entfaltet werden. Um aber einen Zusammenhang herzustellen zu der Behauptung, der Antisemitismus des Nationalsozialismus sei keine außerordentliche Erscheinung, referiere ich die Ergebnisse der Arbeit von Nicoline Hortzitz. 19 Hortzitz weist darauf hin, daß zwar in legislativer Hinsicht die Jüdische Frage' mit der Reichsgründung zum Abschluß gebracht wurde, da es bis 1933 keine Ausnahmegesetze mehr gab, daß eine gesellschaftliche und soziale Integration der Juden mit der rechtlichen Gleichstellung jedoch nicht verbunden war, da sich die Auseinandersetzungen nach der Reichsgründung von der rechtlichen auf die gesellschaftliche Ebene verlagerten und sich der Judenhaß seit den 70er Jahren verstärkte. Mit dem Begriff des Judenhasses gewinnen wir ein analytisches Element zur Bestimmung der antisemitischen Rhetorik: Die faschistische Rede drückt dieses Gefühl aus und versucht es bei den Zuhörern zu erzeugen oder zu verstärken. Dabei treten zwei Hauptrichtungen der anti-jüdischen Argumentation hervor: die wirtschaftliche und die rassenbiologische, die eine neue Form des modernen Antisemitismus begründete. Zwar konnte der moderne Antisemitismus auf die Gesetzgebung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert keinen entscheidenden Einfluß nehmen, jedoch sorgten die Tradierungsmechanismen dafür, daß die Vorstellung einer ,Judenfrage' im Bewußtsein breiter Kreise der Öffentlichkeit erhalten blieb. An diese historischen Fakten muß erinnert werden, weil Sätze wie die folgenden selbstverständlich nicht aus nationalsozialistischen Quellen stammen, sondern in Schriften der Arendt, Bauer, Holst, Jahn, Marquard, Rohling, Streckfuß oder Witt zu finden sind, Ideologen des 19. Jahrhunderts also: Dem ekelhaften Judengeschlechte sind die unnatürlichsten und schändlichsten Laster und Verbrechen immer die liebsten.
oder:
19
Nicoline Hortzitz: ,Friih-Antisemitismus' in Deutschland (1789-1871/72). Strukturelle Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Tübingen 1988.
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Joachim Dyck Woher aber Juden ein Recht nehmen, es zu wagen, den unselig ausgestreuten Samen des Mißtrauens, des Verdachts, des Argwohns in unserem Vaterland so recht zum Aufkeimen zu bringen, mögen sie selbst verantworten.
W. Sauerwein formuliert in seiner Beleuchtung der Judenemancipation. Ein Wort ans deutsche Volk (1831) seine Auffassung, daß zwischen Volk und Jude keine Harmonie möglich ist, mit den Worten: Zu andern, todten Nationen mag der Jude mitgerechnet werden; aber zu den deutschen, die jetzt von Neuem sich aufschwingen, bei denen eine neue Epoche der Einheit, Größe und Herrlichkeit beginnt, gehört der Jude nicht. Und wie frecher Hohn kommt es mir vor, wenn man zu dieser heiligen Zeit den jüdischen Allerweltssclaven und Staublecker uns als Bruder und Landesgenossen zuführen will. [...] Es gibt nur eine Emancipation für dich: sie heißt Untergehen in andern Völkern [...]. 2 0
Würde man diese Literatur auf ihre antisemitischen Begründungsverfahren prüfen (und ich vermeide bewußt den Begriff Rhetorik), dann würde sich herausstellen, daß die meisten Argumente aus einem wirtschaftlich begründeten Motiv herrühren: Die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse seit dem späten 18. Jahrhundert hatten große, ökonomisch bestimmte Unterschiede im sozialen Gefüge zur Folge. Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ermöglichte ihnen Zugang zu Berufszweigen, die ihnen bis dahin verschlossen waren, wodurch zusätzlicher Konkurrenzdruck entstand. Die sich so verschärfenden Interessenkollisionen begünstigten die Entfaltung neuer antijüdischer Ressentiments. So sieht Karl Marx im Judentum ein anti-soziales Element und identifiziert es mit Geldwirtschaft und Warenhandel: Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. / Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. / Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld [...] Die schimärische Nationalität des Juden ist die Nationalität des Kaufmanns, überhaupt des Geldmenschen.21
Diese Behauptungen haben topischen Charakter bekommen, und die ökonomisch argumentierenden Antisemiten halten daran fest, daß es einen typisch jüdischen Wirtschaftsgeist gäbe, dessen konstitutive Elemente Wucher, Profitgier und der Wille zur parasitären Bereicherung an der von anderen geleisteten Arbeit sind. Eines der beliebtesten Propagandamittel der anti-jüdischen Argumentation ist der Hinweis auf die angeblich unredliche Tätigkeit und den Einfluß der Juden
20 21
Zit. b. Hortzitz, S. 331. Karl Marx: Zur Judenfrage. In: Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, (= Kröners Taschenausgabe Bd. 209), S. 201/205.
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in der Geldwirtschaft. Gegründet ist diese Behauptung auf der objektiv vorhandenen starken Repräsentanz jüdischer Geschäftsleute im Kapitalwesen.22
Die zwischen 1800 und 1900 erfolgte Konzentration der Juden in bestimmten Wirtschaftszweigen förderte die Vorstellung, daß eine planmäßige „Kollektivverschwörung" der Juden existiere und ihr Ziel die wirtschaftliche Vernichtung der Nichtjuden und die totale Herrschaftsergreifung sei. Laut Sterling führte der Judenhaß bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu der grotesken Behauptung, die Juden seien zugleich Kommunisten und Kapitalisten, eine Vorstellung, die auch die Nationalsozialisten später als „Erfahrungswirklichkeit" propagierten: Sie fand in der Beschwörung einer vom Weltjudentum inszenierten kapitalistischbolschewistischen Weltrevolution ihren Ausdruck. 23 Neben dem wirtschaftlich argumentierenden Antisemitismus steht die völkisch-nationale Argumentation als Begründungsverfahren, das die festgestellten faktischen oder vermeintlichen Differenzen zwischen Deutschen und Juden auf Brauchtumsunterschiede zurückführt und bereits dazu übergeht, diese Unterschiede rassentheoretisch herzuleiten. Eine besonders problematische Zwischenstellung nimmt Ernst Moritz Arndt ein. Er operiert mit Begriffen von „Reinheit" und „Verbastardung" und antizipiert damit in gewisser Hinsicht die Ideologie des nationalsozialistischen Antisemitismus. Für ihn sind die Deutschen ein „artreines Urvolk", die Juden dagegen ein „verbastardetes Mischlingsvolk". Die Entstehung des rassisch begründeten Antisemitismus, der in Hinsicht auf die judenfeindlichen Traditionen in Deutschland den Abschluß einer jahrhundertelangen Entwicklung und zugleich den Anfang einer neuen Epoche bedeutete, wird gemeinhin in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts angesetzt. Alle auf dem Rassebegriff basierenden antisemitischen Lehren, die die Argumentation im 19. Jahrhundert maßgeblich beeinflußten - ich denke an Dühring und Chamberlain -, sind im Gefolge von Graf Gobineaus grundlegendem Werk Essai sur l'inegalite des races humaines (1853-55) entstanden. Das grundsätzlich Neue an Gobineaus Lehre, das die Judengegner begierig aufgriffen, um es für ihre Zwecke zu modifizieren, war der Versuch, die Geschichte naturwissenschaftlich zu deuten als Prozeß von Rassenmischung und Rassen verfall. Nicht individuelle, willensmäßige Kräfte, Milieueinflüsse oder soziale, politische und kulturelle Faktoren würden zu Veränderungen im geschichtlichen Ablauf führen. Allein mit dem Prinzip der Rasse, das wie ein Naturgesetz das Werden der Geschichte beeinflusse, könnten Phänomene wie kulturelle Blüte und kultureller Niedergang erklärt werden. 22 23
Hortzitz, S. 249ff. Vgl. Eleonore Sterling: Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815-1859). Frankfurt am Main 1969, S. 137f.
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Aber bereits in den Schriften, die vor der Reichsgründung entstanden sind, werden rassistische Vorstellungen und Haltungen deutlich. Die für den Rassen-Antisemitismus kennzeichnende Verwissenschaftlichung der Argumentation deutet sich hier schon an. Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft werden bemüht, man sieht die Juden aus Kreuzungen verschiedener Völker entstanden und verwendet neben dem Begriff Jüdisch' den Terminus »semitisch1: Die Entstehungsgeschichte der Rassentheorien setzte zu einem Zeitpunkt ein, in der politische und soziale Herrschaftsansprüche nicht mehr als selbstverständlich akzeptiert und ihre mythische oder sonstige primitive Legitimationsbasis weithin als nicht mehr gültig begriffen wurde.24
Im übrigen besteht kein Zweifel daran, daß die Einteilung der Menschheit in Nationen im politischen Bewußtsein der Öffentlichkeit eine wertende Klassifizierung von ethnischen Gruppen begünstigt hat. Wie sieht nun das Bild des Juden aus, das der Antisemitismus vor den Nazis zeichnet? Am Beispiel der physischen Kennzeichnung, schreibt Hortzitz, läßt sich die Absurdität der Pauschalisierungsstrategie insofern gut nachweisen, als der sinnlich-visuelle Raum angesprochen wird: Physisch objektiv vorhandene Merkmale, die bei einer (als homogen postulierten) Gruppe in einer auffallenden Häufigkeit auftreten, aber auch vermeintliche Merkmale, die man durch Analogieschluß herleitet, werden auf die Gruppe in ihrer Gesamtheit übertragen und übertrieben, bis sie ins Lächerliche oder Diabolische abgleiten und Karikaturen entstehen lassen. Durch Evidenzsuggestion wird dem Rezipienten ein scheinbar abgerundetes Bild vor Augen geführt, der Jude als ,Typus' wird in seiner Körperlichkeit erfahrbar [...]. 25
So wird in Darstellungen die ,Judennase' betont, aber auch der spezifische Geruch (,Hebräerduft') als ein allen gemeinschaftliches Erbgut, so unterstellen einige biologisch-anthropologisch argumentierende Antisemiten dem jüdischen Volk Unreinlichkeit; charakterliche »Defekte', angeborene geistige Oberflächlichkeit und Plattheit, ein ,ätzender Verstand' gelten als konstitutive jüdische Geisteseigenschaften, eine freidenkerische Verstandeshaltung, bar jeder Moralität, dazu heimtückische lauernde Arglist, schmutziger Geist und Wuchersinn, ein unbesieglicher Hang zu Betrügereien und Ränken, Neid, eitler Hochmuth verbunden mit sklavischer, schmarotzender Kriecherei, Wollust, unerbittliche Rachgier und Grausamkeit, trotziges Prahlen im Glück und verzagte Feigheit im Unglück:
24
25
Patrick von zur Mühlen: Rassenideologien. Geschichte und Hintergründe. Berlin 1977, S. 27. Hortzitz, S. 265.
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dies waren und sind, und werden ewig die Grundbestandteile des jüdischen Volkscharakters seyn. 26
Im übrigen trennt ein natürlicher Widerwille gegen jüdisches Wesen, ein ästhetisches und physisches Gefühl der Ablehnung nach Ansicht der Antisemiten Deutsche und Juden von vornherein: „Es ist dies ein Naturgesetz, welches wir durch alle Abstractionen nicht wegdisputiren können."27 Die vom Vulgärdarwinismus inspirierte Formulierung des Rassebegriffs bedient sich konsequent eines biologistischen, aus den Bereichen der Zoologie, Medizin und Hygiene bezogenen Vokabulars.28 In den Schriften des Kulturkritikers Paul de Lagarde etwa erscheinen die Juden als ,Fremdkörper', als „Träger der Verwesung"29, die gemäß dieser Scheinlogizität ausgegrenzt, abgestoßen werden müssen. An dieses demagogische Verfahren anschließend, erklärt auch Goebbels' antisemitische Hetzschrift Das Buch Isidor die Juden zu einem destruktiven, sich in den ,Volkskörper' einnistenden Element: Der Jude ist wurzellos, das Ferment der Dekomposition. Er lebt vom Zusammenbruch der Völker, mag er sich leihkapitalistisch oder bolschewistisch garnieren. Er bleibt in jeder Larve er selbst: Ahasver, der ewige Zerstörer.30
Von der Animalisierung des Anderen bis zum offenen Mordaufruf ist es dann nur noch ein kurzer Schritt, wie der folgende antisemitische Vers belegt: Haut immer feste auf den Wirth! Haut seinen Schädel, daß es klirrt! Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverfluchte Judensau!31
Bedient sich der antisemitische Diskurs auch seit dem späteren 19. Jahrhundert wiederkehrender pseudo-wissenschaftlicher Muster, so ist es doch vor allem die Einfachheit der Argumentation und Illustration, die breite Wirkung erzeugen soll. Darauf hat Eduard Fuchs für die Weimarer Epoche hingewiesen: So kompliziert uns heute Lebenden das jüdische Problem erscheint, so einfach erschien es den früheren Zeiten. Die Juden sind eben, so sagte man sich, ein in Europa fremdes Volk, das wegen seiner besonderen Sünden und, wie es so
26 27 28 29 30
31
Hundt von Radowski: Judenspiegel (1819), zit. b. Hortzitz, S. 269. W. Marr: Judenspiegel (5) 1862, zit. b. Hortzitz, S. 272. Vgl. Hortzitz, S. 27. Paul de Lagarde: Deutsche Schriften. Bd. 2. Göttingen 1881, S. 27. Mjoelnir - Goebbels: Das Buch Isidor. Ein Zeitbild voll Lachen und Haß. München. 5. Aufl. 1931, S. 142. Zit. b. Eduard Fuchs: Die Juden in der Karikatur (1921), Neudruck, Berlin 1985, S. 284.
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oft heißt, wegen seinem Mangel an staatenbildender Kraft aus seiner Heimat Palästina vertrieben ist. Dieses aus seiner Heimat vertriebene Volk führt nun kurzerhand sein die sämtlichen Nebenmenschen schädigendes Treiben im Abendland fort und ruiniert dies förmlich. Was gibt es dieser Tatsache gegenüber Einfacheres, als dieses Volk zum Teufel zu jagen? Wenn fortgejagt, erscheint das ganze Judenproblem für die europäische Christenheit gelöst. In dieser wirklich sehr einfachen Form erschien das Judenproblem in der Vergangenheit aller Welt [...]. 32
Eine umfassende Untersuchung der antisemitischen Äußerungsformen in der nationalsozialistischen Rede nach der Machtergreifung würde mit Sicherheit eine Argumentationstopik ausmachen, die sich von der bis 1933 entwickelten nicht substantiell unterscheidet. Bestimmt ließen sich Argumentationsreihen aufstellen, die vom Pfeffersack des Warenhauskapitals über den jüdischen Säugling, der seine deutschen Ammen aussaugt, bis zu den Juden, die das deutsche Volk auspressen, reichen, Linien, die in der antisemitischen Propaganda stereotyp wiederholt oder variiert erscheinen. Ohne weiteres lassen sich Techniken aus der nationalsozialistischen Redepraxis separieren, Verfahren der Suggestion und des sprachlichen Terrors, wie Theodor W. Adorno sie in seinen Studien zum autoritären Charakter analysiert hat. So etwa an den Beispielen des „Wenn Ihr nur wüßtet"-Tricks, mit dem untergründige Bedrohungen angedeutet werden, oder der Erzählungen über angebliche Greueltaten der ,Feinde'. 33 Trotz aller offenkundigen Verdrehungen und Täuschungsmanöver zeichnet sich die nationalsozialistische Formulierung der Rede doch in Theorie wie Praxis durch Offenheit aus, so überraschend das klingen mag. Es ist dies die Offenheit einer ungebremsten, durch keine Über-Ich-Funktionen regulierten Aggression. Die NaziPartei schafft mit ihren rigide-autoritären Organisationsformen Möglichkeiten, das vorhandene Potential von Haß und Aggressivität in Rede zu kanalisieren und gleichzeitig zu kontrollieren. Die Reden von Goebbels, insbesondere nach den entscheidenden Niederlagen im Weltkrieg, sind Zeugnisse dieser politisch eingesetzten Enthemmungsstrategie.34 Selbstverständlich schließt der Ausdruck affektiver Entfesselung Formen sachlicher Argumentation aus, es geht nicht um Überzeugung im klassisch-rhetorischen Sinn, darum, die eigene Position logisch und rational einsichtig zu entwickeln, sie einer anderen ernstzunehmenden Meinung entgegenzusetzen und damit den Zuhörern eine Entscheidungsalternative zu bieten. 35 Die nationalsozialistische Rede baut demgegenüber 32 33
34
35
Fuchs, S. 108. Vgl. Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main. 4. Aufl. 1982, S. 406,413. Vgl. Goebbels Reden. Bd. 2. 1939-1945. Hrsg. v. Helmut Heiber. München 1971, S. Xlff. (Einleitung). Vgl. auch Hortzitz, S. 118f.
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von Beginn auf den Appell an kollektive Ängste und Phobien, die in den antisemitischen Klischees seit dem 19. Jahrhundert formuliert wurden und nun radikalisiert in den Aufruf zu politischer Aktion eingehen konnten. Hier geht es um den Appell an die antirationalen, unbewußten Bedürfnisse der Rache, des Hasses und der Vergeltung, die sonst gesellschaftlich eingedämmt sind: Der Kampf hat den Menschen großgemacht. Welches Ziel der Mensch auch erreicht hat, er verdankt es seiner Schöpferkraft und seiner Brutalität. In diesen Worten aus Hitlers Mein Kampf liegt die ganze Dogmatik faschistischer Rede.
Christoph Daxelmüller (Regensburg)
Volkskunde - eine antisemitische Wissenschaft?
So bestimmt anscheinend die Idee, die man sich vom Juden macht, die Geschichte und nicht die geschichtlichen Gegebenheiten die Idee (Jean-Paul Sartre)
Ein als Frage formulierter Titel - .Volkskunde - eine antisemitische Wissenschaft?' - mystifiziert und provoziert, ruft nach Bestätigung oder Ablehnung, schonungsloser Selbstanklage oder Freispruch, in jedem Falle aber nach ehrlicher Auseinandersetzung und Analyse. Doch das Fragezeichen kann nicht eliminiert werden, solange die Begriffe nicht geklärt, die zeitlichen Grenzen nicht abgesteckt, die denkenden und handelnden Personen nicht sortiert sind. Bezieht sich .Volkskunde' nur auf das eigenständige, an den Universitäten etablierte Forschungs- und Ausbildungsfach und ,Vokskundler' nur auf jene, die einen berufsqualifizierenden akademischen Abschluß erworben haben, oder auch auf das graue Umfeld der mehr oder weniger seriös agierenden Dilettanten bis hin zu den selbsternannten Heimatforschern und Tageszeitungschronisten, die bis heute wesentlich zum Zerrbild der Volkskunde innerhalb der Gesellschaft beitragen? Wann beginnt überhaupt die hier zu behandelnde Zeit, etwa bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als sich aufgeklärte Kameralisten für eine , Volks-Kunde' von ,Land und Leuten' zu interessieren begannen, oder erst im 19. Jahrhundert, oder gar erst 1933, und wann endet sie, vielleicht 1945, oder ist ihr Ende noch gar nicht in Sicht? Was bedeutet zudem .Antisemitismus', nur ein Vorurteil, das den jüdischen Nachbarn zwar akzeptiert, sich aber gegen die Gruppe richtet, ein Denksystem, das eine Wissenschaft normiert und das vom theoretischen Argument zur instrumentalen Handlungsanleitung gerät, wenn die ausführende Politik es so will? Ist überhaupt einem Vertreter des Faches .Volkskunde' zu glauben, der sich hier redlich mit der Beantwortung all dieser Fragen abmüht, aber eben als Volkskundler durch die Geschichte seiner Disziplin selbst betroffen ist? Wo sind die Eckpunkte zu setzen, die es erlauben, den Antisemitismusvorwurf an Inhalte, Theorien und Personen einer kulturgeschichtlichen und kulturanalytischen Wissenschaft zu richten und dadurch
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auch zu rechten? Ist etwa der von „Kulturwissenschaftlern für den Frieden und Abrüstung in Ost und West" unter dem Titel „Wir fordern den Wahnsinn zu beenden" unterzeichnete Aufruf gegen den Golfkrieg allein deswegen, da er die alliierten F16-, Stealth- und B52-Bomber, nicht aber die Scud-Raketen, die in der Kulturlandschaft zwischen Euphrat und Tigris von der Zerstörung bedrohten Ausgrabungsstätten Ur, Kisch, Uruk, Assur und Babylon, nicht jedoch Safed, Haifa, Tel Aviv oder Jerusalem nennt, antiamerikanisch, antiisraelisch und damit in letzter Konsequenz antisemitisch?1 Die Liste der Fragen ließe sich weiter verlängern, doch dadurch einer Antwort kaum näher bringen. Es wäre ein leichtes, die Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde durch Zitate ebenso wie durch schweigende Nicht-Zitate seit dem 19. Jahrhundert als antisemitisch zu brandmarken. Dieses Verfahren erbrächte Texte, keinesfalls aber den differenzierenden Kontext. Eine andere, erfolgversprechendere Vorgehensweise verbindet die Wissenschaftshistorie mit ideen- und letztlich auch mit sozialgeschichtlichen Aspekten; es heißt lediglich, den Blickwinkel zu ändern und die Frage nicht aus der Sicht des Deutschen und der deutschen Volkskunde, sondern aus derjenigen des Juden und der jüdischen Volkskunde zu stellen: Welchen Stellenwert und welche Rolle nimmt die jüdische Bevölkerungsgruppe, deren Beitrag zur Entwicklung der historischen Volkskultur außerhalb jeden Zweifels steht, innerhalb der volkskundlichen Kulturanalyse ein, und in welcher Form und Funktion erscheint der Jude? 2 Dementsprechend ist wissenschaftsgeschichtlich das Bewußtsein, die Erkenntnisfähigkeit und die Bereitschaft der deutschen Volkskunde zu klären, die Existenz der 1898 nach zweijähriger Vorbereitung von Rabbiner Dr. Max (Me'ir) Grunwald (1871-1953) mit Unterstützung der Henry Jones-Loge im Orden B'nai B'rith (U.O.B.B.) in Hamburg gegründeten „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" als Teil ihrer eigenen Fachgeschichte zu klären. Vor dem Hintergrund einer komplexen Betrachtung der realen historischen Kultur wie der Integrationsfähigkeit der Wissenschaftsgeschichte aber wird sich erweisen, daß Schweigen, Ignoranz, Vergessen und Verdrängen ebenfalls als Ausdrucksformen des Antisemitismus gelten müssen, als .Antisemitismus in weißer Weste'.
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Wir fordern den Wahnsinn zu beenden. Anzeige der „Kultlirwissenschaftler für Frieden und Abrüstung in Ost und West". In: DIE ZEIT 46. Jg., Nr. 8, 15. Februar 1991, S. 8. Als eines von zahllosen Beispielen sei hier Sigrid und Wolfgang Jacobeits Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes (Bd. 1: 1550-1810, Bd. 2: 1810-1900. Köln 2 1988) genannt. In ihr fehlen Hinweise etwa auf die Bedeutimg jüdischer Händler und Hausierer für die Infrastruktur des ländlichen Raums; die Juden existieren weder als Gruppe noch in der ihnen eigenen Lebenswelt, weder als Ziel des Antijudaismus und Antisemitismus noch als Kulturträger. Erst der dritte, noch nicht erschienene Band wird unter dem Eindruck neuerer volkskundlicher und geschichtswissenschaftlicher Publikationen auf die jüdische Bevölkerungsgruppe in Deutschland eingehen.
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Doch bereits hier kann man alle Fragen und Probleme an den Rand der Absurdität führen. Sowohl die Organisationsform der als Verein eingetragenen jüdischen Volkskunde in Hamburg wie der Inhalt des im November 1896 versandten Fragebogens, der zu „Sammlungen zur jüdischen Volkskunde" einlud,3 folgte eindeutig dem Vorbild der deutschen Volkskunde.4 Nach der Emigration Grunwalds 1938 nach Jerusalem lebte zwar nicht mehr die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde", deren letzter Vorsitzender, Nathan Max Nathan (geb. 1879) am 19. Juli 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und dort ermordet wurde, wohl aber deren Idee in Palästina fort. Trotz des gemeinsamen Ursprungs aber käme heute in Israel niemand auf die Idee, die jüdische Volkskunde selbst als .antisemitisch' zu bezeichnen.
Zwischen Nationalismus und Nationalsozialismus. Die Volkskunde als Wissenschaft des Nationalen und als Nationalwissenschaft Die Gleichsetzung von Ignoranz und Desinteresse mit dem .Antisemitismus in weißer Weste' birgt eine schwere Anschuldigung in sich. Daß angesichts des verwirrenden inhaltlichen Pluralismus der Volkskunde zwischen Märchen- und Sachkulturforschung, zwischen Studien zum Aberglauben und zur Arbeiterkultur, zwischen Alltagsgeschichte und religiöser Volkskunst5 jedem Forscher das Recht auf Spezialisierung unbenommen bleiben muß, bedarf keiner Diskussion. Zudem erfordert die kompetente Auseinandersetzung mit den Formen populärer jüdischer Kultur Kenntnisse, über die nicht jeder als selbstverständlich verfügt; nur die Fähigkeit, auch hebräische, jüdischdeutsche und jiddische, bisweilen spaniolische Texte zu verstehen, bewahrt vor der interpretatio Christiana, die in der Vergangenheit meist zu schweren, gegen die Juden verwendbaren Fehldeutungen geführt hat. 3
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Ein Original des Fragebogens befindet sich heute unter der Signatur 4° 1182/XX im Nachlaß Dr. Max Grunwalds in der Jewish National and University Library in Jerusalem. Zum Einfluß des Breslauer, später Marburger Germanisten und Vorsitzenden der „Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde" auf Grunwald, der selbst zeitweilig Mitglied dieses Vereins war, s. Christoph Daxelmüller: Vergessene Geschichte. Die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" in Hamburg. In: Albrecht Lehmann, Andreas Kuntz (Hrsg.), Sichtweisen der Volkskunde. Zur Geschichte und Forschungspraxis einer Disziplin. Festschrift Gerhard Lutz. Berlin/Hamburg 1988. (= Lebensformen. Veröffentlichungen des Instituts für Volkskunde der Universität Hamburg, Bd. 3). S. 11-31, hier vor allem S. 1415. Die Kanongebiete sind kursorisch aufgeführt bei Wolfgang Brückner Volkskunde. In: Diether Krywalski (Hrsg.), Handlexikon zur Literaturwissenschaft. München 1974. S. 507-512.
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Doch Hamburg liegt bekanntlich nicht in Sibirien oder im unzugänglichen Quellgebiet des Amazonas, und die von Grunwald zwischen 1898 und 1929 herausgegebenen, von 1923 bis 1925 als „Jahrbuch für jüdische Volkskunde" erschienenen „Mitteilungen (der Gesellschaft) für jüdische Volkskunde" veröffentlichten ihre Beiträge nicht in einer völlig unbekannten, sondern in deutscher Sprache. Den Hamburger Holstenwall, wo Otto Lauffer (1874-1949) seit 1908 als Direktor des Museums für Hamburgische Geschichte und seit 1919 als Ordentlicher Professor für Volks- und Altertumskunde residierte,6 und das Dammtor, wo in der Nachbarschaft der Synagoge die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" ihre Bibliothek, das Archiv und das „Museum für jüdische Volkskunde" betreute, trennen nur wenige Schritte, doch Lichtjahre in der Bereitschaft, die jüdischen Bemühungen um die Erforschung der populären Kultur der Juden Mittelund Osteuropas zur Kenntnis zu nehmen. Spätestens seit 1982, als Wolfgang Brückner in Zusammenarbeit mit Klaus Beitl vom 8. bis 10. Oktober in Würzburg ein wissenschaftsgeschichtliches Symposion über die Institutionenbildung der Volkskunde veranstaltete, bzw. 1983, als der Tagungsband erschien, 7 verliert die Behauptung, die Existenz eines solchen Fach Vereins sei völlig unbekannt, ihre Berechtigung. Zugegebenermaßen konnte man bis dahin nur mit erheblicher Mühe etwas über eine jüdische Volkskunde in Erfahrung bringen; Raimund Friedrich Kaindl, ein eifriger Mitarbeiter an der von Friedrich Salomo Krauss edierten Zeitschrift „Am Q
Ur-Quell", erwähnte sie kurz, Adolf Bach, über den noch zu sprechen sein wird, widmete ihr in der dritten Auflage seiner Deutschen Volkskunde einen kurzen, angesichts des Gesamtumfangs des Werkes jedoch leicht übersehbaren Paragraphen.9 Dieser Befund aber erweckt Verdacht. 6
Zu Otto Lauffer s. Rolf Wilhelm Brednich: Eine Gedenktafel für Otto Lauffer in Göttingen. In: Volkskunde in Niedersachsen 1, Η. 1 (1984), S. 22-23; Wolfgang Brückner: Die Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde und die Institutionenforschung in den Geisteswissenschaften. In: ders., Klaus Beitl (Hrsg.), Volkskunde als akademische Disziplin. Studien zur Institutionenausbildung. Referate eines wissenschaftsgeschichtlichen Symposions vom 8.-10. Oktober 1982 in Würzburg. Wien 1983. (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, 414. Band. Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde, Nr. 12). S. 13-32; Herbert Freudenthal: Otto Lauffer (1874-1949). In: Zeitschrift für Volkskunde 51 (1954), S. 261-264.
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Christoph Daxelmüller: Jüdische Volkskunde in Deutschland vor 1933. In: Brückner, Beitl (Hrsg.), Volkskunde als akademische Disziplin (Anm. 6), S. 117-142. Raimund Friedrich Kaindl: Die Volkskunde. Ihre Bedeutung, ihre Ziele und ihre Methode. Mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den historischen Wissenschaften. Leipzig/Wien 1903. (= Die Erdkunde. Eine Darstellung ihrer Wissensgebiete, ihrer Hilfswissenschaften und der Methode ihres Unterrichtes, XVII. Teil). S. 40: . f ü r jüdische Volkskunde besteht eine Gesellschaft, deren .Mitteilungen' Rabbiner Dr. Max Griinwald [sie! für Grunwald] in Hamburg redigiert". Adolf Bach: Deutsche Volkskunde. Wege und Organisation, Probleme, System, Methoden, Ergebnisse und Aufgaben, Schrifttum. Heidelberg ^1960, S. 221, § 171, 5.
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Es dürfte Übereinstimmung dahingehend herrschen, daß Handbücher und Einführungen in eine wissenschaftliche Disziplin den zum Zeitpunkt ihres Erscheinens gültigen Forschungsstand repräsentieren und verbindliche Informationen über Wissenschaftsgeschichte, Theorien, Methoden, Inhalte und Ziele eines Faches vermitteln. Nachdem nun spätestens seit 1983 Material zur Geschichte der jüdischen Volkskunde in Deutschland vorlag, wäre zu erwarten gewesen, daß es seinen Niederschlag in den jüngeren Profilbeschreibungen der Volkskunde gefunden hätte. 1988 erschien, von Rolf Wilhelm Brednich herausgegeben, der Grundriss der Volkskunde mit dem Untertitel „Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie". 10 Obwohl dieser Sammelband auch wissenschafts-, theorie- und methodengeschichtliche Beiträge enthält, versteht er sich vor allem als Einführung in Sachfelder von der Haus- bis zur Volksschauspielforschung. Den Anspruch auf übernationale und interkulturelle Fragestellungen, den die Bezeichnung Europäische Ethnologie' enthält, erfüllt er allerdings nur in begrenztem Maße, die historisch wie gegenwärtig in Deutschland, bzw. Europa lebenden Minderheiten und Randgruppen von den Sinti und Roma über die Juden bis hin zu den Gastarbeitern und Asylanten, die alle ihren spezifischen Beitrag zur Entwicklung einer vielschichtigen und -geschichteten populären Kultur leisteten und leisten, blieben ausgespart. Im Sachregister findet man unter dem Buchstaben J zwar die Jeans-Forschung', das Jesuitendrama' und die Jugendforschung', nicht jedoch Jude' oder Jüdische Volkskunde', 11 und Annemie Schenk bezieht sich in ihrem Beitrag über die „Interethnische Forschung" ausschließlich auf deutsche und deutschstämmige Gruppen in Ost- und Südosteuropa, auf Akkulturationsprozesse und auf die durch den Nationalsozialismus stark vorbelastete „Sprachinselvolkskunde";12 sie zitiert 11
nach Christoph Daxelmüller - den jüdischen Ethnologen und Folkloristen Friedrich Salomo Krauss (1859-1938) mit seiner Forderung nach der Volkskunde als einer nationale, ethnische und konfessionelle Grenzen überschreitenden „Wissenschaft vom Menschen" und nennt auch die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde", allerdings in der vehementen Kritik des assimilierten Krauss, der in ihr einen neuerlichen Ansatz zur geistigen Ghettobildung befürchtet hatte. 14 Ein Kuriosum sei am Rande erwähnt: Der Verfasser des Beitrags „Volksfrömmigkeit", ansonsten vorwie10
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Rolf Wilhelm Brednich (Hrsg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 1988. (= Ethnologische Paperbacks). Ebd. S. 481. Annemie Schenk: Interethnische Forschung. In: Brednich (Anm. 10), S. 273-289. Christoph Daxelmüller: Die deutschsprachige Volkskunde und die Juden. Zur Geschichte und den Folgen einer kulturellen Ausklammerung. In: Zeitschrift für Volkskunde 83 (1987), S. 1-20, hierS. 9. Friedrich Salomo Krauss, Ein Folklore-Comitd. In: Der Urquell. Eine Monatsschrift für Volkskunde N.F. 1 (1897), S. 27; Schenk (Anm. 12), S. 277.
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gend mit Studien zur Wissenschafts- und Sozialgeschichte der jüdischen Volkskunde in Mittel- und Osteuropa beschäftigt, konnte es sich, in böser Vorahnung, nicht verkneifen, seine Überlegungen zur Frömmigkeitsforschung mit dem Hinweis auf die Frömmigkeitsbewegung des mittelalterlichen Chassidismus und auf das zwischen 1190 und 1215 von Jehuda ben Samuel ha-Chassid von Regensburg (1140-1217) kompilierte Sefer Chassidim einzuleiten. 15 Wo sich der Anspruch von der Großräumigkeit der .Europäischen Ethnologie' hin zur Kleinräumigkeit der regionalen Volkskunde hin verlagert, scheint das Paradigma von der Ignorierung der jüdischen Volkskunde nicht mehr zu funktionieren. Die ebenfalls an Sachgebieten orientierte, von Edgar Harvolk herausgegebene Sammelschrift Wege der Volkskunde in Bayern16 kann ruhigen Gewissens die organisierte jüdische Volkskunde außer acht lassen, auch wenn einige prominente bayerische Rabbiner wie der Historiker und Kulturwissenschaftler Adolf Eckstein (18571935), der an der Vermittlung der heute im Jerusalemer Israel-Museum befindlichen Innenausstattung der Horber ,Betstube' 17 an die damalige Städtische Gemäldesammlung Bamberg (heute: Historisches Museum) beteiligt war, 18 oder der Nürnberger Rabbiner Max Freudenthal (18681937), Historiograph seiner Gemeinde, 19 der Hamburger „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" als Mitglieder angehörten. 20 Doch immer noch wäre es zu leichtfertig, aus der fehlenden Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der in Deutschland und Österreich, später auch im ,Folklor-Komite' des ,Jidishen Visnshaftlekhen Instituts' in Wilna (Jiwo, YIVO) betriebenen jüdischen Volkskunde den Vorwurf des Antisemitismus abzuleiten. Ebensowenig korrekt läßt sich die Lebensdauer des volkskundlichen Antisemitismus auf die tausend Jahre zwi15
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Christoph Daxelmüller. Volksfrömmigkeit. In: Brednich (Anm. 10), S. 329-351, hier S. 329. Edgar Harvolk (Hrsg.): Wege der Volkskunde in Bayern. Ein Handbuch. München/Würzburg 1987. (= Veröffentlichungen zur Völkskunde und Kulturgeschichte, Bd. 25/Beiträge zur Volkstumsforschung, Bd. XXIII). Vgl. hierzu David Davidovicz: Wandmalereien in alten Synagogen. Das Wirken des Malers Elieser Sussmann in Deutschland. Hameln/Hannover 1969. S. hierzu Adolf Eckstein: Die Synagogenmalereien von Horb a.M. in der städt. Gemäldesammlung zu Bamberg. In: Bamberger Blätter für fränkische Kunst und Geschichte 1 (1924), S. 29-31; vgl. auch Christoph Daxelmüller: Jüdische Museen - Jüdisches in Museen. Anmerkungen zur Geschichte der jüdischen Museologie. In: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1989, S. 15-26, hier vor allem S. 22. Max Freudenthal, Die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg 1874-1924. Nürnberg 1925. Die Ausgewogenheit erfordert den Hinweis, daß auch volkskundliche Übersichtsdarstellungen aus anderen Ländern generös über die Existenz einer jüdischen Volkskunde hinwegsehen, so z.B. Rosemary lAvy Zumwalt: American Folklore Scholarship. A Dialogue of Dissent. Bloomington/Indianapolis 1988.
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sehen 1933 und 1945 beschränken, jene Epoche, der sich die Volkskunde zuletzt 1986 offen, doch nicht immer radikal genug gestellt hat. 21 Es heißt daher, tiefer zu graben und den Ursprung jener Ideen im 19. Jahrhundert zu fassen, die Volkskunde zu einer Wissenschaft des Nationalen und schließlich zur nationalsozialistischen Wissenschaft schlechthin machten und die dazu führten, daß unter einer ,Minderheit' bis heute vorwiegend die deutschen Gruppen in Polen, Ungarn oder Rumänien, nicht aber die anderen deutschen Staatsbürger, die Juden, verstanden werden. Es heißt zu fragen, in welcher Form und Funktion der Jude - wenn überhaupt - in volkskundlichen Untersuchungen auftritt, und warum sich die Volkskunde nach wie vor so schwer damit tut, Abschied zu nehmen von einer wie auch immer ausschließlich als .deutsch' definierten Kultur und sich als jene Disziplin zu begreifen, die historische und gegenwärtige Lebensweisen als ein komplexes System aller Faktoren, das Territorium aber, auf dem diese ihren Ausdruck finden, nicht als nationales Wildgehege für schützenswerte imaginäre Deutscharier, sondern als die Lebenswelt aller sich dort ständig oder auch nur zeitweise aufhaltenden Gruppen und Individuen unterschiedlichster nationaler, ethnischer oder konfessioneller Zugehörigkeit erfaßt. Der zentrale, folgenschwerste und in seinen realen Auswirkungen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft furchterregendste Begriff ist der des .Volkes' in seiner Verbindung mit nationalen, nationalstaatlichen und rassisch-anthropologischen Ideen. Es muß hier zuerst einmal genügen, das nationalistische und dadurch Minderheiten ausschließende Konzept der Volkskunde zu konstatieren, ohne es inhaltlich und semantisch in seinen Differenzierungen von ,Volk', .Volkstum', .Volkstumsideologie', ,Volkskörper', .Rasse' oder .völkisch' näher auszuführen. Hierzu haben Hermann Bausinger 22 und Wolfgang Emmerich grundlegende Analysen zur Verfügung gestellt. 23 21
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Helge Gemdt (Hrsg.): Volkskunde und Nationalsozialismus. Referate und Diskussionen einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde München, 23. bis 25. Oktober 1986. München 1987. (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 7). Hermann Bausinger: Volksideologie und Volksforschung. Zur nationalsozialistischen Volkskunde. In: Zeitschrift für Volkskunde 61 (1965), S. 177-204; ders.: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Tübingen 1979. (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Sonderband), [ursprünglich Berlin/ Dannstadt/Wien 1971], passim. Wolfgang Emmerich: Germanistische Volkstumsideologie. Genese und Kritik der Volksforschung im Dritten Reich. Tübingen 1968. (= Volksleben. Untersuchungen des LudwigUhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 20); ders.: Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt a.M. 1971; zum Gesamtkomplex s.u.a. Heinrich August Winkler (Hrsg.): Nationalismus. Königstein/Ts. 1978. (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 100: Geschichte).
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Doch auf einige klärende Anmerkungen sei hier nicht verzichtet. Im Feuilleton der Wochenzeitung „Freitag" vom 9. November 1990 dachte Georg Seeßlen unter der Überschrift Wer war das Volk? über „ein Wort" nach, „das sich dumm stellt". 24 Aus dem Volk, so Seeßlen, schaffe sich der Nationalismus eine Waffe, bizarrerweise, indem es seine Voraussetzung, die territoriale Gegenwärtigkeit, zum politischen Recht ummünzte. Mit einemmal war das Volk gerade jene Menge von Menschen, die ihr Recht einforderten, eine Nation zu bilden, und zwar auf einem ihm allein gehörenden Gebiet, auch dann, wenn dies zunächst auf mehrere Staaten verteilt ist, von denen einige mit Gewalt zerschlage[n] werden müssen.
Der Verbindung von Volk, Nation und Nationalismus aber verdankte sowohl die jüdische wie die nichtjüdische Volkskunde ihre Entstehung. Durch die Bestimmung einer spezifischen traditionalen Kultur glaubte man, ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Völkern gewinnen zu können. Der Nationalismus als Idee und deren Umsetzung durch eine kulturhistorische wie -analytische Wissenschaft gewann in dem Augenblick an Bedeutung, in dem man das kulturelle Erbe eines Volkes oder einer Volksgruppe in der Gefahr des Untergangs sah. Zwei Beispiele mögen dies erläutern: die Entdeckung der faer0ischen Sprache und Kultur insbesondere durch den Pastor und Sprachwissenschaftler Venceslaus Ulricus Hammershaimb (1819-1909) und den Philologen und Folkloristen Svend Grundtvig (1824-1883), 25 die Rettung des Keltischen durch eine sich institutionalisierende Folkloristik in Irland. Gerade dort wird die Verbindung von Volkskunde, nationalem risorgimento, Kulturarbeit und Politik besonders deutlich; denn der Nestor der irischen Volkskunde, Douglas Hyde (1860-1949), wurde der erste Ministerpräsident der Republik Irland. 26 Ein drittes Beispiel aber betrifft die jüdische Volkskunde selbst, die geistig dem Zionismus nahestand, in vielen Fällen sogar mit ihm verbunden war. Grunwald förderte auf seine ausgleichende, moderate Art zionistische Ideen, der berühmte Folklorist, Sprachwissenschaftler, Kulturhistoriker und ,chacham' (Oberrabbiner) der Spanisch-portugiesischen Gemein24
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Georg Seeßlen: Wer war das Volk? Über ein Wort, das sich dumm stellt. In: Freitag Nr. 46, 9. November 1990, S. 22. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Wolfgang Jacobeit. S. hierzu u.a. Svend Grundtvig: Dansken paa Faer0eme. Sidestykke til Tysken i Slesvig, 1845. Genudgivet med efterord af Hans Bekker-Nielsen. Odense 1978. (= C. C. Rafn-Forelaesning, Nr. 5); vgl. auch Jöan Pauli Joensen: Färöisk folkkultur. En översikt. Lund 1980. (= Handböcker i Etnologi). S. 203-219. S. hierzu Gisbert Hemprich: Zwischen Folkloristik und Kulturkampf - Douglas Hyde als Wegbereiter der institutionellen Volkskunde in Irland. Mag.-Arbeit. Freiburg i.Br. 1990 [unveröffentlicht].
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de in London, Moses Gaster (1856-1939), ebnete Theodor Herzl den Weg nach Großbritannien; 27 der „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" gehörte nicht nur der Führer der deutschen Zionistenbewegung, der Kölner Jurist Max Isidor Bodenheimer (1865-1940), sondern auch der Pariser ,grand rabbin' Zadoc Kahn (1839-1905), Ehrenpräsident der „Alliance Israelite Universelle" und eine Reihe von Angehörigen der Hamburger Warburg-Familie als Mitglieder an. Das Programm der jüdischen Volkskunde reagierte konkret auf die kontemporäre Identitätskrise eines durch Assimilation und Antisemitismus orientierungslos gewordenen jüdischen Bürgertums im Westen, teleologisch aber richtete es seine Absichten auf einen Sicherheit verheißenden jüdischen Staat. In der „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" vereinigten sich jüdische Philosophen, Geschichtsund Sprachwissenschaftler, Kulturhistoriker und Volkskundler, um den Juden' kulturell, und dies bedeutete in erster Linie als Träger einer religiös bestimmbaren Tradition, zu definieren. Diese Absicht aber verstieß gegen den brüchigen Schutzwall der Assimilierten, der Deutschnationalen und jener deutschen Staatsbürger, die ihre .mosaische Konfession' als bild- und ausdrucksloses Intimtabu verstanden. Gegen Apologeten jüdischer Kultur wie Grunwald oder den Kulturhistoriker und Wiener Oberrabbiner Moritz Güdemann (1835-1918), ebenfalls Mitglied der Hamburger Gesellschaft, reagierte man teilweise verwundert, teilweise sogar aggressiv. 28 In seiner Autobiographie klagte Grunwald darüber, daß die „Mitteilungen (der Gesellschaft) für jüdische Volkskunde" sowohl in jüdischen wie in nichtjüdischen Kreisen auf erhebliche Reaktionen gestoßen seien und sich eine „Berliner Stimme gegen den .jüdischen Nationalis0Q
mus'" gewandt habe, der in ihnen zum Ausdruck käme. Damit kann nur der Syndikus der Berliner Jüdischen Gemeinde, Georg Minden (18501928) gemeint sein, der aktiv im - nichtjüdischen - Berliner „Verein für Volkskunde" mitgearbeitet und selten eines der Vereinstreffen versäumt hatte. Er fand, obwohl selbst Mitglied der „Gesellschaft für jüdische Volkskunde", 1898 in seiner Besprechung des ersten, im gleichen Jahr erschienenen Heftes der „Mitteilungen" neben manchem Lob auch kritische Worte: Es mag auch noch bemerkt werden, dass uns der Ausdruck .jüdische Volkskunde' nicht so korrekt erscheint, wie der früher auch von Hrn. Dr. Grunwald gebrauchte »Volkskunde der Juden'. Jüdische Volkskunde wird vielfach aufge27
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Zu Gaster s. u.a. Christoph Daxelmüller: Moses Gaster. In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 5. Lfg. 2/3. Berlin/New York 1986, Sp. 735-739 [mit weiterer Literatur], Vgl. hierzu Christoph Daxelmüller, Wiener jüdische Volkskunde. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 90 [N.S. XLI] (1987), S. 209-230. Max Grunwald: Kapitlekh fun an Oytibiografiye. In: YIVO-Bleter 36 (1952), S. 241251, hier S. 244.
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fasst werden als ,Kunde des jüdischen Volkes' und es wird sich hieran die Kontroverse spinnen, ob man in der Jetztzeit noch von einem jüdischen Volke' sprechen darf oder nicht. Mit solchen Streitfragen wird dann viel Zeit und Kraft unnütz vergeudet, die nützlicher zu verwenden wäre.30 Sehr viel heftiger aber schalt der assimilierte Wiener Jude Friedrich Salomo Krauss, der u.a. die Zionisten als „umgestülpte Antisemiten" beschimpft hatte, die Institutionalisierung einer jüdischen Volkskunde, vielleicht nicht ganz uneigennützig an seine eigenen verlegerischen Geschäfte denkend, da er in dem Hamburger Vereinsperiodikum eine Konkurrenz für seinen „Urquell" befürchtete. 1897 schrieb er noch relativ verhalten über das neue jüdische „Folklore-Comite": Ich freue mich gewiss herzlich über das Unternehmen, das geeignet erscheint, der Volkskunde manchen erspriesslichen Dienst zu leisten, begreife aber nicht recht, wie die Herren zur Behauptung kommen, dass , diese Aufgabe (für die Juden) geradezu zu einem Gebote der Selbsterhaltung' wird! [...] Für die Erhaltung des jüdischen Volkstums bemühen sich mit traurigem Erfolge die Judenfresser; gebildete Juden aber sollten sich nur darauf beschränken, so lange es noch Zeit ist, dieses durch den Druck und die Not vieler Jahrhunderte gewaltsam geschaffene Volkstum für die Wissenschaft zu erforschen, im übrigen jedoch aus Kräften sich bemühen, ihre Glaubensgenossen aus dem Ghetto der 11 Geister befreien zu helfen. In einem zweiten Kommentar aber nahm Krauss sehr viel wütender Stellung: Das Hamburger Comit6 für jüdische Volkskunde [...] setzt mich d.d. 8.IX.1897 in Kenntnis, dass es den Beschluss gefasst, eine Gesellschaft für jüdische Volkskunde zu gründen. Wenn die Herren mich vorher zu Rate gezogen hätten, ich würde von dem Stuss abgemahnt haben. Die Volkskunde ist nicht jüdisch, nicht christlich, nicht moslimisch, nicht buddhistisch, nicht deutsch, nicht slovakisch, nicht englisch, nicht chinesisch, sondern eine Wissenschaft vom Menschen. Sinn und Verstand hätte wissenschaftlich eine Gesellschaft zur Erforschung des Volkstums der Juden, also eine mit nahezu internationalem Programm. [...] Bleiben wir schon bei der haltlosen confessionell-nationalen Volkskunde, dann müssen wir folgerichtig auch die Volkstümer der grossen jüdischen Sekten, des Christentums und des Islams in den Kreis einbeziehen. Also sind wir erst recht international geworden. Wo aber in der Welt gibt es heutigentags ein jüdisches Volk? Es wäre denn in der Phanta30
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Georg Minden: Besprechung von Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde, Η. 1. Hamburg 1898. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 8 (1898), S. 100-101. Friedrich Salomo Krauss: Ein Folklore-Comite. In: Der Urquell. Eine Monatsschrift für Volkskunde N.F. 1 (1897) S. 27.
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sie der Zionisten, die als umgestülpte Antisemiten das Wesen des Judentums, seine ausschliesslich religiös-gesellschaftliche Bedeutung leugnen".32
Doch die gemäßigten wie die heftigen Stimmen gegen die Gründung der „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" verband eine tiefsitzende Angst. Die bourgoisen Juden, die sich in die trügerische Geborgenheit der Assimilation zurückgezogen hatten, befürchteten, daß durch wissenschaftliche und publizistische Öffentlichkeitsarbeit das Stigma, das Kainsmal des Jude-Seins in einer antisemitischen Gesellschaft wieder verstärkt sichtbar würde. Grunwald selbst mußte dies bitter bei der Vorbereitung der ,Jüdischen Abteilung" der „Internationalen Hygiene-Ausstellung" in Dresden 1911 erfahren. Potentielle Geldgeber wie der New Yorker Bankier und Philanthrop Jacob Henry Schiff (1847-1920) hatten kurzfristig die finanzielle Unterstützung zurückgezogen, jüdische Gemeinden Leihgaben verweigert. Grunwald, der diese Schwierigkeiten zuerst in seiner eigenen Person begründet sah, erfuhr aus der recht schroffen Absage des Pariser Rabbiners Israel Levi den tatsächlichen Grund: man sähe in Paris den Nutzen solcher Ausstellungen mit großer Skepsis. 33 Offene Angst sprach aus diesem Brief; durch die museale Präsentation von Bereichen jüdischen Lebens wie der ,B'rith Mila' (Beschneidung) oder der ,Kashrut' könnten jene Eckwerte traditionaler jüdischer Identität, die über Jahrhunderte hinweg durch Unkenntnis, Dummheit und Halbwissen zu verheerenden Vor32
Friedrich Salomo Krauss: Beiträge zur Geschichte der Volkskunde. In: Der Urquell. Eine Monatsschrift für Volkskunde N.F. 1 (1897), S. 284-285. Seine Kritik formulierte Krauss auch in einem Brief vom 18. Mai 1892 an Grunwald; Jewish National and University Library Jerusalem, Nachlaß Dr. Max Grunwald, Sign. 4° 1182/2-4; der Wortlaut des Briefes ist bei Daxelmüller, Die deutschsprachige Volkskunde (Anm. 13), S. 10, Anm. 34, zitiert. Zu Krauss s. Raymond L. Burt: Friedrich Salomo Krauss (1859-1938). Selbstzeugnisse und Materialien zur Biobibliographie des Volkskundlers, Literaten und Sexualforschers mit einem Nachlaßverzeichnis. Mit dem Beitrag von Michael Martischnig „Zum 50. Todestag von Friedrich Salomo Krauss (Salomon Friedrich Krauss). Eine Nachlese." Wien 1990. (= österreichische Akademie der Wissenschaften, PhilosophischHistorische Klasse, Sitzungsberichte, 549. Band. Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde, Sonderband 3); Michael Martischnig: Erotik und Sexualität der unteren Volksschichten. Zum 50. Todestag von Friedrich Salomo Krauss (Salomon Friedrich Krauss) (1859-1938). In: Sabine Drexel, Klaus Heinzle, Angela Koch (Hrsg.), InterAKTion 2. Das Nackte - Der Hintergrund, 29.8.-1.10. das wiener sommer symposion mit der hochschule für angewandte kunst in wien. Wien 1989, S. 23-83; s. demnächst auch Christoph Daxelmüller: Friedrich Salomo Krauss. In: Wolfgang Jacobeit, Hannjost Lixfeld, Olaf Bockhorn (Hrsg.), Gestalten und Tendenzen [im Druck],
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„Vous ne trouverez pas ä Paris aucune institution ou personne dispos6e ä faire le moindre d6pense pour cette exposition. Nous sommes ici tnis sceptiques en ce qui concerne l'utilitö de ces exhibitions"; s. Max Grunwald: Bericht über die Gruppe „Hygiene der Juden" in der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Wien 1911, S. 6-7; vgl. auch ders. (Hrsg.): Die Hygiene der Juden. Im Anschluß an die Internationale HygieneAusstellung Dresden 1911. Dresden o.J. [1912],
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urteilen geführt hatten, erneut dem Bewußtsein einer antisemitisch voreingenommenen Öffentlichkeit zugeführt werden. Der Nationalismus brachte als Vater der europäischen Volkskunden mit der jüdischen und der nichtjüdischen Volkskunde zwei völlig ungleiche Kinder hervor. Dennoch ist es wiederum notwendig, zu differenzieren. Unter dem Eindruck eines Besuchs des Hamburger „Museums für Völkerkunde" im April 1914, in dem sich inzwischen ein Teil der Sammlungen des von Grunwald eingerichteten „Museums für jüdische Volkskunde" befand, regte Eduard Hoffmann-Krayer (1864-1936) in Basel die Einrichtung einer „Kommission für jüdische Volkskunde" innerhalb der „Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde" an. 34 Anläßlich der ersten Sitzung am 7. März 1917 formulierte er die Ziele dieser Arbeitsgruppe: Durch die mannigfachen Forschungen und Veröffentlichungen, besonders des letzten Jahrzehnts über Juden und Judentum, hat sich immer mehr die Überzeugung Bahn gebrochen, daß nicht nur die in der Vergangenheit liegende Geschichte der Juden und nicht nur ihre kultisch-religiösen Institutionen von höchster Bedeutung sind, sondern daß auch das heutige jüdische Volkstum für die junge Wissenschaft der Volkskunde voll der bedeutendsten Probleme ist".35
Die deutsche Volkskunde hingegen blieb weiterhin untätig. Stellt sich folglich die Frage nach der Volkskunde als einer antisemitischen Wissenschaft ausschließlich als deutsches Problem? Historiker würden eine Periodisierung sicherlich als hilfreich betrachten. Doch die Zeit des Nationalsozialismus, in der man gerade hinsichtlich der hier gestellten Frage nach dem antisemitischen Charakter der Volkskunde fündig zu werden hofft, beginnt lange vor 1933. Denn seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts war jene Volkstumsideologie vorgedacht, derer sich nach 1933 die braunen ,Herrenmenschen' als Handhabe zum Völkermord bedienen konnten. Hermann Bausinger hat diese Entwicklung in einem prägnanten Satz zusammengefaßt: „Wenn irgendwo in einer Wissenschaft der Nationalsozialismus nicht als Einbruch von außen, sondern als innere Konsequenz verstanden werden muß, dann in der Volkskunde." 36 Die Zeitgrenzen lösen sich vor dem Hintergrund der Lebensfähigkeit von Ideologien auf. Mit scheint daher ein anderes Analysemodell erfolgversprechender: antisemitische Aussagen von Volkskundlern im 19. Jahrhundert sollen auf ihren Widerhall in modernen Untersuchungen überprüft werden; es heißt festzustellen, ob der Antisemitismus als in34
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36
Vgl. hierzu Florence Guggenheim-Grimberg: Eduard Hoffmann-Krayer und die jüdische Volkskunde. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 60 (1964), S. 133-140. Eduard Hoffmann-Krayer: Jüdische Volkskunde. In: Schweizer Volkskunde 7 (1917), S. 93-94. Bausinger, Volkskunde (Anm. 22), S. 63.
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tegraler Teil des volkskundlichen Volks- und Nationalbegriffs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Erkenntniskategorie innerhalb der gegenwärtigen Volkskunde bildet. Der besser als .Turnvater' bekannte Nationalpatriot Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) trennte in seinem Deutschen Volkstum, das bis 1944 mindestens 16 Neuausgaben erlebte, 37 am Beispiel einer Redewendung scharf zwischen der Ehrbarkeit des deutschen Volkes und den unehrlichen Minderheiten: „Das ist die rechte Nation!" und der Sprachgebrauch meint Zigeuner, Gaunergesindel, Landstreicher und Schacherjuden.38
Die Juden befinden sich also im Volksmodell Jahns keinesfalls in guter Gesellschaft. Der Turnvater aber bediente sich bereits einer Technik, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Verhältnisses der deutschen Volkskunde zu den Juden ziehen sollte; man nannte sie nicht beim Namen, doch sie waren als Objekte nonverbal präsent. Jahn nahm zudem jenen biologischen Volksbegriff vorweg, der sich mehr als ein Jahrhundert später in den Nürnberger Ras segesetzen so verhängnisvoll für die Juden auswirken sollte: Mischlinge von Tieren haben keine echte Fortpflanzungskraft, und ebensowenig Blendlingsvölker ein eigenes volkstümliches Fortleben. Es läßt sich ein Edelauge in den Wildling setzen, ein Edelreis auf den Wildstamm, die Geschichte mag mit Beispielen dies Bild anpassen; aber das Immerwiederiiberpropfen taucht [sie!] nicht in der Baumschule und in der Völkerzucht noch weit weniger.
Fernab solcher botanischen Sprachbilder aber zog Jahn folgenden Schluß: Das spanische Sprichwort „Traue keinem Maulesel und keinem Mulatten" ist sehr treffend, und das deutsche „nicht Fisch nicht Fleisch" ist ein warnender Ausdruck. Je reiner ein Volk, je besser; je vermischter, je bandenmäßiger.40
Zwischen den Zeilen begründete Jahn, warum die Juden innerhalb des deutschen Volkes letztlich ebensowenig zu suchen hätten wie in einer Geschichtsschreibung der deutschen Nation. Die Wurzeln jener anthropologischen Wahnideen, die die Ausrottung des Juden als eines rassischen Volksschädlings, als Ungeziefer propagieren, um die Sprachpirouetten des Turnvaters fortzuführen, reichen folglich weit ins 19. Jahrhundert zurück. 37
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S. Ingeborg Weber-Kellermann: Deutsche Volkskunde zwischen Germanistik und Sozialwissenschaften. Stuttgart 1969. (= Sammlung Metzler 79). S. 16-17. Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Frankfurt a.M. o.J. [1810], S. 15. Ebd. S. 22-23. Ebd. S. 23.
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Die Spurensuche führt weiter zu Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897), der 1858 seine Münchener Antrittsvorlesung mit einem Vortrag über Die Volkskunde als Wissenschaft*1 bestritten hatte und zu dessen Bedeutung für die volkskundliche Fachgeschichte sich in jüngster Zeit eine ebenso materialreiche wie kontrovers geführte Diskussion zwischen Hans Moser, 42 Klaus Guth 4 3 Helge Gerndt 44 Günter Wiegelmann 45 und Konrad Köstlin 46 entzündet hat. Zwar strich man Riehls Einfluß auf die Volksideologie des Nationalsozialismus klar heraus 47 doch den Antisemiten Riehl übersahen die Autoren. Hierzu wird man lediglich in Wolfgang Emmerichs Tübinger Dissertation von 1968 fündig 4 8 Riehl hatte die Kategorie der jüdischen Entwurzelung eingeführt, in der erstmals 1851 erschienenen Bürgerlichen Gesellschaft nicht nur das „jüdische Geistesproletariat" des „Hasses gegen die Gesellschaft wie gegen den Staat" beschuldigt 49 und die „Heimatlosigkeit" und das „Vagabundenleben" der „Schacherjuden" angeprangert,50 sondern in seinem populären Werk Land und Leute die Rastlosigkeit der Juden der Bodenständigkeit des Volkes gegenübergesetzt. 51 Durch den Schriftsteller und Kulturhistoriker Gustav Freytag erhielt Riehls soziologisches Ständemodell und die Idee eines nomadisierenden Judentums eine erhebliche Breitenwirkung und antisemitische Dynamik. 52 41
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Wilhelm Heinrich Riehl: Die Volkskunde als Wissenschaft. In: ders., Culturstudien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart 1859, S. 205-229. Hans Moser: Wilhelm Heinrich Riehl und die Volkskunde. Eine wissenschaftsgeschichtliche Korrektur. In: Jahrbuch für Volkskunde N.F. 1 (1978), S. 9-66. Klaus Guth: Wilhelm Heinrich Riehl und kein Ende ...? In: Jahrbuch für Volkskunde N.F. 2 (1979), S. 73-76. Helge Gerndt: Abschied von Riehl - in allen Ehren. In: Jahrbuch für Volkskunde N.E 2 (1979), S. 77-88. Günter Wiegelmann: Riehls Stellung in der Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde. In: Jahrbuch für Volkskunde N.F. 2 (1979), S. 89-102. Konrad Kösüin: Anmerkungen zu Riehl. In: Jahrbuch für Volkskunde N.F. 7 (1984), S. 81-95. Z.B. Moser (Anm. 42), S. 49-51. Emmerich, Germanistische Volkstumsideologie (Anm. 23), S. 172-173, Anm. 587. Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft. Hrsg. und eingeleitet von Peter Steinbach. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1976 (1. Aufl. Stuttgart 1851), S. 231. Ebd. S. 257-258. Wilhelm Heinrich Riehl: Land und Leute. Stuttgart/Augsburg 1854. Eine ähnliche These erscheint bei Adolf Wahrmund: Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft (Berlin 1887); vgl. hierzu Paul R. Mendes-Flohr: Werner Sombart's: The Jews and Modem Capitalism. An Analysis of its Ideological Premises. In: Leo Baeck Institute Year Book XXI (1976), S. 87-107, hier S. 101, Anm. 129. Vgl. hierzu Shulamit Volkov: Antisemitism as a Cultural Code. Reflections on the History and Historiography of Antisemitism in Imperial Germany. In: Leo Baeck Institute Year Book XXIII (1978), S. 25^6, hier S. 37; s. auch George L. Mosse: The Image of the Jew in German Popular Culture: Felix Dahn and Gustav Freytag. In: Leo Baeck Institute Year Book II (1957), S. 218-227; Ernst Kohn-Bramstedt: Aristocracy and the Middle Classes in Germany. Social Types in German Literature 1830-1900. London 1937, S. 132-149. Zu Gustav Freytag s. unten.
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Um die Bedeutung Riehls für den nationalsozialistischen Antisemitismus zu verdeutlichen, sei hier bewußt nicht nach der Originalausgabe, sondern nach der 37., im Leipziger Hammer-Verlag 1934 erschienenen Ausgabe des Handbuchs der Judenfrage von Theodor Fritsch zitiert, dem wohl einflußreichsten antisemitischen Standardwerk des Dritten Reiches. Fritsch sammelte darin u.a. „Urteile über die Juden nach den Freiheitskriegen bis zur Gegenwart", unter die er auch die Stimme Riehls einreihte: Es ist nicht bloß die Arbeit schlechthin, sondern auch ein scharfer Unterschied in der Idee der Arbeitsehre und der Arbeitssittlichkeit, die den Semiten vom Arier trennt [...] Er [der Jude] gibt sich oft umfängliche Mühe um eines höchst armseligen Gewinnes willen; er wendet Scharfsinn, Ausdauer, Willenskraft in einem Maße auf, welches er für die lohnendste ehrliche Arbeit niemals auch nur entfernt aufwenden könnte; im unverdrossensten Kopfzerbrechen ersinnt er Listen, über die jedem ehrlichen Manne der Verstand stille steht; er hält große Stücke auf die äußere Ehre seines Berufes, ja er ahnt sogar etwas von der Poesie der Arbeit und freut sich des Humors seiner Lumpenstreiche. Es fehlt ihm nur eine Kleinigkeit zum wirklichen Arbeiter: das sittliche Motiv und das sittliche Ziel, und mit dieser Kleinigkeit fehlt ihm alles. 53
Dieser Gedankengang unterstreicht die Konservativität der Riehischen Soziallehre. Denn 1851 wiederholte er die Argumente der aufklärerischen Statistik, die im späten 18. Jahrhundert am jüdischen Arbeitsethos gezweifelt und die Erziehung des Juden zu einem »nützlichen', d.h. im Sinne der Staatsfinanzen produktiven Landmann und Bürger als unmöglich betrachtet hatte. Das Beispiel Riehl aber zwingt andererseits zur Vorsicht, wenn vom Vorwurf des Antisemitismus die Rede ist. Riehls Vorlesungen in München waren beliebt, 54 und unter seinen Hörern befand sich auch der spätere Frankfurter Rabbiner Caesar Seligmann (1860-1950), der während seiner Hamburger Zeit aktiv in der „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" mitgearbeitet und für deren Museum und Archiv eine Reihe von Gegenständen gespendet hatte. Während seiner Münchener Studienjahre besuchte er sowohl die nicht eben judenfreundlichen Oberammergauer Passionsspiele als auch die Vorlesungen des „Kulturhistorikers Wilhelm Heinrich Riehl", bei dem er „gerne [...] gehört" habe, weil er ein „interessantes Buch über die Pfalz und die Pfälzer geschrieben hatte". 55 Sein Engage53
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Theodor Fritsch: Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes. 37. Aufl. Leipzig 1934, S. 461-462. S. hierzu Moser (Anm. 42), S. 56-57. Caesar Seligmann: Erinnerungen. Hrsg. v. Erwin Seligmann. Frankfurt a.M. 1975, S. 67. Das Interesse Seligmanns an Wilhelm Heinrich Riehls Werk Die Pfälzer. Ein rheinisches Volksbild von 1857 hat persönliche Gründe: Seligmann wurde in Landau in der bayerischen Pfalz geboren.
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ment für die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" erwähnte er in seinen Memoiren übrigens mit keinem einzigen Wort.
Von der Minderheit zur Minderwertigkeit Man darf aus dem Besuch der Vorlesungen des Antisemiten Riehl durch den Juden Seligmann noch keine allgemein verbindlichen Rechtfertigungsmuster ableiten. Der Alltag zwang zum zähneknirschenden Arrangement mit dem Antisemitismus. Der nationalsozialistische Volkskundler Lutz Mackensen (1901 - 1992) z.B., von Max Weinreich als einziger Fachvertreter der nationalsozialistischen Volkskunde genannt, 56 gab das Handwörterbuch des deutschen Märchens heraus, 57 für das sich der nach seiner Übersiedlung nach Wien am Großen Leopold Städter Gemeindetempel als Rabbiner tätige Grunwald verpflichtet hatte, die Stichwörter ,Haustier (altgewordenes)', ,Hund\ ,Hund und Sperling4, ,Warum Hunde einander beriechen', ,Jude im Dorn', ,Meerungeheuer', ,Mittrauern der Natur', ,Rätselaufgaben', ,Regen von Kuchen', ,Seelensitz', ,Tau als Heilmittel', ,dankbare Tiere', .Uriasbrief', ,Walfisch', ,Wasser des Lebens', .Wassergeister' und .Zauberlehrling' zu übernehmen. 58 Zu ihrer Ausführung kam es nicht mehr. Jüdische Partizipation an fragwürdigen Vorlesungen und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Nationalsozialisten schmälert keinesfalls den Vorwurf des Antisemitismus an Riehl und Mackensen; dennoch wird hier ein strukturaler Mechanismus sichtbar, den zwei brillante Zeitanalytiker und -kritiker unabhängig voneinander beschrieben: Der Philosoph Jean-Paul Sartre, der sicherlich den jüdischen Ethnologen Friedrich Salomo Krauss nicht kannte, sprach in seinen Betrachtungen zur Judenfrage davon, daß man den Antisemitismus nicht begreifen könne, wenn man nicht bedenkt, daß der Jude, der Gegenstand s o vieler Verwünschungen, völlig unschuldig und harmlos ist. Darum bemüht der Antisemit sich auch, Gerüchte von jüdischen Geheimbünden und gefährlichen, heimlichen Freimaurereien zu verbreiten. Aber der Jude, den er von Angesicht zu A n g e sicht sieht, ist zumeist nur ein schwaches Wesen, das nicht für die Gewalt geschaffen, sich nicht einmal verteidigen kann. 5 9 56
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Max Weinreich: Hitler's Professors. The Part of Scholarship in Germany's Crimes Against the Jewish People. New York 1946, S. 276. Lutz Mackensen (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Märchens, Bd. 1-2. Berlin/Leipzig 1930-1940. (= Handwörterbücher zur deutschen Volkskunde, Abteilung 2). [mehr nicht erschienen], Verlagsvertrag vom 13. Mai 1928; Jewish National and University Library Jerusalem, Nachlaß Dr. Max Grunwald, Sign. 4° 1182/11:13-4; s. Christoph Daxelmüller: Max Grunwald. In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 6, Lfg. 1. Berlin/New York 1988, Sp. 271-273. Jean-Paul Sartre: Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus. Zürich 1948, S. 41.
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Krauss brandmarkte seinerseits in vergleichbarer Sprachlogik, jedoch aus konkretem Anlaß, den latenten Antisemitismus der deutschen volkskundlichen Vereine: Dass sich in Hamburg eine Gesellschaft für jüdische Volkskunde bilden konnte, ist eine bittere Anklage wider alle, vornehmlich die deutschen Gesellschaften und Vereine für Volkskunde, die samt und sonders den Umfang und die Tiefe ihrer Pflichten und Aufgaben gegenüber allen Bewohnern Mitteleuropas ohne Unterschied von Confession und sprachlicher Zugehörigkeit nicht begriffen haben. Man gründet so einen Verein oder eine Gesellschaft und wählt in den Ausschuss zwei, drei Paradejuden hinein, denen eine schmähliche Rolle zugewiesen wird. Ab und zu redet man oder druckt man eine infame antisemitische Injurie ab, und wenn sich ein naiver Mitarbeiter jüdischer Confession darüber aufhält, sucht man ihn augenverdreherisch zu beschwichtigen: „Aber, mein Lieber, seien Sie doch nicht gar so empfindlich! Sie sind ja nicht genannt worden. Ja, wenn alle Juden so wären, wie Sie (scilicet so dumm) etc. 60
Die Beispiele Jahn und Riehl, denen zahlreiche andere Aussagen hinzuzufügen wären, machten die antisemitischen Untertöne innerhalb der Geschichte der Volkskunde im 19. Jahrhundert deutlich. Obwohl auch andere Geisteswissenschaften antisemitisch dachten und agierten, erhielt die antijüdische Haltung der Volkskunde durch die Zentralisierung auf einen nationalistischen Volksbegriff eine besondere Qualität. Dennoch sind offene antisemitische Äußerungen relativ selten. Denn da das ,Volk' als nahezu erotischer Bezugspunkt der Volkskunde ein fest im germanischen Urboden wurzelndes ,deutsches' war, mußte der Jude als konfessionelle und später rassisch definierte Minderheit zwangsläufig als Fremdkörper fungieren, über den man schlichtweg hinwegzusehen hatte; er ließ sich entweder durch Verschweigen oder aber durch seine ,(Art-)Fremdheit' umschreiben. Aus heutiger Sicht ist die gesellschaftspolitische Borniertheit der Volkskunde des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie ihr absoluter Mangel an historischem Realitätssinn beinahe unglaublich. Denn sie wurde sich zu keinem Zeitpunkt der sozialen Veränderungen bewußt, die vor ihren Augen stattfanden und die den Juden zum Staatsbürger, wenn auch zweiter Klasse, machten. In einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels und des jüdischen Aufstiegs in geachtete und einflußreiche Positionen in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, der Landflucht und der bürgerlichen Assimilation sahen die Kulturanalytiker den Juden weiterhin nur als Bettel- und betrügerischen Schacherjuden, als Hostienschänder und Ritualmörder, mithin als Inbegriff des Negativen. Durch die Phan60
Friedrich Salomo Krauss: Beiträge zur Geschichte der Volkskunde. In: Der Urquell. Eine Monatsschrift für Volkskunde N.F. 1 (1897), S. 284-285.
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tasie ihrer eigenen Volksgespinste trug die Volkskunde wesentlich dazu bei, aus einer Minderheit das Symbol für Minderwertigkeit zu machen. Der Ausschluß der Juden auf allen Erkenntnisebenen aber läßt sich unschwer am Forschungs- und Publikationsalltag der nichtjüdischen Volkskunde konkretisieren. Die wenigen, in der „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde" veröffentlichten Beiträge jüdischer Verfasser zu Bereichen jüdischer Volkskultur berechtigen keinesfalls, ihr nachträglich Weltoffenheit zu attestieren. So kritisierte Friedrich Salomo Krauss zwar, daß „bis in die jüngste Zeit" auch „die Zeitschriften für das Judentum alles, was auf modernes jüdisches Volkstum Bezug hatte, geringschätzig behandelten und niederschwiegen",61 doch nicht zu Unrecht wandte er sich vor allem gegen die deutsche Volkskunde: Gleichfalls international war auch die älteste unter den bestehenden deutschen Zeitschriften für Volkskunde „Am Urdagsbrunnen" (seit 1881) angelegt, die seit 1890 unter dem Titel „Am Urquell" (und seit 1897: „Der Urquell", Leiden, E. J. Brill) von mir geführt wird. Vorwiegend deutsches Volkstum pflegt die vom Deutschen Verein f. Volkskunde in Berlin (seit 1890) herausgegebene und von K. WEINHOLD redigierte Zeitschrift f. Volkskunde. Ab und zu bringt sie auch Aufsätze über romanisches Volkstum. Den romanischen Zeitschriften gereicht es zum Ruhme, dass sie unbefangen auch jüdisches Volkstum zu behandeln wissen. In deutscher Sprache bemühte sich nur der Urquell nach dieser Richtung, nicht etwa deshalb, weil ich der Redakteur bin, wie Prof. E. Mogk in den Mitteilungen des Vereins für Sächsische Volkskunde (1897. Η. 1. S. 8) annimmt, sondern richtiger, trotzdem ich das Blatt betreue. Mich, den slavischen Ethnologen, geht ja das juden d e u t s c h e und juden s p a n i s c h e Volkstum eigentlich blutwenig an, als Redakteur aber habe ich keinen Grund und keine Veranlassung, gerade diese Stoffe aus meiner Zeitschrift auszuschliessen. Der Spott und Hohn, der gegen Juden in Mode ist, fällt auf die Spötter zurück.62
Sah man im ausgehenden 19. und im frühen 20. Jahrhundert über die jüdische Kultur infolge eines national(istisch)en Volksbegriffs, oder schärfer noch wie Riehl, wegen der Doktrin von Entwurzelung und kulturfernem unkreativem Nomadentum, hinweg, was später zum sprachlichen, kollektive Ängste schürenden Stereotyp in Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts63 werden sollte, so erhielt diese volkskundliche Argumentation bereits im Vorfeld des Nationalsozialismus eine vermeintliche Bestätigung durch die Pseudowissenschaft der Rassentheorie. Mit ihr glaubte man nämlich, die Volkstumsideologie nun auch naturwissenschaftlich be61
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Luciaa Schermann, Friedrich Salomo Krauss: Allgemeine Methodik der Volkskunde. Berichte über Erscheinungen in den Jahren 1890-1897. Erlangen 1899, S. 119. Ebd. S. 127. Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. 3. Aufl. München 1932.
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gründen zu können. Der selektierende Begriff der ,Rasse' aber ersparte es den Volkskundlern, den Juden direkt beim Namen zu nennen. Begeistert begrüßte daher z.B. Mackensen eine rassentheoretisch stabilisierte Volkskunde: Man hat in unseren Tagen nach einer Volkskunde auf rassischer Grundlage gerufen. Für viele, auch für mich, war dieser Ruf wie eine Erlösung. Aber Volk und Rasse sind nicht das Gleiche; Rasse ist älter als das Volk. Es hieße eine entscheidende Entwicklungsstufe überspringen, sollten wir heute schon den Schritt von der deutschen zur rassischen Volkskunde wagen. 64 Wichtige kulturelle Determinanten wie die Sprache besaßen nun keine Gültigkeit mehr: Von hier aus also kann der Weg zum Binnenvolkstum, zur Binnenvolkskunde geebnet werden. Kernfrage: Was ist deutsches Volkstum? Wie entsteht, wie erhält sich Volkstum? Dabei muß der immer wieder beschrittene Irrweg vermieden werden, eine Außenform der Volkskultur als Kennzeichen schlechthin herauszustellen. Auch die Sprache ist kein solches untrügliches Kennzeichen: der deutschsprechende Jude gehört nicht zum deutschen Volkstum (bekanntlich fußt das Jiddische der Ostjuden auf deutschmundartlicher Grundlage!), aber der plattdänisch sprechende Nordschleswiger fühlt sich zum deutschen, nicht zum dänischen Volkstum zugehörig.65 Eine Volkskunde dieser Denkart aber mußte es zwangsläufig als ihre Hauptaufgabe betrachten, die Einzigartigkeit des deutschen Herrenmenschen unter Beweis zu stellen. Man glaubte, hierzu einen Beitrag leisten zu können, indem man die Schlagworte ,Arteigenheit' sowie »Artfremdheit' und ,Volkszersetzung' gegeneinander setzte. In einer Ankündigung der vom „Verband deutscher Vereine für Volkskunde" betreuten, von deren Vorsitzendem John Meier (1864-1953) herausgegebenen Reihe „Deutsches Volkstum" treten die Absichten und Ziele klar zutage: Die Reihe soll, vom lebenden Volke ausgehend, die geistigen Mächte schildern, die das gemeinsame Gesicht unseres Volkes formen, und weiter zeigen, wieviel dabei an Ahnenerbe überkommen ist und welche Züge die jetzigen Geschlechter geschaffen haben. - Nicht Selbstzweck ist es, diese Feststellung zu machen, nicht tot bleiben sollen die Ergebnisse dieser Forschung, sondern befruchtend zu wirken ist vor allem ihre Bestimmung: sie sollen Leben zeugend dazu dienen, die aufbauenden inneren Kräfte deutschen Wesens pflegend zu umsorgen und uns instand zu setzen, die Deutschheit unseres Volkes, in Ab64
65
Lutz Mackensen: Volkskunde in der Entscheidung. Versuch einer Standortbestimmung. Tübingen 1937. (= Philosophie und Geschichte. Eine Sammlung von Vorträgen und Schriften aus dem Gebiet der Philosophie und Geschichte, 63). S. 17. Ebd. S. 22.
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wehr des Artfremden und Kräftigung des Eigensten, immer reiner und stärker zu entwickeln. 6 6
Folgerichtig bezog Mackensen entschieden Stellung gegen jene völkerkundlich-vergleichende Volkskunde, für die vornehmlich der Name Richard Andree's (1835-1912) steht. Auf ihn, eines der wenigen und noch dazu aktiven nichtjüdischen Mitglieder der Hamburger „Gesellschaft für jüdische Volkskunde",67 der mit seiner untendentiösen, wenn auch fehlerhaften Volkskunde der Juden als einziger den Teufelskreis des volkskundlichen Schweigens durchbrochen hatte,68 zielte Mackensen nicht durch die Erwähnung des Namens, sondern des wohl bekanntesten Werkes, der Ethnographischen Parallelen;69 die Sprache des Nationalsozialismus geriet durch ihre unverbindliche Anonymität zur rufmordenden Perfidie. Mackensen wandte sich gegen die Methode des Kulturvergleichs: Es ist seltsam zu beobachten, zu welchen Irrgängen gerade das starre Festhalten an den Volksgrenzen als Aufgabengrenzen die Volkskunde verleitet hat. 66
Anhang in Friedrich Pfister: Deutsches Volkstum in Glauben und Aberglauben. Berlin/ Leipzig 1936. (= Deutsches Volkstum, Bd. 4). unpag.; s. Emmerich, Germanistische Volkstumsideologie (Anm. 23), S. 157. Ähnlich hatte Adam Wrede 1936 in seiner in Osterwieck und Berlin erschienenen Deutschen Volkskunde auf germanischer Grundlage (S. 1) der Volkskunde die Aufgabe zugewiesen, die arteigenen Kräfte zu pflegen und zu entfalten, die artfremden jedoch auszumerzen. Der Antisemit Wilhelm Stapel, Verfasser der Schrift Antisemitismus und Antigermanismus. Über das seelische Problem der Symbiose des deutschen und des jüdischen Volkes (Hamburg/Berlin/Leipzig 1928) war zeitweise Herausgeber der Zeitschrift „Deutsches Volkstum. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben"; s. ebd. S. 8. Ohne die Juden beim Namen zu nennen, formuliert einer der Hauptvertreter der nationalsozialistischen Volkskunde, Eugen Fehrle, über die „Zerstörungsarbeit fremder Rassen": „Den dritten großen Zersetzungsversuch deutschen Wesens haben wir alle miterlebt: rassefremde Menschen drangen in führende Stellungen des Staates und der Gesellschaft ein und versuchten, die deutsche Kultur nach ihrer Art zu gestalten. Zeitung, Theater, Kunst hatten sie schon an sich gerissen, hatten folgerichtig und schlau mit Spott und Hohn, mit ausgeklügelter Verstandesschärfe, was uns heilig und erhaben war, als minderwertig hinzustellen versucht. Denken wir zurück an einige unserer Witzblätter zur Weihnachtszeit. Wie niederträchtig haben sie alles, was uns im Herzen bewegte, mit kalter Verstandesklugheit zersetzt und in den Dreck gezogen! Gegen diese Entartung des deutschen Wesens erhob sich der Nationalsozialismus und betonte als Grundlage aller Gesundung der Volksgesamtheit das Reinhalten deutscher Art, das Sich-Besinnen auf deutsches Volkstum." Eugen Fehrle: Das Wesen des Volkes (Grundlagen, Aufbau und Wirtschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates. Erster Band: Die weltanschaulichen, politischen und staatsrechtlichen Grundlagen des nationalsozialistischen Staates. Gruppe 2: Die politischen und staatsrechtlichen Grundlagen). Berlin o.J. [1936], S. 3.
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S. hierzu Christoph Daxelmüller: Richard Andree und die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" in Hamburg. In: Volkskunde in Niedersachsen. Berichte - Mitteilungen Termine 2, Η. 1 (1985), S. 9-11. Richard Andree: Zur Volkskunde der Juden. Bielefeld/Leipzig 1881. Richard Andree: Ethnographische Parallelen und Vergleiche. Stuttgart 1878.
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Denn man sah zwar sehr bald, daß manche eigenvölkischen Kulturformen außerhalb der Landesgrenzen ihre Entsprechungen finden, und das Aufsuchen solcher .ethnographischen Parallelen' bildete lange Zeit eines der Hauptziele volkskundlicher Arbeit. So sehr man aber nun einerseits die Stoffbearbeitung auf das eigene Volkstum und nur auf dieses einschränkte, so unbekümmert benutzte man andererseits fremde, oft weit hergeholte Formen zur Deutung eigenvölkischer Kulturerscheinungen. Es genügte eine äußerliche Gleichheit oder auch nur eine Ähnlichkeit, um etwa deutsche und Negersitten auf die gleiche Wurzel zurückzuführen oder einem nordischen Volksglauben die gleichen Voraussetzungen unterzuschieben, die ein Indianerritus nachweislich hat. Stoffbefangen, wie die ganze Zeit war, übersah man ganz, daß jeder Stoff nur Ausdrucksform einer seelischen Haltung ist. Unter dem eindrucksvollen Kennwort »vergleichende Volkskunde' hat diese schon durch ihre bequeme Handhabung bestechende Methode Gleichungen aufgestellt, die uns zwar heute absurd erscheinen, die aber gänzlich zu beseitigen noch viel Mühe kosten wird.70 Lange zuvor hatte sich Krauss gegen solche Überheblichkeit gewandt: Mit dem Aberglauben muss der Volksforscher ein für allemal brechen, dass gerade wir Europäer auf der Höhe der Menschheit stehen. Hat man sich von dieser theologisch verbrieften Anschauung befreit, so gelangt man gar nicht selten bei methodischer Prüfung der Zustände .primitiver' Völker zur Einsicht, dass in manchen Stücken sie die .höhere Stufe' darstellen [...]. 71 Doch seine Stimme blieb in der Volkskunde ohne jeglichen Nachhall. Warum sollte man ausgerechnet auf den Juden und .Pornographen' hören, der mit der Edition der Anthropophyteia unentwegt gegen die Normen bürgerlich-antisemitischer Prüderie verstieß?
Die »Inferiorität' der jüdischen Kultur Fand die Auseinandersetzung der deutschen Volkskunde mit dem Juden überhaupt statt, dann erfolgte sie aus zwei Absichten: a) die Erfassung antijüdischer Denkweisen, wie sie in Erzählungen, Liedern, Sprichwörtern und Redensarten, im Volksglauben und in Volksmeinungen ihren Niederschlag gefunden hatten, und b) der Nachweis der Unterlegenheit und Inferiorität jüdischer Kulturformen als Bestätigung für die Überlegenheit der deutschen Kultur. Für Otto Lauffer z.B. bildeten die „Altertümer des jüdischen Kultus" eine Denkmälergruppe für sich: 70
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Mackensen, Volkskunde (Anm. 64), S. 25-26. Zur Sprache des Nationalsozialismus s. Johannes Zischka: Die NS-Rassenideologie. Machttaktisches Instrument oder handlungsbestimmendes Ideal? Frankfurt a.M./Bern/New York 1986. (= Europäische Hochschulschriften, Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 274). Krauss, Methodik (Anm. 61), S. 60.
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Zu den deutschen Altertümern gehören sie nach ihrer wesentlichsten Bedeutung nicht. Dennoch kann die deutsche Altertumskunde sie ebensowenig unberücksichtigt lassen, wie etwa die deutsche Sprachwissenschaft an dem Fremdwort vorübergehen kann.72
Die nationalsozialistische Volkskunde deklarierte in Verschärfung festgeschriebener Argumentationsmuster jede Kulturform, die nicht in ihr erzieherisches Konzept von .arteigenem', deutschgermanischem Traditionsgut paßte, als geschmacks- und substanzschädigendes Produkt slavischer, bolschewikischer, negroider und vor allem jüdischer .Untermenschen'. Ihre Reaktion auf die amerikanisch beeinflußte Unterhaltungs- und Tanzmusik, insbesondere auf die Musikformen Swing und Jazz, mag dies verdeutlichen. So mutmaßte Karl Haiding, daß die „neuen, .modernen' Tänze" immer wieder von neuem „unter offenkundiger jüdischer Regie" auftauchten. 73 V. Aga Bund sah 1936 in dem Versuch, „Negertänze" auf den europäischen Tanzböden heimisch zu machen, „ein Gift in dem Willen Judas zur Gefügigmachung". 74 Otto Schmidt, späterer Reichsabteilungsleiter der Abteilung Volkstum/Brauchtum des Amtes Feierabend der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude" und rühriger Mitarbeiter der Zeitschrift „Volkstum und Heimat", schob den Juden die Verantwortung für die „Infektion mit dem Jazzbazillus" und die damit verbundenen schädlichen Auswirkungen in die Schuhe. 75 Den Jazz selbst qualifizierte er als „Kukkucksei des geistigen Imperialismus Judo-Amerikas" ab. 76 72
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Otto Lauffer: Deutsche Altertümer im Rahmen deutscher Sitte. Eine Einführung in die deutsche Altertumswissenschaft. Leipzig 1918. (= Wissenschaft und Bildung. Einzeldarstellung aus allen Gebieten des Wissens, 148). S. 126. Karl Haiding: Zur Tanzfrage. In: Deutsche Liederkunde. Jahrbuch für Volkslied und Volkstanz. Hrsg. von Dr. Johannes Koepp. Bd. 1. Potsdam 1939, S. 157-163, Zitat S. 160. V. Aga Bund: Was erwartet der Nicht-Tänzer von den Tanzenden? In: Volkstum und Heimat 3. Jg., H. 11 (November 1936), S. 360-361, Zitat S. 361. Otto Schmidt: Volkstumsarbeit als politische Aufgabe. Hamburg 1943, S. 25. Ebd. S. 26, Anm. 1. Die Hinweise zum Jazz sind zusammengestellt bei Guido Fackler: Jazz im KZ. Mag.-Arbeit Freiburg i.Br. 1991 [unveröffentlicht], dem ich für die Erlaubnis zur Verwendung der Belege danke. Beispiele zu anderen Kulturformen lassen sich unschwer finden. Ahnlich wie die zahlreiche antisemitische Äußerungen enthaltende Dissertation von Franz Maria Goebel über Jüdische Motive im märchenhaften Erzählungsgut. Studien zur vergleichenden Motivgeschichte (Greifswald 1932; Gleiwitz 1932) stritt auch Josef Prestel (Märchen als Lebensdichtung. Das Werk der Brüder Grimm. München 1938) den Juden die Anlage zum Märchen ab. Matth'es Ziegler, Volkskundler im Amt Rosenberg, sah in seiner Greifswalder Dissertation Die Frau im Märchen ([Deutsches Ahnenerbe, II. Abteilung, Fachwissenschaftliche Untersuchungen 2], Leipzig 1937, S. 7) in der Existenz eines semitischen Märchens „einen Widerspruch in sich selbst"; vgl. Emmerich, Germanistische Volkstumsideologie (Anm. 23), S. 249-250; s. ferner Hannjost Lixfeld: Matthes Ziegler und die Erzählforschung des Amts Rosenberg. Ein Beitrag zur Ideologie der nationalsozialistischen Volkskunde. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 26 (1985/86), S. 37-59; vgl. auch Sartre, Judenfrage (Anm. 59), S. 101: „Der Antisemit wirft dem Juden vor, .nicht schöpferisch zu sein und einen zersetzenden Verstand zu haben'".
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Die nationalsozialistische Volkskunde leistete somit nichts Neues, sondern setzte lediglich das traditionelle Vorurteil von der Kulturunfähigkeit der Juden in die aktive Kultur-, Propaganda- und Ausschaltungspolitik des Dritten Reiches um. Einmal mehr aber treten die Konturen aus dem Blickwinkel der jüdischen Volkskunde schärfer hervor. Sie war ihrerseits Kind der .Wissenschaft des Judentums' des 19. Jahrhunderts, die zum einen den Juden als seinem nichtjüdischen Kollegen intellektuell ebenbürtigen Wissenschaftler und Forscher, zum anderen die jüdische Geschichte, Philosophie, Theologie und Kultur als erforschungswürdigen Gegenstand sowie als integralen Bestandteil der Universalgeschichte entdeckte. Aus dem frommen ,rebbe\ ,rav' oder ,rev' wurde der „Herr Dr. Rabbiner", aus dem Yeshiva-Zögling und .klärenden' Talmudgelehrten der polyglotte Philologe. Man kann durchaus die erste Phase der ,Wissenschaft des Judentums' in ihren historischen, kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen, philosophischen und theologischen Studien als Leistungsbilanz des jüdischen Volkes im ,galut' (Diaspora) charakterisieren. Gerade die jüdische Volkskunde aber strafte die Theorie von der Inferiorität jüdischer Kultur Lügen. Man entdeckte jüdische Künstler und Kunsthandwerker und konnte damit all denjenigen widersprechen, die dem Juden jegliche künstlerische und kunsthandwerkliche Fähigkeit abgesprochen und dies u.a. mit dem Ausschluß vom zünftischen Handwerk begründet hatten. So öffnete Grunwald seine „Mitteilungen (der Gesellschaft) für jüdische Volkskunde" dem Dresdener Juwelier Albert Wolf (1841-1907), dessen bedeutende Kunstsammlung den Grundstock des am 18. Februar 1917 in der Oranienburger Straße 29 eröffneten Museums der Jüdischen Gemeinde in Berlin bildete; 77 er stellte in einer Reihe von Beiträgen über jüdische Künstler und Kunsthandwerker die volkskundlichen und kunsthistorischen Dogmen auf den Kopf, die besagt hatten, daß die Juden zu künstlerischer Kreativität nicht imstande und daher stets auf nichtjüdische Fremdproduktionen angewiesen gewesen seien. 78 Grundwald selbst verfolgte mit seinen Erhebungen zu ,Juden als Erfinder" ein Forschungsfeld, das man nicht unbedingt der Volkskunde zuordnen möchte, das jedoch infolge dieser apologetischen Situation verständlich wird. Aus seinem reichen Wissen heraus bewies er anläßlich einer Veranstaltung des Wiener B'nai B'rith den verdutzten Anwesenden, unter ihnen Sigmund Freud, daß die Juden der Menschheit nicht nur die Bibel, sondern durch den Physiker 77
78
S. Veronika Bendt: Das Jüdische Museum Berlin. Eine Abteilung des Berlin Museums. Berlin 1986. (= Berliner Forum 5/86). S. 5. Albert Wolf: Jüdische Medaillen. In: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde 3. Jg., H. 2 [H. 6] (1900), S. 135-136; ders.: Etwas über jüdische Kunst und ältere jüdische Künstler, ebd. 5. Jg., Η. 1 [H. 9] (1902), S. 12-74; ders.: Die Hamburger auf oder von Juden geprägten Medaillen, ebd. 7. Jg., Η. 1 [H. 13] (1904), S. 51-62.
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und Erfinder Josef Popper (pseud. Lynkeus, 1838-1921) auch die Dynamo-Maschine geschenkt hätten. 79 An diesem Punkt aber kann eine erste Bilanz gezogen werden, die auch den fundamentalen Unterschied zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Volkskunde präzisiert: während sich die deutsche Volkskunde narzistisch im verengenden Spiegel ihres eigenen, deutschnationalen, bzw. deutschgermanischen Verständnisses betrachtete, sah die jüdische Volkskunde weit über die Grenzen ihrer eigenen Kultur hinaus; sie erfaßte den historischen Gesamtkontext der - meist leidvollen - Symbiose und war damit bereits 1898 auf dem Weg zu einer aus heutiger Sicht auffallend modernen holographischen Kulturanalyse.
Wer ist,Volkskundler' - wer ist .Antisemit'? Antisemitismus stellt sowohl eine Denk- wie eine Handlungskategorie dar. Doch wer ist Volkskundler? Die Volkskunde als akademisches Forschungs- und Ausbildungsfach mit festgeschriebenen Studiengängen und berufsqualifizierenden Abschlüssen hat bis heute nicht erreicht, den .Volkskundler', vergleichbar den Medizinern und Juristen, als Berufsbezeichnung zu schützen. Tatsächlich tummeln sich im Umfeld des Universitätsfaches zahllose Vertreter von Nachbardisziplinen, vor allem aber fachfremde Hobbyforscher, die in völliger Unkenntnis des gegenwärtigen Problem- und Methodenbewußtseins sowie der veränderten Inhalte ihren Studien und Veröffentlichungen einen veralteten Volkskundebegriff zugrundelegen, damit jedoch dem Ansehen des Faches in der Öffentlichkeit schaden. Die Festtagsbeilagen der Tageszeitungen mit ihren phallischen Phantasien von Fruchtbarkeitskulten und den unsinnigen Berichten über die heidnisch-germanischen Ursprünge des Weihnachts-, Fastnachts- und Osterbrauchtums legen hierfür ein beredtes Zeugnis ab. Diese schwierige Koexistenz zwischen seriöser und dilettantischer Volkskunde, zwischen akademischer Professionalität und naiver Heimatfreude wie Heimattümelei aber ist kein modernes Profilproblem, sondern begleitete die Geschichte der Volkskunde seit ihren Anfängen und erreichte, wie etwa das Beispiel Göttingen zeigt, mit der ausschließlich politisch bedingten Besetzung volkskundlicher Lehrstühle und außerplanmäßiger
79
Grunwald, Kapitlekh (Anm. 29), S. 241-242.
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Professuren mit NichtVolkskundlern zwischen 1933 und 1945 ihren Höhepunkt. 80 Zu den Autoren, die durch die Thematik ihrer Arbeiten in die Grauzone der Volkskunde gerieten, gehört Erich Bischoff. Er gab 1901 in dritter, völlig neubearbeiteter Auflage J. Wolffs Geheimsprache der Handelsleute ( 2 1885) unter dem Titel Jüdisch-Deutscher Dolmetscher heraus.81 Solche Taschenwörterbücher lassen sich auf das philologische Interesse der Judenmission des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts zurückführen, nehmen aber seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr antijüdische, bzw. 82
antisemitische Züge an. Bischoffs Jüdisch-Deutscher Dolmetscher aber scheint sich auf den ersten, oberflächlichen Blick wohltuend von diesem Tendenz Schrifttum abzuheben; denn in der Einleitung wird der auch innerhalb des assimilierten Judentums umstrittene und diskriminierte ,Jargon' als wichtiges sprachund kulturhistorisches Denkmal erkannt, dem angesichts städtischer Gleichmacherei der Untergang drohe. Man freut sich zu lesen, daß ähnlich wie die „niederdeutschen Klänge", die „uns z.B. in den Briefen und Gesprächen eines Bismarck berühren wie der in das städtische Getriebe 80
81
82
Am 5. Januar 1938 erhielt der Theologe und Hauptsturmführer der SS, Eugen Mattiat (geb. 1901), obwohl er sich durch keine einzige einschlägige Arbeit für die Volkskunde qualifiziert hatte, den Ruf auf eine außerplanmäßige Professur für „Deutsche Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung der religiösen Volkskunde Niedersachsens" an der Universität Göttingen; s. hierzu Rolf Wilhelm Brednich: Die volkskundliche Forschung an der Universität Göttingen 1782-1982. In: Brückner, Volkskunde als akademische Disziplin (Anm. 6), S. 77-94, hier vor allem S. 91-93. Erich Bischoff: Jüdisch-Deutscher Dolmetscher. Ein praktisches Jargon-Wörterbuch nebst kurzer Grammatik und Gesprächen, Erzählungen, Redensarten &c., Kalender, Zahl-, Maß-, Münz- und Gewichtstafel. 3., völlig neubearb. Aufl. Leipzig 1901. Als Beispiel sei hier auf das unter dem Pseudonym „Itzig Feitel Stem" als Band 8 der Gesammelten Schriften in Leipzig, Meißen und Riesa o.J.; (Vorrede 1833) erschienene Lexicon der jüdischen Geschäfts- und Umgangs-Sprache des Juristen und Antisemiten Johann Friedrich Sigmund Freiherr von Holzschuher (1796-1861) verwiesen. Daß solche Machwerke in vielen Fällen am Schreibtisch entstanden, wird u.a. aus dem Verfahren deutlich, hebräischen Verbalformen willkürlich deutsche Verbalendungen anzuhängen und dadurch ansonsten lexikalisch nicht nachweisbare Verben zu schaffen. Zudem erheben sich Zweifel an der solchen Glossaren stereotyp zugeschriebenen Funktion, Nichtjuden, die mit Juden Handelsgeschäfte betrieben, vor Betrug zu schützen. Es ist kaum anzunehmen, daß man sich im Handelsalltag solcher Hilfsmittel bedienen mußte, und ebenso erscheint die Vorstellung absurd, daß ein Bauer während des Viehkaufs in einem dieser ,Lexika' blätterte, um das Jüdischdeutsch seines Partners zu verstehen. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß die Kommunikation auf der Grundlage einer von beiden Seiten benutzten Fachsprache weitgehend reibungslos vor sich ging. Zum philologischen und narrativen Interesse der Judenmission an der jüdischdeutschen (.westjiddischen') Sprache s. Christoph Daxelmüller: Die Entdeckung der jüdischen Erzählliteratur. Rezeption und Bewertung populärer jüdischer Erzählstoffe in der Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 26 (1985/86), S. 7-36.
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von fern herüberklingende Ton eines ländlichen Abendglöckleins", im Jüdischdeutschen „alte Ghetto-Klänge an unser Ohr" dringen: Beides scheint unmodern und unfein in unserer geleckten Zeit des uniformen , Bildungs'-Firnisses - und doch ist beides der Ausdruck einer starken Volksindividualität, die sich zu dem kosmopolitischen Durchschnitts-Pli verhält wie Bauernkittel oder Kaftan zu dem Allerwelts-Frack. Man bestrebt sich heute, alte Volkstrachten und Mundarten zu erhalten, oder, wenn man sie vor dem Untergange nicht retten kann, wenigstens vor ihrem Untergange noch zu inventarisieren, da man ihre kulturhistorische Bedeutung erkannt hat. Dem Jargon geht es außerhalb des Kreises der Spezialforscher so, wie vordem den Volksdialekten: man hält ihn einfach für ein wertloses Kauderwelsch, das je eher, je lieber von der Bildfläche verschwinden sollte. Und doch ist die Kenntnis dieses merkwürdigen Idioms auch heute noch zum Teil unentbehrlich, zum Teil wenigstens kulturhistorisch hochinteressant.83 Bischoff erhebt folglich die bislang verachtete »Händler- und Gaunersprache' auf eine Stufe mit den nahezu mystischen volkskundlichen Andachtsobjekten .Volkstracht' und ,Volksdialekt'. Diesen Entdeckungszug der populären jüdischen Kultur setzte Bischoff drei Jahre später mit dem 1904 in der „Morgenländischen Bücherei" veröffentlichten Thalmud-Katechismus fort. 84 Dort unterstrich er die „kulturhistorische Wichtigkeit des Thalmud" mit Nachdruck: Nicht allein für die Geschichte, die Sitten, Bräuche und Einrichtungen des Judentums ist er die allerwichtigste Quelle und zumeist glaubwürdiger, als die Profan-Schriftsteller wie Josephus usw., - nein, ein Buch, das mit dem Judenthume durch die lange Flucht der Jahrhunderte gegangen, ihm Geisteswetzstein und Erhalter der nationalen Eigenschaft, Erquickung und Trost, ja das höchste geistige Gut, der Inbegriff aller Weisheit gewesen ist, das muß eine reiche Fundgrube für die Erkenntnis jüdischer Eigenart sein, nach ihren lichten, wie nach ihren Schattenseiten hin.85 Obwohl die Beschäftigung mit dem Talmud auch für Theologen, Juristen, Philologen, Pädagogen, Philosophen, Geographen, Historiker, Naturwissenschaftler und Mediziner von Bedeutung sei, blühe die „allerreichste Ernte" aber „dem Folkloristen oder Kulturhistoriker im engeren Sinne", wofür Bischoff im folgenden eine lange Reihe von „Stichproben" gibt. 86 Trotz zahlreicher Fehler enthält der Thalmud-Katechismus keine antisemi83 84
85 86
Bischoff, Jüdisch-Deutscher Dolmetscher (Anm. 81), S. 5-6. Erich Bischoff: Thalmud-Katechismus. Leipzig 1904. (= Morgenländische Bibliothek, Bd. III). Ebd. S. 5. Ebd. S. 9-11, ZitatS. 9.
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tischen, wohl aber zahlreiche antikatholische Passagen, 87 und so liest man mit Genugtuung: Um Mißverständnisse dieses letzten Wortes zu vermeiden, möchte ich zum Schlüsse dieses Abschnitts nur noch bemerken, daß im ganzen Thalmud, die Zensurstellen eingeschlossen, sich keinerlei Erwähnung oder gar Lehre eines DO Ritual- oder Blutmordes findet.
Leider trügt der schöne Schein, hinter dem Schafspelz der Objektivität verbirgt sich der Wolf des Antisemiten. Denn immerhin konnte die von Bischoffs „Ansichten abweichende Einstellung zum Schulchan Aruch im Ganzen wie in Einzelheiten" des „verstorbenen Herrn Verleger" 89 nicht gar so groß gewesen sein, sonst hätte eines der Bollwerke nationalsozialistischer Publizistik, der Leipziger Hammer-Verlag, der auch die Werke Siegfried Passarges veröffentlichte, nicht 1941 bereits in dritter Auflage Das Buch vom Schulchan aruch herausgebracht. Bischoff bedankte sich mit artigen Worten beim Verlag: „Da meine Bücher sich rascher Auflagenerfolge zu erfreuen pflegen, möge auch dieses durch den gleichen Erfolg meinen Dank am wirksamsten abstatten". 90 Daß es mit seiner Zurückhaltung hinsichtlich des Ritualmordvorwurfs so weit nicht her sein konnte, zeigt ein Werbetext für „Verwandte Schriften des Verfassers". Da verspricht etwa „Das Blut in jüdischem Schrifttum und Brauch. Nebst ausführlichen Anmerkungen. Eine Untersuchung. Leipzig 1929" seinem Leser nicht nur Informationen über „Das Blut im jüdischen Volksbrauche", sondern auch über das „Passahblutritual" und über „Menschenblutströme im Alten Testament", über „Das Blut der Gottlosen und der Nichtjuden", über „Blutschande", „Menschenopfer" und den jüdischen „Hang zur Zote"91 Ansonsten wählte Bischoff in seinem Buch vom Schulchan aruch alle seit Johann Andreas Eisenmengers Entdecktem Judenthum92 zur antijüdischen Agitation herangezogenen Abschnitte, so z.B. über die angebliche 87 88 89 90 91
92
Z.B. ebd. S. 47. Ebd. S. 52. Erich Bischoff: Das Buch vom Schulchan aruch. 3. Aufl. Leipzig 1941, S. 128. Ebd. S. 127. Ebd. S. 173. An weiteren Werken Erich Bischoffs seien hier genannt: Ein jüdisches-deutsches .Leben Jesu' (Die jüdische Lästerschrift .Tholdoth Jeschu'). Leipzig 1895; Jesus und die Rabbinen. Leipzig 1905; Die Elemente der Kabbalah. 2 Bde., Leipzig 2 1921; Fremdwörterbuch der theosophischen und kabbalistischen Literatur. Leipzig 1921; Rabbinische Fabeln über Talmud, Schulchan aruch, Kol nidrd usw. Ein Gerichtsgutachten. Leipzig 1922; Rabbi und Diakonus (Wider Landesrabbiner Dr. Wiesen und Pfarrer D. Fiebig - Gerichtsgutachten). Leipzig 1922; Die Kabbalah. Leipzig ^1923. Johann Andreas Eisenmenger: Entdecktes Judenthum, oder Gründlicher und Wahrhafter Bericht, welchergestalt die verstockte Juden die Hochheilige Drey-Einigkeit, Gott Vater, Sohn und Heil. Geist, erschrecklicher Weise lästern und verunehren [...]. Teil I-II. Königsberg 1711.
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Aufforderung, Nichtjuden durch Wucherzins zu betrügen, aus. Obwohl er einräumte, daß die Vorschriften dieses Kodex nur noch für die orthodoxen Juden von Belang seien, sah er sie auch im liberalen Judentum verwurzelt; daher folgerte er ganz im Sinne der antisemitischen Propaganda: Der Schulchan-aruch-Geist ist der Geist der ,halachischen' (um die religionsgesetzliche Lehrnorm disputierenden) Talmudisten. Der fast tausendjährige Einfluß des Talmud auf das Judentum sowie die rund fünfhundertjährige Disziplinierung jüdischen Denkens und Tuns durch den Schulchan aruch läßt sich in der jüdischen Volksseele ebensowenig binnen ein paar Jahren oder Jahrzehnten wegbeschließen wie (wenn der Vergleich auch hinkt) der noch ältere Einfluß des Neuen Testaments auf das christliche Volkstum oder der Einfluß Luthers auf die evangelische Mentalität. Solche von Generation auf Generation vererbten, nicht papiernen, sondern in Fleisch und Blut eingegangenen, wirklichen .Richtlinien' des Denkens, Fühlens und Handelns wirken ebenso unbewußt, aber auch ebenso sicher weiter, als wenn der von ihnen Geleitete die entsprechenden Vorschriften bewußt ausübte.93
Der Antisemit Bischoff war kein Volkskundler, Will-Erich Peuckert, von 1946 bis 1961 Ordinarius für Volkskunde an der Universität Göttingen, kein Antisemit. Es heißt, zwischen einer Wissenschaft als der Summe von Ideen und einer Disziplin als der Summe ihrer Vertreter zu trennen. Es ist nicht mehr von .Volkskunde' und .Antisemitismus' die Rede, sondern von .Volkskundlern' und .Antisemiten'. Wie schwer aber das Problem von Verstrickung und geistigem Widerstand zu lösen ist, zeigt der Streit zwischen dem Lehrer, Volksaufklärer und Bekämpfer moderner Hexen- und Zaubereivorstellungen, Johann Kruse (1889-1983) und dem Sachverständigen im „Braunschweiger Mosesbuchprozeß" (1953-1961), Will-Erich Peuckert. Beide hatten in ihrer politischen Überzeugung, in ihrer Opposition zum Nationalsozialismus und in ihrer Einstellung zum Judentum vieles gemeinsam, doch sie gerieten in eine Feindschaft zueinander, die - völlig unsinnig - im Antisemitismusvorwurf gipfeln sollte. Der in ärmlichen Verhältnissen geborene Kruse stand zeit seines Lebens der Arbeiterschaft und der Sozialdemokratie nahe. Seine Kirchenfeindlichkeit behinderte seine Karriere als Pädagoge, als Linker geriet er in Widerspruch zur NSDAP.94 Die nationalsozialistischen Machthaber aber faszinierten an Kruse die antikirchliche Haltung und das Engagement zur Bekämpfung des Hexenglaubens, dessen soziale Folgen für die als .Heiler' und .Hexen' Beschuldigten Kruse seit seiner Kindheit kennengelernt hatte. Dies paßte in die Idee des 1935 auf Veranlassung Heinrich 93 94
Bischoff, Schulchan aruch (Anm. 89), S. 62. Zu Kruse s. Joachim Friedrich Baumhauer: Johann Kruse und der „neuzeitliche Hexenwahn". Zur Situation eines norddeutschen Aufklärers und einer Glaubensvorstellung im 20. Jahrhundert untersucht anhand von Vorgängen in Dithmarschen. Kiel 1984. (= Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 14).
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Himmlers beim SD eingerichteten „Hexen-Sonderkommandos".95 Man hätte den säkularen Aufklärer Kruse gerne in SS-Diensten gesehen, doch Kruse entzog sich dem Zugriff und tauchte bis 1945 unter. Sein Kontrahent Peuckert, einer der wenigen deutschen Volkskundler, die den Faschismus mit ideologisch weißer Weste überstanden hatten und dem nach Ausbruch des ,Dritten Reiches' die venia legendi entzogen worden war, überlebte den Nationalsozialismus schriftstellernd in seiner schlesischen Heimat. Wegen des Artikels ,Jude, Jüdin' im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, in dem er u.a. die „Bedeutung der ostjüdischen als einer deutschen Kultur" im blasphemischen Widerspruch zum herrschenden Zeitgeist hervorgehoben hatte, 96 war gegen ihn ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Kruse seinerseits hatte, getragen von seinem sozialen Verantwortungsbewußtsein, sehr früh die Verbindung zwischen der Hexe als dörflichem und dem Juden als nationalem Sündenbock erkannt: Nein, erkrankt oder stirbt auf einem Hofe das Vieh, geraten die Kinder einer Familie nicht, kommt ein Bauer oder Handwerker usw. in seinem Betrieb nicht vorwärts, so sucht er nicht lange nach den natürlichen Gründen seines Unglücks, da ihm dies das unangenehme Bewußtsein seiner Untüchtigkeit und Nachlässigkeit eintragen würde. Und um diesen Verdacht und das sich einstellende Gerede von sich abzuwenden, ist es natürlich ein Leichtes, auf Grund der Unbildung seiner Mitmenschen einen anderen, der aus Neid oder aus Rachsucht das Unglück verursacht haben sollte, der Hexerei zu verdächtigen. Dieses Mittel, die Schuld von sich auf andere zu schieben, wozu die Denktätigkeit unseres Volkes ja geradezu herausfordert, sehen wir heute im Großen angewandt in der von einer fluchbeladenen, mit historischer Schuld belasteten , Herrenkaste' in Szene gesetzten Judenhetze.97
Nach 1945 griff Kruse diesen Aspekt verstärkt auf. Indem er diffamierende Vorstellungen über die zauberischen Fähigkeiten von Juden, Zigeunern und Freimaurern zusammentrug, versuchte er, das ungebrochene Fortleben antisemitischer und rassistischer Überzeugungen in der jungen Bundesrepublik nachzuweisen. Sehr viel eindringlicher als 1923 deckte er den Zusammenhang zwischen dem historischen Hexenwahn und den nationalsozialistischen Verbrechen auf: 95
96
97
S. hierzu Gerhard Schormann: Hexenprozesse in Deutschland. Göttingen 1981. (= Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1470); Dieter Harmening: Himmlers Hexenkartei. Ein Lagebericht zu ihrer Erforschung. In: Jahrbuch für Volkskunde N.F. 12 (1989), S. 99-112. Will-Erich Peuckert: Jude, Jüdin. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Bd. 4. Berlin/Leipzig 1932 (Reprint Berlin/New York 1987), Sp. 808-833, Zitat Sp. 809. Johann Kruse: Hexenwahn in der Gegenwart. Leipzig o.J. [1923]. (= Kultur- und Zeitfragen, 4). S. 43.
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Die beiden schändlichsten Kapitel der deutschen Geschichte - die Zeit der Hexenverbrennungen und die Zeit der Judenvernichtung unter Hitler - stehen in ursächlichem Zusammenhang. Was die Volkskunde bei der einseitigen Herausstellung abergläubischer Vorstellungen unterschlug, ist die Tatsache, daß von den Hexenverbrennungen im Mittelalter über den durch das ,6. und 7. Buch Moses' geschürten Hexenwahn eine gerade Blutlinie des Hasses und der Grausamkeit zur Judenvernichtung im Nazireich führt.98
Sensibilisiert für die von der Majorität organisierte Judenhetze zog Kruse die Volkskunde als Wissenschaft in einer Schärfe zur Verantwortung für das Schicksal der Juden wie zuvor und auch nach ihm kein zweiter: sie habe durch einseitige Forschung und Publikation zur Tradierung und Verbreitung antijüdischer, bzw. antisemitischer Topoi beigetragen: „In zahlreichen Büchern haben Volkskundler (Professoren, Doktoren usw.) diesen Wahn gefördert." 99 Er bezog sich mit dieser Feststellung konkret auf die von Paul Zaunert im Eugen Diederichs-Verlag herausgegebenen Sagenbände. Insbesondere aber griff er die Schlesischen Sagen seines Intimfein1 Oft
des Peuckert von 1924 an, die - wie allgemein üblich - auch einige ,Judensagen' enthielten. Doch sein Vorwurf traf ausgerechnet den Falsehen. 10
Antisemitische Folklore - antisemitische Inhalte Peuckert hatte im Anschluß an das .Raubgesindel', Mordschützen also und Zigeuner, populäre Erzählstoffe über Juden veröffentlicht, die bekannte, lediglich nach Schlesien verortete Motive wie Kinderraub, Ritualmord und Hostienfrevel enthielten. 102 Doch er unterschied sich grundlegend von seinen weniger reflektierenden Zunftgenossen; er ließ nicht nur selbstironisch - dem Abschnitt über die Juden ein Kapitel über die g e lehrten' folgen, die ähnlich „verwunderlich wie die Juden mit ihrer Geheimnistuerei" seien, 103 sondern er trug durch Kommentierung zur Aufklärung des Lesers bei; die „Gerüchte der Feindschaft" seien „jahrhundertealt" und „längst bekannt": „War es ein Wunder, daß aller Haß, der aus 98
Johann Kruse: Kurzer Bericht über den gegenwärtigen Stand des Kampfes gegen den Hexenwahn. Masch. Manuskript, unveröffentlicht, um 1967, S. 30; zitiert nach Baumhauer (Anm. 94), S. 81. 99 Kruse, Kurzer Bericht (Anm 98), S. 29; zitiert nach Baumhauer (Anm. 94), S. 81. too will-Erich Peuckert: Schlesische Sagen. Jena 1924. (= Deutscher Sagenschatz, 3). 101 Zu Kruses Engagement für die Juden, zu seinem Einsatz für die Einrichtung von Gedenkstätten und die Anbringung von Mahntafeln sowie zu seiner Untersuchung über die Vertreibung der Juden aus Schleswig-Holstein und ihre Vernichtung im KZ s. Baumhauer (Anm. 94), S. 82. 102 Peuckert (Anm 100), S. 43-45. 103 Ebd. S. 45-46, Zitat S. 45.
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dergleichen Sagen entstand, die Armen bedrückte und daß sie begierig Hilfe ersehnten?". 104 Im Gegensatz zu anderen volkskundlichen Narrativisten, die das historische Denken nie erlernt hatten und deren wissenschaftliches Verantwortungsbewußtsein beim Füllen von Papier verloren gegangen war, schloß Peuckert das Judenkapitel mit einer Sage über die Messiaserwartung der Juden in Zeiten höchster Not. 105 Er nahm damit zwar keine im eigentlichen Sinne jüdische Erzählung in seine Sammlung auf, wohl aber einen Sagenstoff, der durchaus seinen Platz auch in einer jüdischen Edition behaupten könnte. Heute biegen sich die Bibliotheksregale unter der Last teils wichtiger, teils völlig überflüssiger nationaler (z.B. deutscher, österreichischer, schweizerischer), regionaler (z.B. bayerischer, fränkischer, hessischer, niedersächsischer) und lokaler Sagenbücher. Doch ein Titel wie „Die Sagen deutscher (österreichischer, schweizerischer, bayerischer) Juden" befindet sich nicht darunter. John Meier und seine Nachfolger an dem von ihm begründeten „Deutschen Volksliedarchiv" in Freiburg i.Br. erhoben eine fast unglaubliche Zahl von populären Liedern und ihren Varianten, doch nach jenem Liedgut, das vor der Shoah etwa in südwestdeutschen, schweizerischen oder elsässischen jüdischen Familien gesungen worden war, sucht man in dieser Forschungsinstitution vergeblich; jüdischdeutsche Purim- oder Chanukkalieder sind dort unbekannt, aber vom reichen Schatz antisemitischen Liedmaterials konnte Fritz Kynass 1934 in seiner nicht eben judenfreundlichen Greifswalder Dissertation profitieren. 106 Der Jude existierte innerhalb der Folkloristik nicht als Kulturträger, sondern als negatives Zerrbild. Die Volkskunde weiß wenig über den realen Juden, viel jedoch über das ,Bild vom Juden'. Ein Blick auf Fachtraditionen lohnt sich. Da spukt seit Jacob Grimms Deutscher Mythologie das ,Jüdel' oder ,Hebräerchen' neben Zigeunern, Frau Percht und anderen Unholden als Schreckgestalt durch den angeblichen Volksglauben. Legt man, so Grimm, „an jede thür einen Strohhalm aus dem Wochenbette, so kann das Jüdel und kein gespenst nicht in die 107 stube". Es ist sogar zu noch Schlimmerem fähig: „hat das Jüdel ein kind verbrannt, schmiere man das ofenloch mit speckschwarte". 108 Seit Jacob und Wilhelm Grimm zwei antijüdische Ritualmorderzählungen, nämlich den Judenstein (DS Nr. 353), eine Version der Geschichte 104 105 106
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Ebd. S. 44. Ebd. S. 44-45. Fritz Kynass: Der Jude im deutschen Volkslied. Eine Teilstudie. Phil. Diss. Greifswald 1934. Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Ungekürzte Ausgabe, Bd. 3. Reprint Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1981, S. 447. Ebd. S. 449; vgl. z.B. auch Johann Georg Theodor Gräße: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Bd. 1. 2. verb, und verm. Aufl. Dresden 1874 (Reprint Leipzig 1970), S. 500-501, Nr. 561.
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vom Anderl von Rinn, und Das von den Juden getötete Mägdlein (DS Nr. 354) in ihre Deutschen Sagen aufgenommen hatten, 109 gehören Erzählstoffe dieser Art zum nahezu unverzichtbaren Standardrepertoire solcher Editionen. So überlieferte Ignaz V. Zingerle in seinen Sagen aus Tirol eine Gründungs- und Strafsage, die den Juden als negatives Stereotyp zeichnet: „In alter, grauer Zeit" seien ,Juden, die unsern Herrn und Meister, als er am Kreuze hieng und starb, gehöhnt und gelästert" hatten, in die Gegend von Völs gekommen, wo sie sich am Bühl niedergelassen hätten; aber „die Erde brachte ihnen nichts hervor als Unkraut, denn Gott hatte den Spöttern Fluch und Strafe nachgesandt, sie sollten zu keiner Ruhe und keiner Rast kommen. Der Peterbühl war öde und kahl und war es von der Zeit an, wo ihn die Juden bebauten". 110 Zu den Schönsten Tiroler Sagen zählte Karl Paulin 1972 auch die Legende vom Anderle von Rinn; mit haemophiler Abartigkeit schilderte er detailliert den Kindermord: „jüdische Kaufleute" nahmen das Anderle mit sich und verübten an ihm im nahen Birkenwald ein schauerliches Verbrechen. Auf einem großen Stein entkleideten sie das Kind, knebelten seinen Mund und schnitten ihm die Adern am ganzen Körper auf, s o daß das Märtyrlein in stummer Qual verbluten mußte. Dann hingen die Unmenschen das entseelte Körperlein an einen Birkenbaum und suchten das Weite. 1 1 1
Die Beispielreihe ließe sich fast beliebig verlängern, wir sind, fast unbemerkt, in der Gegenwart angelangt, die wie Vergangenheit erscheint. Peuckert war sich der verheerenden Folgen antisemitischer Folklore durchaus bewußt gewesen. Wo Erzählungen über Brunnenvergiftungen, Hostienfrevel und Ritualmorde unkommentiert von Wissenschaftlern kolportiert werden, können die Wirkungen nicht ausbleiben. Nicht alle Forscher zeichnet die verantwortungsvolle Vorsicht eines Peuckert oder eines Georg R. Schroubek bei der Analyse dieses hochbrisanten Materials aus.1 Ein letztes Mal schärft sich der Blick auf unsere Fragestellung aus der Sicht der jüdischen Betroffenheit. Als zwischen April 1888 und Juli 1889 109
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Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Stuttgart 1974 (Nachdruck der 3. Aufl. von 1891), S. 331-332. Ignaz V. Zingerle: Sagen aus Tirol. 2. verm. Aufl. Innsbruck 1891 (Reprint Graz 1969), S. 537, Nr. 933. Karl Paulin: Die schönsten Tiroler Sagen. Innsbruck/Frankfurt a.M. 1972, S. 24-25, Zitat S. 24. Zum Kult des Andreas von Rinn s. Georg R. Schroubek: Zur Frage der Historizität des Andreas von Rinn. In: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift 19 (1985), H. 38, S. 3766-3773; ders.: Zur Verehrungsgeschichte des Andreas von Rinn. In: ebd. 20 (1986), H. 39, S. 3845-3855; Leander Petzoldt: Religion zwischen Sentiment und Protest. Zur Sistierung des Kultes um „Andreas von Rinn" in Tirol. In: Zeitschrift für Volkskunde 83 (1987), S. 169-192. Vgl. Anm. 111.
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Christoph Daxelmüller
in den vorwiegend von Ostjuden bewohnten Londoner Stadtvierteln Whitechapel und Spitalsfield mehrere Prostituierte auf brutale Weise ermordet wurden, gerieten zuerst einmal die Juden in Verdacht. Zusammen mit seinem Amtskollegen Hermann Adler (1839-1911) mußte sich der ,chacham' und Folklorist Moses Gaster öffentlich gegen die Anschuldigungen wehren. Die nie aufgeklärten Verbrechen gingen unter dem Namen „Jack the Ripper" in die Kriminalgeschichte ein.1 Gegen die intellektuelle Wurzel des Ritualmordvorwurfs aber kämpfte der Floridsdorfer Rabbiner Joseph Samuel Bloch (1850-1923), indem er den Verfasser des Talmud-Juden, den katholischen Theologen und Prager Universitätsprofessor August Rohling (1839-1931) durch schwere Beleidigungen 1884 vor Gericht zwang. 114 Bloch konnte alle Vorwürfe von Rohlings eisenmenger'schem Plagiat widerlegen, fachliche Unterstützung fand er bei Judaisten und Theologen wie Friedrich Delitzsch, Hermann L. Strack, August Wünsche und Theodor Nöldeke, verständlicherweise jedoch nicht bei Volkskundlern. 115 Max Grunwald, der Schwiegersohn Blochs, nahm 1938 alle noch verfügbaren Prozeßunterlagen und die Kopien der Gutachten bei seiner Emigration nach Jerusalem mit, wahrscheinlich auf Kosten eines Teils seiner anderen Sammlungen. Die persönliche Betroffenheit des Menschen und der Familie wird deutlich. Gaster, Bloch und Grunwald betraf die geistige Ebene des Ritualmordvorwurfs. Darüber aber dürfen die Toten der zahllosen Pogrome, die aus dieser Anschuldigung ihre brutale Gewalt bezogen, nicht vergessen werden. Folklore kann lebensgefährlich sein.
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Vgl. hierzu Christoph Daxelmüller: Folklore vor dem Staatsanwalt. Anmerkungen zu antijüdischen Stereotypen und ihren Opfern. In: Helge Gerndt (Hrsg.), Stereotypvorstellungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder - Selbstbilder - Identität. Festschrift für Georg R. Schroubek zum 65. Geburtstag. München 1988. (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 8). S. 20-32, hier vor allem S. 20-24. August Rohlings Schmähschrift Der Talmud-Jude. Zur Beherzigung für Juden und Christen aller Stände erschien erstmals 1871 in Münster und erlebte zahlreiche Auflagen und Übersetzungen; s. hierzu und zum Prozeß zwischen Bloch und Rohling Daxelmüller, Folklore vor dem Staatsanwalt (Anm. 113), S. 24-30. Hermann L. Stracks Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. Mit besonderer Berücksichtigung der ,Volksmedizin' und des Jüdischen Blutritus', das als Band 4 der „Schriften des Institutum Judaicum in Berlin" im Jahre 1900 bereits in 5. bis 7. Aufl. erschien und noch heute etwa innerhalb der volkskundlichen Superstitionenforschung als Standardwerk gilt, entstand letztlich aus den Gutachten, die Strack für den Prozeß anfertigte.
Volkskunde - eine antisemitische Wissenschaft?
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Unbelehrbarkeit und Neubesinnung. Die Zeit nach 1945 Das Jahr 1945 bedeutet eine geschichtliche, doch beileibe keine volkskundliche Zeitenwende. Die jüdische Welt ist unwiederbringlich verloren, die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde" existiert nicht mehr, jüdische Volkskundler wie Nathan Max Nathan oder Shmuel Zainwil Pipe sind ermordet.116 Doch die deutsche Volkskunde macht weiter, als sei nichts geschehen. John Meier lenkt weiterhin die Geschicke des Verbandes. Der politische Zusammenbruch schafft Desintegration, Ströme deutschstämmiger Flüchtlinge aus Ost- und Südosteuropa gelangen in die Besatzungszonen und erregen dort die Aufmerksamkeit der Volkskundler. In der Nachkriegszeit entsteht die .Vertriebenen-' bzw. .FlüchtlingsVolkskunde', innerhalb des sich bald in „Deutsche Gesellschaft für Volkskunde" umbenennenden Verbandes eine bis heute aktive „Kommission für ostdeutsche Volkskunde", ein bis heute in Freiburg i.Br. tätiges „Institut für ostdeutsche Volkskunde" und ein bis heute erscheinendes „Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde". Die Juden sind verschwunden, doch weder in der Denkweise noch in der Sprache sind merkliche Veränderungen zu beobachten. Die NS-Volkstumsideologie, die Mythen von ,Blut und Boden' und von .Fremdartigkeit' bleiben weiterhin lebendig. Als gäbe es das .Dritte Reich' nicht, formuliert Alfred Karasek-Langer 1955 im „Jahrbuch für Volkskunde der Heimatvertriebenen": Eine s o bewegte Zeit [ . . . ] läßt ähnlich wie die Renaissance für die Medizin, nun auch für unser Fach eine Beobachtung des pulsierenden Volkskörpers in all seinen Funktionen und jeglichem durchbluteten Aderwerk z u . 1 1 7
Man spricht weiterhin von , fremdvölkisch', und die Vertriebenen Volkskunde schwelgt in einer romantizistisehen, traditionalistischen, in jedem Falle aber politisch gefährlichen Nostalgie. 1951 gibt der nach wie vor unermüdlich tätige Lutz Mackensen unter dem verräterischen Titel Deutsche Heimat ohne Deutsche ein „ostdeutsches Heimatbuch" heraus,118 zu dem auch Karasek-Langer einen Beitrag beisteuert. Die Sprache ist milder geworden, doch noch immer lehrt sie mit Begriffen wie ,Volksschläge', ,stammhaftes Gefüge des deutschen Volkes', ,Raum und Nährboden' 116
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S. Christoph Daxelmüller: Nationalsozialistisches Kulturverständnis und das Ende der jüdischen Volkskunde. In: Gemdt, Volkskunde und Nationalsozialismus (Anm. 21), S. 149167. Alfred Karasek-Langer: Volkskundliche Ergebnisse aus der Vertreibung und Eingliederung der Ostdeutschen. In: Jahrbuch für Volkskunde der Heimatvertriebenen 1 (1955), S.
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Lutz Mackensen: Deutsche Heimat ohne Deutsche. Ein ostdeutsches Heimatbuch. Braunschweig 1951.
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Christoph Daxelmüller
oder .Volkscharakter' das Fürchten.119 Die Volkskunde solidarisiert sich mit dem Leid der Flüchtlinge und dem .Unrecht' des Heimatverlustes, doch um die Deportation und die Ermordung von Millionen von Juden in den Konzentrationslagern schert sie sich nicht. Wes Geistes Kind der das Loblied des ostdeutschen Lebensraumes singende Mackensen geblieben ist, wird aus dem Register berühmter .ostdeutscher' Personen deutlich. Da liest man über den aus dem schlesischen Kreuzberg gebürtigen Schriftsteller und Kulturhistoriker Gustav Frey tag (1816-1895), daß er in seinen Romanen Soll und Haben und Die verlorene Handschrift das „saubere, anständige Kaufmannstum und Welt und Ethos des Gelehrten in die deutsche Literatur" eingebracht habe. 120 1960 erscheint in dritter, überarbeiteter Auflage Adolf Bachs Deutsche 1Λ1
Volkskunde. 1937 hatte er in der ersten Ausgabe einen Kniefall vor rassentheoretischen wie nationalsozialistischen Irrlehren vollzogen und unverhohlen dem ,Führerprinzip' gehuldigt.122 1960 begründet Bach die Bedeutung der Rassenkunde für die Volkskunde und damit ihre erneute Aufnahme in ein Handbuch mit dem Wort des jüdischen Philosophen Baruch Spinoza „Neque flere, neque ridere, nec admirari, sed intellegere".123 Der Geschmacklosigkeit seiner Argumentation ist er sich durch Unwissen nicht bewußt; denn ausgerechnet Max Grunwald hatte mit einer Untersuchung über Spinoza promoviert.124 1961 feiert Walter Hävernick die , Toleranz' Bachs und seine Deutsche Volkskunde als einen „lauteren Quell, dessen Gehalt eine Person allein niemals wird ausschöpfen können", als ein „wertvolles Geschenk" und als ein Handbuch, um das die „Nachbar19S Wissenschaften [...] uns [...] beneiden" werden.
Zu diesem Zeitpunkt ist ein Paradigmenwechsel innerhalb der Volkskunde längst überfällig. Er wird zum einen von der ,Münchener Schule' mit Hans Moser und Karl-Sigismund Kramer, die zu exaktem historischen Arbeiten auffordern, zum anderen in Tübingen vollzogen, wo man 119
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Alfred Karasek-Langer: Ostdeutsches Volkstum. In: Mackensen, Deutsche Heimat (Anm. 118), S. 66-81, alle Zitate S. 66. Mackensen, Deutsche Heimat (Anm. 118). Mit welcher Inkompetenz, mangelndem Wissen und fehlendem Fingerspitzengefühl jüngst die Person Mackensens gewürdigt (!) wurde, zeigt der Nachruf von Gudrun Schwibbe, in: Volkskunde in Niedersachsen 9. Jg., Heft 1 (1992), S. 26. Bach (Anm. 9). Adolf Bach: Deutsche Volkskunde. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben. Eine Einführung. Leipzig 1937. Bach, Deutsche Volkskunde (Anm. 9), S. 145, § 88. Max Grunwald: Das Verhältnis Malebranches zu Spinoza. Diss. Breslau 1892; ders.: Spinoza in Deutschland. Gekrönte Preisschrift. Berlin 1897. Walter Hävernick: Rezension von Adolf Bach, Deutsche Volkskunde (Anm. 9). In: Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde 5 (1960/61), S. 103.
Volkskunde - eine antisemitische Wissenschaft?
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sich an empirischen Methoden zu orientieren und soziologische sowie sozialgeschichtliche Fragestellungen zu integrieren beginnt. 1969 erscheint die bahnbrechende Dissertation Utz Jeggles über Juden1 9Λ dörfer in Württemberg. Volkskundliche Untersuchungen über Hes197 19Ä sen und Franken schließen sich an. Am Lehrstuhl für Heimat- und Volkskunde der Universität Bamberg leitet Klaus Guth ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt zur Erfassung oberfränkischer Judendörfer. Ich selbst bereite eine Übersichtsdarstellung über die „Geschichte der jüdischen Volkskunde in Mittel- und Osteuropa" vor. Es hat sich in der deutschen Volkskunde einiges geändert, doch im Vergleich zum geschichtswissenschaftlichen Forschungsboom nimmt sich die Zahl einschlägiger volkskundlicher Studien weiterhin recht bescheiden aus. An der vom 25. Oktober 1988 bis zum 22. Januar 1989 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg gezeigten Ausstellung Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern ist der Volkskundler Bernward Deneke federführend beteiligt. 129 Einen Wermutstropfen verzeichnet lediglich der wissenschaftliche Begleitband. Unter dem unsinnigen wie irreführenden Titel „Volkskundliche [sie! statt: populäre] Aspekte traditioneller Judenfeindschaft" beschäftigt sich der ansonsten durch seine Studien zur Geschichte der Juden in Bamberg und Oberfranken höchst verdienstvolle Historiker und Archivoberrat Karl (Heinz) Mistele mit einem antisemitischen Vorurteil, dessen unhaltbare Garstigkeit offensichtlich sogar der nationalsozialistischen Kampfliteratur zu dumm war. Daß er durch diese Veröffentlichung an exponierter Stelle zur erneuten wissenschaftlichen Promulgation antisemitischer Inhalte beiträgt, 130 ist Mistele offensichtlich nicht bewußt geworden.
Rückschlag Am 27. Februar 1991 meldet die Regensburger „Mittelbayerische Zeitung", daß das Landratsamt Fürth den Antrag der in Ungarn geborenen Jü126 127
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Utz Jeggle: Judendörfer in Württemberg. Tübingen 1969. (= Volksleben 23). Alfred Höck (Hrsg.): Judaica Hassiaca. Gießen 1979. (= Hessische Blätter für Volksund Kulturforschung 9). Christoph Daxelmüller: Jüdische Kultur in Franken. Würzburg 1988. (= Land und Leute. Veröffentlichungen zur Volkskunde). Vgl. auch Christoph Daxelmüller: Jüdisches in Museen. Bernward Denekes Beitrag zur Museologie des Jüdischen. In: Bayerische Blätter für Völkskunde 15, H. 3 (1988), S. 181-189. Karl Mistele: Volkskundliche Aspekte traditioneller Judenfeindschaft. In: Manfred Treml, Josef Kirmeier (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. München 1988. (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 17/ 88). S. 321-326.
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din Judith Szücs auf Anerkennung als , Volksdeutsche' abgelehnt hat. 131 Obwohl die Namen ihrer Eltern, Rosenberg und Glück, auf deutsche Herkunft hinweisen, betont das Bayerische Innenministerium, daß die Antragstellerin nicht habe glaubhaft machen können, daß ihre Eltern deutsche , Volkszugehörige' gewesen seien und „sie im Sinne des deutschen Volkstums erzogen wurde". Einmal mehr klingen Sprache, Begriffe und Inhalte vertraut. Ob Volkskunde eine antisemitische Wissenschaft sei, mag jeder nach dem vorgelegten Material nun selbst entscheiden. Daß ihre Wirkung jedoch nicht auf den akademischen Elfenbeinturm beschränkt ist, zeigt die Volksläufigkeit ihres Volksbegriffs, der im Verfahren der Judith Szücs zum Ausdruck kommt. In dem Bescheid des Innenministeriums vom 10. Juli 1989 hatte es wörtlich geheißen, daß der am 6. Juni 1944 in Auschwitz eingelieferte Vater von Frau Szücs, Arpad Rosenberg, ebenso wie ihre Mutter Elisabeth Glück unter der Kategorie Jude' geführt worden seien: „Somit handelt es sich bei beiden Elternteilen der Antragstellerin nicht um deutsche Volkszugehörige".
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Mittelbayerische Zeitung Nr. 49, 27. Februar 1991, unpag.
Jens Malte Fischer (München)
Das Judentum in der Musik4 Kontinuität einer Debatte
I Ende November 1940 wurde im UFA-Palast am Zoo in Berlin ein Film uraufgeführt, der in der konzertierten antisemitischen Aktion des deutschen Films um 1940 einen besonderen Stellenwert hat, der sogenannte Dokumentarfilm Der ewige Jude, Gestaltung Fritz Hippler. Der Film beginnt mit Aufnahmen aus dem besetzen Polen und hat dazu folgenden Sprecherkommentar im Off: Der Feldzug in Polen hat uns Gelegenheit gegeben, das Judentum an seiner Niststätte kennenzulernen. Fast vier Millionen Juden leben hier in Polen. Allerdings wird man sie unter der bäuerlichen Bevölkerung vergeblich suchen. Sie haben auch nicht unter den Wirren des Kriegs zu leiden gehabt, wie die eingeborene polnische Bevölkerung. Sie saßen wie Unbeteiligte in den dunklen Ghettogassen der polnischen Städte, und eine Stunde nach der deutschen Besetzung machten sie schon wieder Geschäfte. Wir Deutschen haben schon vor fünfundzwanzig Jahren einmal Gelegenheit gehabt, einen Blick in das polnische Ghetto zu werfen. Diesmal aber ist unser Blick durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte geschärft. Wir sehen nicht mehr wie 1914 bloß das Groteske und Komische an diesen fragwürdigen Gestalten des Ghettos. Wir erkennen, daß hier ein Pestherd liegt, der die Gesundheit der arischen Bevölkerung bedroht. Richard Wagner hat einmal gesagt: ,Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit.' Und diese Bilder bestätigen die Richtigkeit seines Ausspruches.1 An diesem Beginn gerade dieses Films interessiert in unserem Zusammenhang die Berufung auf Richard Wagner, die einzige übrigens im ganzen Film. Das Zitat stammt nicht, wie man vermuten könnte, aus dem Judentum in der Musik, sondern aus einer kleineren Schrift des Jahres 1881 mit dem Titel Erkenne dich selbst, die von der Wagner-Forschung zu den sogenannten Regenerationsschriften gezählt wird und in der Gesamtausgabe von Wagners Schriften als eine Ausführung zu dem größeren Text Religion und Kunst abgedruckt ist. Wahrscheinlich nach der Fertigstellung des
Filmprotokoll „Der ewige Jude", o.O., O.J., S. 2-8.
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Jens Malte Fischer
umfangreicheren Textes im Jahre 1880 hatte Wagner Gobineaus Essai sur l'inegalite des races humaines gelesen, der ja schon gut 25 Jahre alt war, und dementsprechend taucht nun zum ersten Mal massiv das Stichwort .Rasse' im Zusammenhang seiner alten Obsession durch das Judentum auf. Indem Wagner selbst auf sein zuerst 1850 pseudonym und dann 1869 unter seinem Namen erschienenes Judenpamphlet zurückverweist, beklagt er die verderbliche Entwicklung, die seither eingetreten sei, unter dem Banner der „Gleichberechtigung aller deutschen Staatsbürger ohne Ansehung des Unterschiedes der .Konfession'". 2 Wagner setzt bei seinem Zitieren dieses Slogans den Begriff der Konfession in Anführungszeichen, denn der von ihm neu entdeckte „Antagonismus der Rassen" 3 läßt die Frage der Konfession als vernachlässigenswert erscheinen. Neu entdeckt, aber immer schon geahnt, denn schon im Judentum in der Musik war ja das Problem nicht eines, das durch Konversion behoben werden konnte: aufhören Jude zu sein, bedeutete für Wagner ja sehr viel mehr als konvertieren, es bedeutete schon 1850 und dann 1869 Selbstvernichtung, Erlösung im Untergang. Jetzt aber dient das Judentum als dämonisch überhöhtes Gegenbild gegen das entartende Deutschtum (welches fast so schlimm erscheint wie die „degenerierten Slaven"), demgegenüber der Jude das „erstaunlichste Beispiel von Rassenkonsistenz" liefere, das die Weltgeschichte kennt. 4 Ohne Vaterland, ohne Muttersprache mische sich der Jude mit allen Rassen und Völkern, immer komme daraus jedoch ein neuer Jude zutage, getragen nicht durch eine Religion, sondern durch den Glauben an die Verheißungen seines Gottes, unter denen die wichtigste jene sei, die ihm die Herrschaft über alles Lebende und Leblose auf der Erde verspreche. Und dann folgt jenes Zitat, das der Propagandafilm aufgreift: Eine wunderbare, unvergleichliche Erscheinung; der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit in triumphierender Sicherheit, und dazu deutscher Staatsbürger mosaischer Konfession, der Liebling liberaler Prinzen und Garant unsrer Reichseinheit!5
Daß ein Zitat aus einer abseitigen, außer im Bayreuther Kreis selbst von Wagnerianern wohl kaum gelesenen Spätschrift Wagners, die eher Miszellencharakter hat, in einem antisemitischen Propagandafilm des Jahres 1940 auftaucht, zeigt mehr als viele andere Spekulationen und Beweisführungen die fundamentale Bedeutung, die der Wagnersche Antisemitismus für die NS-Ideologie hatte. Viel bekannter natürlich war das Judentum in der Musik, und ich will im folgenden zu zeigen versuchen, welche Konti2
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Richard Wagner: „Erkenne dich selbst". In: Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Leipzig o.J.. Bd. 10, S. 263-274, Zitat S. 265. Ebd. S. 269. Ebd. S. 271. Ebd. S. 272.
Das , Judentum in der Musik'
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nuität und welche mal mehr unter- mal mehr überschwellige Wirkung jenes Pamphlet gehabt hat, wobei ich die Diskussion um den Text selbst als in den wesentlichen Zügen bekannt voraussetze.6 Als kurze Gedächtnisreizung sind vielleicht die wesentlichen Stichworte aus dem Judentum in der Musik willkommen. 7 Angeregt durch einen Artikel des Freundes Theodor Uhlig in der „Neuen Zeitschrift für Musik" (in der dann auch sein eigenes Pamphlet erscheint), wo vom „hebräischen Kunstgeschmack" die Rede war, fühlt Wagner das Bedürfnis, sich über die dahinter stehenden Zusammenhänge zu äußern. Er geht aus von dem Unwillkürlichen, Abstoßenden, das das jüdische Wesen für den Nichtjuden habe. Die Emanzipation der Juden, für die man zu Anfang aus guten Gründen sein konnte, sei inzwischen so weit fortgeschritten, daß man nun für eine Emanzipation von den Juden sein müsse, die mittels der Herrschaft des Geldes in vielen Bereichen, so auch in dem des öffentlichen Kunstgeschmacks Macht ausübten. Um die verderbliche Wirkung des Juden im Bereich der Musik zu verstehen, sei es nötig, die Wirkung des Juden durch seine ihm eigentümliche Sprache zu betrachten, der in allen Völkern, in denen er lebt, zwar deren Sprache sich aneigne, diese aber immer wie ein Ausländer spreche, das heißt aber in diesen Sprachen immer nur nachsprechen und nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen könne. Die abstoßende Außenseite des jüdischen Sprechens sei ihr Lautausdruck, jenes Zischen, Schrillen, Summsen und Murksen, wie Wagner sich ausdrückt, jenes verwirrte Geplapper mit seinem Mangel an rein menschlichem Ausdruck und jene kalte Gleichgültigkeit, die man bei näherem Hinsehen auch in den musikalischen Erzeugnissen moderner Juden feststellen könne. Da das Judentum nie eine eigene Kunst gehabt habe, biete sich dem jüdischen Tonsetzer, der sich musikalisch ausdrücken wolle, nur der Stil der Synagoge an, von dem Wagner nur in den Tönen der höchsten Abscheu sprechen mag: grauenhaft, widerwärtig und lächerlich sei das Gegurgel, Gejodel und Geplapper, das man da hören könne (wobei es sehr zweifelhaft ist, ob Wagner je einem jüdischen Gottesdienst beigewohnt hat, obwohl er diese Kenntnis ausdrücklich bei jedem Leser voraussetzt). Aus der Eigenart des jüdischen .Jargons' (unter den subsumiert er das Sprechen wie das Singen und die Klanggestalt des Synagogenrituals) mit seinem seelenlosen Durcheinanderwerfen von Worten und Konstruktionen, mit dem Geplapper, das die
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Eine abgewogene Darstellung des Wagnerschen Antisemitismus, speziell im Judentum in der Musik, gibt Jacob Katz: Richard Wagner, Vorbote des Antisemitismus. Königstein/ Ts. 1985. Dort auch weiterführende Literatur. Das Judentum in der Musik wird hier paraphrasiert nach dem Abdruck in: Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Leipzig o.J., Bd. 5, S. 66-85. Ein Faksimile des Erstdruckes im Jahrgang 1850 der „Neuen Zeitschrift für Musik" findet sich in M. Eger: Wagner und die Juden. Fakten und Hintergründe. Bayreuth 1985, S. 9-19.
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Leere und Wurzellosigkeit überdecken solle, folgert Wagner, daß der jüdische Musiker ganz analog die „verschiedenen Formen und Stilarten aller Meister und Zeiten" durcheinanderwerfe, womit wir beim ersten wichtigen musikalischen Stichwort des Pamphletes sind: Beliebigkeit und Eklektizismus. Des weiteren müsse der Mangel an wirklicher Leidenschaft zur Kunst, an innerer Ruhe beim musikalischen Juden ausgeglichen werden durch eine Aufhäufung äußerer Reize, durch die prickelnde Unruhe, die jüdischen Musikwerken anzumerken sei, die folgerichtig gekennzeichnet seien durch Kälte und Gleichgültigkeit bis hin zu Trivialität und Lächerlichkeit, kurz gesagt, die vollendete Unproduktivität, durch die die Periode des Judentums in der modernen Musik gekennzeichnet sei. Diese Diagnose erhärtet Wagner an zwei Fallbeispielen, an Felix Mendelssohn-Bartholdy und an einem „weit und breit berühmten jüdischen Tonsetzer unserer Tage", in dem jeder Leser damals unschwer Giacomo Meyerbeer erkennen konnte. Mendelssohn sei ein Komponist von großem Talent gewesen, der es jedoch nicht vermocht habe, je eine wirklich tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf seine Hörer zu erzielen. Die Teilnahme, die das tragische Schicksal Mendelssohns verlange, könne jener andere jüdische Komponist - Meyerbeer - jedoch nicht für sich in Anspruch nehmen, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht habe, ein gelangweiltes Publikum durch die zur Oper geronnene Langeweile seiner Produktionen über den eigenen Zustand hinwegzutäuschen. In dem ein Jahr später erschienenen großen Essay Oper und Drama hat Wagner dann seine Vorwürfe gegen Meyerbeer präzisiert und als das Geheimnis seiner Opernmusik den Effekt benannt, was er sogleich übersetzt als „Wirkung ohne Ursache". Die spezifisch musikalische Befähigung Meyerbeers sei bei Null anzusetzen, Hohlheit, Seichtigkeit und künstlerische Nichtigkeit seien das Merkzeichen seines Schaffens. Die wichtigsten Stichworte sind damit gefallen - ich reduziere sie noch einmal: Beliebigkeit, Eklektizismus, seelenloses Geplapper, Ersetzung von Tiefe durch äußere Reize, der Aus- und Eindruck von Kälte und Gleichgültigkeit, Trivialität und nicht beabsichtigte Lächerlichkeit, Hohlheit, Seichtigkeit und Nichtigkeit, raffinierte Nachahmung aller Formen und Stile, Effekthascherei - hinter allem jedoch der tiefste Urgrund des musikalischen Judentums: die totale Unproduktivität. Als das Judentum der Musik zum ersten Mal erschien, war Wagner ein obskurer politischer Flüchtling im Zürcher Exil, als es zum zweiten Mal, diesmal unter seinem Namen herauskam, war er, nach den Uraufführungen von Tristan und Isolde und den Meistersingern eine europäische Berühmtheit. Verständlich daher, daß ein so starker Tobak aus so prominentem Munde für jeden, der sich mit dem Phänomen des Antisemitismus pro oder contra beschäftigte, ein ,rocher de bronze' wurde. Dabei hat jedoch die eminente Wirkung der frühen Schrift und auch der noch bedenklicheren wiewohl weniger bekannten Spätschriften in jenem allgemeinen
Das Judentum in der Musik'
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Zusammenhang bis hin zu Hitlers emphatischer Berufung auf Wagner gleich zu Beginn von Mein Kampf, das ja gewissermaßen auf von Winifred Wagners Hand geschöpftem Bütten geschrieben wurde, die Tatsache verdunkelt, daß auch in einer sehr viel hermetischeren fachspezifischen Auseinandersetzung innerhalb des musikalischen Lebens von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage Wagners Wirkung unübersehbar ist - und damit bin ich beim eigentlichen Gegenstand meiner Überlegungen.
II Daß Wagners Antisemitismus von Cosima Wagner geteilt, zum Teil sogar zugespitzt wurde, ist bekannt, ebenso wie die Tatsache, daß das offizielle Bayreuth nach 1919 von Anfang an unverhohlen mit der NS-Bewegung sympathisierte.8 Ebenso verständlich ist, daß Wagners Schwiegersohn Chamberlain in seinem Wagner-Buch, das zuerst 1895 erschien, dem Pamphlet hochtrabende Worte widmet, die Behandlung Meyerbeers dabei als „würdig" empfindet und zustimmend Ludwig Nohl zitiert: „Es war wie das erwachende Gewissen der Nation, nur daß zunächst die Dumpfheit der Geister den neuen, tief versöhnenden Geist nicht begriff, der hier zugleich heilend und rettend sich auftat." 9 Weniger bekannt ist, daß auch ein Robert Schumann von antijüdischen Affekten nicht frei war, auch wenn er seine berühmte Hugenotten-Rezension von direkten Anspielungen auf das Judentum ihres Urhebers frei hielt. In einem Text mit dem Titel Liederschau, der zuerst 1842 erschien, beklagt Schumann, daß in Wien der musikalische Italianismus gesiegt habe so wie in einer norddeutschen Residenz der Judaismus - gemeint ist wahrscheinlich Leipzig, wo Mendelssohn das Szepter führte und dessen Freund, der Geiger Ferdinand David, Konzertmeister war. 10 Nicht verwundern wird auch, daß in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter von 1903 die Argumente gegen das Judentum, die bis zu einem gewissen Grade deckungsgleich sind mit den Argumenten gegen das Weibliche, unter ausdrücklicher Berufung auf Wagner und Chamberlain erfolgen, wenn auch modifiziert, bzw. radikalisiert (das Judentum der Musik wird ausdrücklich zitiert, dessen spezielles Thema jedoch nicht weiter behandelt).11
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Vgl. dazu Michael Karbaum: Studien zur Geschichte der Bayreuther Festspiele. Regensburg 1976, S. 67ff. Houston Stewart Chamberlain: Richard Wagner. 5. Aull. München 1910, S. 229. Zit. nach: Robert Schumann in seinen Schriften und Briefen. Hrsg. v. Wolfgang Boetticher. Berlin 1942, S. 138. Diese Passage ist nur im Erstabdruck des Artikels enthalten. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. 9. Aufl. Wien/Leipzig, 1907, S. 414 u. S. 427.
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Daß der erste Knotenpunkt, an dem das Thema den engeren Horizont des Wagnerischen Antisemitismus und den Bayreuther Dunstkreis verläßt, in Wien liegt, wo etwa Georg von Schönerer in einer Rede im Abgeordnetenhaus ausdrücklich die Verjudung unter den Künstlern hervorhebt (1887), ist ebenfalls von großer Folgerichtigkeit: es handelt sich um den Fall Gustav Mahler - wobei ich den Fall Hermann Levi, des Rabbinersohns aus Gießen, des Dirigenten, der die Uraufführung des Parsifal dirigierte und 1883 den Sarg Wagners in Bayreuth mittrug (Peter Gay und Hartmut Zelinsky haben sich mit ihm beschäftigt) noch dem Bayreuther Umkreis zurechne und somit hier ausklammere. Es ist nicht mehr genau zu eruieren, wie sich die Familie, aus der Gustav Mahler stammte, zum Judentum verhielt - einerseits wird von einer weitgehenden Assimilation gesprochen, andererseits sind Kontakte zur Synagoge belegt und ein Amt des Vaters in der Iglauer Jüdischen Gemeinde, ebenso sind Beschneidung und Bar-Mizwa von Mahler als wahrscheinlich anzunehmen. Die Berufung an die Wiener Hofoper, die Mahler ersehnte, drohte (darüber war er selbst sehr gut informiert) daran zu scheitern, daß er Jude war, und so ließ er sich im Februar 1897 in Hamburg römisch-katholisch taufen, aus Selbsterhaltungstrieb und nur mit großer Überwindung, wie er einem Freund anvertraute, obwohl er sich dem Judentum qua Religion auch schon lange vorher nicht mehr zugehörig fühlte, genausowenig wie er in den folgenden Jahren aus seiner Taufe praktische Konsequenzen zog. Mit der Taufe erhielt Mahler zwar das Entreebillet in eines der höchsten Kulturämter der KuK-Monarchie, nicht bekannt ist, ob er sich der Illusion hingab, damit auch antisemitischen Angriffen ausweichen zu können. Diese eventuelle Illusion wäre ihm schnell genommen worden, denn schon zwei Tage nach seinem Amtsantritt (zunächst wurde er Hofkapellmeister, nach einem halben Jahr Direktor der Wiener Hofoper) wurde in einigen Wiener Blättern gegen die Judifizierung' der Oper polemisiert, und die „Reichspost" (allen Karl-Kraus-Lesern vertraut als „unser christliches Tagblatt") äußerte sich am 14. April 1897, noch lange vor Mahlers dirigentischem Debüt folgendermaßen: In unserer Nummer vom 10. April brachten wir eine Notiz über die Person des neuengagierten Opernkapellmeisters Mahler. Wir hatten damals schon eine kleine Ahnung von dem Ursprung des Gefeierten, und deshalb hüteten wir uns, mehr als die nackten Tatsachen über diesen unverfälschten - Juden zu bringen. [...] Wir enthalten uns vollständig jedes voreiligen Urteils. Die Judenpresse mag zusehen, ob die Lobhudeleien, mit denen sie jetzt ihren Götzen 12
Zu Levi vgl. Peter Gay: Hermann Levi. Eine Studie über Unterwerfung und Selbsthaß. In: Gay, Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur. München 1989, S. 207-238. Außerdem: Hartmut Zelinsky: Hermann Levi und Bayreuth oder Der Tod als Gralsgebiet. In: Beiheft 6 des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv, 1984, S. 309-351.
Das Judentum in der Musik'
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überkleistert, nicht v o m Regen der Wirklichkeit w e g g e s c h w e m m t werden, sobald der Herr Mahler am Dirigentenpult mauschelt. 1 3
Fortan hörten die antisemitischen Pöbeleien nicht mehr auf, sie trugen mit dazu bei, daß Mahler 1907 sein Wiener Amt entnervt und entkräftet aufgab. Alles was Mahler tat, wobei er nicht immer diplomatisch vorging, wurde aus dieser Ecke angegriffen, ob es die Entlassung beim Wiener Publikum beliebter älterer Sänger war, ob es die Demission des Wagner-Dirigenten Hans Richter war, die als das Ergebnis der Wühlarbeit der jüdischen Presse im geheimen Dienste Mahlers angesehen wurde (dem kein kritisches Wort über Richter nachgewiesen werden konnte), oder ob es die nervös-vibrierende Dirigiertechnik Mahlers war, die ja schon von vorneherein als Mauscheln denunziert worden war, bevor man sie überhaupt hatte beurteilen können. Besonders hoch gingen die Wogen der Erregung, als Mahler den Fehler beging, seine beabsichtigten Beethoven-Instrumentations-Retuschen öffentlich anzukündigen, die auch unter wohlwollenden Fachleuten nicht unumstritten waren. Die „Deutsche Zeitung" schrieb: „Wenn Herr Mahler Korrekturen anbringen will, dann soll er sich Mendelssohn oder Rubinstein dazu wählen - am Ende lassen sich das die Juden nicht gefallen - aber unseren Beethoven soll er fein in Ruhe lassen."14 Das weist deutlich voraus auf jenen berühmt gewordenen Protest der Richard-Wagner-Stadt München vom April 1933 gegen Thomas Manns Wagner-Vortrag und dessen „Herabsetzung unseres großen deutschen Musikgenies" - Thomas Mann war zwar nicht .direkt' Jude, wenn auch nach der schon um sich greifenden Terminologie jüdisch versippt, aber er war kosmopolitisch-demokratisch gesinnt, deshalb unzuverlässig und nicht berechtigt zur Kritik „wertbeständiger deutscher Geistesriesen", wie es in unnachahmlicher Formulierung hieß.15 In dem Maße, in dem Mahlers Stellung als Hofoperndirektor angesichts seiner überragenden künstlerischen Erfolge immer unumstrittener wurde, verschob sich das Gewicht der Angriffe in Richtung auf den Komponisten Gustav Mahler, der es allerdings geradezu selbstverleugnend vermied, in Wien häufiger als Interpret eigener Werke aufzutreten, schon um sich den Vorwurf zu ersparen, seine Machtposition zugunsten der eigenen, heiß umstrittenen Werke auszunützen. So ist es kein Zufall, daß die einzige Mahler-Symphonie, die in Wien uraufgeführt wurde, die neunte war, 1912, ein Jahr nach seinem Tode. Sehr schnell erwies es sich dabei (und das machte die weiterwirkende Gefährlichkeit der Argumentation 13
14 15
Zit. nach Kurt Blaukopf: Mahler. Sein Leben, sein Werk und seine Welt in zeitgenössischen Bildem und Texten. Wien 1976, S. 212. Zit. nach Blaukopf, Mahler, ebd. S. 220. Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: Thomas Mann und der „Protest der Richard-Wagner-Stadt München" im Jahre 1933. Eine Dokumentation. In: Jahrbuch der Bayerischen Staatsoper 1983, S. 51-103.
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aus), daß man bei der Beurteilung der Mahlerschen Musik die Argumentationshilfen des Wagnerschen Arsenals benutzen konnte (die jedem Musikschriftsteller und -kritiker und einem großen Teil des an den Dingen der Musik interessierten Publikums vertraut waren, zumindest als Schlagworte), ohne überhaupt nur die Begriffe ,Jude' oder Judentum' zu benutzen; man argumentierte also für jeden erkennbar antisemitisch, ohne daß Antisemitismus gewissermaßen juristisch nachweisbar war. Dies beweist der renommierte Kritiker und Musikwissenschaftler Theodor Kroyer, der über die Uraufführung der vierten Symphonie in München 1901 in der Zeitschrift „Die Musik" sich folgendermaßen äußerte: Wer sich einen Fortschritt Mahlers zum Gesünderen, eine Hinkehr zum Urquell aller Kunst, der Natürlichkeit erhofft hatte, der mußte sich enttäuscht zurückziehen. Nichts von Ursprünglichkeit, kein selbständiger Gedanke, kein originelles Fühlen, ja nicht einmal echte Farben zu den unechten Bildern, alles Technik, Berechnung und innere Verlogenheit, eine kränkliche, abschmeckende Übermusik. [...] Es scheint, als ob hier die bedeutende Kombinationsgabe des Tonsetzers lediglich um ihrer selbst willen ihre Kräfte versprühe. Überall ein Aufgebot der möglichsten Orchesterwitze zum Aufputz eines formlos, vor lauter geistreichen Details in sich zusammenstürzenden Stilungeheuers.16
Es ist sicher nicht nötig, bei diesem und allen folgenden einschlägigen Zitaten jedesmal expressis verbis darauf zu verweisen, daß hier bis in Diktion und Wortwahl die Invektiven Wagners gegen das Judentum in der Musik nachgeschmeckt werden, daß etwa Kroyers Ausführungen wörtlich in Wagners Ausfälle gegen Meyerbeer hineinmontiert werden könnten, ohne daß dies auffallen würde. Ich füge ergänzend ein weiteres Zitat über Mahlers Symphonik an: Ihm fehlt die Unbefangenheit, wie sie etwa Strauss über manches hinweghilft, und daher muß er klar erkennen, wo seine Begabung Grenzen hat. Mit übermenschlichem Willen geht er daran, diese Grenzen zu sprengen: mit Bluttransfusionen aus Volkssang und Kunstmusik sucht er seine Kräfte hochzureißen und nichts erschüttert mehr als die tiefe Resignation, die dem Ermatteten bleibt. [...] da prallt Erhabenes auf Triviales, Gefühltes verdorrt in Konstruiertem, Eigenes steht neben Nachempfundenem, das Mißverständnis zwischen tatsächlichem Gehalt und äußerer Fassade ist nicht zu übersehen.
Eklektizismus und Verlogenheit, die äußeren Reize, die über die innere Hohlheit hinwegtäuschen sollen, die Trivialität - wieder sind wir bei Wagners Argumenten, und in dem verräterischen Begriff der .Bluttransfusion' klingt gar das vampirische Verhalten des parasitären Volkes gegenüber seinem Wirtsvolk an, vielleicht sogar, aber ich will nicht übertrei16
Zit. nach Blaukopf, Mahler (Anm. 13) S. 233.
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ben, die Ritualmordlegende, denn Volkssang und Kunstmusik (man sollte meinen ein legitimes Reservoir für jeden Komponisten) werden hier ausgeschlachtet und ausgesaugt, um ein ermattetes Talent am Leben zu erhalten, das offensichtlich auf natürliche Weise zu diesen Quellen keinen Zugang hat. Dieses letzte Zitat stammt nicht aus der Kritik Theodor Kroyers von 1901, sondern aus einem der am weitesten verbreiteten Konzertführer der fünfziger und sechziger Jahre, Rudolf Bauers Das Konzert, 1955 zuerst erschienen, vielfach neu aufgelegt und durch die damals größte deutsche Buchgesellschaft, die Deutsche Buchgemeinschaft, verbreitet. 17 Man wird keine Mühe haben, solche Beurteilungen Mahlers als bei uns in den fünfziger und sechziger Jahren durchaus repräsentativ zu erkennen, Beurteilungen, die dann allerdings durch die Mahler-Renaissance langsam zurückgedrängt wurden, an Abonnenten-Stammtischen aber bis heute überlebt haben, wobei die Tatsache eine Rolle spielt, daß an dieser Renaissance ganz wesentlich jüdische Dirigenten beteiligt waren (Bruno Walter, Leonard Bernstein, Otto Klemperer und Georg Solti), während andere Pultgrößen wie Furtwängler, Karajan und Böhm diesen Komponisten nur am Rande berührten (bei der Mahler-Hinwendung des späten Karajan dürften merkantile Gründe eher als Herzensneigung eine Rolle gespielt haben). In dieser Entwicklung wiederholt sich ein Prozeß, der schon zu Lebzeiten Mahlers dem Antisemitismus willkommene Nahrung bot, und der darin bestand, daß die enthusiastischen Anhänger Mahlers in Musikkritik und Musikschriftstellerei unter den jüdischen Autoren ausgemacht wurden, nämlich Guido Adler, Ludwig Karpath, Max Graf, Richard Specht und Paul Stefan, nach Mahlers Tod auch Paul Bekker. Dabei wurde dann nicht in Betracht gezogen, daß sich diese Regel nicht verallgemeinern ließ, denn Eduard Hanslick und Julius Korngold standen nicht in dieser Phalanx, und es wurde auch nicht weiter untersucht, wie diese Judenpresse' denn im einzelnen zu ihrem Judentum stand und Mahler nur deshalb pries, weil er Jude war, oder ob es dafür auch andere, bessere Gründe gab - einerlei, in der Rasse lag die musikalische Schweinerei. Konnte man die Münchner Kritik Kroyers noch als schnell verblühende Tages-Aktualität nicht gar so wichtig nehmen, so verhielt sich das mit einem aufsehenerregenden Buch des Musikschriftstellers Rudolf Louis anders, das 1909 bei Georg Müller erschien und den Titel Die deutsche Musik der Gegenwart trug, der erste Versuch, wenn ich richtig sehe, einen kritischen Überblick über die deutsche Entwicklung der Musik seit dem Abtreten Wagners, Brahms' und Liszts zu geben (von seinem Stellenwert vergleichbar dem Buch Ulrich Dibelius' über die moderne Musik nach 1945). Louis' Buch gelangte rasch in den Rang eines Standardwerkes für Kritiker, Autoren und Musikliebhaber, denn es wird in jener Zeit überall 17
Rudolf Bauer: Das Konzert. Darmstadt 1961, S. 402f.
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zitiert, wo es um dieses Thema geht. Umso gravierender und einschneidender mußte sein, was hier über Mahler gesagt wurde, nicht in einer Tageskritik, nicht in lokal gefärbten Wiener Querelen und nicht in einem obskuren Antisemitenblättchen, sondern in einem Hausbuch für die deutsche musikliebende Familie mit Schmuckeinband und Lederrücken, und das von einem Autor, der sich in der späteren Diskussion um seine Äußerungen empört dagegen verwahrte, als Antisemit bezeichnet zu werden, und (so ist zu vermuten) von seinen Lesern auch keineswegs für einen solchen gehalten wurde, wenn er mit aller wünschenswerten Klarheit aussprach, was so viele dachten. Louis behandelt Mahler, im krassen Gegensatz zu allen anderen vorkommenden Komponisten, indem er ihn nicht behandelt, das heißt, er verweigert jede kritische Auseinandersetzung mit dessen Werk, indem er postuliert, daß Mahlers Symphonien nur ernst nehmen könne, wer die elementarsten Regeln des künstlerischen Urteilens außer acht lasse und somit beweise, daß zwischen ihm und den „Angehörigen okzidentalischer Kultur und okzidentalischer Rasse" eine nicht zu überbrückende Kluft bestehe. Statt nun ins kompositorische Detail zu gehen, nutzt Louis die Gelegenheit, auf das grundsätzliche Problem der Stellung des Juden in der abendländischen Kultur- und Geistesgemeinschaft einzugehen. Sehr heikel sei dies alles: Denn man riskiert, von Unverstand und Böswilligkeit ohne weitere Umstände des Antisemitismus geziehen zu werden, wenn man unbefangen genug ist zu erkennen und anzuerkennen, daß ein deutscher Jude doch noch ein klein wenig etwas anderes ist als nur einfach ein ,deutscher Staatsbürger mosaischer Konfession'. Aber auf die Gefahr hin, daß man mich einer Partei zuzähle, deren Anschauungen und Tendenzen ich als töricht und roh empfinde, muß ich es frei heraus sagen: das was so gräßlich abstoßend an der Mahlerschen Musik auf mich wirkt, das ist ihr ausgesprochen jüdischer Grundcharakter. Und zwar, um ganz genau zu sein, nicht dieser allein. Denn das Jüdische als solches könnte wohl exotisch, fremd und fremdartig, aber zunächst noch nicht abstoßend wirken. Wenn Mahlers Musik jüdisch sprechen würde, wäre sie mir vielleicht unverständlich. Aber sie ist mir widerlich, weil sie jüdelt. Das heißt, sie spricht musikalisches Deutsch, wenn ich so sagen darf, aber mit dem Akzent, mit dem Tonfall und vor allem auch mit der Geste, des östlichen, des allzu östlichen Juden. Der Symphoniker Mahler bedient sich der Sprache Beethovens und Bruckners, Berlioz' und Wagners, Schuberts und der Wiener Volksmusik, - und man muß ihm lassen, daß er sich die Grammatik und Stilistik dieser Sprachen leidlich angeeignet hat. Aber daß er für die mit feineren Ohren Begabten mit jedem Satze, den er spricht, eine ähnliche Wirkung macht, wie wir sie erleben, wenn etwa ein Komiker des Budapester Orpheums ein Schillersches Gedicht rezitiert, und daß er selbst davon gar keine Ahnung hat, wie grotesk er sich in der Maske des deutschen Meisters ausnimmt, darauf beruht der innere Widerspruch, der den Mahlerschen Werken jenen Charakter des peinlich Unechten aufprägt; ohne daß er es selbst merkt - denn an der subjektiven Ehrlichkeit der Mahlerschen Musik habe ich keinen Augenblick gezweifelt -
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spielt er eine Rolle, deren glaubhafte Durchführung ihm von vorneherein, sozusagen schon konstitutionell unmöglich ist.
Und dann folgen die Vorwürfe, die folgen müssen: völlige Leerheit und Nichtigkeit, ohnmächtiges Schein-Titanentum, gemeine Nähmädel-Sentimentalität, absolute Ohnmacht des schöpferischen Willens, Impotenz eines Mögens ohne jegliches Vermögen, Befriedigung eines Unterhaltungsbedürfnisses und die Ausbeutung der Brucknerschen Ausdrucksmittel als bloße Effektmittel. 18 Wie in einem Brennspiegel finden wir bei Louis die Argumentationsschemata des gebildeten Antisemiten der Jahrhundertwende, der natürlich keiner sein will: dem Gestus des „Frei heraus Sagens" („K. Freigedank" war das Pseudonym Wagners bei der ersten Publikation des Judentums in der Musik gewesen) und die Häme gegen den „allzu östlichen Juden" (das Ostjudenproblem hatte ja schon den sogenannten „Berliner Antisemitismusstreit" geprägt, der durch Äußerungen Heinrich von Treitschkes auch über die Ostjuden ausgelöst worden war). Wenn Louis schließlich Mahler und sein Verhältnis zur deutsch-österreichischen Musiktradition mit einem jüdischen Jargon-Komiker vergleicht, der ein Schiller-Gedicht rezitiert, dann greift er fast wörtlich eine Argumentation Wagners aus dem Judentum in der Musik auf, wo dieser über die Äußerlichkeit spricht, mit der sich der Jude die nichtjüdische Musik aneigne „daher seine Empfängnisse davon, wenn er sie als Künstler uns zurückspiegelt, uns fremdartig kalt, sonderlich, gleichgültig, unnatürlich und verdreht erscheinen, so daß jüdische Musikwerke auf uns oft den Eindruck hervorbringen, als ob z.B. ein Goethesches Gedicht im jüdischen Jargon uns vorgetragen würde." 19 Rudolf Louis, als Komponist Schüler von Friedrich Klose, als Dirigent von Felix Mottl, hatte in beiden Berufsfeldern keinen rechten Erfolg, den er erst als Kritiker der „Münchner Neuesten Nachrichten" errang und dann vor allem als Mitverfasser einer Harmonielehre (zusammen mit Ludwig Thuille), die auch heute noch als Standardwerk gilt. Aber auch die Deutsche Musik der Gegenwart lag drei Jahre nach ihrem Erscheinen bereits in der dritten Auflage vor, und man wird die fatale Wirkung solcher Passagen angesichts des Erfolges des Buches kaum unterschätzen können. Äußerst ambivalent ist auch die Darstellung Mahlers in einem konkurrierenden Buch Walter Niemanns, das zuerst 1913 unter dem Titel Die Musik seit Richard Wagner erschien, und dann unter dem Titel Die Musik der Gegenwart neu aufgelegt wurde. Hier wird einerseits der „blinde und törichte Judenhaß" der Mahler-Gegner scharf kritisiert, die Argumente ge-
18 19
Rudolf Louis: Die deutsche Musik der Gegenwart. München/Leipzig 1909, S. 181ff. R. Wagner: Das Judentum in der Musik (Anm. 7), S. 78.
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gen seine Musik jedoch sind im Grunde die gleichen wie bei Louis. 20 Als äußerst wohltuend empfindet man im Vergleich dazu die nüchterne und abgewogene Darstellung im Führer durch den Konzertsaal von Hermann Kretzschmar, dem neben Hugo Riemann bedeutendsten Musikgelehrten Deutschlands jener Zeit, von seiner Statur her alles andere als ein MahlerAnhänger, für den nach Beethoven eigentlich nur Brahms als Symphoniker zählte, der es aber dennoch fertigbrachte, über Mahler ohne den geringsten Rückgriff auf die sattsam bekannten Argumente zu sprechen das weit verbreitete Buch liegt mir in der fünften Auflage von 1919 vor, die im Text der vierten von 1912 entspricht. Mein Eindruck ist allerdings, daß Kretzschmar einer der ganz wenigen ist, der es in jener Zeit fertigbringt, über Mahler oder auch über Mendelssohn zu sprechen, ohne die Wagnersche Beweisführung zu übernehmen oder auf sie anzuspielen (deren Kenntnis natürlich vorausgesetzt werden muß), denn bei beiden Komponisten wird nicht einmal erwähnt, daß sie aus dem Judentum kamen, geschweige denn, daß die Ablehnung ihrer Musik mit ihrem Judentum begründet wird. 21 Man wird über jüdische Elemente in Mahlers Musik natürlich sprechen können, und Max Brod und Leonard Bernstein haben das mit unterschiedlichem Erfolg und gemischter Resonanz auch getan, man wird vor allem über die Bedeutung der jüdischen Abkunft für die Biographie Mahlers sprechen müssen, was er auch selbst getan hat, aber in der Debatte um Mahler vor dem Ersten Weltkrieg geht es um ganz etwas anderes: die Mahler-Anhängerschaft, in ihren publizistischen Vorkämpfern jüdisch geprägt, bewältigt das Problem durch Nichtbeachtung, die MahlerGegner, von blindem Haß auf die ganze Richtung getrieben, vermögen gar nicht mehr anders als antisemitisch zu argumentieren, auch wenn sie in der Mehrzahl der festen, subjektiv wohl ehrlichen Meinung sind, sich peinlich vom Radau-Antisemitismus distanzieren zu können. Ein letztes, interessantes Beispiel dafür ist die Debatte, die im Herbst 1910 in der „Allgemeinen Musikzeitung" entbrannte, im Anschluß an eine Kritik, die Paul Ehlers zur Münchner Uraufführung der Achten Symphonie Mahlers geliefert hatte. Eine Kritik war das eigentlich nicht, denn wie Louis verweigert Ehlers im Grunde die ernsthafte Auseinandersetzung und sinnt nur dem seltsamen Phänomen nach, warum ihn der ganze äußere Aufwand so kalt gelassen habe (der Beiname „Symphonie der Tausend", der nicht von Mahler stammte und sich auf die über 1.000 Mitwirkenden bezog, die durch die riesige Zahl der Choristen erreicht wurde, war natürlich auch geeignet, antisemitisch fungibel gemacht zu werden). Ehlers beschreibt, wie zwar seine Sinne, nicht aber Herz und Gemüt von dieser Musik und ihrer Ausführung angesprochen worden seien, und daß 20 21
Walter Niemann: Die Musik der Gegenwart. 9.-12. Aufl. Berlin 1920, S. 144ff. Hermann Kretzschmar: Führer durch den Konzertsaal. ί. Abteilung: Sinfonie und Suite. 5. Aufl. Leipzig 1919, S. 793ff.
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letztlich gerade im Orchesterpart der reine Effekt vorherrsche (unter Berufung auf Wagner wird dies natürlich gesagt); vor allem wirft er dem zweiten Teil des Werkes vor, daß hier die „vielfarbige goethische Dichtung in eine allgemeine Gleichheitsdichtung verwischt" worden sei, womit einigermaßen subtil darauf angespielt wird, daß das Judentum zur Erreichung seiner Ziele kosmopolitisch-nivellierend wirken müsse, ,international' eben sei, im Gegensatz zu den nationalen Aufgaben einer deutschen Kunst. Grund für diesen Eindruck, da ist sich Ehlers ganz sicher, ist der jüdische Charakter Mahlers, der gerade weil er eine so feste Persönlichkeit sei, aus seiner Rasse gar nicht heraus könne. 22 Diese Kritik provozierte eine Stellungnahme eines Straßburger Professors namens Holtzmann, der zwar zugab, daß an Mahlers Musik „semitische Züge" festzustellen seien, die jedoch eine ganz untergeordnete Rolle spielten. Darauf fühlte sich Ehlers zu einer grundsätzlichen und umfangreichen Erwiderung provoziert, die vor allem in ihren Zwischentönen alle bekannten Züge jenes .gepflegten' Antisemitismus zeigt, wie er im Wilhelminischen Bürgertum und auch noch in dem der Weimarer Republik sich in indignierter Absetzung vom Antisemitismus des dummen Kerls und des Pöbels gewissermaßen stubenrein gerierte - nur wenige Klarsichtige wie Theodor Mommsen sahen auch hinter ihm die „Gesinnung der Canaille" hervorlugen. Zur Ausstattung dieses gesitteten Antisemitismus gehörte, daß sich Juden unter den „vertrautesten Freunden" befänden, wie Ehlers sagte (Adorno berichtet von einem amerikanischen Freund, der das ironisierte, indem er sagte „some of my worst enemies are Jews"), und daß er gar nicht verstehen könne, wie man beleidigt sein dürfe, wenn man einen Juden einen Juden nenne und an ihm die Charaktermerkmale seiner Rasse feststelle. Von bemerkenswerter Süffisanz dann seine Wiedergabe einer Bemerkung eines angesehenen Münchner Arztes „Hören Sie, ist das ihnen gestern auch aufgefallen, daß so viele Juden da waren? Woran mag das gelegen haben?" und am Schluß seiner Ausführungen gibt Ehlers auf diese Frage auch eine deutliche Antwort: Den Juden fehlt trotz Mendelssohn und Meyerbeer - von den anderen kleineren wollen wir schweigen - noch immer der wirklich überragende Komponist; was wunder, wenn sie ihn in Mahlers energievoller, scharf umrissener Persönlichkeit gefunden zu haben glauben. Er könnte es auch vielleicht werden, wenn er nicht aus dem Judentum herausstrebte, sondern die ganze starke Kraft, die im .Volke Gottes' treibt und wirkt, unverfälscht zusammen zu fassen sucht.23
Es fehlt auch nicht einmal der Hinweis auf den „mächtigen Geheimbund", den das Judentum in der Welt bilde, wo einer dem anderen helfe, 22 23
Allgemeine Musikzeitung Nr. 38 vom 16.9.1910, S. 804f. Allgemeine Musikzeitung Nr. 43 vom 21.10.1910, S. 941.
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wie es geht, und erst wenn die Juden in ihren „Wirtsvölkern" untergegangen sind, werde dieses Problem behoben sein - solange aber habe man wohl das Recht, das Fremdsein gegenüber einer semitisch gefärbten Musik auszusprechen.
III Mendelssohn und Meyerbeer - zu diesen zwei Hauptzielscheiben des Antisemitismus im Musikleben war nun also um die Jahrhundertwende vollgültig eine dritte hinzugetreten, Gustav Mahler. Es ist nun eines der Hauptergebnisse meiner Untersuchung, das angesichts vergleichbarer Ergebnisse in anderen Feldern des Antisemitismus nicht allzu überraschen wird, daß im Musik-Antisemitismus der Weimarer Republik und in dem des Dritten Reiches nirgends neue Argumentationsketten geschmiedet, keine neuen Kampfschauplätze eröffnet werden mußten, um die alt-neuen Vorurteile weiter zu transportieren - mit den Argumenten Wagners und denen der Mahler-Diskussion zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg konnte hervorragend weiter operiert werden. Es mag verwundern, daß bisher der Name Jacques Offenbachs nicht gefallen ist. Und wirklich spielt dieser in der antisemitischen Diskussion um die Jahrhundertwende eine eher geringe Rolle. Dies mag zwiefach erklärt werden: Richard Wagner hat ihn sozusagen kaum eines Blickes gewürdigt. In seiner Autobiographie fällt der Name nur einmal, da allerdings wird Orpheus in der Unterwelt zu einer .Scheußlichkeit' erklärt, aber weder hier noch in Cosimas Tagebüchern gibt es einen antisemitischen Ausfall gegen ihn, dem er dennoch, wie deutlich wird, nur Verachtung entgegenbringt, aber das war offensichtlich eine so andere Klasse, in der Offenbach spielte, daß im Gegensatz zu Meyerbeer keine Konkurrenzängste am Platze waren. Allerdings gestattet sich Wagner in seinen Erinnerungen an Auber einen bösen Seitenhieb gegen Offenbach, wenn er behauptet, der im Pariser Cancan symbolisierte Akt der Begattung sei in der Musik Aubers noch als verdeckter Untergrund spürbar gewesen, während er bei Offenbach bloßliege. Auber sollte seine ganze künstlerische Mühe für vergeblich halten, als er auf jenem so zierlich verdeckten Schmutze jetzt Jacques Offenbach sich behaglich herumwälzen sah. [...] Da ist denn nun allerdings Wärme; die Wärme des Düngerhaufens: auf ihm konnten sich alle Schweine Europas wälzen. 24
24
Richard Wagner: Erinnerungen an Auber. In: Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Leipzig o.J., Bd. 9, S. 56f.
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Die ernsthaften Musikologen und Kritiker der späteren Jahrzehnte sahen ebenfalls keinen Anlaß, sich mit diesem Unterhaltungskomponisten zu beschäftigen - ebensogut hätte man ihnen wohl vorschlagen können, über die Begleitmusik zu Stummfilmen zu schreiben. Das ändert sich in dem Augenblick, in dem der Antisemitismus gewissermaßen flächendeckend vermessen wird. In Theodor Fritschs Handbuch der Judenfrage, seit seinem ersten Erscheinen 1887 (damals noch unter dem Titel AntisemitenKatechismus) das Vademecum des aufrechten Antisemiten, gibt es natürlich auch einen Abschnitt über „Juden in der Musik", und hier wird natürlich auch Offenbach behandelt, der angeblich in puncto Jüdischkeit auch noch Meyerbeer übertroffen habe. 25 Was hätten all die Antisemiten, die sich von Offenbach entrüstet abwandten und sich aufatmend zu den Walzern von Johann Strauß Vater und den Operetten von Johann Strauß Sohn wendeten, wohl gesagt, wenn sie gewußt hätten, daß im Trauungsbuch des Wiener Stephansdomes im Jahre 1762 verzeichnet ist, daß der Bediente Michael Strauß, der da die Rosalie Buschin heiratete, ein getaufter Jud, zu Ofen gebürtig, war, und außerdem der Großvater des Walzerkönigs. Diese Tatsache, der Gestapo nach dem Anschluß bekannt geworden, gehörte zu den bestgehüteten Geheimnissen des Dritten Reiches. 26 Während bei Fritsch 1919 merkwürdigerweise Mahler in den Hintergrund tritt und nur als Name erwähnt wird, wird er substituiert durch den beim breiteren Publikum sehr viel bekannteren Offenbach. Interessant ist auch, daß der Vulgärantisemitismus des Fritsch-Handbuches etwas hervorhebt, das bisher eine eher geringe Rolle gespielt hat, nämlich das Klischee des sinnlichen Juden auf die Musik überträgt: der Reinheit und Keuschheit der blonden Musik des Nordens wird die trübe Sinnlichkeit und hemmungslose Erotik des ,negerblütigen' Juden gegenübergestellt. Auch hier hatte allerdings Wagner Vorarbeit geleistet, wie wir sahen, wenn er Offenbach sich im Sexual-Schmutz wälzen ließ. Ansonsten bei Fritsch vertraute Töne: Am Juden ist alles Oberfläche, alles auf den äußersten Effekt berechnet; es fehlt seinem Wesen die innere Echtheit. Er ist darum der geschickte Kapfiolenmacher, der anderen ihre Eigenheiten ablauscht und sie in Übertreibung verwendet, die jedem feiner Empfindenden auf die Nerven fällt. [...] Als Komponisten sind die Hebräer nirgends Bahnbrecher und Pfadfinder gewesen; sie hielten sich auch hier auf der Mittellinie des Landläufigen und Einschmeichelnden [...] Ein bestimmter spezifisch jüdischer Rhythmus ist vielfach zu erkennen. Ein musikalisch begabter Mann wußte nicht nur alle Meyerbeerschen sondern auch Mendelssohnschen Weisen mit dem charakteristischen Ausdruck des Mauscheins vorzutragen. In dem Rhythmus jüdischer Melodien liegt oft
25 26
Theodor Fritsch (Hrsg.): Handbuch der Judenfrage. 28. Aufl. Hamburg 1919, S. 389ff. Vgl. Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat. Frankfurt/Main 1982, S. 56f.
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unwillkürlich das Herüber- und Hinüber-Wiegen der Schultern, das der Jude im leidenschaftlichen Gespräch annimmt. 27
Zu den Kuriositäten dieses Werkes gehört es, daß in der Aufzählung der jüdischen Musiker auch Enrico Caruso als ,Cohn' entlarvt wird. In der 38. Auflage dieses Handbuches, die 1935 erschien, legte der Musikschriftsteller Hans Koeltzsch Hand an den Abschnitt über das „Judentum in der Musik", wie dieser Abschnitt jetzt unter deutlichster Anspielung auf Wagner heißt, in der 28. Auflage hieß er noch „Musik", vervollständigte die Namenslisten bis zurück zu Süskind von Trimberg und Salomone Rossi, genannt Ebreo, und gab dem Ganzen einen soliden wissenschaftlichen Anstrich - Koeltzsch wirkte übrigens noch Anfang der fünfziger Jahre als Abteilungsleiter einer deutschen Rundfunkanstalt und hatte großen Erfolg mit einem Opernführer. 28 Von Fritschs Handbuch ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu den zwei entscheidenden Handbüchern in unserem Bereich, die im Dritten Reich erschienen, wobei auch hier wieder die Aufteilung der beiden Publikationen in eine radau-antisemitische und in eine ,seriös'-,wissenschaftlich'-antisemitische auffällt. Im Hans Brückner-Verlag München erschien das „Kampfblatt für deutsche Musik" „Das deutsche Podium", gegründet und herausgegeben von Hans Brückner, der auch zusammen mit Christa Maria Rock für die Buchpublikation Das musikalische Juden-ABC verantwortlich zeichnete, das sich von dem, was wir bisher kennengelernt haben, durch einen besonders widerlichen Tonfall und durch eine extreme Judenriecherei' auszeichnet, die sich vor allem in dem Entlarven der ,Tarnnamen' austobt. Das Vorwort Brückners sagt: So möge denn der Jude daran gehen, sich auf seine Kultur und seine Musik zu besinnen. Wir Deutsche sind bereits daran gegangen, ihm die dazu gehörige Zeit zu verschaffen, und wir sind für uns damit beschäftigt, unsere deutsche Musik zurückzuführen zum deutschen Geiste und zu der uns angestammten Art. 29
In längeren Abschnitten werden dann zunächst prominentere Fälle behandelt: Carl Goldmark wird als Kischel Goldmark entlarvt, vom Dirigenten Otto Klemperer wird berichtet, daß er sich in Hamburg „dem Talmud gemäß als Belästiger und Verfolger arischer Frauen" betätigt habe (was auf eine Affäre Klemperers anspielt), über Offenbach heißt es:
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Fritsch, Handbuch der Judenfrage (Anm. 25), S. 391. Koeltzschs Neufassung ist reproduziert in dem vorzüglichen Katalog „Entartete Musik" von Albrecht Dümling und Peter Girth. Düsseldorf 1988, S. 77-86. Das musikalische Juden-ABC von Christa Maria Rock und Hans Brückner. München o.J. (1935), S. 8.
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Er war sehr fruchtbar wie alle Aasfliegen, und hat im Ganzen 102 Bühnenwerke verbrochen. [...] Wir Deutsche können ihn nur Affenbach nennen. Dieser Vielschreiber wurde zum Bänkelsänger der faulen, französischen Wirtschaft, der Unnatur und Verlogenheit, der Sänger der Hetären, Perversen und Liederlichen. Er hat den gesunden, parodierenden, rheinischen Karnevalston ins Jüdisch-Geil-Ungesunde umgefälscht.
Auch Aktuelles wird in diesem Handbuch untergebracht. Von Darius Milhaud heißt es: „Sein quadratischer Schädel mit derbsinnlichen Formen und tückischem Blick verrät ihn ebenso, wie sein echtjüdischer Egoismus." 30 Sehr viel seriöser kommt das Lexikon der Juden in der Musik daher, „mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke. Zusammengestellt im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP, auf Grund behördlicher, parteiamtlich geprüfter Unterlagen bearbeitet von Dr. Theo Stengel, Referent in der Reichsmusikkammer, in Verbindung mit Dr. habil. Herbert Gerigk, Leiter des Amtes Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP." Die Erstausgabe erschien 1940 (Berlin). Ohne auf Einzelheiten einzugehen: Interessant ist an diesem Buche, bereits im Vorwort, die Berufung nicht nur auf Richard Wagner, sondern auch auf zwei Autoren, Richard Eichenauer und Karl Blessinger, deren erste Publikationen in die Zeit der Weimarer Republik zurückreichen und belegen, daß sich in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren ein neuer Schwerpunkt der Diskussion um das Judentum in der Musik entwickelte.
IV Eigentlich ist aber der Begriff der Diskussion hier fehl am Platze, denn es findet sich eine Bezugnahme nur unter Autoren, die im Grundsatz auf einer gemeinsamen Basis stehen. Auf der einen Seite gibt es eine innerjüdische Debatte zwischen zionistischen und assimilatorischen Positionen, auf der anderen Seite arbeiten sich die völkisch-antisemitischen Musikschriftsteller in die Hand, beide Seiten nehmen keine Notiz voneinander. Wichtigstes Zeugnis für die erstere Debatte ist das Buch Heinrich Berls, das kühn genug den Wagnerschen Titel übernimmt: Das Judentum in der Musik, um eine ganz gegenteilige interessante Position einzunehmen, eine zionistische nämlich, von einem Autor, der sich ausdrücklich als Nicht-Ju-
30
Ebd., die Zitate auf den Seiten 19 (Goldmark), 24 (Klemperer), 28 (Offenbach) und 51 (Milhaud).
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de bezeichnet. 31 Das Buch basiert auf einer Reihe von einzelnen Aufsätzen, die in den Jahren zuvor erschienen waren - so hatte Berl durch einen Aufsatz in der Zeitschrift „Der Jude" eine Diskussion entfacht, an der sich Arno Nadel und Paul Nettl beteiligten, dann auch Max Brod, der für sich in Anspruch nehmen konnte, wohl der erste gewesen zu sein, der das Problem der jüdischen Musik offensiv anging, u.a. in einer Folge von Veröffentlichungen in der Prager „Selbstwehr". Während Arno Nadel dezidiert den Assimilationsstandpunkt vertritt, indem er feststellt, daß Meyerbeer französische, Mahler deutsche und Rubinstein russische Musik geschrieben habe (was den Vorwurf nach sich zieht, daß dann ja wieder der Beweis für die nachahmenden Talente der Juden gegeben sei), beharren Brod und Berl darauf, daß bei Mahler und Schönberg jüdische Elemente festzustellen seien. Die radikalste Schlußfolgerung zieht Berl: die jüdische Musik ist eine Musik des Ostens, die per se im Gegensatz steht zur Musik des Westens, und die „jüdische Pseudomorphose", wie er das nennt, habe zu einer „asiatischen Krise" in der europäischen Musik seit der Romantik geführt. Chaos statt Einheit herrsche seitdem, für das Judentum kann das aber nur heißen, daß diese Krise, die ihm von „Wagner und den Folgen" angelastet wird, zum Manifestwerden des eigenen Volkstums führen müsse, das zerstörende orientalische Element müsse das Ideal der ersehnten Einheit werden, die Pseudomorphose durchbrochen werden und dem jüdischen Volk die jüdische Musik entsprechen. Als Verbindungsfigur zwischen älteren Diskussionen um Verfall und Entartung in der Kunst und der antisemitischen Attacke ist Karl Blessinger anzusehen, ein Musikwissenschaftler, der für seine Bemühungen 1935 mit einer Professur an der Münchner Staatlichen Akademie der Tonkunst belohnt wurde. Blessinger gehört in den genannten NS-Handbüchern neben Richard Wagner zu den meistzitierten Autoren; er ist insofern ein interessanter Fall, als er in seinen drei einschlägigen Publikationen eine bemerkenswerte Entwicklung durchmacht. Sein erstes Buch Die Überwindung der musikalischen Impotenz erschien 1927 und knüpfte schon im Titel an Hans Pfitzners berüchtigtes Pamphlet von 1919 Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz mit dem Untertitel „Ein Verwesungssymptom?" an, das großes Aufsehen erregt hatte. 32 Es ist über weite Strecken ein vernünftiges, redlich argumentierendes Buch, das Pfitzner nicht in je31 32
Heinrich Berl: Das Judentum in der Musik. Berlin/Leipzig 1926. Zum Kontext, in dem Pfitzners Polemik steht, vgl. Reinhard Ermen: Musik als Einfall. Hans Pfitzners Position im ästhetischen Diskurs nach Wagner. Aachen 1986. Demnächst auch mein Aufsatz: „Die jüdisch-negroide Epoche". Antisemitismus im Musik- und Theaterleben der Weimarer Republik. In: Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.), Theatralia Judaica. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte von der Lessing-Zeit bis zur Shoah. Symposium der Wemer Reimers-Stiftung Bad Homburg v.d.H. (Mai 1990). Tübingen 1992 (= Theatron Bd. 9). S. 228-243.
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der Windung seiner rabiaten Polemik folgt und ihm auch Ungereimtheiten seiner Argumentation vorhält. Gegen Schluß enthält das Buch ein kurzes Kapitel „Das jüdische Problem", in dem dann allerdings von dem Emporkommen des „geradezu satanischen ostjüdischen Geistes" gesprochen wird - Blessinger bringt es aber immerhin noch fertig, der Argumentation Wagners zu entkommen, wenn er Rahel Varnhagen und Felix Mendelssohn als Beispiele für den positiven Einfluß des sich assimilierenden und akkulturierenden deutschen Judentums anführt; für ihn reduziert sich das jüdische Problem offensichtlich auf das Ostjudenproblem, zu dem er auch Gustav Mahler rechnet. Ihm attestiert er aber ungewöhnliche Tiefe des Empfindens, subjektive Ehrlichkeit seiner Interpretation der deutschen Musiküberlieferung und enormes Können, allerdings auch den höchsten Grad von Impotenz, eine schmierige Empfindungswelt und schließt mit einer Bemerkung, die den tiefenpsychologischen Abwehrmechanismus auf geradezu rührend naive Weise deutlich enthüllt: Mahler habe „Blößen der Seele aufgedeckt, die zu enthüllen der europäische Anstandsbegriff verbietet". 33 Wer Blessinger als führenden NS-Musikwissenschaftler kennt, wird außerdem baß erstaunt sein, in diesem Buch 1927 die Bemerkung zu finden, daß in der Auseinandersetzung des deutschen mit dem jüdischen Problem Selbsterforschung und Selbstkritik mehr bewirken würden als der „Hakenkreuz-Antisemitismus" - ja, er spricht Mahler sogar unbezweifelbares Genie zu, ein Genie allerdings, das mit Unbehagen betrachtet werden müsse. 34 Blessinger scheint nicht damit gerechnet zu haben, daß diese seine Publikation von 1927 allen seinen Lesern noch im Gedächtnis war, als er 1939 ein weiteres Buch vorlegte, diesmal mit dem Titel MendelssohnMeyerbeer-Mahler. Drei Kapitel Judentum in der Musik als Schlüssel zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Spielte Wagner in der Argumentation des früheren Buches so gut wie keine Rolle, so ist hier die Bezugnahme schon im Untertitel deutlich. Blessinger ist inzwischen Professor an der Akademie der Tonkunst in München geworden, außerdem Mitglied des NS-Dozentenbundes und daher von allen guten Geistern verlassen. Sämtliche Distinktionen, die noch die frühere Publikation ausgezeichnet hatten, sind fallengelassen worden, und der Karrierist Blessinger ist zum Hakenkreuz-Antisemitismus umgeschwenkt, den er zuvor noch deutlich abgelehnt hatte. Um dies festzustellen, genügt ein Blick in die Einführung, wo bereits die drei Hauptetappen gekennzeichnet werden, in denen die Umfälschung des übernommenen Kulturgutes durch die Juden vor sich geht:
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Karl Blessinger: Die Überwindung der musikalischen Impotenz. Stuttgart 1927, S. 82. Ebd., S. 80 und 83.
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1.) Das eine organische Einheit bildende arische Kulturgut wird atomisiert, d.h. in Einzelteile aufgelöst, die nicht mehr innerlich, sondern nur noch rein äußerlich-formal zusammenhängen (Epoche Mendelssohn). 2.) Die Einzelbestandteile verschiedenartigster Herkunft werden zu einem bunten Flickwerk ohne tieferen Sinn zusammengesetzt (Epoche Meyerbeer). 3.) Talmudistische Rabulistik und magischer Zauber werden als letzte und höchste Erfüllung arischer Philosophie und Weltschau hingestellt, um die Entwicklung vollends ganz in jüdische Fahrwasser zu lenken (Epoche Mahler). Als Endergebnis dieser dritten Epoche erscheint die völlige Auflösung des Kosmos der abendländischen Tonordnung und seine Ersetzung durch ein Chaos, in welchem sich ein Nichtjude unmöglich zurechtfinden kann. [...] Mendelssohn, der das Zerstörungswerk eingeleitet hat, erscheint als der Typus des sogenannten Assimilationsjuden. Meyerbeer, der mächtigste Mann der zweiten Etappe, ist der skrupellose Geschäftsjude; Mahler, der Beherrscher des dritten Stadiums, stellt den fanatischen Typus des ostjüdischen Rabbiners dar. 35 Seinen tristen Höhepunkt findet die Entwicklung eines deutschen Musikgelehrten dann in der erweiterten und neubearbeiteten Auflage des Buches von 1939, das unter dem neuen Titel Judentum und Musik. Ein Beitrag zur Kultur und Rassenpolitik noch in letzter Minute 1944 erschien, gewissermaßen das allerletzte, das die deutsche Musikpublizistik zum Thema offen sagen konnte (verdeckt sagte sie noch sehr viel länger etwas dazu). Blessinger benutzt die Neubearbeitung dazu, um vor allem zu Beginn und zum Schluß gleichsam das Judentum in der Musik einer „Endlösung" zuzuführen. Wo vormals von Umfälschung die Rede war, heißt es jetzt „Zerstörung und Zersetzung", das musikalische Judentum „leistet Wühlarbeit", „nistet sich ein" und ist natürlich „parasitär". Das Buch schließt mit den Worten: Wenn nun die vorliegende Schrift nach fünf Jahren des zweiten großen, von Juda herbeigeführten Weltkrieges in neuer Gestalt an die Öffentlichkeit tritt, dann geschieht dies nicht nur im Zeichen eines allen Feinden zum Trotz sich behauptenden deutschen Kulturwillens, sondern vor allen Dingen auch im Zeichen des Nachweises eines Teiles der ungeheuerlich großen Schuld, die Juda unserem Volke gegenüber auf sich geladen hat, und endlich im Zeichen des großen politischen Genius, der wie überall, uns auch auf unserem Gebiet klar blicken lehrte, unseres Führers.36 Karl Blessinger war die eine Gallionsfigur der NS-Musikpublizistik, Richard Eichenauer die andere; auch die Wurzeln seiner Bedeutsamkeit liegen noch in der Weimarer Republik, wenn auch am anderen Ende. Um der auch in diesen trüben Bereichen notwendigen Differenzierung willen 35
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Karl Blessinger: Mendelssohn-Meyerbeer-Mahler. Drei Kapitel Judentum in der Musik als Schlüssel zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Berlin 1939, S. 13. Karl Blessinger: Judentum und Musik. Ein Beitrag zur Kultur- und Rassenpolitik. Berlin 1944, S. 156.
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soll gesagt werden, daß Eichenauer auf einer anderen Basis steht - er versucht, die europäische Musikgeschichte als Rassengeschichte zu schreiben und schließt sich dabei an die Rassenlehre H.F.K. Günthers an, der ihm noch den Gefallen tat, unter sämtliche Komponistenporträts seines Buches rassische Beurteilungen zu setzen (vorderasiatisch-orientalisch-dinarisch-nordisch usw.). Erstaunlich ist die zwiespältige Toleranz, die es Eichenauer ermöglicht, die „Echtheit seines Seelenlebens" im Lied von der Erde Mahlers anzuerkennen, wenn auch er jedoch nicht an der Gefährlichkeit des jüdischen Einflusses zweifelt. 37
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Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, hat sich auch in der Geschichte des Antisemitismus etwas geändert. Der Mord an den europäischen Juden hat auch in dieser Beziehung nichts so hinterlassen, wie es gewesen war. Der moderne RassenAntisemitismus, wie er über fast ein Jahrhundert hinweg hof- und gesellschaftsfähig war, wie er im Programm von politischen Parteien auftreten konnte, darf so sich nicht mehr äußern. Natürlich gibt es ihn noch, weltweit, in allen Schattierungen vom dumpfen Vorurteil bis zum Mittel im politischen Tageskampf, von der Schändung jüdischer Friedhöfe bis zu mißverständlichen Politikerbemerkungen, auch in der Bundesrepublik, das muß hier nicht näher erläutert werden. Was nun unser Thema der Musikpublizistik betrifft, so ist auch da klar, daß Bücher wie die von Blessinger und Eichenauer, daß ein Handbuch der Judenfrage mit einem Abschnitt über das Judentum in der Musik nicht mehr erscheinen kann. So aber, wie sich der Antisemitismus heute bei uns camoufliert äußern muß und dies auch tut (die Fälle, in denen er unverhohlen und unverschämt auftritt, machen dann doch erfreulicherweise negative Schlagzeilen), so ist sein Weiterwirken auch in unserem Bereich für das aufmerksame Auge und für das geschulte Ohr nicht zu übersehen. Wer Gelegenheit hat, in den internationalen Musikbetrieb hineinzuhorchen, nicht in seine offiziellen Verlautbarungen, sondern in die beiläufigen Bemerkungen der Pausengespräche und Kaffeehausflüstereien, kennt sie, die mokanten Bemerkungen über die mafiose Rolle der Schwulen und der Juden (wenn beide Minderheiten-Stigmata erst zusammentreffen!). Man glaube nicht, daß für einen Teil der Wagnerianer gut erträglich ist, daß Dirigenten jüdi37 38
Richard Eichenauer: Musik und Rasse. München 1932, S. 273. Vgl. dazu Klaus-Henning Rosen: Vorurteile im Verborgenen. Zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. In: Herbert A. Strauss/Norbert Kampe (Hrsg.), Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Frankfurt/Main/New York 1985, S. 256279.
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scher Abkunft wie Barenboim und Levine in Bayreuth das musikalische Szepter schwingen. Als James Levine zum ersten Mal bei den Bayreuther Festspielen den Parsifal dirigierte, kursierte (bei historisch Gebildeten zumindest) das Witzwort: „Wer dirigiert diesmal den ,Parsifal'? Levi? - Ne - Levine". Auf diese Weise wurden der von Wagner gepiesackte jüdische Uraufführungsdirigent des Parsifal Hermann Levi und James Levine in eine unheilige Allianz gebracht. Als der Tenor Siegfried Jerusalem zum ersten Mal in Bayreuth den Siegmund in der Walküre sang, da gab es fröhliches Gelächter, wenn es hieß, der nächste Tenor für die Rolle des Siegfried hieße denn wohl Moische Nothung (Nothung heißt das Schwert Siegfrieds). Beides sind Scherze, die nicht böse oder aggressiv gemeint sind, die aber doch, wenn sie hier und heute gemacht werden, von einem augenzwinkernden antisemitischen Unterton nicht ganz frei sind. Ein eigenes, nach meinem Eindruck äußerst fruchtbares Thema wäre es, den unterschwelligen Antisemitismus während der sogenannten Mahler-Renaissance der späten fünfziger und sechziger Jahre zu untersuchen. Auf ein Beispiel, Rudolf Bauers weitverbreiteten Konzertführer von 1955, habe ich hingewiesen, weitere Beispiele ließen sich mühelos finden, allerdings mit stark abnehmender Tendenz. Die Bedeutung Mahlers ist heute so allgemein anerkannt, daß sich Publikationen, die solche manifesten Vorurteile enthalten, nicht mehr rechtfertigen könnten (auf einem anderen Blatt steht die Haltung eines Teils des Konzertpublikums). Die Kehrseite dieser Entwicklung ist es, daß es bei uns keine unbefangene Diskussion darüber gibt, ob es bei Mahler überhaupt Spuren jüdischer Volksmusik gibt, ein Aspekt, zu dem sich Leonard Bernstein geäußert hat. Ein durchaus vergleichbarer Prozeß läuft in erheblich kleinerem Maßstab zur Zeit im Falle des Opernkomponisten Franz Schreker ab. 39 Durch neue Gesamtaufnahmen und Aufführungen seiner Werke auch an großen Bühnen wird dieser einst so immens erfolgreiche Mann wieder in die Diskussion gebracht, der noch zu seinen Lebzeiten vor 1933 Zielpunkt antisemitisch gefärbter Hetze und Polemik war. Im Vergleich mit Mahler wird man im Falle Schrekers noch nicht von einer Renaissance sprechen können, aber um rund zwanzig Jahre zeitversetzt werden jetzt erst zählebige Vorurteile aussortiert. In einem der verbreitetsten deutschen Opernführer, dem von Rudolf Kloiber, konnte man noch in der vorletzten Auflage von 1978 folgendes über Schreker lesen (in einem Anhang, in dem die unwichtigen Opernmeister untergebracht waren): „Komponist von zeitweise erfolgreichen Opern (meist verschwommene, von krankhafter Erotik handelnde Texte) mit einem eklektischen, farbenreichen, vielfach aber überla39
Zur Schreker-Rezeption vgl. meinen Beitrag: Franz Schreker - Autor und Komponist. Zur Neubewertung eines einst Erfolgreichen. In: J.M. Fischer, Oper - das mögliche Kunstwerk. Beiträge zur Operngeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Salzburg 1991, S. 187-210.
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denen Stil." 40 In diesem einen, hingeworfenen Satz sind gleich zwei der zentralen Vorwürfe gegen das .Judentum in der Musik' enthalten, wie sie Richard Wagner für alle seine Nachbeter vorformuliert: die niedrige Sinnlichkeit (die Wagner an Offenbach so aufbrachte) und der Eklektizismus. Von diesem Opernführer des Jahres 1978 (in einer Taschenbuchausgabe weit verbreitet) ist es ein bemerkenswert kleiner Schritt zurück zu einem Artikel des Jahres 1938, in dem es einst hieß: „Die Leitung der staatlichen Hochschule für Musik in Berlin lag in den Händen des Rassemischlings Franz Schreker, der mit seinen überspannten und perversen Opern die Volksseele vergiftete." 41 Die erschreckende Kontinuität solcher .Argumente' hat vielerlei Gründe, die hier im einzelnen nicht mehr untersucht werden können. Der wichtigste ist sicher die personelle Kontinuität zwischen Drittem Reich und Nachkriegsdeutschland, in allen wesentlichen Bereichen und natürlich auch in der Musikwissenschaft und Musikbelletristik. Sogar von einem der am schwersten belasteten Autoren, dem Mitherausgeber des Lexikon der Juden in der Musik, Herbert Gerigk, kann der Musikfreund auch heute noch ein Sachwörterbuch der Musik käuflich erwerben (es wird im Bereich des Modernen Antiquariats vertrieben). Der Publizist Otto Schumann hatte noch 1940 in seiner Geschichte der deutschen Musik die offizielle Linie, z.B. über Mendelssohn, stramm vertreten und konnte nahtlos mit Schumanns Opernbuch nach dem Krieg einen Bestseller im Heim des deutschen Opernabonnenten piazieren, in dem (ebenfalls wie bei Kloiber im Anhang) unter anderen Franz Schreker und Kurt Weill behandelt wurden. Schrekers Ziel war es, so lernte man aus diesem Handbuch, „Sinnlichkeit auf den niedersten Stufen darzustellen [...] (er wollte anscheinend Sexualpsychoanalyse treiben, hätte jedoch künstlerisch einer psychoanalytischen Behandlung bedurft). [...] Dem Verzicht auf feste sittliche Maßstäbe entspricht sein Mangel an musikalischer Substanz, dem Verantwortung sfreien Tun und Denken entspricht sein Klangrausch [...]". Im Falle Kurt Weills verurteilt Schumann emphatisch dessen angeblichen Versuch „mit Mitteln des Vorstadtkabaretts, unverdauter Sozialkritik, frechen Songs, gefühlskalten Musikformeln und plärrendem Jazz" die Oper reformieren zu wollen. 42 An all diesen Zitaten, die nun nicht weiter kommentiert werden müssen, ist nicht so sehr erstaunlich, daß sich unverbesserlicher NS-Jargon bei seinen Urhebern nicht hat austreiben lassen, er40
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Rudolf Kloiber: Handbuch der Oper. 2 Bde. 9. Aufl. München 1978, S. 858. Wulf Konoid hat in seiner Neubearbeitung dieses Buches diese und andere Merkwürdigkeiten getilgt. Das Zitat stammt aus einem Artikel Rudolf Sonners in der Zeitschrift "Die Musik" vom Mai 1938. Zitiert wird nach der Dokumentation Joseph Wulfs: Musik im Dritten Reich. Reinbek b. Hamburg 1966, S. 414. Otto Schumann: Schumanns Opembuch. 9. Aufl. Wilhelmshaven 1954, S. 769ff.
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staunlich ist eigentlich nur, vielleicht auch nur bezeichnend, daß sich solche Formulierungen (neben Rudolf Bauer, Rudolf Kloiber und Otto Schumann bieten die vergleichbar erfolgreichen Opern- und Konzertführer von Hans Koeltzsch und Hans Schnoor weiteres Anschauungsmaterial) hunderttausendfach verkaufen ließen, ohne daß es Proteste gegeben hätte. Wieviel Schaden solche gestanzten Formulierungen bei unvorbereiteten oder unaufgeklärten Lesern angerichtet haben, Iäßt sich nur ahnen, nicht beziffern. Leonard Bernstein hat in einem Fernsehinterview einmal über seine innige Verbindung mit den Wiener Philharmonikern gesprochen. Er verzichtet aber auch nicht auf die Erwähnung eines ihn sehr bestürzenden Erlebnisses, nämlich die bösen Bemerkungen eines oder mehrerer Orchestermitglieder, als er begann, mit ihnen einen Mahler-Zyklus zu erarbeiten - daß diese Bemerkungen eine antisemitische Komponente hatten, darüber ließ Bernstein nicht im Unklaren. Daß der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem einst Wagners Judentum in der Musik kroch, darüber kann kein Zweifel bestehen; wenn der Philharmoniker-Abonnent abschätzig meint, daß in der Symphonik Mahlers doch alles .geklaut', aus zweiter Hand sei, dann weiß er meist nicht, in welcher Tradition er steht, dennoch setzt er sie fort.
Hanni Mittelmann (Jerusalem)
Expressionismus und Judentum
Die herrschende Literaturrichtung wird nun der Expressionismus, den man, wie erwähnt, öfter einfach als jüdisch bezeichnet hat - das geht zu weit, aber daß die jüdische Aufgeregtheit, Schreierei und Stammelei bei ihm eine große Rolle gespielt hat, ist nicht zu bestreiten. Überhaupt tritt das Judentum gerade bei der jüngsten Entwicklung unserer Dichtung sehr in den Vordergrund, es scheint die führenden Dichter zu liefern, während es früher doch nur die Reklamemacher und geschickten Ausnutzer stellte.1
Die differenzierte Skala literarischer Ausdrucksweisen in der expressionistischen Literatur bestimmten .rassischen' Faktoren zuzuschreiben, wie es „der im Irrgarten der deutschen Literatur herumtaumelnde Pogromdepp" (Kurt Tucholsky) 2 Adolf Bartels in seinem antisemitischen Pamphlet Jüdische Herkunft und Literaturwissenschafp versucht hat, ist einer unvoreingenommenen Literaturgeschichtsschreibung nicht mehr möglich. 4 Der große Anteil jüdischer Autoren an der Literatur des Expressionismus ist dagegen durchaus nachweisbar und unbestreitbar. So bestätigt Hans Tramer in Der Expressionismus. Bemerkungen zum Anteil der Juden an einer Kunstepoche, daß „ungefähr die Hälfte der Schriftsteller und Publizisten, die man dem Expressionismus zurechnen kann, [...] jüdischer Herkunft waren". 5 Walter Benjamin sprach zu seiner Zeit von einer „Wortführerschaft jüdischer Schriftsteller und Dichter im Expressionismus", 6 während Moritz Goldstein 1912 in seinem Aufsehen erregenden Kunstwartartikel „Deutsch-Jüdischer Parnaß" behauptete: „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und Fähigkeit dazu abspricht." 7
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Adolf Bartels: Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft. Leipzig 1925, S. 148. Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke. Reinbek 1975. Bd. 3, S. 147. Siehe Anm. 1. Vgl. Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.): Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Königstein/Ts. 1985, S. 41. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 2 (1958), H. 5, S. 33. Vgl. Walter Benjamin: Juden in der deutschen Kultur. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M 1980. Bd. II, 2, S. 807-813, hier S. 813. In: Kunstwart, XXV, 11, 1. Märzheft 1912, S. 292.
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Das Maß der Mitwirkung jüdischer Dichter und Intellektueller an der expressionistischen Bewegung sollte wohl weder überschätzt noch unterschätzt werden. In seinen maßgeblichen Analysen deutsch-jüdischer Kulturbeziehungen in der Wilhelminischen Ära bestätigt zwar Peter Gay: „Jewish apologists and anti-Semites were right to note that in those years Jews entered the cultural market in striking numbers." 8 Zugleich aber stellt er den Anteil jüdischer Dichter an der expressionistischen Bewegung in eine notwendige, breitere soziokulturelle Perspektive: Jewish literary expression conformed quite closely to the general pattern of German culture. Jewish writers, much like Jewish professors, stationed themselves across the social, political and stylistic map. Many of them were perfectly traditional and rejected in their creative as in their critical work the experimental modes which Expressionists of all descriptions were beginning to employ around 1900. 9
Um also eine Antwort darauf zu finden, warum gerade die expressionistische Bewegung einen so relativ hohen produktiven Anteil jüdischer Autoren aufzuweisen hatte, sollte man nicht, wie es oft versucht wurde, nach „dispositionellen Affinitäten" zwischen Judentum und der radikalen Systemkritik des Expressionismus suchen, 10 da man sich damit auf eine eher spekulative Ebene begibt. Vielmehr sollte man sich zunächst an die soziale Tatsache halten, daß „die vollzogene Gleichstellung der Juden in Gesellschaft und Kultur und [die] damit verbundene Horizonterweiterung eine Fülle von Talenten hervorgebracht hat" 11 und daß Juden als Intellektuelle dem Zentrum des sich im Expressionismus vollziehenden deutschen Kulturwandels so nahe wie irgend möglich waren. 12 Weiterhin aber sollte man die Rolle der jüdischen Intelligenz im Expressionismus aus der gesamtgesellschaftlichen Krisensituation der Zeit heraus zu begreifen versuchen sowie aus dem Spannungsgefüge von Assimilation und Isolation, Antisemitismus und Zionismus, in dem das deutsche Judentum sich damals befand. Die zu Anfang des 20. Jahrhunderts sich vertiefende Krise des Liberalismus, die die industrielle Umwandlung der noch an vorindustriellen Werten haftenden Gesellschaft gezeitigt hatte, wirkte in zunehmendem Maße verunsichernd auf die fortschrittliche Intelligenz Deutschlands, die eine den modernen Erfordernissen angepaßte größere geistige Freiheit for-
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Peter Gay: Freud, Jews and other Germans. Masters and Victims in Modernist Culture. New York 1978, S. 154. Ebd. S. 133. Michael Stark: Für und wider den Expressionismus. Die Entstehung der Intellektuellendebatte in der deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart 1982, S. 277. Im Zeichen Hiobs (Anm. 4), S. 34. Vgl. Peter Gay (Anm. 8), S. 8.
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derte. Die Intellektuellen wurden zusammen mit den in Handel und Finanz vertretenen Juden, die den Übergang in die kapitalistische Marktwirtschaft leichter geschafft hatten als die anderen Sozialgruppen, zu Widersachern der deutschen Gesellschaft gestempelt. 14 In der Überlagerung zweier Feindbilder wurde dabei der jüdische Intellektuelle' zur besonderen Personifikation der ,Destruktivität' der Moderne. Die sogenannte .Judenfrage' wurde also in der sozialen und kulturellen Krisensituation der Zeit wieder neu belebt und mit „antiliberaler und antiemanzipatorischer Stoßrichtung"15 wieder aufgenommen. Das deutsche Judentum wurde von neuem in eine Verteidigungsposition gedrängt und sah sich zutiefst erschüttert in seinem Vertrauen auf die bisher erreichten Errungenschaften der Emanzipation. Gezwungenermaßen begann damit die erneute Auseinandersetzung mit Fragen der jüdischen Identität wie auch eine kritische Befragung des herrschenden sozialen Systems und seiner Werte und Traditionen, die ihre integrative Fähigkeit verloren zu haben schienen. Das Gefühl der existentiellen Gefährdung und der Entfremdung, das sich vor allem unter der intellektuellen Schicht des deutschen Judentums verbreitete, koinzidierte mit dem Bewußtsein einer zunehmenden gesellschaftlichen Isolation und politischen Ohnmacht der deutschen Intellektuellen nicht-jüdischer Herkunft. So schrieb Otto Flake in einer Rezension: „Wir Intellektuellen teilen im jetzigen Deutschland das Los der Juden, außerhalb zu stehen, geistig heimatlos zu sein, keine Gemeinschaft mit dem zu haben, was als nationales Denken gilt." 16 So wie die expressionistische Avantgarde ihre eigene mangelnde gesellschaftliche Anerkennung und Außenseiterposition „in der Marginalisierung und zunehmenden Ver1Π femung des Juden" exemplarisch dokumentiert sehen konnte, so sahen die avantgardistischen Dichter jüdischer Herkunft ihre Vereinzelungserfahrungen als Juden in dem Isolationsgefühl des künstlerisch-Kreativen widergespiegelt. So schrieb Alfred Wolfenstein: „Der Dichter ist der unter die Völker verstreute [...] der Verbannte. Er ist, heute zumal, der un-
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Siehe dazu: R. Hinton Thomas: Das Ich und die Welt. Expressionismus und Gesellschaft. In: Wolfgang Rothe (Hrsg.), Expressionismus als Literatur. Bem, München 1970, S. 19ff. Siehe dazu: Werner Jochmann: Akademische Führungsschichten und Judenfeindschaft in Deutschland 1866-1918. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. v. Hans Otto Horch u. Horst Denkler. Teil II. Tübingen 1989, S. 13. Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1975, S. 89. Otto Flake: Die großen Worte. In: Der neue Merkur 4 (1920/21), S. 72. Zitiert nach Stark (Anm. 10), S. 276. Stark (Anm. 10), S. 274.
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gewiß wohnende unter Fremden." 18 Das „intentionale Außenseitertum des von der Gesellschaft weitgehend ignorierten Künstlers" fiel also „mit dem existentiell empfundenen Außenseitertum des um gesellschaftliche Integration gebrachten jüdischen Fremdlings in der eigenen Person zusammen." 19 Im wesentlichen schienen sich den Juden folgende Möglichkeiten zur Lösung der .Judenfrage' anzubieten: die verstärkte Assimilation an das national-feudale Kaiserreich, das Aufgehen in der sozialistischen Bewegung mit ihrem breit angelegten emanzipatorischen Programm oder der kulturelle Separatismus, wie ihn sowohl das orthodoxe Judentum wie auch der Zionismus als Lösungsmöglichkeit anboten. 20 Diejenigen der jüdischen Intellektuellen, die die politische Etikettierung des Sozialismus und die identitätsverleugnende Assimilation ebenso ablehnten wie die jüdische Orthodoxie und den Zionismus, fanden in der expressionistischen Bewegung, die politisch und sozial neutral war, ihre Heimat - schien doch die jüdische Problematik eins zu sein mit der der jungen expressionistischen Avantgarde (wenn auch die Wurzeln durchaus verschieden waren) und schienen doch die Lösungsmöglichkeiten, mit denen die Expressionisten auf die kulturelle Krise reagierten, auch eine Antwort auf die sogenannte ,Judenfrage' zu bieten. In den Zielsetzungen und Aspirationen der expressionistischen Bewegung fanden also die jüdischen Intellektuellen mannigfaltige Identifikations- und Projektionsmöglichkeiten, was im folgenden an einigen weiteren Beispielen gezeigt werden soll. Im expressionistischen Aufstand gegen die Werte und Traditionen der Vätergeneration, die „die kreative und subversive Potenz der Jungen zu domestizieren versuchte", 21 konnte die junge jüdische Intelligenz ihren eigenen Generationenkonflikt identifizieren und ihre eigenen Auseinandersetzungen mit jüdischer Identität und Fragen des Judentums einbringen. Völlig säkularisiert und weitgehend akkulturiert, stand sie in einem gebrochenen Verhältnis zur jüdischen Tradition, die ihnen durch die rabbinischen Interpretationen vollends ihrer sozialen, ethischen und spirituellen Relevanz entleert zu sein schien und ihren gegenwärtigen Bedürfnissen nicht mehr genügte. Sie wehrten sich gegen das ihnen von der Gesellschaft wie von der jüdischen Gemeinschaft aufgezwungene Rollenverständnis und trugen, ohne auf die Bedenklichkeiten der Älteren Rücksicht zu nehmen, ihre Konflikte in aller Öffentlichkeit aus. Damit gerieten sie 18 19 20
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Alfred Wolfenstein: Jüdisches Wesen und neue Dichtung. Berlin 1922, S. 10. Stark (Anm. 10), S. 276. Siehe dazu John Milfull: Marginalität und Messianismus. Die Situation der deutsch-jüdischen Intellektuellen als Paradigma für die Kulturkrise 1910-1920. In: Bernd Hüppauf (Hrsg.): Expressionismus und Kulturkrise. Heidelberg 1983, S. 147-158. Armin A. Wallas: Texte des Expressionismus. Der Beitrag jüdischer Autoren zur österreichischen Avantgarde. Linz-Wien 1988, S. 280.
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noch in eine zusätzliche Isolation innerhalb der weitgehend konservativ ausgerichteten jüdischen Gemeinschaft, die sie als „intellektuelle Nestbe99
schmutzer" diffamierte. Die soziale Isolation ebenso wie die metaphysische Orientierungslosigkeit, unter der nicht nur die jüdische Intelligenz, sondern die gesamte expressionistische Avantgarde litt, fand ihren Ausdruck im Ruf nach einer Gemeinschaft, die sich allein auf die Gemeinschaftlichkeit des Geistes und der künstlerischen Kreativität gründen sollte. Zugleich wurde damit auch den herrschenden nationalistischen Idolatrien und rassenideologischen Verkürzungen der Kampf angesagt. So proklamierte Kasimir Edschmid in einem seiner frühen Manifeste: Verwandtschaft ist nicht begrenzt. Tradition im letzten Sinn nicht national oder an Geschichte einer Zeit gebunden. Nein, überall ist das Verwandte, der Ansatz das gleiche, wo eine ungeheure Macht die Seele antrieb, mächtig zu sein, das unendliche zu suchen, und das letzte auszudrücken, was Menschen schöpferisch mit dem Universum bindet.23
Im gleichen Sinn formulierte Arnold Zweig: „Geist ist mächtiger als Blut, und Schicksal ist von formenderer Gewalt als Abstammung und Geburt. Im Bereich des Geistes und der Kunst konnten also die Bindungslosen jüdischer und nicht-jüdischer Herkunft die Bindung und Gemeinschaft finden, die ihnen die Gesellschaft nicht gewähren konnte. Auch die von Martin Buber Anfang des 20. Jahrhunderts mitbegründete „jüdische Renaissance-Bewegung" versucht dieser in einer zunehmend entfremdeten Wirklichkeit um sich greifenden Sehnsucht nach Gemeinschaft Rechnung zu tragen. Bubers kulturzionistische Bewegung versuchte dabei, die besonderen jüdischen Bedürfnisse zu adressieren. Durch eine breitangelegte humanistische Interpretation jüdischer Religionstraditionen versuchte er das jüdische Selbstbewußtsein zu stärken und das jüdische Zusammengehörigkeitsgefühl neu zu beleben. Die Bewegung fand denn auch zunächst großen Anklang unter der jüdischen Intelligenz in Berlin, Wien und Prag. Doch die zunehmend separatistische und politische Ausrichtung, die die zionistische Bewegung gegenüber den verschärften Angriffen auf das deutsche Judentum annahm, stieß bald auf Ablehnung in weiten Kreisen der jüdischen literarischen Intelligenz, wie unter anderem aus der „Kunstwartdebatte" des Jahres 1912 zu ersehen ist. 25 Λ
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Stark (Anm. 10), S. 274f. Kasimir Edschmid: Über den dichterischen Expressionismus. In: Frühe Manifeste. Epochen des Expressionismus. Hamburg 1957, S. 39. Arnold Zweig: Juden und Deutsche. In: Der Jude 2 (1917/18), S. 205. Siehe dazu Hanni Mittelmann: Die Assimilationskontroverse im Spiegel der jüdischen Literaturdebatte am Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses. Göttingen 1985. Bd. 5, S. 150-161.
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Die expressionistische Utopie von der „Gemeinschaft des Geistes" und der „Menschheitsverbriiderung" im Zeichen der Kunst, die „über konfessionelles hin das letzte streng gerichtet Rechte will", 26 erlaubte den akkulturierten jüdischen Autoren deutscher Sprache, im Kreise von Gleichgesinnten an der Umstrukturierung der deutschen Gesellschaft zu einer humanistischen Gemeinschaft mitzuwirken, was ihren Interessen weit eher entsprach als der kulturseparatistische Kurs der zionistischen Ideologie. Letzten Endes schien der universale Aspekt der expressionistischen Utopie für viele weit mehr der jüdischen Tradition zu entsprechen als der Zionismus. So führt Efraim Frisch aus: „Die Einheit des menschlichen Geschlechts, der Glaube an jene Vollendung in der Zukunft, ist eine Konzeption der Propheten, und in weiterer Folge ist der Universalismus [...] eine religiöse Kategorie, die in der [jüdischen] Tradition verankert ist." 27 Nach dem Ersten Weltkrieg gewann die expressionistische Leitidee von der Menschheitsverbriiderung für die jüdischen Expressionisten noch zusätzliches Gewicht, da der nationalistische Wahn, der diesen Krieg ausgelöst hatte, vielen die zionistische Idee nun völlig suspekt erscheinen ließ. So schreibt Albert Ehrenstein zum Thema Zionismus: Die blutige Polemik zwischen den mehr und weniger demokratisch geschminkten Warenhäusertrusts und Plutokratien Europas könnte gezeigt haben, wohin der Mißbrauch nationalen Gefühls und der Besitzwut führen mußte. [...] Es gibt eine höhere Dienstpflicht als die allgemeine, nationale, konfessionelle, wirtschaftliche. Das Reich des Menschen auf Erden wird nicht dadurch näher gebracht, daß sich eines der wenigen denkfähigen Völker „selbstständig" macht, im engsten Weltbezirk wie die andern Völkerkommis etabliert, sich bodenständig lokalisiert, separatistisch vertempelt - verkircht: verkriecht.28
Das bereits im Frühexpressionismus ausgedrückte Humanitätsverlangen gewann in den turbulenten Nachkriegsjahren eine besondere Dringlichkeit. In den verschärften nationalistischen und rassistischen Tendenzen der Nachkriegszeit sahen jüdische wie nichtjüdische Intellektuelle und Künstler eine gemeinsame Gefährdung. Die Notwendigkeit einer auf öffentliche Wirksamkeit bedachten .aktivistischen' Umorientierung der expressionistischen Bewegung, die sich bisher weitgehend auf eine ästhetische Revolte beschränkt hatte, wurde nicht nur der jüdischen Intelligenz klar. Hatte Heinrich Mann bereits 1910 zu einer Verbindung von Geist und Tat29 aufgerufen, so lieferte nun Ludwig Rubiners ebenfalls früh ver26 27
28 29
Kasimir Edschmid: Über die deutsche Jugend. In: Frühe Manifeste (Anm. 23), S. 21. Efraim Frisch: Zum Verständnis des Geistigen. Essays. Hrsg. und eingeleitet von Guy Stern. Heidelberg 1963, S. 221. Albert Ehrenstein: Zionismus. In: Menschen und Affen. Berlin 1926, S. 47. Heinrich Mann: Geist und Tat. In: Pan 1 (1910/11), Nr. 5 (1. Januar).
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öffentlichtes Manifest Der Dichter greift in die Politik30 den Slogan für den sogenannten politischen Expressionismus. Im politisch verstandenen ethischen Engagement der Expressionisten die bürgerliche Gesellschaft im Sinne der humanistischen Ideale der französischen Revolution neu zu konstituieren, fanden Juden wie Nichtjuden ihr gemeinsames Ziel. So heißt es im Manifest der Novembristen vom Frühjahr 1919: Wir stehen auf dem fruchtbaren Boden der Revolution. Unser Wahlspruch heißt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Unser Zusammenschluß erfolgte aus der Gleichheit menschlicher und künstlerischer Gesinnung. Wir betrachten es als unsere vornehmste Pflicht, dem sittlichen Aufbau des jungen freien Deutschland unsere besten Kräfte zu widmen. 31
In der Flut der nach dem Kriege erschienenen Anthologien und Jahrbücher wie Menschheitsdämmerung, Kameraden der Menschheit, Der Anbruch, Die Erhebung, Ziel und andere mehr, in denen jüdische und nichtjüdische Autoren gleichermaßen zu Wort kamen, wird deutlich, wie sehr sie sich als gemeinsam Ergriffene und Wirkenwollende begriffen. Dabei aber darf das besondere Gefühl der Gefährdung wie der Hoffnung, das die jüdischen Autoren in diesem Kampf um die bürgerlich-humanistischen Ideale bewegte, nicht unterschätzt werden. Darauf weist Alfred Wolfenstein hin: Inmitten des hin und her stoßenden Gedränges ist der Jude am glücklichsten und am unglücklichsten daran. Das alte Ufer gehörte ihm nicht, selbst die Brücke noch nicht. Aber die Bewegung darüber hin ist sein Schicksal. Und das kommende winkt ihm nun so gut wie den andern; er wird es sich erkämpfen. Die Zukunft wird von dem allzu festen Halt am Vaterlande, das der Bürger nach ersessener Zeit, nicht nach den Maßen der Ewigkeit sich zurechnete, schneller forttreiben. Die Starre der Geschichte lockert sich, alles wird von allen neu verdient werden müssen. Und bleibt es die Sendung des Juden, den Boden unter den Füßen nie so sicher wie die andern zu besitzen, die Schicksale werden einander ähnlicher werden. 32
Die Kriegserfahrungen und das politische, soziale und wirtschaftliche Chaos der Nachkriegsjahre lösten bei den jüdischen wie bei den nichtjüdischen Autoren und Künstlern des Expressionismus gleichermaßen Überwindungs- und Erlösungssehnsüchte aus. In ihren Werken verband sich die christliche Tradition eines auf Innerlichkeit gerichteten Messianismus mit dem revolutionären, auf gesellschaftliche Öffentlichkeit gerichteten jü-
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In: Die Aktion 2 (1912), Sp. 645-652 und Sp. 709-715. Zitiert nach Helga Kliemann (Hrsg.): Die Novembergruppe. Berlin 1969, S. 56. Alfred Wolfenstein: Das neue Dichtertum des Juden. In: Gustav Krojanker (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur. Berlin 1922, S. 333.
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dischen Messianismus. In diesen säkularisierten Messiaserwartungen fand wiederum auch die jüdische Sehnsucht nach Überwindung der Isolation in einer Gesellschaft ihren Ausdruck, in der es keine Schranken der Rasse und Religion mehr gibt. Stoffe, Figuren, Motive und Symbole des alten wie des neuen Testaments lieferte jüdischen und nichtjüdischen Expressionisten den paradigmatischen Ausdruck, mit dem sie ihre eigene Lage als Künstler und als Juden sowie die Situation der Gesellschaft erfassen konnten. In den expressionistischen Leitbildern vom ,neuen Menschen' und vom ,neuen Leben' trafen sich sowohl im Pietismus wie im Chassidismus vorzufindende Vorstellungsbereiche. Es schienen sich also in der Tat, wie Alfred Wolfenstein es formulierte, in den Dichtungen der Expressionisten „wie zum Sinnbild einer späten Vereinigung [...] jüdisches Wesen und deutsche Sprache" zu begegnen. 34 Im philosophischen Hauptwerk des Expressionismus Geist der Utopie des jüdischen, atheistischen Philosophen Ernst Bloch mag dabei diese seltene Konfluenz von gemeinsamen Ängsten, Hoffnungen und Geistestraditionen ihren wohl prägnantesten Ausdruck gefunden haben. So charakterisiert denn auch der Theologe Jürgen Moltmann Blochs Werk als eine „Mischung von christlicher Mystik, ostjüdischem Chassidismus und gnostischer Kabbala, vorgetragen im expressionistischen Stile." 35 Noch 1922 artikulierte Alfred Wolfenstein rhapsodisch die jüdischen Hoffnungen, die er in der expressionistischen Bewegung verwirklicht glaubte: Da verlor sich die alte Einsamkeit scheinbar im Schwall der neuen Menschennähe. Vom Jubelgesang bis zum Freiheitsschrei, von der Musik bis zur Politik schien er jetzt nur noch Töne der Gemeinsamkeit zu kennen. Ein Hochwasserstrom kommt ein Jahrhundert lang angeschossen mit schnellsten Gedanken von absoluter Gemeinschaft, von gesicherter Menschlichkeit, von sittlicher und sozialer Freiheit an sich. Er wünscht mit seiner über alle Ufer tretenden Flut neuen Geistes alles gleichmäßig zu bedecken. Der sich bisher so hart von der organisch aufsteigenden Menschheit unterscheiden mußte, will nun den Unterschied überhaupt aus der Welt schaffen und alles miteinander vereinen.36
Es schien in der Tat, als ob mit der expressionistischen Hoffnung auf die Kunst als die große Versöhnerin sich auch die Hoffnungen der jüdischen Intellektuellen erfüllen könnten. Indem das Judentum mit seinen Traditionen im Expressionismus nicht mehr als Gegensatz, sondern als Teil der allgemeinen Kultur empfunden wurde, eröffnete sich für die jüdischen Au33
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Siehe dazu Michael Ossär: Die jüdische messianische Tradition und Ernst Tollers .Wandlung'. In: Im Zeichen Hiobs (Anm. 4), S. 302f. Alfred Wolfenstein, Das neue Dichtertum des Juden (Anm. 32), S. 355. Zitiert nach Ehrhard Bahr: Ernst Bloch. Berlin 1974 (= Köpfe des XX. Jahrhunderts, Bd. 76), S. 27. Alfred Wolfenstein (Anm. 32), S. 338f.
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toren, Künstler und Intellektuellen die Aussicht, als Gleichberechtigte und Ebenbürtige in der deutschen Kultur Aufnahme finden zu können. Statt der bisher von .liberaler' Seite geforderten Lösung der sogenannten Jüdischen Frage' durch Auflösung der jüdischen Existenz bot sich die Möglichkeit einer echten Symbiose, also der Bereitschaft, „den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern". 37 Die Weimarer Republik schien denn auch zunächst die beste Garantie dafür zu bieten, den kosmopolitischen Humanitätsbegriff der Expressionisten einlösen zu können. Doch bereits 1921 hatte Ivan Göll den Abgesang der expressionistischen Bewegung in der Weimarer Republik geschrieben: Expressionismus war eine schöne, gute, große Sache. Solidarität der Geistigen. Aufmarsch der Wahrhaftigen. Aber das Resultat ist leider, und ohne Schuld der Expressionisten, die deutsche Republik 1920. Ladenschluß; Pause. Bitte rechts hinausgehen. Der Expressionist sperrt den Mund auf... und klappt ihn einfach wieder zu. [...] Der „gute Mensch", mit einer verzweifelten Verbeugung begibt sich in die Kulisse. 38
Die Hoffnung der Expressionisten auf den ,neuen Menschen', der jenseits von nationalistischem Denken und antijüdischen Vorurteilen eine auf Freiheit und Gerechtigkeit basierende Gemeinschaft hätte konstituieren sollen, erfüllte sich nicht. Was blieb, war dagegen „jene spießige Kleinbürgerkaste, die sich von den Pyramiden bis über alle europäischen Revolutionen hinaus gleich blieb, und deren konservative Gehirnlosigkeit den Weg ins Heil, in die allen gemeinsame Freiheit zu verzögern und verschleppen" drohte. 39 Was bleibt, sind aber auch die Dichtungen und Kunstwerke, die die „dialogischen Koexistenzbestrebungen deutscher Nichtjuden und jüdischer Deutscher im Expressionismus" 40 dokumentieren und ihn als eine literatur- und kulturgeschichtliche Epoche ausweisen, in der die deutsch-jüdische Symbiose, wenn es denn je so etwas gegeben hat, ihrer Verwirklichung am nächsten kam.
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Gershom Scholem, zitiert nach: Im Zeichen Hiobs (Anm. 4), S. 7. Iwan Göll: Der Expressionismus stirbt. In: Zenit 1 (1921), Nr. 8, Oktober, S. 8. Albert Ehrenstein: Erinnerung. Ms. Var. 306, VIII f, Jewish National & University Library, Jerusalem. Stark (Anm. 10), S. 272.
Klaus Müller-Salget (Bonn)
»Herkunft und Zukunft'. Zur Wiederentdeckung des Judentums in den zwanziger Jahren (Arnold Zweig, Döblin, Feuchtwanger)
Schon der Titel dieses Beitrags ist problematisch. Welches Judentum wurde da entdeckt und Judentum in welchem Sinne? Judentum als Volk, als Religion, als »geistige Lebensform'? Handelte es sich wirklich um eine Entdeckung oder eher um Idealisierung, ja Fiktionalisierung? Und welche Schlüsse wurden gezogen aus dieser .Entdeckung'? Um nicht im Allgemeinen und Uferlosen unterzugehen, halte ich mich in bewußter Einengung des Gesamtspektrums an drei Autoren und gehe aus von drei Büchern, die vielleicht nicht zufällig im gleichen Jahr erschienen sind, im auch sonst bedeutsamen Jahr 1925: Arnold Zweigs Das neue Kanaan, Alfred Döblins Reise in Polen und Lion Feuchtwangers Jud Süß - einer Werbeschrift für Erez Israel, einem Reisebericht, einem Roman. Die drei Autoren kommen aus jüdischen Elternhäusern sehr unterschiedlicher Prägung: Zweig aus einer kleinbürgerlichen, dem Zionismus zuneigenden Handwerkerfamilie in Schlesien, Feuchtwanger aus einer begüterten, schon über Jahrhunderte in Bayern ansässigen, aber streng orthodoxen Familie, während Döblins Großeltern erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts aus der Provinz Posen nach Stettin übergesiedelt waren, seine Eltern sich der jüdischen Religion schon ziemlich entfremdet hatten und die Synagoge nur noch an hohen Feiertagen besuchten. So unterschiedlich wie ihre Herkunft und ihre Verwurzelung in der jüdischen Tradition ist auch ihr Weg zu jener wie immer verstandenen Wiederentdekkung und Rückbesinnung in den zwanziger Jahren gewesen. Feuchtwanger 1 hat die Enge und die Regelhaftigkeit seines orthodoxen Elternhauses als bedrückend empfunden und sich alsbald nach dem Abitur aus dieser Enge zu befreien gesucht. Dem Judentum im weiteren Sinne ist er aber sein Leben lang verbunden geblieben, wovon nicht nur seine zahlreichen Werke mit jüdischer Thematik zeugen. Er war auch der einzige unter den dreien, der das Hebräische beherrschte und sich intensiv in die jüdische Geschichte vertieft hat. Als prototypisch für seine Hal1
Vgl. vor allem die umfangreiche Untersuchung von Arie Wolf: Lion Feuchtwanger und das Judentum. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 1982. H. 61. S. 57-78 und H. 62. S. 55-94.
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tung und auch für sein eigenes Werk mag man den Umstand empfinden, daß er seine germanistische Dissertation von 1907 Heinrich Heines Erzählfragment Der Rabbi von Bacherach widmete, einem fiktionalisierenden Rückgriff also in die Geschichte des Judentums (hier: des DiasporaJudentums), verfaßt von einem der Religion entfremdeten deutschen Juden, der gleichwohl die jüdische Tradition nicht verleugnete. Feuchtwanger hat 1929 von sich selbst gesagt: „mein Hirn denkt kosmopolitisch, mein Herz schlägt jüdisch." 2 Arnold Zweig 3 hatte mit der Orthodoxie von Anfang an nichts im Sinn, neigte dafür einem Gefühlszionismus zu, der seit 1912 durch die Bekanntschaft mit Martin Buber im Sinne eines poetisierenden Neo-Chassidismus eingefärbt wurde. Die jüdische Thematik findet sich bei ihm schon recht früh. Ich nenne die Dramen Abigail und Nabal von 1909 und Ritualmord in Ungarn (späterer Titel: Die Sendung Semaels) von 1913. In den Aufzeichnungen über eine Familie Klopfer (1911) und in der Erzählung Quartettsatz von Schönberg (1915) ließ er den jeweiligen Helden bereits nach Palästina gelangen, den einen freilich dort Selbstmord begehen, den anderen schon nach einem Jahr zurückkehren: Zweigs Ambivalenz zwischen seiner Parteinahme für Erez Israel und seiner starken Bindung an die deutsche Kultur und den deutschen Kulturraum wird hier schon spürbar. 1933, in dem Buch Bilanz der deutschen Judenheit, glaubte er diese Divergenzen noch zusammenbinden zu können, sprach von seiner Haltung „als bewußter Jude und Zionist, europäischer Geistiger und deutscher Dichter." 4 Der Erste Weltkrieg ist für Zweig bekanntlich von einschneidender Bedeutung gewesen. Zum einen brachte er die Wende vom Hurrapatriotismus zum Pazifismus und bescherte ihm das Thema seines Romanzyklus Der große Krieg der weißen Männer; zum anderen begegnete Zweig wäh2
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Lion Feuchtwanger: Über ,Jud Süß". In: Ders.: Centum opuscula. Eine Auswahl. Rudolstadt 1956. S. 388-391. S. 388. Vgl. vor allem die sehr fundierte Untersuchung von Sigrid Thielking: Auf dem Irrweg ins „Neue Kanaan"? Palästina und der Zionismus im Werk Arnold Zweigs vor dem Exil. Frankfurt/Main, Bern, New York, Paris 1990 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 1178); ferner: Arie Wolf: Größe und Tragik Arnold Zweigs: Ein jüdisch-deutsches Dichterschicksal in jüdischer Sicht. London, Worms 1991; Hans-Harald Müller: Zum Problem des jüdischen Dichters in Deutschland. Arnold Zweigs Auseinandersetzung mit dem Judentum 1910-1933. In: Arnold Zweig - Poetik, Judentum und Politik. Akten des Internationalen Arnold Zweig-Symposiums aus Anlaß des 100. Geburtstages. Cambridge 1987. Hrsg. von David Midgley, Hans-Harald Müller und Geoffrey Davis. Bern, Frankfurt/Main, New York, Paris 1989 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Bd. 25), S. 155-170; Arthur Thilo Alt: Zu Arnold Zweigs „Das ostjüdische Antlitz". In: Ebd., S. 171-186; Jost Hermand: „Jetzt wohin?" Arnold Zweigs „Bilanz der deutschen Judenheit" 1933. In: Ebd., S. 202-218; Manuel Wiznitzer: Arnold Zweig. Das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers. Frankfurt/ Main 1987 (= Fischer-Taschenbuch 5665). Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit 1933. Amsterdam 1934. S. 140.
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rend seiner Tätigkeit beim Kommando Ober-Ost in den Jahrenl917/18 zum erstenmal den lebendigen Gemeinschaften des Ostjudentums, die ihn, wie andere, tief beeindruckt haben.5 Schon vorher hatten ihm der im deutschen Heer grassierende Antisemitismus, vor allem die empörende ,Judenzählung' von 1916,6 auf der anderen Seite das im gleichen Jahr erschienene Buch Die jüdische Bewegung von Martin Buber die Problematik der deutsch-jüdischen Existenz wieder besonders deutlich vor Augen gestellt. An Bubers ebenfalls 1916 gegründeter Zeitschrift „Der Jude" arbeitete er von Anfang an mit. Auch die eigene Auswanderung nach Palästina wurde in jenen Jahren immer wieder erwogen, nach dem Krieg aber nicht in die Tat umgesetzt. - Unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution und unter dem Einfluß der Schriften Gustav Landauers radikalisierte sich Zweigs Kulturzionismus im Sinne Bubers zu einem utopischen proletarischen' Zionismus.7 Beim Kommando Ober-Ost lernte Zweig den zionistischen Berliner Graphiker Hermann Struck kennen, der ihn in seiner Bewunderung für das Ostjudentum bestärkte. Inspiriert von 50 Lithographien, die Struck 1918 unter dem Titel Ostjuden publizierte, schrieb Zweig einen Text, der zwei Jahre später, zusammen mit den Steinzeichnungen, unter dem Titel Das ostjüdische Antlitz erschien, 1922 eine zweite Auflage erlebte und 1929 noch einmal, zusammen mit Das neue Kanaan, aber ohne Strucks Bilder, unter dem Titel Herkunft und Zukunft herausgebracht wurde. 8 Als das Buch 1920 erschien, war das Ostjudentum, wie Struck und Zweig es kennengelernt hatten, schon schwer geschädigt. In der Vorrede klagte Zweig die Herrschaft der Polen an als „die Herrschaft des Raubs, der Peitschen und Kolben, der Hinrichtungen und Morde, der spurlos Verschwundenen und in Zuchthäusern Verkommenden",9 und in der Vorrede zur zweiten Auflage fügte er bitter sarkastisch hinzu: „Polen hat sich längst als ein Kulturland herausgestellt: seitdem nämlich Ungarn und Ukraine in grauenhaften Pogromen den Bodensatz militaristischer Niedertracht ans Tageslicht gekehrt haben." 10 Die Existenz des ostjüdischen Vol5
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Vgl. Sander Gilman: The Rediscovery of the Eastern Jews: German Jews in the East, 1890-1918. In: Jews and Germans from 1860 to 1933: The Problematic Symbiosis. Ed. by David Bronsen. Heidelberg 1979. S. 338-365. Vgl. Arnold Zweig: Judenzählung vor Verdun. In: Jüdische Rundschau 21 (1916). Nr. 51. S. 424f. Vgl. Hans-Harald Müller: Zum Problem ... (Anm. 3), S. 162 und Sigrid Thielking (Anm. 3), S. 29f„ 37, 58 u.ö. Arnold Zweig: Herkunft und Zukunft. Zwei Essays zum Schicksal eines Volkes. Mit Bildern von Max Liebermann, Marc Chagall u.a. Wien 1929. Das ostjüdische Antlitz von Arnold Zweig zu zweiundfünfzig Zeichnungen von Hermann Struck. Wiesbaden 1988. S. 7. Ebd. S. 11. Vgl. auch Zweigs anklägerischen Artikel „Schweigen" in: Freie Zionistische Blätter 1 (1921). Nr. 1. S. 56-64.
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kes, das man, nach den Worten Siegfried Lehmanns, als „die grosse Urmutter" zu empfinden begonnen hatte,11 schien - schon damals - bedroht. Hinzu kam der in Deutschland sich radikalisierende Antisemitismus, dem Zweig 1920/21 eine neunteilige Artikelserie in der Zeitschrift „Der Jude" widmete und den er 1927 in dem Buch Caliban oder Politik und Leidenschaft sozialpsychologisch zu erklären und zu decouvrieren unternahm. Aus den genannten Gründen wurde Das ostjüdische Antlitz ein erklärtermaßen apologetisches Buch, 12 verfuhr typisierend, idealisierend, romantisierend, - „ungeschickte Propaganda", wie Arthur Thilo Alt urteilt, weil wissenschaftlicher Anspruch und prophetisch-dichterische Haltung einander ständig widersprächen.13 - Unbeschadet solchen Urteils bleibt in unserem Zusammenhang fünferlei festzuhalten: 1. Der westjüdischen Assimilation, die Zweig als „Weg des Untergangs im Mischmasch" verwirft, 14 stellt er „die letzte geschlossene Volkheit der Juden" als Vorbild entgegen; 15 2. diesem Volksorganismus spricht er „Modellcharakter für eine künftige pan-jüdische Renaissance" zu; 16 3. denn er registriert bei den Ostjuden eine unmittelbare Affinität zur zionistischen Idee, das selbstverständliche Gefühl: Erez Israel ist unser Land; 17 4. dabei setzt er seine Hoffnung nicht etwa auf die religiösen Juden, denen doch der jahrhundertelange Zusammenhalt zu danken ist, sondern auf die Jugend, sofern sie sich nicht in einem internationalistischen Sozialismus dem Judentum entfremdet hat; 5. Zielpunkt ist ein spezifisch jüdischer Sozialismus in Erez Israel; von „Arbeit und Land" verspricht Zweig sich eine Jüdische Erneuerung' im Sinne Martin Bubers, eine religiöse Erneuerung auch, eine Befreiung nämlich vom Regelwerk der Orthodoxie, eine Hinwendung zum ,unbekannten Gott', der in allem Seienden wirkt. 18 - Für Zweig selbst, wenn ich recht sehe, war der Gedanke der Befreiung von der Herrschaft der Orthodoxie entschieden wichtiger als der einer neuen Religiosität. Für ihn hatte die jüdische Religion in ihrer orthodoxen Ausformung ihre Schuldigkeit getan, indem sie während der Diaspora das Überleben des Judentums gewährleistet hatte; für den Aufbau von Erez Israel bedurfte es anderer und fortschrittlicherer Kräfte. Ich übergehe Zweigs umfangreiche journalistische Tätigkeit in jenen Jahren, vor allem seine Mitarbeit an der „Jüdischen Rundschau", aber 11
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Vgl. o. Verf.: Siegfried Lehmann - Fünfziger. In: Mitteilungsblatt der Hitachduth Olej Germania we Olej Austria 6 (1942). Nr. 1 (2.1.). S. 5. Vgl. Arnold Zweig: Das ostjüdische Antlitz (Anm. 9), S. 10. Arthur Thilo Alt: Zu Arnold Zweigs „Das ostjüdische Antlitz" (Anm. 3), S. 175. Das ostjüdische Antlitz (Anm. 9), S. 14. Ebd. S. 85. Arthur Thilo Alt (Anm. 3), S. 171. Vgl. Das ostjüdische Antlitz (Anm. 9), S. 36. Vgl. ebd. S. 157f.
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auch an einer ganzen Reihe anderer Zeitungen und Zeitschriften, 19 und konzentriere mich auf das 1924, wiederum zu Steinzeichnungen des inzwischen in Haifa ansässigen Hermann Struck geschriebene kleine Buch Das neue Kanaan, das im Jahr darauf publiziert wurde: „ein Buch", wie es im ersten der zwölf Abschnitte heißt, „der Sehnsucht, des Verlangens 90 und der inneren Gerichtetheit - kein Buch des Erfahrenhabens", ein Buch, dessen Darstellungsweise schwankt zwischen Hymnus und realistischer Beschreibung, eine Wunschwirklichkeit ausmalt, aber auch klar sieht, welche Widerstände die Realisierung solcher Wünsche verhindern könnten. Im Mittelpunkt steht der schon im Ostjüdischen Antlitz21 erwähnte Gedanke einer „Remediterranisierung" der Juden, 22 von der Zweig sich eine Wandlung und Vereinheitlichung erhoffte. Geprägt seien die Juden von Klima und Landschaft des östlichen Mittelmeers, seien daher verwandter mit den Arabern und Ägyptern, mit den Griechen, Spaniern, Proven9alen, Afrikanern und Italienern als mit den „befangenen, tiefen, verschlossenen und schweigsam-gehemmten Völker[n] kargerer Länder und ganz anderer Impulse." 23 Ausgehend von dem Axiom, „die Produktivität eines Volkes" sei „geheimnisvoll gebunden [...] an den Erdstrich, den es jung und nomadisch in Besitz nahm, um auf ihm zur Seßhaftigkeit, zu Heimatlichkeit zu gelangen", preist Zweig den Zionismus als die endlich erfolgte Unterstützung eines »seelisch Stabilen' durch ein .terrestrisch Stabiles'. Wie schon im Ostjüdischen Antlitz setzt er alle Hoffnung auf die Jugend, die sich in Erez Israel endlich von allen herkömmlichen Einschränkungen befreie. Es gehe um „Freiheit des Geschlechts, Freiheit vom Gesetz, Freiheit vom Staate und der Gesellschaft und Freiheit von den eigenen Hemmungen", 26 wobei Zweig, erklärbar aus seiner Biographie, den Hauptakzent auf die Befreiung des Eros legt. Der Orthodoxie wirft er zum einen die Verteufelung des sogenannten ,Bösen Triebs' vor, die Etablierung eines quasi-christlichen Dualismus, dem er die altjüdische Vorstellung vom sowohl transzendenten als auch weit-immanenten Gott entgegenhält, 27 zum anderen das Paktieren mit dem Hochkapitalismus, das er als „wirtΛ
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Vgl. hierzu Sigrid Thielking (Anm. 3), S. 32-58 und S. 88-106. Arnold Zweig: Das neue Kanaan. Eine Untersuchung über Land und Geist. Zu 15 Steinzeichnungen von Hermann Struck. Berlin 1925. S. [8]. [Die in dem bibliophilen Druck weggelassenen Seitenzahlen habe ich ergänzt.] Das ostjüdische Antlitz (Anm. 9), S. 146. Das neue Kanaan (Anm. 20), S. [14] und [17]ff. Ebd. S. [12]f. Ebd. S. [13]. Vgl. ebd. S. [17]. Ebd. S. [21]. Ebd. S. [21-23],
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schaftliche Irreligiosität" qualifiziert.28 In Palästina glaubt er aus den neuen Arbeits- und Lebensformen eine neue Demokratie, einen neuen Sozialismus, auch eine neue Form der Religiosität entstehen zu sehen. Im vorletzten Abschnitt des Buches warnt Zweig vor einem „exaltier9Q
ten Nationalismus" und einem ,neuen Levantinertum', mahnt zur Achtung vor der arabischen Lebensform und läßt in Majuskeln drucken: „DAS NATIONALE HEIM DER JUDEN WIRD NUR IN PALÄSTINA UND NUR UNTER DEM BEIFALL DER ARABER PALÄSTINAS GEBAUT WERDEN KÖNNEN."30 Ganz am Schluß versucht er die für Erez Israel erhoffte Entwicklung als Teil und Movens der Gesamtentwicklung der Menschheit zu begreifen. Alfred Döblin hat die jüdische Problematik zunächst zu verdrängen gesucht32 und ist erst mit deutlicher Verspätung zu Positionen gelangt, die dann manche Ähnlichkeiten, zum Teil schlagende Übereinstimmungen mit denen Zweigs aufwiesen. 1912, nach seiner Eheschließung mit der evangelisch getauften Erna Reiss, trat er aus dem Judentum aus. Dem Antisemitismus der Weimarer Republik begegnete er anfangs nur mit spöttischer Verachtung, und den Zionismus tat er ab als „eine Form jüdischer Verärgerung und Nervosität."33 Erst als es am 5. November 1923 im Berliner Scheunenviertel, dem Sammelplatz der aus Osteuropa einwandernden Juden, zu antisemitischen Ausschreitungen kam, wachte er auf. Er folgte Einladungen in zionistische Versammlungen, unterhielt sich mit Bewohnern des Scheunenviertels, bekannte sich zur Solidarität mit den Ostjuden 34 und machte sich im Spätherbst 1924 auf, um „das Land meiner 28 29 30
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Ebd. S. [26]. Ebd. S. [39], Ebd. S. [36]. Vgl. hierzu schon Zweigs Aufsatz „Das jüdische Palestina und der Orient". In: Das jüdische Echo 6 (1919). Nr. 5. S. 188f.; Neufassung (Das jüdische Palästina und der Orient) in: Freie Zionistische Blätter. Sonderheft: Die Araberfrage (Juli 1921). S. 7986. Vgl. Louis Huguet: Alfred Doblin et le judaisme. In: Annales de l'Universitf d'Abidjan. S6rie D. Tome IX (1976). S. 47-115; Hans-Peter Bayerdörfer: .„Ghettokunst'. Meinetwegen, aber hundertprozentig echt." Alfred Döblins Begegnung mit dem Ostjudentum In: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer. Königstein/Ts. 1985. S. 161177; Klaus Müller-Salget: Alfred Döblin und das Judentum. In: Akten des Jerusalemer Kongresses „Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert" (Mai 1989). [Erscheint 1992 als Bd. 3 der Reihe „Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte im Max Niemeyer Verlag Tübingen]. Vgl. Alfred Döblin: Deutsche Zustände - jüdische Antwort. In: Ders.: Schriften zu Leben und Werk. Hrsg. von Erich Kleinschmidt. Ölten und Freiburg im Breisgau 1986. S. 60-66.
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Alfred Döblin: Zion und Europa. In: Ders.: Kleine Schriften I. Hrsg. von Anthony W. Riley. Ölten und Freiburg im Breisgau 1985. S. 313-319. S. 318. Döblin: Deutsche Zustände - jüdische Antwort (Anm. 32), S. 65.
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Väter" zu besuchen. 35 Das im Jahr darauf erschienene Buch Reise in Polen gibt, neben vielem anderen, Rechenschaft von der Begegnung mit Juden und jüdischen Bräuchen in Warschau, Wilna, Lublin, Lemberg und anderswo, zeichnet Döblins Bewußtseinsbildung nach: vom befremdeten Erschrecken über die Entdeckung der Juden als Volk bis zu einem tieferen Verstehen, 36 in dem der Autor gleichwohl die Position eines außenstehenden Beobachters beibehält. Er registriert die „Säkularisation des Judentums", 37 das Hindrängen auf eine Staatsgründung in Palästina, 38 beharrt aber auf seinen Vorbehalten: „Sie sollen sich nur hüten, Kleider anzuziehen, die die Westvölker schon nicht mehr tragen mögen." 39 Und gegen Schluß des Buches zitiert er zustimmend einen jiddischen Literaten: „Die Zukunft der Welt liegt nicht da. Der Zionismus ist eine körperliche Bewegung. Die Welt muß aufgemenscht werden. Es ist nicht nur bei den Juden schrecklich." 40 Anders als Arnold Zweig erwartete Döblin eine innere Erneuerung des Judentums nicht vom eigenen Land und von der Arbeit im eigenen Land, sondern allein aus dem Geist, nicht vom Kollektiv, sondern vom Individuum, dem er damals seine volle Aufmerksamkeit zuwandte. Ins Allgemeine gewendet finden sich diese Ansichten in dem politischen Traktat Wissen und Verändern! von 1931 und in der philosophischen Schrift Unser Dasein, die zwar erst im April 1933 erschien und also keinerlei Wirkung mehr haben konnte, im Manuskript aber wohl schon im September 1929 abgeschlossen war. 41 Im 7. Buch von Unser Dasein mit dem Titel „Wie lange noch, jüdisches Volk-Nichtvolk?" faßte Döblin seine bis dahin gewonnenen Erkenntnisse zusammen, die, abgesehen von der zionistischen Konsequenz, mit den Ansichten Arnold Zweigs in vielem übereinstimmen. Viel heftiger als bei Zweig, aber aus derselben Quelle sich speisend, ist die Polemik gegen die Orthodoxie, die dem Volk zwar das Überleben ermöglicht, es gleichzeitig aber in eine Kümmerform versetzt habe. Die Priesterherrschaft, der als „Glaube [...] der völligen Hoffnungslosigkeit" ΛΟ eingestufte Messiasglaube, die Umformung einer auf Aktivität drängenden Diesseitsreligion in einen „Absonderungskultus", einen „Erinnerungs35 36 37
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Ebd. S. 66. Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer (Anm. 31), S. 165. Alfred Döblin: Reise in Polen. Hrsg. von Heinz Graber. Ölten und Freiburg im Breisgau 1968. S. 144. Vgl. ebd. S. 138. Ebd. S. 145. Ebd. S. 331. Vgl. Louis Huguet: Pour un Centenaire (1878-1978). Chronologie Alfred Doblin. In: Annales de l'Universit6 d'Abidjan. S6rie D. Tome 11 (1978). S. 8-197. S. 93. Alfred Döblin: Unser Dasein. Hrsg. von Walter Muschg. Ölten und Freiburg im Breisgau 1964. S. 367.
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und Pietätskult, eine Art Ahnenkult" 43 hätten aus dem einst tapferen, kriegerischen Volk mit starkem Gottesglauben 44 „ein Volk der Leser und Tüftler" gemacht 4 5 Wie Zweig wirft auch Döblin der orthodoxen Geistlichkeit den Pakt mit dem Besitz vor: Da ließen die Priester beten: »Morgen in Jerusalem!', und hatten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: für die Reichen die staatenlose Existenz, für sich die Kirche. Für die anderen: das Gebet.46
Nach dem Verlust des Staates habe die Religion objektiv die Rolle des Kitts, subjektiv die des Opiums und zugleich Tonikums gespielt. Abhanden gekommen sei dem Volk dabei der Sinn für die Erde, den Boden, die Welt, [...] für Staat, Gesellschaft, für Freiheit, Stolz. Es erfolgt eine Umstellung auf inneren Stolz, Überstolz, die Verachtung jeder ,äußeren' Erniedrigung. Alltags Sklave, am Sabbat König, eine trübe Lö47 sung/'
Als Aufbruchsbewegungen aus diesem Stadium heraus nennt Döblin den Pseudo-Messianismus des Sabbatai Zwi, „die herrliche Ungeduld des Chassidismus", die Judenemanzipation in Europa, den Zionismus und den Jiddischismus, allesamt „Aufbrüche zur Weltlichkeit" 4 8 denn um Säkularisation, um ,Verweltlichung' des Judentums müsse es gehen. Den Zionismus weitet er als einen wichtigen Anlauf, verfälscht freilich, wie er meint, durch die Ausrichtung auf Palästina, die er als „Kompromiß an die Pfaffen und ihren Anhang" bewertet. 49 Dem Jiddischismus hält er zugute, daß er sich mehr um eine kulturelle Erneuerung des Judentums mühe. Bubers Kulturzionismus kommt nicht zur Sprache. Döblins Fazit lautet: „Zionismus, Judenstaat, jiddischistische Bewegung sind ein wichtiger mutiger Schritt auf dem Weg der Verweltlichung. Es sind noch andere Schritte nötig." 50 Angesichts der klar gesehenen Bedrohung der europäischen Juden in ihren sogenannten Gastländern fordert er (als einen dieser anderen Schritte) „die Aufrichtung äußerer jüdischer Macht, als Instrument dazu die Schaffung einer weltlichen jüdischen Zentrale." 51 Diese Zentrale solle sowohl Schutzmaßnahmen organisieren als auch Direktiven für die weitere Entwicklung ausarbeiten. Kernpunkt bleibt für Döblin aber die innere Er43 44 45 46 47 48 49 50 51
Ebd. S. 375. Vgl. ebd. S. 360. Ebd. S. 374. Ebd. S. 372. Ebd. S. 377. Ebd. S. 381. Ebd. S. 388. Ebd. S. 398. Ebd.
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neuerung des Judentums, die er sich vom Rückgriff auf die ursprüngliche Form des jüdischen Gottesglaubens erhoffte. - Im Ostjüdischen Antlitz hatte Zweig geschrieben: „die Namen Gottes müssen sich uns aufs neue offenbaren. Denn heute ist er wieder: der unbekannte Gott. ,Ich werde sein, der ich sein werde'." 52 Döblin spricht „von einem unaussprechbaren, anonymen, [...] weltbauenden Ich" 53 und fährt fort: „Ich bin, der Ich bin - Ich werde sein, der Ich bin, Ich bin, der ich sein werde." Ich wüßte nicht, wie man klarer das ungeheure ichgetragene Urwesen, den Urgrund und Ablauf der Welt nennen soll. [...] Er ist kein schlafender Tatbestand, sondern eine bauende Triebkraft.54
Oberstes Ziel der Menschen als Ebenbildern Gottes sei die Hinwendung zur Welt in ihrer ganzen Fülle und die Schaffung von Gerechtigkeit. Ganz im Sinne der Schlußwendung von Zweigs Das neue Kanaan heißt es auch bei Döblin: „Die Religion, von der hier geredet wurde, ist keine Religion der Juden', sondern der Menschen." 55 Zweig und Döblin, einig in der Ausrichtung auf die im Osten noch erhaltene Substanz des Judentums, einig in der Ablehnung der westlichen Assimilation, die auch Döblin „das gräßliche Mischmasch" nennt, 56 einig (drittens) in der Überzeugung, daß es einer von der Orthodoxie abgewandten Erneuerung des Judentums bedürfe, erwarteten also von solcher Erneuerung ein Beispiel für die gesamte Menschheit: eine neue Religiosität, einen neuen Sozialismus, eine neue Demokratie. Man wird fragen dürfen, ob das jüdische Volk - erst recht, nachdem 1933 die schlimmsten Verfolgungen seiner Geschichte eingesetzt hatten - mit solchen Erwartungen nicht doch überfordert war (und ob es nicht auch heute noch mit ähnlichen Überforderungen konfrontiert wird). Lion Feuchtwanger hatte mit Zweig und Döblin die Ablehnung der Orthodoxie gemein, aber auch dem Zionismus konnte er nichts abgewinnen. Geblieben war ihm aus seiner orthodoxen Erziehung die Hochachtung vor dem Buch, auf die er den jahrtausendelangen Zusammenhalt der Juden zurückführte und aus der er ihr Wesen als „des literarischen Volkes κατ' εξοχήν" ableitete. 57 Gerade das von Döblin der Lebensferne geziehene Literarische faszinierte Feuchtwanger; die Kabbala definierte er als „demuts-
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Arnold Zweig: Das ostjüdische Antlitz (Anm. 9), S. 158. Döblin: Unser Dasein (Anm. 42), S. 406. Ebd. S. 407. Ebd. S. 413. Ebd. S. 409. Lion Feuchtwanger: Die Verjudung der abendländischen Literatur. In: Ders.: Centum Opuscula (Anm. 2), S. 443-448. S. 447.
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volles Staunen vor der Zauberkraft der Sprache",58 und bezeichnenderweise war auch Literarisches das einzige, was ihn am Zionismus interessierte: dessen Bemühungen um eine Neubelebung der hebräischen Sprache und die daraus vielleicht resultierende lebendige jüdische, hebräische Literatur.59 In der Fortschreibung der Literatur sah Feuchtwanger eine der wesentlichen Aufgaben des Judentums für die gesamte Menschheit. Am Schluß des Essays Der historische Prozeß der Juden von 1930 konstatierte er: Daß sich das Lebensgefühl einer Epoche nicht durch Technisches für die Kommenden aufbewahren läßt, sondern nur durch Kunst und insbesondere durch Literatur, hat sich ein großer Teil der Menschen nicht klargemacht oder will es nicht wahrhaben. Den Juden sitzt diese Erkenntnis durch Jahrtausende im Blut. [...] Diese Gruppe Menschen scheint mir auch in einer Epoche, die wenig Sinn für Dinge dieser Art hat, berufen zu sein, durch Anwendung von Literatur ein wichtiges Teil zum Gedächtnis der Menschheit beizusteuern.60
Ein anderer Aspekt aber war für Feuchtwanger und ist für sein Werk noch sehr viel bedeutsamer, der Gedanke nämlich von der Mittlerstellung der Juden zwischen Ost und West, zwischen Asien und Europa. Wie Arnold Zweig leitet auch Feuchtwanger die Eigenart des Judentums aus der geographischen Lage Palästinas ab, allerdings nicht aus den natürlichen, heimatlichen Gegebenheiten, sondern aus der Stellung am Schnittpunkt dreier großer Kulturen: Von Osten her drang ständig auf sie ein die Lehre von der Notwendigkeit des Nichtwollens, des Nichttuns, des Aufgehens im großen Nichts. Vom Abendland her hämmerte unablässig auf sie ein die Lehre, daß der Mensch geboren sei zur Tat und zum Kampf. In ihrem Mittag stand groß und dunkel die Lehre Ägyptens von der Überwindung des Todes durch Beharrung und Bewahrung, von der ewigen Konservierung des Seins. Morgenland lehrte sie: vergehen, Abendland lehrte sie: werden, Mittagland lehrte sie: sein. 61
Aus der Verschmelzung dieser drei Lehren sei die Bibel entstanden. Für die Gegenwart konstatierte Feuchtwanger eine intensivere Begegnung der Europäer mit den farbigen Kulturvölkern, und für die Zukunft erwartete er eine neue, fruchtbarere Renaissance in Form einer organischen Verbindung der europäisch-amerikanischen Technik mit der asiatischen Kultur: „In diesem Prozeß sind die Juden, die Eigenschaften beider Menschengruppen in sich aufgenommen haben, die gegebenen Vermitt58 59
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Ebd. S. 446. Vgl. ebd. S. 448 sowie Feuchtwanger: Nationalismus und Judentum (in: ebd. S. 479499), S. 488. Lion Feuchtwanger: Der historische Prozeß der Juden. In: Ders.: Centum Opuscula (Anm. 2), S. 472-478. S. 477f. Ebd. S. 473.
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ler." 62 Sie sind es um so mehr, als nach Feuchtwangers Meinung in der Moderne der Nomade sich als der wichtigere, lebensfähigere Typus erwiesen habe als der früher dominierende bodenständige Bauer. 63 Gerade das Nichtverwurzeltsein der Juden, das ihnen früher zum Vorwurf gemachte Kosmopolitentum, erweise sich nunmehr als ein großer Vorzug. 64 Von dieser Position aus verwirft Feuchtwanger jeden Nationalismus; die Tendenz gehe auf „die endgültige Vermischung der Völker". 65 Mit dem Gedanken einer Hinwendung Europas zum Osten, zu Taoismus, Buddhismus, Hinduismus, mit der Propagierung einer Abwendung vom Tat- und Machtdenken hin zu einer Philosophie des Nichthandeins stand Feuchtwanger seinerzeit ja keineswegs allein da. Es genügt, an den vom Grafen Keyserling initiierten Kult um Rabindranath Tagore zu erinnern, an Hermann Hesses Siddharta oder an die von Feuchtwanger enthusiastisch aufgenommenen Romane Alfred Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun und Wallenstein, die ihn zweifellos stark beeinflußt haben. 66 Der Gedanke, den Juden, den traditionellen Außenseitern, in diesem Prozeß die Vermittlerrolle zuzusprechen, ging auf Vorstellungen Martin Bubers zurück und war auch von Arnold Zweig schon adaptiert worden. Die erste literarische Formung dieser Konzeption gab Feuchtwanger mit dem Roman Jud Süß, der in der Zeit des anwachsenden Antisemitismus in Deutschland jahrelang von den Verlegern zurückgewiesen worden war, dann aber seinem Autor einen Welterfolg bescherte. Dem Antisemitismus (um das einzuschalten) begegnete Feuchtwanger mit intellektueller Verachtung. In einem Essay von 1920 mit dem sarkastischen Titel Die Verjudung der abendländischen Literatur stellte er entsprechendem Wehgeschrei seine These von der prägenden Kraft der jeweiligen Sprache entgegen und bemerkte süffisant: „Man hätte ebensogut eine Literatur der Schwarzhaarigen oder der Kurzsichtigen konstruieren können." 69 Im gleichen Jahr veröffentlichte er eine Spottdichtung auf den Antisemitismus: Gespräche mit dem Ewigen Juden:10 Ahasver, als eine antisemitische Erfindung in den Ewigen Antisemiten umgedeutet, sucht im zeitgenössischen München unter den Alldeutschen und anderen Hohl-
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Ebd. S. 475. Vgl. ebd. S. 476f. Vgl. ebd. S. 477. Ebd. S. 475. Vgl. auch Arie Wolf: Lion Feuchtwanger und das Judentum (Anm. 1), H. 61. S. 64f. Vgl. Martin Buber: Der Geist des Orients und das Judentum. In: Ders.: Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte. München 1916. S. 9-48. Vgl. Arnold Zweig: Das jüdische Palästina und der Orient (Anm. 30); dazu: Sigrid Thielking (Anm. 3), S. 44f. Feuchtwanger: Die Verjudung der abendländischen Literatur (Anm. 57), S. 443. In: Lion Feuchtwanger: Centum Opuscula (Anm. 2), S. 449-471.
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köpfen 71 neue Anhänger, muß aber schließlich resignieren, weil die Dummheit seit Mendelssohn, Lessing und Napoleon keine rechte Chance mehr habe. Die antisemitische Bewegung wird als eine akute, nicht chronische Erkrankung, als ein bloßer Nervenanfall des deutschen Volkes eingestuft. 72 Diese allzu schlichte Rückführung des Antisemitismus und des Nationalsozialismus auf die ,meertiefe Dummheit' von Leuten, die nicht einmal die deutsche Sprache hinreichend beherrschten, blieb bestimmend für Feuchtwangers Einschätzung, auch, trotz mancher Einschränkung und Selbstkritik, in den beiden schon im Exil verfaßten Abschlußbänden der sogenannten Wartesaal-Trilogie (Die Geschwister Oppermann und Exil). Andererseits findet sich in den Gesprächen mit dem Ewigen Juden eine beklemmende Vision, die zwar als Zusammenfassung vergangener Greuel gedacht ist, im nachhinein aber fast prophetisch anmutet: Und dann erweiterte sich das Zimmer und wurde zu einem ungeheuem Platz, der erfüllt war von Rauch und Blut. Türme von hebräischen Büchern brannten, und Scheiterhaufen waren aufgerichtet, hoch bis in die Wolken, und Menschen verkohlten, zahllose, und Priesterstimmen sangen dazu: Gloria in excelsis Deo. Züge von Männern, Frauen, Kindern schleppten sich über den Platz, von allen Seiten; sie waren nackt oder in Lumpen, und sie hatten nichts mit sich als Leichen, verkohlte, zerstückte, geräderte, gehenkte, nichts als Leichen und die Fetzen von Bücherrollen, von zerrissenen, geschändeten, mit Kot besudelten Bücherrollen. Und ihnen folgten Männer im Kaftan und Frauen und Kinder in den Kleidern unserer Tage, zahllos, endlos. 73
Der Dichter Lion Feuchtwanger hat anscheinend mehr geahnt, als der Rationalist Feuchtwanger wahrhaben wollte. Was den Roman Jud Süß betrifft, so hat der Autor 1929 bestritten, daß es sich hier um ein gegen den Antisemitismus gerichtetes Buch handle, wenn er auch seinen Lesern eine solche Deutung nicht verbieten wollte. 74 Angesichts der Entstehungszeit von Drama und Roman (1917 bis 1922), angesichts der von Feuchtwanger behaupteten Gedankenverbindung zum Schicksal Walther Rathenaus 75 und angesichts des Umstandes, daß er die bis dahin auch in der Forschung fast rein negativ gezeichnete Figur des
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Der „Stemmklub .Schwarz-weiß-rot vom Sirius bis zur Jungfrau'" (ebd. S. 452 u.ö.) dürfte als Travestie auf die nationalsozialistische Bewegung gemeint sein. Vgl. ebd. S. 470. Ebd. S. 465f. Vgl. Lion Feuchtwanger: Über „Jud Süß" (Anm. 2), S. 391. Vgl. Lion Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans. In: Ders.: Centum Opuscula (Anm. 2), S. 508-515. S. 511.
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Joseph Süß Oppenheimer76 zu einer letztlich tragischen Gestalt umgeformt hat, darf man wohl doch die Wendung gegen den Antisemitismus als wenigstens ein Motiv für die Stoffwahl unterstellen. Wichtiger war dem Autor die Nachzeichnung eines Lebensweges vom Tun zum Nichttun, von der Aktion zur Betrachtung,77 eines Weges, den er ja als die allgemeine Entwicklungstendenz der Epoche ansah und den er in Wesen und Schicksal der Juden vorgezeichnet fand. 78 Den Anstoß zu einer solchen Deutung des Joseph Süß Oppenheimer gab ihm eine biographische Notiz, derzufolge Süß sein Leben hätte retten können, wenn er zum Christentum übergetreten wäre.79 Dieses Motiv verstärkte er noch dadurch, daß er, einer unglaubwürdigen Legende folgend,80 seinen Süß einen nichtjüdischen adeligen Vater haben ließ, daß Süß dieses Faktum also nur hätte aufdecken müssen, um aus der jüdischen Schicksalsgemeinschaft austreten zu können. Süß aber hat die Sinnlosigkeit seiner Integration in die nichtjüdische Gesellschaft, die Sinnlosigkeit seiner Machtgier erkannt, nimmt seinen Sturz in seinen Willen auf und stirbt mit dem Ruf: „Eins und ewig ist Jahve Adonai."81 - Als Vermittler kann Süß noch nicht gelten; seiner Haltung liegt mehr Ahnung als Gewißheit zugrunde. Er bleibt ein unsicherer Vorläufer in voremanzipatorischer Zeit. 82 Die Einleitungen zu den Büchern 3 und 5, in denen Feuchtwanger die wesentlichen Gedanken seiner Essays aufgreift, legen den Akzent denn auch noch nicht auf das Mittlertum, sondern auf die Hinwendung zum Osten. Das bedeutet gleichzeitig eine klare Absage an die Assimilation, eine Absage, die Feuchtwanger in seinem ersten Exilroman, Die Geschwister Oppermann, übertragen auf die Gegenwart, dezidiert wiederholt hat. Positive Gegenfigur ist dort nicht etwa die Zionistin Ruth Oppermann, sondern der aus Osteuropa stammende weltläufige Finanzmakler Jacques Lavendel. In ihm präsentiert Feuchtwanger sein Ideal einer Verbindung von jüdischer Tradition mit modernem Kosmopolitismus. 76
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Die lange Zeit maßgebende Untersuchung von Selma Stern (Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und zur jüdischen Geschichte. Berlin 1929) ist ebenso wie die von Curt Elwenspoek (Jud Süß Oppenheimer. Der große Finanzier und galante Abenteurer des 18. Jahrhunderts. Erste Darstellung auf Grund sämtlicher Akten, Dokumente, Überlieferungen. Stuttgart 1926) erst nach Feuchtwangers Roman erschienen. - Den gegenwärtigen Forschungsstand repräsentiert die voluminöse Darstellung von Barbara Gerber: Jud Süß. Aufstieg und Fall im frühen 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung. Hamburg 1990 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden. Bd. XVI). Vgl. Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans (Anm. 75), S. 511. Vgl. Lion Feuchtwanger: Über „Jud Süß" (Anm. 2), S. 390. Vgl. ebd. S. 389. Vgl. Selma Stern (Anm. 76), S. lOf. Lion Feuchtwanger: Jud Süß. Frankfurt/Main 1976. 102.-109. Tsd. 1990 (Fischer Taschenbuch 1748). S. 517. Vgl. auch Arie Wolf: Lion Feuchtwanger und das Judentum (Anm. 1), H. 61. S. 74.
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Ähnlich angelegt hat er, in seiner Josephus-Trilogie, die Gestalt des jüdisch-römischen Historikers Josef Ben Matthias alias Titus Flavius Josephus. Der Werdegang des jüdischen Nationalisten Josef Ben Matthias zum Kosmopoliten' römischer Couleur, 83 der sich zum Mittlertum zwischen Römern und Juden, zwischen Westen und Osten berufen fühlt, war als beispielhaft gedacht. Nach der Flucht aus Deutschland und nachdem Nazi-Plünderer das Manuskript zum 2. Band vernichtet hatten, 84 änderte Feuchtwanger die Konzeption. In der Neufassung dieses zweiten Bandes (Die Söhne) wurde das Programm eines weltbürgerlichen Vermittlertums bereits rigoros in Frage gestellt und in Der Tag wird kommen, dem 1939 und 1940 geschriebenen Abschlußband, gänzlich aufgegeben. Entgegen der geschichtlichen Faktizität (Flavius Josephus ist um das Jahr 100 in Rom gestorben) läßt Feuchtwanger seinen Helden nach Galiläa zurückkehren und sich auf die Seite der Aufständischen stellen; nur der Tod hindert ihn am Eingreifen in die Kämpfe. Resignativ erkennt er seine die Nationalitäten übergreifenden Absichten als verfrüht und kehrt zurück zu seinem Ursprung. Daß dies eine Notlösung darstellt, einen Rückschlag gegenüber dem ursprünglich Gewollten, eine Regression, wird deutlich an jenen Versen, die Josephus kurz vor seinem Ende wiederholt: Ich will ich sein, Josef will ich sein, So wie ich kroch aus meiner Mutter Leib, Und nicht gestellt zwischen Völker Und gezwungen zu sagen: von diesen bin ich oder von jenen. 85
Daß Josephus „die Welt zu früh gesucht" und darum „nur sein Land" gefunden hat, wie es am Schluß des Romans heißt, 86 änderte für Feuchtwanger grundsätzlich nichts an der Bejahung der kosmopolitischen Zielsetzung, wie er sie 1933, in dem Essay Nationalismus und Judentum, formuliert hatte. Der wahre jüdische Nationalismus, hieß es da, basiere weder auf der Ideologie einer Heimatregion noch gar auf der der Rasse noch auf der eines durch gemeinsame Geschichte vermittelten Wir-Gefühls, auch nicht auf der Verbundenheit durch eine gemeinsame Sprache, sondern drücke sich aus in einer gemeinsamen Mentalität und in einer besonderen Beziehung zum Geist. Die gemeinsame Mentalität könne man mit dem Rabbi Hillel auf die Formel bringen: „Was du nicht willst, daß man dir
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Zu Feuchtwangers schwankendem Sprachgebrauch (Kosmopolitismus - Internationalismus) vgl. Arie Wolf: Lion Feuchtwanger und das Judentum (Anm. 1), H. 61. S. 61f. und H. 62. S. 71. Vgl. Lion Feuchtwanger: Die Söhne. 4. Aufl. Berlin und Weimar 1983. S. 503. Lion Feuchtwanger: Der Tag wird kommen. 4. Aufl. Berlin und Weimar 1983. S. 404. Vgl. schon „Die Söhne" (Anm. 84), S. 260. Der Tag wird kommen (Anm. 85), S. 410.
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tu, das füg auch keinem andern zu." 87 Die besondere Beziehung zum Geist begründet er wieder einmal mit der besonderen Ehrfurcht der Juden vor der Literatur. Ein Zionismus, den er bejahen könne, dürfe seine Ziele nicht mit Gewalt, sondern nur mit geistigen Mitteln, auf dem Wege der Überzeugung verfolgen. Sinn des ,wahren' jüdischen Nationalismus sei es, sich selbst zu überwinden, „sich aufzulösen in einer geeinten Welt. Sich aufzulösen wie Salz im Wasser, das, gelöst, unsichtbar, dennoch allQQ
gegenwärtig bleibt und ewig." Auch hier findet sich also, wie bei Zweig und Döblin, die Schlußwendung ins allgemein Menschheitliche, der messianische Zug, freilich noch elitärer und .idealistischer' als bei jenen, und man wird fragen dürfen, ob ein solcher Kosmopolitismus nicht doch, wie Döblin in Unser Dasein meinte, als Privileg der Begüterten betrachtet werden muß. Was konnte Feuchtwangers Konzeption den armen und bedrückten Massen Osteuropas, was den Verfolgten des Naziregimes schon sagen? Er selbst hat entsprechend seinen Maximen weitergelebt, festhaltend an seinem Judentum wie an seinem Weltbürgertum. Jüdischer Geschichte und jüdischer Sage sind seine letzten beiden Romane gewidmet (Die Jüdin von Toledo und Jefta und seine Tochter). Selbst ins Land der Väter heimzukehren ist ihm nie eingefallen. Er blieb in den USA, wo sein Kosmopolitentum freilich die peinigende Form der Staatenlosigkeit annahm. Seiner kommunistenfreundlichen Publikationen halber verweigerte man ihm einen Paß, und er wagte es nicht, das Land auch nur besuchsweise zu verlassen, weil er fürchten mußte, ihm werde die Wiedereinreise verweigert werden. In gewisser Weise war er ein Gefangener, vielleicht auch er eine verfrühte Erscheinung. Ein kurzer Blick soll noch auf die spätere Entwicklung Zweigs und Döblins geworfen werden, bevor ich ein Fazit zu ziehen versuche. Döblin ist kurz vor der nationalsozialistischen Machtübernahme und vor allem dann im Schweizer Exil mit neo-territorialistischen Gruppen in Berührung gekommen, die außereuropäische Siedlungsräume für die bedrohte Judenheit schaffen wollten. In dieser sogenannten Freiland-Bewegung hat Döblin bis 1937 eine zeitweilig prominente Rolle gespielt. Ihrem Interesse dienten auch die Umarbeitung des 7. Buchs von Unser Dasein, die im Oktober 1933 unter dem Titel Jüdische Erneuerung herauskam, sowie die zwei Jahre später veröffentlichte Schrift Flucht und Sammlung des Judenvolks, die eine deutliche Annäherung an den Zionismus erkennen läßt. Das Problem vereinfachte er nun auf „I. Ursache der Juden-
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Lion Feuchtwanger: Nationalismus und Judentum (Anm. 59), S. 491. Ebd. S. 499.
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not: Landlosigkeit - II. Ende der Judennot: Jüdisches Land". 89 Die Vorbehalte gegen einen jüdischen Nationalstaat ließ er fallen, denn nun meinte er, „daß ein Ding, welches für die Staaten von heute .reaktionär' ist, für die flüchtigen jüdischen Massen .progressiv' sein kann." 90 Auch die Ausrichtung auf Palästina erkannte er jetzt als überlegen an, bezeichnete die frühere Diskussion über Uganda statt Palästina als „auf dem Hintergrund der jüdischen Geschichte kindlich". 91 Mit alledem sprach er freilich eher für andere als für sich selbst. Eine Übersiedlung nach Palästina (oder gar nach Uganda) hat er ebensowenig in Betracht gezogen wie Lion Feuchtwanger, und überhaupt ging es ihm weiterhin vor allem um eine innere Erneuerung des Judentums, die er in einem Brief an Isidor Lifschitz vom 16. Dezember 1934 als das „centrale Thema der Menschen" bezeichnete, während er bei seinen Mitstreitern hauptsächlich das rein materielle Streben nach Land wahrzunehmen glaubte. Enttäuscht wandte er sich 1938 von der Freiland-Bewegung ab. Sein eigener Weg hat ihn bekanntlich 1941 in den Schoß der katholischen Kirche geführt. Den Belangen des Judentums, später des Staates Israel, blieb er freundlich gesonnen, fühlte sich selbst aber nicht mehr als zugehörig. Viel komplizierter ist die Entwicklung Arnold Zweigs verlaufen, die ich hier nur knapp skizzieren kann. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre richtete er sein Hauptaugenmerk auf den deutschen Antisemitismus. Die tatsächliche Entwicklung in Palästina und die Erfahrungen einer ersten Erkundungsreise dorthin im Jahre 1932 führten zu einer gewissen Ernüchterung, die sich sowohl im Nachwort zur Neuausgabe von Das ostjüQ Q
dische Antlitz und Das neue Kanaan als auch in dem Roman De Vriendt kehrt heim (1932) niederschlug. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme freilich schrieb Zweig im französischen Zwischen-Exil seine stolze Bilanz der deutschen Judenheit, die den Anteil der deutschen Juden an der deutschen Kultur ans Licht stellte und im Schlußteil noch einmal nachdrücklich für die zionistische Lösung plädierte. Er selbst übersiedelte Ende 1933 nach Haifa. Die Erfüllung seiner Träume hat er dort nicht gefunden. Seine persönliche Stellung als ein an der deutschen Kultur festhaltender deutscher Schriftsteller jüdischen Glaubens blieb prekär. Die Fortführung seines Romanzyklus über den Ersten Weltkrieg konnte bei den Juden Palästinas nur mäßiges Interesse erwecken. Des Hebräi89
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Alfred Döblin: Flucht und Sammlung des Judenvolks. Aufsätze und Erzählungen. Amsterdam 1935. S. 5. Ebd. S. 126. Ebd. S. 130. Alfred Döblin: Briefe. Hrsg. von Heinz Graber. Ölten und Freiburg im Breisgau 1970. S. 199. Arnold Zweig: Herkunft und Zukunft (Anm. 8), S. 225-230.
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sehen war er nicht mächtig und auch nicht fähig, es zu erlernen. Die Politik des Jischuw, der offiziellen Vertretung der Judenheit in Palästina, war ihm nicht sozialistisch genug und zu wenig araberfreundlich. So geriet er in immer größere Isolation, erwog die Auswanderung in andere Exilländer, verließ schließlich 1948 Israel, gelangte mit einer gewissen Zufälligkeit nach Ost-Berlin, wo er, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, auf Dauer blieb und wo ihn das SED-Regime zum Staatsdichter hochstilisierte. Als hilfreich bei diesem Unternehmen erwies sich der Umstand, daß Zweig nach eigenem Bekunden um das Jahr 1940 aus der Lektüre marxistischer Broschüren eine weltanschauliche Neuorientierung gewonnen hatte. Wenig überzeugend ist die entsprechende Darstellung in dem 1962 erschienenen Roman Traum ist teuer ausgefallen. Nicht zwar seine Identität als Jude versuchte Zweig hier zu leugnen oder für überwunden zu erklären, wohl aber sein Freudianertum und seinen Zionismus, die beide in der DDR verpönt waren. In Wahrheit hat er immer wieder an dem bis heute nicht publizierten Buch Freundschaft mit Freud gearbeitet, und noch 1964 ließ er sich das Manuskript einer 1948 auf Veranlassung eines tschechischen Verlegers geschriebenen, dann zweimal überarbeiteten Broschüre über Palästina und Israel wieder vorlegen, die ebenfalls unveröffentlicht geblieben war. Dort finden sich hymnische und suggestiv werbende Sätze über den Staat Israel, und der 1964 erwogene Titel lautete nicht mehr Ein Abriß der Geschichte des Landes Israels [sie], 94 sondern: Emigrationsbericht oder Warum wir nach Palästina gingen. Der beabsichtigte Bekenntnis-Charakter ist deutlich; zur Ausführung des Plans ist es nicht mehr gekommen. Insgesamt wird man Zweigs Rückzug vom Zionismus seit 1933 als eine nur bedingte Abkehr und jedenfalls als eine Abkehr mit schlechtem Gewissen ansehen dürfen. Daß er auch am Ende seines Lebens keineswegs bereit war, seinem Staat in allem zu Willen zu sein, bewies er im Jahre 1967, als er sich weigerte, seine Unterschrift unter eine anti-israelische „Erklärung jüdischer Bürger der DDR" zu setzen. Wenn man das Gesagte überblickt, kann man folgendes festhalten: 1. Wie der Zionismus überhaupt verdankt sich auch die Rückbesinnung auf das Judentum in den zwanziger Jahren zu einem guten Teil dem Erlebnis der Verfolgung, der Ausgrenzung, der antisemitischen Schmähung. 2. Hinzu trat bei einigen das Erlebnis des Ostjudentums als einer lebendigen, den Ursprüngen näher gebliebenen ethnischen und religiösen 94
So der Titel der zweiten und der dritten Fassung (1948 und 1950), die, ebenso wie die erste Fassung („Abriß der Geschichte Palästinas und Israels daselbst"), im Amold-ZweigArchiv (Berlin) liegen (Siglen: AZA 991-995).
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Gemeinschaft. Vorgeprägt war dieses Erlebnis durch die Lektüre der Schriften Martin Bubers. Aus der Zusammenschau des noch intakten ostjüdischen Gemeindelebens mit dem als elender Mischmasch empfundenen westjüdischen Dasein entstand bei Zweig und Döblin die Idee einer Erneuerung des Judentums, das die Fesseln der Orthodoxie abstreifen und in der Hinwendung zur Welt, speziell: zum eigenen Land, eine alt-neue Identität gewinnen sollte. Andere, wie Lion Feuchtwanger, verharrten bei einer .idealistischen' Definition des Judentums als einer „Geistesrichtung", 95 einer geistigen Lebensform. Alle drei Autoren gehen von einer Vorbildfunktion des (erneuerten) Judentums für die gesamte Menschheit aus; angestrebt werden eine neue Demokratie, ein neuer Sozialismus, ,Verweltlichung' im Sinne einer Aussöhnung von Mensch und Natur, Durchgeistigung des Lebens, eine Synthese östlicher und westlicher Lebensart. Ob wir es hier mit von vornherein zum Scheitern verurteilten utopischen Vorstellungen zu tun haben, muß unentschieden bleiben, weil die beispiellosen Judenverfolgungen in und durch Nazi-Deutschland weder in Europa noch in Palästina Ruhe und Zeit gelassen haben für eine Entwicklung im Sinne der drei Autoren. Die späteren Kursänderungen Zweigs und Döblins scheinen zu zeigen, daß eine Rückbesinnung auf das Judentum ohne eine klare Entscheidung für die tätige Mithilfe am Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina/Israel episodisch bleiben muß. Ihre Existenz als deutsche Schriftsteller, ihre Verwurzelung in der deutschen Kultur erwiesen sich als zu stark, als daß sie sich aus ihrer Doppel-Identität hätten lösen können. Feuchtwangers Konzept einer Verbindung von jüdischer Tradition und Kosmopolitentum erscheint als zu elitär, als nicht übertragbar auf die jüdischen Massen in Osteuropa oder gar im Orient. Trotz aller Einwände scheinen mir die Ideen dieser drei Autoren nicht einfach auf den Schutthaufen der Geschichte zu gehören. Die von ihnen gegebenen Anstöße könnten, gerade weil sie sich seinerzeit als utopisch erwiesen haben, weiterwirken in der Gestaltung nicht nur der jüdischen Geschichte.
Lion Feuchtwanger: Der historische Prozeß der Juden (Anm. 60), S. 472.
Chaim Shoham (Haifa)
Kosmopolitismus und jüdische Nationalität Lion Feuchtwangers Josephus-Trilogie
[...] Schwebend zwischen der Welt, die sie verlassen hatten, und einer Gesellschaft, die für sie überhaupt keinen Bedarf hatte. Yaacov Talmon, Juden und Revolution1
I.,Nichtjüdische Juden' und die kosmopolitische Rettung .Würdelose Propheten' nannte Frederic V. Grunfeld2 die Schriftsteller, Dichter, Dramaturgen, Schauspieler, Musiker, Wissenschaftler und jüdischen Intellektuellen, die das national-sozialistische Deutschland in überheblicher Verachtung der .arischen Kultur' gegenüber der ,entarteten Kultur' abgewiesen und aus ihrer Heimat verbannt hatte. Rückblickend scheint mir jedoch die Definition .irrende Propheten' zutreffender zu Diesem Vortrag über Lion Feuchtwangers Josephus-Tnlogie gingen voraus ein (noch ungedruckter) Vortrag, den ich im Sommer 1988 an der Universität Münster gehalten habe, sowie ein Vortrag auf dem VIII. IVG-Kongreß in Tokio 1990 (erschienen 1992). Besonders wichtig für das hier behandelte Thema ist Arie Wolf: Lion Feuchtwanger und das Judentum. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 1982, H. 61, S. 57-78; H. 62, S. 55-95. Vgl. ferner Wulf Köpke: Lion Feuchtwangers Josephus: Ost und West. In: Lion Feuchtwanger - Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. v. Wilhelm von Stemburg. Frankfurt a.M. 1989, S. 134-151. Klaus Weissenberger: Flavius Josephus - A Jewish Archetype. In: Lion Feuchtwanger - The Man, his Ideas, his Work. Los Angeles 1972, S. 185-199. Der Text der Trilogie wird zitiert nach: Lion Feuchtwanger, Der jüdische Krieg. Frankfurt a.M. 1982 (Sigle I; 1. Aufl. 1932); Die Söhne. Frankfurt a.M. 1982 (Sigle II; 1. Aufl. 1932); Der Tag wird kommen. Frankfurt a.M. 1982 (Sigle III; 1. Aufl. 1942). Den Mitarbeitern der Alexander von Humboldt-Stiftung danke ich für ihre vielfältige Unterstützung; ohne sie hätte dieser Beitrag nicht realisiert werden können. 1
2
Y. Talmon: Juden und Revolution. In: Die Epoche der Gewalt. Tel-Aviv 1977. S. 227 [zitiert aus dem Hebräischen]. Frederic V. Grunfeld: Prophets without honour. A background to Freud, Kafka, Einstein and their world. New York 1979. .Propheten' sind für Grunfeld u.a. die folgenden: Freud, Mahler, Kafka, Einstein, Schnitzler, St. Zweig, Wolfskehl, Th. Lessing, Landauer, Sternheim, Else Lasker-Schüler, Mühsam, Eisner, Toller, Schönberg, Tucholsky, Benjamin, Döblin, Broch. Solomon Liptzin (Germany's Stepchildren, Philadelphia 1944) nennt u.a. Rahel Varnhagen, Börne, Heine, Auerbach, Moses Hess, Herzl, Schnitzler, Rathenau, Th. Lessing, Wassermann, St. Zweig, Landauer, Beer-Hofmann, Buber.
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sein, w e n n überhaupt v o n Propheten die R e d e s e i n kann. S i e h a b e n s i c h geirrt in der Interpretation der , F r a g e n ' , m i t d e n e n d i e W i r k l i c h k e i t dam a l s konfrontiert war, und in d e n . A n t w o r t e n ' , d i e sie v o r g e s c h l a g e n haben. S i e h a b e n auch ihre A d r e s s a t e n v e r f e h l t . D i e , F r a g e n ' f a n d e n s i c h in der Kultur und in der G e s e l l s c h a f t , d i e sie retten w o l l t e n , u m m i t ihr g e rettet z u w e r d e n . A b e r sie m e r k t e n nicht, d a ß s i e selbst, als J u d e n , durch ihre . P r o p h e z e i u n g e n ' selber z u m P r o b l e m w u r d e n , h a u p t s ä c h l i c h in b e z u g auf ihre Identität, i n s b e s o n d e r e , da dort, w o m a n d i e , F r a g e n ' a u f nahm, die vorgeschlagenen Lösungen abgelehnt wurden. D a s behauptete s c h o n G e r s h o m S c h o l e m , der g e n e r e l l an der M ö g l i c h k e i t e i n e s d e u t s c h j ü d i s c h e n D i a l o g s als e i n e m historischen P h ä n o m e n z w e i f e l t e : Gewiß, die Juden haben ein Gespräch mit den Deutschen versucht, von allen möglichen Gesichtspunkten und Standorten her, fordernd, flehend und beschwörend, kriecherisch und auftrotzend, in allen Tonarten ergreifender Würde und gottverlassener Würdelosigkeit [...]. Zu wem also sprachen die Juden in jenem vielberufenen deutsch-jüdischen Gespräch? Sie sprachen zu sich selber, um nicht zu sagen: sie überschrien sich selber. Manchen war dabei unheimlich zumute, viele aber taten so, als ob alles auf dem besten Wege sei, in Ordnung zu kommen, als ob das Echo ihrer eigenen Stimme sich unversehens in die Stimme der anderen verwandeln würde, die sie so begierig zu hören hofften. 3 Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. In: Judaica 2. Frankfurt a.M. 1970. S. 7-11; hier S. 8f. Scholem kam wieder auf dieses Thema zurück in: On the Social Psychology of the Jews in Germany: 1900-1933. In: Jews and Germans from 1896-1933: The Problematic Symbiosis. Hrsg. von David Bronsen. Heidelberg 1979. S. 9-32. In diesem Artikel teilt Scholem die Juden ein gemäß ihrer Beziehung zum Judentum im Verhältnis zur deutschen Umgebung, in der sie lebten. Die Hypothese wird erhärtet, daß außerhalb der Wünsche und Gedanken der Juden die jüdischdeutsche Symbiose überhaupt nicht existiert habe. Peter Gay: Encounter with Modernismo: German Jews in Wilhelminian Culture. In: Gay, Freud, Jews and Other Germans. New York 1978. S. 93-168. Zuerst in: Juden im Wilhelminischen Deutschland - 18901914. Hrsg. v. Wemer E. Mosse unter Mitw. v. Arnold Paucker. Tübingen 1976], Auch Gay befaßt sich mit dem Problem der Integration der Juden in der deutschen Gesellschaft. Seiner Meinung nach gab es ein gewisses Maß von jüdisch-deutscher Symbiose. Einen umfassenden Überblick über das Problem des jüdisch-deutschen Dialogs und der Rolle der jüdischen Schriftsteller und Journalisten in der Kultur ist zu finden in der aufschlußreichen Einleitung zum Sammelband: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer. Königstein/Ts. 1985. Zitiert wird hier u.a. Moritz Goldsteins „Kunstwart"Artikel Deutsch-jüdischer Parnass (1912), in dem die Toleranz der Deutschen gegenüber den Juden als bloß scheinhaft in Zweifel gezogen wird. In der Tat räumen die Deutschen den Juden und deren Beitrag keinen Platz in ihrer Kultur und in ihrer Gesellschaft ein. Goldstein kommt mit diesem Gedanken den Annahmen von Scholem sehr nah, obwohl sie über vierzig Jahre zuvor verfaßt wurden: „[...] die Aufgaben der Deutschen haben die Juden zu ihren eigenen Aufgaben gemacht, immer mehr gewinnt es den Anschein, als sollte das deutsche Kulturleben in jüdische Hände übergehen. [...] Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht." (zit. nach Grimm/Bayerdörfer S. 34f.).
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Scholems Schlußfolgerungen berühren sich mit entsprechenden Thesen in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung über die Stellung jüdischer Intellektueller Hitler und dem Nazismus gegenüber. Zu den Lehren der Hitlerzeit gehört die von der Dummheit des Gescheitseins. Aus wievielen sachverständigen Gründen haben ihm die Juden noch die Chancen des Aufstiegs bestritten, als dieser so klar war wie der Tag. [...] Dann sollte nach den Gescheiten der Faschismus im Westen unmöglich sein. Die Gescheiten haben es den Barbaren überall leicht gemacht, weil sie so dumm sind. Es sind die orientierten, weitblickenden Urteile, die auf Statistik und Erfahrung beruhenden Prognosen, die Feststellungen, die damit beginnen „Schließlich muß ich mich hier auskennen", es sind die abschließenden und soliden statements, die unwahr sind.4 Grunfelds .Propheten' kommen den historischen Figuren nahe, die Isaac Deutscher „nichtjüdische Juden"5 nannte. Diese Menschen, behauptete Deutscher, durchbrachen mit ihrem Handeln, ihren Theorien, ihrem Glauben und ihrer Kunst die Schranken des Judentums, die sie eingeengt hatten. Sie suchten ihre Ideale und deren Verwirklichung außerhalb und jenseits des Judentums: Most of the great revolutionaries, whose heritage I am discussing, have seen the ultimate solution to the problem of their and our times not in nation-status but in international society. As Jews they were the natural pioneers of this idea, for who was as well qualified to preach the international society of equals as were the Jews free from all Jewish and non-Jewish orthodoxy and nationalism? 6 Der Kosmopolitismus faszinierte sie. In diesem Sinne schlugen sie Lösungen für die Kultur in Zentral- und Osteuropa vor. Jakob Bernays behauptete schon im 19. Jahrhundert: Die Juden haben die Menschheit von der beengten Auffassung der exklusiven Heimat, des Patriotismus, erlöst. Der Jude ist nicht nur Atheist - er ist auch Kosmopolit und hat seine Mitmenschen zu Atheisten, zu Kosmopoliten gemacht. Sie haben die Menschen in freie Weltbürger verwandelt.7 Laut Talmon haben sich Bernays und andere Juden, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihre nationale Herkunft abgeleugnet haben, vollkommen geirrt in der Deutung der revolutionären Tendenz, die in jener Revolution 4
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Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1971. S. 187. [zuerst Amsterdam 1947]. Isaac Deutscher: The Non-Jewish Jew. Edited with an Introduction by Tamara Deutscher. Oxford University Press 1968. S. 25-41. Ebd. S. 40. „Nichtjüdische Juden" sind für Deutscher u.a. Spinoza, Heine, Marx, Rosa Luxemburg, Trotzki und Freud. Bemays wird zitiert nach Y. Talmon: Juden und Revolution (Anm. 1), S. 208.
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die Oberhand gewann. Es war kein Universalismus, sondern ein „absondernder Nationalismus". 8 Jüdische Philosophen, Künstler und führende Politiker predigten die kosmopolitische Weltanschauung, die unter anderem voraussetzt, daß „der historische Prozeß, der den Klassenkampf in unsere Gesellschaft eingeführt hat, zur Abschaffung der nationalen Grenzen und zur Fusion aller Völker in ein und dieselbe Gesellschaft führen muß". 9 Parallel zu dieser Bewegung der jüdischen Intellektuellen, die an dieser Ideologie festhielten, entwickelten sich in Deutschland entgegengesetzte Tendenzen. Ein Beispiel ist Friedrich Meineckes Buch Weltbürgertum und Nationalstaat, dessen erste Auflage 1907 erschienen ist. 10 Meinecke schildert den Ablauf der Befreiung von jeder Bindung an kosmopolitische Werte, was zu einem souveränen nationalen Staat führt, der als oberster Wert, als Endziel der Geschichte anzusehen ist. Dieses Buch ist zweifellos eine Verherrlichung des Nationalismus und des nationalen Staates, des deutschen Staates, der kosmopolitische und nationale Gefühle vereinen sollte.11 Gerade die jüdische Intelligenz mit ihren Intellektuellen, ihren Künstlern und Politikern, die sich in den verschiedenen Ländern gesellschaftlich integrieren wollten, benötigte die kosmopolitische Auffassung und Ideologie. In Deutschland war dies das Problem jener Juden, die nicht mehr all zu sehr an ihrer Religion hingen, aber dennoch nicht so assimiliert waren, daß sie ihre nationale Identität aufgegeben hätten. 12 Es waren keine ,nichtjüdischen Juden' im Sinne von Deutscher, sondern Juden, die zwar nicht mehr fromm waren, aber an ihrer jüdischen Identität festhielten. Zu ihnen gehörte zweifellos Lion Feuchtwanger. Sie suchten einen weltlichen Inhalt für ihre jüdische Lebensart und fanden ihn in der Idee der Sendung, „den Juden und dem Judentum eine Aufgabe in der Welt, den Nichtjuden eine Botschaft zu überbringen". 13 Eine dieser Botschaften war, die kosmopolitische Ideologie zu predigen und den politischen Versuch zu unternehmen, sie zu verwirklichen. 8 9
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Ebd. S. 209. Isaac Maor: Die Juden in der Liberalen und Revolutionären Bewegung in Rußland. Jerusalem 1964. S. 129 (zit. aus dem Hebräischen). München und Berlin 1928. Das Buch war in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg sehr populär. Ebd. S. 20. Vgl. dazu Chaim Shoham: Der Jude als Vermittler zwischen Orient und Okzident. Lion Feuchtwangers .Josephus-Trilogie*. In: Akten des VIII. IVG Kongresses Tokio 1990. Bd. 8, S. 180-190. Vgl. dazu neben Chaim Shoham (ebd.) John Milfull: Juden, Christen und andere Menschen. Sabbatianismus, Assimilation und jüdische Identität in Lion Feuchtwangers Roman ,Jud Süß'. In: Im Zeichen Hiobs (Anm. 3) S. 213-222. Milfull insistiert auf dem Wesen der Sendung und auf ihrem Ursprung in der Kabbala. Er zeigt, wie zentral diese Auffassung im Roman ,Jud Süß' ist. Dieser Roman wird als Schlüssel zur Darstellung von Feuchtwangers Auffassung vom Judentum und von seiner Sendung in der Welt angesehen, der eigentlichen Existenz des Judentums in der Diaspora zwischen den Nichtjuden.
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Lion Feuchtwanger als einer dieser jüdisch-deutschen Autoren war sich dieses Zusammenhangs bewußt; er hob hauptsächlich seine Treue zur kosmopolitischen Ideologie hervor: [ . . . ] ich fühlte mich als internationaler Schriftsteller. [ . . . ] M e i n e Bücher sind somit gefühlsmäßig jüdisch-national, verstandesmäßig international betont. 1 4
Diese Worte des Jahres 1933 wiederholen eigentlich nur, was der Autor schon 1929 über seinen Roman Jud Süß geschrieben hatte: M e i n Hirn denkt kosmopolitisch, mein Herz schlägt jüdisch. 1 5
Lion Feuchtwanger wollte sein Judentum nicht aufgeben, da es seine Seele und Gefühle erfüllte, aber die Vernunft führte ihn zum Internationalismus, zum Kosmopolitismus. Er selbst verknüpfte Gefühl und Verstand, Judentum und Kosmopolitismus eng miteinander. Es scheint, daß seine Welt sich gerade um die kosmopolitische Ideologie drehte, die er in seinen jüdischen Gefühlen verspürt hat - auch, als er seine Romane schrieb, in denen ein Jude die Hauptfigur ist. Dieser verkörpert den Internationalismus. Am 26. September 1932 veröffentlichte Feuchtwanger im „Berliner Tageblatt" seinen Essay Der Roman von heute ist international. Das Essay ist ein Loblied auf den europäischen Roman nach dem Ersten Weltkrieg, den Roman, der gedeihen und blühen vermochte [ . . . ] durch den steigenden Einfluß der barbarischen, geistfeindlichen Schichten, die heute überall, und besonders bei uns, an die Macht kamen. (Ein B u c h S. 4 2 2 )
Er räumt dem Roman eine bedeutende Rolle ein und verlangt von ihm, „daß er die getrennten Erkenntnisse der Wissenschaft organisch in ein Bild zusammenfüge" (ebd.). Der moderne Roman soll den Lesern ein Ersatz für Philosophie und Religion sein, er soll das Gefühl vermitteln, „[...] einen Standpunkt zu finden, von dem aus eine Orientierung in der verworrenen Welt möglich ist" (423). Mittels des literarischen Genres und an Hand der Erwartungen der Leser versucht Feuchtwanger, die politischen, kulturellen und sozialen Tendenzen zu bändigen, die sich in Europa Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre bemerkbar machen. Um das zu erreichen, muß sich der Roman neue Themen suchen. In14
15
Lion Feuchtwanger: Bin ich deutscher oder jüdischer Schriftsteller? In: Revue Politique et Litt6raire, Revue Bleue, 71e Α., 15 avril 1933. Zitiert nach Feuchtwanger, Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt a.M. 1984. S. 362 und 363. Lion Feuchtwanger: Über ,Jud Süss'. In: Freie Deutsche Bühne (Das blaue Heft) 11, Nr. 1, 5.1.1929. Zitiert nach: Ein Buch nur für meine Freunde (Anm. 14), S. 379. Siehe auch Feuchtwangers Worte in Rußland: „Meine Vernunft ist international, aber mein Herz bleibt jüdisch". Zitiert nach Arie Wolf: Lion Feuchtwanger und das Judentum. In: Bulletin d. Leo Baeck Instituts 62 (1982), S. 57.
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dem Feuchtwanger auf die psychologische und soziologische Orientierung des modernen Romans deutet, treten zwei Hauptthemen hervor: Das erste ist: Wie weit wird ein Mensch durch seine Urgeftihle gezwungen, im Gegensatz zu seiner Erkenntnis und zu seinem bewußten Willen zu handeln? Das zweite ist: Wie weit ist der einzelne mit seinem Willen oder ohne ihn den Einflüssen der Masse unterworfen? (ebd.) Diese Verallgemeinerungen und die Rollen, die dem modernen Roman zugewiesen werden, führen Feuchtwanger zu der politisch-ästhetisch-thematischen Schlußfolgerung: Es versteht sich, daß der Roman von heute international ist. Seitdem die ökonomischen Grenzen nicht mehr mit den sprachlichen zusammenfallen, seitdem nicht mehr ein politisch begrenztes Land, sondern der Planet die Heimat des Menschen geworden ist, hat die Heimatdichtung, die nur nationale Dichtung einen schweren Stand. [...] Mit der Erfindung der Eisenbahn und des Flugzeugs wurde der ökonomisch-politische Nationalismus sinnlos und mit ihm die nur nationale Dichtung. [...] Gewiß wählt auch der heutige große Romandichter am liebsten die Heimat zum Gegenstand seiner Dichtung, aber er sieht sie eben nicht nur mit dem Auge des Lokalpatrioten, sondern mit dem Auge des Weltbürgers. (424) Angesichts der Tatsache, daß die nationale Massenkultur in Theater, Kino und Radio die Oberhand gewonnen hat, sah Feuchtwanger im Aufblühen der Dichtung inmitten dieses „allgemeinen Zusammenbruchs" einen gewissen Trost: „Wahrscheinlich liegt es daran, daß die verderblichen Einflüsse des Nationalismus an ihn nicht recht heran können" (426). Und dies alles, weil der Roman an sich international, kosmopolitisch ist und der Erzähler die Welt tatsächlich mit den Augen eines .Weltbürgers' betrachtet. Arie Wolf faßt die kosmopolitische Ideologie des Autors so zusammen: Hier haben wir das richtige Schlagwort: „Ein jüdisch-nationaler Internationalist". Denn, abgesehen von rationalistisch-vereinfachenden Lippenbekenntnissen, bedeutete ihm Kosmopolitismus [...] durchaus nicht nationalen Nihilismus, totalen Verzicht auf die nationale Eigenart, auf die nationalen Traditionen. Vielmehr sah er im Kosmopolitismus nichts anderes als eine Aufgeschlossenheit gegenüber der Umwelt, ein Hinausschreiten über die engen Schranken der nationalen Exklusivität, um einem Austausch von Kulturwerten zwischen den Völkern entgegenzukommen, ohne dabei in Uniformität und Nivellierung aufzugehen. Er dachte sich den Kosmopolitismus eher als Synthese, als Bereitschaft zum ständigen Empfangen und Geben, in dem die Parteien in freiwilliger Gegenseitigkeit gleichberechtigt auftreten.16 16
Arie Wolf, Lion Feuchtwanger, ebd. S. 61. Weissenberger (Flavius Josephus, s.o. S. 188) stellt fest: „As Josephus' program of development might indicate, Feuchtwanger responding to modern circumstances saw himself in the role of missionary spokesman for Judaism, a mediator striving to unite the .visionary powers of the East' with the .Logic of the West'."
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So lautete Feuchtwangers Bekenntnis im Jahr 1932. Das war die Lösung, die er für die europäische Kultur vor Augen hatte, zu einer Zeit, als die nationalistischen Tendenzen von Tag zu Tag radikaler wurden und bereits der Grund gelegt war für die völlige Vernichtung des internationalen Judentums. Er war weiterhin der Ansicht, daß die kosmopolitische Ideologie, die die Anschauung der .Weltbürger' war, die Welt retten und die .provinziellen' Erscheinungen entlarven würde. Diese Überzeugung macht sich bemerkbar im Übergang von seinem Roman Erfolg - Drei Jahre Geschichte einer Provinz (1930) zur ersten Version seines Josephus-Romans. Nachdem die Nazis, gleich nach der Machtergreifung, das Manuskript dieses Romans bei der Durchsuchung der Wohnung des Schriftstellers vernichtet hatten, war Feuchtwanger gezwungen, ihn ein zweites Mal zu schreiben. Die neue Version der Josephus-Trilogie entstand bereits im Exil, wobei der Autor vom jüdischen Standpunkt aus nach und nach entdeckte, wie international das Schicksal des .Weltbürgers' in Europa, besser gesagt, in Frankreich war.
II. V o m Erfolg zur
Josephus-Trilogie
Der wahre Held des Romans Erfolg ist ,die Provinz', die Stadt München. In dieser Gesellschaft lebt, als Fremder, der Schriftsteller und Weltbürger' Tüverlin. Dieser Autor bleibt als Weltbürger mitten in der Provinz, die er durch seine weltbürgerlichen Begriffe aufklären möchte. Die Provinz weist ihn selbstverständlich ab. Sie zieht die nationalistische deutsche Partei der Weltoffenheit vor. Es darf daher behauptet werden, daß Erfolg ein Versuch ist, den ersehnten Kosmopolitismus als Lösung für die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme vorzuschlagen, die das Leben in der Provinz kennzeichnen. Seine .Rettung' findet Tüverlin im Ausland, und erst nachdem er dort Erfolg hat, kann er es sich leisten, im Rahmen der Provinz als bedeutender Weltbürger zu wirken, bis die Nationalisten seine Lehre und Weltanschauung satt haben. Der moderne Roman, der ein „internationaler Roman" ist, träumt von der Abschaffung der Unterschiede zwischen den Völkern, die zu Weltbürgern werden, und von dem Übergang der Welt in eine große, offene Stadt. Die „Drei Jahre Geschichte einer Provinz" lassen diesen Traum zerplatzen. Anders als Tüverlin sollte Josef Ben Matthias aus der Provinz Judäa, der von der Welteroberung träumt, die Eroberung Roms gelingen. Der Ausbruch aus der Provinz, der in Erfolg ersehnt war, ist das Hauptthema des ersten Teils der Josephus-Trilogie, Der jüdische Krieg. Nach wie vor hofft der Anhänger des Kosmopolitismus Feuchtwanger, es könne Josephus gelingen, Rom, die kosmopolitische Stadt, zu erobern. Noch im Jahr 1937 versucht der Autor dem sowjetischen Leser (abermals ein falscher
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Adressat?) sein Werk als ein kosmopolitisch orientiertes vorzuführen: der Josephus-Roman, von dem bis dahin erst zwei Teile geschrieben waren, suche die Auseinandersetzung zu gestalten [...] zwischen Nationalismus und Internationalismus. Es geht darum, zu zeigen, daß ein Mensch gleichzeitig national und kosmopolitisch sein kann [...] 1 7
Bei einer anderen Gelegenheit, während der selben Reise in die Sowjetunion, antwortet Feuchtwanger auf die Kritik an seiner kosmopolitischen Einstellung: Ihr wißt, daß ich an der ,Josephus-Trilogie' arbeite. Den Zentralpunkt dieser Trilogie bildet das Problem: Jude oder Weltbürger. In den beiden bereits erschienenen Teilen dieser Trilogie, in den Werken Der jüdische Krieg und Die Söhne, habe ich dieses Problem aufgeworfen. Seine Lösung wird im dritten Band gegeben werden. 18
Diese Feststellung stammt aus dem Jahr 1937, als Feuchtwanger sich bereits im Exil befand. Am Anfang seiner Beschäftigung mit dem Thema hatte er ein anderes Ziel. Was ihm bis zur Machtergreifung der Nazis als möglich erschienen war, wurde nun zu einem Problem. Die veränderten Umstände und die politischen Veränderungen in Europa und in Deutschland machten die ursprüngliche Lösung abermals unmöglich. Angesichts des jüdischen Schicksals in Europa seit dem Aufstieg der Nazis in Deutschland wandte sich Feuchtwanger nun von der Vernunft zum Gefühl und stellte fest, daß höchstwahrscheinlich das „jüdisch schlagende" Herz und nicht die „kosmopolitisch denkende" Vernunft recht habe. Der Josephus-Roman sollte ursprünglich zweiteilig sein. Der erste Teil, Der jüdische Krieg, wurde schon 1932 veröffentlicht. Der zweite Teil war abgeschlossen und zum Druck bereit, als das Manuskript vernichtet wurde. Im französischen Exil schrieb Feuchtwanger diesen Teil neu. Zu diesem Zeitpunkt entschied er sich offenbar, den Roman zu einer Trilogie umzugestalten. Es ist keineswegs falsch zu behaupten, daß die erste zweiteilige Version des Josephus-Romans die kosmopolitische Ideologie Feuchtwangers in ihrer Reinheit darstellen sollte - der jüdische Priester aus Judäa bahnt sich einen Weg zum Tempel der Geschichte und Kunst in Rom. Die dem ersten Roman zugrundeliegende Tiefenstruktur ist die des Übergangs von einer Kultur zur anderen - von der jüdischen zur römi17
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Lion Feuchtwanger: An meine Sowjetleser. In: Das Wort 3 (1938) Nr. 7. Zitiert nach: Ein Buch nur für meine Freunde (Anm. 14), S. 522. Lion Feuchtwangers Rede während des Abends im Staaüichen Politechnischen Museum (russ.). In: Literatumaja Gazeta Nr. 2, 10.1.1937, S. 638. Zitiert nach Arie Wolf, Lion Feuchtwanger (Anm. 15), S. 79. Die Übersetzung stammt von Wolf.
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sehen. Der Roman beginnt damit, daß Josef Ben Matthias, wie er damals noch hieß, die römische Kultur entdeckt, die ihn fasziniert. Darauf folgt ein kurzer aber gewalttätiger Kampf gegen diese Kultur, sowohl auf öffentlicher wie auf privater Ebene: Es ist zugleich der Aufstand der Juden gegen Rom, kurz vor der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem, und Josefs Kampf gegen die Anziehungskraft der fremden Kultur. Josef zieht es vor, die ihn faszinierende Kultur im Namen von nationalen Idealen anzufechten. Er willigt ein, den jüdischen Aufstand in Galiläa gegen die Römer zu leiten. Bekanntlich scheitert er, und Galiläa fällt in die Hände der Römer. Mit dieser Niederlage beginnt die große Wandlung der Figur Josef und seiner Weltanschauung. Der Roman endet mit der Zerstörung des Tempels durch Titus; Josef, nun im Lager der Römer, übernimmt eine neue Rolle, er wird eine Art „tendenziöser" Historiker, der die Kriege der Römer gegen die Juden beschreiben wird. Er, der im Namen der nationalen Freiheit im Kampf gegen die Römer gestanden hatte, sieht sich plötzlich einer gänzlich anderen Existenzmöglichkeit gegenüber. Der Einzelne und die Nation sind imstande zu existieren und ihre Eigenheit zu bewahren innerhalb eines über-nationalen politischen und kulturellen Rahmens. In diesem Roman stellt das römische Reich und seine Kultur diesen Rahmen dar. Den Höhepunkt des ersten Teils der Trilogie und zugleich das Credo Josefs, der später Josephus Flavius heißen wird, bildet der „Psalm des Weltbürgers". Die Söhne, der zweite Teil der Trilogie, sollte voraussichtlich in der ersten Version die Tiefenstruktur des ersten Teils Der jüdische Krieg fortsetzen. In diesem Teil sollte der Übergang von einer Kultur zur anderen vollzogen werden: Josephus Flavius lobt nicht nur das Weltbürgertum, er wird selbst zum Weltbürger. Daß ein Jude die „Sinnlosigkeit eines regional-politischen Nationalismus" erkennt, 19 ist der Gipfel dessen, was ein Jude erwarten konnte. Die folgenden Überlegungen des Jahres 1935 deuten darauf hin, daß mit Josephus gar keine historische Gestalt intendiert ist: Ich habe nie daran gedacht, Geschichte um ihrer selbst willen zu gestalten, ich habe im Kostüm, in der historischen Einkleidung, immer nur ein Stilisierungsmittel gesehen, ein Mittel, auf die einfachste Art die Illusionen der Realität zu erzielen. [...] Ich habe mein [...] Weltbild zum gleichen Zwecke zeitlich distanziert, das ist alles. [...] Ich kann mir nicht denken, daß ein ernsthafter Romandichter [...] in den historischen Fakten etwas anderes sehen könnte als ein Distanzierungsmittel, als
19
Lion Feuchtwanger: Nationalismus und Judentum. In: Die Aufgabe des Judentums. Hrsg. v. L.F. u. Arnold Zweig. Paris 1933. Zitiert nach: Ein Buch nur für meine Freunde (Anm. 14), S. 469.
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ein Gleichnis, um sich selber sein eigenes Lebensgefühl, seine eigene Zeit, sein Weltbild möglichst treu wiederzugeben.20
Hat Feuchtwanger in dieser Gestalt den jüdischen Künstler im allgemeinen gesehen, oder hat er nur sich selbst gemeint? So oder so, mit diesem Erfolg hätte der Josephus-Roman in seiner ersten Fassung voraussichtlich enden sollen. Die historischen Umstände haben jedoch die Lage der Dinge verändert. Die Machtergreifung des Nationalsozialismus, des „regionalen Nationalismus" in Deutschland, die Bedrohung der Existenz der Juden (zuerst in Deutschland und dann in ganz Europa), das Exilleben in Frankreich, die Flucht in die USA - das alles änderte Feuchtwangers Weltanschauung und vor allem die Tendenzen seines Romans über den jüdischen Historiker, der nicht länger den anfänglichen Grundstrukturen entsprach. In der neuen Version von Die Söhne, die bereits im Exil entstand, entdecken wir die Transformation, die in der Tiefenstruktur stattfindet. In der ersten Version des Romans betrifft die Tiefenstruktur hauptsächlich den Übergang von der jüdischen Kultur zur römischen. In der neuen Fassung kommt noch ein weiteres Stadium hinzu: die Rückkehr von der römischen Kultur zur jüdischen, von Rom nach Palästina. Die ursprüngliche Tiefenstruktur war nicht mehr maßgebend für die Probleme, mit denen der Autor nach der historischen Wendung konfrontiert wurde. Der Traum vom Kosmopolitismus war nicht länger die angemessene Lösung für den deutschen Juden, der sich in einen über-nationalen Staat zu retten hoffte. Er erwies sich als lächerlich in einer Wirklichkeit, in der mit regional-nationalistischen Tendenzen die Welteroberung gerechtfertigt wurde. Dieser Einsicht entspricht der zu erwartende Übergang von der Tiefenstruktur des ersten Teils der Trilogie zur Tiefenstruktur der beiden späteren Teile.
III. Wendung I: Von Josef zu Josephus In bezug auf Thema und Handlung finden wir in der Josephus-Trilogie parallele Entwicklungszüge, die sich teilweise verschränken, sich aber auch trennen. Ein Entwicklungszug ist der Aufstieg und Fall der Flavischen Kaiserfamilie. Außerdem wird die geistige und nationale Entwicklung von Josef Ben Matthias alias Josephus Flavius dargestellt. Diese parallelen .Geschichten' sind eng miteinander verbunden. Seinen Erfolg schuldet Josef Ben Matthias bekanntlich der römischen Kaiserfamilie Flavius, die ihn aufgenommen und ihm Obdach und sogar den Namen gegeben hat. Die »Geschichten' unterscheiden sich in ihrer thematischen Struk20
Lion Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans. In: Internationale Literatur (Moskau) 5 (1935), Nr. 9. Zitiert nach: Ein Buch nur für meine Freunde (Anm. 14) S. 496.
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tur. Die Geschichte des Hauses Flavius spielt sich ausschließlich auf der politisch-militärischen Ebene ab und handelt hauptsächlich von Macht und Herrschaft. Die Geschichte von Josef Ben Matthias spielt sich auf der geistig-kulturellen Ebene ab. Der Kampf Josefs, der zwischen beiden Kulturen verkehren und beiden gleichzeitig angehören wollte, erweist sich als wesentlicher denn die Geschichte der Familie Flavius - insbesondere, da die bedeutendste militärisch-politische Handlung der Kaiserfamilie eng mit der Geschichte des jüdischen Volkes verbunden war, nämlich die Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem. Die Geschichte der Familie Flavius beginnt mit Vespasian, dem alten Konsul, der seine Ehre verloren hatte. Er weiß, daß seine Aussichten, einen ruhmvollen Militärposten zu erhalten, äußerst gering sind. Durch Zufall wird Vespasian zum Befehlshaber der römischen Truppen in Palästina ernannt. Dieser Zufall begleitet seinen ganzen Aufstieg in der Kommandohierarchie, bis er, wiederum durch Zufall, zum Kaiser erhoben wird. Danach geht die Geschichte des Hauses Flavius über das Kaisertum von Titus und Domitian ununterbrochen bergab. Dieser Abstieg manifestiert sich nicht nur in der Unfähigkeit, sich auf die Realität einzustellen, sondern hauptsächlich im Wahnsinn, der zum Los der Nachkommen von Vespasian, Titus und vor allem Domitian wird. Damit endet die ,Geschichte' des Hauses Flavius. Die Kaiserfamilie wird hauptsächlich im Zusammenhang mit ihren Taten in Jerusalem und Palästina erwähnt. Das ist ihr großer Beitrag zur Geschichte Roms, jedenfalls in den Augen der Romanfigur Josephus Flavius und ihres Autors. Auf dem Schlachtfeld siegt die Familie Flavius, siegen die Römer, aber im geistigen Kampf, der sich im Roman zwischen Rom und Jerusalem abspielt, siegen die Juden. Die Geschichte von Josef Ben Matthias ist die des Sohnes einer jüdischen Priesterfamilie in Jerusalem, der Karriere machen möchte. Dem entspricht auch die Struktur des Romans Der jüdische Krieg, die sich während des Schreibens der Trilogie geändert hat. Josefs Karriere führt über den Versuch, Jerusalem durch Rom zu ersetzen: er will die römische Kultur erobern oder sich ihr wenigstens assimilieren. Der Jude, der die Schranken seiner Religion und seiner Kultur durchbrochen hat, sucht nach einer römisch-jüdischen Symbiose (falls ich mir den späteren Ausdruck gestatten darf, der eher zur Kulturwelt Feuchtwangers als zu der der erfundenen Gestalt gehört). Die Ideologie, die Josef entwickelt, um seinen Weg zu rechtfertigen, ist die des Kosmopolitismus, die des Weltbürgers, dem er einen Psalm dichtet. Der Roman Der jüdische Krieg beginnt in Rom. Nachdem Joseph das Synedrion, den jüdischen Gerichtshof in Jerusalem, überredet hat, wird er nach Rom gesandt, um für die Befreiung der drei Weisen des großen Synedrion zu sorgen, die nach Rom gesandt und zu Unrecht zu Zwangsarbeit
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verurteilt wurden. Josef irrt in den Straßen Roms umher und staunt. Er mag die Römer zwar nicht, ist ihnen gegenüber sogar feindlich gesinnt, aber dennoch spürt er die Größe der Stadt und ihre imperiale Macht. Er entdeckt dort eine Größe, die er von Jerusalem nicht kennt: Organisationstalent haben sie, sie haben ihre Technik: Technik, er denkt das fremde Wort, denkt es mehrmals, in der fremden Sprache. Er ist nicht dumm, er wird diesen Römern von ihrer Technik etwas abluchsen. (I, 8)
Der Erzähler schildert die Gründe für seine Reise von Jerusalem nach Rom: Er ist sechsundzwanzig Jahre alt, er hat alle Voraussetzungen einer großen Laufbahn, Herkunft aus adligem Haus, gründliche Bildung, staatsmännisches Geschick, rasenden Ehrgeiz. Nein, er will nicht in Jerusalem versauern. Er ist seinem Vater dankbar, daß der an ihn glaubt und ihm erwirkt hat, daß man ihn nach Rom schickte. (I, 9-10).
Hinzu kommen sein gutes Aussehen und seine große Gestalt. All diese Eigenschaften zusammen erweisen, daß wir es mit einer Romanfigur zu tun haben, die sich an die bekannte dichterische Struktur hält: Ein Karriereroman, dessen Hauptfigur ein junger Mann ist, der in die Großstadt kommt, um vorwärtszukommen. Das war wahrscheinlich auch die Grundstruktur der ersten Fassung des Romans. Jede einzelne Handlung Josefs, bis er sich den Römern anschließt, entspricht dieser Struktur. Er fährt zwar nach Rom, um für die Befreiung der drei Weisen des Synedrion zu sorgen, aber in Wirklichkeit versucht er, sich zu behaupten und Karriere zu machen. Das gleiche gilt, als er zum Befehlshaber des jüdischen Aufstandes gegen die Römer in Galiläa ernannt wird. Der Höhepunkt dieser Karriere ist seine Aufnahme im Hause Flavius und seine Ernennung zu dessen Historiker. Das anfängliche Bestreben, in der Welt der Römer aufgenommen zu werden, und die tatsächliche Aufnahme sind die Höhepunkte von Josefs Karriere. Durch diese Aufnahme sieht er sich als Weltbürger bestätigt. Es gab eigentlich keinen richtigen Grund, Josef nach Rom zu senden, um die drei Weisen zu befreien. Josef suchte diese Botschaft. Sie enthielt die passende Gelegenheit, Karriere zu machen. Indem er sich um die Weisen bemüht, sorgt er gleichzeitig auch für sich selbst. Josefs Position in Rom wird fester. Seine Kontakte mit jüdischen und nichtjüdischen Notablen sichern ihm ein bedeutend besseres Leben als in Jerusalem. Er erntet die Früchte seiner Sendung, er macht Karriere: [...] alle ohne Ausnahme, die römischen Herren und die Juden, zeigten sich den schlanken jungen Mann mit dem hageren, fanatischen Gesicht, der kühnen Nase und den heftigen Augen: das war der Doktor Ben Matthias, der die Amnestierung der drei erwirkt hatte. Es war eine große Stunde für Josef. (I, 77)
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Seine ,große Stunde' kommt nicht, weil er die Weisen befreit hat, sondern weil er mehr als einen Schritt zum Ziel Rom wagt. Er war entschlossen, diese Stadt zu erobern. Nach der Amnestierung der Weisen wendet er sich der Literatur zu, als einem weiteren Mittel, in dieser großen, fremden Stadt Erfolg zu haben. Obwohl der Erzähler den Grund für Josefs literarische Tätigkeit so begründet, daß „Rom [...] reif [war], die Weisheit und das Geheimnis des Ostens zu empfangen" (I, 79), unterstreicht die Erzählung seinen Drang nach Karriere. Er vergaß Cäsarea. Er begann sein früheres Leben von neuem, ging in Gesellschaft, suchte sich Frauen, spielte sich auf. Er las sein Makkabäerbuch einem ausgesuchten Kreis junger Literaten vor. Man beglückwünschte ihn. [...] Josefs Ruf verbreitete sich [...] (I, 83).
Sein Erfolg stört sein Gleichgewicht. In den achtzehn Monaten Rom vergißt er Judäa. Er hat die Heimat nicht länger vor Augen, obwohl er die Macht der Kräfte dort erneuern soll. Josef nimmt sogar die verwickelte politische Lage in Judäa zu Beginn des Aufstandes zum Anlaß, vorwärtszukommen - diesmal in Judäa und in Jerusalem. Er nimmt an der entscheidenden Sitzung des Synedrion teil über den Weg, den Judäa gehen soll angesichts der immer komplizierteren Beziehungen zu Rom, wahrscheinlich weil er wußte, das Land wird verteilt werden, bestimmt wird ein Stück davon für ihn abfallen, diesmal sicherlich wird er zwischen die satten und dennoch gefräßigen Größeren springen können und sich ein Stück erraffen. Wenn nichts anders, so legitimierte ihn schon seine ungeheuere Begier. [...] Jetzt war er gewiß, auch dieser Tag, auch diese große Gelegenheit wird vorbeigehen, und er wird weiter unten bleiben müssen wie bisher, ein betriebsamer Streber. (I, 120-121).
Auch der Kampf gegen Rom ist für ihn ein Mittel, vorwärtszukommen. Zu einem der Befehlshaber des Aufstandes in Galiläa ernannt zu werden, hat gewisse Vorteile: Er hat es erreicht, er ist sehr hoch gestiegen, es ist herrlich, Herr dieser Provinz zu sein. Wer mit Vollmachten wie er in dieses Land kommt, der muß seinem Namen weithin und für immer Geltung verschaffen, oder er ist ein Unfähiger. (I, 124)
Seine Gründe, in Galiläa aktiv zu werden, stammen nicht gerade aus der Erkenntnis in die Gerechtigkeit des Kampfes gegen die Römer. Was er will, ist, Aufsehen zu erregen und emporzusteigen. Er kämpft mit Justus, dem Gouverneur des Königs Agrippas in Tiberias, der ebenfalls Schriftsteller ist, um Macht und Anerkennung. „Sie sind blind vor Ehrgeiz" (I,
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144), sagt ihm Justus, wobei er, wenigstens im ersten Teil der Trilogie, sicherlich recht hat. Zweimal im ersten Drittel von Der jüdische Krieg wird Josef Ben Matthias ,Lump' genannt. Einmal sagt es Justus, Agrippas Gouverneur in Tiberias („Ihr Doktor Josef ist ein Lump"; I, 149), und zwar gerade an der Stelle in der Erzählung, wo davon berichtet wird, daß Josef und die Galiläer während des Winters ihr Bestes getan haben, Galiläa zu befestigen. Zum zweiten Mal geschieht es dann im Lager der Römer. Der Aufstand ist fehlgeschlagen, Josef ist nicht mit seinen Kämpfern im Krieg gefallen. Er zieht es vor, zu den Römern überzugehen und sein Leben zu retten. Titus, der Sohn Vespasians, prüft den gefangenen Josef, der gerade seinem Vater versichert hat, dieser sei der Messias, der von Judäa kommen soll und dem Großes bevorsteht: Der junge General Titus, ein Fanatiker der Präzision, liebte es, Leute auf ihre genauen Äußerungen festzulegen; er hatte es sich zur mechanischen Gewohnheit gemacht, Gespräche mitzustenographieren. Auch jetzt hatte er mitgeschrieben. Nun aber sah er verwundert auf. Es wäre ihm eine Enttäuschung gewesen, wenn dieser junge, tapfere Soldat sich als Schwindler erwiesen hätte. Nein, er schaute wahrhaftig nicht aus wie ein Schwindler. Vielleicht war er trotz seines einfachen und natürlichen Gehabens ein Besessener, wie viele im Orient. (I, 195) Wer hat recht, Justus oder Titus? Justus war Josef schon seit ihrer ersten Begegnung in Rom nicht geneigt. Damals entdeckte Josef, daß sein einziges Mittel, Karriere zu machen, die Dichtung sei. Mit Erzählungen über die Geschichte seines Volkes könnte er Rom erobern. Josef schreibt sein Makkabäerbuch und veröffentlicht es. Das Buch hat Erfolg und macht ihn berühmt. Justus' Buch „Über die Idee des Judentums" hat keinen so großen Erfolg. Für Justus stellt das Makkabäerbuch im jüdischen Viertel eine Gefahr dar, wie aus seinem Disput mit Josef hervorgeht. Josef ist [...] allerdings der Meinung, daß ein in der Scheide festgenagelter Degen weniger sympathisch ist als ein gezückter." - „Aber in vielen Fällen klüger und in manchen sogar vielleicht heroischer", erwiderte Justus. „Ernstlich", sagte er, „es ist schade, daß ein so begabter Mensch wie Sie sich zu einem solchen Schädling auswächst." [...] „Mein Makkabäerbuch", sagte [Josef], „hat Rom gezeigt, daß wir Juden noch Juden sind, keine Römer. Ist das schädlich?" [...] „Ich weiß", winkte [Justus] ab, „Sie haben die klassische Darstellung unserer Freiheitskriege geschrieben. Sie sind der jüdische Titus Livius. Nur, sehen Sie, wenn unsere lebendigen Griechen heute von dem toten Leonidas lesen, dann bleibt das ein harmloses, akademisches Vergnügen. Wenn aber unsere ,Rächer Israels' in Jerusalem Ihre Geschichte des Juda Makkabi lesen, dann bekommen sie heiße Augen und schauen nach ihren Waffen. Halten Sie das für wünschenswert?" (I, 86-87)
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Für die jüdische Welt ist Josefs Buch eher gefährlich als nützlich. Jede Ermutigung des heroischen Elements mit religiös-messianischer Färbung wird dort sofort zum Anlaß einer Tat genommen, ungeachtet der realen Kräfteverhältnisse an der Front oder auf der politisch-wirtschaftlichen Ebene. Justus ist sich dessen bewußt, daß der jüdische Erzähler vor allem zugeben muß, die Welt könne nicht mehr durch Kraftanwendung geändert werden: „Sie meinen, man müsse den Frieden aktivieren?" [...], fragte Justus, es klang unangenehm ironisch. „Ich kann nicht umhin, dem Autor des Makkabäerbuches zu versichern, daß mir in der praktischen Politik die Makkabäergesten, zu welchem Zwecke immer, auch heute noch fehl am Ort scheinen. (I, 136)
Josef läßt diesen Aspekt von Justus' Argumenten und die Möglichkeit eines derartigen Einflusses seines Buchs ganz außer acht, da er nur bestrebt ist, Karriere zu machen. Was er tut, ist nur für sich selbst, nicht für die Allgemeinheit. Als er, schon in seiner Funktion als Befehlshaber von Galiläa, Zaphia, einen der Banditen von Tiberias, den Palast von Agrippas in Tiberias erstürmen läßt, geschieht dies unter dem religiösen Vorwand, die Götzenbilder vernichten zu müssen. In Wahrheit geschieht die Tat aus eigensüchtigen Motiven, die von Justus klar erkannt werden: „Sie wissen gar nicht, was Sie angerichtet haben. Nicht die Einstellung des Tempelopfers war das Schlimme, auch nicht der Angriff auf Cestius, nicht einmal das Edikt von Cäsarea. Das, das hier bedeutet endgültig den Krieg." Er hatte Tränen in den Augen vor Wut und Trauer. „Sie sind blind vor Ehrgeiz", sagte er zu Josef. (I, 144)
Wer aus solchen Motiven handelt, tut es nicht für die Allgemeinheit. Wer die Wirklichkeit zwingen will, sich dem eigenen Drang nach Würde und Karriere anzupassen, ist in Justus' Augen ein Lump, und von seinem Standpunkt aus hat er recht. Anders sieht es aus im Römerlager, wo Josef nach der Eroberung von Jotapat auftaucht. Die Erscheinung des ehemaligen Befehlshabers von Galiläa im Lager der Römer ist sehr sonderbar. Es besteht kein Zweifel, der Befehlshaber hat seine Kämpfer im Stich gelassen. Dennoch gewinnt er die Anerkennung der Römer für den gelungenen Kampf, den er sieben Wochen lang gegen sie geführt hat. Josefs Karrieredrang verläßt ihn auch in diesem kritischen Augenblick nicht: In Josef unterdes arbeitete es in rasender Eile. Angesichts dieses Römers, der sein Leben in der Hand hielt, kamen plötzlich Sätze wieder herauf, die er seit langem hinunter hatte sinken lassen, die Sätze der schweren, einfältigen Männer aus der Schenke von Kapernaum. Fiebrig spannte er sich, es ging um sein Leben, und was jene dumpf geahnt hatten, das sah er auf einmal blitzhaft klar und scharf. „Es gibt nicht viele Propheten in Judäa", erwiderte er, „und ihre Sprüche sind dunkel. Sie haben uns verkündet, der Messias gehe aus von Ju-
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däa. Wir haben sie mißverstanden und den Krieg begonnen. Jetzt, wo ich vor Ihnen stehe, Konsul Vespasian, in diesem Ihrem Zelt, weiß ich die richtige Deutung." Er verneigte sich voll großer Ehrerbietung, aber seine Stimme blieb nüchtern und voll Maß. „Der Messias geht aus von Judäa: aber er ist kein Jude. Sie sind es, Konsul Vespasian." (I, 193-194)
Vom Standpunkt der Römer aus ist diese provozierende Aussage eine „gewagte, abenteuerliche Lüge", selbst wenn sie sich auf Erzählungen stützt, die die Römer über den Orient und die dort verbreiteten messianischen Lehren gehört haben. Die römischen Krieger und Verwalter sind viel zu realistisch, um mit derartigen messianischen Prophezeiungen irregeführt zu werden. Selbst wenn Josef Vespasians Herz gewonnen hat, sehen sie in seinen Verkündungen nur den Versuch, ihnen zu gefallen, um am Leben zu bleiben und nicht, wie seine Freunde, gekreuzigt zu werden. Josefs allzumenschliche Motivierung erklärt sich aus seinem Drang nach Ehre und Karriere; das ist die einzige Erklärung, die der Roman liefert. Vespasian, im Bann von Josefs ,Prophezeiung', fragt nach: „Können Sie mir auch sagen [...], wann das sein wird mit meiner Messiasherrlichkeit?" (I, 197)
Josefs Antwort bleibt konsequent: „Das weiß ich nicht". Und plötzlich, unerwartet stürmisch: „Halten Sie mich in Ketten bis dahin. Lassen Sie mich exekutieren, wenn es Ihnen zu lange dauert. Aber es wird nicht lange dauern. Ich war ein guter Diener der ,Rächer Israels 4 , solange ich glaubte, Gott sei in Jerusalem und diese Männer seine Beauftragten. Ich werde Ihnen ein guter Diener sein, Konsul Vespasian, nun ich weiß, Gott ist in Italien, und Sie sind sein Beauftragter." (I, 198)
Was sind diese Worte, wenn nicht Ausdruck der raschen Verwandlung eines Mannes, der Ruhm und Karriere erstrebt hat. In dieser Ideologie steckt ein großes Maß an Opportunismus. Von einem Augenblick zum anderen, als es um sein Leben geht, offenbart Josef Wahrheiten, die im Gegensatz zu all seinen bisherigen Taten stehen: die Sendung nach Rom, die Führung des Aufstandes in Galiläa und nun die Konfrontation mit Vespasian, die Behauptung, Gott befinde sich nicht in Jerusalem, sondern in Rom. All dies ist viel zu kompliziert, um von dem einfachen Römer verstanden zu werden, und so befürchtet nicht allein Titus, es könne sich bei Josef nur um einen Lumpen handeln.
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IV. Josephus' Psalmen Josephus verkündet seine Lehre in den fünf Psalmen, die er im Laufe seiner geistigen und politischen Laufbahn geschrieben hat. 21 Diese Psalmen schildern den geistigen Übergang von Jerusalem nach Rom und zurück. Die Psalmen tragen die Überschriften: „Psalm des Weltbürgers", „Psalm vom Ich", „Psalm von den drei Gleichnissen", „Psalm vom Glasbläser" und „Psalm vom Mut". Sie kennzeichnen die Etappen in der Entwicklung seiner Weltanschauung und die Veränderungen, die in seiner Welt stattgefunden haben. Der fünfte Psalm („Psalm vom Mut"), um dies vorwegzunehmen, verwirft den Glauben und die Ideen des ersten Psalms („Psalm des Weltbürgers"). Der letzte Psalm ist also eine Art Rückkehr vom Weg, der zum ersten Psalm geführt hat und der auf der Ideologie des Weltbürgers aufgebaut war. Die Überprüfung der Psalmen und der Verhältnisse zwischen ihnen offenbart die Wandlungen in der Trilogie vom ersten Teil zu den beiden anderen. Die beiden ersten Psalmen, „Psalm des Weltbürgers" und „Psalm vom Ich", ergänzen einander. Der „Psalm von den drei Gleichnissen" prüft erneut die Gewißheiten der beiden ersten, hält aber immer noch an der Lösung im Sinne des „Psalm des Weltbürgers" fest. Im „Psalm vom Glasbläser" wird die Macht des Schicksals hervorgehoben, Zweifel artikuliert an der Fähigkeit des Menschen, seine Welt zu gestalten und sie planmäßig zu retten. Der fünfte „Psalm vom Mut" spricht vom geistigen, nicht vom militärischen Heroismus. Die Bereitwilligkeit, für die Wahrheit zu sterben, ist erhabener als jede Aufopferung auf dem Schlachtfeld. Dies ist zweifellos ein Übergang von der griechisch-römischen Auffassung vom Heldentum zur jüdischen Auffassung, wie sie Feuchtwanger vertritt. Der „Psalm vom Mut" ist ohne Zweifel ein Loblied für die Schriftsteller und Intellektuellen in Not, die aufgerufen werden, ihren Glauben zu verteidigen. Gleichzeitig aber preist er auch diejenigen, die bereit sind, ihren Irrtum zu bekennen. Josephus preist hiermit sich selbst dafür, daß er erkannt hat, einen falschen Weg eingeschlagen zu haben und an einer Ideologie festgehalten zu haben, die ihn und die Welt nicht retten konnte, weil sie keine Adressaten hatte: Und er dachte an die Verse, die er geschrieben hatte [...]. Und seine Verse schienen ihm leer, und sinnvoll schien ihm nur eines, die Weisheit des Kohelet. (III, 377)
Zu dieser Schlußfolgerung gelangt er, nachdem er „dreimal schmählich" aus der Stadt Rom [geflohen war], die er so frech und seines Sieges gewiß betreten hat vor nunmehr dreißig Jahren. Ein Menschenalter ist er in Rom gewe21
Vgl. dazu Chaim Shoham: Der Jude als Vermittler (Anm. 12).
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sen, ein Menschenalter hat er gekämpft, und immer wieder hat er geglaubt, jetzt habe er den Sieg fest in der Hand. Und das also ist das Ende. Schimpflichste Niederlage und Flucht. (III, 374)
Der Mensch braucht Heroismus, wenn er zu neuen Erkenntnissen kommen will. Diese Erkenntnis führt zu einer Wendung in der Welt des Josephus. Der Karriereroman wird zum Roman der Rückkehr, allerdings einer späten Rückkehr, wie sie sich an der Reihenfolge der Psalmen ablesen läßt. Für seine Karriere ist Josef bereit, seine Freunde zu hintergehen und in Vespasian einen Retter, sogar einen Messias zu sehen. Er verleiht dessen Erscheinen eine theologisch-kulturelle Bedeutung: Die Erlösung [...] bestand darin, daß dieser Mann die Schale des Judentums zerschlug, auf daß ihr Inhalt über die Erde verströmte und Griechentum und Judentum ineinanderschmolzen. In Josefs Leben und Weltbild drang immer mehr von dem hellen, skeptischen Geist dieser östlichen Griechen. Er verstand nicht mehr, wie er früher hatte Abscheu spüren können vor allem Nichtjüdischen. Die Heroen des griechischen Mythos und die Propheten der Bibel schlossen einander nicht aus, es war kein Gegensatz zwischen den Himmeln Jahves und dem Olymp des Homer. Josef begann die Grenzen zu hassen, die ihm früher Auszeichnung, Auserwähltheit bedeutet hatten. [...] Er war der erste Mensch, eine solche Weltanschauung beispielhaft vorzuleben. Er war eine neue Art Mensch, nicht mehr Jude, nicht Grieche, nicht Römer: ein Bürger des ganzen Erdkreises, soweit er gesittet war. (I, 274-275)
Vom jüdischen Standpunkt aus ist diese Auffassung empörend. Mythos und Bibel, Gott und Zeus, gibt es krassere Gegensätze? Sie passen vielleicht in Josephus' Auffassung hinein, der mit aller Kraft die Schranken des Judentums durchbrechen wollte, um Karriere zu machen. Was blieb ihm nach der Zerstörung des Tempels und dem Verlust der jüdischen Souveränität im Jahre 70 übrig? Weltbürgertum. Weltbürgertum ist jedenfalls die Antwort, die Josephus nach seiner Entwurzelung gefunden hat. Sie ist seine Rechtfertigung dafür, daß er sich für eine Karriere und für Rom entschieden hat. Eine neue Art jüdisches Dasein wird geschaffen - der Jude als Weltbürger. In Folge dessen schreibt er den „Psalm des Weltbürgers" als eine späte Ergänzung der Psalmen König Davids. Josephus' Psalm ist weltlich. Er stützt sich nicht auf eine Offenbarung, sondern auf politische und kulturelle Gegebenheiten, die derartige Antworten nicht immer ermöglichen. Im Gegenteil, was tut derjenige, der sich als Weltbürger ausgegeben hat, wenn die Welt sich weigert, ihn zu akzeptieren? Solange die Abweisung intellektueller Art ist, kann er dagegen ankämpfen. Was aber tut er, wenn man ihm mit Verfolgung und Vernichtung droht? In Alexandria, noch vor der Zerstörung des Tempels, entsteht der „Psalm des Weltbürgers":
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Ο Jahve, gib mir mehr Ohr und mehr Auge, Die Weite deiner Welt zu sehen und zu hören. Ο Jahve, gib mir mehr Herz, Die Vielfalt deiner Welt zu begreifen. Ο Jahve, gib mir mehr Stimme, Die Größe deiner Welt zu bekennen. Merkt auf, Völker, und hört gut zu, Nationen. Spart nicht, spricht Jahve, mit dem Geist, den ich über euch ausgoß. Verschwendet euch, geht die Stimme des Herrn, Denn ich speie aus denjenigen, der knausert. Und wer eng hält sein Herz und sein Vermögen, Von dem wende ich mein Antlitz. Reiße dich los von deinem Anker, spricht Jahve. Ich liebe nicht, die im Hafen verschlammen. Ein Greuel sind mir, die verfaulen im Gestank ihrer Trägheit. Ich habe dem Menschen Schenkel gegeben, ihn zu tragen über die Erde, Und Beine zum Laufen, Daß er nicht stehen bleibe wie ein Baum in seinen Wurzeln. Denn ein Baum hat nur eine Nahrung. Aber der Mensch nähret sich von allem, Was ich geschaffen habe unter dem Himmel. Ein Baum kennt immer nur das gleiche, Aber der Mensch hat Augen, daß er das Fremde in sich einschlinge, Und eine Haut, das andere zu tasten und zu schmecken. Lobet Gott und verschwendet euch über die Länder. Lobet Gott und vergeudet euch über die Meere. Ein Knecht ist, wer sich festbindet an ein einziges Land. Nicht Zion heißt das Reich, das ich euch gelobte, Sein Name heißt: Erdkreis. (I, 282-283) Mittels biblischer Allusionen revoziert der Psalm wichtige Grundlagen des Judentums. Josephus benützt in diesem Psalm biblische rhetorische Figuren, um ihre inhaltliche Bedeutung abzuleugnen, so, wenn auf Baum und Zion angespielt wird, bekanntlich das Zentrum der Welt (Isaia, 2,2; Micha 4,2). Es erübrigt sich, das Lob Jerusalems gemäß dem biblischen Psalm 48 zu wiederholen. Aber nach der Zerstörung des Tempels und des Untergangs Jerusalems als politisches Zentrum des jüdischen Volkes wird in den Augen Josephus' der gesamte Erdkreis zum gelobten Land. Reli-
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giös-rituelle Elemente, die mit Jerusalem verbunden sind, werden abgewiesen zugunsten allgemein humanistischer Ideen, die für Juden nicht akzeptabel sind. Die Welt dreht sich nicht mehr um Zion, von wo aus die Lehre kommt und wohin alle zurückkehren sollen am Tag des Jüngsten Gerichtes. Es könnte genauso Rom sein (oder heutzutage Berlin oder San Franzisco). Das Exil zieht nach Rom, nicht nach Zion. Rom ist die ganze Welt. Weltbürgertum bedeutet Wurzellosigkeit und Wandern. Mit dieser .Ideologie' weist Feuchtwangers Psalm die biblische Vorstellung vom „Menschen als Baum auf dem Felde" (Deuteronomium, 20,19; vgl. auch Psalm 1; Jeremia 17,7) ab. Der Vergleich des Menschen mit dem Baum bedeutet Beständigkeit und Sicherheit. Der „Psalm des Weltbürgers" predigt dagegen eine völlig andere Existenz, die Alternative der Existenz, die der jüdische Glaube in bezug auf das Land Israel vorschlägt. Dieses Dasein lehnt Nationalismus und Schranken zwischen Ländern ab. Der Jude Josephus hat beschlossen, diese Alternative auszuprobieren. Nicht ohne Grund sahen die Juden in diesem Psalm Josephus' eine „wüste Ketzerei" (I, 284). Das Versagen der Ideologie vom Weltbürger, das im Roman Die Söhne durch den Tod von Josephus' Sohn angezeigt wird, führt den Historiker dazu, seinen zweiten Psalm zu schreiben, den „Psalm vom Ich". Hier gibt er das Weltbürgertum auf zugunsten des Menschenrechts, zu wählen, was man sein möchte, und nicht mit fremden Definitionen umschrieben zu werden. Er lehnt sich auf gegen Gott selbst, der die Pläne des Menschen schon durch den Einsturz des Turmes zu Babel umgeworfen hat, wodurch ebenbürtige Menschen getrennt und zu verschiedenen Nationen wurden. Josephus will sein Verlangen nach dem Ich hervorheben: Ich will ich sein, Josef will ich sein, So wie ich kroch aus meiner Mutter Leib, Und nicht gestellt zwischen Völker [...] (Π, 280)
Dieses neue Verlangen nach Individualismus soll unter die bestehenden Beschreibungen des Menschens fallen. Wie im „Psalm des Weltbürgers" wird auch hier ausdrücklich der jüdische Grundsatz der Auserwählung, der das Volk Israel von den anderen Völkern unterscheidet, abgelehnt: Laß mich Ich sein. Oder schmeiß mich zurück in das ö d und Leere, Aus dem du mich rissest Ins Licht dieser Erde. (II, 281)
Weltbürger bedeutet immerhin, ein Teil der Gesellschaft zu sein, während der Wille „Ich zu sein" diese Idee ablehnt zugunsten eines radikalen Indi-
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vidualismus. Der zweite Psalm ergänzt also, was Josephus im ersten angedeutet hat. Den „Psalm von den drei Gleichheiten" schreibt Josephus in Folge seines Gespräches mit Justus, dem jüdischen Historiker, der sich den Ideen und Tendenzen des jüdisch-römischen Historikers widersetzt. In diesem Gespräch widerlegt Justus die Behauptung Josefs, die ersten Christen seien diejenigen, „die noch an der universalistischen Tendenz der Schrift festhalten" (II, 415). Seiner Meinung nach bedeutet Weltbürgertum eine Preisgabe: Sie erkaufen sich ihren Universalismus durch Preisgabe alles dessen, was das Judentum an großer, starker Tradition besitzt [...]. Weltbürgertum will erworben sein. Man muß Nationalismus gespürt haben, um zu wissen, was Weltbürgertum ist. (II, 415).
Das Problem des Mannes, der zwischen dem Judentum und dem Weltbürgertum der ersten Christen wählen muß, definiert Justus als nationalistisches .Zusammenschrumpfen', im Vergleich zur Auflösung in ein „farbloses Gemengsel" (ebd.). Josephus schreibt den Psalm nach diesem nächtlichen Gespräch mit Justus. Drei biblische Metaphern - Salz, Feuer, Regenbogen - werden umdeutend aufgenommen, um daraus auf die Lage des Menschen zu schließen, der eine Sendung zu erfüllen hat: Denen ich zugehöre, Hat Jahve auferlegt, Das Salz zu sein seiner Erde. Wie aber sollen wir es anstellen, das Salz zu sein, Da des Wassers viel ist Und wir vergehen würden im Wasser, Für immer uns auflösend ins Nichts, So daß unser keine Spur bliebe und kein Geschmack Und unsere Sendung verloren wäre? Ich will nicht verloren sein. Ich will nicht das Salz sein. (II, 416)
„Salz zu sein seiner Erde" wird abgewiesen: vielleicht würde es einen gewissen Geschmack in die Welt setzen, aber „da des Wasser viel ist", würde man es nicht spüren. Josef widersetzt sich der Auflösung in eine farblose Mischung, von der Justus gesprochen hat. Oh, der Lust, Feuer zu sein, Das abgeben kann von seiner Kraft Und doch nicht weniger wird und nicht erlischt. Glückliches Licht, glückliche Flamme. Aber solche Gabe hat allein der brennende Dornbusch. Selbst Mose, da er nach der Flamme griff,
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Versengte sich den Mund Und ward schwer von Wort und ein Stammler. Wie dürfte mir Geringem träumen von solcher Gabe. Ich kann nicht das Feuer sein. (Π, 416-417)
Der Gesandte gleicht der Flamme, die die Welt in Brand setzt und sie erhellt. Die Eigenschaft, zu brennen, ohne verzehrt zu werden, ist eine göttliche Eigenschaft, die auch Moses verwehrt blieb. Die Ablehnung der Möglichkeit, daß ich, der .Geringe' das ,heilige Feuer' sein kann, gleicht der Ablehnung der Sendung, die dem Propheten Isaia von Gott auferlegt wird (Isaia 6,5). Es erübrigt sich zu bemerken, daß in der religiösen Welt der Engel den Propheten, der sich unrein fühlt, reinigt und ihn auf seine Sendung vorbereitet. Gnade ist dem säkularen Historiker fern. Er stützt sich auf Visionen, die ihm und seinen Entscheidungen entsprechen. In der dritten Strophe des Psalms wird die Entscheidung ausdrücklich als biblisches Versprechen dargestellt, symbolisiert durch den Regenbogen: Sinnlos vielleicht ist der schimmernde Bogen, Wenn durch den Regen die Sonne bricht, Vielleicht nur eine Freude der Kinder und Träumer. Und dennoch war's dieser Bogen gerade, Den Jahve sich ausersah zum Zeichen Seines Bundes mit dem vergänglichen Fleisch. Laß mich solch ein Regenbogen sein, Jahve, Schnell erlöschend, doch neu geboren immer wieder, Schillernd in vielen Farben und dennoch aus einem Licht, Eine Brücke von deiner Erde zu deinem Himmel, Gemisch aus Wasser und Sonne, Immer da, Wenn Sonne und Wasser sich mengen. (II, 417)
Der Wunsch, wie ein Regenbogen zu sein, bedeutet die Entscheidung zugunsten des Glaubens an das Weltbürgertum und seine Sendung. Josephus vergleicht die Erscheinung des Regenbogens nach dem Sturm mit seinem erneuten Glauben, nachdem alle Gefahren überstanden sind. Salz löst sich in Wasser auf, das Feuer verzehrt, aber der Regenbogen erneut sich ständig und verkündet Hoffnung, die Hoffnung, die Josef schon in seinem ersten Psalm erwähnt. Im „Psalm vom Glasbläser" bezweifelt Josephus dann bereits die Fähigkeit des Menschen, sein Ich zu behaupten und zum Weltbürger zu werden. Das Schicksal regiert die Welt wie der Glasbläser den Menschen. Manchmal gelingt es ihm und manchmal nicht. Der Mensch ist wie das glänzende Glas ursprünglich
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300 Ein Körnchen Sandes, nichts sonst, ein winziges Teilchen stumpfer, unscheinbarer Masse. (Π, 493)
Dann, plötzlich, erhebt er sich über alle Werte hinweg, und das ist die große Höffnung: Und darum [...] bleibe der Sandkörnchen keines Ganz ohne Hoffnung. Denn ihm gerade vielleicht Ist es bestimmt, daß das Große Aus ihm einst herausglänzt. (Π, 493)
Der Standpunkt der Materie (das Sandkörnchen) und des Schöpfers (der Glasbläser) wechselt zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen dem Glauben, die Begegnung der Beiden werde zu etwas Großem führen, und der Erkenntnis, es könne fehlschlagen. Meint Josephus hiermit sich selbst, seinen Lebenslauf und die Ideologien, die er gehegt und an die er geglaubt hat? Möglicherweise, aber dieser Vergleich beschreibt zweifellos zugleich generell den Menschen und sein Wirken in der Welt. Den „Psalm vom Mut" schreibt Josephus am Ende der Herrschaft Domitians, als er am Kaiserhaus keinen Gefallen mehr findet. Josephus schwankte zwischen dem leichten Ausweg, dem tyrannischen Kaiser nachzugeben, und dem schweren, sich selber treu zu bleiben, besser gesagt, wieder zu sich selbst zu kommen, nachdem alle anderen Lösungen fehlgeschlagen sind. Der Psalm konfrontiert zwei heroische Grundsätze miteinander: das Militärische und das Geistige. Der Held, der bereit ist, auf dem Schlachtfeld zu sterben, steht dem Märtyrer gegenüber, der sich für seinen Glauben aufopfert. Der Historiker Josephus, der sich auf dem Schlachtfeld nicht als Held erwiesen hat, zieht das Heldentum des Intellektuellen dem des Kämpfers vor. Er kämpft für die Bedeutung der Worte, für die Glaubwürdigkeit des Ausdrucks. Deshalb wagt er es, den Mann zu loben, der widerstrebt zu sagen, was man ihm in den Mund legt, und den Mann, der bereit ist, für die Wahrheit sein Leben zu riskieren. Das ist das Heldentum der Schriftsteller und der Historiker. Seine Verpflichtung zur Wahrheit wird Josephus zum Bekenntnis führen, daß die Lösung, die er der Welt durch seine Karriere vorgelebt hat, aus der Luft gegriffen war. Er wird, wenn auch spät, zu seinem Volk und zu seiner Nationalität zurückkehren - der zweite Teil von Der Tag wird kommen ist dieser Rückkehr gewidmet. Von Galiläa ging er in die weite Welt hinaus, und in Galiläa beendet er den langen Weg zum Weltbürgertum und zurück zum Judentum.
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V. Wendung II: von Josephus zu Josef Im Nachwort zum zweiten Teil der Trilogie, Die Söhne, rechtfertigt Feuchtwanger die Änderung der Konzeption des verlorengegangenen Teils bei seiner erneuten Niederschrift: Ich hatte zu dem Thema des „Josephus": Nationalismus und Weltbürgertum manches zugelernt, der Stoff sprengte den früheren Rahmen, und ich war gezwungen, ihn in drei Bände aufzuteilen. (II, 544)
Diese Bemerkung deutet die bereits erwähnte Wendung an, die die Tendenz des Romans und seine Struktur genommen haben. Ursprünglich war das Thema des Romans der Übergang vom Nationalismus zum Weltbürgertum, von Josef Ben Matthias zu Josephus Flavius. Für diese Konzeption war die zweiteilige Struktur des Romans angemessen. Sobald Feuchtwanger jedoch erkannte, daß der Kosmopolitismus keine Endstation für seinen Held sein würde, sondern höchstens ein Übergangsstadium bei seinem Weg von Volk und Heimat über Rom und die Welt zurück zu seinem Ursprung, bedurfte es der Struktur einer Trilogie, um den gesamten Stoff zu umfassen, der sich über den früheren Rahmen hinaus entwickelt hatte. Georg Lukäcs war vielleicht der erste Kritiker, der die Wendung erfaßt hat, die im Übergang vom ersten zum zweiten Teil der Trilogie stattfindet. Seiner Meinung nach bedeutet der Teil Die Söhne einen Fortschritt gegenüber Der Jüdische Krieg.22 Er ist der Ansicht, daß der erste Teil nur scheinbar das jüdische Volk beschreibt: [...] das Wichtigste und das plastisch Herausgearbeitete ist nicht das Volksschicksal selbst, sondern die Reflexion bedeutender Persönlichkeiten über dieses Schicksal. Das Volk selbst ist hier im vollen Sinne des Wortes nur Objekt der sich „oben" abspielenden Handlung [...]. 23
Im zweiten Teil befasse sich Feuchtwanger jedoch schon mit „der Schilderung des Volkes, seiner ökonomischen Lage und den aus ihr entspringenden ideologischen Zusammenhängen zwischen den Problemen",24 und die „Zusammenhänge zwischen den Lebensproblemen des Volkes und den ideologischen Bewegungen der Zeit" erhielten zunehmendes Gewicht.25 Lukäös meint, daß sich Feuchtwanger im zweiten Teil des Romans den marxistischen Ideologien und der marxistischen Poetik des historischen Romans nähere.26 Die Bedeutung, die Lukäös den marxistischen Ideologi22
23 24 25 26
Georg Lukäös: Der historische Roman. Neuwied und Berlin, 1965. (= Probleme des Realismus III. Werke Bd. 6). S. 355f. Ebd. S. 356. Ebd. S. 358. Ebd. S. 359. Vgl. ebd. S. 293f.
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en und deren Präsenz als Basis zum Überbau des Romans beimißt, hindert ihn allerdings daran, die Wendungen, die der Roman in bezug auf den jüdischen Standpunkt nimmt, zu erkennen. Es handelt sich um zwei Wendungen: zum einen die in der Welt von Josephus Flavius stattfindende, zum andern diejenige, die Feuchtwangers Weltanschauung seit dem Exil betrifft. Indirekte Beweise dafür finden wir im Roman, direkte Beweise liefern Feuchtwangers Essays. In der Welt von Lion Feuchtwanger hat der jüdische Aspekt eine zentrale Bedeutung. Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, daß er zumindest in der Josephus-Trilogie zentraler ist als jene Aspekte, die Lukäcs im Zusammenhang seiner Poetik des historischen Romans hervorgehoben hat. Der Übergang von der Handlungsstruktur des Karriereromans zur Handlungsstruktur des Romans der Rückkehr ist entscheidend für die Bedeutung der schließlich abgeschlossenen Trilogie. Der Glaube an die Erlösung der Welt durch Kosmopolitismus, den niemand außer seinen Verbreitern brauchte, macht einer deutlichen Ernüchterung Platz. Die Söhne beginnt mit dem Tode Vespasians. Als Josephus, der Historiker des Hauses Flavius, hört, der Kaiser liege im Sterben, denkt er zurück an ihre erste Begegnung und fragt sich, was ihn veranlaßt hatte, ihm seine Zukunft vorauszusagen: Damals hatte er den Mann als den Messias begrüßt, als den künftigen Kaiser. Es war eine peinigende Erinnerung. Hatte damals das Fieber der unsäglichen Entbehrung aus ihm gesprochen? War es nur ein schlaues Manöver gewesen, ihm vom Trieb der Selbsterhaltung eingegeben? Unnütze Grübelei. Die Ereignisse haben ihn bestätigt, Gott hat ihn bestätigt. (II, 7-8)
Josephus ist immer noch von seiner Karriere besessen. Er muß sich und seine vergangenen und zukünftigen Handlungen weiter rechtfertigen. Er muß sich die Erkenntnis bestätigen, daß der Messias tatsächlich aus Rom kommen wird, wie er prophezeit hatte, und deshalb ist sein Weg nach Rom natürlich und selbstverständlich. Die Prophezeiung, die er dem zukünftigen Gründer der römischen Kaiserdynastie verkündet hat, führte ihn nach Rom und veranlaßte ihn, den Kosmopolitismus dem Nationalismus vorzuziehen. Dieser Ideologie gewährte Josephus in seiner Seele den Status einer Prophezeiung („von den Ereignissen befugt"). Der Erfolg, den er am Hofe des römischen Kaisers erntet, beweist in der Tat seine Wahl und seine Prophezeiung. Dennoch quält ihn der Zweifel. Er hat zwar Karriere gemacht, aber seine Ideologie hat noch nicht den Platz eingenommen, den er für sie in der Metropole Rom vorgesehen hatte. Josephus grübelt darüber im „Psalm des Weltbürgers", der Rechtfertigung seiner Taten und seinem Credo. Er behielt diesen ,Psalm' für sich und veröffentlichte ihn nicht, da er auf hebräisch geschrieben war. .Die Juden hatten kein Interesse daran, und diejenigen, die keine Glaubensgenossen waren, konn-
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ten nicht an ihn heran. Da übersetzte Josephus ihn ins Griechische, war sich freilich der Unzulänglichkeit der Übersetzung bewußt. In der Übersetzung klingt der ,Psalm' armselig und eintönig. Er ist keineswegs so erhebend wie im hebräischen Original, das an die biblischen Psalmen erinnert. Josephus gesteht die literarische Fehlleistung des .Psalms' ein, überläßt jedoch seine ideologische Wirkung der Zukunft: Einmal, trotzdem, wird die Stunde kommen, da alle Völker seinen Psalm verstehen. (Π, 19)
Josephus sieht also ein, daß er bis dahin nur auf seine Karriere bedacht war und daß er den Weg dahin nicht rechtfertigen kann. Gerade in dieser Erkenntnis kann man den Anfang der Wende in seiner Gestalt und im Roman finden. Vespasian liegt im Sterben, und sein Sohn Titus, ein guter Freund des Josephus, soll den Thron erben. Dann, das weiß Josephus, wird er wieder das sein können, was er früher war: Doktor Josef Ben Matthias. „Er wird seine Gefühle reiner ausdrücken, tiefer, jüdischer [...]" (II, 19). Dies ist der Anfang des Weges, der Josephus zurück zu sich selbst und zu seinem Wesen bringt. All dies finden wir schon am Anfang von Die Söhne, und diese Tendenz erstreckt sich in weitem Bogen bis zum Ende des zweiten Teils der Trilogie. Die Söhne endet mit Titus' Tod und dem Aufstieg seines Bruders, Domitian, zur Kaiserwürde. Als erstes verewigt der neue Kaiser das Andenken seines Vaters und seines Bruders durch die Errichtung eines Triumphbogens in Rom. In der letzten römischen Episode marschiert Josephus gedemütigt in einer Prozession, die den Sieg Roms über Judäa symbolisiert, ein Akt, den der neue Kaiser zur Einweihung seines neuen Triumphbogens angeordnet hat. Der .Weltbürger', der in seinem Inneren seinen Nationalismus zugunsten des Weltbürgertums geopfert hat, muß nun wie ein Besiegter marschieren, um die Glorie und Macht Roms zu bestätigen. Dies ist also eigentlich ein Loblied auf den Nationalismus. Nicht umsonst wird im letzten Absatz des zweiten Teils der Trilogie gerade der hebräische Name Josefs genannt, während sein römischer Name nur als Bezeichnung erwähnt wird. Josef Ben Matthias - das ist das Wesen. Der römische Name Josephus Flavius dagegen erweist sich als Maske, die er aufgesetzt hatte, solange er noch glaubte, er könne tatsächlich sein jüdisches Wesen mit einem römischen tauschen und zu einem Weltbürger werden. Diese Erkenntnis dämmert ihm, kurz bevor er gedemütigt durch den Triumphbogen zieht: Er liest die lateinischen Worte, aber gleichzeitig in ihm denkt es, aramäisch: Jetzt stehenbleiben dürfen, umkehren. Wie glücklich waren jene, die damals die Waffen gegen Rom hoben und den Cestius Gall totschlugen und seine Legion. Verrückt waren sie und glücklich. Selig sind die Armen im Geiste, selig die Unvernünftigen. Wie glücklich war ich selber, als ich in Galiläa einherzog,
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vor den Aufständischen, auf meinem Pferde Pfeil. Ο meine Kraft, ο meine Freude, ο meine Jugend, und ich bin noch nicht alt. (II, 542)
Das Ende des Romans steht in vollem Gegensatz zum Anfang. Es weist all das von sich, um was sich Josefs Welt im ersten Teil der Trilogie drehte. Nun, da nichts mehr von der römischen Karriere des Josephus übrig geblieben ist, schönt er die Vergangenheit. Vom Aufstand in Galiläa bleibt nur noch der Heroismus; sein Verrat ist genau so vergessen wie der wahre Grund dafür, daß Josef die Leitung des Aufstandes in Galiläa übernommen hatte. Es bleibt nur noch die Nostalgie für jene Tage und Taten. Der Traum vom Kosmopolitismus erweist sich als Illusion, und mit der Ernüchterung öffnet sich die Bahn für eine späte Rückkehr, um die sich der dritte Teil der Trilogie, Der Tag wird kommen, dreht.
VI. „Das Land holte ihn, und er suchte es" Die neue Trilogiestruktur und ihr Ziel, die Rückkehr, wird deutlich und direkt schon zu Anfang von Der Tag wird kommen dargelegt. Diese Direktheit ist typisch für Feuchtwanger, der Marcel Reich-Ranicki zufolge zu jenen Erzählern gehört, die direkt sagen, was sie zu sagen haben, und zwar mehrmals: In seinen Büchern wird alles aufs Genaueste ausgeführt. Er schiebt nichts bei Seite. Er deutet nichts an - er sagt alles gerade heraus. Er macht es den Lesern leicht - er vereinfacht es ihnen, vielleicht zu sehr.27
Und so wird Josephus auf der ersten Seite folgendermaßen eingeführt: Flavius Josephus, Ritter des Zweiten römischen Adels, der große Schriftsteller, dessen Ehrenbüste in der Bibliothek des Friedenstempels aufgestellt ist, oder besser der Doktor Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe aus Jerusalem [···] (HI, 7)
Wichtig sind die Worte „oder besser", die den Weg von Josephus zurück zur Gestalt und zum Wesen von Josef Ben Matthias anzeigen. Später, als der Erzähler von der .Aufgabe' Josefs spricht, handelt es sich denn auch nicht mehr um seine Karriere: Durch keinerlei Bemühungen um äußern Erfolg hat er sich von seinem Werk ablenken lassen. (III, 9)
27
Marcel Reich-Ranicki: Lion Feuchtwanger oder der Weltruhm der Emigration. In: Die Deutsche Exilliteratur. Hrsg. von Manfred Durzak. Stuttgart 1973, S. 443-456, hier S. 446.
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Dieses ,Werk' - seine Aufgabe - ist die Rückkehr zum Judentum: Nicht Geschichte zu machen, ist er eingesetzt von Gott und von den Menschen, sondern die Geschichte seines Volkes zu ordnen und aufzubewahren, ihren Sinn zu erforschen, ihre Träger beispielhaft hinzustellen zum Ansporn und zur Warnung. Dazu ist er da, und er ist es zufrieden. (ΙΠ, 8)
Am Anfang seiner Laufbahn diente ihm die Literatur als Mittel zum Erfolg. In seinem ersten Buch lobte er das Haus Flavius und seinen Krieg gegen die Juden. Nach dem Tod von Titus ist er in Rom abgeschrieben. Da findet er sich wieder. Er weist die Verpflichtungen seines hohen Ranges in Rom und gegenüber dem Hause Flavius zurück zugunsten seines Judentums. Der Weg zurück führt auch über den Demütigungsmarsch, den Domitian zum Andenken an den Sieg seines Bruder Titus über die Juden angeordnet hat. Selbst gedemütigt, weiht er das Siegestor ein, das in Rom für Titus errichtet wird. In seinem Buch über die Geschichte der Juden will er diese Demütigung zurechtrücken und der Welt von dem Heldenmut und Heroismus erzählen, die im Judentum zu finden sind, aber er sieht davon ab. Er weiß, die Zeiten sind nicht dafür geeignet. Die Juden könnten in den Bann des Heroismus geraten und abermals versuchen, gegen die Römer zu rebellieren. Die Zeit ist jedoch ungünstig für derartige Taten. In seinem Innern gibt Josef nicht nach, er denkt an die Neuerrichtung des jüdischen Staates im zerstörten Jerusalem. Jetzt aber schlägt die Stunde für ein „Jerusalem des Geistes". Der Tag für ein „Jerusalem aus Stein" wird später kommen. Josef Ben Matthias ist auf der Suche nach passenden Wegen, um eines Tages das „Jerusalem aus Stein" zu verwirklichen, wo seine Kinder und Kindeskinder vielleicht das erreichen werden, was er nicht erreichen konnte: Jude zu sein und gleichzeitig Grieche, ein Weltbürger (III, 23). Josef sieht das Versagen von Josephus ein. Er weiß, daß sein Weg ihn nach Judäa zurückführen muß, zurück zum Judentum, zu seiner Heimat und zur Geschichte des jüdischen Volkes. Dort sind seine Wurzeln. Von diesem Standpunkt aus kann man als Jude von jenem Tag träumen,, ohne seine Identität aufzugeben. Nun bleibt Josef nur ein Weg zurück, der der späten Rückkehr, in die er die Keime der Sehnsucht nach der Zukunft setzen kann. Am Ende der Trilogie, als Josef auf einem der Hügel in Galiläa im Sterben liegt, wo er seinen langen, gewundenen Weg begonnen hatte, denkt der Erzähler über den Mann und seine Taten nach. Diese Gedanken sind eine Zusammenfassung seines Lebens in Form einer Elegie, eine Art Rechenschaft für den Helden des Romans: Der Josef, der das streitbare Makkabäerbuch geschrieben hatte und den höfisch konzilianten „Jüdischen Krieg" und die kosmopolitisch laue Universalgeschichte und den patriotisch glühenden „Apion" [...] Dieser Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe, dem Erdkreis bekannt als Flavius Jose-
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phus, lag jetzt auf der Böschung, das Gesicht und den weißen Bart besudelt mit Blut, Staub, Kot und Speichel, veratmend. Das ganze kahle, gelbgesprenkelte Bergland ringsum und der helle Himmel gehörten jetzt ihm allein, die Berge, die Täler, der ferne See, der reine Horizont mit dem einsamen Raubvogel waren nur seinetwillen da und nichts als der Rahmen seines Inneren. Das ganze Land war erfüllt von seinem verdämmernden Leben, und er war eins mit dem Land. Das Land holte ihn, und er suchte es. Er hatte die Welt gesucht, aber gefunden hatte er nur sein Land; denn er hatte die Welt zu früh gesucht. Der Tag war da. Es war ein anderer Tag, als er ihn geträumt hatte, aber er war es zufrieden. (ΙΠ, 444) Die Worte „er hatte die Welt gesucht" kann man als eine Prophezeiung des Josephus für die Zukunft deuten. Aber der, der im Sterben liegt, ist Josef Ben Matthias, den das „Land holte [...]" und das „er suchte" (III, 444). Sein letzter Tag, seine letzten Augenblicke auf dieser Welt sind so anders als die erträumten. Er träumte von Weltbürgertum und befindet sich nun in seiner Heimat, in dem Land, mit dem er vereint werden wollte. Zum Boden, dem er entsprungen ist, will er zurück, „er war es zufrieden".
Hans-Peter Bayerdörfer (München)
Shylock in Berlin Walter Mehring und das Judenporträt im Zeitstück der Weimarer Republik
1 Die Theatergeschichte der 20er Jahre ist durch Versuche gekennzeichnet, Bühne und Drama mit dem neuen politischen Bewußtsein zu vermitteln, das dem Status der neuen Republik, ihrer demokratischen Verfassung und ihren in der Öffentlichkeit ausgetragenen politischen Konflikten entspricht. Die Frage ist, wie weit sich dabei auch das Bild von Juden und Judentum erneuert, und d.h. politisiert. Ab Mitte des Jahrzehnts tritt einerseits das sogenannte Zeitstück hervor, das die Sachlichkeitsdebatte bereits voraussetzt und das der politischen Polarisierung der Zeit, wie sie dann ab 1928/29 sich verstärkt, dadurch gerecht zu werden verspricht, daß es sich direkt engagiert. Zum anderen gewinnt - mit besonderer, überregionaler Sichtbarkeit - das Theater Erwin Piscators besonderes Profil, das sich marxistisch-proletarisch versteht und als Agitationstheater ausgibt; es unterstreicht den generellen Prozeß der Politisierung der Bühne, wie er mit Leopold Jessners Übernahme des Preußischen Staatsschauspiels 1920 so prägnant begonnen hat. Die ab 1928 erneut zunehmende politische Bedrohung des deutschen Judentums durch die antisemitischen Rechtsparteien wird theatergeschichtlich zunächst vor allem durch aggressive Störmanöver gegen entsprechende Stücke und Autoren sichtbar, wie etwa Carl Zuckmayers Fröhlichen Weinberg oder Ödon von Horvaths Italienische Nacht. Die Gegenbewegung artikuliert sich in thematisch einschlägigen Stücken und Inszenierungen des liberal bis links engagierten ,Theaters für die Republik'; hinzu kommen - mit nachhaltiger Resonanz - auch Gastspiele, in denen die ostjüdische Erscheinungsform des sowjetischen Theateroktobers, in Gestalt der Wilnaer Truppe oder des Staatlichen Jüdischen Theaters Moskau, oder der Zionismus in Gestalt der frühen Habima, in die deutsche Bühnengeschichte eintreten. Sieht man im folgenden von sozial ausgerichteten Zeitstücken ab, wie etwa Alfred H. Ungers Stück Menschen wie du und ich, welches das Sozialpanorama von Ferdinand Bruckners Verbrechern auf Auswanderungsund Umsiedlungsprobleme hin abwandelt und mit einer jüdischen Ideali-
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stenfigur anreichert, so sind von besonderem Belang diejenigen Zeitstükke, die ihren dezidiert politischen Anspruch dadurch artikulieren, daß sie geschichtlich argumentieren, illustrieren, beweisen, um zur Gegenwart zu sprechen. Die Aufbietung von Geschichte ist im Falle des Themas Judentum' von besonderer Relevanz, weil dabei nicht nur historische und historisch tradierte Klischeebilder zur Sprache gebracht, sondern auch deren geschichtliche Herkunft veranschaulicht und in den aktuellen Zeitbezug argumentativ eingebracht werden können. Die Theaterkritik der Zeit nannte diesen Stück-Typus ,Dokumentenstück' - so Herbert Ihering - oder sprach von .zeitgeschichtlichem Drama' - so Leo Lania. Wie in der späteren Phase des dann (60er Jahre) ,Dokumentartheater' genannten politischen Verfahrens, reichen die Methoden der .Dokumentation' vom einfachen Datenverweis auf dem Programmzettel oder im Nachwort, im Programmheft oder im Anhang bis zum innertextlichen Zitat, das je nachdem ausgewiesen oder unausgewiesen, hervorgehoben oder nahtlos eingearbeitet bleibt, oder bis zur multi-medialen Zitatmontage, in der die historische Quelle als Text, als Film, als Dia etc. erscheint. Das dramaturgische wie das ästhetische Grundproblem ist dann jeweils, wie sich das fiktionale Geschehen auf der Bühne auf dokumentierbares Geschehen als belegbare Geschichte bezieht und auf diese Weise aktuelle Problematik entbindet wie das eine dem anderen, d.h. mit welcher Plausibilität und welcher Begründung, zugeordnet wird, damit der Doppelanspruch dieser Werke sich einlöst: Beim Zuschauer soll zusammen mit dessen Fiktionsbewußtsein zumindest mit der .ästhetischen Wahrnehmung' - zugleich das historische Bewußtsein - zumindest das geschichtliche Erinnerungsvermögen aufgerufen und aktiviert werden. Dieser für die Endphase der Weimarer Republik bezeichnende erhöhte Wirklichkeitsanspruch des Theaters wirkt sich bei den Stücken, die sich dem Verhältnis der Zeit zum Judentum widmen, in dezidierter, zugespitzter Parteinahme aus. Dies soll an zwei konträren Beispielen demonstriert werden, ehe ich mich dann ausführlicher jenem komplexeren Fall zuwende, bei dem das Zeitstück mit jüdischem Thema und das prägnant verfahrende Zeittheater Piscators zueinander finden.
2 Die Vermittlung zwischen historischem Dokument und politischer Aktualität ist dann am einfachsten zu leisten, wenn übergeordnete Werte oder ideelle Regeln vorausgesetzt werden. Im Falle von Hans Jose Rehfischs und Wilhelm Herzogs Affäre Dreyfus (1929) ist es das Menschenbild der Aufklärung, der Menschenrechte und die diesen als Naturform zugeordnete Staatsform der Republik, welche den übergeordneten Vermittlungshori-
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zont bilden. Das Stück, das laut Günther Rühle einen Höhepunkt des politischen Theaters der Weimarer Republik überhaupt darstellt,1 läßt durchweg historische Gestalten auftreten; es dramatisiert die Vor- und die Nachgeschichte des Prozesses, den Emile Zola absichtsvoll gegen sich heraufbeschwor, indem er seinen offenen Brief an den Präsidenten der Republik in „L'Aurore" veröffentlichte. Im Zentrum steht somit die politische Verantwortung des Schriftstellers, dessen Part - verstärkt durch die politische Zustimmung des literarischen Kontrahenten Anatole France das große ,J'accuse" ist. Diese Anklage selbst gegen jene monarchistisch gesinnte, reaktionäre Militäroligarchie, die über Ministerium, Abwehrdienst und Geheimhaltungsrechte die Öffentlichkeit irreführend beherrscht, hebt ausdrücklich die Verquickung antisemitischer und republikfeindlicher Grundmotive hervor. (Du Paty de Clan) Die unselige Revolution von Siebzehnhundertneunundachtzig hat unserem Land zu allem sonstigen Unglück auch noch das Bürgerrecht der Juden beschert. Wir aber wollen jene volksfremde Horde vertrieben sehen aus der Mitte unserer Nation. Hinaus mit ihnen - hinaus aber auch mit ihren Bundesgenossen: Freimaurern, Protestanten, Sozialisten, die ja allesamt heimlich in deutschen Diensten stehen.2
In der Darstellung des Prozesses werden dann nicht ohne Grund die Spitzensätze der Verteidiger Zolas unmittelbar zu einer Warnung vor dem Umsturz der Republik - Sätze, die sich in naheliegender Weise direkt auf die Endphase der Weimarer Republik übertragen lassen: (Clemencau) Unter dem Militärstiefel gibt Frankreich den Geist auf! (Jaurös) Niemals war die Republik in solcher Gefahr!3
Noch deutlicher werden dann Aussagen Zolas, die, so scheint es, direkt auf die Situation des Jahres 1929 gemünzt sind. Ideologische Parteilichkeit der Justiz zugunsten von rechts wird angeprangert, der Mangel an republikanischem Ethos und demokratischem Bewußtsein im Volk wird gerügt, die apolitische Hörigkeit gegenüber Monarchisten und Militär, die antisemitische Verhetzung beklagt, die vorwiegend mittels des demagogischen Konstrukts von einer jüdischen Weltverschwörung betrieben wird. (Zola) Man beschränkte uns willkürlich in der Verteidigung. Man terrorisierte unsere Zeugen. Man verhinderte die Vollendung des Wahrheitsbeweises - aber erlaubte einigen Generälen, ihre eigene Unfehlbarkeit über die Würde dieses 1
2
3
Günther Rühle: Theater für die Republik. Frankfurt am Main 1967. Neuausgabe 1988, Bd. 2, S. 999; Ihering sprach in seiner Rezension im „Börsen-Curier" vom 26.11.1929 von „dokumentarischem Thema" und „politischem Theater" (ebd. S. lOOOf.). Hans [Jos6] Rehfisch/Wilhelm Herzog: Die Affäre Dreyfus. Schauspiel. München 1952, S. 14. Ebd. S. 111.
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Gerichts zu erheben. [...] In die G e η e r ä 1 e ist das Volk verliebt. Unsere Republik hat in ihren Adern noch wenig Republikanerblut. [...] Die Republik ist von Reaktionären jeden Schlages umworben - in einer Umarmung, in der sie ersticken wird. [...] Hütet Euch! Ihr rennt in die Diktatur! Meine Herren Geschworenen, es geht längst nicht mehr um die Sache Dreyfus allein, jetzt handelt es sich darum, ob das Frankreich von heute noch das Frankreich der Menschenrechte ist. Darum verbitten Sie sich doch endlich die Ammenmärchen von einer alljüdischen Verschwörung! [...] denn wo Lüge und Dummheit ausgesät werden, da geht eines Tages der helle Wahnsinn auf!4
Die Durchsichtigkeit der historischen Situation des Stückes für die Endphase der Weimarer Republik erbringt ein politisches Totalpanorama. Was sich Ende des Jahrhunderts in Frankreich ereignet hat und dank der Widerstandskräfte der Demokratie abgewehrt werden konnte, steht als Aufgabe in der Weimarer Zeit erst noch bevor: es geht in der Tat nicht mehr um die Affäre Dreyfus allein, sondern angesichts der zunehmenden Macht und Agitation der antisemitischen Rechten und ihres Widerhalls bei allen Feinden und Skeptikern gegenüber der Demokratie um den Bestand der Republik überhaupt. Daß dabei freilich - rezeptionsgeschichtlich gesehen - die im 5. Akt des Stückes von Rehfisch und Herzog gestaltete Wende, die Überwindung der Gefahr als beschwichtigendes Omen verstanden werden konnte, als Hoffnung auf die letztliche Verläßlichkeit der deutschen Demokratie, deutschen Rechtsempfindens - dies kann auf der Basis des Stückes allein nicht ausgeschlossen werden. Auch die Erfolgsserie von über 100 Aufführungen in einer Spielzeit besagt nichts über die inhaltliche Seite der Wirkung des Schlußaktes. Indessen wird indirekt die politische Stimulanzwirkung des Stückes dadurch dokumentiert, daß im Folgejahr ein Antistück auf die Bühne gebracht wird. Welche Dringlichkeit der Affäre Dreyfus, vor allem dem Appell Zolas innewohnt, zeigt das dokumentierende Gegenstück, mit dem Eberhard Wolfgang Möller die stofflich-zeitlich .benachbarte' Skandalstory der Jahrhundertwende aktualisiert. Sein Drama Panamaskandal ist ebenfalls weitgehend mit historischen Figuren bestückt, welche die finanziellen und politischen Vorgänge um die Liquidierung der Panama-Gesellschaft 1888/89 herbeigeführt haben. Fiktive Gestalten sind nur verwendet, wenn es um die Darstellung des Kollektivs der rund 85 000 .kleinen' Gläubiger handelt, die durch die Liquidation ruiniert werden. Ausdrücklich gibt Möller im Personenverzeichnis des Stückes auch als Spieldatum den Tag des Zusammenbruchs der Kompanie an (15.3.1889). Ziel der dramatischen Beweisführung des Stückes, die am historischen Exempel vollzogen wird, ist die Demonstration der durchdringenden und unaufhebbaren Korruption demokratischer Systeme - ein universaler Anspruch, zu dessen Gunsten selbst parlamentarische Rechtsparteien, wie die Boulangisten, die ihrer4
Ebd. S. 116f.
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seits die Beseitigung der Republik erstreben, einbezogen werden. 5 Der Analogieschluß liegt im Jahre der Weltwirtschaftskrise absolut nahe. Die Attacke gilt der ,Systemzeit', um die entsprechende DiskreditierungsVokabel des Nationalsozialismus einzufügen. Der als heroisch-individuell, als eher gutgläubig denn intrigant gezeichnete de Lesseps äußert sich zu seinem Sekretär über eine Delegation aus Kammer und Ministerium: Sehen Sie diese Gesichter an! Das ist der Staat. Das sind seine Beamten. Das sind die Leute, auf die ich mich verlassen habe. [...] Sie haben die Kompanie auf dem Gewissen. Sie werden die Republik auf dem Gewissen haben.6 Schuld am Untergang der Republik sind die Republikaner, so lautet die Botschaft. Die antisemitische Note wird innerhalb dieses Szenars und innerhalb dieses Arguments mit besonderer Raffinesse gesetzt. Ursache ist nämlich die Bestechlichkeit der Demokraten, die alle letztlich einer intriganten Geschäfts- und Machtfigur hörig werden. Es ist der jüdische homme d'affaires, Cornelius Herz - eine historische Figur dem im Stück die entscheidende Bestechungsaktion gegenüber der Deputiertenkammer und dem Ministerium zufällt, ehe er sich rechtzeitig (und mit Gewinn) nach England absetzt. Diese Zentralfigur - und darin liegt die dramaturgische Pointe des Stücks - tritt als dramatis persona nie auf. Der Dramatiker verweigert dem Publikum die Möglichkeit, die Inkarnationsgestalt des Bösen auf der Bühne zu sehen und damit in ihrem absoluten Charakter etwa relativiert zu finden. Stattdessen erscheint Herz, vielfach berufen, oft genannt und dann über lange Zeit persönlich erwartet, als Inbegriff übergreifender Macht- und Finanzkonspiration: „Der mächtigste Mann in Paris, mächtiger als eine Handvoll Minister", so erläutert der Finanzier und Kompagnon der Panama-Gesellschaft, Baron Reinach, und zur politischen Seite des Wirkens von Herz wird kurz später ergänzt: „gewissermaßen ein Vertrauensarzt für politische Geschwüre. Er verschreibt den Leuten eine Pferdekur und fleddert sie, wenn sie verendet sind". 7 Gegen Ende der ,Affäre', als die Gesellschaft wie auch der Finanzier Reinach auf den Bankrott zugehen, wird dann noch ein angebliches Schreiben von Herz ausdrücklich zitiert, welches das Selbstbekenntnis enthält: „Ich werde alle ο
in die Luft sprengen, ehe ich mich um einen Centime bringen lasse". Das Bild des jüdischen homme d'affaires weitet sich aus zum anonymen allgegenwärtigen Finanz- und Korruptionsfaktor. Das Verschwörungsszenar, das seine publizistische wirkungsvollste Ausprägung in der 5
6 7 8
Unter der Führung des ehemaligen Kriegsministers Georges Boulanger sammelte sich ab 1888/89 eine nationalistisch-chauvinistische Opposition, die auf eine Reichsdiktatur samt Revanche-Politik gegenüber Deutschland hinarbeitete. Eberhard Wolfgang Möller: Panamaskandal. Schauspiel in 8 Szenen. Berlin 1936, S. 68. Ebd. S. 23. Ebd. S. 65.
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Legende von den .Weisen von Zion' gefunden hat, wird in den historischen Demonstrationsfall eingebaut. Es leistet die Vermittlung zwischen dem historischen Stoff und dem Zeitbezug auf die Weimarer Republik, die Gegenwart. Die ideologische Schiene ist erkennbar: Charakter und historische Weltverschwörung des Judentums bilden den Hintergrund für die Politisierung der Judengestalt, direkt im Sinne der nationalsozialistischen Doktrin. In dieser ideologischen und theatergeschichtlichen Situation, in der die polarisierende Politisierung der Judenfigur sich vollzieht, riskieren Walter Mehring und Erwin Piscator ein weiteres Zeitstück mit einschlägigem Thema, das sich freilich in Mehrings Untertitel „Historisches Schauspiel aus der deutschen Inflation" nennt. Dennoch ist es ein Zeitstück, denn auch hier gilt die Inflation von 1923 als historische Leitlinie für das Verständnis der Gegenwart von 1929, in der die ,Stabilisierungsphase' der Weimarer Republik sich ihrem Ende zuneigt und die erneute ökonomische Katastrophe, dieses Mal im Weltmaßstab, sich abzuzeichnen beginnt. Im Mittelpunkt dieses Versuches steht erneut ein jüdischer homme d'affaires, der seinerseits negativ gezeichnet wird, ohne daß das Stück selbst antijüdisch oder gar antisemitisch sein will. Die literarische wie theatergeschichtliche Pointe liegt dabei in der direkten Beziehung auf Shakespeares Shy lock - das Stück gibt sich als Kontrafaktur, so auf den ersten Blick. Es handelt sich freilich nicht um eine Handlungskontrafaktur en detail, vielmehr um eine kontrafaktische Aufnahme des Wucherer-Stereotyps vom jüdischen Geschäftsmann, das seine Bühneninkarnation in Shakespeares Shylock gefunden hat.
3 Piscator kann sich 1929 einem dramatischen Text widmen, der - wonach er schon lange gesucht hat - von vornherein mit seiner Bühnenästhetik kompatibel ist. Dies gilt auch für das Verhältnis von Bühnengeschehen und historischer Dokumentation. Mehring hat für den Kaufmann von Berlin - bei insgesamt fiktiver Grundlage des Geschehens und der Personen - sowohl umfangreiche dokumentierende Filmskripte entworfen als auch Projektionstexte, die ihrerseits dokumentieren, erläutern, satirisch kommentieren etc. 9 Es kommt außerdem mit dem Stoff der sechs Jahre zu9
Nicht diskutiert werden soll in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit Mehrings Episierung des Dramas mit Piscators Episierung des Theaters (wirklich) übereinkommt, inwieweit nicht. Große Nähe ist jedenfalls evident, und insgesamt dürfte der Kaufmann von Berlin ein Kompendium von modernen Episierungsverfahren darstellen. - Des weiteren ist im Rahmen der vorliegenden Fragestellung Piscators Bühnen- und Spielkonzept, seine Regie nicht im einzelnen zu erörtern. Soweit es die Quellenlage zuläßt, hat sie Friedrich Wolfgang Knellessen (Agitation auf der Bühne. Das politische Theater der Weimarer Republik. Emsdetten 1970, S. 162-173) beschrieben.
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rückliegenden Inflations- und Ruhrkrise Piscators Vorstellung von .Zeitgeschichte' nahe. Dennoch hat Piscator mehreres zu bemängeln. Etwa fehlt ihm das „Gegenständliche sowohl im Sozialen wie im Ökonomischen", 10 ein Mangel, dem Mehring abhilft, indem er zur Eröffnung eine kabarettähnliche Szene entwirft, die als „Oratorium von Krieg, Frieden und Inflation" ein politisch-ideologisches Lehrstück im Sinne Piscators darstellt. Trotz aller vorab entworfenen Nähe läßt sich Mehrings dramatisches Geschichtsverfahren also in das politische Programm des Piscatorschen Theaters nicht einfach einfügen. Die Problematik von Geschichte und Gegenwart ist anders zu bestimmen, als die Piscatorschen Vorgaben erwarten lassen würden. Offensichtlich läßt sich Mehring zu seinem Grundgedanken des Stükkes von einem Theaterereignis inspirieren, das ins Jahr 1927 fällt: Fritz Kortners Darstellung des Shylock in Jürgen Fehlings Inszenierung des Kaufmann von Venedig,11 Kortner schreibt später, in seiner Autobiographie, darüber: Ich [...] brannte darauf, ein Shylock zu sein, der, von der christlichen Umwelt unmenschlich behandelt, in Unmenschlichkeit ausartet. Fehling [...] wollte ausgleichen, wollte die Tragödie des einzelnen, ohne die prinzipielle, über den Fall hinausgehende Bedeutung. Ich [...] wollte die Abrechnung, die Enthüllung des unchristlichen Hasses, die Aufzeigung einer morschen Moral [...] Und der „Stürmer" spie Gift. 12
Offensichtlich liegt Mehring daran, dieser erschreckenden Wirkung des Shakespeareschen Kaufmann von Venedig, dessen „Bezogenheit zum rassisch betonten, nun zur Macht drängenden Faschismus [...] Freund und Feind" elektrisiert, 13 dadurch zu überbieten, daß er das Gegenstück eines Berliner Kaufmanns entwirft, dessen geschäftliche Verwicklung in die Ereignisse des Jahres 1923 sich auf die .Zeitgeschichte' im Sinne Piscators bezieht. „Der Ostjude ist der Fremde par excellence", schreibt Eike Geisel mit Bezug auf Berlin und die deutsche Gesellschaft der zwanziger Jahre, 14 und Mehring hat diese Einschätzung für seine Version des .merchant' nach Shakespeares Vorgaben so übernommen. Freilich klaffen die gehaltlichen Interessen von Autor und Regisseur auseinander, außerdem ergibt sich unterschiedliche historische Tiefenschärfe. Piscator liegt an ei10
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Erwin Piscator. Eine Arbeitsbiographie in zwei Bänden. Hrsg. v. Knut Böser u. Renata Vatkovä. Berlin 1986, Bd. 1, Berlin 1916-1931, S. 244. Kortners Rollenentwurf kommt nicht von ungefähr. Theatergeschichtlicher Hintergrund dürfte das Auftreten ostjüdischer Truppen mit künstlerischem Anspruch sein, die ein neues Ostjuden-Bild, auch im Hinblick auf Maske, Kostüm, Darstellungsstil usw., nach Berlin mitbringen. Fritz Kortner: Aller Tage Abend. München 1959, S. 379. Ebd. S. 380. Eike Geisel: Im Scheunenviertel. Berlin 1981, S. 20.
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nem materialistischen Lehrstück über kapitalistische Ökonomie, exerziert am Jahr der Inflation. 15 Mehring geht es um das Verhältnis von deutschem Nationalismus und jüdischer Minorität, unter Einschluß der ökonomischen Integration und gesellschaftlichen Assimilation des deutschen Judentums. Die Inflation ist, abgesehen vom dokumentarischen Wert, in Mehrings Konzept nur ökonomischer Rahmen für die Aufsteiger-Story des Außenseiters bzw. für dessen Ausbeutung durch die nationale Machtelite; den eigentlichen historischen Kern bildet hingegen das Scheunenviertel-Pogrom vom Spätherbst 1923, in dem sich dokumentiert, daß die deutsch-preußische Aufklärungs- und Akkulturationsgeschichte von eineinhalb Jahrhunderten an den grundsätzlichen Beziehungen zwischen Minorität und Majorität nichts geändert hat, 16 vielmehr die alten Mechanismen der wirtschaftlichen Ausbeutung, der Schuldübertragung, der Sündenbock-Einstellung in prekären Lagen, unverändert weiterbestehen, ja sich durch das quasi endzeitliche Sendungsbewußtsein des deutschen Nationalismus in ungeahnter Weise verschärft haben. 17 Diesem Darstellungsziel entspricht die zeitliche Disposition des Stükkes. Schon am Anfang wird mit der Rede von Meschiachs Zeiten die .Wiederkehr' der Pogrom-Situation angedeutet, am Ende, nach dem Putschversuch der Rechten und nach dem erfolgten Pogrom, greifen die Geschehnisse wieder in die des Anfangs zurück, ein neuer Kaftan erscheint in Berlin, ein neuer jüdischer Bankier bildet die Scheinfirma für die Nationalisten und ihre militärischen Ziele, die aufgebrachte Menge Berlins beantwortet alle Fragen nach der Schuld an Kriegsniederlage, Inflation, Pauperisierung und so weiter mit dem Namen Kaftan. 18 Thematisch ist 15
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Hinsichtlich dieser Absicht gilt uneingeschränkt, was Rühle formuliert (Zeit und Theater. Diktatur und Exil. 1933-1945, Berlin 1974, S. 27): „Als Piscator endlich (1929) in Mehrings .Kaufmann von Berlin' den Inflationsstoff aufgriff, konnte auch er, obwohl er einen wissenschaftlichen Mitarbeiterstab hatte, die Gründe und Bedingungen der Inflation selbst nicht darstellen. Kompliziertheit und Anonymität der Vorgänge brachten das Drama, das Probleme immer personalisieren muß, kaum daß die neuen weiträumigen Stoffe entdeckt waren, schon an seine Grenze." „Bis 1923, als Tausende plündernd und mißhandelnd durch das jüdische Viertel zogen, waren alle rassistischen Wahngebilde, alle Erniedrigungen, Beleidigungen, Verwünschungen und Drohungen schon in einer solchen Schärfe ausgebildet, daß die einzige Originalität der Nationalsozialisten nur noch darin bestand, daß sie wahr machten, wonach die Deutschen schon damals verlangten." (E. Geisel, Anm. 14, S. 20). „Das Bild, das der Nationalsozialismus von der Welt entwarf und das den Massenmord an den Juden zur Folge hatte, war apokalyptisch. Apokalyptisch war der Ausbruch nationaler Emotionen gegen Napoleon, und seitdem, bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus, führte der deutsche Nationalismus apokalyptische Impulse mit sich." (Klaus Vondung: Apokalypse in Deutschland. München 1988, S. 10f.). Der anfänglichen Pogromweissagung im Chassidischen Bethaus antwortet am Ende das ostjüdische Pogromlied, das Kaftans Tochter Jessi (Jessica) anstimmt und das auf die traumatischen Erfahrungen der Kosaken-Pogrome des 17. Jahrhunderts zurückgeht (Chmielnicki).
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damit die deutsch-jüdische Unheilsgeschichte in ihrer ganzen historischen Erstreckung. Der konzeptionelle Grundeinfall Mehrings, seine Version von .zeitgeschichtlich'19 - ausgehend von den Berliner Ereignissen des Jahres 1923 - ist der, daß die historische Tiefendimension quasi in Gleichzeitigkeit panoramatisch umgelegt werden kann. Die Entwicklung vom deutschen Ghetto-Judentum des 18. Jahrhunderts bis zum assimilierten Geschäftsjudentum Berlins der zwanziger Jahre - „vom Ghetto nach Europa" - läßt sich im räumlichen Nebeneinander darstellen, wenn man vom Börsen- und Geschäftsviertel Berlins in das ostjüdische Einwanderungs- und Transit-Zentrum des Scheunenviertels überwechselt.20 Sprachlich entspricht dem der Wechsel zwischen dem Deutschen bzw. Berlinischen und dem Ost-Jiddischen. Das panoramatische Verfahren Mehrings spielt sich dabei auf zwei Ebenen ab, einer wirtschaftlichen und einer metaphorisch-allegorischen. Die Wanderung Kaftans durch Berlin führt durch die jüdisch-deutschpreußische Geschichte, und wo sich die reine Gegenwärtigkeit der historischen Ungleichzeitigkeit nicht ad oculos demonstrieren läßt, kommt der historische .Kalender' in Form von Projektionen hinzu, nach Piscatorscher Manier. Die zweite panoramatische Ebene ist die der ideologiegeschichtlichen Tableaux, mit teils metaphorischen, teils parodistisch zugespitzten kabarettnahen Szenen, die den antijüdischen, antisemitischen Diskurs des christlichen Abendlandes und zumal des deutschen Nationalismus über mehrere Jahrhunderte hinweg verfolgen. Auf der ersten Ebene entfaltet sich die Inflation im szenischen Panorama, in Komplexen, die einander gegenübergestellt sind, nachdem schon 19
Mehring geht daher durchaus auf das ein, was Walter Hinck für die Faszination des historischen Stückes ausgibt: „[...] historisches Wissen möchte (wieder) Anschauung werden" (Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen. Frankfurt a.M. 1981. Einleitung, S. 7-21); aber er wendet sich von der Form des .historischen Bilderbogens* (Hinck, S. 17) dezidiert ab, indem er die historische Bilderfolge in die Landkarte der Gegenwart einzeichnet. Mehrings Panorama weist unterschwellige Beziehungen zur bildkünstlerischen Kollagetechnik auf, wie sie in Laszlo Moholy-Nagy's Entwürfen für die Berliner Aufführung direkt zutage tritt. Eine genauere Untersuchung müßte einer SpezialStudie vorbehalten bleiben. - Für den Versuch einer Wiederaufführung von Mehrings Stück durch die „Tribüne" Berlin 1979 ist offensichtlich dieser panoramatische Ansatz ohne Akzent der historischen Dimension ausschlaggebend gewesen (Theater heute 6/1979, S. 63 und 11/1979, S. 56).
20
Das Element der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzbarmachung ist von Anfang an in den Emanzipationskonzepten deutscher und österreichischer Aufklärer enthalten, wie beispielsweise aus Chr. Wilh. Dohms Traktat Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (2 Teile in einem Band - Nachdruck der Ausgabe Berlin u.a. 1781. Hildesheim u.a. 1973) zu ersehen. - Die Kontinuität der .Schuldübertragung' hat sich, wenige Jahre vor der Inflation, 1916/17 mit der berüchtigten, vom preußischen Generalstab angeordneten Judenzählung, als sich die Hoffnungen des Kriegsbeginns nicht erfüllten und in ihr Gegenteil umschlugen, überdeutlich abgezeichnet.
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im Vorspiel der alltägliche Antisemitismus im Zugabteil, in Gestalt der Formel „an allem sind die Juden schuld", präsentiert worden ist. Nun folgen die Börse, die Hungerschlange vor dem Bäckerladen, Geschäft und Spekulation in Kontor, Pressewelt und Intellektuellen-Palaver unter den Linden, die Razzia auf Devisenschieber, die Tristesse der Arbeitslosen. Eingelagert in diese Bildfolge ist die Bestandsaufnahme politischer Schlüsseldaten: die französische Ruhrbesetzung, die Ausrufung des passiven Widerstandes durch die Reichsregierung, die Auseinandersetzung der Republik mit den Rechtskräften, die Stabilisierungspolitik des Kabinetts Stresemann gegen Jahresende 1923. Nicht weniger aufgefächert ist das Panorama des in Berlin lebenden Judentums: den Matadoren des Geschäfts stehen der Rabbi und der Meschuggene der chassidischen Gemeinde gegenüber; allen beiden wird die Position des liberalen intellektuellen Judentums konfrontiert, das sich in einem Gedicht von Mehrings Vater Sigmar im Schlußteil vorstellt; dessen geistesgeschichtlicher Ort ist die jüdischdeutsche Aufklärung der Mendelssohn-Zeit und der Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Die politische Gegenwelt ist die deutschnationale-pränazistische Sphäre, vertreten durch die Generalität, Fossilien von skurrilem Gehabe, aber latenter Gefährlichkeit, wie der Putsch gegen die Republik zeigt; sie holen den verlorenen Frankreichfeldzug in unedlich wiederholten Schlachten gegen die republikanischen Kräfte des eigenen Volkes im Sandkastenspiel nach. Hinzu kommt der Bund der völkischen Feme, der die Ermordung der Repräsentanten der Republik auf dem Gewissen hat - wie im Falle Erzbergers - oder plant, wie im Falle Eberts, nicht zuletzt die aus dem Weltkrieg übriggebliebene orientierungslose Soldateska, die sich, je nach Soldangebot bei den Putscharmeen der Rechten verdingt oder aber mit dem Wechsel zu bewaffneten Linksverbänden droht. Auf der ideologiegeschichtlichen Ebene entwirft Mehring zunächst Texte zur Geschichte der Judenansiedlung und Judenassimilation in Preußen, von den Hofjuden des 17. Jahrhunderts bis zur bürgerlichen Emanzipationsbewegung im 19. Jahrhundert, des weiteren eine ausführliche Informationstafel zur Vorgeschichte und zum Sozialproblem des Scheunenviertel-Ghettos; dieser ostjüdische Fremdkörper im Berliner Assimilations-Milieu strahlt nicht weniger Abwehr gegen die deutschen Juden aus als diese in umgekehrter Richtung artikulieren. Der Zustand der Judenheit ist die Spaltung, die Desolidarität: „Die datschen Jidn? [...] Noch ärger fun die Gojim! Die erstn die uns treiben arois! Dos sennen doch gamit ka 21
Jidn! [...] Dos sennen fremde Jahudim [...] Die Ideologiegeschichte der Gegenseite konzentriert sich zunächst in einer satirisch überzeichnen21
Walter Mehring: Der Kaufmann von Berlin. In: Mehring, Werke. Die höllische Komödie. Hrsg. v. Christiane Buchwald. Düsseldorf 1979, S. 162.
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den Darstellung der Geschichte des Preußengeistes, demonstriert an der Stadt Potsdam, wobei das preußisch-konservative Bündnis von Thron und Altar, Preußentum und Luthertum besonders desavouiert wird. Im Anschluß an die Szene, welche eine Gerichtssitzung des geheimen völkischen Femebundes zeigt, wird in einem grotesken Sketch auch diejenige Gestalt des .modernen4 Antisemitismus eigens vorgeführt, die dieser völkisch-nationalen Grundeinstellung entspricht: es ist die Vision der sogenannten Weisen von Zion, Gestalten eines antisemitischen Propagandatextes, der die europäischen beziehungsweise deutsch-wilhelminischen Wunschträume von einem universalen Imperialismus auf die jüdische Minorität umschreibt und ihr eine angebliche jüdische Weltverschwörung unterstellt. Bezeichnenderweise ist es Friedrich der Große, der mit dem Krückstock seines authentischen Antisemitismus die Angst- und Truggebilde von den ,Weisen von Zion4, die man sowohl hinter dem Weltimperialismus wie hinter dem Weltbolschewismus zu erkennen glaubt, vertreibt.22 Seine schärfste aktuelle Spitze setzt Mehring freilich gegen den deutschen Militarismus und sein Wiederaufleben in einem Song, der von Straßenkehrern gesungen wird. Denn im Jahr 1929 geht es ja auch um politische und nationale .Wiederaufrüstung4.23 Auf der einen Seite zeigt die empörte Reaktion auf Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues, wie wenig die Kriegsniederlage insgesamt .bewältigt4 ist; auf der anderen Seite wird die politische .Bewältigung4 durch positive Bewertung der deutschen Rolle im Weltkrieg betrieben, mit erneuter Kriegsschulddebatte, Dolchstoßlegende und Heroisierung der deutschen Kriegsgeschichte. 24 Auf diesem ideologiegeschichtlichen Hintergrund ist von besonderer Bedeutung das Motiv der Kriegstoten, das, wie das Muster ,Schlageter4 belegt, die Brücke zwischen Verdun und dem Dritten Reich schlägt. Sein politischer Sinn ist in der Figur „Exzellenz44 in Hanns Johsts SchlageterDrama in schlagender Weise formuliert: dieser ehemalige General, der viele tausend Soldaten „nach bestem Wissen und reinem Gewissen einge22 23
24
Ebd. S. 205ff. Diese Strophe versetzte den völkisch-deutschnationalen Flügel so in Rage, daß knapp zehn Jahre später in der vom nationalsozialistischen „Institut zum Studium der Judenfrage" herausgegebenen Band Die Juden in Deutschland (München 1937) dieses Chanson in seiner ganzen Länge zitiert wird. „Die kollektive Rehabilitierung kriegerischer Gewalt war die Folge der unbewältigten Niederlage von 1918 und der auf sie folgenden politischen und sozialen Konflikte. In dem Maße, wie es der deutschen Gesellschaft nicht gelang, ihre inneren Konflikte zu bewältigen, wuchs ihre Anfälligkeit für Aggression und für eine Zustimmung zum Krieg als einem Mittel der Politik. Ein zentrales Element in dieser Entwicklung war das Zurückdrängen der Erinnerung an das gewaltsame Sterben im Krieg." (Bernd Hüppauf: Über den Kampfgeist. Ein Kapitel aus der Vor- und Nachbereitung eines Weltkriegs. In: Der Feind den wir brauchen. Oder: Muß Krieg sein? Hrsg. v. Anton-Andreas Guha und Sven Papcke. Königstein/Ts. 1985, S. 92).
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setzt und geopfert" hat, formuliert das chauvinistische Credo: „Ein verlorener Krieg ist kein Grund, seinem Glauben abzuschwören! Er ist nur Grund, den Sieg tiefer, fanatischer und frömmer zu beschwören!!" 25 Die vergleichbare Tendenz wird in weiteren Stücken bühnengeschichtlich manifest, so in Eberhard Wolfgang Möllers Drama Douaumont oder in Heinrich Zerkaulens Jugend von Langemark, Werke, in denen die Kriegstoten des Weltkrieges als „heilige Führer" eines neuen Deutschland dem Volk den Weg in die nationale Zukunft zeigen. 26 In dieses emotionale und ideologische Motiv-Gestrüpp fährt nun Walter Mehring „mit eisernem Besen". In der genannten Lied-Szene vollziehen drei Straßenkehrer - allegorische Gestalten der Geschichte - die Aufräumarbeit nach Inflation und Freikorps-Putsch gegen die Republik und ihre Regierung. Unter dem Refrain „Kommt alles untern Besen!" und „Dreck! Weg damit!", der die Gelenkstellen der Strophen markiert, werden die Symbole der gestrigen Macht apostrophiert: ein Haufen Papiergeld, ein kullernder Stahlhelm, am Schluß einer der gefallenen Freikorps-Soldaten: - Mensch! Der war mal Mensch gewesen! Das hat mal einen Stahlhelm besessen! Das lebte mal - das hat ausgefressen! - Kommt alles untern Besen! Kommt alles untern Besen! - Das hat mal Erschießen dürfen, Weil es mal den Stahlhelm getragen, Weil das mal Geld war, Weil man dafür stritt! - Dreck! - Weg damit! 27
Energisch hat sich Mehring dagegen verwahrt, daß dieser Leichnam ein Toter des Weltkrieges sei, aber die angebliche Pietätlosigkeit der Strophe 28 emotionalisierte das Urteil in der Weise, daß die völkisch-nationale 25
26 27
28
Hanns Johst: Schlageten In: Günther Rühle, Zeit und Theater Bd. III: Diktatur und Exil 1933-1945. Berlin 1974, S. 132. Heinrich Zerkaulen: Jugend von Langemark. In: Rühle, ebd. Bd. III, S. 193. Aufgrund der Proteste nach der Aufführung wurde die zitierte Strophe in der Publikation des Stückes im Claassen-Verlag ausgelassen; sie findet sich auch nicht im Dramenband der neuen Berliner und Frankfurter Ausgabe (1988); hingegen ist das gesamte Chanson in die Sammlung der Lyrik aufgenommen (Chronik der Lustbarkeiten. Die Gedichte, Lieder und Chansons 1918-1933. Düsseldorf 1981, S. 336). Vollständiger Erstabdruck des Liedes in: Carl v. Ossietzky: Die Kaufleute von Berlin. In: Die Weltbühne 25. Jg., Nr. 38 (17.9.1929), S. 441ff. Angeblich wurde bei der Uraufführung, ohne daß entsprechende Weisung des Regisseurs vorlag, die Leiche von den Straßenkehrern auch getreten.
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Gleichsetzung des Weltkriegstoten mit dem toten Kämpfer gegen die Republik rezeptionsgeschichtlich bestimmend wurde. Im Berliner Lokal-Anzeiger vom 7.9.1929 berichtet Ludwig Sternaux über das Beifall- und Buh-Geschehen nach dieser Szene, in dem die Beifallsstimmen letztlich Oberhand behalten und die anderen einschüchternd zum Schweigen bringen, und kommentiert: [...] hübscher Verkehrston, man paßt sich der Bühne an, die es wagt, einen Toten, einen Toten in Feldgrau, dem Kleid des Krieges, als Dreck zu bezeichnen, noch die Toten zu begeifern, zu schänden.
Mehrings provokative Song-Szene stößt also, so belegt die Wirkungsgeschichte, ins Zentrum der deutschnationalen Ideologie vor, genau bis zu jenem geschichtsmanipulierenden Verständnis, das den wirklichen Tod der Kriegsgefallenen nicht wahrhaben will und statt dessen deren apokalyptische Auferstehung im neuen transhistorischen Status des Reiches proklamiert. In Mehrings Stück knüpft sich an diese .Wiederkehr' insgesamt die Vorstellung von der .Wiederkehr des Gleichen', und das heißt im Rahmen des Stückes: des Pogroms. Äußeres Indiz für dieses Geschichtskonzept bildet die formale Rückbindung des Stückschlusses an den Anfang eine Zirkelbildung, die Piscator bei der Inszenierung bezeichnenderweise entfallen ließ. Aber das Mehringsche Stück versagt es sich, der Geschichte eine Richtung vorzuzeichnen, ohne daß es dadurch politisch charakterlos würde. Im Unterschied zu Piscators Geschichtsbild steht der Finalteil, zu dem auch der Straßenkehrer-Song gehört, bei Mehring im Zeichen der Frage, nicht im Zeichen der Antwort. Es ist die Frage „Mah mishtanah", die der Pessach-Haggada entnommen ist. In Mehrings Text wird diese Frage von Kaftan und von der „Stimme des Ghettos" gefragt, ohne daß eine Antwort erfolgen würde. In diesem Sinne ist Der Kaufmann von Berlin ein Geschichtsdrama ohne ausdrückliche oder unausdrückliche geschichtsphilosophische Direktive, aber mit direkter politischer Warnung und mit einem politischen Kehraus, nicht nur auf die zwanziger Jahre, sondern, im weiteren Sinne auf die sogenannte deutsch-jüdische Symbiose. Unter den Besen kommt nämlich auch Kaftan. „Legen Sie auch die Kaftan-Gebräuche ab", sagt ihm der Rechtsanwalt Müller, nachdem Kaftan sich einen Anzug nach neuestem Schnitt hat anmessen lassen. So sehr Kaftan sich assimiliert, umkleidet, Handel treibt nach Berliner Muster, mit großem Haus, Empfang, und damit die deutsche Rechte finanziert er wird fallengelassen, er wird zum Sündenbock, als verbrecherischer Spekulant verfolgt. Zum Vorschein kommt das Urbild Shylock, der nach be29
Ludwig Sternaux: „Dreck! Weg damit!" Was Piscator dem deutschen Theaterpublikum bieten kann. In: Berliner Lokal-Anzeiger, 7.9.1929.
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trügerischem Prozeß aus der Gesellschaft, der er zuzugehören glaubte, deren Rechtssystem er für verbindlich hielt, ausgeschlossen wird. Der „Kaufmann von Berlin" ist der „Merchant of Venice", wenn man die Umtitulierung wie Mehring von Antonio auf Shylock vornimmt. Bis zum wörtlichen Zitat, dem Anruf des „höchstgerechten Richters" im letzten Monolog Kaftans, reicht die Beziehung auf das Shakespearesche Vorbild. Im gleichen Sinne wie Fritz Kortner präsentiert Mehring die Shakespearesche Gestalt unausweichlich und hautnah. Eine bilderstürmerische Komponente im Verhältnis zum deutschen Bildungstheater ist unübersehbar. Der Zuschauer, der den neuen Kaftan-Shylock vor Augen hat, müßte sich von Rechts wegen fragen, was seine eigene Bildungs- und Kunsttradition noch leistet, mithin was sein Bildungsanspruch noch besagen kann, wenn er dem seit hundertfünfzig Jahren zum Bildungsrepertoire gehörenden Juden in dieser Gestalt begegnet - der freilich nicht mehr wie vor alters auf den Rialto geht, sondern auf den Alexanderplatz und in das Scheunenviertel, aber Gleiches erlebt wie sein venezianischer Vorgänger. Die generelle Infragestellung dieser Bildungs- und Theatertradition mit ihrer hundertfünfzigjährigen Erstreckung vor der Weimarer Republik ist keineswegs ohne politische Provokation, sondern bildet die Fortsetzung dessen, was schon Leopold Jessner seit 1919 auf der Bühne des Schauspielhauses geleistet hat, der den Rechten so sehr ein Dorn im Auge ist, daß die Kampagne gegen seine Intendanz im Jahre 1929 ihrem Höhepunkt und ihrem Erfolg schon sehr nahe gekommen ist. Schon 1927, zwei Jahre zuvor, hat die deutschnationale Volkspartei im Preußischen Landtag beantragt, mit ausdrücklicher Beziehung auf (Piscators) Die Räuber und (Jessners) Hamlet, der parodistischen Verderbnis der Klassiker, dieser „Gefährdung von Kultur, Kunst und Sittlichkeit entgegenzuwirken."30 Mehring hat diese Attacke von rechts mit der Provokation seines Stükkes beantwortet, mit seiner Shakespeare-Kontrafaktur. Und die Botschaft dieser literarischen Kontrafaktur lautet, daß auch die Geschichte - gerade im Deutschland der Geschichtsverehrung und der entsprechenden kulturgeschichtlichen Tradition - kontrafaktisch, in Rekurrenzen verläuft oder verlaufen könnte.31 Gerade dann, wenn die heilsgeschichtliche Wendung, welche die Reinhaltung von Kultur, Kunst und Sittlichkeit ebenfalls proklamiert, erzwungen werden soll, wie bei den Verfechtern und Kämpfern eines Dritten Reiches, ist die Gefahr der Pogrome unabweisbar. Damit zeigt sich auch die letzte ikonoklastische Bedeutung von Mehrings Stück, wobei der Bildersturm sich gegen das deutsche Judentum, genauer gesagt dessen internalisierte Bildergalerie, richtet. Nicht mehr Nathan ist das 30
31
Zit. nach: Maria Poirmami: Grabbe - Dichter für das Vaterland. Die Geschichtsdramen auf deutschen Bühnen im 19. und 20. Jahrhundert. Lemgo 1982, S. 140. Diesem Begriff ist der Vorzug zu geben gegenüber der·,Wiederkehr', um nietzschesche Konnotationen auszuschließen.
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Schibboleth der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte, sondern Shylock, und dieser - nach allen Zähmungsversuchen der Theatergeschichte bis zu Max Reinhardt - in seiner gerade für die deutschen Juden der Weimarer Zeit anstößigsten Gestalt, die der Name vorzeichnet: „Kaftan". Gerade für sie stellt der neue Shylock alles in Frage, was erreicht zu sein scheint und gesichert zu werden verdient - und wird konsequenterweise zurückgewiesen.
4 Das Zeitstück mit umfassender Bestandsaufnahme der deutsch-jüdischen Geschichte und mit vehementer politischer Warnung für die Gegenwart ist mit Mehrings Kaufmann von Berlin im Jahre 1929 da - provokativ und politisch nach allen Seiten zugespitzt, also zeitgemäß. Es kommt allerdings nicht zu einer sachlichen, d.h. lang andauernden Wirkung in den nächsten Jahren, sondern nur zu einer Skandalwirkung. Die Gründe hierfür lassen sich, wenn man die überlieferten Rezeptionsdokumente auswertet, auf einige Kemmomente reduzieren. 1. Erwin Piscator hat das Stück nicht mit inhaltlichem Schwerpunkt auf das Verhältnis zwischen deutscher Mehrheit und jüdischer Minorität hin inszeniert, sondern als Parabel von Kapital und Inflation. Die Öffentlichkeit kennt 1929 die Inszenierung, nicht den Mehringschen Text. Zwar versteht sie überwiegend das Drama als ,Judenstück', aufgrund der Piscatorschen Veränderungen gegenüber dem Mehringschen Text gewinnen aber die Probleme vereinfachte und schematische Konturen. Die Folge sind politische Anwürfe von allen Seiten, durchgehend von rechts bis links. 2. Das deutsche Judentum akzeptiert nicht, daß sich seine reale Lage in der Schlußphase der Weimarer Republik hier im Bilde des Fremdheitssymbols, in der ostjüdischen Gestalt abbildet, sondern beharrt auf seiner Position der Assimilation und der Akkulturation. 3. Eine wohl nur mentalitätsgeschichtlich auf breiter Basis begründbare Hemmschwelle für Rezeption und Wirkung bildet in der Tat die vielfach inkriminierte Straßenkehrerszene; selbst Rezensenten, die Stück und Inszenierung insgesamt begrüßen, schränken an dieser Stelle ihre Zustimmung ein. Das „Feldgrau" von 1914 bis 1918 ist selbst auf dem Leibe eines Freikorps-Rebellen für Republikaner noch ein Symbol, dem Pietät gebührt. Die unmittelbarste und heftigste Kritik aus allen Richtungen trifft den Theatermann, für ihn selbst durchaus ein Wiederholungsfall, auch die Kritik aus den eigenen politischen Reihen. Die KP vermißt - trotz allem den profilierten Klassenstandpunkt, die proletarische Alternative; liberale
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Stimmen werfen Piscator latenten, nicht durchschauten Antisemitismus oder die Vorschubleistung dazu vor; die Rechte sieht die totale Verunglimpfung aller Güter und Traditionen der Nation. 32 Piscators Reaktion bringt Konzessionen nach rechts, indem er die Szene mit dem Straßenkehrerlied streicht, er reagiert nach links und zur Mitte hin mit beschwichtigenden Erklärungen seiner Absicht: Für uns war Kaftan ein Ausbeuter, zum mindesten ein Nutznießer wie jeder andere auch, wobei uns seine Rassen- beziehungsweise Religionszugehörigkeit vollkommen gleichgültig war. Aber der Öffentlichkeit gegenüber stand vor Kaftan, dem Kapitalisten, Kaftan der Jude. Zielten wir auf den Kapitalisten, mußten wir notgedrungen den Juden treffen. Und gerade das wollten wir nicht. Niemals wollten wir unsere Hand zu einer antisemitischen Hetze bieten; denn nicht ein Rasseproblem, nicht das Verhältnis zwischen eingewandertem Judentum und seßhaftem Deutschtum, sondern nur ein soziales, ein Klassenproblem stand für uns in diesem Stück zur Debatte.33
Der Aufrichtigkeit dieser Beteuerung ist in jeder Hinsicht zu trauen. Dennoch räumt Piscator damit unumwunden ein, daß er, mit seiner Auffassung des Stücks und seiner Regie, an den Interessenslagen und den Wahrnehmungsmustern seines Publikums in jeder Hinsicht vorbeiinszeniert hat. Allgemein formuliert muß man sagen, daß das ästhetisch mit am weitesten fortgeschrittene Theater der Zeit offenkundig dem Problem des Antisemitismus und damit der politischen Konstellation in den letzten Jahren der Weimarer Republik nicht gewachsen ist. Die Lage der jüdischen Minorität, die Bedeutung der sogenannten Judenfrage' für die politische Meinungsbildung und die politische Propaganda werden von der Regie in ganz offensichtlicher Weise unterschätzt, obwohl das Stück, um das es geht, die historischen und politischen Sachverhalte durchaus mit angemessener Gewichtung berücksichtigt. Das Piscator-Theater des Epischen und des Politischen ist seiner Tradition von Aufklärung und marxistischer Gesellschaftstheorie so verbunden, daß es Konfliktlagen, die sich in dessen Geschichtstheorie nicht ohne weiteres einbeziehen lassen, auch regiemäßig eher hilflos gegenübersteht. Das Theater, das der politischen Lage am Vorabend der Machtübergabe gewachsen wäre - spricht man von seinen ästhetischen, dramaturgischen, technischen Errungenschaften - , ist es politisch nicht. Aber auch die jüdische Presse erkennt die eigentliche zeitgerechte Problemformation in dem Stück nicht. Die ,Jüdische Rundschau", mit zionistischer Ausrichtung, beklagt sich, daß „zur Charakteristik der Inflationszeit [...] mehr jüdische Typen auf die Bühne gebracht werden, als es die 32
33
Außer Sternaux vgl. etwa Paul Fechter in der Großdeutschen Allgemeinen Zeitung, Berlin 7.9.1929. In: Böser/Vatkovä (Anm. 10), Bd. 1, S. 245.
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tatsächliche Rolle der Juden in der Inflation nötig erscheinen ließe." 34 Die „CV-Zeitung" beklagt den Mißgriff mit Shakespeare grundsätzlich, des weiteren aber, daß „Feme-Morde, schwarze Reichswehr, Wotan-Kult, Radau-Antisemitismus" jetzt wieder auf die Bühne gebracht werden, wo man doch historisch noch keinen Abstand zu einer wirklichen Verarbeitung dieser Erscheinungen habe, und bedauert schließlich die falsche, ihrer Meinung nach einseitige Konzeption der Hauptfigur: Die Tragödie des östlichen Menschen im westlichen Kulturkreis. Tragödie dann, wenn die Eingliederung erfolgen soll in Zeiten des Aufruhrs, der Not, des Elends, des Kopfstehens aller überkommenen Begriffe. Sieg aber in Zeiten der Ruhe, der Entwicklung, des Verstehens. Was hat Moses Mendelssohn, dessen zweihundertsten Geburtstag wir in diesen Tagen feierten, anders durchgekämpft, als jeder Jude, der aus dem Osten nach Deutschland kommt? Es ist nicht jeder ein Mendelssohn, und mancher strauchelt. Nicht jedem gelingt die Wandlung zum Europäer.
Und weil diese Wandlung durch das Stück in Frage gestellt wird, rät die Schriftleitung, allen „ehrliebenden deutschen Juden" vom Besuch dieses „unwahrhaftigen Tendenzstückes" ab. Die scharfsinnigste Beurteilung fanden Stück, Aufführung und Rezeption aber in der „Weltbühne". Gleich am Beginn seiner Besprechung der, wie es ironisch heißt, „Kaufleute von Berlin" konstatiert Carl von Ossietzky den „alten Streit zwischen Regisseur und Dichter", der hier, „Jusqu'au bout ausgefochten" worden sei. Mehring, so meint er, habe in weiten Passagen die große brillante Satire nach Heineschem Format erreicht, Piscator aber, so fährt er fort, „ruht nicht eher, als bis er die Flötentöne ausgetrieben. Es bleibt: Die deutsche Inflation - ein Vortrag mit Lichtbildern und wertvollen Einblicken in das Räderwerk der Zeit." 36 Wichtiger als diese zutreffenden Bemerkungen sind freilich die Beobachtungen zur Rezeption, die sich aus der Piscatorschen Umakzentuierung ergeben: Die Stammgäste der Rassenfrage finden ihr fettestes Futter. Die völkischen Rasierpinsel sträuben sich aggressiv. Die Zylinderhüte des Zentralvereins, deutscher Staatsjuden bürgerlichen Glaubens rücken drohend in die Stirn und ziehen in geschlossenen Formationen durch die liberalen Redaktionen, Klage zu rufen wider Walter Mehring, den berüchtigten Judenfresser [...].
All dies findet Carl von Ossietzky freilich richtig: das politische Theater, lange berufen und vorbereitet, tritt „in sein natürliches Element: in den Kampf'. 3 7 34 35 36 37
Jüdische Rundschau, 4.10.1929. Central-Verein-Zeitung, 13.9.1929. Die Weltbühne (Anm. 27), S. 437ff. Ebd. S. 440.
Margarita Pazi (Tel Aviv)
Der »Prager Kreis'. Ein Fazit unter dem Aspekt des Judentums
Persönliche Aussagen der Autoren des .Prager Kreises' auf der einen Seite, die ihr jüdisches Bewußtsein und seine literarische Umsetzung betreffen, Darstellungen der Interpreten auf der anderen Seite, die fast stets von einer ideologischen oder sozio-politischen Tendenz geleitet werden - angesichts dieses disparaten Materials scheint der angemessenste Weg zu einem möglichst objektiven Bild der Autoren der Rückgriff auf ihr literarisches Werk zu sein, in dem sich diese Aspekte spiegeln. Häufig wird die Zäsur, der Ansatzpunkt des jüdischen Bewußtseins1 zumindest bei einem Teil dieser Autoren in den drei Reden Martin Bubers gesehen, die dieser in den Jahren 1909 bis 1911 in Prag gehalten hat. Über die Verbindung Bubers mit dem Prager zionistischen Studentenverein Barkochba, die für „beide von höchster Bedeutung war", berichtet Hans Kohn: Buber fand hier zum erstenmal einen jüdischen Kreis, der seine Lehre dankbar aufnahm, sie weiterbildete und weitergab an später breiter werdende Kreise [...]. Für die im Barkochba zusammengeschlossene westjüdische, durchaus assimilierte und dem Judentum entfremdete Jugend wurde Buber der Führer, der Lehrer, der das Geistesleben der Studenten in die Breite weitete und in die Tiefe aufwühlte. Durch die Vermittlung dieses Kreises des Prager Barkochba beeinflußte Bubers Philosophie und religiöse jüdische Erfassung der Beziehungen des Menschen auch Personen, die wie Max Brod, Franz Kafka und viele andere, gerade durch die Verbindung Bubers mit dem Barkochba diesem Kreise und dem Zionismus nah gebracht wurden.2
Zur Erhärtung dieser Annahme können die Selbstaussagen Brods herangezogen werden, die durch die Themenwahl und Gestaltung seiner Romane
2
Von jüdischem Bewußtsein in der präzionistischen Bedeutung kann aber auch bei einem Autor der vorhergehenden ,Halbgeneration', bei Salomon Kohn (1825-1904) gesprochen werden. Kohn war ein Dichter des Prager Ghettos, und in all seinen Erzählungen und Romanen, deren bedeutendste Gabriel und Ein deutscher Kaufmann sind, bis hin zu den 1896 erschienenen Alten und neuen Erzählungen aus dem böhmischen Ghetto, wird die Bedeutung des jüdischen Lebens und der Wechselbeziehungen mit der Umgebung geschildert. Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Mitteleuropas 1880-1930. Köln 1961. S. 90.
Der,Prager
Kreis'
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in den Jahren nach 1910 zusätzlich belegt sind. Brods jüdische Phase' setzt mit dem Roman Jüdinnen (1911) ein. 3 Bei den anderen Autoren kommen jüdische Themen und Motive langsamer, zögernder, und einige wenige, Paul Kornfeld z.B., klammern bis 1930 jüdische Gestalten und Motive völlig aus, obwohl sich in ihren dramatischen oder belletristischen Werken Einwirkungen jüdischer Vorstellungen nachweisen lassen. Wieder andere, Ernst Weiß z.B., bringen die wenigen jüdischen Personen in ihren Werken häufig als eine Art von Zeiterscheinung, ohne daß sich eine besondere jüdische Linie oder Absicht erkennen ließe. Es kann wohl davon ausgegangen werden, daß auch der Entschluß der Prager Loge des U.S.A. Ordens der B'nai-B'rith, eine Jugendvereinigung, den J. G. Herder-Verein zu gründen, „um sich einen Nachwuchs zu sichern", wenigstens zu einem Teil auf die Einwirkung Bubers zurückgeht. Willy Haas, auf dessen Vorschlag auch die „Herder-Blätter" als Organ dieser Vereinigung entstanden, erwähnt anläßlich der Faksimile-Ausgabe von 1962 in seinen Ausführungen über die Entstehung der Zeitschrift besonders das Zusammenwirken von Zeit und Menschen im Prag dieser Jahre. 4 Daß Willy Haas auch der Initiator des „nichtjüdischen Namens" der Vereinigung gewesen sei, „damit auch Christen aufgenommen werden konnten", wie im weiteren gesagt wird, klingt in Anbetracht der ursprünglichen Zielsetzung des Vereins nicht überzeugend; der Namens wähl lagen höchstwahrscheinlich die im Werk Herders dominierenden humanistischen Ideen zugrunde. Die Zeitschrift erschien vom April 1911 bis Oktober 1912 mit insgesamt fünf Heften, in denen vorwiegend jüdische Autoren publizierten, unter ihnen Franz Kafka, Oskar Baum, Max Brod, Franz Werfel, Otto Pick, Hans und Franz Janowitz. 5 Weder in Thema, Motivik oder Gestaltung der Texte ist eine spezifisch jüdische Tendenz zu erkennen noch war dies in der regen kulturellen Arbeit - Vorträge, Rezitations3
4
5
Ob auch bei Hugo Salus (1866-1929), der zu den sehr deutsch gesinnten Autoren der Generation um 1900 gehörte, die sich gegen 1914 abzeichnende Tendenz, seine jüdischen Vorfahren in Gedichten darzustellen, auf Martin Bubers Einwirkung zurückzuführen wäre, konnte nicht nachgewiesen werden. Vgl. z.B. Ahnenlied (in: Der Heimat zum Gruß. El Almanach deutscher Dichtung und Kunst aus Böhmen. Hrsg. von Oskar Wiener und Johann Pilz. Berlin, 1914) und noch deutlicher Des Juden Schmähung (in: Sonntagsbeilage der Prager Presse, 20. Mai 1923). In: Herder-Blätter. Faksimile-Ausgabe zum 70. Geburtstag von Willy Haas. Besorgt im Auftrag der Freien Akademie der Künste in Hamburg von Rolf Italiaander. S. V-VII. Der erste Artikel des ersten Hefts stammt von Hugo Bergmann: „Über Bücher und über das Lesen". Im selben Heft sind auch die ersten Weltfreund-Gedichte Werfeis, acht Monate vor dem Erscheinen des Gedichtbands Der Weltfreund, veröffentlicht. Im dritten Heft erschien von Max Brod und Franz Kafka: Erstes Kapitel des Buches „Richard und Samuel". In der Faksimile-Ausgabe erläutert Max Brod die „Zusammenarbeit mit Franz Kafka". Etwas überraschend wirkt der böse Verriß Albert Ehrensteins über Betty Winters Roman Unser Heiland ist arm geblieben. Sowohl die Autorin wie der Roman sind vergessen.
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abende, Kunsttanzveranstaltungen u.ä. - der Fall, die die jungen Prager jüdischen Autoren im Rahmen der „Herder-Blätter" entfalteten. 1913, zehn Jahre nach dem von Bar Kochba herausgebrachten ersten jüdischen Almanach, gab der Verein bei Kurt Wolff das Sammelbuch Vom Judentum heraus. 6 Im Geleitwort Hans Kohns, des Obmanns des Bar Kochba für dieses Jahr, wird die Funktion dieses Buches erläutert: die „Notwendigkeit der Aussprache einer Generation, die in dem Bewußtsein lebt, daß in ihrem Leben und durch ihr Leben das Schicksal des Judentums die entscheidende Wendung erfährt". Zu den Autoren des Buches gehören nicht nur die Mitglieder des Prager Bar Kochba, sondern auch Martin Buber, Moritz Goldstein, Gustav Landauer und Arnold Zweig, um nur einige zu nennen; vom ,Prager Kreis' war nur Max Brod vertreten. Etwas verändert war die Zielrichtung einer fünf Jahre später veröffentlichten Sammelschrift, Das jüdische Prag. Sie ging aus einem Kreis hervor, der, wie Robert Weltsch 1978 in seinem Vorwort zum Neudruck dieser Publikation hervorhob, 7 eindeutig unter dem Einfluß von Martin Buber stand. Neben Texten einer Vielzahl der heute als Autoren des ,Prager Kreises' bekannten Namen finden sich Beiträge von Martin Buber, Albert Ehrenstein, Else Lasker-Schüler, ferner Übertragungen ins Deutsche von Gedichten jüdischer Thematik der bedeutendsten tschechischen Lyriker der Epoche, Otokar Brezina, J. S. Mächar, Jaroslav Vrchlicky, Jan Neruda, Julius Zeyer, Κ. H. Mächa; auch Beiträge nichtjüdischer Literaten wie Hermann Bahr, Paul Leppin u.a. sind vertreten. Bedeutsam ist ein Beitrag Theodor Herzls Die Juden Prags zwischen den Nationen, in dem die Juden in Böhmen wegen der Nicht-Aufrechterhaltung und „Betonung ihrer besonderen jüdischen Nationalität" scharf gerügt werden. Da sie sich als Deutsche mosaischer Konfession gaben, mußte ihr teutonischer Chauvinismus übermäßig sein, um ein bißchen geglaubt zu werden, und sie brachten es doch nur dahin, von den Tschechen für Deutsche gehalten zu werden. Für die Deutschen blieben sie aber, was sie vor Beginn der Schonzeit gewesen: Beweis Eger und Saaz.
Als Gegenstück hierzu wirkt der Beitrag von Prof. Dr. Alfred Klaar, dem langjährigen Obmann der berühmten Prager Lese- und Redehalle und militanten Vertreter der deutschen Belange. Er erkennt wohl mit „wärmster Dankbarkeit eine Vergangenheit an, in der die jüdische Bevölkerung von
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Im Verlagsprogramm Kurt Wolffs für das Jahr 1913 waren die Prager Autoren zahlreich vertreten: Franz Werfel, Max Brod, auch zusammen mit Felix Weltsch als Verfasser eines gemeinsamen philosophischen Werks, und Franz Kafka. Das jüdische Prag. Eine Sammelschrift. Prag: Verlag der „Selbstwehr" 1917. Ebd. S. 7. Die entschwundenen Zeiten (1897).
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Prag in notgedrungener Abgeschlossenheit Denkwürdiges für die Kultur ihrer Vaterstadt geleistet" hat, sieht aber das Heil der als Juden geborenen Menschen darin, daß sie ihre Kräfte möglichst ungehemmt in unlösbarer [!] Gemeinschaft mit der Nation entwickeln, der sie durch Geburtsort, Muttersprache, Erziehung und die ganze, den sittlichen und geistigen Menschen prägende Kulturwelt angehören.9
Der Beitrag Bubers richtet sich im besonderen an die Prager Freunde „in der Gefahr und [...] in der Gefangenschaft" und bringt eine Sabbath-Legende des Hohen Rabbi Low. Von den Prager jüdischen Autoren werden philosophische, epische, historische und kunstgeschichtliche Themen behandelt, die sich größtenteils auf das jüdische Prag beziehen. 10 Erkennen lasse sich in diesen Beiträgen eine geistige Unruhe, eine unheimliche Unsicherheit, und ein tastendes Suchen in den jüdischen Intellektuellen, die Europäer waren und doch wußten, daß sie ein Element selbständigen Wesens in sich trugen.11
So charakterisierte Jahrzehnte später ein Prager Zeitgenosse, Hans Kohn, das emotionelle Klima dieser Jahre, das in der durch den nationalen Zwist geschaffenen Spannungsatmosphäre Prags besonders reich an Konflikten war. Der literarische Widerhall dieser Stimmung läßt sich bei den Prager Autoren an ihrem fast zwanghaften Verlangen verfolgen, einen seelischen Standort zu finden, der nicht erst den Romanen jüdischer Thematik zugrunde lag, die im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts von Max Brod, Ernst Sommer, Oskar Baum und Ludwig Winder geschrieben wurden. Ein jähes Besinnen auf die jüdische Herkunft, das jüdische Erbe, war bereits bei der dem ,Prager Kreis' vorangehenden Generation zum Ausdruck gekommen, etwa bei Hugo Salus, der sich 1902 „so tief im sicheren Herzen deutsch" gefühlt hatte 12 und ein Jahrzehnt später sich plötzlich seines Großvaters erinnerte, den er „noch gekannt" hatte: Er trug sein Bündel durch das Land Und konnte nicht schreiben und konnte nicht lesen Und ist ein armer Hausierer gewesen [...] 1 3
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Ebd. S. 51. Von Franz Kafka die Erzählung Ein Traum; von Oskar Baum einer der seltenen prononciert zionistischen Beiträge, die Novelle Das junge Geschlecht: von Hans Natonek Ghetto, eine Erzählung, die die von den Eltern vergessene und von den Kindem herbeigesehnte Tradition betont; von Hugo Bergmann der Brief an einen Dichter; ein Aufruf an die jüdischen Künstler, aus der Tiefe des jüdischen Schicksals ihre Werke zu schaffen, u.a.m. Hans Kohn, Martin Buber (Anm. 2), S. 117. Hugo Salus: Prager Elegie. Prag 1902. Vgl. Anm. 3.
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Auch bei weiteren jüdischen deutschschreibenden Autoren der „Concordia" und anderer literarischer Verbindungen um die Jahrhundertwende sind in der Prosa, hauptsächlich jedoch in der Lyrik Anzeichen eines heraufdämmernden jüdischen Bewußtseins zu vermerken. Eine willentliche Hinwendung zu jüdischen Belangen als Ausdruck eines erwachten jüdischen Bewußtseins kann nichtsdestoweniger erst bei einigen der Autoren des ,Prager Kreises' verzeichnet werden. Die ihre Schilderungen dominierende kritische Sicht und Beurteilung der dargestellten jüdischen Gestalten und ihrer Aktionen und Reaktionen ist der Ausdruck des persönlichen Engagements des jeweiligen Autors, das seinerseits von subjektiven Unsicherheitskoeffizienten bestimmt wird. Der Einbezug des Nicht-Pragers Ernst Sommer 14 und seines ersten Romans Gideons Auszug (1913) in diese Untersuchung erfüllt mehrere Aufgaben: Als Kontrast, denn die Polarität, das Spannungsfeld zwischen deutscher und tschechischer Kultur und Sprache, die Traditionswerte des ethnischen Erbes, aus denen das jüdische Bewußtsein der Prager Autoren erwuchs, war bei den assimilierten Juden der böhmisch-mährischen Provinz, wo der Einfluß Wiens meist stärker war als der Prags, tiefergehend und vielleicht auch gewollter. - Dann auch als Paradigma für die Maßstäbe einer Generation von Westjuden, die das Ostjudentum nur durch den Zionismus kennen lernte, ihren Blick auf Aspekte der ostjüdischen Reaktionen fixierte und sie wertete, ohne die Konditionen der völlig unterschiedlichen Lebensformen und -bedingungen zu berücksichtigen. Wieder ist es der Wiener Einfluß, der diese Einstellung weitgehend bestimmt, und auch darin zeichnet sich der Unterschied zu der viel reflektierteren Prager
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Ernst Sommer (1888 Iglau - 1955 London) hatte sich nach dem in Wien absolvierten Jurastudium in Karlsbad, einer Hochburg des Sudetenzwists, als Anwalt niedergelassen und war als Jude, als deutscher Sozialdemokrat und Schriftsteller und als engagierter Tschechenfreund in dieser Umgebung ein Außenseiter. Bereits 1924 hatte er versucht, durch die mit Bruno Adler gegründete literarische Zeitschrift „Die Provinz" zur „Verständigung der geistig Verwandten über alle nationalen Schranken hinweg" eine Verbindung mit den Prager Autoren herzustellen. Die als Halbmonatsschrift geplante Zeitschrift erschien nur bis Oktober 1924 (Januar H. 1-2, Februar H. 3-4, März H. 5-6 und Oktober H. 7-8). Die Kurzlebigkeit der „Provinz" ist wohl auch auf die antisemitische Tendenz der Sudetendeutschen zurückzuführen, die dem Erfolg eines von zwei Juden veröffentlichten Verständigungsorgans entgegenstand. Umso mehr ist dieser Versuch hervorzuheben, der Jahre vor der letztens wieder öfters ins Gespräch gebrachten, von Josef Mühlberger edierten Zeitschrift „Witiko" (1928-1931) unternommen wurde, die ein gleiches Ziel verfolgte. Die Prager Autoren brachten diesem Organ, obwohl es ihrer Mittlerrolle entgegenkam, wenig Interesse entgegen, nur Rudolf Fuchs und Otto Pick steuerten Beiträge bei; hingegen beteiligten sich so namhafte tschechische Dichter wie Karel Capek und Fräna Srämek.
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Reaktion ab. Nur vier Jahre später sollten sich Brod und Werfel mit diesen Fragen in einem intensiven Briefwechsel beschäftigen.15 - Drittens schließlich als Beweis einer auch zeitlich parallelen Entwicklung in Themenwahl und -gestaltung der späteren Romane. Der Einbezug Sommers in die Reihe der Prager Autoren geschieht auch im Hinblick auf seine aktiven Bemühungen, die Verbindung zwischen den Präger deutschschreibenden Autoren und denen der Provinz wie zwischen tschechischer und deutscher Literatur herzustellen. Sommers Roman ist eine kaum verschlüsselte autobiographische Wiedergabe des Versuchs, in der zionistischen Idee die Kompensation für eine problematische Vaterbeziehung und auch die Kraft zu einer ideologischen Standortentscheidung zu finden. Die in dem Roman dargestellte schicksalhafte Erlebnisetappe läßt die Ansätze eines rigorosen Gerechtigkeitsgefühls erkennen, das in den späteren Romanen dieses Autors thematisch in den Kämpfen für geistige und politische Freiheit vertieft wird. 1913 allerdings verstellt der subjektive Blickwinkel des Autors eine überzeugende Entscheidungsentwicklung, an ihre Stelle treten instinktive Reaktionen und einander widerstrebende Gefühle, an denen der Protagonist schließlich zugrunde geht. Seine Tragik - und die des Autors - ist das Bestreben, in den Bewußtseinsaspekten der Freunde und Gleichgesinnten die Klärung der eigenen Seelenkämpfe zu finden, ohne die Kohärenz sozialund umweltbedingter Einflüsse und jüdisch-zionistischer Bewußtwerdung einzubeziehen. Eine Schlüsselstellung nimmt hierbei die halb mit Bewunderung, halb mit Geringschätzung betrachtete ostjüdische Zionistengruppe ein. Der Abgrund des Unverständnisses für die ostjüdische zionistische Blickeinstellung wird deutlich, wenn die Reaktionen der Ostjuden strikt aus der Perspektive des assimilierten Westjuden beurteilt werden, der in seiner sprachlichen und topographischen Umgebung seine Wurzeln sucht. W i e konnten diese Zwanzig leichten Herzens aus den Ländern ihrer Heimat fort? [ . . . ] Sie alle hatten von Anfang an keine Heimat und glichen Samen, der geschaffen ist, in fremden aufgerissenen Furchen aufzukeimen. 1 6
Die relativierte postassimilierte Einstellung Max Brods und seiner Prager Freunde konnte diese grundverschiedene Geisteshaltung bewältigen, verstehen, daß für die Zwanzig aus Odessa der Boden Eretz Israels nicht „fremde Furchen" waren, sondern daß sie zu einer nie aufgegebenen Hei15
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In seinem Brief vom 2.2.1917 antwortet Brod Werfel auf dessen briefliche Frage vom 28.1.1917, ob „bei strengster Wahrhaftigkeit" der Gegensatz „zwischen der momentanen Universalkultur und dem ostjüdischen Leben" standhalten könne: das „heutige Ostjudentum ist mir nur Gleichnis der Wahrheit; allerdings ist es mir realer, wahrheitsnäher erschienen als die heutige Familie". Die Briefe resp. ihre Kopien wurden mir 1968 von Max Brod gezeigt. Emst Sommer: Gideons Auszug. Wien: österreichischer Verlag 1913. S. 246.
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mat zurückkehrten; für diese Gruppe erhielt der zionistische Gedanke, die neue, aus den Gebeten vertraute Sprache die sehr aktuelle Bedeutung einer freien Zukunftsmöglichkeit. Doch der Autor Sommer und sein alter Ego Gideon verlieren sich in einem Meer von Selbstbeobachtung und -beschuldigung. Zu schwach, „zwei Leben in sich zu tragen [...] oder sich selbst aus dem Paradies der Erinnerungen" (S. 246) zu verstoßen, bleibt Gideon nur die Flucht in die Krankheit und in den Tod. Ein weiteres Motiv, das in den literarischen Werken jüdischer Autoren immer wieder gestaltet wurde, die Liebesbindung zu einer Nichtjüdin, von Brod und anderen Prager Autoren als Verständigungsmedium dargestellt,17 wird in Sommers Roman zu einer zusätzlichen Quelle von Selbstvorwürfen: Wie kommt es, daß ich als Jude mit Toni so eins und innig verbunden bin? Sind nicht Welten zwischen uns und Meere und der unauslöschliche Haß zweier Völker und Klassen? [...] Wie reimt sich dann meine Liebe auf mein Bekenntnis zum extremen Judentum? (S. 191)
Die Verknüpfung von sozialem und ethnischem Element, die Sommer durch die Schilderung arrivierter, sehr gut situierter Juden in das Geschehen bringt, wurde fast zur gleichen Zeit von Egon Erwin Kisch in seinem einzigen Roman Der Mädchenhirt (Berlin 1914) in den nationalbedingten Klassenunterschied übertragen. Der Protagonist des Romans, Jaroslav Chrapot, ist der Sohn eines Juden und eines tschechischen Flößerweibs, und alle Versuche seiner Mutter versagen, mit dem von seinem biologischen Vater erpreßten Geld aus ihrem Sohn etwas „Besseres" zu machen - zur Erreichung dieses Ziels wird ihm sogar der Besuch einer deutschen Schule aufgezwungen, was man in diesem Milieu „als schimpflichste aller Charakterlosigkeiten und nationalen Verrat brandmarkte" (S. 47). Wenn der Schwerpunkt der weltanschaulichen Aussage in Sommers jüdischem Roman im Psychologisch-Ideologischen verankert ist, verlegt ihn Kisch auf das Sozial-Nationale: „Man verwechselte im tschechischen Prag die Begriffe .deutsch' und ,reich', der nationale Haß war Klassenhaß" (S. 46). In diesem Fall ist auch eine ethnische Bedeutung anvisiert Karl Duschnitz, der Vater Jardas, ist ein reicher deutsch-sprachiger Jude. Das zeitbedingte expressionistische Motiv des Vaterhasses und das naturalistische der Vererbung werden nur in der Titelgestalt hervorgehoben, und auch hier ist es von sozialbedingten Momenten überspielt, deren Entwirrung Kisch mit einem dramatischen Ende umgeht: Jarda hat weder die Kraft, Prag zu verlassen und ein neues geordnetes Leben zu beginnen, noch den an dem Vater geplanten Mord auszuführen; der Brief des Vaters, in dem er Jardas Mutter seine Absicht mitteilt, den gemeinsamen 17
Bereits 1909 in Ein tschechisches Dienstmädchen (Berlin, Axel Junker) und auch in späteren Romanen und Erzählungen.
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Sohn zum Haupterben einzusetzen, kommt zu spät, der an sich und der Welt verzweifelnde Jarda hat sich erhängt. Der bei seinem Erscheinen Aufsehen erregende sozialkritische Roman, in dem das mit Zurückhaltung eingeschaltete jüdische Moment in seinen sozialen Implikationen nur geringe Beachtung fand, nimmt in der Rezeption von Kischs Werk leider noch immer nicht den ihm zukommenden bedeutenden Platz ein. Um diese Zeit veröffentlichte auch Oskar Baum (1883-1941) einen Roman mit jüdischer Thematik. Die böse Unschuld (1913), ein jüdischer Kleinstadtroman, verdeutlicht in seinem zweisträngigen parallelen Motivund Strukturaufbau zeit- und generationsbedingte Assimilationsprobleme; durch die Beschränkung der erzählten Zeit und des Darstellungsraums wird in den sozialen Ausschnitten des jüdischen Lebens eine Bildlichkeit evoziert, die an eine Biedermeiernovelle erinnert. Das Oxymoron des Titels jedoch ist auch in den Handlungsvorgängen der Nebenmotive reflektiert präsent, es signalisiert die beunruhigend dünne Schicht der Harmonie, die die sprachlich-nationalen und sozialen Umwälzungen überdeckt. Wie Kisch weist Baum auf die kausalen Zusammenhänge von sozialen und politisch-nationalen Einflußsphären hin, aber darüber hinaus legt er in den jüdischen Handlungsträgern die Scheinhaftigkeit ihres Handelns und ihrer vermeintlichen ideologischen Entscheidungen bloß. Baum bedient sich weitgehend einer dialogischen Erzählform, in ihr wird das Integrationsstreben der älteren Generationen hervorgehoben, das entscheidender als ideelle Überzeugungen ihre Tendenz zur deutschen Sprache und Kultur bestimmte. Ein alteingesessener Bürger der Kleinstadt erklärt dem Gast aus Prag, die Juden blieben „das Überbleibsel der deutschen Vorherrschaft, [und] die einzige deutsche Schule des Ortes [sei] die von der Kultusgemeinde erhaltene Judenschule".18 Diese Loyalität wird von der deutschen Bevölkerung keineswegs honoriert, im Gegenteil: Die Mehrzahl der Deutschen [hat] offen, besonders im politischen Programm, die feindselige Zurückweisung der jüdischen Anhänglichkeit als Pflicht proklamiert. (S. 18f.)
Dadurch aber wird in den Juden die „Sehnsucht nach Erneuerung der eignen alten Volksart" gestärkt, die ihrer Wendung zum Zionismus zugrundeliegt. Baum hebt die konfliktgeladenen verschiedenen Einflußsphären hervor und exemplifiziert sie in dem „jungen Beinstein, einem Hausierersohn und ewigen Studenten", der sich als tschechisch-nationaler Sozialist profilieren will. In ironisierender Charakterzeichnung und Situationsbeschreibung überspielt der Autor das nicht seltene Phänomen, daß linkstendierende und damit beinahe automatisch protschechische Orientierung in 18
Oskar Baum: Die böse Unschuld. Ein jüdischer Kleinstadtroman. Frankfurt: Rütten u. Loening 1913. S. 17. Bei weiteren Zitaten aus diesem Buch ist nur die Seitenzahl angeführt.
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dieser Sozialstruktur antijüdische Sentimente implizierte. Das 15. Kapitel des Romans, in dem unter dem Titel „Die Demonstration" die der Komik nicht entbehrende Reaktion der tschechischen und deutschen Zuhörer auf die Hetzreden des jungen Beinstein geschildert wird, die schließlich zu antisemitischen Kundgebungen führen, ist ein überzeugendes Beispiel dafür, daß es Baum in dem vordergründig anspruchslosen Gesellschaftsroman gelingt, vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und familiärer Zusammenhänge den sowohl auf deutscher wie auf tschechischer Seite latenten Antisemitismus aufzudecken und damit den für Juden in diesem geographischen Raum eingeengten Spielraum ideologischer Stellungnahmen aufzuzeigen. Das absolute Vertrauen des Autors, daß alle Probleme mit Vernunft zu lösen sind, das zu diesem Zeitpunkt sein Weltbild bestimmte, kommt in der erzählerischen Sicherheit zum Ausdruck, mit der auch diese Probleme mit der Aufklärung des „Mißverständnisses der bösen Unschuld" gelöst werden. Auch Max Brods Roman Jüdinnen (1911) 19 ist in einer deutschen Provinzstadt Böhmens angesiedelt. Der Vorkämpfer des literarischen Aktivismus, Kurt Hiller, erklärte in seiner Paraphrase zum Roman, erschienen im zweiten Heft der „Herder-Blätter": Über den neueren Brod schreiben, heisst [...]: zum Problem der Deskription Stellung nehmen. Deskription ist Gegensatz zweier Begriffe: der Phantasie und des Ethos....
Brod, der im weiteren als Hillers Lieblingserzähler herausgestellt wird, „weil er der geistigste, der antiagrarischste [...] ist", gilt aber auch als „ein Un-Eth, eine vollkommen apolitische Seele". Und hierin lag für alle mit Hillers Thesen Vertrauten eine offensichtliche Rüge. Hiller hatte in seinem Begriff des Aktivismus ,Eth' (Ethos) gegen Ästhetik gesetzt, sein anvisiertes Ziel war die ethische Wort-Tat. Das ethische Gebot der Tat, der Zwiespalt zwischen Ethik und Vitalität, wurde wohl in den folgenden Jahren zum Kernmotiv des Brodschen Schaffens, aber zum Zeitpunkt des Romans Jüdinnen befand sich Brod in einer Phase der Ästhetik, die - ein für die besondere Prägung des Prager Aktivismus symptomatisches Phänomen - sein Engagement für den literarischen Aktivismus nicht beeinträchtigte. 20 Im Roman von 1911, der nach dem stürmischen Roman Schloß Nornepygge (1908ff. 21 ) nicht nur bei Kurt Hiller Enttäuschung hervor-
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Vorabdrucke erschienen in „Die Zukunft" 19 (1911) Nr. 42; „Herder-Blätter" (1911/12) Η. 1; „Der Sturm" (1911/12). Vgl. dazu Hermann Friedmann u. Otto Mann: Expressionismus. Gestalten einer literarischen Bewegung. Heidelberg 1956. S. 24ff. Max Brod: Schloß Nornepygge. Berlin: Axel Junker 1908.
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rief,22 wird das jüdische Motiv rein deskriptiv behandelt. „Brod tadelt die Leute nicht, er nimmt sie als Phänomene", stellt Hiller fest, und im Gegensatz zu Felix Braun, der in dem Roman das „Gebilde einer wirklichen und wahrhaften Anschauung der Welt" zu sehen glaubte, ihn aber als „zu nahe" empfand, weil die ihm erforderlich scheinende Distanz zwischen Autor und Thema nicht eingehalten war, 23 warfen die Prager zionistischen Kreise Brod Richtungslosigkeit vor. „Der Dichter muß etwas hinzutun, der Dichter soll auf einem sicheren Grunde stehen und muß die Verworrenheit deuten", verlangte Hugo Herrmann. Jahrzehnte später berücksichtigt Hugo Bergmann bei den „ersten Juden und Jüdinnen, die [Brod] gestaltete, wie sie waren, unsympathische Gestalten, [...] die anhängliche Liebe" ihres Autors.24 Nach Struktur, Inhaltsgestaltung und Erzählduktus muß der Roman Jüdinnen zu den unbefriedigendsten unter den literarischen Schriften Brods gezählt werden. Der Protagonist Hugo, ein siebzehnjähriger Gymnasiast, dessen sentimentale Selbstbetrachtung und Selbstbemitleidung manchmal den Tagebüchern eines anderen Prager Autors, Paul Kornfeld, entnommen zu sein scheint, erfüllt im wesentlichen die Aufgabe einer Reflexfigur der unbedeutenden Frauengestalten, die zu der jüdischen Gesellschaft der Stadt Teplitz gehören. Wie Baum wählt auch Brod die diskursive Erzählform und schafft sich dadurch die Möglichkeit, in dem Deskriptiven die kritischen Ansichten des Autors zu implizieren, so über die kastenhaften Abgrenzungen innerhalb der Prager deutsch-jüdischen Gesellschaft (S. 54f.) oder über die Gegensätze zwischen orthodoxem und assimiliertem Judentum (S. 58f.). Nur in der Charakterzeichnung Alfreds, des Prager jüdischen Studenten, ließe sich von einer vorsichtigen Preisgabe des Autorstandpunkts sprechen: Dessen Weltanschauung, die er [...] als selbstverständlich [...] hie und da vorbrachte, ging im ganzen auf das einzige theoretische Buch zurück, das er vor Jahren flüchtig, aber begeistert gelesen hatte, ohne es vollständig zu verstehen: Weininger [...] (S. 229)
Alfred wird als einer der jungen Juden dargestellt, die eine starke Hinneigung zum Arischen haben und alles Jüdische verächtlich finden [...]. Er war Turner, Erstchargierter einer liberalen Verbindung, als deren bester Fechter er galt [...] [Alfred] liebte Prügeleien mit Tschechen [...], [umfaßte] alles was slawisch war, [...] mit einem großen ehrlichen Haß [...] (S. 229ff.) 22
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Verglichen mit Schloß Nornepygge schien ihm Jüdinnen „bloß ein Meisterwerk" (HerderBlätter). In einer Tagebuch-Eintragung Brods vom Ostersonntag (27. März) 1910 findet sich die Notiz: „Bei Dr. Hiller. Seine Mamma. - Zu Rubiner um 7 Uhr." In einem Brief an Max Brod vom 14.7.1911; 1968 im Besitz Brods. Hugo Bergmann: Max Brod zu seinem sechzigsten Geburtstage. In: Mitteilungsblätter Tel-Aviv, 26.5.1944.
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Wie Brod in der .Nachschrift 1918' zu der Ausgabe des Romans von 1922 schreibt, war er sich der Schwächen des Romans wohl bewußt: [ . . . ] man glaubt es allgemein und ich selbst war jahrelang überzeugt davon, dieses Werk gehört gar nicht in meinen Weg. Ein Abirren war's, Rückschritt, Fehlschritt in veraltete Methoden [...].
In den späteren Jahren modifizierte sich diese Ansicht, und Brod sah in diesem und dem folgenden jüdischen' Roman, Arnold Beer (1912), gleichfalls bei Axel Junker erschienen, notwendige Etappen seiner Entwicklung. Den Tagebucheintragungen von 1910 zufolge war Brod während der Niederschrift und Vollendung des Romans mit seiner Arbeit durchaus zufrieden: Mittwoch, den 1. Juni (1910) notiert er, er habe „Die Volksversammlung", das 11. Kapitel dieses Romans, beendet und „Abends bei Baum vorgelesen." Die Volksversammlung wird, wie die Demonstration in Baums Roman, von einem jüdischen Redner geleitet, und auch hier kommt es zu einer Schlägerei zwischen Tschechen und Deutschen, die von einem jüdischen Handlungsträger, Alfred, freilich aus deutsch-patriotischer Motivation, inszeniert wird. Zwei Tage später, am 3. Juni, berichtet Brod über das folgende Kapitel: „Nachm. sehr gut geschrieben! Große Szene Hugo mit Olga gelungen. Freudige Begeisterung.". Wieder zwei Tage danach, am 5. Juni: „Kap. 13, sehr gut gelungen. Ich arbeite jetzt göttlich!." Und am Donnerstag, 9. Juni: „Nachm. 3/ 4 7 Roman beendet, mit großer Seligkeit....". In der Tagebucheintragung unter diesem Datum findet sich auch eine Bemerkung über ein Zusammensein mit „Olga, [der] Bulgarin", die dem weiteren Inhalt dieser Notiz nach keineswegs zu der Prager jüdischen Gesellschaft gehörte. Ob dieses primitiv-naive Mädchen zur Gestaltung der Kontrastfigur gleichen Namens in Brods Roman beitrug, die Hiller als „ländliche Tochter Zions" apostrophiert hat, läßt sich nicht feststellen; aber Brod hatte bestimmt Kafka von diesen Begegnungen erzählt, und vielleicht findet die KafkaForschung hier einen Hinweis auf eine mögliche Einwirkung auf die Gestalt Olgas in Das Schloß.26 Brods weitere Entwicklung zum militanten Zionisten und Autor des jüdischen Bekenntnisbuches Heidentum, Judentum, Christentum (1921) wurde von ihm selbst und anderen häufig analysiert. Es dürfte daher dem Ziel des Symposiums entsprechen, auf weitere 25
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Max Brod: Ausgewählte Romane und Novellen. Dritter Band. München: Kurt Wolff Verlag 1922. Max Brod ließ seine Tagebücher, mit Ausnahme des Tagebuchs vom 4. September 1909 bis zum 20. Juli 1911, aus dem hier zitiert wurde, bei seinem Bruder in Prag, der sie aus Angst vor der Gestapo vernichtete. Das erhaltene Tagebuch, das sich im Besitz der BrodErbin Esther Hoffe befindet, der ich für die Überlassung einer Xerokopie zu danken habe, wurde von Brod oft erwähnt oder zitiert. Er hatte aber nie die Absicht, es zu veröffentlichen, da mehr als die Hälfte der Eintragungen sehr persönlicher, intimer Art sind.
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Hinweise zu Brods literarischer Gestaltung seines jüdischen Bewußtseins zu verzichten und diesen Schaffensaspekten bei anderen, weniger bekannten und kommentierten Prager Autoren nachzugehen. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den gegenüber Brod völlig anders motivierten und aufgebauten jüdischen Romanen Ludwig Winders zu, der zu dem „engsten Prager Kreis" gehörte. 27 Ludwig Winders (1889-1946) Kinder- und Jugendjahre in kleinen mährischen Städten, in denen sein Vater Lehrer an der deutschen Volksschule war, verliehen seinem Judesein eine Bedeutung, die für Jahrzehnte sein Leben und Werk prägten. Die fast triebhaften Aggressivreaktionen der jüdischen Handlungsträger in seinem ersten Roman von 1917, Die rasende Rotationsmaschine, die Zwangsimpulse gegen das jüdisch-orthodoxe Milieu im Roman Die jüdische Orgel (1922), die Auflehnung gegen die ethnisch bedingte gesellschaftliche Ächtung im ersten Teil von Hugo, die Tragödie eines Knaben (1924) sind als Katharsis eines Kindheitstraumas, als Evolutionsetappen des Autors, zu verstehen. Auf diese emphatische Selbstwahrnehmung in den frühen Romanen ist es wahrscheinlich zurückzuführen, daß Winder als einziger dieser Autorengruppe auch nach 1933 und in den Jahren des Exils nie mehr einen jüdischen Themenkreis aufgriff. Seit 1908 war Winder an verschiedenen Zeitungen in Wien, Bielitz, Teplitz und Pilsen tätig; 1913 kam er als Feuilletonredakteur und Schauspielreferent zu der traditionsreichen „Bohemia", der Prager Zeitung, die sich berufen fühlte, die deutschen Belange mit allen Kräften zu vertreten und zu schützen. 29 Es kann nicht überraschen, daß Winder das Handlungsgeschehen seines ersten Romans in dem ihm so vertrauten Zeitungsmilieu ansiedelt. In den ausschließlich jüdischen Handlungsträgern verdeutlicht Winder die schicksalbestimmende Kraft ethnisch- und milieubedingter Kindheitseinwirkungen und den zum zwanghaften Drang gesteigerten Willen der Romangestalten, diese Einflüsse zu überwinden. Im Gegensatz zu Brods Roman wird bei Winder in den nicht weniger unbarmherzig bloßgelegten Schwächen der Handlungsträger, deren ethnische Begründung der Autor impliziert, die Anklage gegen eine Umwelt deutlich, die durch ihre feindselige Einstellung dieses Verhaltensmuster provoziert. Für Theodor Glaser, den „Kantorsohn aus Brody", wird das Dingsymbol der Fabel, die Rotationsmaschine, zum Werkzeug seiner Machtgier. Die Triebfeder seiner Energie, mit der er sein Wunschziel anstrebt, ein „euro-
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Max Brod: Der Prager Kreis. Stuttgart 1969. S. 35. Berlin und Leipzig: Schuster u. Loeffler. Eine tschechische Übersetzung erschien 1926. Winders Verständnis und Interesse für tschechische Belange wurde in diesem Rahmen oft auf die Probe gestellt, ebenso wie seine Zurückhaltung, wenn literarische Werke sudetendeutscher Autoren zu rezensieren waren.
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päischer Machtfaktor zu werden", ist der Haß, der bei Winder in dieser Epoche eine läuternde Funktion erfüllen kann. In einem im Roman zitierten Gedicht, „Tröstungen" (S. 178), ruft Winder dem „Mitmenschen" zu: „Hab' nur Kraft, zu hassen! [...] Lieber Haß als Trauer!", und versucht in zwei Romangestalten das positive und negative Wirkungsergebnis dieses Gefühls zu veranschaulichen. Im letzteren Fall mündet der Haß in Selbsthaß und Selbstzerstörung, die positive Wendung wird in der Künstlerin Olga durch das Medium der Musik ermöglicht: Haß wandelt sich zu Verständnis und endlich zu Liebe. Nicht überzeugende abrupte Charakteränderungen und fehlende Nuancierung der Reaktionen verwehren Winder in diesem ersten Roman, das Ziel eines realistisch-psychologischen Figurenromans nach dem Vorbild Heinrich Manns zu erreichen. Dies gelang ihm erst in dem Roman von 1922, Die Jüdische Orgel; die Thematik dieses Romans primär als expressionistischen Generationskonflikt zu klassifizieren, hieße allerdings nur die Oberfläche der Fabel zu erfassen. Wie aus dem im Nachlaß vorliegenden Manuskript hervorgeht, basiert der geschilderte zyklische Entwicklungsprozeß auf Kindheitserlebnissen von Winders Vater.30 Im Handlungsort ist das Städtchen Holleschau zu erkennen, eine der abgeschlossensten jüdischen Gemeinden der böhmischen Kronländer, die erst 1919 mit der christlichen (tschechischen) Gemeinde in gemeinsamer Verwaltung vereint wurde. Der Protagonist des Romans, Albert Wolf, erleidet seine Kindheit in steter Furcht vor dem fanatisch orthodoxen Vater, der - wie vor der Verfolgung und Verachtung der judenfeindlichen Umgebung - den geringsten Verstoß gegen religiöse Gebote als Verbrechen bestraft. Die Flucht in die „zweite nichtjüdische Welt", der bis ins Triebhafte gesteigerte geistige Assimilationsdrang bringen anstelle der ersehnten Befreiung nur eine Wesensspaltung, in der Albert jede Wahrnehmung und Erfahrung zur Gott- und Ichsuche wird. In schonungsloser Selbstkonfrontation entlarvt er seine Rückkehr zu den religiösen Vorschriften, die an Rigorosität noch die des Vaters übertrifft, als Selbstzweck, bis er endlich im Wahnsinn Erlösung findet. In Albert schuf Winder eine paradigmatische Gestalt, an der die Unmöglichkeit einer gewaltsamen Integration durch Entwurzelung exemplifiziert wird. Die in dem Roman Hugo, oder die Tragödie eines Knaben (1924) vereinten drei Erzählungen bilden einen jüdischen Entwicklungsroman, in dem wie fast immer bei diesem Autor das Spannungsverhältnis zwischen dem Eigen-Ich und dem Gruppen-Ich den Ausgangspunkt des Geschehens ausmacht. Die persönliche Betroffenheit Winders spricht aus der Schilderung der tragischen Einsamkeit des ,Ausgestoßenen', des jüdischen Knaben Hugo, mit der zugleich eine Entwicklungsphase des Autors 30
Die Geschichte meines Vaters. Erzählung. Abgeschlossener erster Teil, erstes Kapitel des zweiten Teils. Entstanden 1944/45.
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abgeschlossen erscheint. In den folgenden Werken bleiben zwar die Grundmotive, die prägende Kraft der Herkunft, die milieubedingten Entwicklungsschranken die gleichen, aber sie sind nicht mehr ausschließlich ethnisch bedingt. Ein Gruppenmerkmal des ,Prager Kreises', die „spezifische Besonderheit" des Ethos dieser Dichtergruppe, lag in dem Umstand, daß „keiner [...] auch nur eine Silbe zugunsten des Krieges und der Gewalt veröffentlichte", wie Johannes Urzidil 1967 feststellte.31 Für sie galt nicht, was Hans Kohn bei Kriegsausbruch beobachtet hatte: „Der Staat, die typische Gesellschaft, schien einem Teil des Volkes im Herbste 1914 zur Gemeinschaft zu werden, zur unmittelbar erlebten Wirklichkeit, der man sich ergibt."32 Die Prager Autorengruppe hatte weder dieses Gefühl der Gemeinschaft, noch fühlte sie sich eingebunden in eine ethnische Zugehörigkeit. Die Entfremdung und willentliche Distanzierung der Generation des .Prager Kreises' von der jüdischen Religion und Tradition wurden von vielen dieser Autoren in dichterischer oder autobiographischer Form ausgedrückt, ebenso ihre Versuche, an die verlorenen Bindungen wieder anzuknüpfen oder sie durch andere ethische, ideologische oder religiöse Werte zu ersetzen. Ein repräsentatives Beispiel hierfür ist Franz Werfel, dessen oft überinterpretierte christologische Denkmodelle, die in den Jahren um 1916 in sein Werk einfließen, nicht ohne Einbezug der Korrelation von literarischem Einfluß - insbesondere Werfeis komplexem Verhältnis zum Expressionismus - und Zeitgeschehen beurteilt werden können. Das Diktum des Schulfreunds Paul Kornfeld in seinem expressionistischen Maniλ >j
fest Der beseelte und der psychologische Mensch, der „Künstler aber sei das Gewissen der Menschheit", ließ sich zwar nicht mit dem politischen Aktivismus in Einklang bringen, dem eine Zeitlang auch Werfel anhing, es entsprach aber völlig seiner Vorstellung von der welterlösenden Aufgabe des neuen Menschen und des Dichters als Erlöser der Welt. Ob Werfeis berühmtem Gedicht aus dieser Epoche Lächeln, Atmen, Schreiten die Deutung des Menschen als Emanation Gottes unterlegt wird oder im Gegenteil „die Geburt Gottes aus dem lächelnden, atmenden, schreitenden Ich",34 in ihm manifestiert sich auf jeden Fall auch der Anfang seiner Fixierung auf den Katholizismus. Es entsprach der Geistesrichtung der jüdischen Intellektuellen der Epoche in diesem mitteleuropäischen Raum, 31
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Johannes Urzidil: Der lebendige Anteil des jüdischen Prag an der neueren deutschen Literatur. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 10 (1967) H. 40, S. 281. Eine ganz flüchtige .Verirrung' zeigt Ludwig Winders Artikel Kriegslieder vom 8. November 1914 in der Deutschen Zeitung „Bohemia", die teilweise auf die Dehmelverehrung Winders zurückzuführen ist. Kohn, Martin Buber (Anm. 2), S. 205. In: Das junge Deutschland I, 1918. S. 1-13. Vgl. Albert Soergel und Curt Hohoff: Dichtung und Dichter der Zeit. Zweiter Band. Düsseldorf 1964. S. 483.
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daß Werfel nicht in der Wissensbemühung um die jüdische Lehre, sondern in einem idealisierten Christentum Klärung seiner emotionellen Probleme suchte und der Lyriker Werfel in einer Welt kosmogonischer Imagination seine individuelle Erlösungslehre verdichtet. Sie findet ihre Fortsetzung in Werfeis Wendung zum Drama, erhält jedoch dann durch die Verknüpfung mit dem magischen Zauberspiel eine andere, an das Opernhafte anklingende, Tendenz. Im ersten seiner Dramen, Die Troerinnen (1913), ist das Ich als letzte ethische Instanz entthront, nur der Mensch kann der Welt, dem Chaos Sinn verleihen, „Und dieser Sinn heißt Tugend." Obwohl Werfel hier im wesentlichen eine jüdische Sicht aufnimmt, unterlegt er ihr christologische Motive und verwahrt sich 1916 in seinem vielzitierten Artikel, Die christliche Sendung,35 gegen Hillers Angriff auf sein Vorwort zu diesem Drama: in ihm wird nach Hiller das passive Leiden glorifiziert, wo doch der „einzig gebotene[n] Weg aller Fluchenden" sein muß, „Änderer zu werden". Hier liegt im wesentlichen auch der Kern der Kontroverse mit Brod, der den Egozentrismus der Literaten geißelte, eine Stimmung auszudrücken, „die kein Weltschmerz, sondern ein Ich-Schmerz ist". 36 Es scheint, daß weder in diesen aufsehenerregenden offenen Briefen noch in den zahlreichen späteren Interpretationen von Werfeis christologischen Vorstellungen der Diskrepanz zwischen der Werfeischen Auffassung dieser Sendung, deren „Wesen [es] ist [...], den Menschen immer wieder unerbittlich zur Realität zurückzuführen", und seiner nur knapp das Pathos vermeidenden, keineswegs realistischen Wortlust Aufmerksamkeit gewidmet wurde. In seinen literarischen und essayistischen Beiträgen aus dieser wie aus den folgenden Epochen sind die Zeichen einer schwärmerischen Empfänglichkeit für den Wunderglauben des Christentums überdeutlich, die sich nur schwer mit seiner Erfassung des Judeseins als einer metaphysisch-ethischen Verpflichtung vereinen läßt. Das gnostische Forschen nach dem Sinn und Grund des Bösen nimmt bei den Autoren des ,Prager Kreises' eine prominente Stelle ein, und in direktem Zusammenhang hiermit steht ihr Nachdenken über die dem Menschen gegebene Willensfreiheit. Brod und etwas eingeschränkter auch Baum und Winder empfinden die Willensfreiheit als dem Menschen gewährte Gunst und gleichzeitig als ihm auferlegte Pflicht, die seinen Wirkungsmöglichkeiten zum Guten und der Bekämpfung des Bösen vorangeht. Werfel hingegen begreift diese Freiheit der Wahl als göttliche Überforderung des Menschen. Das unmittelbare Resultat war der im Essay Brief an einen Staatsmann (1916) formulierte Begriff des Bösen als „oberster Mißlungenheitskoeffizient". Das Sündigwerden des Menschen ist bei 35
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Franz Werfel: Die christliche Sendung, ein offener Brief an Kurt Hiller. In: Die neue Rundschau 28 (1917), I, S. 99ff. Max Brod: Unsere Literaten und die Gemeinschaft. In: Der Jude 1 (1916/17) S. 457-464.
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Werfel eine Komponente des christlichen Begriffs der Erbsünde, von dem das Bewußtsein einer untilgbaren Schuld abgeleitet wird. Die Wandlung des tatenfreudigen Autors der Weltfreund-Gedichte zum Verkünder menschlichen Unvermögens, zum Dichter, der auf dieser Erde nur „sitzen und sein und schrein" kann und soll, wie ihm Brod vorwirft, 37 begründet Werfel in seinem Essay wieder mit seiner Auslegung der christlichen Lehre: Die Tat steht selbstverständlich auch in der christlichen Lehre an erster Stelle, aber sie ist keine Forderung, kein Gesetz, sondern natürlicher Ausfluß der Erkenntnis, selbstverständliche Gestaltung des Bewußtseins, unabstrakt, unpolitisch [...] (S. 103)
Daß Werfel in dieser Auslegung keine ganz befriedigende Antwort fand, läßt sich einem Brief an Brod aus dem gleichen Jahr 1916 entnehmen: Ich stehe durchaus auf der Seite des Zionismus, es ist die einzige jüdische Form, an die ich glaube und in einigen Menschen verehre, wenn mich auch noch ein großer Seelen-Chaos davon abhält, meine Stellung anders zu dokumentieren, als durch Veröffentlichungen von Gedichten im „Juden", was aber doch ein wenig als Bekenntnis gemeint ist. 38
Was zu diesem Zeitpunkt im Werfeischen Werk als .Bekenntnis' zum Zionismus und damit zum Judentum zu verstehen ist, läßt sich nicht leicht fixieren; offensichtlich hingegen ist seine Neigung zum Marianismus, der sich in den frühen Dramen anzeigt und in dem dritten der .Frömmigkeitsromane' Das Lied der Bernadette (1941) gipfelt. Die in verschiedenen Romangestalten personifizierten Versuche einer Annäherung oder sogar Vereinigung der beiden Religionen sind am überzeugendsten in der „Komödie einer Tragödie" Jacobowsky und der Oberst (1941/42) herausgearbeitet, wohl auch deshalb, weil Werfel sich hier ohne theologisierenden Überbau auf die Überwindung des Gegensatzes zwischen Juden und Christen beschränkt. 39 Die Feststellung Rudolf Kaysers von 1922, Werfel
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Ebd. S. 461. Der nur ungenau datierte Brief befand sich 1967/68 im Privatarchiv von Max Brod. Zu diesem „Seelen-Chaos" trug das Fehlen von Kenntnissen der jüdischen Lehre als grundlegende Vergleichsmöglichkeit mit den christlichen Dogmen sicherlich nicht unwesentlich bei; wie bei Kafka ist auch bei Werfel der an den Vater gerichtete Vorwurf nicht überzeugend, gab es doch eine Unmenge anderen Wissens, das sich diese Söhne ohne väterliche Unterweisung aneigneten. Das Drama basiert mehr oder weniger auf Tatsachen: In Lourdes hatte ein sich gleichfalls auf der Flucht befindlicher jüdischer Bankier aus Stuttgart, Stefan S. Jakobowicz, Werfel die Geschichte seiner abenteuerlichen Reise in Begleitung eines polnischen Offiziers erzählt.
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gestalte nicht als Künstler Jüdisches, sondern sei jüdischer Künstler, 40 könnte als Sinngehalt seines Gesamtwerks akzeptiert werden, wäre nicht der Begriff Jüdischer Künstler' in sich zu vag. Ein Beispiel möge belegen, daß ohne Berücksichtigung der Begriffsüberschneidungen in Werfeis theologischem Denken, der Doppelbödigkeit seiner Gedankenbilder, die aus verschiedenen Schichten seines geistigen Nährbodens erwuchsen, und ohne Einbezug der jüdischen Gott-Mensch-Beziehung die Deutung seines Gesamtwerks kaum gelingen kann. Wenn Werfel im Gedicht Das Gebet Mosis (1919) Moses nicht als Bittenden erfaßt, sondern dieser Gott als Ankläger für sein Handeln verantwortlich macht - „Ich fordere dich vor dein Gericht, Richter!" - , ist wohl der Gleichklang mit Gedichten Ernst Weiß' und Ludwig Winders aus diesen Jahren offensichtlich; aber keinesfalls ist damit ein Vergleich mit Rilkes Mönch oder gar eine blasphemische Auflehnung impliziert. Denn die jüdische Religion kennt wohl einen transzendenten Gott, aber die eigentliche Wirksamkeit des jüdischen Gottes liegt im zeitlichen Geschehen, und das jüdische Recht faßt auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch in juristischen Begriffen. 41 Im Essay Christlich und Christlich, Jüdisch und Jüdisch (1918) hat Max Brod die Vorwürfe Gustav Landauers zurückgewiesen, er habe ein .Judentum nicht wie es ist, sondern wie es sein soll" einem „zur Scholastik gewordenen Christentum" gegenübergestellt; richtig sei hingegen, daß er, Brod, auch ein optimales Christentum nicht, wie Landauer, als einen „Weg jüdischen Geistes durch die Völker der Erde", sondern als eine „Abirrung von diesem Wege ansehe". Auf der gleichen Ebene bewegt sich auch die Auseinandersetzung mit Werfel, die im letzten Brief Werfeis an Brod noch einmal aufgenommen wird. In den Nachkriegsjahren überdeckten politisch-nationale und regionale Veränderungen die ideologischen Debatten und Probleme. In den Romanen Werfeis wie in denen seiner Prager Kollegen, wieder mit der Ausnahme Brods, wird jüdischen Motiven und Gestalten nur eine nebensächliche Bedeutung zugewiesen, die allerdings auch weiterhin die persönliche Haltung des Autors widerspiegelt. Als klares Gegenbeispiel zu Werfeis jüdischen Wegsuchern unter den christlichen Gestalten seiner Romane und Novellen in den zwanziger Jahren kann der sehr links orientierte und leicht ironisch gezeichnete jüdische Anwalt in Winders Roman Die nachgeholten Freuden (1928) angeführt werden. Dieser Roman erreicht durch 40
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Rudolf Kayser: Franz Werfel. In: Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller. Hrsg. v. Gustav Krojanker. Berlin: Welt Verlag 1922. S. 17-26, hier S. 26. Die Beiträge der Autoren des , Prager Kreises' in diesem Buch, wie auch die über sie, könnten in jedem einzelnen Fall als Stellungnahme zum Thema dieser Untersuchung gelten. Vgl. Moshe Zilberg: Chok we Musar bemishpath haivri (Gesetz und Moral im jüdischen Recht). Jerusalem 1952.
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die in der starken Zeitrepräsentanz eingebrachte Verschiebung des gesellschaftlichen und politischen Gefüges in das Geschehen fast dokumentarischen Wert. In Oskar Baums Novellen werden zionistische Motive und das Problem der Kinder in Mischehen verarbeitet. Bei Ernst Weiß sind die vereinzelten jüdischen Handlungsträger meist pathetische Figuren; die profilierteste ist Alfred Dawidovich, der an sich und der Welt leidende Protagonist des Anti-Kriegsromans Mensch gegen Mensch (1919). Dem Vater verleiht Weiß eine Anzahl der typischen karikaturhaften Charaktermerkmale, mit denen die im Westen Europas lebenden Ostjuden dargestellt wurden. Mehr als eine Nebenrolle ist auch dem jüdischen Rechtsanwalt im Roman Tiere in Ketten (1918-1930) zugewiesen, der vergeblich versucht, der Protagonistin Rückhalt zu geben. 4 Eine dezidiertere jüdische Haltung nimmt Weiß in der Erzählung Eine klinische Vorlesung (1918) ein, in der die pathologischen Auswüchse der gegen Juden gehegten Vorurteile vom medizinischen Standpunkt aus thematisiert werden. 43 In epischer Breite und einer dem pseudoalttestamentarischen Geschehen angepaßten Sprache werden in der Erzählung Daniel (1924) die Liebe Rachels und Joakims im Schlangenverließ Nebukadnezars und die Geburt ihres Sohnes Daniel besungen 44 Der 1926 im Sonderheft „Judentum Deutschtum" der Zeitschrift „Der Jude" veröffentlichte Essay Adeliges Volk (1926) ist eine Manifestation stolzen jüdischen Selbstbewußtseins, das vielleicht auf die direkte Einwirkung Martin Bubers zurückzuführen ist, jedenfalls weder in den vorhergehenden noch in den späteren Werken Weiß' zum Ausdruck kommt. Felix Weltsch veröffentlichte in der „Selbstwehr", deren Redakteur er von 1919 bis 1938 war, eine große Anzahl von Essays mit jüdischer und zionistischer Thematik. Nicht nur für die Prager Juden war die „Selbstwehr" von ganz großer Bedeutung; 1907 von Franz Steiner gegründet, übernahm 1910 Leo Herrmann ihre Redaktion und „gestaltete sie von Grund auf um", wie Robert Weltsch ausführte: Durch ihn wurde die Zeitung zum Sprachrohr und zur Tribüne für ernsthafte Diskussionen, und sehr bald wurde ihre Stimme auch überall in der jüdischen Welt gehört [...], bis unter der Redaktion von Felix Weltsch eine neue Epoche
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Der Roman erschien in drei Versionen: 1918 bei S. Fischer in einer naturalistischen, 1922 bei Kurt Wolff in einer expressionistischen und 1930 im Propyläen Verlag in einer deskriptiven Version. In allen Versionen ist der jüdische Rechtsanwalt, der nicht immer den gleichen Namen trägt, eine positive, wenngleich nicht starke Persönlichkeit. Außerdem wurde das Thema in der Tragikomödie Olympia (1923 Die Schmiede) und im Essay Zwei Reden über einen Mord (1918 in Der Mensch, Brünn) verarbeitet. In: Der Friede, Wien, Bd. 2, Nr. 34. Es ist der einzige mit „Dr. Ernst Weiß" signierte Beitrag des Autors. Daniel. Brünn: Die Schmiede 1924.
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der Zeitung in der inzwischen entstandenen tschechoslowakischen Republik eingeleitet wurde.45 1931 veröffentlichte der einer jüngeren Generation angehörende F.C. Weiskopf (1919-1955) seinen ersten Roman Das Slawenlied, ein Buch „aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslovakei", wie es im Untertitel heißt. 46 Die Entwicklung des Romangeschehens ist gleichermaßen von persönlichen wie von zeitbedingten sozialen und wirtschaftlichen Motivationen bestimmt; autobiographische Komponenten sind in die Reaktionsvariationen der jüdischen Handlungsträger eingebettet. Der Soldat Siegfried Koretz, von dem Feldwebel, der nicht daran erinnert werden will, daß er Tscheche ist, nur ,Moritz' genannt, reagiert auf die meist feindselige Haltung der Umgebung mit Abschirmung: er distanziert sich innerlich völlig von der Welt der .Andern', auch der Krieg ist „euer Krieg". Weiskopf will in Koretz den in der Tradition verankerten Juden darstellen, dessen gewollte Einkapselung zwar Schutz und Sicherheit gewährt, aber ein Hemmnis sozialer und geistiger Evolution ist. Der aus der Slovakei stammende Soldat Wasserzug, der nur jiddisch spricht und ein bewußter Sozialist ist, kann den Übergang von der Tradition zur sozialistischen Ideologie finden. Hans, der deutsch assimilierte Student, verharrt in den bürgerlichen Begriffen seiner Erziehung und seines Milieus. Die (autobiographische) Zentralgestalt ist der von der Schulbank in die Armee gerufene Prager jüdische Intellektuelle, der in dieser Zeit die endgültige Entscheidung für den Kommunismus trifft. Weiskopfs Roman fand bei den links tendierenden Kritikern nur beschränkte Zustimmung, sowohl bei seinem Erscheinen und noch prononcierter in den sechziger Jahren wurden Einwände gegen das Darstellungsprinzip und die un45
In: Prag we Jeruschalajim. Hrsg. v. Felix Weltsch. Jerusalem 1954. S. 134. Hans Tramer bewertet die „Selbstwehr" in seinem Essay Die Dreivölkerstadt Prag sehr lobend: Festschrift Robert Weltsch zum 70. Geburtstag von seinen Freunden. Tel-Aviv 1961. Bei Felix Weltschs Schwiegersohn Benny Gorenstein befinden sich eine Anzahl von Antwortbriefen auf eine Rundfrage der „Selbstwehr" 1930: „Ihr Verhältnis zum Judentum". Darunter sind die Antworten des Malers Friedrich Feigl vom 31.1.1930, der sich als „stolzer selbstbewußter Jude" fühlt, desgleichen von Georg Ehrlich; Artur Segal, Mitglied der neuen Sezession, hält den Zionismus für „eine Notwendigkeit der heutigen Zeit"; Josef Budko, der spätere Leiter des Bezalel Instituts Jerusalem, bekennt kurz, „ich bin Zionist". In diesem kleinen Nachlaß liegt auch ein Brief des tschechisch schreibenden Autors gelungener Darstellungen des jüdischen Dorflebens, Vojtech Rakous (1862-1935), in dem er mitteilt, er würde sich freuen, wenn die „Selbstwehr" etwas von ihm veröffentlichte, und er bitte in diesem Fall nur um ein Exemplar der betreffenden Nummer der Zeitschrift.
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Das Slawenlied. Berlin 1931. Weiskopf hatte seit 1922 Dramen und Märchen veröffentlicht, der literarische Durchbruch gelang mit dem Lyrikband Es geht eine Trommel (1923), der zwanzig eigene Gedichte und die ersten Nachdichtungen tschechischer Lyrik enthielt. Eine Neuausgabe dieser Gedichte aus den fünfziger Jahren enthält politisch bedingte Zusätze und Veränderungen, die den literarischen Wert manchmal vermindern.
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zureichende Berücksichtigung der „Aktivität des tschechischen Volkes im letzten Kriegsjahr" laut. 47 Daß die Wahl der jüdischen Protagonisten als Reflexgestalten bei diesen Einwänden eine Rolle spielt, kann angenommen werden. Die Entwicklung in Deutschland um 1930 veränderte schlagartig die zurückhaltende, das politische Geschehen fast ausschließende Themenwahl der Autoren dieses Kreises. Es war Paul Kornfeld, ein Autor, der es bis dahin vermieden hatte, jüdische Gestalten in seinen Dramen und Erzählungen einzuschalten, der 1930 einer so umstrittenen Gestalt wie Josef Süß Oppenheimer, dem Hofjuden des 18. Jahrhunderts, sein Drama Juden widmete. Süß glaubt, daß der Verstand die wirkungskräftigste Waffe des Menschen sei, daß durch Verstand allen Eventualitäten vorgebeugt werden könnte; er unterschätzt in seiner selbstherrlichen Sicherheit das Ausmaß der Infamie und Arglist seiner Gegner und ihrer Möglichkeiten. Kornfeld projiziert aber auch in die Gestalt des Juden aus dem 18. Jahrhundert ein Gefühlsmoment, das in intensiverer Form für seine Generation zutraf und nicht weniger entscheidend als die wirtschaftlichen Umstände dem Zögern zugrundelag, trotz zunehmender Gefahr den geographischen Raum Deutschlands zu verlassen. Wenn Süß auch noch zaudert, den Hof und das Land zu verlassen, nachdem er sich der ihm drohenden Gefahr bewußt geworden ist, liegt die Ursache hierfür in einem nicht weniger schwerwiegenden emotionellen Moment begründet, als es das reflektierte Vertrauen in seine geistige Überlegenheit und die Verlockung der praktischen Vorteile seiner Position sind: in seiner aufrichtigen Gefühlsbindung an den Herzog und das Land. Wie aktuell und brisant Kornfelds Gestaltung des historischen Stoffes war, bezeugen die im Drama von dem Regisseur Leopold Jessner vor der Aufführung vorgenommenen Streichungen. 48 Daß Brod 1933 im Roman Die Frau, die nicht enttäuscht, der nicht mehr wie bisher in Deutschland, sondern bereits bei Allert de Lange in Amsterdam erschien, ein Verständigungsmodell zwischen Deutschen und Juden unter dem Begriff der ,Di stanzliebe' zu finden sucht, ist ein Beweis für die naive Unterschätzung der Naziideologie, die sich auch bei vielen anderen Autoren außerhalb Prags verfolgen läßt. Brods Roman ist 47
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Vgl. Paul Reimann: F.C. Weiskopfs Prager Lehrjahre und Mittlertum. Berlin 1961. Ludvflc Väclavek: F.C. Weiskopf und die Tschechoslovakei. Prag 1965. - Irmfried Hiebel: Deutsche Schriftsteller über ihr Verhältnis zur Oktoberrevolution und zur Sowjetunion. Berlin 1966. Die Tragödie wurde am 7.10.1930 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm mit Ernst Deutsch in der Titelrolle uraufgeführt. In den letzten Jahren gab es Versuche, das Stück wieder auf die Bühne zu bringen. Zu den Streichungen vgl. Günther Rühle: Theater für die Republik. Frankfurt am Main 1967. S. 34. - Margarita Pazi: Zwei kaum bekannte ,Jud Süß'-Theaterstücke. In: Lion Feuchtwanger „... für die Vernunft, gegen Dummheit und Gewalt". Hrsg. v. Walter Huder u. Friedrich Knilli. Berlin 1985. S. 100-121.
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jedenfalls der zweiten Welle literarischer Produkte zuzuzählen, die sich unter dem Eindruck des Geschehens in Deutschland verstärkt jüdischen Motiven und Problemen zuwenden. Eine unerwartet dezidierte Rückbesinnung und Bejahung des Judentums kam in dieser Zeit von Franz Werfel, der die ontologischen Spekulationen, die ihn vom Judentum entfernten, in seinem Drama Paulus unter den Juden (1926) 4 9 zusammengefaßt und die im Drama verdichtete Sicht in einem Brief vom 13.9.1926 an Sigmund Freud erläutert hat: Alles eher wollte ich als das Christentum .verklären'. Im Gegenteil! Ich habe dieses Stück als Jude geschrieben. Und kein Augenblick schien mir für das Judentum »dialektischer', »tragischer' zu sein als der, wo sich die antinomistische Richtung (Christus) von der Thora und der Nation loslöst und in der Person des abtrünnigen Paulus die Welt erobert [...] Diese Sicht zeichnet sich auch noch kurz vor seinem Tod in seinem letzten Brief an Max Brod vom 18. März 1945 ab. Werfel antwortet darin auf Brods Einwand gegen das vorletzte Kapitel „Von Christus und Israel" in der Textsammlung Zwischen Oben und Unten (1944): Deine der meinigen entgegengesetzte Ansicht über Christus und die Kirche kenne und ehre ich. Ich erfreue mich umso mehr an den Wahrheiten, die uns verbinden. Daß mein Kapitelchen „Von Chr. und Israel" auf dem Seil tanzt, weiß ich selbst. Werde da mehr von Jesuiten und Dominikanern angegriffen als von Juden. Wichtig für Israel ist nur die endliche Einsicht, daß Christus50 nicht eine vorübergehende Calamität ist, sondern das entscheidende Ereignis der jüd. Geschichte. Ich meine das nicht in irgend einem enigmatischen, sondern im gröbst-realen Sinne. Ohne die christliche Auswirkung hätte sich das Judentum nie und nimmer erhalten. Das Christentum51 ist doch (immer rein realistisch gesprochen) die gewaltigste Folge, die je eine Ursache gehabt hat. Das 2 tausendjährige Widerstreben der Ursache sich mit seiner Folge zu identifizieren, bedeutet für mich eine der wenigen wirklichen Mysterien der Weltgeschichte. Es ist für Israel psychologisch viel leichter zu sagen „Es gibt keinen Gott" oder „die Nationalisierung der Produktionsmittel ist das würdigste Ziel der Menschen" als: „Wir haben das Licht nicht erkannt als es unter uns war" oder auch nur „Wir waren die Perlenmutterschale für eine Perle, die auch heute nichts von ihrem Glanz verloren hat.52 49
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Das Drama wurde im Münchener Prinzregententheater am 30. Oktober 1926 in der Inszenierung von Alfons Pape mit Armand Zäpfel in der Titelrolle uraufgeführt. Vor und nach dem Wort .Christus' sind im Original kleine Streichungen. Auch hier ist eine Streichung im Original: Das ursprüngliche ,Es' ist zu ,Das Christentum' abgeändert. Der Brief befand sich im Max Brod Archiv, Tel-Aviv, Brod überließ ihn mir während meiner Arbeit an meiner Dissertation ,Max Brod - Werk und Persönlichkeit'. Nach seinem Tod konnte ich von der Erbin Esther Hoffe eine Xerokopie der ersten beiden Seiten des dreiseitigen Briefes erlangen (die dritte Seite enthält praktisch-technische Hinweise
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1929 hatte Werfel dem Drängen Alma Mahlers nachgegeben - sie hatte einigen Berichten zufolge dies zur Bedingung ihrer Heirat gemacht - und war aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten, taufen ließ er sich jedoch nicht. „Ein Jude, der vor das Taufbecken tritt, desertiert", hält er noch in Nr. 16 seiner Theologumena fest. 53 1933 freilich hatte er mit der Abgabe der verlangten Loyalitätserklärung die Reihe der .Aufrechten' verlassen, nur um zwei Monate später die Mitteilung über seinen Ausschluß aus der Preußischen Akademie der Künste zu erhalten. Auch die Beantragung der Aufnahme in den „Reichsverband deutscher Schriftsteller" ist kein Ruhmesblatt, ebensowenig seine Zugehörigkeit zu dem Kreis, den seine Frau in den folgenden Jahren im pompösen Haus auf der Hohen Warte um sich versammelte. In diesen Jahren entsteht Werfeis von vielen als sein bestes Werk beurteilter Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933). Zuvor schreibt Werfel jedoch an einem Werk, das von der Forschung mit Zurückhaltung aufgenommen wird. Es ist der 1934 begonnene Weg der Verheißung, eine Dramatisierung des Weges der Juden bis zum babylonischen Exil. In einem Begleitbrief zu dem Manuskript heißt es, das Drama wolle
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auf Veröffentlichungspläne). Im weiteren nimmt Werfel zu einem anderen Punkt in Brods Brief Stellung: „Auf das, was Du von der Grausamkeit Gottes mir entgegenhältst, habe ich nur auf den ersten und eigentlichen Aussonderungsakt hinzuweisen, der das Judentum ins Leben rief: Die Opferung von Abraham. Ist das keine Grausamkeit? Mit den Augen der Sentimentalität gesehen, ist jeder Opferwunsch Gottes eine diabolische Grausamkeit. Daher erheben die Juden, verständlichermaßen die sentimentalste Menschengruppe, seit dem Tage, da ihnen Gerechtigkeit wurde (Emanzipation) ihr schreckliches Geschrei nach Gerechtigkeit. Aber wie im Himmel Liebe, auf Erden Leid, so ist nur in der Hölle Gerechtigkeit. Warum ruft niemand den Juden, unseren armen, armen Brüdern zu .Freut Euch und frohlocket, denn euer Lohn ist groß!?' Die Grundfrage: Ist die Thora und sind die Propheten Gottes Offenbarung oder nur ein historisches Buch? Von dieser Frage und unserer Antwort hängt alles ab ". In diesem Brief klagt Werfel über seinen Gesundheitszustand, er ist „noch immer krank, oder vielleicht für immer...". Und dann folgt ein rührender Satz: „Ich wünschte mir's sehr, aber werde es nimmer können: Mit Dir im Stadtpark debattierend auf und abgehen wie einst in unsagbarer Zeit. Prag!?...." Außerdem berichtet Werfel, er habe ein „leichtes Buch begonnen, das mein schwerstes (zum schreiben) zu werden droht und ein sehr dickes dazu. Es ist eine phantastische Geschichte in feinster Zukunft (100000 Jahre von Jetzt) zum Teil humoristisch. Malt das Bild einer astromentalen Menschheit, in die ich selbst als Toter in meinem Begräbnisfrack durch Zitation hereingerate. Am Schluß kehre ich (als Lebendiger) in die Gegenwart zurück...". Daß er als Toter die „Begierdetaufe" erhalten habe, wie Peter Stephan Jungk nach Adolf D. Klarmann für möglich hält, wurde von Martha Feuchtwanger in mehrmaligen persönlichen Gesprächen 1985 als völlig falsch bezeichnet.
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Margarita Pazi keine Dichtung sein, sondern ein dienendes Werk. Es wurde unternommen, um Gott durch sein eigenes Wort zu loben und vor der Welt den ewigen Plan darzustellen, der Israel auferlegt ist. 5 4
Nicht allein in der Wahl des biblischen Stoffes und in der fast unveränderten Wiedergabe des alttestamentarischen Textes ist die Einwirkung des aktuellen Zeitgeschehens zu sehen, sondern noch mehr in der wohl autobiographisch motivierten Einschaltung des Entfremdeten und seines dreizehnjährigen Sohnes in die .zeitlose' Gemeinde. Die verfolgte Gemeinde, die vor ihren Verfolgern Schutz im Bethaus sucht, nimmt nur unwillig den Entfremdeten auf, der, solange er zufrieden „im Volke draußen" leben durfte, nicht gemahnt sein [wollte] [ . . . ] an das Vergangen-Dunkle [ . . . ] Ich wäre nicht zurückgekehrt, wenn das Volk draußen mich nicht an meinem Gesicht erkannt hätte [ . . . ]
Er wird nun von seinem Sohn mit Fragen bestürmt: Warum werden wir verfolgt? [ . . . ] Warum hast Du nie gesprochen? [ . . . ] Warum habe ich nichts gewußt? [ . . . ]
Die eigentliche Handlung beginnt mit der Rezitation des Rabbis aus der Thora, er fängt mit der Berufung Abrams (Mose 1, 12) an. Die vier Bilder des Stückes folgen dem biblischen Geschehen und werden jeweils von den kurzen Bemerkungen des Dreizehnjährigen, der sich zunehmend mit dem biblischen Geschehen identifiziert, in eine Perspektive gesetzt, die sich der Tragik des Geschehens bewußt, aber trotzdem hoffnungsbereit ist. Der Befehl zur Vertreibung am Ende des vierten Teils findet den Entfremdeten bereit, „die Last Gottes wieder auf[zu]nehmen [...] Denn mein Sohn führt mich zu meinen Vätern zurück"; die Gemeinde ihrerseits ist gefaßt und bereit „für den Weg", mit dem Dreizehnjährigen freudig dem Messias entgegenzugehen. Es ist aber nicht mehr der ,messianische Expressionismus4, mit dem hier dem tragischen Geschehen gewehrt wird, sondern eine auf Tradition und Leiderfahrung basierende Schicksalsbereitschaft, der nichts Defaitistisches anhaftet. Hier mag auch der Ansatz zu der komplizierten gedanklichen Konstruktion liegen, die Werfeis amerika54
Das Werk erschien im Januar 1935 im Paul Szolnay Verlag Wien und wurde nach verzögerten und sehr langen Proben erst am 7.1.1937 unter Max Reinhardts Regie und mit der Musik Kurt Weill s im Operahouse New York unter dem Titel The eternal road uraufgeführt. Die Anregung zu dem Stück wurde Reinhardt 1933 von Meyer W. Weisgal vermittelt, der Werfel als Autor und Weill für den musikalischen Rahmen vorschlug. Wegen der sehr hohen Betriebskosten mußte das Stück im Mai 1937 vom Spielplan abgesetzt werden. Werfel war mit Alma im Herbst 1935 nach Amerika zu den Proben gekommen und fuhr nach einem halben Jahr nach Wien zurück. Vgl. Franz Werfel: Die Dramen. Zweiter Band. Frankfurt a.M.: Fischer 1959. S. 91-177 und S. 509-512.
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nische Reden und Essays bezüglich des Problems des Antisemitismus kennzeichnet: in ihnen wird der Jahrhunderte währende Überlebenskampf der Juden als metaphysische Aufgabe zur Rettung der Welt erfaßt. Das Werk von 1934 hebt sich in der unmißverständlichen .Rückkehr' und Identifikation der beiden .Entfremdeten' mit der Gemeinde von der sonstigen Unscharfe des Werfeischen ontologischen Standpunkts mit seiner hochgeschraubten Gleichstellung von Christentum und Judentum ab, die Angriffe von christlicher wie von jüdischer Seite herausforderte. 55 Eine bedeutsame, von der Forschung bisher übersehene Einschaltung eines spezifisch jüdischen Details findet sich im zehnten Absatz der Wahren Geschichte vom wiederhergestellten Kreuz des unvollendeten CellaRomans (1942). 56 Der Kaplan, der „mit den neun [jüdischen] Männern als der zehnte" entkommt und „seitdem [...] mit den Kindern Israels von Land zu Land" wandert, steht für die Eingliederung in die jüdische Religionsgemeinschaft, insofern er zum Mitglied des ,Minjan' wird, also des Kreises von mindestens zehn männlichen Betern, ohne die kein Gottesdienst möglich ist. Die Entscheidung des Kaplans, der nun als Flüchtling in Amerika lebt und „weder Koller noch schwarzen Rock" trägt, ist als Eintritt in die Schicksalsgemeinschaft des Judentums zu verstehen und nicht als Überbrückungs- oder Versöhnungsversuch der beiden Religionen. Egon Erwin Kisch wurde am 11. März 1933 auf Intervention der CSRRegierung aus der Haft der Gestapo entlassen - er war am 30. Januar gegen den Rat von Freunden aus Moskau nach Berlin zurückgekehrt - und blieb bis Juni in Prag. Vielleicht läßt sich in dem Satz seines Abschiedsartikels vom 8. Juni 1933 in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung „Die Zeiger der jüdischen Rathausuhr gehen den Weg zurück" eine wehmütige, aber zugleich auch kritische Tendenz ablesen. In diesem Artikel werden die berühmten Uhren von Prag erwähnt, die die Zeit nicht anzeigen. Angeregt von der einsetzenden Judenverfolgung, der weltweit diskutierten Judenfrage (die sich weltweit nicht lösen ließ), erinnert sich Kisch an sein Judentum.
Diese Bemerkung in einer Darstellung von 1985 ist nur zum Teil richtig, denn der so sehr seiner Mutter und seiner Familie verbundene Kisch mußte an sein Judentum nicht erst durch das Zeitgeschehen erinnert werden. 55
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Einer der schärfsten Angriffe kam von Ludwig Marcuse, der Werfeis Vorstellungen als Gedanken „in theologischen Schleiern" ironisierte (Aufbau XI, Nr. 10, 9. März 1945). Wahrscheinlich der Wahrheit näher kam Klaus Mann in Der Wendepunkt (1949), wenn er Werfeis „zwischen Judentum und Katholizismus sonderbar schwankende^], experimentierende [s] Glaubenspathos" als legitim, als „ebenso spontan and authentisch wie die tiefe, überschwengliche Musikalität" rechtfertigt (Taschenbuchausgabe Reinbek: Rowohlt 1985, S. 323). In Franz Werfel: Das Reich der Mitte. Graz und Wien 1961. S. 24.
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Richtig ist, daß die Geschichten aus den sieben Ghettos (1934 in Amsterdam veröffentlicht) zum Teil von den Ereignissen in Deutschland angeregt wurden, ebenso wie die Romane jüdischer Thematik bei seinen Prager Freunden. Diese Geschichten gehören in der ironisch-distanzierten Art der Schilderung, in der doch das Gefühlvolle stets spürbar bleibt, zu den typischsten und besten Darstellungen jüdischer Gestalten und können ihren Platz mit Würde neben den Erzählungen der unübertroffenen ostjüdischen Autoren einnehmen. 57 Ernst Sommer hatte sich nach der Veröffentlichung von zwei Novellen seit 1922 seiner beruflichen Arbeit als Anwalt und auch der parteipolitischen Tätigkeit in der deutschen Sozialdemokratischen Partei gewidmet. Erst 1935 erscheint der erste seiner historischen Romane Die Templer, in dem sich der Jurist Sommer in den Prozeß der Ordensherren vertieft. 1937, mit dem Roman Die Botschaft aus Granada, nimmt Sommer ein Thema gegenwartsbezogener jüdischer Tendenz auf. Die Bedeutung des Romans liegt vor allem in der Gegenüberstellung von konträren Auffassungen des Judeseins, die der Autor in den drei Protagonisten verkörpert. In der implizierten Frage nach der Kraft ethnischer Bindung und ihres Bedeutungsgehaltes für den Betroffenen verbirgt sich die erkenntnisträchtige Konfrontation mit dem empirischen Ich des Autors. In den dialogischen Argumenten für und gegen das Verharren im Judentum scheint Autobiographisches durch; die historisch nicht belegte Gestalt des Enkels eines Marannen und Günstling von Torquemada schließt sich im letzten Augenblick den in die Verbannung gehenden Juden an: er ritt seine Straße, als hätte er sich sein ganzes bisheriges Leben auf diesen plötzlichen Ritt vorbereitet.58 Im Mai-Juni 1943 schrieb Sommer in London Die Revolte der Heiligen. Die Schilderung eines Konzentrationslagers „wirkte alarmierend und aktivierend auf die antifaschistische Weltbewegung, es wurde zu einem berühmten Buch des Kampfes gegen den Faschismus." 59 Die späteren Tatsa57
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Die Erzählung Die Messe des Jack Oplatka ist ein besonders gelungenes Beispiel der für Kisch typischen Verflechtung mehrerer Motive zu einem gelungenen Ganzen: der implizierte Bezug auf einen Talmudtraktat stellt die Verbindung mit dem ostjüdischen Usus der Anekdotenstruktur her und zeigt auch die nachwirkenden Einflüsse dieses Judentums auf die .assimilierten' westlichen Glaubensgenossen. Emst Sommer: Botschaft aus Granada. Mähr. Ostrau: J. Kittl 1937. Weitere Ausgaben: Jüdische Buchvereinigung, Berlin 1938; Greifenverlag, Rudolstadt 1953. Hier S. 305. Eine Bestätigung für die von Jürgen Serke (Böhmische Dörfer. Wien: Zsolnay 1987. S. 211) gebrachte Angabe, Sommer habe sich mit seiner Familie noch in Prag vor der Flucht nach England taufen lassen, war nicht zu erlangen. So die Angabe auf dem Schutzumschlag der Ausgabe des Jahres 1970 (Greifenverlag, Rudolstadt). Das Buch erschien außerdem 1944 bei El libro libre Mexico, 1946 im Berliner Dietz Verlag und 1948 im Wiener Globus Verlag.
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Kreis'
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chenberichte und Dokumentationen über die Konzentrationslager überflügelten die dichterische Vorstellungskraft des Autors, und die gefühlsmäßige Nähe zu dem geschilderten Geschehen einerseits und politisch-ideologische Wunschvorstellungen andererseits verstellten sein Blickfeld bei diesem tapferen Versuch, das Gewissen der Welt aufzurütteln. 1932 hatte Oskar Baum mit dem Roman Zwei Deutsche den Epilog einer Weltschau geschrieben, die aus seiner gedanklichen und sprachlichen Verankerung im deutschen Geisteswesen erwachsen war. Die Bewußtseinsspaltung, die Baum als Ursache der Entscheidung für die Nazidoktrin voraussetzt, wird in zwei Gestalten veranschaulicht, die jeweils die neue Staatsideologie und den Marxismus verkörpern. Die unausreichend fundierten Streitgespräche der beiden Protagonisten versucht der Autor durch das im ,Prager Kreis' häufige Motiv der Notwendigkeit der Sünde zu überspielen und entfernt sich damit vollends von einer sachlichen Darstellung des Geschehens. Fünf Jahre später gelingt es Baum im Roman Das Volk des harten Schlafes (1937), der in der Intention an Werfeis Versuch von 1934 erinnert, die kollektive Exilsituation des jüdischen Volkes heraufzubeschwören und in dem Protagonisten Bulan das Postulat des in die Tat umgesetzten Willens hervorzuheben. In Bulan werden zwei historische Personen vereint: der zum Judentum übergetretene Chagan Bulan und der einige Jahrzehnte später regierende Chasarenkönig Obadja, unter dessen Herrschaft der ins Wanken geratene jüdische Glaube wieder gefestigt wurde.60 In der dem Roman vorangestellten Bibelstelle „Denn der Herr hat euch einen Geist des harten Schlafs eingeschenkt und eure Augen zugetan" (Jesaja 29,10) liegt der gegenwartsbezogene Bedeutungshinweis des mehr als ein Jahrtausend zurückliegenden Romanstoffes. Wie Brod in der Gestalt seines Reubeni verkörpert Baum in Bulan den Kämpfer für die Befreiung seines Volkes, der sich über die in der Tradition erstarrten Regeln hinwegsetzt. Dem Romankapitel, in dem Bulan seine Entscheidung trifft, stellt Baum die vielsagenden Zeilen voran: Alle Völker haben einen harten Schlaf. Aber die Juden haben die lautesten, die besessensten Erwecker, nicht nur unter ihren Propheten, auch unter ihren Feinden.
Der Ruf der ,Erwecker' richtet sich in Baums Roman auch an diejenigen, die, geblendet von der Macht und dem Geist ihres Gastvolks, ihren Glauben verlassen und ihre Herkunft verbergen. Am Ende des Buches veranschaulicht Baum in dem Zusatzkapitel „Ihre Nachkommen", das in einem kleinrussischen Städtchen zu Beginn unseres Jahrhunderts spielt, die noch immer bestehende Divergenz der jüdischen Geisteshaltung zwischen .Traditionalisten' und ,Revolutionären': dank der Beziehungen des Revolutio60
Zu den Chasaren vgl. die Artikel im Jüdischen Lexikon Bd. I (Berlin 1927) Sp. 13461350 und in der Encyclopaedia Judaica Bd. 10 (Jerusalem 1971) Sp. 944-953.
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närs Berl zum lokalen Militär gelingt es, ein Pogrom zu verhindern. Die wirkliche Befreiung kann aber erst von der zionistischen Zukunft erhofft werden; das wird vom Autor im letzten Satz des Buches zum Ausdruck gebracht, wenn von „ureigener Wurzelkraft" die Rede ist, die auf eigenem Boden wirksam werden wird. Erst in seinem letzten Roman Ich - der Augenzeuge61 verarbeitet Ernst Weiß die ethnische Problematik einer Liebesbeziehung und Ehe zwischen dem christlichen Protagonisten und einer jüdischen Frau; die Kinder aus dieser Verbindung haben unter dem Einfluß des Umweltgeschehens ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Mutter. Der Versuch des Autors, einen psychologischen Hitlerroman zu schreiben, nötigt ihn zu einer überanstrengten Distanzierung von der Erzählerfigur des Augenzeugen, dem katholischen deutschen Arzt; dadurch erscheinen manchmal die logischen Zusammenhänge zwischen Motivation und Reaktion in Frage gestellt. In dem zusammenfassenden Schlußessay des Buches Juden in der deutschen Literatur (1922) hat Alfred Wolfenstein die These aufgestellt, in der Gegenwart trage keiner die „ Z e i c h e n des Übergangs so sichtbar wie der Jude". 62 In Prag wurde der Übergang früher und schärfer sichtbar als in den deutschsprachigen Nachbarländern, und der besondere Charakter der Stadt Prag hatte diesen Autoren auch die Notwendigkeit und künstlerische Fruchtbarkeit der ,Kulturkreuzung' verdeutlicht. Jizchak Leib Perez, 63 der diese Kulturkreuzung als die einzige Möglichkeit menschlicher Entwicklung verstand, war der Ansicht, „Nehmen und dabei nicht verlorengehen" sei hierfür das Entscheidende. Die in den Werken der Prager Autoren verfolgbaren literarischen Einflüsse, die Themenwahl und Motivgestaltung kommen häufig aus dem ,Nehmen', die ethisch-philosophische Beleuchtung der Motive, der auf die Darstellungsintention konzentrierte Blickpunkt aber kommen aus der jüdischen Geisteshaltung und Denkform. Diese Beurteilungsperspektive muß auch bei einem Fazit der Aspekte des Judentums im Auge behalten werden, und eine viel tiefer schürfende und weitergespannte Untersuchung als die vorliegende könnte zweifellos an einer ganzen Anzahl weiterer Werke der Autoren des ,Prager Kreises' jüdische Einwirkungen in Thematik und Motivik nachweisen. 61
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Weiß sandte das Romanmanuskript unter dem Pseudonym Gottfried von Kaiser im September 1938 an die „ A m e r i c a n Guild for German Cultural Freedom", die ein Preisausschreiben für den besten deutschen Exilroman vorbereitete. Weiß erhielt den Preis nicht; das Manuskript wurde Anfang der fünfziger Jahre in die Bundesrepublik Deutschland gebracht und konnte durch eine Verkettung von Komplikationen erst 1963 veröffentlicht werden (Kreisselmeier Verlag, Icking). Alfred Wolfenstein: Das neue Dichtertum des Juden. In: Juden in der deutschen Literatur (Anm. 40) S. 333-359, hier S. 333. Jizchak Leib Perez (1851 Zamosc - 1915 Warschau) war ein Aufklärer und Milieuschilderer, der in jiddischer und hebräischer Sprache Erzählungen, Legenden, Märchen und Essays schrieb. Er wird der Richtung des Neochassidismus zugeordnet.
Roberta Malagoli (Bonn)
Margarete Susman und der deutsch-jüdische Dialog1
1.
In einem Essay über Walter Benjamin hat Hannah Arendt bemerkt, daß das Judentum und die deutsch-jüdische Identität für viele deutsche Juden erst dann zum Problem wurden, als sie sich dadurch in ein gesellschaftliches Phänomen verwandelten, daß der Antisemitismus und der Zionismus aus wohl unterschiedlicher Perspektive die Assimilation in Frage stellten.2 Hier wird skizzenhaft versucht, im Sinne Hannah Arendts einige Aufsätze der Dichterin und Schriftstellerin Margarete Susman bis Mitte der dreißiger Jahre vorzustellen, aus denen ihre Konzeption deutsch-jüdischer Kultur und ihre Reaktion auf den Antisemitismus hervorgehen. Margarete Susman wurde 1872 in Hamburg geboren und stammte aus einer wohlhabenden assimilierten Familie. Ihr Verhältnis zum Judentum war im religiösen wie nationalen Sinne nicht besonders ausgeprägt. Wie sie in ihrer Autobiographie erzählt, war sie nicht religiös erzogen worden.3 Sie fühlte sich an die deutsche Kultur unmittelbar gebunden, ein Gefühl, das sowohl die Assimilation der Familie als auch ihre Bildung erklären. Zuerst studierte sie Malerei in Düsseldorf und Paris, dann ging sie zu Anfang des Jahrhunderts nach München, wo sie sich der Kunstgeschichte wie auch der Philosophie widmete. In München wurde sie von der Freun1
2 3
Zum Teil ist dieser Vortrag dank einer Förderung des Centro Nazionale delle Ricerche und der Deutschen Forschungsgemeinschaft entstanden. Mein Dank geht auch an den Direktor des Leo Baeck Institute in New York, Dr. Robert A. Jacobs, der mir die Fotokopien von seltenen Essays Margarete Susmans zugeschickt hat. Ganz besonders möchte ich aber Dr. Ingrid Belke vom Deutschen Literaturarchiv Marbach danken. Ihrer freundschaftlichen Unterstützung und ihrem wissenschaftlichen Rat bin ich tief verpflichtet. Die Verantwortung für den vorliegenden Aufsatz liegt allein bei mir. Hannah Arendt: Walter Benjamin - Bertolt Brecht. Zwei Essays. München 1971. S. 38f. Margarete Susman: Ich habe viele Leben gelebt. Erinnerungen. Stuttgart 1964. Vor allem S. 21. Zu Leben und Werk Margarete Susmans vgl. Hermann Levin Goldschmidt: Leben und Werk Margarete Susmans. In: Für Margarete Susman. Auf gespaltenem Pfad. Hrsg. von M. Schloesser. Darmstadt 1964. S. 31-49; Ingeborg Nordmann: Nachwort zu Margarete Susman, „Das Nah- und Fernsein des Fremden". Essays und Briefe. Hrsg. von I. Nordmann. Frankfurt am Main 1992. S. 227-267.
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din Gertrud Kantorowicz in das Haus von Karl Wolfskehl eingeführt, wo sie Stefan George begegnete, der sie tief beeindruckte.4 Nach der Übersiedlung nach Berlin zu Anfang des Jahrhunderts besuchte sie die Vorlesungen Georg Simmeis, mit dem sie sich bald anfreundete. Von Simmel, der bis zu seinem Tod im Jahre 1918 ihr geistiger Mentor blieb, übernahm sie den essayistischen Stil sowie die lebensphilosophische Perspektive, die ihr Werk weitgehend charakterisiert und ihre oft rein existentielle Fragestellung bestimmt. In Frankfurt, wo sie mit längeren Unterbrechungen von 1918 bis 1929 wohnte, begegnete sie 1921 Franz Rosenzweig, der sie in den Kreis um den Rabbiner Nehemiah A. Nobel und das von ihm 1920 gegründete Freie Jüdische Lehrhaus5 einführte. Nachdem sie ins Schweizer Exil gegangen war, stand sie vor allem mit Leonhard Ragaz, dem christlichen Theologen und Vertreter des sogenannten „religiösen Sozialismus" - mit dem auch Martin Buber befreundet war - in Verbindung.
2. In ihren ersten Stellungnahmen zur deutsch-jüdischen Identität übernahm sie die kulturzionistische Perspektive von Martin Buber, mit dem sie sich im Seminar Simmeis anfreundete. Bubers Schlagwort von einer .jüdischen Renaissance" und seine Wiederentdeckung des Chassidismus, der jüdischen Mystik des 18. Jahrhunderts, erschlossen der jungen Literatin die Bedeutung jüdischer Religiosität. Das geht schon aus ihrem ersten Beitrag für die „Frankfurter Zeitung", einer Rezension aus dem Jahre 1907 unter dem Titel Judentum und Kultur, hervor. Hier lehnt sie die Identifizierung von Judentum mit Orthodoxie und Assimilation ab und plädiert, Buber folgend, für die Aufwertung der .heimlichen und kostbaren Blüten* des Ghettos, das heißt der chassidischen Tradition.6 Was ihr der Chassidismus in der Buberschen Auslegung bedeutete, ergibt sich ausführlich erst aus einem späteren Aufsatz, den sie 1928 schrieb. Sie bezeichnet ihn als „eine Mystik der Entscheidung, der unbedingten Entscheidung des Einzelnen für das Mitwirken in der Erlösung, 4
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Margarete Susman: Ich habe viele Leben gelebt (Anm. 3). S. 47-49. Der Dichtung Stefan Georges widmete Margarete Susman einen ihrer ersten Artikel in der „Frankfurter Zeitung" unter dem Titel Stefan George (in: Frankfurter Zeitung, 6.9.1910), in dem sie Georges Kraft zum Symbol bewunderte. Zu Margarete Susman und dem George-Kreis vgl. Michael Landmann: Margarete Susman. 1874-1966. In: Castrum Peregrini 31 (1982) Heft 151-152. S. 29-35. Zur Geschichte des Jüdischen Lehrhauses vgl. die Studie von Nahum Nachman Glatzer: The Frankfort Lehrhaus. In: Year Book of the Leo Baeck Institute I (1956). S. 105-122. Margarete Susman: Judentum und Kultur. In: Frankfurter Zeitung, 16.5.1907 (Rezension von Jakob Fromer: Vom Ghetto zur modernen Kultur. 2. Aufl., Berlin 1917).
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die einmündet in eine Mystik der Tat". Das erklärt sie mit einem Hinweis auf die kabbalistische Lehre des ,tikkun\ der „Hebung der heiligen Funken" der Schechina, (der verbannten Gottesherrlichkeit),7 die Israel befreien soll. Der Kern der chassidischen Mystik sei, so Susman, die Gewißheit [...] der Verantwortung aller für alle im Weltgeschehen, in jeder Tat, in jedem Wort, ja in jedem Blick und jeder Bewegung, die in die Welt wirkt. Ihren tiefsten, über den Kreis des Menschlichen noch hinausführenden Ausdruck findet diese Gewißheit in der chassidischen Erfahrung der gesamten Welt als dem Exil der Schechina, der verbannten Gottesherrlichkeit, deren Funken in allen Dingen der Welt schlummern und durch uns, durch unser Erkennen und Tat daraus erlöst werden wollen. 8
Mit diesem mystischen Verständnis der ethischen Verantwortung verband sie auch ihr Bekenntnis zum Judentum. Ihre zionistische Verpflichtung wies aber besondere Züge auf, die zum Teil über Bubers Einfluß hinausgingen. In einem Essay von 1916, der wiederum in der „Frankfurter Zeitung" unter dem Titel Wege des Zionismus erschien, setzt sie sich deutlich von den politischen Zielen der Bewegung ab und übernimmt vornehmlich Bubers geistige Leitmotive: die Erneuerung der „jüdischen Religiosität", die Rückkehr in die Gemeinschaft aus der Vereinzelung der Assimilation, die messianische Idee. Ihr persönlicher Gesichtspunkt drückte sich aber in der Vorstellung der Liebe aus, die sie als tragende Kraft der „jüdischen Renaissance" bezeichnete.9 Der Begriff der Liebe nimmt in Susmans Denken und vor allem in ihrer Deutung deutsch-jüdischer Kultur eine zentrale Rolle ein. Wie gezeigt wird, stellt Susmans Emphase der Liebe einerseits eine persönliche Deutung der ganz wichtigen Idee der Gemeinschaft in Bubers Kulturzionismus dar, andererseits aber eine schillernde, sich stets verschiebende Interpretation ihrer Beziehung zu deutscher und jüdischer Kultur. Schon 1912 verfaßte sie eine essayistische Abhandlung unter dem Titel Vom Sinn der Liebe, die die Wurzeln ihres Interesses an dem Thema bloßlegt. Von Simmel ausgehend, übernimmt sie eine in der deutschen Soziologie damals allgemein verbreitete Vorstellung, nach der der moderne Mensch wegen des Zusammenbruches der positiven Religionen und der Relativierung aller Werte in der industriellen Gesellschaft vereinsamt und
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Vgl. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1967. S. 340-341. Margarete Susman: Die Botschaft der chassidischen Mystik an unsere Zeit. In: Der Jude. Sonderheft 5 (1928). S. 140-147, hier S. 143. Margarete Susman: Wege des Zionismus. In: Frankfurter Zeitung, 17/19.6.1916, vgl. vor allem den zweiten Teil, der Buber gewidmet ist.
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orientierungslos ist. 10 Allein der Liebe traut Margarete Susman die Fähigkeit zu, dem Individuum aus seiner verzweifelten Lage herauszuhelfen. Einleuchtend ist vor allem die abschließende Bemerkung, nach der die einzige soziale Form, die der Liebe in Wahrheit entspricht, die „Gemeinde" ist: „Denn in ihr ist alles Einzelne und damit das Ganze bezogen auf ein höheres Ganzes, an dem sie lebt. So zeichnet sie allein die Form der Liebe nach." Erst die Liebe vermag, laut Susmans mystischer Deutung, den „Trieb zur Gemeinde" wiederum zu erwecken. 11 Ein Freund aus der Berliner Zeit, Gustav Landauer, bewunderte in ihrem Buch über die Liebe gerade „das Gefühl und das Wissen der Gemeinschaft". 12 Landauer selbst, der neben seinem engen Freund Martin Buber wohl der wichtigste geistige Mentor für viele deutsche Juden war und auch Susman mehrfach beeinflußte, hatte bereits zu Anfang des Jahrhunderts eine mystische und neoromantische Idee der Gemeinschaft als organische Einheit schöpferischer Individuen mit ihren Vorfahren dem Zerfall ι3
moderner Kultur entgegengestellt. Nach Bubers vielzitierter ersten Rede, Das Judentum und die Juden (1909), sollte die Erneuerung des Judentums dadurch Zustandekommen, daß man in sich selbst „die Folge der Geschlechter", „die Gemeinschaft des Blutes" als innere Wirklichkeit wiederentdeckt. Wie auch Buber deutlich betonte, war die Rückkehr zum jüdi10
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Vgl. dazu vor allem den berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1903 von Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Georg Simmel: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit M. Susman hrsg. von M. Landmann. Stuttgart 1957. S. 227-242. Margarete Susman: Vom Sinn der Liebe. Jena 1912. S. 140. Das Buch ist Gertrud Simmel zugeeignet. Brief von Gustav Landauer an Margarete Susman vom 21.9.1912. In: Gustav Landauer: Sein Lebensgang in Briefen, I. Hrsg. von M. Buber. Frankfurt am Main 1929. S. 418. Vgl. den Vortrag, den Gustav Landauer im Januar 1900 im Berliner Kreis der „Neuen Gemeinschaft" hielt: Gustav Landauer: Durch Absonderung zur Gemeinschaft. In: Das Reich der Erfüllung. Flugschriften zur Begründung einer neuen Weltanschauung. Hrsg. von Heinrich und Julius Hart. Heft 2. Leipzig 1901. S. 45-68. Hier nahm Landauer Motive vorweg, die in Bubers Reden über das Judentum eine zentrale Rolle spielen, vor allem die Idee der „Blutgemeinde": „Wir sind die Augenblicke der ewig lebendigen Ahnengemeinde" (Gustav Landauer: Durch Absonderung zur Gemeinschaft. S. 60). Hans Kohn hat als erster den Kontext der Berliner „Neuen Gemeinschaft" um die Brüder Hart und ihre Bedeutung in Bubers Werk geschildert. In diesem Kreis begegnete Buber 1899 Gustav Landauer. Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Köln 1961 (l.Aufl. 1928). S. 28-35. Die verwickelte Frage, inwiefern Nietzsches Lebensphilosophie den Buberschen Begriff von Gemeinschaft beeinflußt habe, wird hier nicht diskutiert. Zu diesem komplizierten Thema vgl. Gert Mattenklott: Nietzscheanismus und Judentum. In: Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968. Hrsg. von S. Bauschinger, S. L. Cocalis, S. Lennox. Bem, Stuttgart 1988, 161-175. Zu Bubers „jüdischer Renaissance" vgl. vor allem Gert Mattenklott: Nietzsche dans les revues culturelles juives de langue allemande, de 1900 ä 1938. In: De Sils-Maria ä Jerusalem. Nietzsche et le Judaisme. Les intellectuels juifs et Nietzsche. Sous la direction de D. Bourel et J. Le Rider. Paris 1991. S. 93-109. Hier S. 98-99.
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sehen Erbe nicht gleichbedeutend mit einer Ablehnung deutscher Kultur. Nicht das Band mit ihr wird in Frage gestellt, sondern nur die Misere der Assimilation. 14 So ist der Gemeinschaftsgedanke von Anfang an sehr ambivalent und verrät den ,deutschen4 Aspekt der „jüdischen Renaissance". Kehrt man zu Susmans Schriften zurück, war es gerade diese wesentliche Ambivalenz des Gemeinschafts- und Liebesbegriffes, die ihr Verständnis deutsch-jüdischer Identität prägte und ihm einen existentiell tragischen Zug verlieh, als dieser Identität eine gesellschaftliche Legitimation abgesprochen wurde. 1913 schreibt sie in ihrem Beitrag zum Sammelbuch Vom Judentum, wohl dem wichtigsten Manifest des Prager Kulturzionismus, daß im Judentum sowie im Christentum die Liebe von einem „dualistischen Weltgefühl" ausgehe: Sich zu schließen ist das Streben jedes Zwiespaltes, der ein lebendiger ist, und so trägt jede dualistische Welterfassung den Drang zur Versöhnung der Welthälften in sich. Je größer die Kluft wird, um so gewaltiger wächst der Drang zu ihrer Überbrückung, um so mehr muß dieser Drang ein Selbstständiges, für sich Bestehendes werden, der sich als Prinzip, als Gestalt, als Engel und schließlich als Person, die beider Welthälften Anlage in sich trägt, herausstellt. So lebt der Messiasgedanke tief in der Wurzel des Judentums, und durch das ganze alte Testament mit seiner Strenge und Härte leuchtet wie ein Funke, der die Welt ergreifen will und erst als Flamme aufschlagen wird, wenn sie ganz ergriffen ist, die Liebe hervor.15
Was 1913 von Susman philosophisch dargelegt wird, enthüllte sich bald als Metapher ihres Verhältnisses zur deutschen Kultur. Ihre Beteiligung an der kulturzionistischen Bewegung lief in der Tat nicht darauf hinaus, ihre deutsch-jüdische Identität in Frage zu stellen, sondern eher, sie aufs neue zu legitimieren. Das zeigt zum Beispiel der Essay Die Revolution und die Juden von 1919, in dem sie den Beitrag des ermordeten Freundes Gustav Landauer zur Novemberrevolution würdigt. In der Revolution hat jeder [...] das unendlich tiefe Verwachsensein, die gar nicht abzumessende Tiefe [gefühlt], in der er mit Deutschland verbunden war, und es waren die Kräfte, die aus der deutschen, aus der wahren deutschen Kultur stammten, von den dunkleren und geheimnisvollen des Judentums in ihr gar nicht unmittelbar zu 14
15
Martin Buber: Das Judentum und die Juden. In: Martin Buber: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt am Main 1911. S. 12-31. Hier S. 18-21. Margarete Susman: Spinoza und das jüdische Weltgefühl. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar-Kochba in Prag. 2. Aufl. Leipzig 1913. S. 51-70; wieder in Margarete Susman: Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914-1964. Hrsg. von M. Schloesser. Darmstadt, Zürich 1969 (1. Aufl. 1965). S. 85-104. Hier S. 101-102. Von 1909 an hatte Buber im Prager Verein Bar-Kochba, zu dem unter anderen Kafkas Freund Max Brod gehörte, seine Reden über das Judentum gehalten. In seinem Vorwort zum Sammelband Vom Judentum maß ihnen Hans Kohn große Bedeutung als Vorbild bei (Vom Judentum. S. XIII).
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trennen. Jetzt, wo es galt, dem deutschen Menschentum wieder ans Licht zu helfen, gab es unter den wahren Juden auch die wahrsten Deutschen, Männer wie Eisner, wie Landauer werden für alle Zeiten ein flammendes Zeichen für diese aus Liebe zu den Menschen geborene unmittelbare Einheit zwischen Deutschtum und Judentum sein.16 Hier knüpft Margarete Susman an die jüdisch-liberale Vorstellung an, nach der die Juden eine geistige Mission innerhalb der deutschen Kultur zu erfüllen hätten. Der Akzent jedoch liegt bei ihr nicht auf dem Assimilationsgedanken, wie es im liberalen Judentum der Fall war, sondern auf einer mystisch gefärbten Interpretation der jüdischen Aufgabe innerhalb der deutschen Kultur. Man liest weiter: In dieser Zeit des furchtbarsten Niederbruchs aller Kultur erscheinen mir die Juden immer als die lebendigen warmen Tränen, die überall durch die Trümmerhaufen hindurchrinnen, alles Alte, Starre, Erstorbene auftauend, und mit der dunklen Inbrunst des Leidens und des Erlösungswillens zerbrechend. Und dies ist ihre messianische Mission: hinzuleben, hinzuleiden und hinzulieben auf das Kommen des Messias, indem sie alles, was geschieht, mit der ganzen Kraft des Wollens an seiner Idee als an der vollkommeneren Erfüllung des göttlichen Gesetzes selbst orientieren, indem sie alles Verfallene, Schlechte wieder und wieder mit dem Einsatz ihres persönlichen Wesens zerbrechen und für ein besseres, reineres Leben Raum schaffen.17 Noch 1925 hielt Margarete Susman an ihrem positiven Liebesbegriff fest. Ein Beitrag zu einem Sonderheft der Zeitschrift „Der Jude", das dem Thema „Antisemitismus und Volkstum" gewidmet war, trug den bedeutungsträchtigen Titel Die Brücke. Dieser Artikel zeigt, daß Susman die Beziehung zwischen Judentum und Deutschtum vornehmlich in einem religiösen Sinne verstand. In einem jüdisch-christlichen Dialog, der auf einem vergleichbaren Liebesbegriff aufbauen kann, erkannte sie die einzige Lösung des antisemitischen Problems. Aus der Weltstunde ergeht an den Juden [...] die Forderung der Wiedererarbeitung des eigenen Bildes und Wesens, an den Deutschen die, aus dem ihm natürlich gegebenen, rein nationalen Bild seines Wesens herauszutreten ins Eine und Ewig-Menschliche. [Absatz] Und nun wird auch die Brücke sichtbar, die vom Juden zum Deutschen, vom Deutschen zum Juden führt. Diese Brücke ist für den Juden das ihm ursprünglich Gewordene: das Judentum - für den Deutschen das kraft einer Umkehr ins letzte Übernationale Erworbene: das Christentum.18 Mehrere autobiographische Zeugnisse liefern zahlreiche Hinweise für die Ambivalenz, die für Margarete Susmans Verhältnis zum Christentum von 16
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Margarete Susman: Die Revolution und die Juden. In: Das Forum, 3. Jg., II. Bd. (September 1919) [Nachdruck: Nendeln/Liechtenstein 1977]. S. 921-948. Hier S. 930. Margarete Susman: Die Revolution und die Juden (Anm. 16). S. 947. Margarete Susman: Die Brücke. In: Der Jude. Sonderheft I (1925). S. 76-84. Hier S. 83.
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Anfang an charakteristisch ist. Dies erklärt sich vor allem durch das assimilierte familiäre Milieu. Nach ihrer eigenen Aussage war sie in ihren Jugendjahren mit christlichem Gedankengut vertrauter als mit jüdischem. Vor allem die Faszination des christlichen Erlösungsgedankens durchzieht leitmotivisch ihre Schriften und Briefe. Als sie jedoch 1906 den Christen Eduard von Bendemann heiratete, lehnte sie die Taufe ab. 19 Zu dieser Konstellation gehört wesentlich das Gefühl, daß es unmöglich sei, aus der Assimilation heraus zur lebendigen jüdischen Tradition zurückzufinden. Damit verknüpfte sie eine negativ-mystische Auffassung ihrer jüdischen Religiosität, die sich vornehmlich in der unsystematischen Übernahme kabbalistischer Motive ausdrückte.
3.
Spätestens von 1926 an, das heißt ein Jahr nach der Veröffentlichung des Essays Die Brücke, trat die negativ-mystische Vorstellung jüdischer Existenz in Susmans Schriften deutlicher hervor. Unter dem Eindruck der Bibelübersetzung Bubers und Rosenzweigs - deren erster Band soeben (1925) erschienen war - untersuchte sie zum Beispiel in ihrem Essay Was kann uns die Bibel heute noch bedeuten? die Beziehung der Gegenwart zum biblischen Wort und erklärte zum erstenmal die Lage des postassimilatorischen Judentums durch die Gestalt Hiobs. Darauf folgt eine Reihe von Essays - 1929 Das Hiob-Problem bei Franz Kafka, 1933 Hiob, 1935 Stifters Abdias und 1936 Hiob und unsere Zeit - , die als Vorläufer zum 1946 veröffentlichten Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes gelten. 20 Die Einführung des Hiob-Motivs ist ein Zeichen dafür, daß Margarete Susman angesichts des zugespitzten Antisemitismus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ihre Idee der Liebe und der Gemeinschaft nicht mehr genügte. Spätestens seit der sogenannten „Kunstwart-Debatte" zwischen 1911 und 1913 wurde die Beziehung der Juden zur deutschen Kul19
20
Margarete Susman: Ich habe viele Leben gelebt (Anm. 3). S. 70-71. Weitaus zwiespältiger blieb vor allem ihr Verhältnis zum christlichen Erlösungsgedanken, wie ihr Werk Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes [Zürich 1946] zeigt. Aber davon soll hier nicht die Rede sein. Vgl. Erich Lueth: Das Buch Hiob und die Deutschen. In: Für Margarete Susman (Anm. 3). S. 63-67. Margarete Susman: Was kann uns die Bibel noch bedeuten? In: Der Morgen, II. Jg., H. 3 (August 1926). S. 299-310. Hier S. 300-301; Das Hiob-Problem bei Franz Kafka. In: Der Morgen, V. Jg., Η. 1 (April 1929). S. 3 1 4 9 ; Hiob. In: Die Logenschwester. Mitteilungsblatt des Schwestemverbandes der U.O.B.B. Logen, Jg. 6, Nr. 5 (15.5.1933). S. 14; Stifters Abdias. In: Der Morgen, X. Jg., Η. 1 (April 1934). S. 27-37. Als Nachwort und mit leichten Veränderungen wieder in: Adalbert Stifter: Abdias. Berlin 1935 (Bücherei des Schocken Verlages 31). S. 108-113; Hiob und unsere Zeit. In: Neue Wege. Blätter für den Kampf der Zeit, Jahrgang 29 (1936) H. 7/8. S. 336-350; Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. Zürich 1946.
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tur - aus zionistischer Perspektive - als „unglückliche Liebe" bezeichnet. Wenn Margarete Susman in ihrem positiven Liebesbegriff noch Hoffnung auf das Weiterbestehen deutsch-jüdischer Kultur ausdrückte, so zeigt nun das Hiob-Motiv, daß sie die Verschärfung des Antisemitismus nicht mehr nachvollziehen konnte. Nicht zufällig hat Gershom Scholem in bezug auf Susman die Existenz eines deutsch-jüdischen Dialoges „als historisches Phänomen" bestritten. Als Zionist sieht er darin nur eine Illusion, ein Selbstgespräch, einen ,Schrei ins Leere'. 22 Auch wenn man Scholems zionistische Perspektive nicht teilt, verweist seine Bemerkung auf einen rein existentiellen Aspekt, der in Susmans Reaktion auf den Antisemitismus entscheidend ist. Die absurde Erfahrung der Krise der deutsch-jüdischen Kultur liegt dem Essay über Franz Kafka zugrunde. Ausgangspunkt dieses Aufsatzes ist die traditionelle jüdische Vorstellung des Haders mit Gott um seiner Gerechtigkeit willen. Das Buch Hiob stellt einen Grenzfall dar. Verzweifelnd und anklagend wagt Hiob, seine Stimme in seiner Einsamkeit gegen Gott zu erheben. Aus einem individuellen Leid redet Hiob zu seinem Gott, ohne ihn erreichen zu können. Trotz allem hält Hiob an dem Gefühl fest, schuldlos zu sein. Nur in ihrer Unbedingtheit trifft die Gerechtigkeit Gottes die menschliche Schuld, so daß die „Vergeblichkeit persönlicher Unschuld" vor Gottes Gericht hervortritt. Den schuldlosen Hiob schlägt Gottes Gerechtigkeit als ,reines Entsetzen' und .reiner Zorn'. U n d doch fühlt er sich von dieser Gewalt seines Zornes ganz und gar vor Gottes Gericht hingerissen; weit unmittelbarer, wirklicher als der persönlich G e strafte erfährt er gerade an der Unverständlichkeit, der Ungerechtigkeit des göttlichen Gerichtes, daß es das Gericht Gottes ist. 2 3
In seiner Gegenfrage an Hiob nimmt die Antwort Gottes Form an. Danach erblickt Hiob in Gott den Schöpfer und maßt sich nicht mehr an, die Schöpfung verstehen zu wollen. Der Vergleich zwischen Hiobs Schicksal und dem „Leidschicksal" des exilierten Judentums ist für Susman insofern fruchtbar, als er der tragischen Lage des genauso wie Hiob schuldlos leidenden deutschen Juden einen Sinn gibt. Die unaufhaltbare Entwicklung des Antisemitismus zwingt somit den deutschen Juden wieder zur Theodizee, also zu immer erneuten Versuchen, Gott zu rechtfertigen und 21
22
23
Dieses Bild geht auf die Stellungnahme des Zionisten Moritz Goldstein zurück. Vgl. Moritz Goldstein: Deutsch-jüdischer Pamaß. In: Der Kunstwart, Jahrgang 25, Heft 11 (März 1912). S. 281-294. Hier S. 292. Zur berühmten „Kunstwart-Debatte" vgl. Moritz Goldstein: German Jewry's Dilemma. The Story of a Provocative Essay. In: The Year Book of the Leo Baeck Institute II (1957). S. 236-254. Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. In: Gershom Scholem: Judaica 2. Frankfurt am Main 1982 (1. Aufl. 1970). S. 7-11. Hier S. 7-8. Zuerst in: Für Margarete Susman (Anm. 3). S. 229-232. Margarete Susman: Das Hiob-Problem bei Franz Kafka (Anm. 20). S. 34.
Margarete Susman und der deutsch-jüdische
Dialog
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die Beziehung von Schuld und Leid zu erklären. Über die Ähnlichkeiten hinaus betont Margarete Susman jedoch auch einen wesentlichen Unterschied zwischen dem biblischen Hiob und seinem modernen Nachfolger. In der abendländischen Welt sei Gott „der verborgene, der gar nicht mehr aufzufindende Gott" geworden, so daß der jüdische Mensch in eine „letzte und sein Schicksal erst vollendende Einsamkeit" verfallen sei. In einem Zustand absoluter Verlassenheit und hoffnungsloser Heimatlosigkeit setzt der deutsche Jude immerhin den Streit mit Gott fort - in einer Form aber, „[...] in der Gott ganz verstummt, der Mensch allein redet - in der er aber, auch wenn er Gottes Namen verschweigt, immer nur mit Gott reΛ
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det." Auf der Basis einer tiefen existentiellen Identifizierung mit Kafkas Werk interpretiert Margarete Susman den Prozeß als vollkommenste Darstellung dieser negativen Mystik. Kafka, schreibt sie, ist persönlich „[...] geschlagen mit dem ganzen Leid seiner Zeit. Sein Ich selbst hat die nackte Wahrheit dieser Weltstunde, ihren ganzen Abgrund ausgemessen. Alles Leid ist hier ganz persönlich erlittenes." 25 In solcher Betonung existentieller Verzweiflung manifestiert sich der wesentlichste Unterschied zu Susmans früherem Verständnis deutsch-jüdischer Identität. Während sie vorher von einer rein geistig-religiös begründeten Entscheidung für eine mystisch verstandene Gemeinschaft sprach und in ihrem Liebesbegriff den Sinn ihrer deutsch-jüdischen Identität erblickte, verwies sie nun öfter auf jüdisches Schicksal. Ein Grund für diese Akzentverschiebung ist wohl in den Auswirkungen zu finden, die der Antisemitismus und später die tragische Erfahrung des Exils auf sie hatten. Das Hiob-Motiv kommt bei Margarete Susman erst 1926 in Zusammenhang mit der Erfahrung des Antisemitismus vor. Dies geschieht relativ früh, wenn man zum Beispiel an andere Autoren denkt, wie zum Beispiel Susmans Freund Karl Wolfskehl, der sich erst im Exil mit der biblisehen Gestalt identifiziert. Auch sie jedoch behandelt das Hiob-Motiv häufiger erst nach ihrer Emigration in die Schweiz. Damit stellt sie keine 24 25 26
Margarete Susman: Das Hiob-Problem bei Franz Kafka (Anm. 20). S. 37. Margarete Susman: Das Hiob-Problem bei Franz Kafka (Anm. 20). S. 42. In Wolfskehls dichterischem Werk kommt die Gestalt Hiob zuerst in dem Gedicht Die Stimme zum Boten aus dem Zyklus Die Stimme spricht (1934) vor. In: Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke, Band 1. Dichtungen. Dramatische Dichtungen. Hrsg. von M. Ruben und C.V. Bock. Hamburg 1960. S. 151-152. Hier S. 152. Zum Hiob-Moüv bei Wolfskehl und vor allem zum 1950 posthum veröffentlichten Gedichtzyklus Hiob oder die vier Spiegel vgl. Gunter Grimm: Karl Wolfskehl. Die Hiob-Dichtung. Bonn 1972 [Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 116], Was andere literarische Hiob-Gestalten wie Franz Biberkopf oder Mendel anbelangt, kann es wohl sein, daß Margarete Susman Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) und Joseph Roths Hiob (1930) gekannt hat. Zu Joseph Roths Roman vgl. Hans Otto Horch: Zeitroman, Legende, Palimpsest. Zu Joseph Roths „Hiob"-Roman im Kontext deutsch-jüdischer Literaturgeschichte. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. Neue Folge. Bd. 39 (1989) H. 2. S. 210-226.
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Ausnahme dar in der Typologie, die Guy Stern für den Umgang deutschjüdischer Autoren mit biblischen Themen entworfen hat: Spätestens seit 1933 bietet die Bibel den deutschen Juden, vor allem den assimilierten unter ihnen, eine Orientierung zum Verständnis des eigenen Leides. 27 Die Gestalt Hiob dient Susman an erster Stelle dazu, dem ungeheuren Erlebnis der Verfolgung und des Exils einen Sinn zu geben. Als Paradebeispiel der Theodizee erklärt ihr Hiob die eigene Existenz. Bei Susman tritt allerdings die philosophisch-theologische Fragestellung vor einem rein existentiellen Ton zurück. In ihren Schriften zu Hiob aus den dreißiger Jahren ist Schicksal der Schlüsselbegriff. Die von Anfang an ausgeprägte Feinfühligkeit ihres Stils läßt das erlebte Leid unmittelbar in den Vordergrund treten. Ihre bewegte, manchmal diffuse Prosa versetzt den Leser schonungslos in die existentielle Lage der Exilierten. Ein deutliches Beispiel dafür ist ein Aufsatz zum Problem der Emanzipation (1934), in dem Margarete Susman ihre Liebesmetapher eindrucksvoll, aber diesmal im negativen Sinne verwendet: Die Juden waren Deutsche; aber sie waren es nicht nur in dem natürlichen Sinne, in dem es jeder in Deutschland geborene, in deutscher Landschaft erwachsene, an deutscher Tradition genährte Mensch, dessen erster und letzter Laut die deutsche Muttersprache ist, selbstverständlich war - sie waren es darüber hinaus noch in dem besonderen Sinne, daß Deutschland ihnen nicht nur das Eigene, sondern auch zugleich das Gegenüber, nicht nur das Ich, sondern auch das Du, war, daß sie - und nur sie - zu ihm in der besonderen Beziehung standen, die man nur als Identität mit dem Anderen aussprechen kann. Dies aber ist die Definition der Liebe.28
In ihrem Aufsatz Hiob aus dem Jahre 1933 umschreibt sie ferner die Diskrepanz zwischen dem Exil und der Erfahrung, die ihr Vorbild Kafka gemacht hatte: [...] in eben diesem Augenblick wird auch jene späte Form des abendländischen jüdischen Daseins, aus der der große Dichter sprach, wieder zerbrochen. Was das heutige Judentum trifft, ist kein geistiges Schicksal mehr: es ist ein ganz reales, unfaßlich grausames Schicksal, das sich über einem Teil des abendländischen Judentums: dem deutschen, zusammenzieht. [Absatz] Was ist geschehen? Gewiß nicht das, was Hiob geschah: daß wir zu fest, zu selbstverständlich, zu ruhevoll in unserer Gottesgewißheit waren und darum aus ihr zu 27
Guy Stem: Job as Alter Ego: The Bible, Ancient Jewish Discourse, and Exile Literature. In: The German Quarterly 63, 2 (1990), S. 199-210. Hier vor allem S. 203-204. Zum Thema Hiob in der deutsch-jüdischen Literatur vgl. Phyllis Berg: Jüdische Themen und das Hiob-Schicksal im Werke Yvan Gölls. University of Cincinnati 1976, vor allem den Ausblick und die Bemerkungen zu Margarete Susman und zu Karl Wolfskehl, S. 199-
28
Margarete Susman: Das Problem der Emanzipation. In: Die Logenschwester, Jg. 7, Nr. 4 (April 1934). S. 1-5. Hier S. 2.
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Margarete Susman und der deutsch-jüdische Dialog
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neuer, schwerer Auseinandersetzung aufgerüttelt werden mußten. Im Gegenteil: wir waren dieser Gewißheit in doppeltem Sinne entfremdet: wir waren auf der einen Seite zu fest im Irdischen, zu geruhig im bürgerlichen Dasein geworden; wir hatten auf der anderen Seite unsere ewige und letzte Gewißheit um anderer geistiger Güter willen verloren. Von dieser äußeren Sicherheit nicht nur, sondern von diesen reichen Gütern einer Kultur, in der wir lebten und an der wir mitwirkten, mit der unser Leben so innig durchdrungen, so tief verwachsen war, daß das Gewebe gar nicht mehr zu lösen ist, werden wir heute gewaltsam wieder losgerissen. Es ist ein Riß durch das Leben jedes einzelnen jüdischen Menschen, dessen Muttersprache, dessen Landschaft, dessen Wirklichkeit und Heimat die deutsche ist: ein Riß von so mörderischer Gewalt, daß mehr als einer unter den deutschen Juden ihn heute schon mit seinem Tod beantwortet hat. 2 9 D a s E x i l w i r d w i e d e r u m auf H i o b b e z o g e n und als E r w a c h e n zur j ü d i s c h e n Tradition g e d e u t e t . 3 0 In ihrem N a c h w o r t z u m Abdias,
dessen Lei-
d e n sie i m S i n n e H i o b s deutet, erklärt Margarete S u s m a n d a s j ü d i s c h e S c h i c k s a l als Z e i c h e n v o n G o t t e s Gericht, in A n s p i e l u n g a u f d i e G e g e n wart und auf d i e S c h u l d der A s s i m i l a t i o n . „ A b e r m i t e b e n d i e s e m G e r i c h t f ü h l e n w i r in d i e s e m A u g e n b l i c k p l ö t z l i c h u n s e r v e r w o r r e n e s L e b e n sichtO 1
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G e s e t z und O r d n u n g w i e d e r a u f g e n o m m e n . '
Wie
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w ä h n t , w i r d S u s m a n s V e r s t ä n d n i s d e u t s c h - j ü d i s c h e r Kultur dadurch w e s e n t l i c h verändert. W e n n s i e auch ihren D i a l o g m i t christlicher
Kultur
nachträglich fortsetzt, m i t e i n e m n o c h d e u t l i c h e r m e s s i a n i s c h e n und m y s t i s c h e n T o n , s o s c h l i e ß t s i e nun j e d e n Z w e i f e l an j ü d i s c h e r Identität e n d g ü l -
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Margarete Susman: Hiob (Anm. 20). S. 3. Wolfskehl, dem Susman nach der Münchner Zeit erst 1933 wieder begegnete, deutete auf ähnliche Weise Hiobs Leid zugleich als Symbol des „jüdischen Schicksals" und als Rückkehr zum Judentum. In seinem Briefwechsel mit ihr aus der Exilzeit drückt er seine nicht weniger existentielle Einfühlung in die Gestalt Hiobs aus. In bezug auf ihren Aufsatz über Stifters Abdias schreibt er: „Ihre Worte zum Abdias überwölben und unterbauen dieses einzig-einsame Begebnis zum raunenden Raum unsres Schicksals, des unausweichlichen Judenschicksals, das wir wieder einmal verstehen müssen, nun aber auch wirklich verstehen können." Brief Wolfskehls an Margarete Susman vom 15.6.1935. In: Karl Wolfskehl, Margarete Susman, Briefe. Eingel. und hrsg. von M. Ruben. In: Castrum Peregrini CII-CIII (1972), S. 26-72. Hier S. 31. In einem vielzitierten Brief aus Neuseeland, wo er 1938 eintraf, bezeichnete er 1939 „ [...] die Hiobs-Gestalt, das HiobsErlebnis als eigentlichste Verwirklichung jüdischen Schicksals, freilich nur in seiner Tragik, in der ungeheuren Belastung eines Geschichtsverlaufs ohne Gleichen, und durchaus nicht im >happy end< der Hiobs-Dichtung selbst." In: Karl Wolfskehl, Zehn Jahre Exil. Briefe aus Neuseeland. 1938-1948. Hrsg. und eingel. von M. Ruben. Heidelberg, Darmstadt 1959. S. 44-46. Hier S. 45. Vgl. auch den Brief Absage an die Heimat vom 13.9.1946, S. 283-286. In seinem Gedicht Die Stimme zum Boten hatte er außerdem 1934 geschrieben: „Was euch knickt und trifft, ist Mein Geheiß/Mein Ruf, dass euch abströmt Blut wie Schweiss./So will Ich euch Mir rauben!." In: Karl Wolfskehl, Gesammelte Werke, Band 1 (Anm. 26), S. 152. Margaret Susman: Nachwort zum Abdias (Anm. 20). S. 113.
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tig aus. Dagegen drückt sie ihre Beziehung zum Judentum und zur verlorenen Tradition verstärkt mit messianischen Motiven aus. Schon Kafkas Werk galt ihr als Beispiel messianischer Hoffnung. Hinter den kühnen Darstellungsweisen Kafkas stecke seine „messianische Sehnsucht", sein messianischer Traum, die Welt ,ins Reine, Wahre und Unabänderliche' zu heben. Ihren eigenen Messianismus verbindet sie mit dem Begriff der Hoffnung, den sie, die seit ihrer Jugend mit Ernst Bloch befreundet war, in einem ebenfalls 1929 veröffentlichten Aufsatz Die messianische Idee als Friedensidee behandelt. Die im jüdischen Messianismus verbreitete Hauptthese lautet, die Hoffnung auf das künftige Heil und den Frieden mit Gott komme am deutlichsten in der Verzweiflung zum Vorschein: Nur eine Welt der Verzweiflung - einer Verzweiflung, die sich selbst als Abfall inne wird, ist die messianische Friedensidee, was sie ist: absolutes Gericht zugleich und über den Abgrund herüberholende, überschwengliche Hoffnung: Hoffnung, die zugleich unbedingte göttliche Forderung an den Menschen, vor der er seiner Unzulänglichkeit und Nichtigkeit inne wird dadurch, daß sie ihm seine überschwenglichsten Möglichkeiten aufschließt.32
Ist ihr Mystizismus nur kulturgeschichtlich zu erklären? Siegfried Kracauer, lange ihr Freund, hatte darauf seine Antwort gegeben und wiederum auf den existentiellen Ursprung von Susmans mystischen Vorstellungen hingewiesen. In einem Brief aus der Zeit ihrer Freundschaft und noch im Ton seiner theologischen Denkphase nannte er sie 1921 eine Mystikerin, die weder ins orthodoxe Judentum zurückkehren noch sich zum Christentum bekehren konnte. Mystiker zu sein, fügte er am Ende mit einer Anspielung auf die postassimilatorische Zeit hinzu, sei aber ihr gemeinsames Schicksal. 33
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Margarete Susman: Die messianische Idee als Friedensidee. In: Der Morgen, V. Jg., H. 4 (Oktober 1929), S. 375-385. Siegfried Kracauer an Margarete Susman, 20.4.1921 (Deutsches Literaturarchiv, Marbach). Zu diesem wichtigen Briefwechsel (erhalten sind die Briefe von Anfang 1920 bis zum Herbst 1922) und vor allem zu Kracauers früher Hinwendung zum Marxismus vgl. Ingrid Belke: Siegfried Kracauer als Beobachter der jungen Sowjetunion. In: Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Hrsg. von M. Kessler und Th. Y. Levin. Stuttgart 1989. S. 17-38.
Manfred Voigts (Berlin)
Oskar Goldberg und Thomas Mann Die Revision eines Fehlurteils
Ernst Gottlieb und Felix Guggenheim gaben 1946 ein Buch Thomas Manns heraus: Leiden an Deutschland, Tagebuchblätter aus den Jahren 1933 und 1934. Darin heißt es: Die Juden [...] haben [...] auch an den geistigen Tendenzen, die sich in dem politischen System gewissermaßen, sehr fratzenhaft natürlich, ausdrücken, starken Anteil und sind gutenteils Wegbereiter der antiliberalen Wendung; nicht nur als Angehörige des George-Kreises, wie Wolfskehl, der, wenn man ihn ließe, sich geistig sehr wohl in das neue Deutschland einfügen könnte. Wie gern und gut überhaupt täten das die Juden, wie eifrig würden sie sich in den Dienst des Dritten Reiches stellen und wie behilflich könnten sie den Schafsköpfen sein, die sie ausschließen! - Wie sehr gehört zum Beispiel Goldberg mit seiner .Wirklichkeit der Hebräer' zur .Bewegung': antihumanistisch, antiuniversalistisch, nationalistisch, religiös-technizistisch - David und Salomo sind für ihn schon liberale Entartung.1 In Doktor Faustus hat Thomas Mann Goldberg porträtiert in der Figur des Chaim Breisacher. Von Ludwig Lewisohn darauf angesprochen, antwortete er, Breisacher sei wie Goldberg ein jüdischer Diener der faschistischen Epoche. 2 Gegenüber Jonas Lesser stellte er fest, daß er Goldbergs Buch Die Wirklichkeit der Hebräer zur Zeit seines Erscheinens als das Werk eines typischen jüdischen Faschisten empfunden habe. 3 Jonas Lesser bemängelte weiterhin die Darstellung der Juden in Doktor Faustus, woraufhin Thomas Mann schrieb: Das mit dem Antisemitismus ist natürlich heller Unsinn. Gleich zu Anfang des ,Faustus' ist ja von Zeitblooms Verhältnis zum Judentum die Rede, wobei er Typen wie Breisacher vorgreifend von seiner Sympathie ausnimmt. Breisacher ist nichts als eine Karikatur der .Konservativen Revolution', die in Goldberg einen ihrer jüdischen Vertreter hatte.4
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Thomas Mann: Leiden an Deutschland. In: Das essayistische Werk: Politische Reden und Schriften 2. Frankfurt am Main und Hamburg 1968. S. 297. S. Hans Bürgin: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Bd. III. Stuttgart 1982. S. 461. Ebd. S. 533. Dass. Bd. IV. Stuttgart 1986. S. 119.
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Daß der Vorwurf des Antisemitismus nicht ganz so aus der Luft gegriffen war, zeigt eine Tagebuchnotiz von 1934: Heine, Kerr, Harden, Kraus bis zu dem faschistischen Typ Goldberg - es ist doch ein Geblüt. Hätte Hölderlin oder Eichendorff Jude sein können? Auch Lessing nicht, trotz Mendelssohn. 5
Daß Thomas Mann in bezug auf die Juden von ,Geblüt' spricht und gleichzeitig gegenüber einem der Betroffenen den Vorwurf des Faschismus erhebt, zeugt zumindest von Unsicherheit. Die Debatten von 1966/67 über Thomas Manns Verhältnis zu den Juden können hier aber nicht aufgegriffen werden. Peter Hüchel, der Lyriker und Herausgeber von „Sinn und Form", war in den 20er Jahren ,Schabbesgoj' bei Goldberg, d.h. er half am Sabbat bei für Juden verbotenen Tätigkeiten.6 Er warf Thomas Mann vor, Goldbergs Wirklichkeit der Hebräer regelrecht ausgeschlachtet zu haben für seine Tetralogie Joseph und seine Brüder, und ihn dann schlimm verleumdet zu haben. 7 Und zu dem Faschismus-Vorwurf äußerte der Religionsphilosoph Jacob Taubes: Die Gleichung Goldberg = Nazi ist ebenso idiotisch wie Plato = Nazi, da die Leere des Nazismus einem Interpreten die Möglichkeit gibt, diese Null mit allem auf der Welt gleichzusetzen. 8
Auch wenn man den Aussagen von Hüchel und Taubes nicht unbedingt folgen will, so fällt doch auf, daß Thomas Mann den angeblichen AntiHumanisten und Faschisten Goldberg in seiner humanistischen und antifaschistischen Zeitschrift „Maß und Wert" mitarbeiten ließ, wo er fast in jedem Heft des ersten Jahrgangs einen Beitrag veröffentlichte. Dies zumindest hätte aufmerksam machen und dazu führen müssen, daß das Verdikt Thomas Manns nicht so unreflektiert in die Literatur eingehen konnte. So aber wirkte die Aussage Thomas Manns dahin, daß man sich mit diesem verdächtigen Quertreiber besser nicht befaßte und daß er in Fußnoten versteckt wurde. Thomas Manns Urteil über Goldberg war hauptverantwortlich dafür, daß Goldberg sozusagen in der Versenkung verschwand, und sein Urteil - das soll hier nachgewiesen werden - war falsch. In der gebotenen Knappheit will ich im folgenden einen Abriß des weitgehend unbekannten Verhältnisses Goldberg - Thomas Mann geben und danach Goldbergs Position gegenüber dem Faschismus darlegen; nur Vermutungen kann ich äußern über die Gründe, die Thomas Mann dazu bewegt 5 6 7 8
Thomas Mann: Tagebücher. 1944-1.4.1946. Frankfurt am Main 1986. S. 269. S. Gershom Scholem: Walter Benjamin. Frankfurt am Main 1975. S. 123. So Monica Hüchel in einem Brief an den Autor vom 2.7.1989. Manfred Voigts: Oskar Goldberg - Ein Dossier. In: Akzente Heft 2/1989. S. 191.
Oskar Goldberg und Thomas Mann
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haben, sich so und nicht anders gegenüber Goldberg zu verhalten. Dazu müßte ein Thomas Mann-Spezialist Stellung nehmen, der ich nicht bin. Meine Kenntnisse beziehe ich nicht nur aus dem schon veröffentlichten, aber nie systematisch verwerteten Material, sondern auch aus einer intensiven Durchsicht des Goldberg-Nachlasses, der wichtiges Material bis hin zu unbekannten Briefen Thomas Manns enthält. Zuvor aber ein kurzes Porträt von Oskar Goldberg. 1885 in Berlin geboren, kam er schon in dem damals als liberal geltenden Friedrichs-Gymnasium mit jenen beiden Geistesströmungen in Berührung, die das Spannungsfeld bildeten, innerhalb dessen er seine Grundüberzeugungen entwickelte. Da war auf der einen Seite das orthodoxe Judentum; schon 1903, also drei Jahre vor seinem Abitur-Examen, tagte und arbeitete der von ihm gegründete „Bibel-Club" im jüdischen Gemeindehaus in der Gipsstraße. Später studierte er hier und an der jüdischen Theologischen Hochschule, beides Institutionen, die sich den Liberalisierungstendenzen entgegenzustellen bemühten. Teilnehmer an den verschiedenen von Goldberg gegründeten Clubs waren Erich Unger, Erwin Loewenson, David Baumgardt und Simon Guttmann. Diese bildeten - und das war die zweite Geistesströmung, die Goldberg beeinflußte - den Kern des „Neuen Club", dem sich Georg Heym und Jakob van Hoddis angeschlossen hatten und der das berühmte Neopathetische Cabarett veranstaltete.9 Goldberg war es, der zuletzt den Neuen Club leitete und der die Einladung zur letzten Veranstaltung des Neopathetischen Cabaretts unterschrieb. Schon in diesen Jahren hatte er sein Hauptwerk, Die Wirklichkeit der Hebräer, ausgearbeitet, die er 1925 veröffentlichte. Goldberg studierte zuerst Medizin, dann am Rabbiner-Seminar und unternahm kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Reise nach Tibet. Im Kriege war er zuerst als Mediziner tätig, wurde dann aber wegen seiner Orientkenntnisse zur politischen Beratung herangezogen. Nach dem Kriege intensivierte er seine ethnologischen Studien, ein entsprechendes Dissertationsvorhaben aber mißlang. Der Goldberg-Kreis stand die ganzen Jahre in lockerer Verbindung. Aus ihm ging 1927 die „Philosophische Gruppe Berlin" hervor, die von Goldbergs bekanntestem und wohl begabtestem Schüler Erich Unger geleitet wurde. Die regelmäßigen Veranstaltungen, zu denen fast alle namhaften linken und jüdischen Intellektuellen kamen, wurden gelegentlich in der „Vossischen Zeitung" angekündigt oder kommentiert. 1931 ging Goldberg wahrscheinlich aus Gesundheitsgründen nach Italien/San Remo, wo er sein zweites Buch schrieb: Maimonides, Kritik der jüdischen Glaubenslehre, das pünktlich in die Jubelfeiern und Veröffentlichungen zum 800. Geburtstag von Maimonides 1935 platzte und den Jubilar als entscheidendes 9
S. Richard Sheppard (Hrsg.): Die Schriften des Neuen Club 1908-1910. Hildesheim. Bd. 1 1980. Bd. 2 1983.
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Verhängnis des Judentums beschrieb. Die Rassegesetzgebung in Italien zwang Goldberg zur Übersiedelung in die Schweiz, von wo er 1939 nach Paris wollte; aber schon in Montpellier wurde er nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges interniert und durch eine ganze Reihe von Lagern geschleust. Es gelang ihm dann, schon mit dem zweiten Schiff, das Varian Fry vom „American Rescue Committee" von Marseille 10 über Martinique nach New York schickte, in Freiheit zu kommen - zusammen übrigens mit Andre Breton und dessen Familie. In New York wendete er sich an das von Horkheimer geleitete „Institute for Social Research", um seinem in Süd-Frankreich verbliebenen Freund Adolf Caspary zu helfen. Leo Loewenthal, der damals mit dieser Sache befaßt war, bezeichnet Goldberg noch immer als „bedeutenden Menschen". 11 Goldberg wurde damals, was allgemein bei bekannten Persönlichkeiten üblich war, begrüßt und mit Empfehlungsschreiben versehen - wir werden hierauf noch näher eingehen. Goldberg legte in den USA abermals ein medizinisches Examen ab und wurde Mitglied verschiedenster medizinischer Institute und Organisationen. Eine von ihnen schickte ihn 1949 nach Genf, damit er dort die Verbindungen zur „World Health Organisation" stärken sollte. Seine Herzkrankheit verschlimmerte sich in der folgenden Zeit, und im August 1952 starb er in Nizza und wurde in der jüdischen Abteilung des Friedhofes von Monaco begraben. - Dies die wichtigsten dürren Daten zu einem außerordentlich bewegten und arbeitsreichen Leben. Die von mir zusammengestellte Bibliographie, die keineswegs vollständig ist, zählt 35 Veröffentlichungen, meist Aufsätze in Exil-Zeitschriften. Die Grundüberzeugungen Goldbergs können hier nicht einmal im Ansatz argumentativ dargelegt werden, ich kann sie in diesem Rahmen nur plakativ darstellen. Seine Vorstellungen von den mythischen Zeiten gingen dahin, daß die Schöpfung das Ergebnis eines Kompromisses zwischen vielen, mit begrenzter Macht ausgestatteten, biologischen Göttern war, die den Menschen als Konfliktfeld und Kriegsschauplatz ihrer Rivalitäten benutzten. Zu diesem Zweck bildeten sie Völker, die in Statthalterfunktion die Götterkriege vollzogen. Nur einen Gott aber gab und gibt es, der dieses Prinzip des begrenzten Lebens, das eben immer im Tode endet, durchbrechen könnte, den Elohim JHWH, von dem kein Volk abstammte, mit dem sich daher ein bisher einem anderen Gott dienendes Volk freiwillig durch einen Vertrag verbinden mußte. Dies taten allein die Hebräer, denen im Pentateuch jene Regeln und Vorschriften gegeben wurden, mit denen ihr Gott hier auf Erden realisiert werden könnte. In seinem Machtbereich realisiere sich nicht nur die menschliche Gerechtigkeit, sondern auch die göttliche, was aber die mit Wundern verbundene Durchbrechung 10 11
Vaiian Fry: Auslieferung auf Verlangen. München 1986. S. 221. In einem Brief an den Autor vom 19.3.1990.
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der natürlichen Kreisläufe voraussetze. Die Hebräer aber haben - nach Goldberg - gegenüber dieser weltgeschichtlichen Aufgabe versagt, und dadurch ist die nachmythische Zeit erst entstanden, in der die Naturgesetze bis hin zu der primitiven Mechanik die Realität beherrschten. Nur in einzelnen außerordentlich begabten Menschen, die übernatürliche Fähigkeiten hätten, und in Resten mythischer Völker, die Goldberg in Indien und Afrika suchte, seien diese wunderwirkenden Kräfte noch wirksam. Diese gelte es aufzuspüren, zu sammeln und von der Wirksamkeit der hebräischen Rituale zu überzeugen. Es gebe keinen Weg zurück, die alte mythische Zeit sei unwiederbringlich dahin, aber das große soziologische Experiment einer Volksgründung müsse gewagt werden - wenn nicht mit den Juden, dann eben mit anderen Volksresten. Vielleicht ist - was sonst hier nur behauptet werden kann - erkennbar, daß diesem zweifellos seltsamen Konzept eine scharfe Zivilisationskritik zugrunde lag, die zumindest durch konsequente Radikalität gekennzeichnet ist. Ein Studium der Schriften Goldbergs und Ungers zeigt, daß sie die Probleme der Gegenwart mit aller Konsequenz herausgearbeitet haben, um sie dann gewissermaßen von einem archimedischen Punkt aus lösen zu wollen. Dieser archimedische Punkt war für sie das psychophysische Problem. In seinem polemischen Goldberg-Brief (An einen Leser von Oskar Goldbergs Wirklichkeit der Hebräer; 1928) schrieb Gershom Scholem, daß der Goldberg-Kreis das psychophysische Problem „offenbar tiefer als andere in seiner Dringlichkeit erkannt" habe. Goldberg und Unger war klar, daß das fortwährende Zu-Spät-Kommen des Geistes hinter den materiellen Interessen nicht durch Interpretationen zu beschönigen sei: Es komme also nicht darauf an, das psychophysische Verhältnis neu zu interpretieren, man müsse es verändern. Diese Veränderung müsse zum Beginn einer neuen und höheren Stufe der Realität innerhalb der Geschichte wer19 den durch eine organisierende Explosion', die alle empirischen Gesetze durchbricht. Die angestrebte Gründung eines metaphysischen Volkes sei ein soziologisches Experiment mit nicht nur historischer, sondern kosmischer Bedeutung, weil sie den Anfang setze zur Beendigung der Kreisläufe von Leben und Tod, Welterschaffung und Weltzerstörung. Bevor wir uns nun dem Verhältnis Oskar Goldberg/Thomas Mann zuwenden, will ich eine kurze Vorbemerkung machen. Es gibt eine briefliche Bemerkung von Goldberg an Schalom Ben-Chorin, in der er der Feststellung, es lohne sich nur die Beschäftigung mit zwei jüdischen Denkern, nämlich Martin Buber und Oskar Goldberg, hinzufügt, daß dies sehr ehrenvoll sei - für Herrn Buber. Goldberg mangelte es nicht an Selbstbewußtsein, seine Beziehung zu Thomas Mann hatte für ihn keineswegs die12
Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer. Berlin 1925. S. 285.
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jenige Bedeutung, die wir ihr heute geben. Goldberg fühlte sich keineswegs unwichtiger als Thomas Mann - eher ging er davon aus, daß seine Vorarbeiten zur Gründung eines metaphysischen Volkes erheblich bedeutender seien als dessen schriftstellerische Tätigkeit. Im Frühjahr/Sommer 1927, als Thomas Mann gerade einige Monate an der Niederschrift seines Josephs-Romanes gearbeitet hatte, machte ihn (mit großer Sicherheit) Karl Wolfskehl auf einen Geheimtip aufmerksam - Oskar Goldbergs Die Wirklichkeit der Hebräer. Als sich Mann im Spätsommer in Sylt aufhielt, las er das Buch 13 in einer, wie Stephane Moses schrieb, „eifrigen, keineswegs feindlichen Lektüre"; 14 nachvollziehen läßt sie sich anhand der Unterstreichungen und Randbemerkungen. Der erste Niederschlag der Lektüre ist schon in dem im Oktober 1927 gehaltenen Vortrag Kleist's Amphitryon zu finden, wo es um das hebräische Wort ,killer geht und Mann sich Erkenntnisse Goldbergs zueigen macht. 15 Schon diese erste Adaption Goldbergscher Erkenntnisse zeigt die Arbeitsweise Thomas Manns. Dieser hatte geschrieben: Die alten Hebräer hatten ein Wort, killel, das »Fluchen', eigentlich aber ,leicht machen', .vernichten', jemandem die Existenz aberkennen, bedeutete - das Gegenteil jenes Segens der Anerkennung', welcher dem Jacob von seinem fremdartigen Gegner im Ringkampfe zuteil wurde.
Goldberg hatte indes die Polarität gerade nicht an dem Worte ,killel' festgemacht, sondern an dem Worte ,berech', das sowohl negativ als .fluchen' als auch positiv im Sinne von ,segnen' gebraucht werden kann wie vier Seiten vor den Ausführungen über ,killel' zu lesen war. Gerade nicht bei dem Wort ,killel', sondern im Zusammenhang mit dem Wort ,berech' hat er auf den von Thomas Mann herangezogenen Kampf Jacobs mit dem Engel hingewiesen, und nur dort konnte Goldberg seine Theorie der „Polarität des Verbums" demonstrieren - eine Theorie, die übrigens auf Carl Abel zurückging, dessen Buch Über den Gegensinn der Urworte 1884 veröffentlicht worden war. Schon hier hatte Thomas Mann Goldberg sehr frei für seine eigenen Zwecke benutzt. 1930 bekam Goldberg von dieser Adaption Kenntnis und fragte schriftlich an, woher ihm die Bedeutung des Wortes ,killel' bekannt sei, woraufhin Thomas Mann antwortete: Zur Sache darf ich mitteilen, dass ich das Wort killel und seine Bedeutung einzig und allein aus Ihrem Buch kenne, das mir einen ungewöhnlich starken Ein13
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Herbert Lehnert: Thomas Manns Josephstudien 1927-1939. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 10 (1966) S. 381. St6phane Mosfcs: Thomas Mann und der Mythos des Hebräertums. In: ders., Von Goethe bis Celan. Frankfurt am Main 1987. S. 117. S. Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt am Main 1960. Bd. IX. S. 218; Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer (Anm. 12), S. 97 und lOlf.
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druck gemacht hat, einen Eindruck, von dem ich unter Menschen schon vielfach gezeugt habe.
Thomas Mann übrigens hatte nicht nur Goldberg gelesen, sondern auch eine Einführung dazu, die Erich Unger 1926 veröffentlicht hat. 16 1931 erwähnte Mann dann Goldbergs Buch in einem kleinen Beitrag zu Reclams Universum über einen neuen Büchertyp, stellte es in eine Reihe mit Edgar Dacques Urwelt Sage und Menschheit und Freuds Totem und Tabu und nannte es ein „tolles Buch". 17 1933 erschien der erste Band des Josephs-Romanes, in dem - wie Herbert Lehnert schon 1966 festgestellt hat - deutliche Spuren der Goldberg-Lektüre nachzuweisen sind. 18 Vor allem die Kapitel „Urgeblök" und „Wie Abraham Gott entdeckte" gehen in ihrer Grundkonzeption auf Goldberg zurück, ebenso die Schreibung vieler Eigennamen. Im Manuskript kann nachvollzogen werden, daß Mann das Wort .Altar* durch das bei Goldberg gefundene Wort ,Schlachttisch' ersetzte. Goldberg, der eine geradezu panische Angst hatte, daß ihm sein geistiges Eigentum entwendet würde, bekam hiervon natürlich Wind. Wahrscheinlich hat Erich Unger ihn hierauf aufmerksam gemacht. Anfang 1934 wandte sich Unger an Thomas Mann und fragte, ob ihm Goldbergs Buch bekannt sei, worauf dieser antwortete: Natürlich kenne ich das Buch von Goldberg sehr wohl, und es hat seinerzeit einen starken Eindruck auf mich gemacht. Die stoffliche Anregung, die im Hinblick auf meine eigene Arbeit auf mich davon ausging, ist unbestreitbar, aber diese Wirkung war eher verwirrender als förderlicher Natur, begreiflicher Weise, denn die geistige Tendenz der .Wirklichkeit der Hebräer' ist ja der meines human gerichteten Buches stark entgegengesetzt. Ich habe mich dann auch über das zweifellos bedeutende Werk niemals öffentlich geäußert, abgesehen von einer beiläufigen Erwähnung in irgendeiner Buchbesprechung, auf deren Gegenstand und Erscheinungsort ich mich einfach nicht mehr besinnen kann.
Goldberg war über das, was er Plagiierung nannte, äußerst erbost und versuchte, hieraus eine öffentliche Affäre zu machen und Mann zu schaden. In einem von Goldberg oder Caspary stammenden Text heißt es: Dass Goldberg durch das umfangreiche Plagiat Thomas Manns selbst erheblich geschädigt ist, interessiert die Oeffentlichkeit nur insofern, als es auf den gewinnhaschenden, freibeuterischen Charakter Thomas Manns das gebührende Licht wirft. Die Nationalsozialisten sind über Thomas Mann deshalb so empört, nicht nur, weil er der hervorragendste Emigrantenschriftsteller ist, sondern weil er, der zuerst in grossen Tönen rechtsstehend war, notorisch aus 16
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18
Erich Unger: Das Problem der mythischen Realität. Berlin 1926; s. Herbert Lehnert: Thomas Manns Josephstudien (Anm. 13) S. 386f. Thomas Mann: Das essayistische Werk. Miszellen. Frankfurt am Main und Hamburg 1968. S. 174f. S. Herbert Lehnert: Thomas Manns Josephstudien (Anm. 13) S. 385ff.
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Konjunkturgründen, d.h. aus Geldgründen zu der weit besser zahlenden Judenpresse hinüberwechselte.
Noch 1936 versuchte Goldberg, sich an von anderer Seite erhobene Plagiatsvorwürfe anzuhängen - der Versuch, so in die Presse zu gelangen, scheiterte, und es ist davon auszugehen, daß Thomas Mann hiervon nie etwas erfuhr. In diesem Jahr, 1936, wurde Mann aber auf einem anderen Wege an Goldberg erinnert. Für die tschechoslovakische Zeitschrift „Jüdische Revue" hatte er die Frage Warum braucht das jüdische Volk nicht zu verzweifeln? beantwortet, und als er das November-Heft durchblätterte, stieß er auf einen Aufsatz von Adolf Caspary mit dem Titel Zum Thema „Die Idee der jüdischen Mission", in dem auf Goldbergs ein Jahr zuvor erschienenes Maimonides-Buch hingewiesen wurde. Der Vergleich zwischen Mann und Caspary ist von besonderer Bedeutung. Thomas Mann schätzte die Situation der Juden in Deutschland noch nicht als ernsthaft gefährdet ein: Und was Goethe über die Deutschen sagte: sie können nicht zugrunde gehen, denn ihre geschichtliche Aufgabe und Sendung sei noch nicht erfüllt, genau dies gilt auch für die Juden, deren Schicksal und Stellung in der Welt ja dem deutschen Lose so verwandt sind, daß schon daraus ein gut Teil des deutschen Antisemitismus sich erklärt. Ich bin überzeugt, daß jüdischer Diesseits-Energie ein bedeutender Anteil am Ausbau der neuen, im Werden begriffenen sozialen Welt vorbehalten ist. 19
Ganz anders Caspary, der die aktuelle politische Situation im Goldbergschen Sinne welthistorisch deutete: Jede Politik ist an die Wirklichkeit eines Volkes gebunden. So auch das idealpolitische Ziel der Welterlösung. So wenig, wie es aber in alten Zeiten (laut Überlieferung) gerade das jüdische Volk sein musste, so wenig ist dies heute notwendig. Haben die Juden den göttlichen Affekt, die Massnahmen der Welterlösung vorzubereiten, so können sie sich zum Bestandteil des kommenden Offenbarungsvolkes machen; wenn nicht, treten andere Völker an ihre Stelle. 20
Ein Vergleich beider Aussagen zeigt, daß zwar Thomas Mann wie Adolf Caspary bzw. Oskar Goldberg an eine Aufgabe, eine Sendung eines jeweiligen Volkes glaubten, daß Mann diese aber von Goethe her im sozialen Bereich sah, während Caspary eschatologisch dachte und dabei auf jene Aussage des Sohar zurückgriff, derzufolge die Thora erst anderen Völ19
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Thomas Mann: Das essayistische Werk. Politische Schriften und Reden 2 (Anm. 1), S. 334f. Adolf Caspary: Zum Thema ,Die Idee der jüdischen Mission'. In: Jüdische Revue (Mukacewo), Nov. 1936, S. 37.
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kern angeboten wurde, bevor die Juden sie als ihr göttliches Gesetz akzeptierten. Um so erstaunlicher ist, was 1937 geschah. Thomas Mann nämlich bat selbst - wie Briefe an Karl Wolfskehl und Ferdinand Lion ausweisen Goldberg um Mitarbeit an „Maß und Wert", der von ihm herausgegebenen Exil-Zeitschrift, in deren Vorwort zum 1. Jahrgang er schrieb, daß es ihm auch um die Wiederherstellung des pervertierten Begriffes der ,Κοηλι servativen Revolution' gehe. Goldberg wurde redaktioneller Mitarbeiter, zuständig für die Gebiete der Völkerkunde und Vergleichenden Religionswissenschaft. In den Heften 2 bis 5 erschienen dann vier umfangreiche Beiträge von Goldberg. Den ersten kommentierte Mann in seinem Tagebuch mit „unverschämt aber fesselnd". 23 Thomas Mann ging sogar noch einen Schritt weiter, denn auch Caspary sollte Mitarbeiter von „Maß und Wert" werden. Der Nachlaß Goldbergs läßt darauf schließen, daß Ferdinand Lion, der Redakteur der Zeitschrift, schon im April oder Mai 1937 an Caspary geschrieben hatte, und dieser antwortete positiv mit einer ganzen Reihe von Themenvorschlägen. Daraufhin schaltete sich Thomas Mann, wie im Tagebuch verzeichnet, 24 ein, aber nun lehnte Caspary in - wie er selbst schrieb - „schroffer Form" ab. Er könne nur dann mitarbeiten, wenn „die Herausgeber von ,Mass und Wert' ihren Mitarbeitern - »Freiheit des Wortes' gewaehren wuerden. Ihr Brief aber zeigt, dass das nicht der Fall sein kann." Auf Kompromisse wolle er auf keinen Fall eingehen: „Diese Gefahr laufe unter allen Mitarbeitern nur ich, da ich ueber politische Wissenschaft schreibe." Den Tagebüchern ist zu entnehmen, daß Lion dann noch einen Vermittlungsversuch unternommen hat, der aber fehlschlug. Wann Goldberg seine Tätigkeit bei „Maß und Wert" beendete, ist kaum mehr genau festzustellen. Zu dem bisher Bekannten kann ich allerdings einige wichtige Hinweise hinzufügen. Es wird gewöhnlich vermutet, daß Thomas Mann das Ausscheiden Goldbergs mit jenem Brief an Ferdinand Lion vom 12.7.1939 anmahnte, in dem er die Auswechselung Lions durch Golo Mann vollzog. 26 In diesem Brief forderte er, „daß man sich nicht mehr mit zweideutigen Mythologen einläßt und ihnen dann aus zarter Bosheit erlaubt, mich einem eindeutig von mir verehrten großen Mann gegenüber durch ungezogene Kritiken zu kompromittieren." Dieser 21
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23 24 25 26
Thomas Mann: Das essayistische Werk, Politische Schriften und Reden 2 (Anm. 1), S. 348-358. S. Exil-Literatur 1933-1945. Ausstellungskatalog. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1967, S. 304; Manfred Voigts: Oskar Goldberg (Anm. 8), S. 186. Thomas Mann: Tagebücher 1937-1939. Frankfurt am Main 1980. S. 103. Ebd. S. 89f. Ebd. S. 90. So z.B. Stephane Mosfcs: Thomas Mann und der Mythos des Hebräertums (Anm. 14), S. 120.
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Hinweis bezog sich aber nicht auf Goldberg, sondern auf Erich Unger, der in „Maß und Wert" eine scharfe Kritik von Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion veröffentlicht hatte; 27 Goldberg selbst hatte sich in „Maß und Wert" durchaus positiv zu Freud geäußert. Von ihm war im Mai/Juni-Heft 1938 der letzte Beitrag Die griechische Tragödie erschienen, Ungers Kritik war im Mai/Juni-Heft 1939 erschienen. Goldberg selbst schrieb in einem im Nachlaß vorhandenen Curriculum, er habe bis zum Kriegsausbruch an der Zeitschrift mitgearbeitet, und in der Tat wäre anders kaum verständlich, warum Unger im Sommer 1939 seinen einzigen Beitrag in „Maß und Wert" veröffentlichen konnte. Warum aber hat Goldberg in diesem Jahr nichts mehr veröffentlicht? Im Nachlaß befindet sich ein an Lion gerichteter handschriftlicher Brief vom 10.6.1938, in dem sich Goldberg bitter beklagte, daß Lion einen Beitrag von ihm nicht, wie vertraglich vereinbart, in das nächste Heft aufnehmen wolle; Goldberg verwies auf seine Abmachungen mit Thomas Mann, drohte rechtliche Schritte an und machte auf das öffentliche Aufsehen im Falle eines Prozesses aufmerksam. Tatsächlich erschien dann aber nichts mehr von Goldberg, es ist also davon auszugehen, daß sich Mann auf die Seite von Lion gestellt hat. In den folgenden Nummern ist aber auch von einer redaktionellen Tätigkeit Goldbergs in den Bereichen Völkerkunde und vergleichende Religionswissenschaft nichts mehr zu erkennen. Sicher aber ist, daß Golo Mann mit dem Beginn des 3. Jahrganges Nov./Dez. 1939 die Redaktion übernahm, der, wie Lion erinnert, schon immer gegen Goldberg opponiert hatte. 28 Goldbergs Aussage, bis zum Zweiten Weltkrieg an der Zeitschrift mitgearbeitet zu haben, kann also durchaus richtig sein. Im Sommer 1940 begann Thomas Mann mit der Niederschrift des ersten Kapitels von Joseph, der Ernährer,29 über das er in einem Brief schrieb: „Ein theologisches Kapitel macht den Anfang." Dieses „Vorspiel in oberen Rängen" zeugt von einer erneuten intensiven Beschäftigung mit Goldberg und ist ohne Kenntnis der Wirklichkeit der Hebräer kaum zu verstehen. Was Semael, der Gegenspieler Gottes, hier vorträgt oder denkt, ist bis in die Wortwahl hinein Goldbergs Position, die Thomas Mann allerdings verkürzt und ironisiert hat. Hier ist zwar eine Distanzierung von Goldberg erkennbar, keineswegs aber ist nachvollziehbar, daß es sich um Aussagen handeln könnte, die dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet hätten. 27
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Erich Unger: Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion [Rez.]. In: Maß und Wert II H. 5 vom Mai/Juni 1939, S. 706-711. Ferdinand Lion: Maß und Wert. In: Akzente 1963, Η. 1, S. 39. Thomas Mann: Das essayistische Werk. Autobiographisches. Frankfurt am Main und Hamburg 1968, S. 366.
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Thomas Mann beschreibt in diesem Kapitel einen Vorschlag, der von dem großen Engel und Widersacher Semael gegenüber Gott gemacht worden sei: Was der große Semael, eine Hand am Kinn, die andere perorierend gegen den Thron ausgestreckt, in Vorschlag brachte, war die Verleiblichung des Höchsten in einem noch nicht vorhandenen, aber heranzubildenden Wahlvolk nach dem Muster der anderen magisch-mächtigen und fleischlich-lebensvollen Volks- und Stammesgottheiten dieser Erde.
Dies gibt Goldberg wieder - und gibt ihn nicht wieder, denn für ihn war das Zustandekommen eines Volkes mit seinem metaphysischen Charakter untrennbar verbunden. Wenn Thomas Mann schrieb, es gehe Semael um die „biologische Lebendigkeit als Stammesleib", um ein „Experiment biologischen Genußlebens" - dann sind damit die Völker als biologische Zentren beschrieben, aber eben nicht das Wahl-Volk des biologieerzeugenden Gottes JHWH. Thomas Mann vermischt - auch durch den Begriff des Experimentes was bei Goldberg klar und bedeutsam getrennt ist. Am 19.5.1941 kam Goldberg in New York an, vom 11.9.1941 ist ein Empfehlungsschreiben von Thomas Mann datiert. Er schrieb dort von dem starken Eindruck im „pre-Hitler Germany", den Goldbergs Hauptwerk hinterlassen habe, wies auf „captivating articles" in „Maß und Wert" hin und schloß mit dem Satz: „The lectures he now intends to hold in this country would be, I am convinced, a scientific and general intellectual gain for the American Public." Wenig später, am 25.10.1941, schrieb Albert Einstein ein ähnliches Empfehlungsschreiben, in dem es hieß: „I vouch for his personal integrity and political reliability." Nicht nur dieses Empfehlungsschreiben Thomas Manns läßt darauf schließen, daß er über die Pläne Goldbergs informiert war. Am 3.12.1941 gab er eine Empfehlung für Stipendien der John Simon Guggenheim Memorial Foundation (New York) ab, in der er auch auf Goldberg hinwies: Goldberg arbeite an der Fortsetzung der Wirklichkeit der Hebräer, und dieses Vorhaben sei unterstützenswert30 - ein zweifellos seltsamer Vorschlag, wenn dieses Buch dem Faschismus nahegestanden hätte. Er läßt aber den Schluß zu, daß Thomas Mann und Oskar Goldberg zuvor über diese geplante Fortsetzung des Buches korrespondiert oder gesprochen haben. Danach aber muß ein endgültiger Bruch zwischen ihnen stattgefunden haben. Am 1.5.1942, also nicht einmal ein halbes Jahr nach der Guggenheim Memorial-Empfehlung, schrieb Thomas Mann an Emil Bernhard Cohn, die Wirklichkeit der Hebräer sei ein „ausgesprochen fascistisches 30
Hans Bürgin: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Bd. II Stuttgart 1980. S. 577f.
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Buch". 31 Ich habe keine Hinweise oder gar Dokumente bezüglich der Gründe, die Thomas Mann zu solch einem ebenso absurden wie ungeheuerlichen Urteil gedrängt haben, ich kann nur Vermutungen anstellen. Daß das Verhältnis zu Goldberg nicht spannungslos war, ist schon in Tagebuchnotizen vom 15.7.1934 belegt, die dann in Leiden an Deutschland eingegangen sind. Daß Thomas Mann trotz dieser Vorwürfe von Anti-Humanismus und Nationalismus Goldberg zur Mitarbeit an „Maß und Wert" einlud, beweist, daß er Goldberg nicht nur wegen seiner Kenntnisse schätzte, sondern auch wegen seiner Ansichten - selbst wenn er sie nicht vorbehaltlos teilte. Zwischen Ende 1941 und Mitte 1942 muß etwas eingetreten sein, das dieses spannungsreiche Verhältnis zur einen Seite hin auflöste, und ich vermute, daß es die Nachricht von der Vergasung europäischer Juden war, von der Mann im Januar 1942 in einer Rundfunkrede sprach. 32 Von nun an bedeutete für ihn jede Kritik am Judentum eine Parteinahme für die schrecklichsten Feinde der Juden, die Faschisten. Goldberg hatte am 21.11. und 5.12.1941 im New Yorker „Aufbau", einer Zeitung, die mit größter Sicherheit auch Thomas Mann las, unter dem Titel Die Wirklichkeit der Hebräer Auszüge aus seinem Buch Maimonides veröffentlicht, und vielleicht hat Thomas Mann die letzten Sätze dieses 1935 veröffentlichten Buches gelesen, wo es über die Juden hieß: V o l k der verpaßten G e l e g e n h e i t e n ! D i e s m a l aber g e h t e s nicht s o harmlos ab w i e bisher. Ihre Streichung aus d e m , B u c h der G e s c h i c h t e ' steht bevor.
[...]
E n t w e d e r die Juden tun ihre Pflicht oder s i e w e r d e n ausgeschaltet. Ein drittes gibt e s n i c h t . 3 3
Diese Pflicht, das war nach Goldberg die Befassung mit der hebräischen Urzeit, die Befolgung der metaphysischen Rituale und die Heidenmission. 1943 begann Thomas Mann dann mit der Niederschrift des Doktor Faustus und las zu diesem Zweck ein drittes Mal Die Wirklichkeit der Hebräer. Am 12.8.1945 notierte er im Tagebuch: „In Goldbergs faschistischem Buch über die Hebräer, für den Roman." Und zwei Tage später: „In Goldbergs ,Hebräern' - aus Widerwillen." 34 Und von nun an strickte Thomas Mann an der Legende, er habe Goldberg und sein Buch schon immer für faschistisch gehalten. Als er 1953 von Eberhard Hilscher nach den Quellen für den Josephs-Roman befragt wurde, antwortete er mit einem Hinweis auf seine Vergeßlichkeit und fügte hinzu, daß seine damali31
32
33 34
Dichter über ihre Dichtungen: Thomas Mann. Hrsg. v. Hans Wysling. Bd. II. München und Frankfurt am Main 1979. S. 252. Thomas Mann: Das essayistische Werk. Politische Schriften und Reden 3. Frankfurt am Main und Hamburg 1968. S. 216; s.a. Gerald Reitlinger: Die Endlösung. Berlin. 6. Aufl. 1983. S. 143f. Oskar Goldberg: Maimonides. Wien 1935. S. 119. Thomas Mann: Tagebücher 1944-1.4.1946 (Anm. 5), S. 240f.
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ge Bibliothek „aufgelöst und zerstoben" sei. 35 Heute steht diese Bibliothek in Zürich - einschließlich des Exemplares der Wirklichkeit der Hebräer, das er benutzt hat. Hier kann auf Einzelheiten der Darstellung und Karikierung Goldbergs in der Figur des Chaim Breisacher nicht eingegangen werden; nur auf einen Punkt soll hingewiesen werden. Wenn Thomas Mann Chaim Breisacher als ,Kulturphilosoph[en]' beschreibt, „dessen Gesinnung aber insofern gegen die Kultur gerichtet war, als er in ihrer ganzen Geschichte nichts als einen Verfallsprozeß" sah, dann ist dies erst einmal eine richtige Beschreibung Goldbergs. Sie wird bloß dann fragwürdig, weil einseitig, wenn nicht gleichzeitig betont wird, daß Goldberg seine Kulturkritik durch eine ebenso radikale Natur-Kritik ergänzt hat. Nach Goldberg ist der Elohim JHWH ein Feind der Natur und des Todes, seine Kulturkritik ist ohne seine Naturkritik also gar nicht zu verstehen. Goldberg hat sich über diesen Zusammenhang klar geäußert. Gibt es ein Gesetz der Geschichte? Die Antwort lautet: das gibt es dort - und exakt nur dort - , wo die Entwicklung der unmythischen Zeit aus der mythischen vor sich geht. Warum? Weil die Geistesgeschichte sich dann als ihren Idealfall gibt, nämlich als ein Analogon zur Naturwissenschaft, wo die Ereignisse sich aus einander entwickeln. [...] Und deshalb können wir hier Naturund Kulturwissenschaft, die Ordnung der Ideen und diejenige der Dinge, wie Spinoza sagt, parallel setzen und - das biogenetische Grundgesetz anwenden. Dieses von dem wegen seiner Uebergriffe ins Gebiet des Weltanschaulichen heute zu Unrecht verkannten grossen Naturforscher Ernst Häckel aufgestellte Gesetz ist geradezu die klassische Idee der metaphysikfremden Zeit und ihrer Wissenschaft. Es besagt: Die Ontogenese, d.h. die Entwicklung des Einzelnen, ist die Wiederholung der Phylogenese, d.h. der Stammesentwicklung.
Für Goldberg ist das biogenetische Grundgesetz, das Natur wie Kultur beherrscht, nichts anderes als die ewige Wiederkehr des Gleichen, der endlosen Zyklen, die einer Höherentwicklung der Realität insgesamt entgegenstehen. Die mythische Zeit war für ihn gekennzeichnet durch eine Wechselwirkung von Menschen- und Götterwelt, die unmythisch-starre Welt durch die blinde und selbständig agierende Kausalität in Natur und Kultur. - Thomas Mann dürfte diese Argumentation bekannt gewesen sein, denn Goldberg hatte sie in seinem letzten Aufsatz in „Maß und Wert" veröffentlicht unter dem Titel Die griechische Tragödie. Hiermit beenden wir eine Darstellung des Verhältnisses Thomas Mann - Oskar Goldberg, bei der kaum Werkanalysen vorgenommen werden konnten, in denen die Intensität der dreifachen Lektüre der Wirklichkeit der Hebräer hätte nachgewiesen werden können. Nur auf ein Detail sei hier hingewiesen: Thomas Mann hatte, wie wir sahen, im ersten Teil des 35
Eberhard Hilscher: Thomas Mann. Leben und Werk. Berlin 5. Auf. 1975. S. 252.
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Josephs-Romans das Wort , Altar' durch das bei Goldberg gefundene Wort ,Schlachttisch' ersetzt; hier nun, im Doktor Faustus, wurde genau dieses Wort lächerlich gemacht. 36 Der Wissenschaft ist dies zwar bekannt - Herbert Lehnert hat darauf hingewiesen aber den sich daraus ergebenden Fragen ist nie nachgegangen worden. Nun endlich können wir die Frage stellen: War Goldberg, wie Thomas Mann behauptete, ein Faschist? Ich beginne mit einem Zitat aus Hitlers Mein Kampf: Indem der Mensch versucht, sich gegen die eiserne Logik der Natur aufzubäumen, gerät er in Kampf mit den Grundsätzen, denen auch er selber sein Dasein als Mensch allein verdankt. So muß sein Handeln gegen die Natur zu seinem eigenen Untergang führen. Hier freilich kommt der echt judenhaft freche, aber ebenso dumme Einwand des modernen Pazifisten: ,Der Mensch überwindet eben die Natur! l37
Genau zu diesen ,frechen Juden' gehörte Goldberg, er war einer ihrer radikalsten. Schon auf Seite 31 der »Wirklichkeit der Hebräer' heißt es gesperrt: „Völker sind Institutionen bzw. Unternehmungen zur Aufhebung der Naturgesetze." Goldbergs Volksbegriff war dem des Faschismus gerade entgegengesetzt. Und gleich im ersten Aufsatz für „Maß und Wert", betitelt Die Götter der Griechen, führte er aus: Es gibt zwei Möglichkeiten, den Mythos zu deuten: als Phantasie und als Wirklichkeit. [...] [Die] Realitätstheorie des Mythos [...] besagt: die Mythen sind Berichte von dem Auftreten fremder Naturgesetze innerhalb der Welt, in der wir leben. Die Empirie ist der Geltungsbereich von Naturgesetzen, die immer und allerorts die gleichen sind. Wird aber diese Gleichmäßigkeit an einer Stelle der Erde durchbrochen, tritt ein System von Naturgesetzen auf, das unserer Empirie fremd und entgegengerichtet ist, dann liegt ein mythisches Ereigms vor.
•10
Zum Verständnis Goldbergs ist nun wichtig zu erkennen, daß diese mythischen Ereignisse oder Wunder nicht spontan oder durch Gott bewirkt wurden, sondern durch Menschen, die ihre Verbindung zu einem Gott materiell realisieren konnten, und dies eben waren die mythischen, die ursprünglichen Rassen und Völker. Da ist er also gefallen, der Begriff der Rasse, ein Grundbegriff des Nationalsozialismus. Er begegnet uns in folgender Passage des ersten „Maß und Wert"-Aufsatzes: [Es sind] die metaphysischen Rassen und Völker [,] Strukturgebilde, in denen die Transzendenz, das empiriefremde Gesetz alles Lebendigen, zum Durch36
37 38
Thomas Mann: Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus. Frankfurt am Main 1981. S. 375. Adolf Hitler: Mein Kampf. Einbändige Ausgabe München 1933. S. 314. Oskar Goldberg: Die Götter der Griechen. In: Maß und Wert I (1937/38). S. 163f.
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bruch kommt. Nur das Altertum kannte sie; und mit Ausnahme weniger exotischer Reste hat heutzutage keine Rasse und kein Volk der Welt das Recht, sich diesen Ehrentitel beizulegen. Nicht nur deshalb, weil die Rassen und Völker längst gemischt sind, sondern weil wir heute eine Zeit der Konstanz der empirischen Naturgesetze haben, während in mythischer Zeit die transzendenten Kräfte des Lebens die Naturgesetze abzuändern vermochten. Erst Philosophie und Experiment und das ist ihre eigentliche, längst verkannte Aufgabe können diese Starrheit von Neuem brechen und die Stoßkraft des Mythos aufleben lassen. 39
Aber nicht nur historisch, sondern auch strukturell war Goldberg kein Rassetheoretiker. Man könnte ja noch fragen, ob die Rassen nicht irgendwie rekonstruierbar sind. Der zweite Schritt zum richtigen Verständnis Goldbergs aber ist, die große Bedeutung der .Diskontinuität' bei ihm zu erkennen. Diesen Schritt hat z.B. Scholem nicht getan, der in seinem Artikel in der Encyclopaedia Judaica schrieb: Goldberg assumed that there were .metaphysical' peoples whose biological center was their ,god' as opposed to peoples or groups who had lost their metaphysical power [...]
Hier ist das entscheidende Element der Argumentation Goldbergs unterschlagen, nämlich der Unterschied zwischen einem gewachsenen und einem gegründeten Volk. Die gewachsenen Völker und Rassen hatten tatsächlich, wie Scholem schrieb, nach Goldberg ein .biologisches Zentrum', das mit ihrem Gott identisch war, ein Zentrum, das an einen Ort gebunden war. Diese biologischen Zentren - es ist schon darauf hingewiesen worden - hatten aber nur begrenzte Macht und vollzogen allesamt den verhängnisvollen Kreislauf von Leben und Tod, den es gerade zu durchbrechen gelte. Nur einen Gott gab es, der die biologieerzeugende Kraft war, nämlich den Gott JHWH, der sich mit den Hebräern verbündete. Ohne auf diesen komplizierten Vorgang der Gründung eines Volkes genauer einzugehen, sei nur ein Satz aus der Wirklichkeit der Hebräer zitiert, der auf die Rassen-Frage antwortet: Was nun den Elohim IHWH anbetrifft, so gründet er das Volk, er macht sich also durch diesen Diskontinuitätsakt von der Rasse (und damit von den anderen Elohim) zum größten Teil unabhängig.40
Jede Rasse also - selbst wenn man zu ihr zurückkehren könnte - war für Goldberg eine niedere und zu überwindende Größe. Es gab nach Goldberg keinen Weg zurück. Er habe - so schrieb er in einer Rezension in „Maß und Wert" - „die Gesetze der Entmythisierung 39 40
Ebd. S. 164f. Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer (Anm. 12), S. 272.
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- gültig für alle mythischen Völker und ihre Mythologien" dargelegt, 41 und am Ende des letzten in „Maß und Wert" veröffentlichten Aufsatzes heißt es: Wir wollen hier nüchtern feststellen, daß Euripides und - allen in weitem Abstand voran - Sokrates konsequenter gedacht haben als Nietzsche. Sie erkannten, daß man den Mythos, mit dem es längst zu Ende war, nicht künstlich halten könne. Wann ist der Mythos ein Kunstprodukt? Wenn keine Realität keine Götterwelt - hinter ihm steht. Dieser künstliche Mythos aber ist es, von dem Nietzsche offenbar spricht: Denn wenn er die Völker einer metaphysikfremden Zeit aufruft, den Thyrsosstab zu ergreifen und sich in den Rausch tragischer Größe zu versetzen, so ist das nicht der alte und wahre Mythos, sondern derjenige Sorel's, der ,Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts', dem kein anderer Erfolg beschieden ist, als daß er die Massen zu pseudobakchantischer Raserei treibt. Jedoch - der Weg zu einer neuen mythischen Zeit führt über Sokrates, die Philosophie und die Entdeckungen der Vernunft. 42
Man kann ja über die Entdeckungen der Vernunft, wie Goldberg sie meinte und vortrug, gern streiten; ihm aber eine Nähe zum Faschismus zu attestieren, zeugt mindestens von Unverständnis, eher von Vorurteilen und einiger Boshaftigkeit. Es stellt sich hier erneut - und diesmal nicht vom Zeitpunkt, sondern von der Sache her - die Frage, warum Thomas Mann Goldberg so mißverstand und verleumdete. Wie ich eingangs sagte, muß dies ein Thomas Mann-Forscher beantworten. Es bleibt allerdings der Verdacht, daß Thomas Mann Goldberg letztlich als interessante, im Grunde aber nebensächliche Figur abtat, die in erster Linie für die eigene Produktion genutzt werden konnte. Ob Thomas Mann sich je analysierend-kritisch mit Goldberg befaßt hat, ist eher unwahrscheinlich. Immerhin aber hat er Goldbergs Anti-Humanismus erkannt. Dieser nämlich hatte als ,Ideologie' bezeichnet, daß die mythischen Völker in der Begründung ihrer Weltsicht den Raum zwischen ihrer Begrenztheit und dem Weltall überbrückt haben. „Der Mythologe", schrieb Goldberg in „Maß und Wert", der doch als Wissenschaftler über der Sache stehen sollte, macht genau den Fehler des mythischen Volkes, sobald es nachzudenken beginnt. Er verallgemeinert ins Allgemein-Menschliche, was für ein und nur für ein Volk gilt. 43
Für Goldberg war alles Reden vom Allgemein-Menschlichen, also auch der Humanismus, bloße Ideologie, für ihn waren Träger der Geschichte weder der Einzelne noch die Menschheit als Ganzes, sondern im oben be41 42 43
Oskar Goldberg: Mythologische Bücher. In: Maß und Wert I (1937/38) S. 510. Oskar Goldberg: Die griechische Tragödie. In: Maß und Wert I (1937/38) S. 751f. Oskar Goldberg: Die Götter der Griechen (Anm. 38), S. 166 und 173.
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schriebenen Sinne nur die Völker. Unter ihnen gab es nur eines, das mit Recht einen universalen Anspruch erheben durfte, nämlich das hebräische Volk, die Juden, weil nur sie den Bund mit dem biologieerzeugenden Prinzip, mit dem Jahwe Elohim geschlossen haben. Hier also kehrt die nicht geführte Diskussion zwischen Thomas Mann und Oskar Goldberg zum Judentum zurück, ein Thema, mit dem beide auf ganz unterschiedliche Weise große Schwierigkeiten hatten. 44
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Zum Gesamtgebiet vgl. Manfred Voigts: Oskar Goldberg. Der mythische Experimentalwissenschaftler. Ein verdrängtes Kapitel jüdischer Geschichte. Berlin: Agora Verlag 1992.
Anat Feinberg (Stuttgart)
Der permanente Ruhestörer: Juden in der deutschen Nachkriegsliteratur. Ein Ausblick
Noch immer ist der Jude in der deutschen Literaturlandschaft eine Art .Ruhestörer'. War es vor dem Holocaust der jüdische Autor, der, wie es Marcel Reich-Ranicki formulierte, einen irritierenden, gar provozierenden Einfluß ausübte,1 ist es heute, nach dem systematischen Mord an den Juden Europas, der zweifellos ein Hauptziel der NS-Politik war, die Figur des Juden, ganz gleich, ob er nun real präsent ist (als Mensch von Fleisch und Blut in einer bestimmten Gesellschaft, aber auch als Verkörperung auf der Bühne) oder ob er nur in den Köpfen der Menschen existiert. Es leben heutzutage in Deutschland etwa 40.000 Juden, 2 jedoch bestimmen sie kaum das Bild des Juden, welches in den Köpfen der Deutschen lebt. Das Bild, das sich die Deutschen heute von einem Juden machen, setzt sich aus veralteten Klischees, vagen Vorstellungen und merkwürdigen Assoziationen zusammen. Es wird beeinflußt von politischen Großwetterlagen und von der Meinungsbildung durch die Massenmedien. Ob ein Jude in der Umgebung tatsächlich lebt, ob ein Deutscher einem Juden persönlich begegnet ist, ist oft nebensächlich. Bereits das Wort ,Jude' bewegt die Gemüter, erweckt die Phantasie, löst bei den einen Entsetzen und Schuldgefühle, bei anderen Betroffenheit oder gar Ressentiments aus.3 Die Auseinandersetzung mit den Juden und ihrem Schicksal gehört nicht zu den Hauptthemen der deutschen Prosa und des deutschen Dramas nach 1945, ist aber dennoch mehr als eine Nebensache. Es zeigt sich, daß der fiktive Jude in der Prosa oder auf der Bühne ebenfalls die Gemü1
2
3
Marcel Reich-Ranicki: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart 1989. S. 18. Die offizielle Statistik zählt nur ca. 30.000 Juden, doch schätzt man, daß die Zahl erheblich höher anzusetzen ist, da sich viele Juden nicht bei den Jüdischen Gemeinden eingeschrieben haben. Vgl. dazu z.B. Monika Richarz: Jews in Today's Germanies. In: Leo Baeck Institute Yearbook XXX (1985), S. 265-274. Vgl. auch Anat Feinberg: Wende, Umbruch oder Krise? Anmerkungen zum jüdischen Leben in der Bundesrepublik. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 29 (1990), H. 114, S. 135-146. Vgl. dazu beispielsweise Peggy Parnass: Schon das Wort Jude löst Entsetzen und Schuldgefühle aus. In: Fremd im eigenen Land. Juden in der Bundesrepublik. Hrsg. von Hendryk M. Broder und Michel R. Lang. Frankfurt/M. 1979. S. 301-312. Andere und ähnliche Reaktionen beschreiben weitere Beiträge dieses Bandes.
Juden in der deutschen Nachkriegsliteratur
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ter in Wallung bringen und im wahrsten Sinne des Wortes die Öffentlichkeit beunruhigen kann. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an das Echo, das der Streit um die Aufführung von Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit Ende der achtziger Jahre fand. 4 Es besteht kein Zweifel daran, daß deutschsprachige Autoren sich nach 1945 schwer taten, Juden und ihr Schicksal darzustellen. Die Wahl jüdischer Motive oder Thematik muß in vielen Fällen als ein Versuch gesehen werden, Schuldgefühle abzutragen, aus der eigenen Geschichte zu lernen, zum Nachdenken anzuregen und damit einen persönlichen Beitrag zur Sühne und Aussöhnung zu leisten. In der Mehrheit der Fälle kann nicht an dem guten Willen der Autoren gezweifelt werden, doch ist die künstlerische Qualität, ja, sogar die einfache Umsetzung der Idee in eine ästhetische Form oft problematisch, wenn nicht gar, miserabel. Die wenigen Studien zur Judendarstellung in der deutschsprachigen Prosa5 bzw. im Drama6 unterstreichen die ungeheuren psychologischen und künstlerischen Schwierigkeiten, die viele Autoren mit einer solchen Thematik haben. Es zeigt sich aber auch, wie Heidy Müller gezeigt hat, daß antisemitische „Denkschemata nach Auschwitz reliktweise oder uneingeschränkt
5
6
Vgl. dazu ausführlich: Die Fassbinder-Kontroverse oder das Ende der Schonzeit. Hrsg. von Heiner Lichtenstein. Königstein/Ts. 1986. Nancy Ann Lauckner: The Image of the Jew in the Postwar German Novel. Ph. D. Diss. University of Tennessee. Wisconsin 1971; dies.: The Jew in Post War German Novel. A Survey. In: Leo Baeck Institute Yearbook XX (1975), S. 275-291; Jean-Paul Bier: Auschwitz et les nouvelles literatures allemandes. Brüssel 1979; Christiane Schmelzkopf: Zur Gestaltung jüdischer Figuren in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Hildesheim 1983 (= Germanische Texte und Studien, 16); dies.: Zur Gestaltung jüdischer Figuren in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. In: Juden und Judentum in der Literatur. Hrsg. von Herbert A. Strauss und Christhard Hoffmann. München 1985. S. 272-294; Heidy M. Müller: Die Judendarstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa 1945-1981. Königstein/Ts. 1984; dies.: Juden in der deutschsprachigen Prosa und Dramatik nichtjüdischer Schriftsteller seit 1945. In: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur 44 (1989), H. 5, S. 452-461. Vgl. auch Manfred Kamick: Über „jüdisches Schicksal" in deutscher Nachkriegsliteratur. In: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Hrsg. von Stephane Moses und Albrecht Schöne. Frankfurt/M. 1986. S. 366-385; liana Hammerman: Der Nationalsozialismus in der deutschen Nachkriegsliteratur aus israelischer Perspektive. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte (Tel Aviv) XIX (1990), S. 561-580. Vgl. Kurt Maier: Images of the Jew in Postwar German Fiction and Drama (1945-1965). Ph. D. Diss. Columbia University 1969; Wolfgang Nehring: Die Bühne als Tribunal. Das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg im Spiegel des dokumentarischen Theaters. In: Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Hrsg. von Hans Wagener. Stuttgart 1977. S. 69-94; Wolfgang Trautwein: Das Dritte Reich aus der Sicht des westdeutschen Dramas 1945-1965. Dramaturgie und Geschichtsbild. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte (Tel Aviv) XI (1982), S. 325-380; Anat Feinberg: Wiedergutmachung im Programm. Jüdisches Schicksal im deutschen Nachkriegsdrama. Köln 1988.
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weiter leben", 7 daß in vielen Fällen die .fiktiven' Juden aber auch eine bestimmte Funktion erfüllen, die auf Kosten der Differenzierung und Individualisierung geht, und daß weiterhin in der deutschen Literaturlandschaft einige ungeschriebene Spielregeln existieren, was die Judendarstellung nach Auschwitz anbetrifft. In der Tat, es existieren in dieser Beziehung einige Tabus, die von Prosaautoren, wie Walter Matthias Diggelmann 8 und Gerhard Zwerenz, 9 aber auch von Theaterleuten wie Fassbinder und George Tabori gebrochen wurden. Die verschiedenen Untersuchungen über die Figur des Juden in der deutschen Nachkriegsliteratur zeigen, daß sich nach 1945 ein gradueller Entwicklungsprozeß feststellen läßt, demzufolge aus dem überaus positiven Bild von Juden im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende allmählich eine nüchterne Charakterzeichnung wird, die dann gegen Ende der 70er Jahre einer kritischen und differenzierten Sehweise Platz macht. Ein dramatischer Wendepunkt in diesem Wandlungsprozeß ist, was das deutschsprachige Theater anbetrifft, der gescheiterte Versuch, den .reichen Juden' auf die Bühne zu bringen. Die Tatsache, daß Fassbinders Judendarstellung (die viel mit Zwerenz' Romanheld gemeinsam hat) einen kulturpolitischen Skandal auslöste, 10 beweist, wie sehr diese Verkörperung des Juden gegen bestehende Tabus verstieß, die zwar längst nicht von allen, aber doch wohl von einem beträchtlichen Teil der Deutschen internalisiert worden waren. Doch kehren wir zu der ersten Phase nach Kriegsende zurück. Eine Reihe von Prosawerken von jungen deutschen Nachkriegsautoren (z.B. Heinrich Boll, Walter Jens) setzte sich mit dem jüdischen Schicksal während und nach dem Holocaust auseinander. Ähnliches geschah auch im Drama. In beiden Literaturgattungen zeichnete sich damals eine Tendenz ab, die These von der Kollektivschuld der Deutschen zu widerlegen. Weiteres Kennzeichen dieser Phase ist die Neigung zur Dämonisierung der Nazischergen und eine entgegengesetzte Haltung, nämlich die Mystifizierung der Opfer, die auf unterschiedliche traditionelle Klischee-Vorstellungen zurückgreift, zum einen auf die Figur der .belle juive' (bzw. ,juive fatale') oder die Figur des klugen, alten Juden. Allen Stücken ist gemeinsam, daß sie die Juden als Opfer zeigen, denen das Werturteil ,gut' zukommt, während die Täter als Bösewichter und menschliche Bestien gebrandmarkt werden. Das Erfolgsstück des deutschen Theaters in den 50er Jahren war die dramatische Bearbeitung des Tagebuchs der Anne Frank. Dieser Kassenschlager erlebte in der kurzen Zeitspanne zwischen den Jahren 1956 und 1958 immerhin 75 verschiedene Inszenierungen. Was zwei7 8 9 10
Müller: Judendarstellung (Anm. 5), S. 19. Walter Matthias Diggelmann: Der Reiche stirbt. Roman. Köln/Zürich 1977. Gerhard Zwerenz: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. Roman. Frankfurt/M. 1973. Vgl. Fassbinder-Kontroverse (Anm. 4).
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fellos dem Publikum gefallen mußte, war die Konkretisierung des Leidens in der Person des jüdischen Mädchens, eine Person aus Fleisch und Blut, mit der man sich identifizieren konnte. Das Publikum verstand schnell, daß es sich dabei um kein Anklagestück, kein Rachestück handelte. Weder forderte dieses Stück eine persönliche Gewissensprüfung noch zielte es auf eine kollektive Vergangenheitsbewältigung. Theodor W. Adorno erwähnt z.B. jene Frau, deren Erschütterung in dem Satz zum Ausdruck kam: „Ja, aber das (!) Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen." 11 Der gute Wille der vielen deutschen Bühnenschriftsteller und Regisseure, die Zuschauer zur Trauerarbeit zu bewegen, kann nicht bezweifelt werden, doch zeigt die Aufführungsstatistik ein eher ernüchterndes Bild vom realen Erfolg. Die Stücke, die zumeist keine wahre Begebenheit wiedergaben und statt dessen mit den Mitteln der Fiktion arbeiteten, waren allesamt keine .Kassenschlager'. Mehr noch: Sie gerieten mit der Zeit in Vergessenheit. Wer kennt beispielsweise heute noch Hans Breilingers Drama Konzert an der Memel, Wolfgang Altendorfs Thomas Adamsohn oder gar das bis heute nur im Originalmanuskript vorhandene Schauspiel Alle Tore waren bewacht von Ingeborg Drewitz? Die Verfasserin wurde dafür zwar mit Literaturpreisen ausgezeichnet, doch erlebte dieses Stück zunächst nicht einmal eine Aufführung auf einer nichtigen' Bühne, sondern wurde bei Gedenktagen und Feierstunden (,Woche der Brüderlichkeit') gezeigt, bis es schließlich in die Vorstadttheater gelangte. Das wohl bekannteste Stück dieser ersten Phase ist zweifellos Erwin Sylvanus' Stück Korczak und die Kinder, das seit der Uraufführung im Jahre 1957 fortlaufend neue Inszenierungen und bis heute mehr als 950 Aufführungen erlebte. Bezeichnenderweise versuchte Sylvanus bei der Auseinandersetzung mit dem jüngsten deutsch-jüdischen Kapitel, auch eine effektive Bühnensprache zu schaffen, die gegen den schwerfälligen dramatischen Realismus, die Melodramatisierung und die ausdrückliche didaktische Botschaft gerichtet war. Die zweite Phase, die die 60er Jahre umfaßt, zeigt eine intensive Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie und dem politischen System wie auch mit dem Judenmord. Ereignisse wie der Eichmann-Prozeß in Jerusalem (1961), der Auschwitz-Prozeß in Frankfurt (1963-65), wie auch die allgemeine zunehmende Politisierung der deutschen Gesellschaft fanden ein bemerkenswertes Echo in Prosa und Drama. Was die Prosa anbetrifft, zieht Heidy Müller folgendes Fazit: [Es] erscheinen (häufiger als vorher) Werke, deren Verfasser (Geissler, Weisenbom, Schulz, Grass, Diggelmann und Basil) sich voller Selbstsicherheit 11
Zitiert nach Theodor W. Adorno: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? In: Erziehung zur Mündigkeit. Hrsg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt/M. 1979. S. 26.
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und Kritiklust gegen die Ideologie der Nazis auflehnten oder sie satirisch karikierten. In den sechziger Jahren erreichte das Interesse an der Judendarstellung das größte Ausmaß und die höchste Intensität seit dem Zweiten Weltkrieg.12
Die Judendarstellung im Drama der 60er Jahre muß im Zusammenhang mit dem dokumentarischen Theater, das damals die Bühnen eroberte, gesehen werden. Erinnert sei hier nur an so bedeutende Stücke wie Hochhuths Stellvertreter (1963), Kipphardts Joel Brand (1965) und Weiss' Die Ermittlung (1965). Zum ersten Mal wurde der Zuschauer direkt (bei Hochhuth) oder indirekt (bei Weiss) mit einem der Hauptschauplätze des unfaßbaren Geschehens, nämlich Auschwitz, konfrontiert. Doch gerade durch den fixierten Blick auf die Vernichtungsmaschinerie und durch eine eher gegenwartsbezogene Analyse des Dritten Reiches, die den Mythos der .Stunde Null' zu zerstören suchte, drängen die Autoren den Juden in eine Art Nebenrolle. Die zentrale Frage, die in diesen Stücken gestellt wird, lautet: „Wie konnte es zu Auschwitz kommen?" Im Brennpunkt des Interesses stehen demzufolge die Täter, die Mitläufer oder Mitschuldigen (z.B. der Papst). Die beabsichtigte sachliche Auseinandersetzung mit dem historischen Gegenstand führt bei Weiss' Stück Die Ermittlung gar zu dem gewollten Verzicht auf die ethnische Benennung der Opfer. Das Wort ,Jude* wird von Peter Weiss in diesem Schauspiel ganz vermieden. Die Zeugen, die aufgerufen werden, beschreiben die Vernichtung smaschinerie von der Warte des Opfers aus - wer immer es auch war. Auch das Opfer erscheint bei Weiss als Teil des NS-Regimes. Das Nazisystem, so will der Autor damit andeuten, hat nicht nur Millionen Juden ausgerottet, sondern auch Millionen anderer Menschen haben darunter gelitten. In der Tat, es stellt sich die berechtigte Frage, ob nicht der Sohn eines jüdischen Textilhändlers, der in die Emigration gezwungen wurde, das erste Tabu gebrochen hat, indem er sich in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema der ,Endlösung der Judenfrage' konsequent weigerte, die Opfer beim Namen zu nennen. Ja, er deutet sogar an, daß die Juden unter Umständen selbst die Täter hätten sein können. Waren es eine Gegenströmung, eine Art Reaktion auf die Übersättigung durch das große Angebot an jüdischen Themen bzw. ein leichter Überdruß an politisch-zeitgeschichtlichen Themen oder gar die Änderung des politischen Klimas, die dazu führten, daß die Beschäftigung in Prosa und Drama mit dem jüdischen Schicksal und den deutsch-jüdisehen Beziehungen in der Vergangenheit Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre deutlich nachließ? 12
Müller: Judendarstellung (Anm. 5), S. 205.
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In den siebziger Jahren schrieben die [...] Autoren keine Pendants zu den literarischen Lebensentwürfen für jüdische Helden, deren Erfindung in den sechziger Jahren geradezu Mode geworden war,13
meint Heidy Müller und zieht daraus den Schluß, daß ohne eine „breite Front öffentlichen Unwillens" einige „judenfeindliche Werke" wie Zwerenz' Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond (1973) oder Walter Matthias Diggelmanns Der Reiche stirbt (1977) kaum denkbar gewesen wären. Im Bereich des Dramas zeigt sich, nach dem Desinteresse Anfang der 70er Jahre, die Wiederentdeckung des Juden, und zwar bedingt durch die sogenannte »Holocaust-Welle' am Ende des Jahrzehnts. Was die Dramen von Hochhuth und Weiss am Vorabend der Studentenrevolte einer ganzen Generation bedeuteten, war die Ausstrahlung des amerikanischen Melodramas Holocaust im Abendprogramm des deutschen Fernsehens im Jahre 1979, die zweifellos eine nachhaltige Wirkung auf die deutsche Öffentlichkeit hatte. Diese Ausstrahlung war nicht nur ein Medienereignis, sondern stellte auch - wie vorher Die Ermittlung - ein sozialpsychologisches Phänomen dar, das Rückwirkungen auf die deutsche Theaterlandschaft hatte. Die in der Fernsehserie Holocaust wenn auch nicht initiierten, so doch popularisierten Begegnungen mit den Juden und ihrem Schicksal in der NS-Zeit führten zu einer Welle von Rundfunk-, Fernseh- und Zeitungsbeiträgen, zu Schülerwettbewerben und zahllosen Sachbüchern, die von dem wachsenden Interesse an der jüdischen Thematik zeugten. Gleichzeitig zeichnet sich eine kritischere Haltung gegenüber den Juden in der deutschsprachigen Erzählprosa und im Drama ab. Es gibt sogar bereits vereinzelte Versuche, das Tabu der einseitig positiven Judendarstellung in Frage zu stellen oder gar zu brechen. Um diese Entwicklung zu verstehen, ist es notwendig, auf den historisch-politischen Hintergrund und die moralische Problematik, die mit der Darstellung jüdischer Figuren in der Prosa oder auf der Bühne untrennbar verbunden ist, etwas näher einzugehen. Ganz gleich, ob der Schriftsteller die jüdische Gestalt positiv oder negativ zeichnet, in beiden Fällen erregt er beim Zuschauer oder Leser Verdacht. Falls er den Juden ohne Fehl und Tadel darstellt, um Sympathie zu wecken, wird man ihn verdächtigen, daß es wegen seines schlechten Gewissens, aus apologetischer Absicht oder gar aus dem Wunsch heraus geschieht, seine Schuldgefühle abzuladen oder sich philosemitisch zu zeigen - was nach dem Urteil vieler die nicht unbedenkliche Kehrseite des Antisemitismus ist. Wenn der Autor andererseits versucht, den Juden vom Podest herunterzuholen und ihn in einem eher ambivalenten Licht erscheinen zu lassen oder ihn sogar zu kritisieren, wird man ihn angreifen. Den nicht-jüdischen Schriftsteller wird man allseits des Antisemitismus zei13
Müller: Judendarstellung (Anm. 5), S. 206.
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hen, der jüdische Autor dagegen bekommt die Kritik aus den eigenen Reihen zu spüren, indem man ihm Wahrheitsverdrehung, Unwissen oder Selbsthaß vorwirft. Das bekam als einer der ersten Yoshua Sobol zu spüren, der mit Weiningers Nacht und seiner Ghetto-Trilogie ,heiße' (jüdische) Themen angefaßt hatte. Das gleiche gilt auch für die nicht weniger umstrittenen Stücke eines anderen jüdischen Dramatikers, nämlich George Taboris, die in der Bundesrepublik und in Österreich große Aufmerksamkeit fanden. Für die Prosa wäre auf die geteilte Aufnahme der Werke von Irene Dische (Fromme Lügen) und Maxim Biller (Wenn ich einmal reich und tot bin) zu verweisen. Die Tendenz, das Tabu der einseitigen, mystifizierenden Judendarstellung wenigstens ansatzweise zu brechen, nimmt seit den siebziger Jahren zu. „Es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen", 14 so drückte sich der jüdische Theaterautor und Regisseur George Tabori bereits 1969 anläßlich der europäischen Erstaufführung seines umstrittenen Stücks Kannibalen in Berlin aus. Obwohl Tabori sich seit langem mit dem Holocaust und dem jüdischen Schicksal auseinandersetzt, und zwar nicht nur in Stücken wie Mutters Courage oder Jubiläum, sondern auch in einigen seiner Beckett- oder Shakespeare-Inszenierungen, versucht er, als jüdisches ,enfant terrible' gegen den Strom zu schwimmen, indem er Auschwitz zu entmythologisieren sucht und die Mystifizierung der Opfer bekämpft. Sein künstlerisches Plädoyer richtet sich unter anderem gegen die in Deutschland verbreitete Sachlichkeit bei der Behandlung des Holocaust und setzt sich dagegen für das unmittelbare Theater-Erlebnis ein: die „Morde sind möglich geworden durch eben diese .Sachlichkeit', die Menschen in Gegenstände verwandelt", 15 meint Tabori. Diese Kritik zielt nicht zuletzt auch auf die Ästhetik des Theaters, die Stücken wie Die Ermittlung zugrunde liegt und ihnen eine moralischkünstlerische Legitimation verleiht. Für Tabori ist die w a h r e Erinnerung nur durch sinnliches Erinnern m ö g l i c h [ . . . ] . U n m ö g l i c h ist es, die V e r g a n g e n h e i t zu bewältigen, ohne daß man s i e mit Haut, N a s e , Zung e , Hintern, F ü ß e n und B a u c h wiedererlebt hat. 1 6
Ein differenzierteres oder eher kritisches Bild des Juden wollten auch einige deutsche Regisseure, darunter Peter Zadek, dem bundesrepublikanischen Publikum vermitteln. Gleichfalls trug der israelische Autor Yoshua Sobol zu diesem rasant verlaufenden Prozeß der Enttabuisierung bei. Un14
15
16
Zitiert nach Georg Hensel: Shakespeare, Jazz und Judenhaß. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.11.1978. Siehe auch George Tabori: Unterammergau oder die guten Deutschen. Frankfurt/M. 1981. S. 23. George Tabori: Sehen, was man nicht sehen will. In: Tabori. Hrsg. von Jörg W. Gronius und Wend Kässens. Frankfurt/M. 1989. S. 38. Tabori: Unterammergau (Anm. 14), S. 202.
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gewollt hat er den Deutschen einen Bärendienst erwiesen. Welcher deutsche Autor hätte es gewagt, ein Musical über die Liquidierung des Ghettos Wilna zu schreiben? Damit war der Riß im ansonsten monochromen Bild vom ,guten' Juden für jedermann sichtbar geworden. Wenn schon ein jüdischer Autor wie Sobol es wagt, den Juden in einem ambivalenten Licht zu zeigen, warum soll es dann eigentlich deutschen Dramatikern verwehrt sein, ein kritischeres oder sagen wir .menschlicheres' Bild vom Juden zu zeichnen? Die Entwicklung hin zu einer differenzierteren Judendarstellung (man denke etwa an Stücke wie Erwin Sylvanus' Exil - Reise in die Heimat, Heinar Kipphardts Bruder Eichmann oder Rene Kaliskys Falsch), die, wie bereits angedeutet, nicht unproblematisch war, scheint ihren negativen Höhepunkt mit der Frankfurter Inszenierung von Fassbinders Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod im Oktober 1985 erreicht zu haben. Was zehn Jahre früher noch scheiterte, schien Mitte der achtziger Jahre möglich. Lieferte also die abendliche Aufführung vor einem handverlesenen Publikum den Beweis dafür, daß das ,Ende der Schonzeit' erstmals in den Bereich des Möglichen rückte? Auch Fassbinder versuchte in seinem zweifellos von alten wie neuen antisemitischen Klischees und Stereotypen wimmelnden Text, gegen „die ständige Tabuisierung von Juden, die es seit 1945 in Deutschland gibt", 17 wie er es selbst ausdrückte, anzukämpfen. In der Tat, so manche Stücke oder Produktionen, die eine Enttabuisierung anstreben, beweisen die moralische und psychologische Komplexität dieser Unternehmung. Die Frage, die sich in jedem Fall stellt, lautet: Wie erzeugt man beim Leser oder beim Publikum Betroffenheit, ohne sich auf billige Mittel zu stützen? Wie soll man mit dem jüdischen Kapitel in der deutschen Geschichte umgehen, ohne dabei der Gefahr einer weitgehenden Mystifizierung zu erliegen oder durch die notwendige Vereinfachung und Pauschalisierung gleichfalls in eine Falle zu tappen? Wie kann man Stereotype und Klischees loswerden, besonders in einer Umgebung, wo Juden fast zu einer Rarität, zu einer seltenen Species geworden sind? Dies sind einige Fragen, die auf die Komplexität der künstlerischen Umsetzung des Stoffes deuten. Und hier bestätigt sich wieder einmal: von einer Normalisierung der deutsch-jüdischen Beziehungen kann längst noch nicht die Rede sein, weder auf der diplomatisch-politischen Bühne noch in den Sparten der deutschen Gegenwartsliteratur und auch nicht auf den Brettern, die, wie man im Deutschen so schön sagt, die ,Welt bedeuten'.
17
Rainer Werner Fassbinder: Philosemiten und Antisemiten. In: Die Zeit, 9.4.1976.
Anhang
An die Stelle eines populärwissenschaftlichen Vortrage, mit dem die Werner-Reimers-Stiftung ihre wissenschaftlichen Veranstaltungen der Öffentlichkeit vorzustellen pflegt, trat beim dritten Symposion eine Lesung, die Heinz Knobloch mit einschlägigen Texten aus seinen Büchern bestritt. Da sich eine Dokumentation im vorliegenden Band erübrigt, hat Knobloch auf Bitten der Herausgeber ein Feuilleton über Judenporzellan geschrieben, das hier erstmalig abgedruckt wird. Ihm folgen Beiträge über das Berliner Jüdische Museum (1933-1938) von Hermann Simon und den Kreis für fortschrittliche Kultur in Tel Aviv (1942-1946) von Walter Grab. Daran schließt sich der Diskussionsbericht von Florian Krobb und Stefan Wirtz an.
Heinz Knobloch (Berlin)
Judenporzellan
Man könnte denken, es handele sich um von Juden oder für Juden erzeugtes Porzellan, wenn dieser Begriff aus dem 18. Jahrhundert auftaucht. Die weiße Kostbarkeit, die seit 1750 auch in Berlin erzeugt wurde, war schon Friedrich Wilhelm I. nützlich gewesen, indem er bei August dem Starken in Dresden ein Regiment Dragoner eintauschte gegen große Vasen, die als ,Dragonervasen' in den Museen stehen. Sohn Friedrich II. hatte die seit mehreren Jahren in Berlin bestehende Manufaktur 1763 in eigene Regie übernommen und sich für die Umsatzsteigerung ausgedacht: Wenn ein Jude eine Vergünstigung haben möchte, etwa die Heiratserlaubnis, das Wohnrecht oder die Genehmigung zum Hauskauf, dann muß er zusätzlich zu den anderen damit verbundenen Abgaben und Gebühren königliches Porzellan kaufen. Die Kabinettsorder vom 21. März 1769 legte Einzelheiten fest. Ein Generalprivilegium gab es für 500 Reichstaler, andere Vergünstigungen für 300. Doch erhielt einer dafür nicht etwa Gebrauchsporzellan, mit dem sich etwas Nützliches anfangen ließ, sondern nur Vasen, Zierrat und Dekorationswaren. So kam Moses Mendelssohn, als er heiraten durfte, zu zwanzig lebensgroßen, massiv porzellanenen Affen. Die Juden, auch in Preußen zur Geduld erzogen, kauften demütig ihr Porzellan, nahmen aber nur die geringste Qualität, was ihnen nicht zu verdenken ist. Als das bemerkt wurde, erließ die Generaldirektion der Manufaktur am 5. Dezember 1769 die Verfügung, Juden hätten je ein Drittel vom feinsten, vom mittleren und vom geringsten Porzellan abzunehmen. Und sie mußten es weiterverkaufen. Aber nicht innerhalb der preußischen Grenzen. Weil das im Ausland bekannt war, bot man solche Preise, daß die Zwangsverkäufer mit sechzig Prozent Verlust verkaufen mußten, denn mit unverkauftem Porzellan der Königlichen Manufaktur ließ man sie an der Grenze nicht wieder nach Preußen hinein. Dennoch brachten die Zwangskäufe nicht die erwartete Absatzsteigerung. Friedrichs Nachfolger schaffte die Verordnung 1787 ab. Gegen Zahlung einer Ablösesumme.
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Heinz
Knobloch
Die erzwungene Porzellanabnahme und die Affen in der Familie Mendelssohn sind als kulturelle Kuriosität überliefert. Und weil man das lächelnd erzählen kann, gilt sie vielen nicht als eine der Grausamkeiten gegen jüdische Menschen.
Hermann Simon (Berlin)
Das Berliner Jüdische Museum (1933-1938). Aufbau und Widerstand im Untergang1
Das „Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik" veröffentlichte im Dezember 1982 unter der Überschrift ,„Letzte Post' - Museumsweihe 1933" einen Bericht von James Yaakov Rosenthal über die Eröffnung des Berliner Jüdischen Museums am 24. Januar 1933. Rosenthal war zu jener Zeit jüngster Mitarbeiter der Jüdischen Telegraphen-Agentur (J.T.A.) und in dieser Eigenschaft bei der Eröffnungsfeier anwesend. J.T.A. veröffentlichte am 26. Januar 1933 über dieses wichtige Ereignis einen längeren Bericht, der in seinen wesentlichen Passagen von James Yaakov Rosenthal stammt, und es ist beeindruckend zu sehen, wie dieser Bericht und seine aus der Erinnerung geschriebene Reportage selbst in kleinsten Details übereinstimmen. Bevor das Berliner Jüdische Museum eingeweiht wurde, das sich im ersten Stock des einstmals von Moritz und Bertha Manheimer gestifteten Hauses Oranienburger Str. 31 befand, waren eine Reihe von Vorarbeiten nötig. Das unter der Leitung von Dr. Karl Schwarz (1885-1962) stehende Institut ist aus der einstigen Kunstsammlung der Gemeinde hervorgegangen. Ihren Grundstock bildete die Sammlung des Dresdner Juweliers Albert Wolf (1841-1907). Jahrzehntelang hatte er Judaica zusammengebracht, die er der Berliner Gemeinde testamentarisch vermachte. Zwar hatte der Oberbibliothekar und Direktor der Berliner Gemeindebibliothek, Moritz Stern (1864-1939), am Grabe Wolfs 1907 feierlich für sich und seine Nachfolger gelobt, das „anvertraute Gut zu bewahren, es zu hegen und pflegen, damit es in immer erhöhtem Glänze für alle Zeiten erstrahle", aber dennoch sollte es noch einmal zehn Jahre dauern, bis am 18. Februar 1917 die „Kunstsammlung der jüdischen Gemeinde zu Berlin (Wolf sehe Stiftung)", die im dritten Stock des ersten Verwaltungsgebäudes der Gemeinde (Oranienburger Str. 29) neben der Gemeindebibliothek 1
Es handelt sich hier um die Zusammenfassung eines Vortrags, der im Rahmen des Symposions am 5. März 1991 gehalten wurde. Vgl. dazu Hermann Simon: Das Berliner Jüdische Museum 1933-1938. Geschichte einer zerstörten Kulturstätte. 2. erw. Aufl. Berlin 1988.
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untergebracht war, der Öffentlichkeit übergeben wurde. Warum die in Kisten verpackte Erbschaft erst nach 10 Jahren ausgestellt wurde, kann heute nicht mehr geklärt werden. Raummangel dürfte nur ein Grund gewesen sein. Die Sammlung wurde Oberbibliothekar Stern unterstellt. Insgesamt gab es im Laufe der Jahre vier Ausstellungen. Im großen und ganzen aber führte die Sammlung ein Schattendasein; es fehlte an Platz und Geld. Erst mit der Anstellung von Karl Schwarz an der Kunstsammlung, im Oktober 1927, änderte sich das Bild allmählich. Aus Anlaß seines 25. Amtsjubiläums übergab ihm Moritz Stern die Leitung der Sammlung. Während Stern besonders die wissenschaftliche Erschließung der Bestände förderte, war Schwarz mehr auf die werbende Wirkung des Museums bedacht. Auch für den Ausbau der von Stern noch 1926 geschaffenen Abteilung für moderne Kunst setzte er sich ein. Leider gelang es in diesem Jahr nicht, die Kollektion des Berliner Sammlers Salli Kirschstein zu erwerben. Kirschstein interessierte sich bereits für jüdische Kunst, als es diesen Begriff noch kaum gab, nämlich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. Er besuchte in jenen Jahren oft das Berliner Museum für Völkerkunde und erinnerte sich später daran: Die Vielseitigkeit und vor allem die Ursprünglichkeit des dort Gebotenen zog mich an; die Völker in ihrer Wesensart, die Zeiten in der Vielfältigkeit der Formen und Farben fesselten mich [...] Damals entstand in mir der Wunsch, nein, der Wille: ein Museum für jüdische Volkskunde muß geschaffen werden, um unser selbst willen, um unserer Vergangenheit den Platz unter den Völkern zu sichern, der ihr gebührt.2
Salli Kirschstein war es, der in seinem 1928 erschienenen Artikel Wie hindern wir den Untergang alter jüdischer Kulturgüter (Jüd. Jahrbuch für Groß-Berlin 1928, S. 88ff.) empfahl, die Kunstsammlung zu einem wirklichen Museum auszubauen. Er hatte bereits 1908 die Anregung gegeben, eine Gesellschaft der Freunde eines künftigen Jüdischen Museums zu gründen. Erst am 28. November 1929 konnte „Der Jüdische Museumsverein" gegründet werden. Ziele und Aufgaben dieses Vereins sind in einer gedruckten Satzung festgelegt. In der Einladung zur Gründungsversammlung, die im Hotel Kaiserhof stattfand, präzisierten die Herren des Gründungsausschusses die Aufgaben des Vereins weitgehend, indem sie dort formulierten: 2
Vgl. H. Simon: Zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der Eröffnung des Berliner jüdischen Museums in der Oranienburger Straße. In: Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR (Dresden März 1983), S. 4.
Das Berliner Jüdische Museum (1933 - 1938)
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Die jüdische Kultur früherer Zeiten und der Gegenwart ist in ihren wichtigsten Dokumenten so gut wie unerschlossen. Diese Schätze zu heben und zu bewahren, sie der Allgemeinheit zugänglich zu machen und so eine empfindliche Lücke in unserem Geistesleben auszufüllen, ist die Aufgabe des jüdischen Museumsvereins.3
300 Teilnehmer dieser Versammlung bekundeten ihr Interesse an einem künftigen Jüdischen Museum. Max Liebermann, Präsident der Akademie der Künste, nahm unter allgemeinem Beifall die Wahl zum Ehrenvorsitzenden an. Als einer der Beisitzer fungierte der Schriftsteller Arnold Zweig. Es scheint eine Reihe von Schwierigkeiten gegeben zu haben, bis die Kunstsammlung im Jahre 1932 in „Jüdisches Museum (Sammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin)" umbenannt wurde. Wenig später bezog das Museum sein neues Domizil, das vorher von Gemeindebaumeister Alexander Beer umgebaut worden war. Sechs Tage, nachdem das neue Museum, von jüdischer und nichtjüdischer Presse gefeiert, der Öffentlichkeit übergeben worden war, entstand durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler eine völlig veränderte Situation. Das Jüdische Museum war in mehrfacher Hinsicht betroffen: Einerseits erhielt es durch den Ausschluß der Juden aus dem deutschen Kulturbetrieb, die sich nun der eigenen Kultur stärker zuwandten, einen Auftrieb, andererseits aber war es Schikanen ausgesetzt, und der Druck wurde zunehmend stärker. Schon im Mai 1933 emigrierte Karl Schwarz und übernahm die Leitung des Städtischen Museums in Tel-Aviv. In den nächsten Jahren leitete Erna Stein (1903-1983) die Geschicke des Museums, bis sie im Mai 1935 ebenfalls nach Palästina auswanderte. Mit dem Namen Erna Stein, der seit 1934 Dr. Irmgard Schüler (geb. 1907) als Assistentin zur Seite stand, sind eine Reihe von Aktivitäten verbunden, von denen die Spiro-Meidner-Ausstellung, die zu Ehren des 60. Geburtstages von Eugen Spiro und des 50. von Ludwig Meidner stattfand, erwähnt sei. Es war dies - und das ist von der Kunstgeschichtsschreibung vergessen worden - die letzte Ausstellung dieser beiden Maler in Deutschland vor ihrer Emigration. Meidner ist sogar noch mehr in Vergessenheit geraten. „Irgendwie", schreibt Hans Tramer in seinem Aufsatz Das Judenproblem im Leben und Werk Ludwig Meidners, hatte sich nämlich in den Köpfen der Kunstfreunde die Annahme festgesetzt, daß sich Meidner nicht mehr unter den Lebenden befinde, und auf diese Weise passierte es sogar dem gelehrten Professor Dr. Ernst Scheyer aus Detroit, daß er in seiner großen Rede ,Der Beitrag des Judentums zur modernen Kunst' im Einladung zur Gründungsversammlung des Jüdischen Museumsvereins Berlin. O.O., o.J. (1929).
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Rahmen der Ausstellung ,Synagoga' in der Städtischen Kunsthalle Recklinghausen vom 3. November 1960 bis 15. Januar 1961 von Ludwig Meidner als einem derjenigen jüdischen Künstler sprach, der dem Barbarismus des Naziregimes zum Opfer gefallen sei. Da aber, in einer Atempause des Redners, erhob sich inmitten der Zuhörer ein etwas dicklicher, kleiner alter Mann mit einem Käppchen auf dem haarlosen Haupt und sagte schüchtern: „Hier - ich bin Meidner!"4
Dr. med. Aron Sandler, Vorstandsmitglied der Gemeinde und Dezernent für das Museum, konstatierte in seiner zur Eröffnung der bereits erwähnten Spiro-Meidner-Ausstellung im Berliner Jüdischen Museum gehaltenen Ansprache: In anderen Zeiten wären die Mitbegründer der Sezession und die Vorkämpfer des Expressionismus anders gefeiert worden.5
Am 1. Mai 1935 übernahm der aus Breslau stammende Kunsthistoriker Prof. Dr. Franz Landsberger (1883-1964) die Direktionsgeschäfte. Ihm ging es darum, „durch private Zuwendungen eine Erweiterung des Museums möglich" zu machen. „Nicht an die Fortziehenden allein" wollte sich der neue Direktor wenden, „sondern auch an die jüdischen Gemeinden, die jetzt aufgelöst werden müssen, ihr Urkundenmaterial, ihre Kultgeräte dürften dem Museum wertvolle Bereicherung bringen." 6 Wenn wir die Entwicklung des Museums in den folgenden Jahren betrachten, in einer Zeit, in der sich die Bedingungen für die deutschen Juden immer mehr verschlechterten, so können wir feststellen, daß für diese Institution dasjenige Maxime war, was für so viele Gemeindeeinrichtungen galt und was Ismar Elbogen in dem von ihm im Jahre 1937 nach langjähriger Pause herausgegebenen „Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur" folgendermaßen formulierte: „Wir stehen neuen Kulturaufgaben gegenüber [...] Man ist versucht an das Bibelwort zu denken ,Leben und Tod lege ich vor Dich - wähle das Leben'!" 7 Vom Januar 1936 bis zum März 1938 veranstaltete das Museum allein 14 Sonderaus Stellungen; zu vielen erschienen Kataloge. Die wichtigsten Ausstellungen in der Geschichte des Museums waren die Don Jizchaq Abrabanel- und die Akiba Eger-Ausstellung, die 1937 stattfanden. Ihre Organisatorin war die Kunsthistorikerin Rahel Wischnitzer-Bernstein. Beide Ausstellungen folgten einer konzeptionellen Leitlinie; sie galten bedeutenden Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte, die den Ehrentitel Gaon (Fürst) trugen. Dennoch führten sie den Besucher in verschiede4 5 6 7
In: Bulletin des Leo Baeck Instituts Nr. 53/54 (Tel Aviv 1977/78), S. 125. Jüdisch-liberale Zeitung (24.4.1934). C.V.-Zeitung (6.6.1935), 2. Beiblatt. Ismar Elbogen: Zum Geleit. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur (Berlin 1937), S. 8.
Das Berliner Jüdische Museum (1933
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ne Welten. Die eine Ausstellung zeigte den sefardischen Kulturkreis und war dem Weltmann Abrabanel (geb. 1437) gewidmet, der in die große Politik eingegriffen hatte, die andere, dem 100. Todestag des vornehmlich in Posen wirkenden Rabbiners Akiba Eger geltend, führte in die vergleichsweise enge Welt des aschkenasischen Judentums. Die Einheit in der kulturellen Mannigfaltigkeit wurde durch die beabsichtigte Vorbildwirkung bestimmt, denn die beiden Großen waren durchdrungen von tiefster Religiosität; sie hatten sich mit all ihren Kräften für die jüdische Gemeinschaft eingesetzt. Das Jahr 1937 brachte dem Museum eine Reihe wichtiger Neuerwerbungen, darunter Sabbat Nachmittag von Moritz Daniel Oppenheim. Unbeirrbar weiterarbeitend, plante Landsberger für die Zeit nach der Sommerpause 1938 neue Ausstellungen. Noch im Oktober jenes Jahres rief das Museum dazu auf, für eine Schau, die dem 75. Todestag des Berliner Rabbiners Michael Sachs (im Januar 1939) gewidmet sein sollte, Material zur Verfügung zu stellen. Zu dieser Ausstellung ist es, ebenso wie zu der von Landsberger vorgesehenen Schau „Jüdische Künstler erleben die Bibel", nicht mehr gekommen. Zum letztenmal, und zwar am 6. November 1938, stellte der Direktor des Berliner Jüdischen Museums Schenkungen von Kultgeräten in Form eines Artikels im Gemeindeblatt vor. „Aus der Fülle der Gaben", die dem Museum zukamen, wählte Landsberger die wichtigsten für seinen Aufsatz aus. Der Novemberpogrom setzte dem Museum, wie den meisten jüdischen Organisationen, ein jähes Ende. Die Bestände sind zum größten Teil verlorengegangen. Lediglich die Bildersammlung, die heute über die ganze Welt verstreut ist, hat überdauert. Über dieses Wunder hat Franz Landsberger im Dezember 1946 in der Emigrantenzeitschrift „Aufbau" berichtet. Mein Vortrag sollte dazu dienen, sich dieser Gemeindeinstitution zu erinnern, die den Verhältnissen, solange es ging, widerstand. Das Museum wirkte durch seine Leistungen auf den Gebieten der Traditions- und Kunstpflege belehrend und vermittelte Anregungen; das Bemühen dieser Institution war darauf gerichtet, Lebensmut und Widerstandswillen der Gemeinschaft zu stärken.
Walter Grab (Tel Aviv)
Der Kreis für fortschrittliche Kultur in Tel Aviv
(1942-1946)
In den letzten Monaten des Jahres 1941, als die Nazis auf dem Gipfel ihrer Triumphe standen, konstituierte sich in Tel Aviv auf Initiative des aus Berlin stammenden Journalisten Ernst Kuttner ein deutschsprachiger Literaturzirkel, der zunächst aus sechs oder acht jungen Leuten bestand. Kuttner war einer der Redakteure des Tel Aviver Käseblättchens „Blumenthals Neueste Nachrichten", das damals hektographiert erschien und Einwanderern aus Deutschland und Österreich als eine Art Zeitungsersatz diente. Mitte Januar 1942 rückte Kuttner in dieses Blatt ein Inserat ein, in dem er mitteilte, daß sich ein aus jungen Menschen bestehender deutscher Literaturkreis gebildet habe. Wer ihm beitreten wolle, möge sich an einem der nächsten Abende an einer Privatadresse einfinden. 1 Dieses Inserat erregte meine Aufmerksamkeit. Ich war schon während meiner Schulzeit in Wien an klassischer Literatur interessiert, wollte mich von der anerzogenen Kultur nicht lösen und empfand es schmerzlich, mich der Muttersprache schämen zu müssen, weil sie - zu Recht oder Unrecht - als Sprache der Verbrecher und Mörder verfemt war. Ich fand mich an dem im Inserat angegebenen Ort ein und Schloß mich dem Literaturzirkel an, dessen Teilnehmerzahl in den nächsten Wochen auf etwa 30 Personen anwuchs. Die wöchentlichen Vortragsabende ermöglichten jungen vertriebenen Menschen mit kulturellen Ansprüchen, die aus ihrem geistigen Wurzelboden herausgerissen waren, das Kennenlernen von Gesprächspartnern, vielleicht auch späteren Ehepartnern. Ohne daß es allen bewußt war, bedeutete der Besuch dieses deutschen Literaturzirkels eine gewisse Distanzierung vom tonangebenden hebräischen Establishment. Denn Gelegenheit, literarisch und kulturell tätig zu sein, gab es ja in Tel Aviv in hebräischer Sprache reichlich - etwa die beliebten gemeinsamen Liederabende oder die wöchentliche „Gesprochene Zeitung", die in einem Dieser Beitrag stützt sich teilweise auf den gleichnamigen Aufsatz, den ich in der Zeitschrift „europäische ideen" (Heft 47, Berlin 1980, S. 49-51) sowie auf den Aufsatz Arnold Zweig und der Kreis für fortschrittliche Kultur. Erinnerungen an die Jahre 1942 bis 1945, den ich im Sammelband Arnold Zweig. Materialien zu Leben und Werk (Hrsg. v. Wilhelm von Stemburg, Fischer-Taschenbuch 6876, Frankfurt 1987) S. 73-79 veröffentlicht habe.
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Kinosaal stattfand und wo Journalisten und Politiker - oder die es werden wollten - ihre Weisheiten und politischen Prognosen auftischten. Man muß die Umstände im britischen Mandatsgebiet Palästina kennen, die während der zweiten Kriegshälfte herrschten, als der Tel Aviver Kulturzirkel seine Blütezeit erlebte. Der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 löste in der gesamten jüdischen Bevölkerung eine gewaltige Sympathie für das Heldentum der Russen aus, die als einzige Kontinentalmacht dem Ansturm der faschistischen Mörderbanden standhielten. Der japanische Überfall auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung zogen zwar die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 in den Krieg; es dauerte aber über ein Jahr, bis die amerikanische Rüstung auf Hochtouren lief. Inzwischen feierte Hitlers Lieblingsgeneral Rommel mit seinen Wüstenfüchsen Triumphe an der libyschen und ägyptischen Küste und kam Palästina bis auf 500 km Luftlinie nahe. Von Norden stürmten die Naziheere bis zum Kaukasus vor, dessen Ölfelder sie im Sommer 1942 besetzten; der eiserne Zangengriff, mit dem die Faschisten den Mittleren Osten zu umklammern suchten, schien sich zu schließen. Gleichzeitig gelangten die ersten Schreckensmeldungen über die Errichtung von Vernichtungslagern in Polen und über den beginnenden Massenmord an Juden nach Palästina. Und in dieser verzweifelt anmutenden Situation suchten junge, dem Naziterror entronnene Juden in der zionistischen Heimat geistige Zuflucht bei den Schätzen der deutschen Klassik. Kuttner war glühender Verehrer Goethes und rezitierte bei den ersten Literaturabenden, denen ich beiwohnte, mehrere seiner lyrischen Gedichte. Dieser ästhetische Eskapismus war jedoch angesichts der welterschüttemden Ereignisse, die alle in ihren Bann zogen, nicht aufrechtzuerhalten. Als die Teilnehmer der Debatten, die sich am Ende der wöchentlichen Referate entspannen, immer lautstärker politische Kost verlangten, mußte der Begründer des Goethe-Zirkels seinen Platz als Vorsitzender räumen. Einige Monate lang bildeten Kuttner, ich und der aus Stuttgart gebürtige Leo Teuchsler eine Art Triumvirat in der Leitung des Zirkels. Teuchsler war ein feinsinniger, guter Literaturkenner, der auch in Graphologie und Psychoanalyse bewandert war. Als sich herumsprach, daß der Literaturzirkel sich stärker politisch orientierte, stieg die Teilnehmerzahl an. Wir verlegten die wöchentlichen Zusammenkünfte in das zentral gelegene Kaffeehaus Rafael, dessen Inhaber bereit war, uns das geräumige Hinterzimmer zur Verfügung zu stellen, wenn jeder Anwesende etwas konsumierte. Dorthin kamen zu den Vorträgen etwa fünfzig oder sechzig Besucher, auch einige mittleren Alters, obwohl die meisten keine dreißig Lenze zählten. Mitte 1942, nach dem Ausscheiden Kuttners, nahm der Literaturzirkel - der es niemals zu einem „eingetragenen Verein" mit Statuten und Mitgliedsbeiträgen brachte den Namen „Kreis für fortschrittliche Kultur" an.
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Eines der aktivsten Mitglieder unseres Zirkels war Hans Rosenthal, der 1934 in Palästina eingewandert war und sich jahrelang als Landarbeiter in Pardessim (Orangenhainen) durchgeschlagen hatte. Rosenthal, der 1906 in Stettin geboren und daher etwas älter als die meisten von uns war, besaß starke dichterische Begabung. Er hatte schon vor seiner Auswanderung einige Kurzerzählungen und Gedichte zu Papier gebracht, in denen er das Elend der Arbeitslosen in der Wirtschaftskrise darstellte und seiner Sehnsucht nach einer von Ausbeutung und sozialem Unrecht befreiten Welt Ausdruck gab. Im Jahre 1944 veröffentlichte er die Lieder und Gedichte, die er als Landarbeiter in Palästina verfaßt hatte. Dieses schmale Bändchen mit dem Titel Pardess, das eine Ahnung von der bitteren Not des Landproletariats und von der unseligen Spannung zwischen den jüdischen und arabischen Arbeitern vermittelt, ist fast die einzige Publikation Rosenthals geblieben. Er lernte in unserem Zirkel die aus Berlin stammende Lotte Freyer kennen, die Tochter eines Kunsthistorikers, und heiratete sie. Der Ehe entsprossen zwei Söhne; der jüngere kam im Juli 1950 zur Welt, wenige Tage bevor Hans Rosenthal im Alter von nur 44 Jahren an Krebs starb. In seinem literarischen Nachlaß, der im Besitz seiner Witwe ist, befinden sich einige Essays und kleine Novellen sowie etwa fünfzig Gedichte, von denen ich heute einige vortragen werde; sie sind bisher in Deutschland völlig unbekannt.2 Einige Dichtungen Rosenthals lassen erkennen, daß er die humanistischen und weltbürgerlichen Ideale der deutschen Klassik mit seiner sozialistischen Weltanschauung und mit der jüdischen Tradition zu verbinden versuchte. Er betonte die fortschrittlichen und volksverbundenen Tendenzen von Religion und Geschichte des Judentums, so etwa im Gedicht Bethar, das dem Zyklus seiner jüdischen Sonette angehört. Dort besang er die heldenhaften jüdischen Freiheitskämpfer, die sich zur Zeit des Kaisers Hadrian, zwei Generationen nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, unter dem Feldherrn Bar Kochba gegen die Römerherrschaft erhoben und in der Festung Bethar der feindlichen Übermacht unterlagen. Bethar Das war die letzte Feste einer Schar von Bauern, Tischlern, Schustern, die inmitten vom Feind besetzter Bastionen stritten, und denen „Gott" ihr Kampf- und Schlachtruf war.
Hans Otto Horch, den ich auf die Dichtungen von Hans Rosenthal aufmerksam gemacht habe, plant eine kommentierte Ausgabe seiner ausgewählten Gedichte und Prosaarbeiten. Ich danke Kollegen Horch für die Beschaffung von Unterlagen für den vorliegenden Beitrag.
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aber, das war Freiheit, das war Land! war Ermäßigung der hohen Steuern! Drohung denen, die das Brot verteuern! echte Freundschaft, die das Volk verband!
Wer ihrem Frieden nicht zu nahe kam, wer ihnen kein's von ihren Rechten nahm und sie beließ im Glauben ihrer Väter ... der war ihr Freund. Sie bauten ihre Dämme nur gegen Rom. Nicht gegen Nachbarstämme! Nur, wer mit Rom paktierte, war Verräter!
Dieses Gedicht besaß bei seiner Entstehung 1942 sehr aktuelle Bedeutung, denn zur Zeit der Bedrohung Palästinas durch Rommels AfrikaKorps schmiedete die zionistische Untergrundarmee Haganah Pläne, bewaffneten Widerstand zu leisten, wenn deutsche Truppen das Land erobern sollten. Mit dem Hinweis des Gedichts, daß die jüdischen Kämpfer der Antike nicht gegen Nachbarstämme, sondern nur gegen Rom Krieg führten, deutete Rosen thai an, daß der Kampf der Zionisten nur gegen die Nazis, nicht jedoch gegen die palästinensischen Araber gerichtet sein sollte. Andere Sonette Rosenthals verherrlichten jüdische Partisanen, die hinter der Ostfront Sabotageaktionen gegen deutsche Truppentransporte durchführten und sich dabei Juda Makkabi, den biblischen Widerstandskämpfer gegen Knechtschaft und Unterdrückung, zum Vorbild nahmen. Wilna Zwar - Wilna hat der Zug bereits passiert. Jedoch sein Ziel - er wird es nicht erreichen. Der Damm gibt nach, gespenstisch klirrn die Weichen, der Zug sackt polternd ab und explodiert. Es waren Juden, die dies Werk vollbrachten, Guerillas, die sich Makkabäer nannten. Wieviele Deutsche sie ins Jenseits sandten wieviele Züge sie unbrauchbar machten Wir wissen's nicht. Es ward uns diese Kunde vom Feinde, der uns grinsend breit erzählte, wie er sie fing, wie er sie grausam quälte: „Die Leiber aber warf man vor die Hunde." Das sind die wahren Makkabäererben, die hassend kämpfen, und die kämpfend sterben.
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Rosenthal war Verehrer Heinrich Heines und kannte einige von dessen politischen Gedichten und Hebräischen Melodien auswendig. Es faszinierte ihn, mit welcher Kunst Heine jüdische Traditionen in seine Dichtungen einflocht und die Unvereinbarkeit seiner Liebe zu Deutschland und seiner Zugehörigkeit zum Judentum poetisch auszudrücken vermochte. Rosenthals Gedicht Heine lautet: Heine Er war ein Deutscher, und ein Jude war er, Und was er schrieb, trägt zweierlei Gesicht. Das eine sieht die Welt in hellem Licht, das andre leuchtet in unendlich klarer, verzückter Poesie. Und wo sie beide in einem Liede sich zusammenfinden, da klafft ein Spalt, zu tief, ihn zu ergründen, da bangt das Herz vor soviel Herzeleide. Doch wie er litt - in stetem Hoffen litt er. Das Lied, das er vom düstern Heute sang, ist stets ein Lied, das kühn ins Morgen weist. Er war ein Deutscher, und für Deutschland stritt er. Die schärfste Waffe aber, die er schwang, die war sein Geist, sein scharfer Judengeist.
Zu den besten Schöpfungen Rosenthals gehören die beiden Gedichte, die er ironisch „den Rilkeanern" widmete. In der Zwischenkriegszeit war Rainer Maria Rilkes von Todessehnsucht getragene lyrisch-hymnische Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke bei der literarisch interessierten Jugend Deutschlands außerordentlich beliebt. Diese elegische Dichtung war Rosenthal widerwärtig, weil sie das Soldatentum verherrlichte und mit mystischer Symbolik und Metaphorik verbrämte. In einem Sonett, das die romantisierende Klangfärbung von Rainer Maria Rilkes Versen ebenso kunstvoll wie ironisch nachahmte, verwandelte er den Cornet Christoph Rilke, der im 17. Jahrhundert beritten gegen die Türken zu Felde gezogen war, in einen Nazisoldaten, der als Lenker eines Vergasungswagens den Befehl vollzieht, jüdische Kinder zu ermorden.
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Der Cornet an der Ostfront als Lenker eines Gaswagens Fahren, fahren in die Nacht hinein, und die Hand am Rad, aus Terebinthenholz gedreht, und Luft wie Hyazinthen weht vom Wagen her, der wie ein Schrein hoch und ragend auf den Achsen steht, und in dessen Innern Kinder beten, die mit aufgetanen, wehen, späten Augen spähn, wie einer, der vergeht. Schwinden können, ohne Sinn, gleich jenen, träumt der Lenker, und er drückt voll Sehnen auf den Knopf, und spürt, wie Gase rinnen, und er jagt gehetzt durch Tal und Hügel ... und dann öffnet er die Wagenflügel ... und es schlägt ein großer Glanz aus innen ... Auch im zweiten Sonett über den Cornet an der Ostfront verhöhnte und entlarvte Rosenthal die sentimentale Gefühlsseligkeit Rainer Maria Rilkes, dessen Dichtungen vor der Brutalität der sozialen und politischen Konflikte in ein Traumreich der Innerlichkeit flüchteten und den Kult der Ästhetik zelebrierten:
Der Tod des Cornet Schneeverwehte Wege ... und im Schnee abgehauene Telegraphenstangen. Bauern, starren Blicks, an Bäumen hangen, und die Augen blauen wie ein See, der in einem stillen Felsentale in der Abenddämmerung erglänzt, und die Stirnen sind mit Eis bekränzt, und wie Purpur tropfen Wundenmale. Frost frißt klirrend, ohne Sinn und Ende, Frißt das Denken ... und das Herz ... die Hände ... Ah ... zwei Hände weniger wäre Gunst ... Hufgeklapper ... Partisanensäbel bohren sich in ihn wie Schwanenschnäbel, und es strahlt wie eine Wasserkunst.
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In der zweiten Jahreshälfte 1942, als die Schlacht um Stalingrad begann, verstärkte unser Kulturkreis die linke politische Tendenz, indem die meisten Mitglieder in die Liga V (Victory) eintraten, die ehrenamtliche und freiwillige Spendenaktionen zugunsten der Roten Armee durchführte; die gesammelten Gelder dienten zum Ankauf von Medikamenten und einer mit einem Operationstisch ausgestatteten fahrbaren Ambulanz, die nach Iran transportiert und den dort stationierten Sowjettruppen übergeben wurde. Die Liga V veranstaltete auch Demonstrationen und öffentliche Versammlungen, die zur Errichtung einer Zweiten Front aufriefen. Im April 1943 hielt ich in unserem Kulturkreis einen Vortrag anläßlich des 75. Geburtstags von Maxim Gorki, und einige Mitglieder lasen Kurzgeschichten des großen russischen Schriftstellers vor. Ein anderer Abend war dem Reichstagsbrandprozeß gegen Dimitroff gewidmet, über den damals eine Dokumentensammlung aus Moskau zu uns gelangte. Diese Literatur erhielten wir über die neugegründete Zeitungsagentur Lepac, die Levant Publishing Company, die uns auch mit den in Moskau monatlich erscheinenden „Deutschen Blättern" der „Internationalen Literatur" versorgte. In dieser Zeitschrift publizierte Bertolt Brecht sein großartiges Gedicht An die deutschen Soldaten im Osten, das wir im Kulturkreis rezitierten; wir verschlangen auch heißhungrig die literarischen Analysen Georg Lukäcs' und den unvergeßlichen Roman Stalingrad von Theodor Plievier, die in den „Deutschen Blättern" abgedruckt wurden. Eine andere Zeitschrift, die monatlich eintraf, war „Freies Deutschland", an der nach Mexiko geflüchtete Antifaschisten wie Anna Seghers, Egon Erwin Kisch und Ludwig Renn mitarbeiteten. Einer der erfolgreichsten Abende im Hinterzimmer des Cafe Rafael war ein „Öffentlicher Prozeß" gegen die hebräischen Chauvinisten, die Anschläge auf deutschsprachige Zeitungen verübten. Dabei handelte es sich natürlich nicht um Naziblätter - die ja während des Kriegs ohnehin nicht nach Palästina gelangten - , sondern um das anfangs erwähnte Tel Aviver Käseblättchen und um die antifaschistische Wochenschrift „Orient", die von dem ehemaligen Mitarbeiter der „Weltbühne", Wolfgang Yourgrau, herausgegeben wurde und an der der in Haifa lebende Schriftsteller Arnold Zweig mitarbeitete.3 Der „Orient" wurde teilweise von Dr. Arnold Czempin finanziert, der Mitinhaber des großen Lampengeschäfts „Goldschmidt und Schwabe" in Tel Aviv war und dem es wirtschaftlich bedeutend besser als den meisten von uns ging. Czempin war eine Zentralfigur des literarischen deutschen Emigrantenlebens in Tel Aviv. 1887 geboren, war er dreißig Jahre älter 3
Die „Unabhängige Wochenschrift Orient" wurde 1981 als Band 14 der „Exilliteratur" von Hans-Albert Walter und Werner Berthold im Gerstenberg-Verlag Hildesheim als Reprint herausgegeben.
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als die Mitglieder des „Kreises für fortschrittliche Kultur", nahm aber gelegentlich an unseren Zusammenkünften teil. Er war promovierter Kunsthistoriker und hatte sich in Deutschland auch jahrelang als Schauspieler betätigt; in der Weimarer Republik war er mit dem kommunistischen Autor und Regisseur Gustav von Wangenheim befreundet, war Mitglied von dessen Schauspiel-„Truppe 1931" und trat im politischen Lehrstück Die Mausefalle auf. 4 Czempin war ein glänzender Rezitator und trug einmal in unserem Kulturkreis die politischen Gedichte Bertolt Brechts mit Feuer und Begeisterung vor. In unserem Kreis wurden die Aufsätze der unabhängigen Wochenschrift „Orient" eifrig debattiert, die sich die einstige Berliner „Weltbühne" zum Vorbild nahm und in einer Auflage von weniger als tausend Exemplaren etwa ein Jahr lang, bis zum April 1943, erschien. Yourgrau, der die Leitartikel verfaßte, verstand es, eine Anzahl linksstehender Journalisten, die nach Palästina ausgewandert waren, als Mitarbeiter zu gewinnen und dem Journal ein einigermaßen einheitliches Gesicht zu geben. Die radikal-demokratische Kompromißlosigkeit des „Orient", die den Kampf gegen die Nazis als wichtigste Aufgabe propagierte, den .Schollenpatriotismus' und .Provinzialismus' der nationaljüdischen Bewegung ablehnte und die Verdrängung der arabischen Bevölkerung kritisierte, machte die Zeitschrift zur Zielscheibe all jener politischen Kräfte, denen sowohl die deutsche Sprache als auch die linke Tendenz des Blattes verhaßt war. Arnold Zweig veröffentlichte seine Essays regelmäßig im „Orient", bis zum gewaltsamen Ende dieser Publikation durch ein von Nationalisten verübtes Sprengstoffattentat auf die Druckerei.5 Wie bereits erwähnt, reagierte unser Kulturkreis mit einem „Öffentlichen Prozeß" auf diesen Anschlag. Leo Teuchsler fungierte bei diesem Tribunal gegen die Bombenleger als Angeklagter, ein anderes Mitglied unseres Kreises, der heute in Ostberlin lebende Schriftsteller und Reporter Rudolf Hirsch, als Staatsanwalt. Andere Teilnehmer spielten die Rollen von Richtern, Zeugen und Verteidigern; das übrige Publikum bildete die Geschworenen und sprach das Urteil. Im Herbst 1944 erweiterte sich der „Kreis für fortschrittliche Kultur" dermaßen, daß wir einen etwa hundert Personen fassenden Saal, das „Beth Israel", mieten mußten. Dieser Saal konnte durch das Hinwegräumen einer Schiebewand auf das Doppelte vergrößert werden. Um die Mietkosten zu zahlen, die Einladungen drucken zu lassen und zu frankieren und Vortragende, die nicht unserem Kreis angehörten, honorieren zu können, mußten wir Eintrittsgebühren erheben und hatten einige Mal Defi-
5
Vgl. Arnold Chempin (sie!): Mein Repertoire. Privatdruck, o.O., o.J. [New York, etwa 1969], S. 122-127. Vgl. Hans-Albert Walter: Orient. In: Ders., Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 4: Exilpresse. Stuttgart 1978, S. 679-733.
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zite, die wir aus eigener Tasche deckten. Vom September 1944 bis zum Mai 1945 veranstaltete der „Kreis für fortschrittliche Kultur" im „Beth Israel" zwanzig Vortragsabende. Unter den Referenten und Rezitatoren befanden sich Wissenschaftler und Künstler, die in der Weimarer Republik bekannte Namen besessen hatten. Zu ihnen gehörte der Germanist und Büchnerforscher Paul Landau, der über den „Umschwung in der Kunst der Gegenwart" sprach; der Kunsthistoriker Kurt Freyer - der Schwiegervater Hans Rosenthals - , der Lichtbildervorträge über Michelangelo und Rembrandt hielt, der Schauspieler Friedrich Lobe, der Gedichte Goethes, Schillers und Heines sowie Ein-Mann-Szenen Arthur Schnitzlers vortrug, und der Komiker Hermann Valien tin, der Erinnerungen an Max Reinhardt erzählte. Wir luden auch den in Jerusalem lebenden, aus Prag stammenden Schriftsteller Louis Fürnberg ein, der als Bänkelsänger auftrat und sich selbst am Klavier begleitete, während er Lieder, Songs und Moritaten „von Francis Villon bis Bertolt Brecht" rezitierte und sang. Ich selbst hielt einen Vortrag über den „Einfluß der Orientalistik auf die Poesie Friedrich Rückerts" und rezitierte zwei Makamen des Hariri, die Rückert ins Deutsche übertragen hatte; Leo Teuchsler sprach über die Bedeutung Shakespeares für die Gegenwart. Auf Vorschlag Arnold Czempins luden wir auch Arnold Zweig zu uns ein. Ich hatte den berühmten Schriftsteller, der in Haifa auf dem Berg Carmel lebte, schon zwei Jahre zuvor, im Mai 1942, zu Gesicht bekommen. Er nahm an einer Versammlung teil, die von der Liga V organisiert war und zur Errichtung der Zweiten Front aufrief. Während bei dieser Kundgebung im Esther-Kino in Tel Aviv alle anderen Redner hebräisch sprachen, sollte Zweig, der das Hebräische nur mangelhaft beherrschte, auf Deutsch zur Hilfe für die Sowjetunion aufrufen. Kaum hatte Zweig zu sprechen begonnen, als einige Dutzend mit Steinen und Brecheisen bewaffnete Rowdies in den Kinosaal stürmten. Sie begannen die Einrichtung zu zertrümmern und riefen - natürlich auf Hebräisch - , daß sie es nicht zuließen, eine Versammlung in Hitlers Sprache in Tel Aviv abzuhalten. Einer der chauvinistischen Fanatiker stieß Zweig vom Rednerpult; die Brille fiel dem fast blinden Schriftsteller von der Nase, und er flüchtete blaß und zitternd in eine Ecke, offenbar in Furcht, zusammengeschlagen zu werden. Die Kundgebung wurde gesprengt, und als endlich Polizei eingriff und der Schlägerei ein Ende setzte, mußten einige Verletzte in Krankenhäuser geschafft werden.6 Beim Vortrag, den Zweig in unserem „Kreis für fortschrittliche Kultur" hielt, sprach er über die politische Funktion der Literatur und gebrauchte dabei den Ausdruck „Kollege Shakespeare", was wir nicht als 6
Vgl. den Brief von Arnold Zweig an Lion Feuchtwanger vom 20.2.1943. In: Lion Feuchtwanger Arnold Zweig: Briefwechsel 1933-1958. Bd. 1. Aufbau Verlag Berlin 1984, S. 276-279, hier S. 278.
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waren. Der Schriftsteller bezeichnete sein Stück selbst als „antifaschistisches Schauspiel" 10 und deutete damit die Ähnlichkeit der Erschießung der ahnungslosen und unschuldigen türkischen Kriegsgefangenen anderthalb Jahrhunderte zuvor mit dem millionenfachen Judenmord der Nazis an. Bonaparte, der seine Karriere der Französischen Revolution verdankt, hat ihre menschheitsbefreienden Ideale verraten und ist zu einem Mörder hinabgesunken. Ihm stellt Zweig die (erfundene) Gestalt des Armeearztes Desgenettes gegenüber, der die Gefangenen retten will und vergeblich an das Gewissen des egoistischen und machthungrigen Feldherrn Bonaparte appelliert. Zweig suchte das Schauspiel philosophisch zu überhöhen, indem er Desgenettes die Worte in den Mund legte: „Der Weltgeist weiß, daß General Napoleon Bonaparte, sein Heer und Frankreich mit dem Schicksal der türkischen Kriegsgefangenen in einen Knoten geknüpft ist." 11 Der Befehl zu ihrer Erschießung demoralisiert also die französischen Truppen dermaßen, daß der Feldzug zum Scheitern verurteilt ist. Bei der Tel Aviver Aufführung des Stücks spielte der Schauspieler Karl Guttmann den Feldherrn Bonaparte. Er stammte aus Bielitz in Oberschlesien, hatte bei Max Reinhardt studiert und war mit der polnischen Armee des Generals Anders über die Sowjetunion nach Palästina gekommen. 12 Arnold Czempin übernahm die Rolle des Arztes Desgenettes. Die einzige Frauenrolle des Stücks las die Gastgeberin Stella Kadmon. Ich selbst las die Rolle von Bonapartes Generalstabschef Berthier und hatte außerdem die Aufgabe, die Regieanweisungen anzusagen. Über hundert Hörer wohnten der Aufführung bei. Arnold Zweig und seine Frau hatten Ehrenplätze in der ersten Reihe, und es war zu erkennen, wie glücklich der Dichter war, daß sein Stück, das er zuvor vergebens hebräischen Bühnen zur Übersetzung und Aufführung angeboten hatte, in der Originalsprache vorgetragen wurde. Es war das letzte Mal, daß ich den Dichter sah. Seit dem Kriegsende schmolz unser Kreis zusammen. Etwa 25 Teilnehmer trafen sich noch wöchentlich in Privatwohnungen bis Mitte 1946. Einige kehrten damals nach Deutschland und Österreich zurück, andere wanderten in die Vereinigten Staaten und anderswohin aus, während wieder andere sich in die hebräische Umgebung einzugliedern begannen. Im November 1947 wanderte Arnold Czempin in die USA aus, wo er noch dreißig Jahre lebte. Arnold Zweig kehrte im Juni 1948, kurz nach Errichtung des Staates Israel, nach Deutschland zurück. Wolfgang Yourgrau nahm nach dem Krieg seine akademische Laufbahn wieder auf. Er ging dann nach Amerika und starb 1979 als Physikprofessor an der Universität Denver. Stella Kadmon kehrte nach Österreich zurück und schuf die Kleinkunstbühne im Cafe Prückl am Wiener Schubertring, die sie bis zu ihrem 10 11 12
Ebd., S. 321. Bonaparte in Jaffa (Anm. 8), 1. Akt, 7. Szene, S. 504. Vgl. A. Czempin (Anm. 4), S. 183f.
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