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German Pages 396 [394] Year 2017
CLEAR THE AIR
AIR
KÜNSTLERMANIFESTE SEIT DEN 1960er JAHREN
Edit ion Kult urwissensch a ft
Burcu Dogramaci und Katja Schneider (Hg.)
CLEAR THE
INHALT
9
„Clear the Air“. Zur Aktualität von Manifesten als Kunstform BURCU DOGRAMACI & KATJA SCHNEIDER
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Yes! Das Manifest als künstlerische Praxis GABRIELE BRANDSTETTER
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Vom Fragment zum Manifest. Das No Manifesto von Yvonne Rainer in seinem medialen Kontext ISA WORTELKAMP
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Szenen der Entleerung und Transgression. Reflexionen zu Yvonne Rainers No Manifesto SABINE HUSCHKA
71
Choreographie als transmediale Denkfigur: Zur Verflüssigung in Yvonne Rainers performativen ((Trio A) und textuellen (No Manifesto) Arbeiten der 1960er Jahre NICOLE HAITZINGER
81
Manifestationen. Das ‚Nicht‘ des Tanzes und die Inszenierung der Tanzforschung CONSTANZE SCHELLOW
99
Saum der Zeit. Das Manifest als paradoxe Sprachhandlung HANS-FRIEDRICH BORMANN
5
117
Verba volent, scripta manent. Die Manifeste der Münchner Künstlergruppe SPUR EVA HUTTENLAUCH
137
Geste statt Gehalt. Die Pandämonischen Manifeste von Eugen Schönebeck und Georg Baselitz PAY MATTHIS KARSTENS
155
„Give up Art!“ Manifeste der Kunstverweigerung JUDITH ELISABETH WEISS
173
Yael Bartanas A Manifesto. Widerständigkeit und Entgrenzung der Kunst CHARLOTTE KLINK
193
„The world cannot function in the long run without Surrealism.“ Manifeste und Manifestationen neo-avantgardistischer Aktionskunst in Polen und der Sowjetunion nach 1975 MICHA BRAUN
213
dramAcum. Manifestationen eines unmittelbaren Theaters im posttotalitären Rumänien im Kontext der historischen Avantgarde KATHARINA KEIM
231
Manifeste der Migration. Von Kanak Attak zum Manifest der Vielen BURCU DOGRAMACI
6
249
Credo, Manifest und Künstlerbuch. Pina Bauschs Programmhefte für das Tanztheater Wuppertal CHRISTOPH BENJAMIN SCHULZ
271
„We have a problem“. Manifest, Ökonomie und Ökologie im 21. Jahrhundert KATJA SCHNEIDER
289
Filmgeschichte in Flammen. Manifeste für ein Museum des Films FABIENNE LIPTAY
309
Architektur und Zukunft: Manifest – Theorie – Prognose STEPHAN TRÜBY
323
Kontingenzmaschine Kunst. Wie eine performative Filminstallation Manifeste(s) verhandelt BIRTE KLEINE-BENNE
347
Nägel mit Köpfen? Mehr oder weniger 95 Überlegungen zu digitalen Manifesten. Ein Essay NIC LEONHARDT
369
Autoren-/Autorinnenbiografien
379
Abbildungsverzeichnis
386
Register
7
BURCU DOGRAMACI & KATJA SCHNEIDER
„CLEAR THE AIR“. ZUR AKTUALITÄT VON MANIFESTEN ALS KUNSTFORM
Als die amerikanische Choreographin und Tänzerin Yvonne Rainer 1965 die Zeilen schrieb, die heute als No Manifesto firmieren, war es (noch) kein Manifest. Die berühmten, kurzen, mit „No to“ beginnenden Sätzen, die alles zurückwiesen, was bis dahin auf der Tanz- und Theaterbühne üblich gewesen ist, waren Teil eines längeren programmatischen Textes Rainers, veröffentlicht 1965 in The Tulane Drama Review. Retrospektiv und als Zuschreibung bekam Rainers Statement, von dem sie ebenfalls im Rückblick verlauten ließ, es wäre nie zur praktischen Umsetzung gedacht gewesen, sondern habe lediglich die Luft klären sollen, den Titel No Manifesto. Dieser nicht nur für den Tanz folgenreiche Text, der in seiner Historiographie und pragmatischen Verwendung ebenso dargestellt wird wie in seiner Wirkmächtigkeit für choreographische Zugriffe bis heute, bildet den Ausgangspunkt für diesen Band. Yvonne Rainer, als Protagonistin des Judson Dance Theatre und Postmodern Dance bestens vernetzt mit ihren KollegInnen auch aus anderen Disziplinen, aus bildender Kunst, Performance Art und Musik, in den 1970er Jahren als feministische Filmemacherin verehrt und in den 1990er Jahren als Ikone konzeptueller Kunst gefeiert, arbeitete interdisziplinär
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und wurde interdisziplinär rezipiert, wie zuletzt die Retrospektive auf ihr Werk 2012 im Kunsthaus Bregenz und Museum Ludwig Köln zeigte. In Rainers No Manifesto zeichnet sich die konsequent intermediale Ausrichtung ihrer Arbeit ab. Die Radikalität, mit der sie Fragen aufwirft und überkommene Gewissheiten über Bord wirft, war eine Zäsur in der Geschichte des Tanzes. Zugleich manifestieren die einprägsamen Anaphern ihres Texts deutliche Handlungsanweisungen, die eine künstlerische Programmatik liefern, die als kunst- und institutionskritisches Manifest gelesen werden kann und gelesen wird. Mit ihren performativen Arbeiten wie auch ihren theoretischen Reflexionen eröffnet Yvonne Rainer Zugänge aus verschiedenen künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen. Dies wird dieser Band abbilden und Rainers No Manifesto als wichtigen Referenzpunkt in einer Theorie und Geschichte jüngerer Manifeste in Tanz, Choreographie, bildender Kunst und Film mehrfach beleuchten.
EINE KURZE KULTURGESCHICHTE DER MANIFESTE
Das frühe 20. Jahrhundert gilt gemeinhin als besonders produktive Phase der Manifeste: Futurismus, Expressionismus, Dadaismus oder Surrealismus flankierten ihre künstlerischen Produktionen mit wortreichen Statements, die durch Zeitungen, in Almanachen, Flugblättern oder auch performativ artikuliert wurden. Dass das frühe 20. Jahrhundert auch die Dekade der Künstlergruppen war, lässt sich mit diesen Bestrebungen nach textlicher Verankerung zusammen sehen. Eine Künstlergruppe oder ein künstlerischer Zusammenschluss subsummiert verschiedene KünstlerInnen und Positionen, denen das Manifest einen gemeinsamen Rahmen geben kann. Oft handelt es sich um Gründungsmanifeste, die der Gruppenbildung besonderen Nachdruck verleihen. Bei den Futuristen (und auch in späteren Manifesten) wird dieser Nachdrücklichkeit etwa durch Nummerierungen Betonung gegeben. Das Arbeiten in Gruppen als Akt der künstlerischen Vergemeinschaftung scheint indes gegenwärtig ebenso rückläufig zu sein wie die Zahl der Manifeste – in Alex Danchevs Quellensammlung 100 Artists’ Manifestos besteht ein quantitatives Verhältnis von 2/3 (erste
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Hälfte des 20. Jahrhunderts) zu 1/3 (zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts).1 Dennoch behielt das Manifest als künstlerische Ausdrucksform, die gleichwertig jeder anderen künstlerischen Handlung ist, und als textliche Erweiterung der Kunstproduktion auch in den vergangenen Jahrzehnten einen eigenen Stellenwert. Diese jüngeren Manifeste sind häufig Ausdruck für gesellschaftliche, politische und kunstkritische Positionierungen von Künstlerinnen und Künstlern; verwiesen sei hier nur auf Stanley Brouwns A Short Manifesto (1964) oder Gustav Metzgers Aufruf zu den Years without art (1974), denen, übrigens wie Yvonne Rainers No Manifesto, die Negation, das Nein-Sagen, also ein No-to, zu eigen ist. Manifeste argumentieren damit in Abgrenzung zum gesellschaftlichen Mainstream, zum Kulturbürger, zum normativen Kultur- und Gesellschaftsraum. Erst in der scharfen Trennung kann das Manifest seine Mission formulieren. Dies offenbart sich in den radikalen feministischen Kunstmanifesten, die nicht nur gesellschaftlichen Wandel einfordern, sondern auch die Kunst selbst als Institution in Frage stellen. So schreibt VALIE EXPORT 1973 in A Women’s Art. A Manifest (1972): „Art can be a medium for our self-determination, but only if we change art. This offers art new values. These values will change reality by means of the cultural symbolic process towards adaptation to feminine needs.“2 Erst wenn sich „Kunst“ (Produktion, Handel, Museum, Galerie …) durch andere Determinanten als den patriarchalen, männlichen Zugriff konstituiert, können Frauen „Kunst“ als Medium besetzen. Diese Forderung verdeutlicht, dass viele Manifeste nicht nur eine Veränderung im ästhetischen Denken und künstlerischen Handeln fordern, sondern eine radikale Umgestaltung von Welt und Umwelt beanspruchen. Gerade auf der Basis dieses politischen Impetus ist es erstaunlich, dass Manifeste der jüngeren Gegenwart bislang viel weniger erforscht sind als die Manifestationen der Moderne. Die Publikation Clear the air wagt eine Neubestimmung des zeitgenössischen Manifests und nimmt eine dezidiert interdisziplinäre Per1
Vgl. Alex Danchev (Hg.): 100 Artists’ Manifestos: From the Futurists to the Stuckists, London
2
VALIE EXPORTs Women’s Art. A Manifest (1972) entstand anlässlich der Ausstellung Magna.
2011. Feminismus: Kunst und Kreativität und wurde publiziert in: Neues Forum, Januar, Wien 1973. Hier zit. n. Valie Export: Das Reale und sein Double: Der Körper, Bern 1987, S. 24.
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spektive ein, die sich nicht nur aus der Präsenz von Manifesten in unterschiedlichen Kunstformen motiviert. Auch die Praktiken der Aufführung und Distribution von Manifestationen sind selbst disziplinübergreifend: Wenngleich Manifeste ihre Geburt, ihr Nachleben und ihre Rezeption fast ausschließlich durch den reproduzierten Text erfahren, sind sie als eine performative Praxis zu verstehen und dabei nicht nur eine Sprech-Handlung, sondern auch ein körperlich dargebotenes Ereignis. Die lautstarke Manifestation der Manifeste findet häufig in einer zeitlich und örtlich definierten Aktion statt; so wurden futuristische Manifeste 1910 als Flugblätter von einem Uhrenturm geworfen und 1913 aus einem Wagen heraus am Potsdamer Platz unters Volk gebracht.3 Das Flugblatt Avantgarde ist unerwünscht der Situationistischen Internationale wurde im Januar 1961 von der Gruppe SPUR in München verteilt.4 In datierbaren Lecture-Performances deklamierten Protagonisten der Fluxus- und Happening-Bewegung wie Allan Kaprow und Henry Flynt ihre manifestartigen Texte. Am 9. Juni 1962 etwa las Arthur C. Caspari anlässlich eines Fluxus-Konzerts in Wuppertal ein Manifest von George Maciunas. Im Februar 1962 wurde ein weiteres, im Offsetdruck vervielfältigtes Manifest von Maciunas beim Festum Fluxorum in Düsseldorf in die Menge geworfen.5 Diese Beispiele verdeutlichen den Konnex zwischen geschriebenem Text, gesprochenem Wort und Aktion und akzentuieren damit den theatralen Aspekt des Manifests. Besonders in den Manifesten von Happening- und Fluxus-Künstlern weichen die Grenzen zwischen Text und performativer Aktion auf. Wolf Vostells Manifest 1963, Wuppertal wurde als Teil des Happenings NEUN NEIN DÉCOLLAGEN vom 14. September 1963 verlesen und überdies 1970 als autonomes Manifest fak3
Vgl. Umbro Apollonio: Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1909–1918, Köln 1972, S. 18.
4
Vgl. Richard Hörner: Die Gruppe SPUR. Politische Manifeste einer Künstlergruppe, Wörth am Rhein 2014, S. 66.
5
Siehe Konzept, Aktion, Sprache. Pop-Art, Fluxus, Konzeptkunst, Nouveau Réalisme und Arte povera. Aus den Sammlungen Hahn und Ludwig, Ausst.-Kat. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Köln 2006, S. 182; Sarah Maske: Fluxus und die Manifeste von George Maciunas. Theoretische Basis, politische Stellungsnahme oder Werbemittel?, in: Fluxus at 50, Ausst.-Kat. Museum Wiesbaden, Wiesbaden, Bielefeld 2012, S. 172–185, hier S. 173, 178.
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similiert.6 Das performative Aussprechen der Manifeste und ihre Überführung in Aktion bedingen häufig die Notwendigkeit eines bestimmten räumlichen Umfelds, das Kunstort (Galerien, Museen), Bühne (Theater, Oper) oder ein anderer öffentlicher Ort (Straße, Platz) sein kann; Kostümierung und Schminke verändern die Akteure (so bei den Auftritten der Dadaisten im Cabaret Voltaire im Jahr 1916). Auch Wiederaufführungen von Manifesten sind nicht ungewöhnlich: Friedensreich Hundertwassers verschimmelungs-manifest gegen den rationalismus in der architektur wurde im Juli 1958 zunächst mehrfach an verschiedenen Orten vom Künstler selbst verlesen, am Ende des Monats noch einmal in der Wuppertaler Galerie Parnass von Pierre Restany vorgetragen.7 Diese Beispiele zeigen, dass Künstlermanifeste ihre Kraft vor allem entfalten in Momenten, in denen sie von handelnden Akteuren ausgesprochen, adressiert, proklamiert, aktiviert werden.
INTERDISZIPLINÄRE PERSPEKTIVEN AUF DAS MANIFEST
Es liegt also nahe, das zeitgenössische Manifest zugleich aus Perspektive der bildenden und der darstellenden Künste – in unserem Fall aus der des Tanzes, der Choreographie und der Performance Art – zu befragen. Dabei werden Parallelen, Divergenzen, Querverbindungen wie auch Interrelationen evident, die sich in der Ordnung der Texte in diesem Buch spiegeln. Leitend für die Konzeption der Publikation waren folgende Überlegungen: Das Manifest, ein Begriff, der aus dem lateinischen manifestus (für „deutlich“ oder „handfest“) herzuleiten ist,8 hat wie bereits ausgeführt verschiedene
6
Wolf Vostell: Happening & Leben, Neuwied 1970, [o. S.]. Siehe dazu: Hans-Edwin Friedrich: „lesen sie dieses manifest und décollagieren sie es“. Wolf Vostells Manifeste, in: Klaus Gereon Beuckers und Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Wolf Vostell. Dé-coll/age als Manifest – Manifest als Dé-coll/age. Manifeste, Aktionsvorträge, Essays, München 2014, S. 213–220, hier S. 213–216.
7
Vgl. Die Lesbarkeit der Kunst. Bücher – Manifeste – Dokumente, Ausst.-Kat. Kunstbibliothek,
8
Zur Etymologie des Begriffs und seinen sprachübergreifenden, vielfältigen Bedeutungen siehe
Staatliche Museen zu Berlin, Berlin, 1999, S. 68. Hubert van den Berg/Ralf Grüttemeier: Interpretation, Funktionalität, Strategie. Versuch einer intentionalen Bestimmung des Manifests, in: dies. (Hg.): Manifeste: Intentionalität, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 7–38, hier S. 19–21.
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Formen und Wege, um in die Welt zu gelangen: vom schriftlich formulierten und mehrsprachig wie länderübergreifend veröffentlichten Manifest über das gesprochene Manifest lassen sich Verbreitungswege über die Zeitung, die Postkarte (Beuys), das Buch, das Flugblatt, das Programmheft, den Film und das Video beobachten. Für die Gegenwart muss die Funktion digitaler Medien und sozialer Netzwerke für die Präsenz und Verbreitung des Künstlermanifests sicherlich stets mitgedacht werden. Grundsätzlich stellt sich vor der Folie der Manifeste in Geschichte und Gegenwart die Frage, wie sich Kunstpraxis und Kunsttext zueinander verhalten? Manifeste entstehen mitunter im Bewusstsein bereits existierender Manifeste, so dass sich durchaus von Genealogien der Manifeste sprechen lässt: Wie inspirieren sich Manifeste gegenseitig? Nachvollziehbar ist diese Filiation an Manifesten aus dem Umfeld von Fluxus: George Maciunas’ Manifest (1963, „Purge the world of bourgeois sickness …“) wird reflektiert und weitergedacht von Ben Vautier (Fluxmanifesto, 1965) und Joseph Beuys (Manifesto, 1970). Wie verbinden also Manifeste Künstler und ihre Überzeugungen? Die konzeptuelle Kunst setzt Kunst/Performance auch als oder an Stelle von Manifest. Inzwischen sind die Kategorien von Werk und Autorschaft relativiert worden, demgegenüber rückten Kollaboration, Kuratorenschaft, Agency sowie Partizipation in den Vordergrund. Damit stellt sich auch die Frage nach Funktion und Pragmatik von Manifesten in einem veränderten, globalisierten Kunstdiskurs. Und zuletzt: welche politische, gesellschaftliche und/oder künstlerische Relevanz hat das Manifest in der Gegenwart auch angesichts ökologischer Herausforderungen von globalen Migrations- und Fluchtbewegungen noch? Ist schon alles gesagt, geht nichts mehr – oder ist diese Kunstpraxis als politische Formulierung aktueller denn je? Darauf kann – nicht nur – auch eine aktuelle Videoinstallation des Medienkünstlers Julian Rosefeldt eine mögliche Antwort geben: Manifesto (2015) verwebt ein ganzes Konvolut von Auszügen aus Manifesten aus dem 19. bis 21. Jahrhundert, die vom Manifest der Kommunistischen Partei (1848) von Karl Marx und Friedrich Engels über Texte des Expressionismus, Futurismus, Surrealismus, der Minimal Art und Pop Art bis in die jüngste Gegenwart reichen. In 13 verschiedenen Rollen spricht, spielt und singt die Schauspielerin Cate
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Blanchett die Passagen aus ikonischen Manifesten, die jedoch nicht historisierend inszeniert, sondern szenisch in die Gegenwart übertragen sind. Dabei bietet Manifesto von Julian Rosefeldt mehrere Möglichkeiten der Lektüre und Deutung: so kann die Installation als Meta-Reflexion über die Aktualität und Aktualisierung von Künstlermanifesten gedeutet werden, oder Manifesto kann selbst den Nimbus eines neuen und visuell starken Künstlermanifestes erhalten.
EIN DANK
Dieser Sammelband ist die erweiterte Publikation der Tagung „Clear the Air“. Künstlermanifeste in Choreographie, Performance Art und bildender Kunst seit den 1960er Jahren, die von Access to Dance – Tanzbasis München in Kooperation mit dem Bayerischen Staatsballett, der LMU München (Institut für Kunstgeschichte / Institut für Theaterwissenschaft) und der Städtischen Galerie im Lenbachhaus vom 3. bis 5. Dezember 2015 in München stattfand. Wir danken Bettina Wagner-Bergelt (Bayerisches Staatsballett) für die gelungene Kooperation, ebenso Matthias Mühling und Eva Huttenlauch von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus. Zu danken ist auch den Förderern der Veranstaltung und Publikation: das Department für Kunstwissenschaften der LMU München unterstützte unser Vorhaben von Anbeginn. Wir danken auch unserem Lektor Thomas Betz für die gute Zusammenarbeit und Claas Möller für die schöne Gestaltung des Buches. Wir freuen uns, dass der transcript Verlag unser Publikationsangebot begeistert annahm. Der größte Dank gebührt jedoch den AutorInnen, die dieses Buch durch ihre inspirierenden Beiträge ermöglichten.
GABRIELE BRANDSTETTER
YES! DAS MANIFEST ALS KÜNSTLERISCHE PRAXIS
Am Beginn meiner Überlegungen zum „Manifest“ möge ein kurzer persönlicher Rückblick stehen. Bei der Vorbereitung dieses Texts habe ich meine nun schon über lange Jahre laufenden Fragen zum Manifest und zur Avantgarde Revue passieren lassen. Dabei erinnerte ich, dass ich im Jahre 2004 selbst ein Manifest verfasst habe. Ein Manifest für den Tanz.1 Im Kontext der Vorbereitungen des Tanzplans der Kulturstiftung des Bundes ging es mir darum, offene Fragen der Förderung und künstlerischen und wissenschaftlichen Zukunftsszenarien für den Tanz in Deutschland zu „manifestieren“.2 Das Manifest als Sprech-Akt, ein Sprech-Akt für den Tanz? Ob dies so wahrgenommen werden kann oder wurde, sei mit einem Fragezeichen versehen. Denn der Sprechakt des Manifests und die Wahrnehmung als Manifest können – darauf hat schon Joachim Schultz in seiner Untersuchung von 19813 hingewie-
1
Vgl. Gabriele Brandstetter: Intensive Suche nach einem neuen Denken. Ein Manifest für den Tanz, in: Theater der Zeit, Bd. 59, 2004, H. 12, S. 22–25; erstmals abgedruckt in: Magazin der Kulturstiftung des Bundes, 2004, H. 4, S. 34.
2
Vgl. Hortensia Völckers und Alexander Farenholtz: Editorial, in: Magazin der Kulturstiftung des Bundes, 2004, H. 4, S. 3.
3
Vgl. Joachim Schultz: Literarische Manifeste der „Belle Epoque“, Frankreich 1886–1909. Versuch einer Gattungsbestimmung, Frankfurt am Main/Bern 1981, S. 19.
DAS MANIFEST ALS KÜNSTLERISCHE PRAXIS
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sen – durchaus auseinanderklaffen. Ein Manifest, das diesen Genrehinweis nicht im Titel trug, jedoch dennoch vielleicht zu dem Gründungsmanifest des modernen Tanzes wurde, hatte seinen performativen Kontext in München, im Künstlerhaus am Lenbachplatz: Vor gut 100 Jahren publizierte Isadora Duncan ihre Programmschrift Der Tanz der Zukunft (1903) im Diederichs Verlag 4. Und sie führte hier ihre Tänze auf – Tanz-Idyllen (1902), unter anderem Primavera (nach Botticelli) und Orpheus und Eurydike (nach Christoph Willibald Gluck): „mein Debüt im Münchner Künstlerhaus bildete das bedeutendste künstlerische Ereignis und die größte Sensation Münchens seit vielen Jahren“,5 schreibt Duncan selbstbewusst. Der Text ihres Manifests und die Performances – oft gerahmt durch Einleitungen, Kommentare, enthusiastische Reden über die „Heiligkeit“ ihrer „Mission“ und die „Entwicklungsfähigkeit des Tanzes als Kunstgattung“6 – waren verflochten. Zwei Seiten des vielleicht ersten Tanz-Manifests der Moderne.7 Was ich im Folgenden betrachten möchte, sind nicht so sehr die Inhalte, die Ideen und künstlerischen Programme von Manifesten zwischen Avantgarde, Postmoderne und zeitgenössischer Performance. Mich interessiert nicht so sehr: was ist ein Manifest (mit allen historischen Ausprägungen), sondern vielmehr: was tut ein Manifest (in welchen Kontexten) und wie tut es, was es proklamiert. Die Ausgangsthese ist damit, dass ein Manifest von seiner Struktur her – als Sprechakt, als Zeigen und als Proklamieren von etwas, was mani-fest wird – performativ ist. Und häufig – wie am Beispiel von Isadora Duncan – sind Text und Performance, 4
Isadora Duncan: Der Tanz der Zukunft (The Dance of the Future). Eine Vorlesung. Übers. u. eingel. von Karl Federn, Leipzig 1903.
5
Vgl. Isadora Duncan: Memoiren. Nach d. engl. Ms. bearb. von Carl Zell, Zürich/Leipzig/Wien 1928, S. 112.
6 7
Duncan 1903 (wie Anm. 4), S. 32, 44 f.; Duncan 1928 (wie Anm. 5), S. 112. In reziproker Weise war die Rezeption: eine polarisierte und hoch aufgeladene Reaktion der Öffentlichkeit, der Kunstwelt und der Kritik. Vgl. u. a. die Kritik von Arthur Rößler: Isadora Duncan, in: Freistatt, Bd. 4, 1902, H. 36, S. 453–455: „Der Tanz der Duncan ist Symbol. Ihr Tanz ist ein Symbol für das Leben. Das Leben ist Liebe und Liebe ist Bewegung, ewige Wiedergeburt.“ Oder: Fritz Brüggemann: Miß Isadora Duncan, in: Freistatt, Bd. 4., 1902, H. 36, S. 457: „Die Vorführungen der Tänzerin sind von einer solchen abgeklärten Schönheit [...] dass hier jede Kritik zum Verbrechen wird.“ Kritiken wie diese spiegeln die Programmatik von Duncans Performances ebenso wie jene ihres Manifests Der Tanz der Zukunft.
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mani-feste Praxis und geschriebenes Manifest als Kunstkonzept eng verschränkt. Dabei liegt der Fokus meiner Überlegungen auf Beispielen künstlerischer Praxis im Tanz, von der Avantgarde bis zur zeitgenössischen Tanz/Performance – mit einem Akzent auf den Arbeiten von Künstlerinnen. Es ist bemerkenswert, dass das Genre „Manifest“ – das in sich höchst divers und offen ist8 – in der Moderne ein männlich dominiertes Format darstellt. So finden sich unter den circa 250 Manifesten der europäischen Avantgarde (zwischen 1909 und 1938), die von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders herausgegeben wurden, nur sehr vereinzelt von Frauen verfasste Manifeste.9 Anders ist dies freilich in den darstellenden Künsten, und besonders im Tanz. Isadora Duncans Tanz der Zukunft – und später (1912 und 1913) die beiden Manifeste der Tänzerin und Choreographin Valentine de Saint-Point – markieren bewusst eine weibliche Position des „Mani-festierens“. Duncan baut ihre Streitschrift für einen „Tanz der Zukunft“ ganz nach den Strukturmerkmalen eines Manifests auf. Ihr Schreibstil ist polemisch und voller Pathos, zugleich apodiktisch und verkündend missionarisch. Sie signiert diese Programmatik – die einen „Tanz der Zukunft“, eine freie und rhythmisch-sinnliche Bewegung als Antiken-Phantasma modelliert – durch ihre Künstlerpersönlichkeit, durch ihre Bildung (ihre Studien in Museen) und durch ihren Tanz. Ein Manifest am Leitfaden des Leibes. Interessant ist dabei die Zeitstruktur der Argumentation. Die Wendung in die Zukunft trägt Züge eines Telos des „Neuen Menschen“, einer neuen Weiblichkeit (geradezu eine weibliche Kontrafaktur zu Nietzsches „Zarathustra“). Und diesem enthusiastischen „Ja“ zu einer Zukunft, die als eine Ära des Tanzes verkündet wird, steht eine Verneinung der Geschichte und der Gegenwart gegen8
Ralph Poole spricht von „Generischer Offenheit“ und „fuzziness“ des Manifests: Ralph J. Poole: Manifeste. Speerspitzen zwischen Kunst und Wissenschaft. Eine Einleitung, in: ders. und Yvonne Katharina Kaisinger (Hg.): Manifeste. Speerspitzen zwischen Kunst und Wissenschaft, Heidelberg 2014, S. VII–XVIII, hier S. IX.
9
Vgl. Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart/Weimar 1995. Auch Martin Puchner hat darauf hingewiesen, dass das Manifest – insbesondere in der Avantgarde – „a genre celebrating the masculine“ sei. Vgl. Martin Puchner: Manifesto = Theatre, in: Theatre Journal, Bd. 54, 2002, H. 3, S. 449–465, hier S. 455.
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über. Dieses Nein ist freilich nicht rundweg „anti-historisch“, wie Robert Seyfert dies für „Avantgardistische Manifeste“10 annimmt. Vielmehr enthält die „denunciation of the past“ (Martin Puchner)11 in den meisten avantgardistischen Manifesten einen Parallel- oder Gegenentwurf zur traditionellen Geschichtsschreibung beziehungsweise zur Tradition und Mainstream-Historiographie der jeweiligen Künste. Das „Nein“ ist so gesehen immer auch gebunden an ein Ja: Im Entwurf einer Counterhistory, einer Gegengeschichte, steckt auch in der Verwerfung noch das verworfene Geschichtsbild. Dieser ‚Prospekt‘ in die Vergangenheit ist Teil der Performativität des Manifests; er kann in einem Atemzug aggressiv sein und ausholen zu einem Gegen-Narrativ: wie Duncan dies tut, wenn sie die Geschichte, die Ästhetik, die Theatralität und das Körperkonzept des klassischen Balletts denunziert – und damit gleichzeitig eine feministische Kritik an einer durch den männlichen Blick konstituierten Idee von Weiblichkeit formuliert. Die Kampfansage gegen die Ästhetik des Balletts ist zugleich eine gegen das Korsett, das – symbolisch und buchstäblich – die individuelle Bewegungsfreiheit (der Frau) einschränkt. Der Bruch mit der Geschichte ist jedoch nicht total – und dies scheint mir auch für jene Avantgarde-Manifeste zu gelten, die die Ketten der Tradition buchstäblich sprengen wollen, die, wie Marinetti, oder die Vortizisten in Blast, zur Zertrümmerung der Geschichte aufrufen. Dennoch geht es bei diesem „Akt“ eines „Nein“ zur Vergangenheit vor allem um Deutungsmacht. Ein Anspruch – zumeist vertreten im Modus des „Wir“, im Namen der Gruppe oder einer Stimme, die sich plural versteht; eine Stimme, die beansprucht, im Namen einer Gemeinschaft zu sprechen, die eine Idee, ein Programm, eine Vision für die Zukunft verspricht. Die Prognose, das Versprechen des Manifests ist das einer Zukunft, eines „zu Kommenden“. Der Anspruch auf eine Deutungshoheit (bezogen auf die Geschichte und ihre Relevanz für heute und morgen) zieht – im Sprechakt des Manifests – Prognosen, Voraussagen, Ankündigungen und vor allem „Versprechen“ 10 Vgl. Robert Seyfert: Avantgardistische Manifeste: Anti-Historismus, Retro-Historismus, Trans-Historismus, in: Poole/Kaisinger 2014 (wie Anm. 8), S. 23–35, hier: S. 25. 11
Puchner 2002 (wie Anm. 9), S. 451; vgl. auch Martin Puchner: Poetry of the Revolution. Marx, Manifestos, and the Avant-Gardes, Princeton, NJ/Oxford 2006.
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für die Zukunft heran. Dieser Trend zum Progressiven, zum Fortschritt, ja zum radikal Anderen, Neuen besitzt jedoch, als Versprechen, eine ganz spezifische Aktualität und Agency. Denn dieses Versprechen wird im performativen Akt des „mani-festen“ (zumeist) schon für das Jetzt, das heißt für den Moment der Proklamation in Anspruch genommen. Es ist nicht bloße Verkündigung – Zukunftsmusik – , sondern „tut“, was es bestreitet und verspricht. Insofern ist „Manifest“ ein Genre mit unterschiedlichen Potenzialitäten, mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Generierung: Es ist sowohl Text als auch Performance, Akt beziehungsweise Handlung; sowohl Theorie als auch eine Praxis und sowohl Kritik als auch ästhetisches, künstlerisches Konzept. Diesen Duktus: das Nein (zur Geschichte, zur vorherrschenden Kunst, zur Politik und Ideologie), das zugleich auch ein „Ja“ enthält, ja proklamiert, hat Harry Graf Kessler als einen Grundzug der Avantgarde bezeichnet. Er sieht das Nebeneinander von „Ja und Nein“, vom Zitat des Alten und Feier des Neuen, Zukünftigen als Signatur dieser Epoche: „Ja und Nein gehören zum Zeitcharakter wie zur modernen Mode: sie sind zwei Seiten der Modernität. [...] Die eine Idee der Modernität geht vom brutal Praktischen bis zur Eleganz, die andere vom brutal Protzigen bis zur Mystik; unten findet man den Autobus und den Kaiser, oben Vandevelde oder Whistler und Baudelaire oder Monticelli. Die Zeit umfasst Byzanz und Chicago, Hagia Sophia und Maschinenhalle; man versteht sie nicht, wenn man bloß die eine Seite sehen will.“12 Ein Beispiel für diese janusköpfige Geste des Manifests in der Avantgarde sind die beiden Manifeste, die die Tänzerin und Choreographin Valentine de Saint-Point verfasst hat. Diese Manifeste sind Bestandteile ihres tänzerischen Konzepts der „Métachorie“: eine futuristisch-synthetische Form der performativen Collage, eine simultane Performance von Tanz, Text, Duft und Bildprojektionen. Integriert ist hier das Manifest – nicht als Legitimation, sondern als Element eines Theaterkonzepts, das Bewegung als Körperdarstellung und als Idee („cerebrisme“) in Szene setzt: So wird deutlich, dass Manifeste eine wichtige Rolle spielen im Prozess der 12
Harry Graf Kessler: Paris. 16 November 1907, in: ders.: Das Tagebuch 1880–1937, hg. von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott, Bd. 4: 1906–1914, hg. v. Jörg Schuster, Stuttgart 2005, S. 372.
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Entgrenzung der Künste. Saint-Points Manifeste de la Femme futuriste (1912)13 war als eine kämpferische „Antwort an F. T Marinetti“14 und dessen frauenfeindliche Passagen im ersten futuristischen Manifest formuliert. Und ihr Manifesto futurista della Lussuria (1913)15 war die Proklamation einer Ära der Sensualität: „Die Wollust ist die fleischliche Suche des Unbekannten“16. Die Sprache von Saint-Points Manifesten entspricht ganz der Rhetorik avantgardistischer Proklamationen. Das Thetische ist betont aggressiv – eine „Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack“17 –, bedient sich, scheinbar unlogisch der Kampfformeln der Zeit (zum Beispiel „Kunst und Krieg“18), attackiert die bürgerliche Moral und ästhetische Konzepte der Zeit, und zieht die polemische und aufwiegelnd-doktrinäre Kraft aus dem Einsatz von Hyperbeln und der Wiederholung, der litaneiähnlichen Serialität des Satzbeginns „Die Wollust ist [...] eine Kraft“19. Genau hier wird freilich auch deutlich, wie sich diese Janusköpfigkeit des Nein (und das implizite Ja) in einen performativen Widerspruch hineintreibt. Im Widerstand nicht nur zur Geschichte, zu bekämpften Kunstkonzepten, sondern auch zu den anti-feministischen Manifesten der Futuristen, manövriert Saint-Point zwischen dem „Nein“ des „passatismo“, und einem „Ja und Nein“ zur Ästhetik der Futuristen. Sie agiert im Gestus dieser Gruppenmanifeste und adoptiert deren Konzept einer Ruptur der Geschichte. Und sie agitiert zugleich gegen zentrale Parolen Marinettis, der Futuristen und deren kollektive Deutungshoheit einer Avantgardeästhetik.
13
Das Manifest wurde 1912 auch in deutscher und italienischer Sprache gedruckt. Vgl. die deutsche Übersetzung in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 9), S. 21–23.
14
Ebd., S. 21.
15
Vgl. die deutsche Übersetzung in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 9), S. 29–30.
16
Ebd., S. 29.
17
Vgl. Wolfgang Asholt und Walter Fähnders: Einleitung, in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 9), S. XV–XXX, hier S. XV.
18 Saint-Point 1913, in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 9), S. 29. 19
22
Ebd.
GABRIELE BRANDSTETTER
NO
Am Beispiel dieser Künstlerinnenmanifeste der Avantgarde wurde deutlich: das Nein, das NO, als große Geste der Negation, ist eine ambivalente Pathosformel. Die Kampfansage an die Tradition, die verneinende Haltung zu Kunst- und Lebenskonzepten der Gegenwart, und die verkündenden, oft dogmatischen Ankündigungen des Neuen implizieren ihr Gegenteil (ungewollt): die counter-history trägt den Schatten der negierten Geschichtsidee mit in die Zukunft. Und die Negation der überholten Ästhetik und Politik trägt Splitter des „abject“ in die Idee (in die Ideologie) eines zukünftig Neuen, zu „Kommenden“ ein. Das „No“ ist ein Yes-No-Yes; und genau hier entfalten sich das Performative, die performativen Widersprüche und das immer verschobene Versprechen des Manifests. Möglicherweise. Maybe. Wie könnte man – unter diesem Vorzeichen – das berühmteste Manifest der Postmoderne lesen? Yvonne Rainers No Manifesto? „No to spectacle. No to virtuosity. No to transformations and magic and make-believe. No to the glamour and transcendency of the star image. No to the heroic. No to the anti-heroic. No to trash imagery. No to involvement of performer or spectator. No to style. No to camp. No to seduction of spectator by the wiles of the performer. No to eccentricity. No to moving or being moved.“20 20 In dieser Gestalt wurde Rainers No Manifesto immer wieder zitiert, vgl. beispielsweise: http:// www.1000manifestos.com/yvonne-rainer-no-manifesto/ [Abruf: 29.6.2016]; ursprünglich wurde dieser Text (ohne Interpunktion und Zeilenbrüche) publiziert in: Yvonne Rainer: Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses Called „Parts of Some Sextets“, performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965, in: The Tulane Drama Review, Bd. 10, H. 2 (Winter 1965), S. 168–178, hier S. 178.
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Betrachtet man die Zeilen dieses – sehr kurzen – Manifests, so adaptieren sie auf den ersten Blick alle Merkmale dieses Genres: das große Nein, in Anaphern wiederholt, zur Kunst und zur Institution des Theaters und der damit korrelierten Darstellungsästhetik – eine Kampfansage gegen Theater und Gesellschaft des Spektakels; gegen das Spektakuläre; gegen die Tanzund Performanceästhetiken einer virtuosen Körpertechnik; gegen die Verzauberung, die Illusionsmaschinen und alle damit verbundenen Konzepte der Rolle von Performern und Zuschauern. Alles in allem: eine Art summary der Theater- und Performance-Konzepte, wie sie seit Brecht und mit den Arbeiten der Postmodernisten zum Durchbruch kamen. Ich möchte hier nicht weiter auf den Inhalt dieses No-Manifests eingehen (da weitere Beiträge dieses Bandes dieses Thema haben). Es sei freilich ein Blick auf die Struktur von Rainers No Manifesto und den Kontext geworfen: Als Rainer diesen kurzen Text 1965 schrieb, war es, wie Sally Banes konstatiert, „a strategy of denial“21, eine Strategie „for demystifying dance“22. Rainers Manifest ist direkt in der Adressierung der künstlerischen Anti-Position: das „No“ zielt ins Zentrum der Ästhetik von Bühnentanz und der damit verbundenen Repräsentation. Auch wenn Rainers Manifest als ein Fanal der Position der Gruppe des Judson Dance Theatre rezipiert wurde 23, auch wenn die politische Stoßrichtung dieser Proteste sich in Aktionen gegen den Vietnam-Krieg mani-festierten („Angry Arts Against the War in Vietnam“)24, auch wenn die Form, die Wiederholungen, die Anaphern des „No“ und der Gestus des Löschens – in der Anti-Haltung zu Konventionen von Körper, Tanz, Performance – dem Genre „Manifest“ entsprechen: die Atta21
Sally Banes: Terpsichore in Sneakers. Post-Modern Dance [1980], with a new introduction, Hanover, NH 1987, S. 43.
22 Ebd. 23 Und deren Inversion des Begriffs von Tanz: „replacing the histrionic and the heroic with the neutral and the everyday. [...] Walking, running, sitting, standing, dressing, undressing, moving objects from here to there: All of that was dance“. Vgl. Siobhan Burke: Yvonne Rainer Prepares her Newest Dance for New York, in: The New York Times, 4.6.2015, http://www.nytimes. com/2015/06/07/arts/dance/yvonne-rainer-prepares-her-newest-dance-for-new-york.html?_ r=0 [Abruf: 29.6.2016]. 24 Vgl. Poster zu Dance Protest (1967), abgebildet in: Yvonne Rainer. Raum, Körper, Sprache, hg. v. Yilmaz Dziewior und Barbara Engelbach, Ausst.-Kat. Kunsthaus Bregenz, Museum Ludwig Köln, Köln 2012, S. 148.
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cke ist doch weniger aggressiv, als viele Manifeste der Avantgarde dies ausspielen. Hinzu kommt jedoch: Der Kontext, ja das Manifest selbst ist „performativ“. Es ist ein Bestandteil von Trio A, Yvonne Rainers berühmtestem Stück, das wiederum Teil der ausgreifenden Arbeit The Mind is a Muscle ist. 25 Der Weg zum „No“ ist gleichsam eingebettet in den gesamten Prozess der Arbeit. So schreibt Rainer über die Entwicklung ihrer Performance Parts of Some Sextets (1964/1965), dass sie sich dabei in einer Art Stadium eines „very large NO to many facts in the theatre today“26 befand. Wobei sie zugleich – kommentierend – hinzufügt: „This is not to say that I personally do not enjoy many forms of theatre. It is only to define more stringently the rules and boundaries of my own artistic game of the moment.“27 Die Rezeption von Rainers No Manifesto und ihre eigene Intention (die auch nicht als „Manifest“ deklariert ist) klaffen weit auseinander. In der Welt der Kunst der Postmodern-Rezeption, in der zweiten Generation der 1960er Jahre und ihren Zitaten und Reenactments erhielt Rainers No Manifesto den Status eines Vorreiters und Aushängeschilds des Postmodernen (Nicht-)Tanzes. Rainer selbst hingegen relativierte später immer wieder den Stellenwert dieses „Manifests“ und re-integrierte es in die performativen Arbeiten. In ihrem autobiografischen Buch Feelings Are Facts. A Life 28 schreibt Rainer: „That infamous ‚NO manifesto‘ has dogged my heels ever since it was first published. Every dance critic who has ever come near my career has dragged it out, usually with a concomitant tsk-tsk. The only reason I am resurrecting it here is to put it in context as a provocation that originated in a particular piece of work. It was never meant to be prescriptive for all time for all choreographers, but rather, to do what the time honored tradition of the manifesto always intended manifestos to do: clear the air at a particular cultural and historical moment. I hope that someday mine will be laid to rest.“29 25 Vgl. Yvonne Rainer: A Quasi Survey of Some „Minimalist“ Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of Trio A [1968], in: dies.: Work 1961– 73, Halifax/New York 1974, S. 63–69. 26 Rainer 1965 (wie Anm. 20), S. 178. 27 Ebd. 28 Yvonne Rainer: Feelings Are Facts. A Life, Cambridge, MA/London 2006. 29 Ebd., S. 264.
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Noch vor kurzem kommentierte Rainer die Bedeutung des No Manifesto im Interview mit Helmut Ploebst 30: „The NO-manifesto is brought up over and over again. I wish it could be buried ... I came to it at the end of an essay about a particular work, ‚Parts of Some Sextets‘, which was a piece for ten people and twelve mattresses in 1965, I never meant for the manifesto to be prescriptive. Manifestos are meant to clear the air and challenge, and then their usefulness is over. I myself haven’t abided by that manifesto, and I don’t expect anyone else to, either. But it’s always brought up, I don’t know ... It’s no longer useful – or maybe it is. Someone else should write a manifesto about what’s going on now.“31 Rainer kommentierte den „NO“-Text und passte ihn damit in ihre autobiografischen Arbeiten ein: „An imperfect reminiscence of my studies and the beginning of a career and contingent events.“32 2008 verfasste sie – in paradoxer Weise das „NO“ bestätigend, kommentierend, zurücknehmend und überschreibend (re-enacting) – A Manifesto Reconsidered, in dem sie den Text – in einer Gegenüberstellung von „1965“ und „2008“ – mit Anmerkungen versah und einige der Neins in ein Ja, oder „JEIN“ verwandelte, zum Beispiel das „No to virtuosity.“ in ein „Acceptable in limited quantity.“33 (Abb. 1). Diese Selbstkommentierung ist Teil einer künstlerischen Arbeit, in der dieses „NO“ ein Element darstellt – jedoch eher beiläufig, und keineswegs in jener prominenten aus dem Kontext gelösten (isolierten) Manifest-Geste, die dem kurzen NO-Text in seiner Rezeptionsgeschichte zuwuchs. Ich will diese These, die man durch Kontextualisierungen in den künstlerischen Szenen der 1960er Jahre noch differenzieren könnte, hier stehen 30 Helmut Ploebst: Meeting Yvonne Rainer [2007], http://www.corpusweb.net/meeting-yvonnerainer-2.html [Abruf: 22.2.2016]. 31
Ebd.
32 Yvonne Rainer: An imperfect reminiscence of my studies and the beginning of a career and contingent events, in: dies.: Work 1961–73, Halifax/New York 1974, S. 1–11, hier S. 1. 33 Gedruckt in der Begleitpublikation zu dem von Hans Ulrich Obrist kuratierten Serpentine Gallery Manifesto Marathon im Oktober 2008: Yvonne Rainer: A Manifesto Reconsidered, in: Manifesto Pamphlet, 18./19.10.2008, Serpentine Gallery, London, [o. P. = 24 Seiten, hier S. 22], http://www.serpentinegalleries.org/sites/default/files/downloads/Manifesto%20Pamphlet.pdf [Abruf: 7.6.2016]; auch in der Dokumentation zu der Veranstaltung: Nicola Lees (Hg.): Serpentine Gallery Manifesto Marathon, London 2009, S. 174 f.
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lassen. Und nur noch durch eine Gegenüberstellung der beiden Text-Performances des NO-Manifests zeigen, wie diese beiden Gesten des „Nein“ unterschiedlich „auftreten“. In der Rezeption in Kunst und Kunsttheorie wird das No Manifesto – überschrieben als „Manifesto“ – in der Form eines Pamphlets, mit litaneiähnlichen Zeilen in Hervorhebung der Anaphern des wiederholten „No“ publiziert.34 Durch diese graphische Anordnung wird dem Text die Rhetorik und der Appellcharakter eines klassischen Manifests verpasst, auch wenn es ziemlich Abb. 1 Yvonne Rainer: A Manifesto Reconsidered, 2008 sachlich bleibt, geradezu knapp und theoriebewusst – und ohne die Kampfmetaphern der Avantgarde. Der einzige rhetorische Appell, der an die Manifeststruktur erinnert, ist das akzentuierte NO. Yvonne Rainer selbst hatte diesem Text ursprünglich eine ganz andere Gestalt gegeben: „NO to spectacle no to virtuosity no to transformations and magic and make-believe no to the glamour and transcendency of the star image no to the heroic no to the anti-heroic no to trash imagery no to involvement of performer or spectator no to style no to camp no to seduction of spectator by the wiles of the performer no to eccentricity no to moving or being moved.“ 35
34 Vgl. Anm. 20. 35 So wurde das No Manifesto im Kontext von Rainers Reflexion zu Parts of Some Sextets ursprünglich veröffentlicht – in Form eines Absatzes im letzten Kapitel „3. Postcript“, siehe Yvonne Rainer 1965 (wie Anm. 20), S. 178.
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Eingebettet in ihren Text zu den frühen Stücken bewegt sich das NO, nur einmal, am Anfang, groß geschrieben, durch den Satz, der in einer einzigen großen Akkumulation die Verneinungen ohne Punkt und Komma addierend versammelt: Es ist gleichsam eine lange Phrase, die in einer gleitenden Passage die „No’s“ antippt und liegen lässt. Hatten nicht Rainers Performances (und jene von Cage, oder anderer Künstler aus dem Judson-Kontext) dieses „NO“ längst hinter sich gelassen? Und zeigt nicht gerade dieses Rainersche „NO“-Manifest – ganz anders als die Manifeste der Avantgarde – etwas von der Attitude von Susan Sontags Against Interpretation?36 Insofern, als die Deutungsmacht von Kritik und der Kunstinstitutionen in Frage gestellt werden, und zwar durch künstlerische Praxis.
YES
Es ist in der Kunstwissenschaft, in der Theorie zur Gattung, zu Geschichte und Politik des Manifests immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die Aktualität und die Wirkmächtigkeit von Manifesten in der Kunst des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts nachgelassen habe. Es mag vielerlei Gründe dafür geben in einer Zeit der Entgrenzung der Künste, des Neoliberalismus und vor allem in einer medial veränderten Öffentlichkeit. Dennoch gibt es weiterhin Manifeste. Manifeste, die ein Spiel mit dem, was „manifest“ sein könnte, spielen: wie zum Beispiel Mette Ingvartsens Yes Manifesto.37 In einem Artikel Towards a Practical Understanding of Theory38 zitiert Ingvartsen Yvonne Rainers „famous No manifesto“ und formuliert ihr „YES“ als eine Strategie der Umkehrung: „To say yes instead of no“39. Doch: 36 Vgl. Susan Sontag: Against Interpretation, in: dies.: Against Interpretation and other Essays, New York 1966, S. 3–14. – Eine Nähe der Haltungen, gegen die konventionalisierten Formen von Kritik, Kommentar und Definitionsmacht. 37 Yes Manifesto wurde erstmals 2005 publiziert. Siehe Mette Ingvartsen: Towards a Practical Understanding of Theory, in: Maska. Performing Arts Journal, Bd. 20, 2005, H. 94-95 (Nr. 5/6, Herbst/Winter 2005), S. 74–75, hier S.74; siehe auch http://metteingvartsen.net/2011/09/5050/ [Abruf: 22.2.2016]. 38 Ingvartsen 2005 (wie Anm. 37). 39 Ebd.
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Wenn diese Strategie kein Akt der Affirmation sein will (und dies betont Ingvartsen), wenn die Stoßrichtung des „YES“ gegen die Repräsentation und die Lesbarkeit von Kunst und Performance gerichtet ist – „what happens to representation when the concrete construction leads to no readability“40 –, welchen Status besitzt dann dieses „YES“? Ganz offensichtlich besitzt es nicht – nicht mehr – die Geste und die Attacke eines Pamphlets, wenngleich die Attitüde in einer Hoch- oder Endphase des Konzepttanzes durchaus als ein Signal der Veränderung in der Tanzszene ankam. Das „YES“-Manifest Ingvartsens, in der Bezugnahme zu Yvonne Rainer, ist, genau betrachtet, eine Aktualisierung, Umkehrung und Variation des „Yes“, das in Rainers No Manifesto artikuliert ist. Betrachtet vor dem „No“ – gegen Theatralität gegen spektakuläre Kunst und Autor-Image –, verhält sich das „YES“ wie ein Objekt, wie ein Teil jener Konzepte der Minimal Art, deren „objecthood“ Michael Fried 41 ausgerechnet Theatralität vorgeworfen hat. Ingvartsen enthüllt das „Yes“ im „No“ von Rainers No Manifesto, in dem – erneut, und im insistierenden re-play – die Fragen nach dem Status des Körpers, der Verfahren der Performance, der Relation von Tänzern/und Zuschauern, die Frage nach dem „Spektakulären“ gestellt werden. Das „YES“ als eine Kritik, als Verneinung und: als Versprechen.42 Bei Ingvartsen ist dieses „YES“-Manifest zugleich ein Verweis auf die Verknüpfung von Theorie und Praxis der Kunst; das heißt eine Experimentalanordnung auf die Möglichkeiten einer solchen Verschränkung. Und dabei wird und ist das Manifest ein inhärenter (und doch querständiger) Bestandteil der Performance. Und umgekehrt, und genauer noch: das Manifest ist künstlerische Praxis; und die Performancepraxis wiederum ist so strukturiert, dass sie ein „Manifest“-Display enthält. Sie kontaminiert, als performatives Manifest – „YES“ –, Theorie und Theorie-Zitate. Schon die Manifestation des „YES“-Manifests in der Zeitschrift 40 Ebd. 41
Vgl. Michael Fried: Art and Objecthood [1967], in: ders.: Art and Objecthood. Essays and Reviews, Chicago/London 1998, S. 148–175.
42 Vgl. dazu (und zu Mette Ingvartsens Yes Manifesto) Gabriele Brandstetter: Choreography beyond Dance – A Dance Promise, in: Elena Basteri, Emanuele Guidi und Elisa Ricci (Hg.): Rehearsing Collectivity. Choreography Beyond Dance, Berlin 2012, S. 45–53.
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Maska dokumentiert diese Selbst-Kontextualisierung; denn in den Konzept- und Theorietext ist ein Bild-Verweis auf Ingvartsens Performance 50/50 43 eingefügt, zugleich auch eine Abbildung von Yvonne Rainers Gegenüberstellung der Beziehungen, die zwischen „Objects“ und „Dances“ hergestellt werden können.44 Ganz offensichtlich geht es schon längst nicht mehr um eine „rupture“ im Verhältnis zur Geschichte (und zu den Kunstkonzepten des 20. Jahrhunderts), nicht um das Erfinden einer counter-history, und nicht um das Markieren einer exklusiven (künstlerischen, politischen) Idee oder Position – oder (auch nicht) um eine Behauptung eines „Exklusiven“. Inklusivität ist vielmehr ein strukturierendes Prinzip – eine Praxis, die auch das Manifest einschließt; die gleichsam das Manifestieren selbst zum Konzept (der Performance) macht. Mette Ingvartsen verstärkt und multipliziert diese Doppelposition des Manifests, das YES (und NO) zwischen Rückblick in die Geschichte, Positionierung im „NOW“ und Perspektivierung in ein „zu Kommendes“ in ihren Performances. Das to come 45, Titel eines Stücks aus dem Jahr 2005, ist nicht nur ein Spiel mit Fragen der „Exhibition“, der Ausstellung des Körpers, seiner Sexualisierung im Rahmen des Spektakels und seiner Medien-Dispositive46; hier aktualisiert sie im Gestus des „YES“ die latenten (und auch die expliziten) Topoi des Postmodern Dance, deren ästhetische und politische „No’s“, indem sie diese gleichermaßen aufruft, affirmiert, kritisiert, kommentiert und verdreht beziehungsweise neu anordnet. Dabei erhält die Art und Weise, wie Geschichte (Geschichte der Performance-Kunst und ihre Aktionen und politischen Attitüden) adressiert wird, wie sie zugeschnitten, präsentiert und als Element der Performance in Segmenten (partikularisiert) wiederholt wird, selbst den Charakter eines Manifests; einer Manifest-(en)-Performance. Dies wird besonders deutlich in Mette 43 Vgl. Ingvartsen 2005 (wie Anm. 37), S. 75. Siehe auch Abb. 3. 44 Ebd., S. 76. 45 Vgl. Mette Ingvartsen: to come, Premiere Pact Zollverein Essen, 2.6.2005; siehe http://metteingvartsen.net/2011/09/to-come/ [Abruf: 22.2.2016]. 46 Vgl. hierzu Mette Ingvartsens eigenen, wiederum als Paratext und Kommentar publizierten Text „Orgies, Orgasms and Other Organization“, http://www.aisikl.net/mette/pieces/tc/tc_text. html [Abruf: 16.08.2009]. 47 Vgl. http://metteingvartsen.net/2014/07/coming-soon-69-positions/ [Abruf: 22.2.2016].
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Abb. 2
Mette Ingvartsen: 69 Positions, 2014, Foto: Fernanda Tafner
Ingvartsens Inszenierung 69 Positions (2014)47. Diese Installation ist eine „Exhibition“ von Performance/Performance-Geschichte als Manifest und des Manifests als performative künstlerische Praxis. YES. In diesem Gestus (der doch auch permanent dekonstruiert wird) führt Mette Ingvartsen den Betrachter – als Besucher einer Ausstellung – durch die Performance. Für den Betrachter ist es eine „guided tour“ durch eine Auswahl von Dokumenten aus der Geschichte der Performance Art der 60er Jahre. Der Akzent der Auswahl und Recherche Ingvartsens liegt auf jenen Aktionen, die Nacktheit, „sexual liberation“, thematisieren. 69 Positions, dieser Titel bezieht sich auf Richard Schechners legendäre Performance „Dionysus in 69“ und zitiert zugleich die Sex-Position 69. Beides gibt Rahmen und Keyword für die Performance-Installation, die das MuseumSetting ins Theater versetzt (mit Stellwänden und Video-Screens) und wiederum das Exhibition-Setting wörtlich nimmt: in der Art und Weise, wie Ingvartsen die Rollen tauscht zwischen Museums-Guide und Performerin, die im Solo und in direkter Adressierung des Publikums die Texte und Aktionen aus den dokumentierten Performances zitiert und in einem Reenactment nachstellt. So etwa Anna Halprins berühmte (und damals skan-
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dalträchtige) Entkleidungsszene aus Parades & Changes (1965), deren Beginn sie – in direktem Blickkontakt mit einem Zuschauer – re-inszeniert. Im Wechsel zwischen „lecture“, Kommentar und bis in den sexuellen Exzess getriebenen Nackt-Performance-Sequenzen adressiert sie den Betrachter, bezieht ihn – wie im Stöhn-Chor von to come in eine Art Karaoke-Replay – mit ein und hält ihn doch auf Abstand, gerade da, wo sie sich in körperlicher Nähe vor den Blicken entblößt. Hier testet sie das YES und das NO zu den Möglichkeiten, Grenzen und GrenzüberschreiAbb. 3 Mette Ingvartsen: 50/50, 2005, Foto: Peter Lenaerts tungen des „Spektakulären“ aus. Die Performance – die Führung – ist in drei Teile untergliedert: Im ersten Teil führt Ingvartsen durch die Geschichte der Performance und ihre (mittlerweile historischen) „Positionen“ zu sexueller Befreiung, Antikriegsbewegung und Antikapitalismus der 1960er Jahre. Im zweiten Teil zitiert und kommentiert sie (die schon erwähnten) eigenen Arbeiten. Im dritten Teil schließlich thematisiert sie sexuelle Praktiken, die nicht (mehr) menschliche Sexualpartner ansprechen. Ingvartsen zitiert Beatriz Preciados Kultbuch Testo Junkie (2013) und übersetzt es – gleichsam als „Manual“ und „Manifest“ – in Szenen, in denen Objekte (eine Lampe, zuletzt ein Stuhl) zum Objekt des Begehrens und schließlich (in einer furiosen exzessiven Orgasmusszene) zum Sexpartner werden. Sie produziert und unterbricht zugleich in solchen performativen Spekulationen die Kreisläufe der Porno-Medien-Kanäle; mit und vor dem Publikum „exhibiert“ sie Situationen, die das beständige „Kommen“(-Müssen) als eine Stress-Ökonomie, als eine stets sich steigernde (Sex-)Performance zeigen: das Thema „practice with non-human elements to increase human pleasure“.
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Das „Manifeste“ dieser Performance besteht jedoch weniger im Aufruf und in der „YES“-Position zu „affects“ und „sensation“48. Vielmehr ist es ein Stück, eine Choreographie von Wahrnehmung: in der Zusammenführung von 69 Positions (oder mehr oder weniger?) von Möglichkeiten der Imagination – zwischen Zuschauern und Performer. Die Zeitstruktur von 69 Positions entspricht dem Doppelblick des Manifests als Genre: Vergangenheit, (Tradition) und Zukunft – als Utopie einer anderen, radikaleren offeneren Idee von Kunst – werden zitierend und proklamierend angeführt. Sogar die eigenen Arbeiten musealisiert Ingvartsen. Die Performance, diese „geführte“ Tour durch einen Schauraum der Performance-Geschichte, ist als Ganzes ein Manifest: Der kritische, ironische, kühle Blick minimiert freilich den kämpferischen, den zukunftsorientierten Gestus – der in den avantgardistischen und politischen Manifesten tonangebend ist. Das „YES“ ist gleichsam durchsetzt von den Wiederholungen der Appropriation. Eine Querverbindung zu jenen „YES!YES!YES!“, mit dem die Ausstellung Warholmania in Munich 49 angekündigt war, liegt nicht so fern: ein „YES!“, das sich in der Serialität nicht erschöpft, freilich als Sprechakt – als Manifest – seine Speerspitze abstumpft, beziehungsweise umkehrt.
MAYBE
Wie hat sich in diesem Spiel zwischen NO und YES die Widerständigkeit des Manifests verändert oder verschoben? Hat sich die Zeit-Figuration in jüngeren Arbeiten um-akzentuiert: nicht mehr die betonte Wendung gegen die Tradition und die Vergangenheit – da deren Relevanz, und deren (archivale, mediale) Verfügbarkeit eher keine ikonoklastischen Aktionen provoziert (mit Ausnahme von religiös motivierten Übergriffen). Und ebenso auch keine durch Utopie, Progression und Technikfiktionen geleitete Verklärung einer Zukunft, die im „Manifest“ proklamiert wurde. Worin besteht das Versprechen, wenn es denn Mani-
48 Vgl. Ingvartsen 2005 (wie Anm. 37), S. 74. 49 Vgl. die Ausstellung YES!YES!YES! Warholmania in Munich im Museum Brandhorst München 23.6.–18.10.2015 und die parallele Filmreihe auf dem Filmfest München (25.6.–4.7.2015).
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feste gibt, die eine solche Position als Sprechakt einnehmen – und zugleich verweigern: ein NO, YES – und MAYBE. Ein „MAYBE“ 50, das als ein minderes, ein tentatives, ein vagierendes Versprechen an die Stelle des doktrinären NO! Oder YES! – des Manifests in seinem Avantgarde-Modus – tritt.51 Eine Kunst, eine kunstphilosophische Attitüde, die das Doktrinäre unterläuft, mit einem offenen Versprechen – Maybe – bringt jene dekonstruktive Denkfigur ein, die Gilles Deleuze „minoritaire“ genannt hat. In seinem Text Ein Manifest weniger hat Gilles Deleuze 53 – ganz im Sinn seiner Konzeption einer „minoritären Sprache und Literatur“ – eine Idee des „manifest(en)“ als Praxis entwickelt, die sich nicht mehr in den Oppositionen des NO! und YES! verfängt; die nicht das Wieder und Wider / Again und Against gegeneinander ausspielt auf der Basis einer Idee von Fortschritt. Sondern vielmehr einem „Werden“ den Raum öffnet. Hier wird auch in Gruppen, in partizipativen Strukturen gedacht und gearbeitet. Die Ansprüche der damit angestoßenen Prozesse – in der Performance, im Tanz, sind jedoch nicht auf die große Pathosformel der Überwältigung und einer Doktrin angelegt, sondern eher wie im Sinn von Deleuze, „minoritaire“: als Weg, als Umweg, als subversive Taktik gedacht, die die Macht der Institutionen und die Deutungshoheit der etablierten Begriffsraster und Diskurse unterminiert. Die Gruppe Danse [praticable] – mit Frédéric Gies, Isabelle Schad, Alice Chauchat, Odile Seitz und anderen – spielt mit dem Genre „Manifest“ in der Serie von everybodys self interviews.53 Eine Selbst-Interview-Publika-
50 Ich beziehe mich hier auf die Arbeit von Emilyn Claid, die – wenngleich in anderer Perspektive, ohne den Blick auf Fragen des Genres „Manifest“ – Trends der eigenen künstlerischen TanzArbeit im Kontext der 70er Jahre überwiegend in Großbritannien reflektiert. Vgl. dazu: Emilyn Claid: YES? NO! MAYBE... Seductive Ambiguity in Dance, London/New York 2006. 51
Ebenfalls im Blick auf eigene künstlerische Arbeit, „Kunstpraxis als Werkform“, haben Mariella Greil und Werner Moebius (auf einem Lab beim internationalen Forum Prisma Mexico 2009) ein Maybe manifesto formuliert; es ist bewusst als „response to Yvonne Rainer’s NO Manifesto and Mette Ingvartsen’s YES-Manifesto“ definiert. Vgl. Mariella Greil und Werner Moebius: Maybe manifesto [2009], http://suborg.net/category/threads/movement/ [Abruf: 28.6.16].
52 Vgl. Gilles Deleuze: Ein Manifest weniger, in: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1990, S. 379–405, hier S. 387 und 401. 53 Buchpublikation: everybodys self interview, [hg. von Alice Chauchat und Mette Ingvartsen], o. O., o. J. [= Paris 2008]; zum Platform-Projekt Everybodys siehe http://everybodystoolbox.net/ index.php?title=Accueil [Abruf: 28.6.16].
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tion, in der sie Auskunft über Tanzpraxis, -techniken und ihre Arbeitsweisen geben – eine Art der Unterbietung der großen Versprechen, die das Manifest (zum Beispiel als politische Aktion oder als ästhetische Proklamation) früher bereithielt. Ein Depotenzieren findet hier statt, das die Macht der Sprache als Praxis einbindet und transformiert in die somatische Praxis der Tänzer: Geschieht nicht genau hier jenes „Zweisprachige“ (Deleuze), das Eigene und das Fremde, das sich im „Minoritären“ verbindet? Wenn Deleuze sagt, das bedeutet, in der eigenen Sprache zu stottern, so ist es vielleicht genau dies, was einige zeitgenössische Tänzer und Choreographen im Sinn haben, wenn sie – mit Jonathan Burrows gesprochen – einen „weak dance“ konzipieren; eine Idee von Tanz, die ein anderes Versprechen ent-deckt; nicht die Verkündigung des Neuen, sondern das Spiel, kritisch und subversiv, mit diesem Sprechakt – das Versprechen des Manifests. David Levine hat in seiner Installation YES (2011) mit dieser Aufforderung gearbeitet. Sie zeigt eine Schiene aus Metall, auf der in roter Leuchtschrift die Buchstaben „YES“ blinken. Permanent wiederholt. Permissiv. Ruft diese Botschaft, blinkend wie Reklame, wie eine Ankündigung der Red Pieces von Mette Ingvartsen, eine Daueraffirmation herauf? Assoziationen an die „permissive Gesellschaft“ (ein Begriff aus den 1970er Jahren)? Gibt es hier Grenzen? Ein No? Ein MAYBE? Die Repetition, zwischen Stop and Go, erzeugt eine Situation von Bewegung und Unterbrechung, die den Betrachter einbezieht. Die Haltepunkte von dessen Schritten, die Bewegungslinien und Anordnungen im Raum – dirigiert oder abgewiesen von der Leuchtschrift des „YES“, schreiben die Aufforderung und das Versprechen weiter – ganz unspektakulär; vielleicht nebenbei? Nicht wirklich ein Ja! Und doch eine Anrede; das Versprechen zeigt sich gerade da, wo eine Instabilität und Unsicherheit 54 sich einstellen. Weder NO noch YES. Maybe als eine Möglichkeit des Versprechens. Wäre ein solcher performativer Sprechakt noch als Manifest zu erkennen?
54 Vgl. Helga Nowotny: The Cunning of Uncertainty, New York 2016.
ISA WORTELKAMP
VOM FRAGMENT ZUM MANIFEST. DAS NO MANIFESTO VON YVONNE RAINER IN SEINEM MEDIALEN KONTEXT
1965 erscheint in der zweiten Nummer des 10. Bandes der Zeitschrift The Tulane Drama Review ein Essay von Yvonne Rainer mit dem Titel Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses Called „Parts of Some Sextets“, Performed at the Wadsworth Atheneum Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965. 1 Der Text beinhaltet eine Reflexion des künstlerischen Arbeitsprozesses des besagten Stücks und ist mit sechs Fotografien von Peter Moore illustriert. Im letzten Abschnitt des insgesamt dreiteiligen Essays, unter der Überschrift „Postscript“, pointiert Rainer die Reduktion der Postmodernisten gegenüber „many facts in the theater today“ mit einem 1
Yvonne Rainer: Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses Called „Parts of Some Sextets“, performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965, in: The Tulane Drama Review, Bd. 10, H. 2 (Winter 1965), S. 168–178, http://www.jstor.org/stable/1125242 [Abruf: 5.7.2016].
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emphatischen „NO“.2 Darauf folgt ein sechszeiliger Absatz, und dieses Textfragment ist als No Manifesto bekannt geworden. Der Titel des Aufsatzes und die darin offengelegten Überlegungen zur Entstehung des Stücks bis hin zu Position und Status der Aussage innerhalb des Textes stehen dabei in einem gewissen Widerspruch zur Radikalität und Programmatik des besagten Textfragments. Als solches wurde es seitdem aus dem Essay isoliert und in verschiedenen Kontexten publiziert. Die durchgehende Aneinanderreihung der darin enthaltenen 13 Verneinungen findet sich als einzelner Absatz in verschiedenen Publikationen zur Arbeit Yvonne Rainers oder zum Postmodern Dance zitiert, oder kursiert – insbesondere in Online-Portalen – als eine Liste von 13 Zeilen (vgl. die Darstellung im Beitrag von Gabriele Brandstetter in diesem Band, S. 23). Die grafische Gestaltung, die Darstellung in Versform und die hinzugefügte Interpunktion unterstreichen dabei den programmatischen Charakter des Textes. Den verschiedenen Publikationsformen gemeinsam ist die Definition des Textfragments als Manifest, wovon sich Rainer mit Verweis auf den primären Kontext immer wieder distanziert hat.3 Rainers Antwort ist schließlich selbst eine Liste, die 2008 im Begleitheft zu der Veranstaltung Manifest Marathon der Serpentine Gallery in London (18. bis 19. Oktober 2008) unter dem Titel A Manifesto Reconsidered (2008) erscheint und in der sie in einer Gegenüberstellung die zum Manifest gewordenen Verneinungen einer Revision unterzieht (siehe Abb. 1 bei Brandstetter in diesem Band, S. 27). An diese Veränderungen, die das No-Manifest seit seinem ersten Erscheinen erfahren hat, schließen sich Fragen zur Bedeutung der Veröffentlichungs- und Verbreitungsform ebenso wie zur Autorschaft des Manifests an, denen ich im Folgenden nachgehen will. Wann wird ein Text zum Manifest? Welchen Wandel erfährt ein Manifest durch die spezifischen medialen 3
Vgl. Avishay Artsey: „The Mind is a Muscle“: The Art of Yvonne Rainer, in: Tribe Magazine. A Jewish Journal, hg. v. Shoshana Cohen, 28.8.2014. „Yvonne Rainer Looking back at the ‚No Manifesto‘, Rainer now laughs at her youthful impetuousness. ‚It was never meant to be prescriptive‘, she said. ‚It was meant as a provocation.‘“, http://www.tribejournal.com/arts/2014/08/ the-mind-is-a-muscle-the-art-of-yvonne-rainer/ [Abruf: 5.7.2016].
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Erscheinungsformen und -kontexte? Wer ist der Autor beziehungsweise die Autorin dieses No Manifesto? „No Manifesto“ – bezieht man die Verneinung auf den ihr folgenden Begriff, so steht in diesem Titel nichts Geringeres zur Disposition als das Manifest selbst. Dies ist kein Manifest. Und tatsächlich, kehrt man zu dem Anfang oder den Anfängen des Textes Rainers zurück, findet sich kein äußerer Hinweis, der auf ein Manifest schließen ließe. Weder wurde es als solches angekündigt, noch vermittelt seine äußere Form – als Absatz in einem Aufsatz – zunächst den Eindruck eines Manifests. Dies veranlasst zu einer Analyse des besagten Textfragments in seinem primären Publikationskontext, die im Zentrum meiner Überlegungen steht.
DAS TEXTFRAGMENT IM PRIMÄREN PUBLIKATIONSKONTEXT
The Tulane Drama Review, in der der Essay Yvonne Rainers 1965 erscheint, ist wohl eine der bekanntesten Zeitschriften für Performance, die in den Bereichen von Tanz, Theater, Musik, bildender Kunst sowie von Unterhaltung, Medien, Sport und Politik im sozialen, ökonomischen, ästhetischen und politischen Kontext diskutiert wird. Die Zeitschrift enthält Artikel von Wissenschaftlern, Künstlern und Kritikern zum aktuellen Performancegeschehen, Beiträge zur Performancetheorie, Kommentare und Berichte zu Aufführungen und Büchern sowie Interviews mit Künstlern und bildet somit eine wesentliche Quelle der Performance Studies.4 Die Ausgabe von 1965, in der Yvonne Rainers Essay erscheint, umfasst insgesamt 22 Artikel mit Interviews und Essays zum zeitgenössischen Per4
Die Zeitschrift wurde 1955 von Robert W. Corrigan, der zu der Zeit Mitglied am Carleton College in Minnesota war, unter dem Titel Carlton Drama Review begründet. 1957 nahm er die Zeitschrift mit an die Tulane University, wo er sie in The Tulane Drama Review umbenannte. Dort übernahm 1962 Richard Schechner die Herausgeberschaft der Zeitschrift, die er 1967 mit seinem Wechsel an die New York University unter dem Namen The Drama Review herausgab, was er – bis auf eine längere Auszeit von 1969 bis 1986 – auch heute noch tut; seit 2011 gemeinsam mit der zweiten Chefredakteurin Mariellen Sandford und den Mitherausgebern Jil Dolan und Stacy Wolf von der Princeton University und Rebecca Schneider von der Brown University und William H. Sun von der Shanghai Theatre Academy. The Drama Review ist weiterhin an der New York University angesiedelt und erscheint vierteljährlich als Printausgabe und online im Universitätsverlag der MIT Press.
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Abb. 1
Pigeon Event in St. Mark’s Place, New York City, Foto von George Maciunas auf dem Cover von The Tulane Drama Review, Bd. 10, H. 2 (Winter 1965)
formancegeschehen. Anders als bei den unmittelbar vorangehenden und folgenden Ausgaben lässt das Cover nicht zwangsläufig auf ein Thema oder einen begrenzten Gegenstand schließen. Vielmehr ergibt sich die Thematik hier durch die Namen einzelner Künstler und Begriffe, die dem Cover zu entnehmen sind und dem Kontext des zeitgenössischen Performance- und Kunstgeschehens entstammen. Lesbar werden sie in Sprech- oder Denkblasen auf einer Fotografie von Tauben, die auf einem Platz versammelt sind. (Abb. 1) Die Aufnahme stammt, wie dem Impressum zu entnehmen, von George Maciunas und trägt den Titel Pigeon Event in St. Mark’s Place, New York City. Die Namen Kaprow, Morris, Higgins, Oldenburg, Cage, Young, Kirby, Yeaton, Whitman, Rainer, Maclow, Halprin, Dewey entsprechen, wie im Inhaltsverzeichnis zu lesen, den Autoren der Artikel, die in der Zeitschrift versammelt sind. Die Begriffe Happenings, Action Theatre, Game Theatre, Gags, Sills, Fluxus, Events, Activities und No Theatre lassen auf die Themen schließen, die in der Ausgabe verhandelt werden, die jedoch nicht durchgehend in den Titeln wiederkehren. Eine andere Sprechblase enthält den Titel der Zeitschrift tdr. Um eine weitere Taube ist ein
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Käfig gezeichnet, was als eine Anspielung auf John Cage zu lesen ist. Yvonne Rainer selbst finden wir auf der Rückseite, oben rechts in der Ecke – über Ann Halprin. In der Ausgabe enthalten sind zwei achtseitige farblich in rot und gelb abgesetzte Faltblätter, die die Folge der Artikel unterbrechen und erst durch das Entfalten lesbar werden. Das erste gibt eine Sammlung von Arbeiten verschiedener Fluxuskünstler wie George Brecht, George Maciunas und Robert Watts wieder. Das zweite zeigt ein Diagramm des PerformanceProjekts City Scale, einer Erkundung des Verhältnisses von Performer und Publikum durch eine Serie von Aktionen im öffentlichen Raum. Die grafische Gestaltung greift die thematische Reflexion zeitlicher und räumlicher Anordnung auf und setzt die Zeitschrift in ihrer materiellen Eigenschaft und das Lesen als prozessualen Akt und Aktion in Szene. Als wiederkehrende Themen der Ausgabe lassen sich Fragen zur Relation von Performer zum Publikum sowie Partizipation und Interaktion ausmachen, die in den Texten der Künstler, meist über ihre eigenen Arbeiten, verhandelt werden. Dabei herrscht eine teils recht ausführliche Beschreibung der Stückentwicklung und -geschichte sowie des Ablaufs der Performance vor, wodurch die Texte einen sehr dokumentarischen Charakter erhalten, der durch die Einbindung fotografischer Abbildungen und Skizzen zusätzlich unterstrichen wird. Der Text von Yvonne Rainer bezieht im Vergleich zu den anderen stückbezogenen Texten der Ausgabe wie etwa von Michael Kirby, Claes Oldenburg, Robert Whitman oder Dick Higgins neben einer ausführlichen Beschreibung verstärkt die Reflexion des künstlerischen Prozesses und grundsätzlicher performance- und tanztheoretischer Fragen ein. Er erscheint unmittelbar nach einem ausführlichen Interview zwischen Yvonne Rainer und Ann Halprin und ist einer der längeren Texte in der Ausgabe. Die insgesamt zehn Seiten enthalten sechs Fotografien von Peter Moore, von denen zwei jeweils eine ganze Seite einnehmen. Wenngleich im Text nicht unmittelbar Bezug auf die Abbildungen genommen wird, so unterstreichen sie doch den retrospektiven und dokumentarischen Charakter des Textes. Dazu tragen die von Peter Moore eingenommenen Perspektiven
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bei, die einen Überblick über das Geschehen erlauben und dabei doch zugleich einen Eindruck der Wirkung einzelner Momente auf das Publikum vermitteln. Oder wie Carrie Lambert-Beatty in ihrem Buch Being Watched. Yvonne Rainers and the 1960s am Beispiel der ersten Abbildung im Text pointiert: „What was to be documented was less the work as a thing in itself than the experience of viewing it.“5 Zugleich ist Moore, der neben Rainer zahlreiche andere Künstler der Zeit und Choreographen des Judson Dance Theater wie Trisha Brown, Lucinda Childs, Simone Forti, David Gordon, Deborah Hay, Steve Paxton fotografierte, ein Zeuge der Zeit, der nicht zuletzt maßgeblich zu unserem Bild der Ästhetik des postmodernen Tanzes beigetragen hat. Im Essay von Yvonne Rainer begleitet sein Blick durch die Kamera die Beschreibungen der Autorin – eine fotografische Retrospektive, die sich, anders als die Retrospektive der Autorin, mehr auf die Performance als auf ihre konzeptionelle und künstlerische Entwicklung bezieht. Die Darstellung der Entstehungsgeschichte und des Arbeitsprozesses bildet den wesentlichen Inhalt ihres Essays, dessen umfassender Titel nicht nur die wesentlichen Informationen über die Performance, sondern zugleich Auskunft über das Vorgehen und die Ausrichtung des Textes gibt. „Some retrospective notes on a dance [...]“ – weniger auf ein Manifest lässt sich dabei auf eine nachträgliche Reflexion der besagten Performance und ihrer tanz- und performancetheoretischen Implikationen schließen. Das Essay ist in die Absätze „1. Origins of piece.“,„2. The work.“ und „3. Postscript.“ unterteilt, die im Folgenden vorgestellt werden, um die gedankliche und sprachliche Verankerung des No Manifesto im Gesamtzusammenhang des Textes nachvollziehbar zu machen.
„1. ORIGINS OF PIECE.“
Wie in der Überschrift angekündigt, enthält der erste Teil des Textes die Entstehung der Performance und beschreibt die anfänglichen Ideen zum 5
Carrie Lambert-Beatty: Being Watched. Yvonne Rainer and the 1960s, Cambridge, MA 2008, S. 77 [Hervorhebung i. O.].
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künstlerischen Konzept von Parts of Some Sextets, dessen Anfänge auf die Performance Room Service und das Duo Part of a Sextet mit Bob Morris zurückgehen. Die Darstellung der einzelnen Etappen der Stückentwicklung ist geprägt von einem protokollarischen Charakter und bezieht darüber hinaus aber immer wieder eine – sowohl selbstkritische als auch selbstironische – Befragung der künstlerischen Entscheidungen ein wie etwa die der Beschaffenheit der Objekte: „Was the difficulty in the nature of the materials? Could it be that a living room couch is not as ‚plastic‘ as a mattress? Hard materials versus soft—or more flexible—materials? (An absurd area of speculation?—like comparing the virtues of plastic or wood toilet seats?)“6 oder die Wirkung der Interaktionen auf das Publikum: „A ‚cheap trick‘ to play on an audience in excluding them from the action? Or rather another device designed to counter the venerable convention of serving it all up on a platter?“7 Neben der Form der offenen Selbstbefragung findet sich im ersten Absatz des Textes gleich ein weiteres wiederkehrendes Motiv, das der Verneinung: „No stylization needed. It seemed to be so self-contained an act as to require no artistic tampering or justification.“8 Weniger als Ablehnung ist sie Teil der Reflexion künstlerischer Prinzipien, die Rainer entlang der Entstehungsgeschichte von Parts of Some Sextets vornimmt.
„2. THE WORK.“
Der zweite und längste Teil des Textes beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung der Entwicklung eines geeigneten Bewegungsvokabulars für das Stück, in dem Inhalte aus dem Abschnitt des No-Manifests vorweggenommen sind, die sich hier aber unmittelbar auf ihre eigene künstlerische Arbeit bezieht. „It was necessary to find a different way to move. I felt I could no longer call on the energy and hard-attack impulses that had characterized my work previously, nor did I want to explore any further the ‚imitations-from-life‘
6
Rainer 1965 (wie Anm. 1), S. 168 f.
7
Ebd., S. 170.
8
Ebd., S. 168.
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kind of eccentric movement that someone once described as ‚goofy glamour.‘ […] But basically I wanted it to remain undynamic movement, no rhythm, no emphasis, no tension, no relaxation. You just do it, with the coordination of a pro and the nondefinition of an amateur. It’s an ideal, still to be worked on.“9 Auch hier findet sich das besagte Nein – eine Verneinung von Rhythmus, Emphase, Spannung und Entspannung, die, wie sie weiter schreibt, zu zwei wesentlichen Elementen ihrer frühen Tänze zurückführt: Wiederholung und Unterbrechung. Es folgt die Konkretisierung der Choreographie, in denen sich Aktionen unterschiedlicher Arten abwechseln sollen: tänzerische Bewegung, Arbeit mit den Matratzen, statische Aktivitäten wie Sitzen, Stehen und Liegen, kontinuierliche und simultane Aktionen mit abrupten Wechseln – teilweise oder umfassenden Veränderungen auf der gesamten Spielfläche. Den Angaben über die grundlegenden Entscheidungen zum künstlerischen beziehungsweise choreographischen Konzept folgen Überlegungen zum Sound, die Festlegung des Materials und der zeitlichen und räumlichen Struktur sowie des Scores, der im Text als eine Liste von 31 Handlungsoptionen festgehalten ist. Im Dezember 1964 erfolgt die Zusammensetzung der Gruppe: „Lucinda Childs, Judith Dunn, Sally Gross, Deborah Hay, Tony Holder, Robert Morris, Steve Paxton, Me, Robert Rauschenberg, Joseph Schlichter“ – wobei Rainer die Überlegungen, die damals schwangere Trisha Brown zu integrieren, ausführlich darlegt.10 Auch die Probleme mit der Vermittlung des Tanzes an die teils bewegungsunerfahreneren Teilnehmer bezieht sie in ihre Darstellung ein: „The dance took 8 weeks to learn. For the first 4 weeks we rehearsed 4 times a week; after that 2 or 3 times a week. It proved to be dry, plodding work, partly due to the length and repetitiousness. Also, since there was no ‚organic‘ or kinesthetic continuity, some of us found it extraordinarily difficult to learn and ended up memorizing it by rote, like multiplication tables or dates in history.“11
9
Ebd., S. 170.
10 Ebd., S. 175. 11
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Ebd., S. 177.
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„3. POSTSCRIPT.“
Der dritte und kürzeste Teil des Textes erscheint unter der Überschrift „Postscript“ und besteht aus vier Absätzen, die eine Auswertung und Engführung des Gesagten enthalten, insofern Rainer ihre Überlegungen auf die Prinzipien ihrer eigenen künstlerischen Arbeit bezieht und im Kontext des aktuellen Tanz- und Theatergeschehens reflektiert. „All I am inclined to indicate here are various feelings about ‚Parts of Some Sextets‘ and its effort in a certain direction—an area of concern as yet not fully clarified for me in relation to dance, but existing as a very large NO to many facts in the theatre today. (This is not to say that I personally do not enjoy many forms of theatre. It is only to define more stringently the rules and boundaries of my own artistic game of the moment.)“12 – „Various feelings“ und „a very large No“: Der relativierenden Einordnung des eigenen Textes und seiner Begrenzung auf die eigene Arbeit folgen die uns bekannten 13 Verneinungen, die sich in ihrer Entschiedenheit nun deutlich von der „Unbestimmtheit der Gefühle“ absetzen. Die erste beginnt mit einem in Majuskeln geschriebenen „NO“, dem ohne Punkt und Komma weitere zwölf „No“ folgen. Der Inhalt der Verneinungen kann dabei als eine Art Zusammenfassung der vorangehenden Überlegungen zu Parts of Some Sextets gelten und weist doch in seiner grundlegenden Ausrichtung zugleich darüber hinaus. In diesem programmatischen Charakter der Äußerung bildet der Absatz jedoch eine Ausnahme innerhalb des gesamten Textes, was ihn für eine Zukunft als Manifest prädestiniert erscheinen lässt. Seine singuläre Position wird jedoch im unmittelbaren Anschluss erneut relativiert und in die Reflexion über Parts of Some Sextets integriert, wenn Rainer in Bezug auf die Aussagen ihre eigene Arbeit zwischen einem theatralen bedeutungsvollen Geschehen und einem nicht-dramatischen und nonverbalen Theater ansiedelt. In diesem Zwischenraum kommt die Bewegung – des Tanzes wie des Textes – nahezu zum Stillstand, wenn Rainer abschließend resümiert: „The dance ‚went nowhere‘, did not develop, progressed as though on a treadmill or like a 10-ton truck stuck 12
Ebd., S. 178.
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on a hill: it shifts gears, groans, sweats, farts, but doesn’t move an inch. Perhaps next time my truck will make some headway; perhaps it will inch forward—imperceptibly—or fall backward—headlong.“13
MANIFEST-WERDUNG – DIE EIGENDYNAMIK EINES DISKURSIVEN AKTES
Die Dynamik des No Manifesto ist eine andere. Anders als der zehn Tonnen schwere und bewegungslose Laster hat sich in vergleichsweise rasanter Geschwindigkeit das Fragment vom Text gelöst und in eine Vielzahl anderer Texte übertragen – und damit fortbewegt. Ohne sagen zu können, wo die Bewegung des Fragments zum Manifest seinen Anfang nimmt, ließen sich jedoch Eigenschaften innerhalb des Absatzes benennen, die es für diese Bewegung prädestinieren, wenngleich, anders als in vielen Erscheinungsformen des Manifests, die Definition nicht durch den Titel erfolgt. Zu diesen Eigenschaften zählen in erster Linie die programmatische Prägnanz und Radikalität der Aussagen, die der Bestimmung einer Kunstrichtung beziehungsweise einer Ästhetik gelten. Auch wenn die sechs Zeilen innerhalb des Textes nicht grafisch akzentuiert sind, so erhalten sie doch durch das erste in Großbuchstaben geschriebene „NO“ und die mehrfache Wiederholung des „No“ sowie die Aneinanderreihung der dreizehn Verneinungen ohne Punkt und Komma bereits im Schriftbild einen performativen Charakter. Dieser zeigt sich auch in dem unmittelbaren Bezug auf eine (Theater-)Wirklichkeit, die hier zur Disposition steht und auf die Wirksamkeit eines Manifestes verweist. Betrachtet man die Verwendung des Absatzes in tanz- und performancetheoretischen sowie künstlerischen Diskursen, dann sind es genau diese Eigenschaften, die unter dem Titel No Manifesto aufgegriffen werden. Die relativierende Argumentation im Essay Rainers tritt dabei hinter der Programmatik der Aussage zurück, die unter tanzhistorischen Gesichtspunkten als Beleg für die ablehnende Haltung des postmodernen Tanzes gegenüber den Konzepten und der Ästhetik des modernen Tanzes herangezogen 13
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Ebd.
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wird. Nicht selten erscheint das Zitat dabei in Verbindung mit ihrer Choreographie Trio A, die als paradigmatisch für die Ästhetik des Postmodern Dance gilt. Die Verwendung des Textfragments zeugt damit nicht zuletzt von einer Perspektive auf Rainers Tanz als Manifestation des Neuen und damit des Postmodernen. Eine Perspektive, in der die von Rainer beschriebenen Ambivalenzen und Ambiguitäten hinsichtlich ihrer künstlerischen Konzepte, wie sie in der Reflexion von Parts of Some Sextets deutlich werden, nur eine marginale Rolle spielen.14 Zu konstatieren ist eine diskursive Dynamik, durch die das Fragment des Textes in den verschiedenen Publikationsformen und -kontexten15 aufgrund seiner sprachlichen und inhaltlichen Eigenschaften zum Manifest geworden ist. Dies ist ein Werdegang, in dem sich die Aussage von ihrer Verfasserin gelöst hat und zugleich immer wieder auf diese zurückgeführt wird. De facto zeichnet Yvonne Rainer für den Text, nicht jedoch für seine Definition als Manifest – diese erfolgt nachträglich, quasi retrospektiv durch andere und später auch durch sie selbst. Wer also ist der Autor oder die Autorin, oder besser sind die Autoren des No Manifesto? In wessen Namen ist das Fragment zum Manifest geworden? Während in der Geschichte des Manifestes die Signatur häufig im Namen vieler – wie etwa durch ein Künstlerkollektiv – geschieht, so lässt sich für das Judson Dance Theater eine solche gemeinsame Erklärung nicht finden, zu unterschiedlich seien die Ansätze gewesen, so Yvonne Rainer in einem Interview mit Sally Banes: „I am the only one who wrote a manifesto – this is the one that bites me in my tale. I can’t get rid of it.“ Und in einem 14
Vgl. dazu Lambert-Beatty 2008 (wie Anm. 5), S. 15. „Despite a tendency by commentators to seek out the manifesto-like moments in her work and her always pithy prose, her art does its cultural work precisely in its ambiguities, and is best understood when one is attuned to compromised goals and thorny conceptual problems.“
15
Exemplarisch dafür können tanztheoretische Auseinandersetzungen gelten, in denen die Aussagen Rainers unter dem Begriff des No Manifesto als wegweisend für die künstlerische Konzeption des Judson Dance Theater beschrieben werden: Sally Banes: Terpsichore in Sneakers. Post-Modern Dance [1980], with a new introduction, Hanover, NH 1987, S. 43; Ramsay Burt: Judson Dance Theater, London/New York 2006, S. 32. Ein jüngeres Beispiel für die Zitation in Versform findet sich in: Nicole Haitzinger: Performance und Manifest. Performance als Manifest? [20.12.2013], http://www.corpusweb.net/performance-und-manifest.html [Abruf: 7.9.2016].
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humorvollen Zusatz: „A No Manifesto“.16 An dieser Stelle spiegelt sich abermals die Paradoxie, die mit dem Titel des Manifests einhergeht: eine Verneinung, die sich sowohl auf den Inhalt, als auch auf das Medium beziehen lässt. Es ist kein Manifest. Es ist ein Manifest, das Yvonne Rainer anhaftet – das sie, auch davon zeugt das Zitat, nicht los wird und das vielleicht mehr von dem Ausbleiben oder der Notwendigkeit eines Manifestes zeugt, als von seiner Existenz. „I wish it could be buried“ – heißt es an anderer Stelle, an der sie auf den Ursprung des besagten No Manifesto verweist: „I never meant for the manifesto to be prescriptive. Manifestos are meant to clear the air and challenge, and then their usefulness is over.“ 17 Rainer selbst habe sich, wie sie in dem Interview mit Banes weiter berichtet, nicht an ihre Aussagen gehalten und gehe auch davon aus, dass dies auch sonst niemand getan habe. Sie schreibe, um sich über ihre Arbeitsprozesse klar zu werden – sie zu erklären. Dieses Verständnis des Schreibens als Akt der (Selbst-)Reflexion und die Distanzierung vom manifestierenden Charakter ihrer Aussage sowie ihre hier dargestellte Verankerung im Essay Parts of Some Sextets in der Tulane Drama Review machen es schwierig, von Yvonne Rainer als Autorin des No Manifesto zu sprechen. Weniger als das Schriftstück einer einzelnen, scheint es das Ergebnis einer Vielzahl von Autoren zu sein. „Ist nicht auch das individuelle Manifest immer das Produkt eines Gruppenprozesses, oder beabsichtigt es nicht zumindest, mit seiner Publikation einen solchen in Gang zu setzen?“18 – so fragen Wolfgang Asholt und Walter Fähnders nach der Bedeutung der Signatur in Manifesten. In Gang
16
Yvonne Rainer in einem Interview mit Sally Banes: Talking Dance, Walker Art Center, Minne-
17
„Rainer: The NO-manifesto is brought up over and over again. I wish it could be buried … I came
apolis, 26.9.2001, https://www.youtube.com/watch?v=cn6HtsbThKc [Abruf: 5.7.2016]. to it at the end of an essay about a particular work, ‚Parts of Some Sextets‘, which was a piece for ten people and twelve mattresses in 1965, I never meant for the manifesto to be prescriptive. Manifestos are meant to clear the air and challenge, and then their usefulness is over. I myself haven’t abided by that manifesto, and I don‘t expect anyone else to, either. But it’s always brought up, I don’t know … It‘s no longer useful – or maybe it is. Someone else should write a manifesto about what’s going on now.“ Helmut Ploebst: Meeting Yvonne Rainer [2007], http:// www.corpusweb.net/meeting-yvonne-rainer-3.html [Abruf: 5.6.2016]. 18 Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart/Weimar 1995, S. XXVI.
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gesetzt wurde eine ganze Lawine – ein Truck – von Erklärungen zum No Manifesto. Weniger um eine Gruppe von Künstlern handelt es sich also um ein Kollektiv von Autoren. Geht mit der Signatur eines Ensembles, wie Asholt und Fähnders betonen, immer auch eine gemeinsame Verantwortung aller Beteiligten gegenüber dem Manifest einher, so liegt sie meines Erachtens hier bei den verschiedenen medialen und diskursiven Instanzen und den in ihnen getroffenen Entscheidungen über die Definition und Kontextualisierung des Textfragments, seine Publikations- und Präsentationsformen. Dazu zählt nicht zuletzt die eingangs thematisierte Veröffentlichung von A Manifesto Reconsidered (2008) von Yvonne Rainer selbst, in der sie ihre 1965 getroffene Aussage in den Veränderungen, die diese durch ihre grafische Darstellung in den verschiedenen Publikationskontexten erfahren hat, zitiert, diese revidiert und relativiert, aber gleichzeitig signiert (siehe Abb. 1 bei Brandstetter in diesem Band, S. 27). Wenn Rainer an dieser und anderer Stelle selbst nachträglich von einem Manifest spricht, sich – bei aller Distanzierung – als seine Autorin bekennt, dann scheint sie für eben diesen Prozess der De- und Rekontextualisierung, den das Fragment seit 1965 erfahren hat und den sie durch ihre Aussage in Gang gesetzt hat, zu zeichnen und sich verantwortlich zu zeigen.
SABINE HUSCHKA
SZENEN DER ENTLEERUNG UND TRANSGRESSION. REFLEXIONEN ZU YVONNE RAINERS NO MANIFESTO
„Outside of a socially integrating or perhaps revolutionary movement the manifesto appears to assault our aesthetic convictions, sweeping away our pleasures along with our certainties, making the way rough again, releasing a blast of cold air to shiver our satisfied timbers.“ Yvonne Rainer (Oktober 1981)1 In Reflexion auf ihr berühmt gewordenes No Manifesto legt Yvonne Rainer die Funktion eines Manifests offen, wenn sie in einem Gespräch mit dem Autor Helmut Ploebst herausstellt: „Manifestos are meant to clear the air and challenge, and then their usefulness is over.“2 Der Nachsatz dieser Aussage relativiert mit Blick auf die historische Disposition von Manifesten ihre zuvor eindeutige und geradezu vielversprechende Funktionsbestimmung: Manifeste wirken in und für die Kunst klärend und verändernd. 1
Yvonne Rainer zit. n. Judson Dance Theater: 1962–1966, hg. v. Wendy Perron und Daniel J. Cameron, Ausst.-Kat. Bennington College, Bennington, VT 1981, S. 54.
2
Yvonne Rainer im Gespräch mit Helmut Ploebst: Meeting Yvonne Rainer [2007], http://www. corpusweb.net/meeting-yvonne-rainer-3.html [Abruf: 20.06.2016].
SZENEN DER ENTLEERUNG UND TRANSGRESSION
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Damit ist, wie Rainer herausstellt, der sich mit ihnen eröffnende ästhetische Horizont radikal einer Zeitgebundenheit unterworfen. Tatsächlich ist Rainers No Manifesto konkret aus einer ästhetischen Auseinandersetzung und Arbeit an dem Tanzstück Parts of Some Sextets (1964) erwachsen, auf dessen Produktionsprozesse Rainer in einem Essay (1965) reflektierte. Programmatisch pointiert fasst dieser Text konzeptionelle Grundsätze zur Tanzkunst zusammen.3 Die ästhetische Sprengkraft seiner programmatischen Positionierung aber – so unterstreicht es Rainer immer wieder – hat sich seitdem längst überlebt. Künstlermanifeste, von denen nur wenige von Tänzern und Choreographen verfasst wurden,4 entwickeln ihre programmatische Kraft und Potentialität aus einem spezifischen kulturell-gesellschaftlichen wie ästhetisch-politischen Kontext. Diese geradezu grundständige historische Situierung und Einbettung bedingt ihre Funktion und Wirkung für das Denken und Handeln in den Künsten. Doch gewinnen Manifeste ebenso durch historiographische Verfahren an Gewicht. Diskurshistorisch und -theoretisch wird ihre Bedeutung ein zweites Mal produziert und herausgeschält. Für das No Manifesto von Rainer markiert gerade jene historiographische Dimension(ierung) ihrer programmatischen Aussage einen besonderen Stellenwert, die gleichsam eine prekäre Situation beschreibt: Denn ungeachtet ihrer eigenen intervenierenden Bemühungen ist Rainer ihr No Manifesto tatsächlich nicht mehr losgeworden. Schon im Oktober 1981 beklagte sie deshalb: „Ever since, the manifesto at the end of the essay, with its litany of ‚no’s‘, has dogged my heels as critics have used it to pigeonhole my work. A manifesto, like any dogma, is tiresome to live with. It is a guiding light, too immaculate for one person to bear, that must be taken up by others or (a) 3
Yvonne Rainer: Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses Called „Parts of Some Sextets“, Performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965, in: The Tulane Drama Review, Bd. 10, H. 2 (Winter 1965), S. 168–178.
4
Hierzu gehören u. a. das YES MANIFESTO (2005) von Mette Ingvartsen sowie das The hidden performance manifesto. 10 ways to destroy a performance der zeitgenössischen Künstlerin und Choreographin Christine Standfest. Vgl. hierzu Nicole Haitzinger: Performance und Manifest. Performance als Manifest? [2013], http://corpusweb.net/performance-und-manifest. html [Abruf: 09.7.2016].
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voided. The contradictions and pressures of the individual life constantly challenge one’s highmindedness and make a mockery of it.“5 Gleichsam monumentalisiert als ästhetische Identifikationsfigur ihrer Arbeit fortgeschrieben, klebt Rainer das No Manifesto bis heute sprichwörtlich an den Fersen.6 Noch 2007 wird Rainer daher nicht müde zu betonen, dass es für sie selbst nicht zum Diktum geworden sei, sie es keineswegs befolgt habe und auch von niemand anderem erwarte, dies zu tun.7 Wenn Yvonne Rainer damit wiederholt in Befragungen und Reflexionen die Funktion und ästhetische Potentialität ihres eigenen Manifests minimiert und den zeitlich gebundenen Gebrauchswert von Manifesten generell herausstellt, so geschieht dies sicherlich auch aus einer kritischen Haltung gegenüber der Wirkmächtigkeit ästhetischer Diskurse. Die Kritik gilt einer kunstpolitischen und historisierenden Funktionalisierung des Textes als Interpretationsfolie ihrer Tanzästhetik, die von einer reduzierenden Perspektivierung bedroht scheint. Rainer unterstreicht: „Outside of a socially integrating or perhaps revolutionary movement the manifesto appears to assault our aesthetic convictions, sweeping away our pleasures along with our certainties, making the way rough again, releasing a blast of cold air to shiver our satisfied timber. But once that movement is past, our memories work in their accustomed ways to create a historiography of individual utterances, personality quirks, stylistic vagaries with attendant indictments or commendations for inconsistency or originality. In the liberal critical mind that creates this ‚art history‘ the artist’s touch and voice are paramount, while the institutionalized value systems that mete out and withhold rewards for conspicuous assaults and consumptions remain irreverant and exempt. Promissing not to make another manifesto is not the point. Reminding critics and historians that art is not made by artists only, is.“8
5
Yvonne Rainer zit. n. Ausst.-Kat. Bennington 1981 (wie Anm. 1), S. 54.
6
„The NO-manifesto is brought up over and over again. I wish it could be buried ...“ Rainer 2007 (wie Anm. 2).
7
„I myself haven’t abided by that manifesto, and I don’t expect anyone else to, either.“, ebd.
8
Rainer zit. n. Ausst.-Kat. Bennington 1981 (wie Anm. 1), S. 54.
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Der simple wie interessante Umstand, mit dem No Manifesto tatsächlich eine diskursmächtige und geschichtlich fortgeschriebene Diskursfiguration von Rainers Ästhetik anzutreffen, basiert zugleich auf kunstpolitischen Strategien, an denen Rainer entschieden mitgewirkt hat. Denn auch sie selbst hat das Manifest weiter- und umgeschrieben – zuletzt erschien 2008 eine Neufassung unter dem Titel A Manifesto reconsidered, die im Rahmen einer Veranstaltung der Serpentine Gallery veröffentlicht wurde.9 Schon Mitte der 1960er Jahre erfolgte eine erste Umschreibung und Übertragung der zunächst allein als ästhetische Reflexion über „ein Tanzstück für zehn Leute und zwölf Matratzen“ angelegten Erstveröffentlichung Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses called „Parts of some Sextets“: Rainer löste das Manifest aus dem Fließtext heraus und transponierte es in ein mehrzeiliges Satzbild. Als solches wurde es als No Manifesto bekannt, dessen visuelle Gestaltung einer tabellarischen Reihung der mit „No“ beginnenden Leitsätze den Tonfall seines „very large NO“10 verstärkt. Was zunächst als Fließtext in einem Abschnitt (unter der Zwischenüberschrift Postscript) am Ende der erstveröffentlichten Textfassung die ästhetische Reflexion über Parts of Some Sextets abschloss und ein ästhetisches Leitbild formulierte, erscheint seither losgelöst und singulär als ästhetische Grundsatzprogramm einer postmodernen Tanzkunst. Die Umschreibung wird zudem von einer textlichen Übertragung ihrer ästhetischen Programmatik auf eine weitere Tanzproduktion flankiert. Rainer verwendete ihre Textpassage noch im April 1968 für ihr Programmheft zu The Mind is a Muscle, einem Aufführungsabend im Anderson Theater, an dem Trio A in zwei Versionen gezeigt wurde. Rekontextualisiert steht dessen ästhetische Vision nun für die künstlerisch-politische Auseinandersetzung in einer anderen Tanzperformance ein. Produktionsästhe9
Gedruckt in der Begleitpublikation zu dem von Hans Ulrich Obrist kuratierten Serpentine Gallery Manifesto Marathon im Oktober 2008: Yvonne Rainer: A Manifesto Reconsidered, in: Manifesto Pamphlet, 18./19.10.2008, Serpentine Gallery, London, [o. P. = S. 24 Seiten, hier S. 22], http://www.serpentinegalleries.org/sites/default/files/downloads/Manifesto%20 Pamphlet.pdf [Abruf: 7.6.2016].
10 Rainer 1965 (wie Anm. 3), S. 178.
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tisch eröffnet sich damit ein konzeptioneller Kontext, der im Laufe der späteren Jahre in tanzwissenschaftlichen Reflexionen über Rainers Arbeiten ein deutliches Echo gefunden hat, zumal Trio A aus vielfältigen Gründen als „signal work for both Rainer and for the entire post-modern dance“11 gilt. Als wichtiger Referenzpunkt ästhetischer Reflexionen von Autoren wie etwa Sally Banes, Mark Franko oder Ramsay Burt gewählt,12 gewinnt Trio A aus einer Korrespondenz mit dem No Manifesto eine analytische Kontur, die den Blick auf Rainers Tanzästhetik programmatisch verdichtet. Diesem Zusammenhang soll im Weiteren nachgegangen werden.
DAS MANIFEST ALS ÄSTHETISCHE HALTUNG
Worum handelt es sich bei dem No Manifesto von Yvonne Rainer aber dann eigentlich? Um ein künstlerisches Resümee, das aus der Arbeit an einer Tanzperformance hervorgeht, um ein ästhetisch-politisches Programm für ein verändertes Selbstverständnis von Tanz oder um einen ästhetischen Aktionsraum, wie er sich in den Manifesten der Avantgarde artikuliert? Das Verhältnis von Manifest und ästhetischer Praxis beschrieb Benedikt Hjartarson in Visionen des Neuen für das frühe avantgardistische Manifest als Schaffung eines „kommenden, absoluten ästhetischen Raum[s]“13. Für die neo-avantgardistische Position von Rainer entsteht jener neuer „ästhetischer Raum“ inmitten eines vielschichtigen interdependenten Gefüges künstlerischer Recherchen. Dabei ist die choreographisch-tänzerische Praxis der 1960er Jahren flankiert und initiiert durch intensive diskursive
11
Sally Banes: Terpsichore in Sneakers. Post-Modern Dance, Hanover, 1987, S. 44.
12
Mark Franko: Some Notes on Yvonne Rainer, Modernism, Politics, Emotion, Performance, and the Aftermath, in: Jane C. Desmond (Hg.): Meaning in Motion. New Cultural Studies of Dance, Durham/London 1997, S. 289–303, hier vor allem S. 298 ff.; Ramsay Burt: Judson Dance Theater. Performative traces, London/New York 2006, S. 75–87.
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Benedikt Hjartarson: Visionen des Neuen: eine diskurshistorische Analyse des frühen avantgardistischen Manifests, Heidelberg 2013, S. 6. Hjartarson untersucht die Gattung Manifest dabei nicht allein als Proklamation oder Erklärung einer Programmatik, sondern als offenen „Spielraum komplexer sprachlicher Performanzen, die als Keimzellen einer zugleich politischen, geistigen und ästhetischen Revolutionierung zu dienen haben“, um das Manifest als rhetorisches Feld diskursanalytisch als Aushandlungsprozess des Projekts der Avantgarde zu beleuchten (ebd.).
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Reflexionsprozesse. So rufen etwa die Sätze im No Manifesto eine ästhetische Haltung auf, die mehr als eine Bilanz des Arbeitsprozesses zieht. Dimensioniert wird eine ästhetisch-politische Vision, mit der ein Programm für weitere Produktionen in Anklang kommt. Rainer fordert eine spezifische performative Haltung und mit ihr eine kunstpolitische Intervention des Ästhetischen von Tanzaufführungen ein. Flankiert von weiteren richtungsweisenden Texten etwa in Programmheften und in kunstpolitischen Aufsätzen14 stellt Rainer radikale Forderungen für die Tanzkunst auf, die aus und mit ihrer eigenen künstlerischen Praxis an veränderten Aufführungsformen und Bewegungsweisen arbeitet.15 In Praxis und Theorie vollzogen artikuliert sich ein künstlerisch revolutionäres Denken, bei dem das Manifest als programmatische Manifestation eine performative Kraft freizusetzen sucht und als Medium seiner ästhetischen Realisierung fungiert. So zeichnet Rainers Essay Some Retrospective Notes on a dance for 10 people and 12 mattresses called „Parts of some Sextets“ (1965) nicht allein einen choreographischen Prozess nach. Die nachträgliche Reflexion über die Erarbeitung von Parts of Some Sextets eröffnet dabei auch einen Horizont ästhetisch-politischer Visionierung, ausgehend von dem bewegungsästhetischen Leitgedanken des Tanzstücks, Bewegungen als Aktionsraum im Umgang mit Objekten (Matratzen) in Szene zu setzen. Schrittweise legt Rainer die Stationen des einjährigen Produktionsprozesses entlang zentraler Frage- und Problemstellungen offen, die zentral mit der zielgerichteten Suche verknüpft waren, Improvisationsstrategien in physischer Auseinandersetzung mit Objekten zu finden. Die ästhetische Suche galt, einen primär körperlichen Aktionsraum zu schaffen und diesen in solchen choreographischen und damit räumlich strukturierten Settings zu präsentieren, 14
Yvonne Rainer: A Quasi Survey of some „Minimalist“ Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of Trio A [1968], in Yvonne Rainer: Work 1961–73, Halifax/New York 1974, S. 63–69, zuerst veröffentlicht in: Gregory Battcock (Hg.): Minimal Art. A Criticial Anthology, New York 1968. Geschrieben wurde der Text 1966.
15
Folgt man den gattungstheoretischen Überlegungen von Hjartarson, der auf den Unterschied zwischen jenen Texten, die vom Verfasser als Manifest bezeichnet und jenen, die retrospektiv als solche klassifiziert werden, aufmerksam macht, so bleibt der Status des No Manifesto von Rainer vage. Was zunächst nicht von ihr als Manifest tituliert wurde, ist retrospektiv als ein solches anerkannt und benannt worden. Vgl. Hjartarson 2013 (wie Anm. 13), S. 46.
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deren Performance einen spezifischen Wahrnehmungsmodus seitens der Zuschauer zu adressieren vermochte. „Simple, undistinctive activities made momentous thru their inaccessibility. A ‚cheap trick‘ to play on an audience in excluding them from the action? Or rather another device designed to counter the venerable convention of serving it all up on a platter?“16 Zur Disposition stehen Formen der Wahrnehmung und Blickadressierungen, um Blick und Wahrnehmung mittels gezielter Strategien der Distanzierung zu lenken. Aufführungsästhetisch streben Rainers choreographische Prozesse nach einer vollständigen Transparenz ihrer statthabenden Aktionsräume und -abläufe, wobei sich ihre Performance einer Affizierung und emotionalen Nähe zum Publikum radikal zu entziehen sucht. Rainer merkt über den Aufführungsmodus einer solchen Bewegungspräsentation an: „[...] something completely visible at all times, but also very difficult to follow and get involved with.“17 Auch in Reflexion auf ihren eigenen körperlichen Performancestil hebt Rainer ihre bewegungsästhetische Suche nach einem spezifisch anderen Ausführungsstil von Bewegung hervor. In Anklang kommt ein ideal-utopischer Moment: „[...] basically I wanted it to remain undynamic movement, no rhythm, no emphasis, no tension, no relaxation. You just do it, with the coordination of a pro and the non-definition of an amateur. It’s an ideal, still to be worked on.“18 Die ästhetische Suche gilt damit einem abgeflachten Modus des Performens, der sich als tänzerischer Akt einer dynamisierten Bewegungsgestaltung versagt: Kompositorisch von Wiederholungen und Unterbrechungen durchzogen, entwirft Rainer ein Ideal, das sich geradezu programmatisch von dem ästhetischen Selbstverständnis von Tanz als kontinuierlich-fortlaufender virtuoser Bewegungsfluss abgrenzt. Konzeptionell schält sich dabei jene Diskursfigur der Negation als ästhetischer Topos heraus, die am Ende des Textes als „Postscript“ in die als No Manifesto bekannt gewordene Textpassage kulminiert. Dort komprimiert Rainer ihre choreographische, bewegungs- und aufführungsästhetische Suche zu einer ästhetisch-konzep16
Rainer 1965 (wie Anm. 3), S. 170.
17
Ebd., S. 172.
18 Ebd., S. 170 [Hervorhebung i. O.].
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tionellen Haltung, die über die revolutionäre Geste einer radikalen Negation einen künstlerischen Raum absteckt und als notwendige ästhetische Auseinandersetzung diskursiv behauptet. Programmatisch im Sinne eines „very large NO“ transgrediert das No Manifesto Satz für Satz die bisherigen produktionspraktischen Reflexionen über ein spezifisches Tanzstück und erschließt einen ästhetischen Raum, der rück- wie vorausweisend bestehende Grenzen tänzerisch-choreographischer Präsentation über die Geste der Negation zu überbieten sucht. Welche thematischen Kulminationspunkte und Zielsetzungen aber prägen diesen ästhetischen Denkentwurf? In welchen verschiedenen Formen diskursiver wie tänzerisch-performativer Praxis kommen diese zum Tragen?
DAS MANIFEST ALS ÄSTHETISCHE PRAXIS: ENTLEERUNG UND TRANSGRESSION
Im Wechselspiel zwischen diskursiver Manifestation und künstlerischer Produktion gibt sich eine kunstpolitische Auseinandersetzung zu erkennen, die eine radikale Durchkreuzung ästhetischer Grundsätze der Tanzkunst ins Werk setzt. Virtuosität, Transformation, Magie, Transzendenz, heroische oder antiheroische Gebärde, Stil, Exzentrik, der Einbezug von Performern und Zuschauern, die Verführung des Publikums, Glamour und Starallüren: Eindringlich versammelt Rainer all jene ästhetischen Kriterien über Tanz als Bühnenform, mit denen er sich im europäischen Raum als Kunst historisch definiert hat. Mit einer großen Geste des kategorischen „No“ werden sie ausgestrichen: „NO to spectacle no to virtuosity no to transformations and magic and make-believe no to the glamour and transcendency of the star image no to the heroic no to the anti-heroic no to trash imagery no to involvement of performer or spectator no to style no to camp no to seduction of spectator by the wiles of the performer no to eccentricity no to moving or being moved.“19 Vor dem Hintergrund dieser radikalen Negation erhebt sich die Frage nach möglichen anderen ästhetischen Momenten und Wahrnehmungsfiguren 19
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Ebd., S. 178.
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eines performativ dargebotenen Tanzes: Wie soll sich ein Tanzen als ästhetische Präsentationsform und Aufführungskunst danach zeigen? Offensichtlich entfaltet das No Manifesto eine wiederholende Geste der Ausstreichung und wirft mit logischer Konsequenz die Frage nach einem möglichen Rest, ja nach einem anderen Feld potentieller Positivitäten auf. Dabei folgt die Figur der Negation der radikalen Strategie einer Wegnahme und hinterlässt ein gewissermaßen entleertes ästhetisches Feld. Mit dem No Manifesto lassen sich verschiedene ästhetische Kontextualisierungen seines Programms nachzeichnen. Rückblickend auf ihre eigene Produktion Parts of Some Sextets stellt sich im Nachklang auf ihre aufgestellte Programmatik für Rainer die Frage, wie ein Performanceraum geschaffen werden kann, der die Dispositive eines nonverbalen und nicht-dramatischen Theaters mit seinen theatralen Settings aus dramatisch-psychologisierter Bedeutungen und imaginär-atmosphärischen Effekten zu überschreiten vermag.20 Parts of Some Sextets scheint dies als eine Performance des ‚Zwischen‘ umzusetzen, da dessen theatraler Raum ohne Entwicklung und Zielführung einen Effekt des „nothing happening“21 ausspielt. Über den Produktionsprozess von Parts of Some Sextets hinausgehend, findet das No Manifesto, wie es im Weiteren aufzuzeigen gilt, tatsächlich im Werkkomplex von Trio A – das zunächst unter dem Titel The Mind is a Muscle aufgeführt wurde – zu einer wichtigen wiederhallenden bewegungsästhetischen und choreographischen Konkretisierung.22 20 Vgl. Ebd., S. 178: „The challenge might be defined as how to move in the spaces between theatrical bloat with it’s burden of dramatic psychological ‚meaning‘—and—the imagery and atmospheric effects of the non-dramatic, non-verbal theatre [...] .“ 21
Ebd.
22 Dies war einer der Grundgedanken, den ich zusammen mit Nicole Haitzinger in unserem gemeinsamen Vortrag Entleerung und Verflüssigung. Über den Reflexionsraum zwischen Tanz und Manifest auf der Münchner Konferenz Clear the Air. Künstlermanifeste in Choreographie, Performance Art und bildender Kunst seit den 1960er Jahren am 4.12.2015 verfolgt habe und an den ich an dieser Stelle anknüpfe: „Inwiefern kann Trio A als Konkretisierung, Überschreitung oder als Abweichung des No-Manifests verstanden werden? Text und Tanz – Manifest und ästhetische Praxis – manifestieren eine choreographische Struktur der Wegnahme, mit der die körperliche Performativität ihre theatralen Rahmungen verliert und die Position des Performers verschiebt.“
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Im Kontext zu den programmatischen Äußerungen im Programmheft The Mind is a Muscle und ersten konzeptionellen Reflexionen von Rainer zur Stückerarbeitung (1966/1968)23 wird eine systematisch geführte Auseinandersetzung mit den ästhetischen Prinzipien der Bühnenkunst Tanz auffällig, die schon dem No Manifesto gleichsam als Folie seiner abgrenzenden und entleerenden Geste unterlag. Mit einem konzeptionellen Blick auf die Bühnentanzgeschichte erstellt Rainer im Diskurskontext von The Mind is a Muscle eine tabellarische Liste ästhetischer Leitbegriffe wie etwa „1. phrasing, 2. development and climax, 3. variation: rhythm, shape, dynamics, 4. character“24, um sie systematisch auszutauschen. Jedes ästhetische Kennzeichen wird strukturell durch ein notwendig zu erarbeitendes Prinzip für das ästhetische Feld der Aufführungskunst Tanz ersetzt. Zentral sind dabei jene zu verändernden Gestaltungsprinzipien der zeitlichen und qualitativen (für Rainer energetischen) Performancemerkmale von Bewegungen. Eingefordert wird etwa eine „1. energy equality and ‚found‘ movement, 2. equality of parts, repetition, [...] 4. neutral performance, 5. task or tasklike activity“25, mit denen Rainer Bewegungen aus dem ‚künstlichen‘ Raum eines „more-than-human look“26 lösen will. Während die strategische Geste der Negation im No Manifesto eine Entleerung des ästhetischen Feldes anzeigt, verweist jener systematische Entwurf der Ersetzung auf eine Geste der Transgression des Ästhetischen, die sich explizit an die Gestaltungsoptionen von Bewegung richtet. Das „just do it“27, wie es aus den Aktionsräumen im Umgang mit Matratzen (in Parts of Some Sextets) hervorging, konkretisiert sich nunmehr in der Konzeption eines „neutral doer“. Markiert ist ein bewegungsästhetisches Feld des Performativen, nämlich Bewegungen-als-Aufgabe und Bewegungen-als-Objekt – „movement-as-task or movement-as-object“28 – auszuführen. „The artifice of performance has been reevaluated in that action, or what one does, is more interesting and important than the exhibition 23 Rainer 1974 (wie Anm. 14), S. 63–69. 24 Ebd., S. 63. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 65. 27 Rainer 1965 (wie Anm. 3), S. 170. 28 Rainer 1974 (wie Anm. 14), S. 66.
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of character and attitude, and that action can best be focused on through the submerging of the personality; so ideally one is not even oneself, one is a neutral ‚doer‘.“29 Damit vollzieht Rainer neben anderen dem Postmodern Dance zugehörigen TänzerInnen und ChoreographInnen jenen historischen Bruch, mit dem sich Tanzperformances aus einem expressiv-emotionalen Gerüst dramatisch gefügter Tanzbewegungen lösen.30 Der Körper soll als Objekt die Szene des Tanzens betreten. Eingefordert wird eine ästhetische Arbeit der Distanznahme von der dramatisch-psychologisierten Verkörperung, mit der, wie die Tanzkritikerin Jill Johnston formuliert, der Körper als „toward a matter-of-fact“31 auftritt. In Auseinandersetzung mit Positionen des amerikanischen Minimalismus (unter anderen Robert Morris) sucht Rainer einen Objekt-analogen Modus performter Bewegungen zu entwickeln, um dem Körper als Stätte des (Sich-)Bewegens ein eigenes – ihm eigenes – Gewicht zu geben: „It is my overall concern to reveal people as they are engaged in various kinds of activities […] and to weight the quality of the human body toward that of objects and away from the super-stylization of the dancer.“32 Die Präsentation körperlicher Aktionen als ästhetische Einräumung seines „aktuellen Gewichts“ stattet zugleich der Zeit als „aktuelle Zeit“ einen veränderten Gestaltungs- und Wahrnehmungsraum des performten Bewegungsvollzugs zu, womit sich die Bewegungsausführung aus einer dramatisiert-rhythmisierten Kompositionsstruktur zu lösen vermag.
29 Ebd., S. 65. 30 Franko stellt in diesem Kontext die besondere Qualität der Arbeiten von Rainer innerhalb der „Modernist/Postmodernist“-Debatte heraus und betont Rainers ästhetische Anerkennung von Emotionen als faktischer Grund und sozialer Anteil von Bewegung. Gleichzeitig vollziehen die Arbeiten eine ästhetische Abkehr von einer expressiven Ausgestaltung von Bewegungen. Die eingeforderte spezifische Performancequalität bildet bis heute einen Teil der ästhetischen Auseinandersetzung in zeitgenössischen Tanzperformances. Vgl. Franko 1997 (wie Anm. 12). 31
Jill Johnston: Marmalade Me [1971], Hanover, NH/London 1998, S. 67.
32 Programmheft von The Mind is the Muscle, in: Rainer 1974 (wie Anm. 14), S. 70 f., hier S. 71.
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ZEITENFLUSS UND NEUTRUM
Die ästhetische Figur eines „neutral doer“33 verweist auf eine spezifische und zugleich grundlegend unmögliche Disposition des Performers, mit der ein utopisches Moment inmitten einer notwendigen Arbeit am Körperlichen angezeigt ist. Unmöglich ist diese Disposition auf Grund der konstitutiven körperlichen und damit subjektiven wie materiellen Verwebung des Performers in den Akt der Bewegungsausführung. In dessen Gewebe körperlich gegebener Bewegungsausführung schiebt die ästhetische Figur der Neutralität quasi einen ideell-utopischen Horizont ein. Damit erheben sich Fragen, in welcher Weise der Performer und sein spezifischer Performancemodus praxeologisch herausgebildet wird und wie sich Performer als „neutral doer“ zeigen, wenn ihre Bewegungen aus einem Aktionsraum entstehen, der, wie Rainer fordert, dem Körper sein eigenes Gewicht geben will – „its actual weight, mass, and unenhanced physicality“.34 Aus dieser Disposition heraus entwickelte Rainer ihr Tanzstück Trio A. Trio A wurde in der Zeit von 1965 bis 1968 in verschiedenen Variationen erarbeitet und aufgeführt und damit ästhetisch repositioniert und neu arrangiert. 1966 wurde das Stück das erste Mal als ein Trio gezeigt.35 (Abb. 1, 2, 3) 33 Rainer 1974 (wie Anm. 14), S. 65. Interessanterweise distanziert sich Rainer in ihrem Vortrag Where’s the Passion? Where’s the Politics? 2012 in Köln im Rahmen der ersten Retrospektive ihrer Arbeiten in Deutschland von dem Begriff des „neutral doer“ und sagt, dass sie heute den Performancemodus als einen „low keyed impressionation“ beschreibt, in dem ein „ambigious self“ die Bewegungen initiiert. Das Performance-Subjekt wird dabei als eines aufgefasst, „that is as once produced, erased and confounded“ (vermengt). Vgl. gleicher Vortrag, 2014 gehalten am MIT-Massachusetts Institute of Technology, https://www.youtube.com/watch?v=XAXK1IKptXg: [Abruf: 14.7.2016]. 34 Rainer 1974 (wie Anm. 32), S. 71. Denn – wie es im Programmheft weiter heißt – liebe Rainer den Körper. 35 Trio A hat eine Reihe von Bearbeitungen erfahren. Zu den wichtigsten zählt jene im Programm The Mind is a Muscle, in der Trio A zusammen mit Trio B, Mat, diversen Musikstücken, Filmen und einer Lecture von Yvonne Rainer im Anderson Theatre im April 1968 gezeigt wurde. Vgl. Faksimile des Programms in Yvonne Rainer: A Woman Who ... Essays, Interviews, Scripts, Baltimore, MD/London 1969, S. 38–41. 1967 führte Rainer das Stück als Solo unter dem Titel Convalescent Dance im Rahmen der Angry Art Week am Hunter Playhouse auf. Auf dem Connecticut College American Dance Festival 1969 tanzten es 50 Studenten für eine Stunde. Nackt, nur mit der amerikanischen Flagge behangen, führte es Rainer 1970 mit Mitgliedern der Grand Union (Lincoln Scott, Steve Paxton, David Gordon, Nancy Grenn und Barbara Dilley) zur Eröffnung der People’s Flag Show auf.
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Doch bildet interessanterweise gerade nicht das Debüt am 10. Januar 1966 in der Judson Memorial Church, getanzt von Rainer, Steve Paxton und David Gordon, als erster Teil des Abends The Mind is a Muscle, die zentrale ästhetisch-reflexive und historiographische Referenz für diesen Tanz. Es sind vielmehr die Filmaufnahme von Sally Banes aus dem Jahr 1966, in der Yvonne Rainer Trio A als Solo performt, und andere Neueinstudierungen, die zur Grundlage ästhetischer Analysen wurden. Trio A ist damit im Grunde weniger als ein Tanzstück zu betrachten, denn als ein ästhetischer und medial vermittelter und historisch weitergetragener Werkkomplex. In seiner ästhetischen Performance widersetzt sich Trio A umfassend dem Spektakulären und gibt einer Gleichmütigkeit Ausdruck, die vor allem für zeitgenössische Blicke der 1960er Jahre als langatmig und trocken wahrgenommen wurde. So weist Carrie Lambert-Beatty in ihrer komplexen Untersuchung zu Rainers Tanzästhetik auf die als unbefriedigend qualifizierte Wahrnehmung der Performance seitens der Kritiker hin:„Critics at the time of its debut described this brief dance as ‚a blissfully boring dance number‘ and ‚a sort of boring continuum‘, with one reviewer going so far as to single it out as ‚possibly the most stultifying dance I have ever seen‘. Even an enthusiastic Jill Johnston likened Trio A to ‚woolen underwear‘.“36 Tatsächlich ist die Gangart des Stücks in spezifischer Weise fließend: im flow eines Zeitenflusses zerfließt das Geschehen vor den Augen der Betrachter. Es fehlen zeitliche, rhythmische Zäsuren, markante Ballungsmomente, Posen der Arretierung, ein Verharren des Körpers im Bild. Yvonne Rainer bezeichnet die zeitliche Struktur der Performance selbst als „metronome-like regularity“37, wobei die Monotonie eines regulativen Zeitmaßes im Grunde nicht die spezifische ästhetische Qualität seines eigentümlichen flows anzeigt. Denn dem Gang der Bewegungen fehlt jegliche qualitative Phraseologie aus 36 Carrie Lambert-Beatty: Being watched: Yvonne Rainer and the 1960s, Cambridge, MA 2008, S. 127–165, hier S. 130. Vgl. dies: Moving Still: Mediating Yvonne Rainer’s Trio A, in: October, Bd. 89, Summer 1999, S. 87–112. 37 Yvonne Rainer: Some non-chronological recollections of The Mind is a Muscle, in: Rainer 1974 (wie Anm. 14), S. 75–83, hier S. 75.
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Abb. 1
Yvonne Rainer: Trio A (The Mind is a Muscle, Part I), 1966. Erstaufführung, Judson Memorial Church, New York, 10. Januar 1966. Im Bild: Steve Paxton, David Gordon, Yvonne Rainer. Foto: Peter Moore
Abb. 2
Yvonne Rainer: Trio A, 1966. Getanzt von Rainer in Steppschuhen als Lecture in The Mind is a Muscle, 1966–1968. Anderson Theater, New York, 11. April 1968. Foto: Peter Moore
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Abb. 3
Yvonne Rainer: Trio A, 1966. Getanzt von Rainer in Steppschuhen als Lecture in The Mind is a Muscle, 1968. Foto: Peter Moore
divergierenden Kraftmomenten. Diese eigentümliche energetische Qualität des gleichmütig Ununterschiedenen in der Performance spiegelt Jean Nuchtern in seiner Kritik aus dem Jahr 1976, veröffentlicht in den Soho Weekly News wider: „thereisnopartofthisarticlethatisanymoreimportantthananyotherparteachwordsentenceparagraphcarriesthesameweightasanyotheranditssmotthnessliesnotonlyintheequalweightednessofeachwordsentence andparagraphbutinthejuxtapositionofoneparagraphtoanotherwhichcausesthereadertoreacttothearticleaswholeratherthanassegments.“38 Tatsächlich drängt dieser Tanz konzeptionell auf einen widerständigen Wahrnehmungsmodus, der sich mit der konzeptionellen Zielsetzung, einen Tanz zu formen, der tatsächlich „hard to see“ sein sollte, spezifischen zeitstrukturellen wie energetischen Kompositionsprinzipien verdankt. Wahrnehmungsästhetisch bildet sich ein zerfließender BewegungsZeitenRaum 38 Jean Nuchtern: An Yvonne Rainer Collage, in: Soho Weekly News, 4. November 1976, S. 17, zit. n. Lambert-Beatty 2008 (wie Anm. 36), S. 133.
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heraus. Ohne Wiederholungen von Motiven oder örtliche Markierungen von Bewegungsphrasen, scheint der Bewegungsgang im Zeitenfluss sogar zu zerstäuben, worunter die koordinative Virtuosität, die jenem Tanzen gleichwohl unterliegt, allein unterschwellig erkennbar ist. Tatsächlich unterläuft die Performance gewohnte wahrnehmungsästhetische Strategien, die motivische, expressiv-lesbare oder imaginative Erinnerungsspuren zu legen suchen, und durchquert sie. So reflektiert etwa der englische Tanzwissenschaftler Ramsay Burt in seinen Analysen des Judson Dance Theater seine Wahrnehmungserfahrung: „The lack of any ‚landmark‘ movements meant that, although I could sometimes recognize that one of the dancers had repeated a movement task I had just seen performed by one of the other, I was afraid I would get even more lost if I switched from watching one to watching another – [...]. If one could approach Trio A without any knowledge of its history or context, the dance would not seem to make any sense, and indeed it deliberately seems to refuse to make sense in almost all the ways in which theatre dances conventionally signify meanings.“39 Was zunächst unterschwellig wahrnehmbar ist, ist jene zentrale Strategie, mit der die Performer den Blick der Zuschauer unbeantwortet lassen. Durchzogen von einem stets den Zuschauern abgewandten Blick unterliegt der Performance ein konsequent angelegter Entzug, dem Begehren der Zuschauer eine dialogische oder begegnende Fläche zu geben.40 Vielmehr verharrt das visuelle Aufmerksamkeitsfeld der Performer förmlich in der mobilisierenden Sphäre der eigenen kinästhetischen Koordination und erscheint mal introspektiv auf das Spiel kontrollierter Bewegungskräfte gerichtet, mal auf eine vom Zuschauer nicht einsehbare Ferne der körperlichen Richtungsführung. Die Performance-Körper erscheinen selbstbezüglich, ohne expressiv auf ein ‚Selbst‘ zu verweisen. Die sich bewegenden Körper präsentieren sich zugleich in einer geradezu aufgespaltenen Wahrnehmungsstruktur von Bewegen und Wahrnehmen: Blick und Aufmerksamkeit präsentieren sich im Fluss eines Sich-Bewegens 39 Burt 2006 (wie Anm. 12), S. 77. 40 Vgl. hierzu ausführlich Franko 1997 (wie Anm. 12).
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als fernes Wahrnehmungsfeld der eigenen Körperkräfte und Richtungen und erzeugen eine ästhetische Qualität, durch die die Performer als SichBewegende von einer Un-einsehbarkeit umfangen sind, die sie gleichsam objekthaft erscheinen lässt. Damit verhandelt Trio A – vor allem im Kontext zum No Manifesto – zentrale ästhetische Maximen des Bühnentanzes und unterzieht sie einer radikalen Transgression: Tanzen sucht sich als eine körperliche Bewegungsaktion, dem voyeuristischen Blickregime entzogen, einen ästhetischen Raum eigenen Rechts zu schaffen. Forciert von einer spezifischen Wut –„my rage at the impoverishment of ideas, narcissism, and disguised sexual exhibitionism of most dancing“, wie Rainer im Programmheft von The Mind is the Muscle (März 1968)41 darlegt – formuliert Trio A eine Genderkritik an dem zuschauerseits voyeuristischen und tänzerseits narzisstischen Grundgefüge des Tanzes. Die Kritik gilt darbietenden Gesten und ästhetisierten Attitüden, die Rainer mittels eines allein physisch ausgeloteten Aktionsraumes zu ersetzen sucht. Die notwendige Leidenschaft und Passion zu tanzen zerfließt zu einem performativen Akt der Aufeinanderfolge basischer Bewegungsformen, die sich in steter koordinativen Neu- und Umorientierung des Körpers organisieren, ohne einem Wandel von Kraftmomenten unterworfen zu sein. Damit löscht die Gangart der Performance affektive Willensmomente des Sich-Bewegens aus. Der theatrale Affektraum aus Affiziertsein und -werden erlebt tatsächlich eine radikale Entleerung.
LEERE ZEIGEN UND LEHREN
Yvonne Rainer hat mit Trio A eine ästhetische Mission verbunden. Schon Ende der 1960er Jahre begann sie den Tanz verschiedenen Performern zu unterrichten und gab ihnen ihrerseits die Erlaubnis, den Tanz weiter zu vermitteln und anderen zu lehren. Jene unübliche und bis heute praktizierte Vermittlungspraxis, mit der sich Rainer, wie sie selbst, sagt als „post-modern dance evangelist“ situiert und Bewegung zu den Massen bringt42, er41
Rainer 1974 (wie Anm. 32), S. 71.
42 Rainer 1974 (wie Anm. 37), S. 77.
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laubt es, das Training und die notwendige Arbeit an diesem Performancestil nachzuvollziehen. Welche Schritte werden vollzogen, um im Sinne eines „neutral doer“ zu performen? Auffällig ist die Vermittlung der Bewegungen über eine präzise Anleitung der Körperstellungen und einer ebenso präzisen Wahrnehmungslenkung. Eingefordert wird dabei ein waches Aufmerken für den Körper und seinen Bewegung als Material, womit ein gleichsam objekt-gleicher Umgang in der Bewegungsausführung visioniert wird, der sich innerhalb eines gleichbleibenden Ganges im ungebrochenen flow entfalten soll. Konzentration und Training suchen die steten Veränderungen der mobilisierenden und koordinativen Kräfte im Körper zu egalisieren und auf eine Skala des Unmerklichen zu justieren. Erkennbar wird auch die Geste der Negation, um ein Ausstreichen expressiver Artikulationen von Bewegungen und ihrer Formierung zu erzeugen und eine emotionale oder imaginäre Identifikation im Sich-Bewegen zu unterbinden. Erzeugt wird ein Zeigen von Bewegung in der Bewegung. Der Körper wird objektgleich in Bewegung versetzt und moblilisert stets Bewegungen, ohne dem eigenen Sich-Bewegen einen emotionalen Spielraum zuzuerstatten. Rainer hat in ihrer tanzästhetischen Praxis damit eine Kunst des Performen entwickelt, die vor dem Horizont des No Manifesto auf eine Transgression der performativen Grundlagen von Tanz drängt.
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NICOLE HAITZINGER
CHOREOGRAPHIE ALS TRANSMEDIALE DENKFIGUR: ZUR VERFLÜSSIGUNG IN YVONNE RAINERS PERFORMATIVEN ((TRIO A)) UND TEXTUELLEN (NO MANIFESTO) ARBEITEN DER 1960ER JAHRE
Fluidity, eine Ausstellung im Hamburger Kunstverein 2016, kuratiert von Bettina Steinbrügge, Nina Möntmann und Vanessa Joan Müller, griff nicht zufällig die Flüssigkeit als Denkfigur zur Perspektivierung der bildenden Kunst der 1960er Jahre bis zur Gegenwartskunst auf. In ihrem wegweisenden Essay von 1968 etablierten Lucy R. Lippard und John Chandler den historischen Begriff der „Dematerialisierung“, um Phänomene des „Amorphen“, der Entlehnung von Strategien der Performance für Malerei und Skulptur und der Abkehr der bildenden Kunst von Objekthaftigkeit und Repräsentationsfunktion zu benennen.1 Der Begriff der Flüssigkeit ist einerseits Referenz auf dieses Konzept, andererseits auch eine Erweiterung, denn er erlaubt Transfers zu einer „hochtechnisierten und digital vernetz1
Lucy R. Lippard und John Chandler: The Dematerialization of Art, in: Art International, Bd. 12, 1968, H. 2 (Februar), S. 31–26.
CHOREOGRAPHIE ALS TRANSMEDIALE DENKFIGUR
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ten Welt, die als dematerialisiert oder fluide bezeichnet werden kann“2. An anderer Stelle heißt es: „50 Years Later: The dematerialization of the art object from 1966 to 2016 is a cross-reference show on the permanent state of transformation which surrounds us, focused on the so-called conceptual art that questions the world we live in. A world in which the old forms – of work, of behavior, of art – no longer fit and new forms have yet to be outlined.“3 Für einen erweiterten Choreographie-Kontext der 1960er Jahre scheint der Begriff der Verflüssigung tragfähiger zu sein als der der Dematerialisierung. Über ihn lässt sich das komplexe und paradoxale Verhältnis von Performance und Manifest spezifizieren. Dematerialisierung ist in einem spezifischen und zeitlich begrenzbaren Kontext der bildenden Künste generiert und verwendet worden, also trennschärfer, funktionsorientierter und medienspezifischer gedacht als Verflüssigung, über die wiederum in einer gegenwärtigen Diskursivierung in der Nähe zu Bewegung eine genreübergreifende und doch für performative und bildende Künste zu differenzierende Ästhetik der Fluidität im 20. Jahrhundert bestimmbar wird. Im Artikel Performance und Manifest. Performance als Manifest?4 (2014) habe ich eine radikale Gegenüberstellung von Yvonne Rainers Text (No Manifesto) und der im selben Zeithorizont entstandenen Performance (Trio A) vorgeschlagen wie provisorisch die Unvereinbarkeit von Tanz und Verschriftung behauptet. Die Argumentation dieser These basierte hauptsächlich auf der Annahme der Leerstelle des Ereignisgenerierenden im No Manifesto, das im Unterschied zu Trio A als (relativ) stabiles Notat klassifiziert wurde. Dieser Befund provozierte im Sinne des Konferenztopos Clear the Air eine alternative Perspektivierung. Mittels Choreographie als transmedialer Denkfigur versuche ich – in Erweiterung meiner bereits formulierten These – eine tiefenstrukturelle, also die dem Text und der Performance unterliegende Ähnlichkeit zu dechiffrieren. 2
Einführung, in: [Booklet zur Ausstellung] Fluidity, [kuratiert von Bettina Steinbrügge, Nina Möntmann, Vanessa Joan Müller], Kunstverein in Hamburg, Hamburg 2016, S. 3.
3
Ebd., S. 2
4
Vgl. Nicole Haitzinger: Performance und Manifest. Performance als Manifest?, in: Ralph J. Poole und Yvonne Katharina Kaisinger (Hg.): Manifeste. Speerspitzen zwischen Kunst und Wissenschaft, Heidelberg 2014, S. 169–178. Sabine Huschka motivierte mich dankenswerterweise zu einer Re-Perspektivierung im Rahmen der Konferenz Clear the Air, siehe auch ihren Beitrag in diesem Band.
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Die Anerkennung der Transmedialität als, wie Roberto Simanowski schreibt, „Übergang von einer medialen Ausdrucksweise in eine andere“, als „konstituierendes und konditionierendes Ereignis eines hybriden ästhetischen Phänomens“5 soll hier vorläufig als Grundbedingung für die Bestimmung von westlicher Choreographie in den 1960er Jahren verstanden und – in aller gebotenen Bescheidenheit und ohne näher auf medientheoretische Implikationen einzugehen – für Yvonne Rainers Trio A und das No Manifesto geltend gemacht werden. Angelehnt an Zygmunt Baumans soziologische Überlegungen zu Liquid Modernity möchte ich diese Denkfigur einleitend aus tanzwissenschaftlicher Perspektive spezifizieren.6 Die Eigenschaft von Flüssigkeit mit ihren kurzen Molekülketten ist, dass sie der Formveränderung wenig und der Volumenveränderung viel Widerstand entgegensetzt. Ihre außerordentliche Beweglichkeit legt die Assoziation von Leichtigkeit und Ungebundenheit nahe. Die frühe Moderne basiert vermeintlich auf einem Prozess der Verflüchtigung, erinnert man sich beispielsweise an die berühmt gewordene Formulierung „Alles Ständische und Stehende verdampft“ des Manifests der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels (1848).7 Dennoch besteht ein grundlegender Unterschied: Nach der „Verdampfung“, nach der Befreiung von der alten Ordnung ersehnte man im Grunde noch neue Stabilitäten. Auch die programmatischen Schriften des modernen Tanzes, die einerseits von der Körperbewegung als „Meer neuer Schönheit“8 und vom „Fluidium“, das „auf sämtliche Glieder überzugehen [vermag]“9, sprechen und andererseits die (Schwer-)Kraft in Verbindung mit Raum, Zeit, Flucht als Antrieb von Be-
5
Roberto Simanowski: Transmedialität als Kennzeichen moderner Kunst, in: Urs Meyer, Roberto Simanowski und Christoph Zeller (Hg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen 2006, S. 39–81, hier S. 43 u. 44.
6
Vgl. Zygmunt Bauman: Liquid Modernity, Cambridge 2000. Die Titelformulierung der deutschen Ausgabe Flüchtige Moderne (siehe Anm. 13) ist meines Erachtens unscharf und verunklärt die Denkfigur der Verflüssigung als wesentliches Charakteristikum der Moderne.
7
Friedrich Engels und Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei. Veröffentlicht im Februar 1848, London 1848, S. 5, http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/marx_manifestws_1848 [Zugriff: 17.7.2016].
8
Hans Brandenburg: Der moderne Tanz, 3. [...] Ausg., München 1921, S. 25.
9
Ebd., S. 53.
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wegung definieren und ein System etablieren (Rudolf von Laban),10 zeugen davon. Radikal wendet man sich vom elitär, aristokratisch und disziplinierend empfundenen Ballett, das den Menschen als „Gliederpuppe für Beinakrobatik“11 behandelt und als „Ausdruck der Degeneration, des lebendigen Todes“ gilt, ja von der Figur des Klassischen überhaupt ab und konstruiert zugleich eine Körperlichkeit, die auf dem „Gesetz der Gravitation“ basiert.12 Das korrespondiert mit Zygmunt Baumans historischem Befund einer „schweren Moderne“, einer „Ära der Werkzeuge“.13 In dieser Ära wird der Körper als Ausdrucksinstrument funktionalisiert. Volumen und Gewicht bilden noch einen prioritären Maßstab, beziehungsweise gilt – bewegungsanalytisch betrachtet – der bewegliche Rumpf und der damit einhergehende Umgang mit Körperschwere unter Privilegierung einer bestimmten Stellung als wesentlich beispielsweise bei Martha Graham und Mary Wigman für den modernen Tanz (als Kunst, als soziale Praxis). In „dieser platz- und positionsorientierten Periode“14 werden expandierende (wie kontrahierende) Körperbewegungen zum Leitmotiv. Zugleich ist es die Störung oder die Überschreitung eines vermeintlich stabilen Ordnungssystems, oder der Konflikt zwischen der kulturellen Konstruktion der „schweren“ Moderne und den tänzerischen Aktionen, die transgressive Momente hervorbringen.15
10 Die Intensität der Bewegung wird laut Laban von diesen vier „Skalen“ reguliert; die Pole der Skalen definiert er mit „Kraft: schwach – stark“, „Zeit: rasch – langsam“, „Raum: nah – weit“, „Flucht: starr – bewegt (fließend, schleudernd)“. Rudolf von Laban: Choreographie, [H. 1], Jena 1926, S. 74. 11
Brandenburg 1921 (wie Anm. 8), S. 29.
12
Isadora Duncan: Der Tanz der Zukunft (The Dance of the Future). Eine Vorlesung. Übers. u. eingel. von Karl Federn, Leipzig 1903, S. 31. Auf die tatsächlichen tiefenstrukturellen bewegungstechnischen Ähnlichkeiten von Ballett und modernem Tanz an der letzten Jahrhundertwende kann leider hier nicht näher eingegangen werden.
13
Vgl. Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne. [engl O.], Frankfurt am Main 2003, S. 136 [Hervorhebung i. O.].
14
Claudia Jeschke: Tanz als BewegungsText. Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz (1910–1965), Tübingen 1999, S. 173. So charakterisiert wird die Zeit nach 1925.
15
Diese gilt/gälte es auszudifferenzieren. Vgl. Nicole Haitzinger und Franziska Kollinger (Hg.): Überschreitungen. Transdisziplinäre Beiträge zu Aufführungs- und Inszenierungspraxis, (Ebook), München 2016, http://www.epodium.de/epodium-digital/off-epodium/ [Abruf: 30.6.2016].
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Konzeptuell ähnlich, doch in der Erscheinungsform unterschiedlich zu den historischen Avantgarden, entdecken die Pionierinnen des (modernen) Tanzes die theatrale Medialität von Körperlichkeit und Bewegung.16 Die Verbindung zwischen beiden, scheinbar widersprüchlichen Modellen – dem mechanischen und dem ‚authentischen‘, ‚natürlichen‘ Körper – ist die Vorstellung der fließenden Bewegung. Diese soll mit unterschiedlichen Mitteln hergestellt werden. Sie geht einerseits mit einer Technologiefaszination (futuristische Ballette, Oskar Schlemmer) und andererseits mit dem Widerstand gegen Technik und der damit einhergehenden Anthropologisierung von Bewegung (Rudolf von Laban, Mary Wigman) einher. Die Verflüssigung, die eigentlich der ‚leichten‘ Moderne im Bauman’schen Sinn zugesprochen wird, ist quasi prophetisch schon in der Tanzkunst in der Zeit der ‚schweren‘ Moderne präsent. Laut Zygmunt Baumans soziokultureller Perspektivierung ist die „flüssige Moderne“ nicht mehr von einem „Hardware-“, sondern einem „Softwarekapitalismus“ grundiert.17 In ihr erodieren feste Strukturen und Verbundenheit/Loyalität, sie präsentiert sich exterritorial, flüchtig und wandelbar, es kommt zu einer Indifferenz gegenüber Dauerhaftigkeit und Unendlichkeit, die Verheißung lautet Unmittelbarkeit und bringt eine „unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (Milan Kundera) hervor.18
VERFLÜSSIGUNG IN TRIO A
Im Kontext einer entrüsteten künstlerischen Arrière-Garde19 wird nicht der flüssige Zustand an sich, sondern die Verflüssigung zum künstlerischen 16
Vgl. Claudia Jeschke: Zwischen Strategie und Postmoderne. Avantgarde, Postmoderne und die aktuelle Tanzszene, in: tanzdrama, 2001, H. 60, S. 10–14.
17
Vgl. Bauman 2003 (wie Anm. 13), S. 139.
18 Vgl. dazu ebd. das Kapitel Zeit/Raum, S. 110–153. 19
Der französische Begriff Arrière-Garde – eigentlich ein militärischer Terminus, der die Nachhut der Hauptarmee bezeichnet – wird in der Kunsttheorie für progressive Kunstströmungen der ersten zwei bis drei Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg verwendet. Vgl. z. B. Europa? Europa! [Erste zweijährliche Konferenz des European Network for Avant-Garde and Modernism Studies (EAM)], Universität Gent (29.–31.5.2008), Abstracts (Avant-Garde/Arrière-Garde: the Contested Terrain of Painting in France, 1920–1960), S. 23 f., http://eam-europe.be/sites/eam-europe. be/files/EAM2008-Europa_Europa.pdf [Abruf: 30.6.2016].
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Leitmotiv. Yvonne Rainers Performance Trio A ist als Signature Piece dieser Zeit von einem metronomen Rhythmus bestimmt.20 Das heißt, es ist ohne Beschleunigung, Verlangsamung oder Posen choreographiert. Es existiert kein Spannungsbogen oder Höhepunkt, es ist nicht spektakulär im Sinne von Dramatisierung oder Phrasierung, alle Elemente sind im Sinne einer parataktischen Komposition angeordnet. Auffällig ist die „schwingende“21 energetische Modulation von Bewegung. Die choreographische Struktur (er-)scheint flüssig: „Basically I wanted it to remain undynamic movement, no rhythm, no emphasis, no tension, no relaxation.“22 Dieser Anschein des Flüssigen in der ästhetischen Erfahrung ist ein grundlegender Aspekt, da Trio A in seiner Struktur mit Phrasen aus separaten Teilen besteht und als wiederholbar, vermittelbar konzipiert wurde.23 „One of the most singular elements in it is that there are no pauses between phrases. The phrases themselves often consist of separate parts such as consecutive limb articulations – right leg, left leg, arms, jump, etc. – but the end of each phrase merges immediately into the beginning of the next with no observable accent.“24 Der Fokus auf die Übergänge zwischen den Phrasen schließlich verbirgt die grundierende und strukturell nachweisbare choreographische Struktur in Trio A.25 In einer strukturell-phänomenologischen Doppelperspektivierung zeigt sich ein Riss zwischen scheinbar (Zustand der 20 „What is seen is a control that seems geared to the actual time it takes the actual weight of the body to go through prescribed motions. […] The demands made on the body’s (actual) energy resources appear to be commensurate with the task – be it getting up from the floor, raising an arm, tilting the pelvis, etc.“ Yvonne Rainer: A Quasi Survey of some „Minimalist“ Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of Trio A [1968], in: Yvonne Rainer: Work 1961–73, Halifax/New York 1974, S. 63–69, hier S. 67. 21
Kraft und Körperschwere entsprechen sich; beide wirken durch den jeweiligen Spannungsgrad so zusammen, dass der Eindruck größtmöglicher Elastizität erreicht wird und gleichzeitig der Aspekt des (der Erdanziehung) Nachgebens betont wird. Vgl. Jeschke 1999 (wie Anm. 13), hier: Begleitheft: Inventarisierung von Bewegung, S. 21.
22 Yvonne Rainer: Parts of some Sextexts, in: Rainer 1974 (wie Anm. 20), S. 45–63, hier S. 46. 23 Vgl. Yvonne Rainer: Trio A: Genealogy, Documentation, Notation, in: Dance Research Journal, Bd. 41, 2009, H. 2, S. 12–18. 24 Rainer 1974 (wie Anm. 20), S. 66. 25 Vgl. auch Timmy De Laet: Verwirrende Wechselspiele. Über das Live-Re-enactment von dokumentarischen Relikten, in: Moments. Eine Geschichte der Performance in 10 Akten, hg. v. Sigrid Gareis, Georg Schöllhammer und Peter Weibel, Aust-Kat. ZKM, Museum für Moderne Kunst, Karlsruhe 2012, Köln 2013, S. 67–84.
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Flüssigkeit) und ‚real‘ (Phrasierung als Faktur der Bewegung): „In order to achieve this look in a continuity of separate phrases that does not allow for pauses, accents, or stillness, one must bring to bear many different degrees of effort just in getting from one thing to another.“26 Nicht der Zustand des Flüssigen an sich, sondern ein Modus der kontinuierlichen Verflüssigung ruft in Trio A eine spezifische Ereignishaftigkeit hervor. Eine Ereignishaftigkeit, die zwar im Kontext der Unmittelbarkeitsobsession und der emotionalen Unverbindlichkeit der leichten Moderne entsteht, doch sich zugleich im Modus des Performativen kritisch gegenüber spektakulären (Tanz-)Ereignissen und der Effektivität von (Bühnen-)Zeit artikuliert. Der Tanz setzt die Bewegung als Material zur Provokation einer ästhetischen Erfahrung ein, die das Flüssige privilegiert. Meines Erachtens bestehen Übereinstimmungen, künstlerisch-theoretische beziehungsweise konzeptionelle Verwandtschaften zwischen Yvonne Rainer und Marcel Broodthaers. In seiner filmischen Arbeit La Pluie (Projet pour un texte) (1969) liegen ein Tintenfass, eine Feder und ein weißes Blatt Papier vor ihm.27 Er beginnt zu schreiben, die Kamera zoomt auf das Manuskript und die schreibende Hand. Noch erscheinen erste Worte auf Papier, doch der strömende Regen schwemmt sie bereits einen Augenblick später wieder weg. Alles scheint sich aufzulösen. Doch der Akt des Schreibens ist ein beharrlicher, ein widerständiger. Immer wieder setzt Marcel Broodthaers die Feder mit Tinte auf das Papier. Der Akt des wiederholten Versuchs sucht weder nach Form noch nach Lesbarkeit, sondern bringt die performative Figur des Schreibenden in Erscheinung. Am Ende bleiben der Titel Projet pour un texte, eine Feder, ein durchtränktes Papier und ein wenig verronnene Tinte in Erinnerung.
VERFLÜSSIGUNG IM NO MANIFESTO
Das No Manifesto wurde in den Jahren des sogenannten Postmodern Dance als Essay in einem spezifischen Kontext verfasst, nämlich in der Zeit, 26 Rainer 1974 (wie Anm. 20), S. 67. 27 Vgl. Nicole Haitzinger: Körper/Schriften. Mallarmé und Broodthaers (2008), in: http://www. corpusweb.net/krschriften-mallarmnd-broodthaers-4.html#_edn3https://www.youtube.com/ watch?v=3L6JO-U_ts8 [Abruf: 30.6.2016].
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als Rainer an Parts of Some Sextets (1965) gearbeitet hat.28 Im Unterschied zu Avantgarde-Manifesten unterläuft es das Polemische, das als bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als konstitutiv für diese von den Regeln der Rhetorik grundierte Textsorte verstanden werden könnte. Das Manifest steht nicht für sich, sondern ist integriert in einen längeren Text, in dem Yvonne Rainer über ihre künstlerische Arbeitsweise reflektiert. Als Fragment oder Teil von etwas wird die Behauptung einer aggressiven Autonomie zugunsten eines transgressiven Potentials aufgegeben. Das Manifest beginnt sich als still, als schwach, als poetisch, als paradoxal, als randständig zu artikulieren und wird als vom militanten Gestus der Avantgarde abgerüstet denkbar. Bei Yvonne Rainer erscheint das No Manifesto als widerständig, da es keine Vorschrift, sondern eine Momentaufnahme sein wollte.29 Zugleich ist es grundiert von einer temporären Entschiedenheit, ohne die ein Manifest kein Manifest (mehr) ist. Es ist nicht zeitlos, sondern zeitgebunden, und in der Vorstellung (im doppelten Sinn) des Nein-Sagens entspricht es Rainers Tanz- und Performancekonzept. Der anti-hierarchische Gestus präsentiert sich formal typographisch und – wenn man die mediale Migration von Tanz in den Text mitdenkt – choreographisch, nämlich als Verflüssigung des Manifest-Texts: „NO to spectacle no to virtuosity no to transformations and magic and make-believe no to the glamour and transcendency of the star image no to the heroic no to the anti-heroic no to trash imagery no to involvement of performer or spectator no to style no to camp no to seduction of spectator by the wiles of the performer no to eccentricity no to moving or being moved.“30 28 Vgl. dazu den Beitrag von Isa Wortelkamp in diesem Band. 29 „Rainer: The NO-manifesto is brought up over and over again. I wish it could be buried. ... I came to it at the end of an essay about a particular work, ‘Parts of Some Sextets’, which was a piece for ten people and twelve mattresses in 1965, I never meant for the manifesto to be prescriptive. Manifestos are meant to clear the air and challenge, and then their usefulness is over. I myself haven’t abided by that manifesto, and I don’t expect anyone else to, either. But it’s always brought up, I don’t know. ... It’s no longer useful – or maybe it is. Someone else should write a manifesto about what’s going on now.“, Helmut Ploebst: Meeting Yvonne Rainer [2007], http:// www.corpusweb.net/meeting-yvonne-rainer-2.html [Abruf: 30.6.2016]. 30 Yvonne Rainer: Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses Called „Parts of Some Sextets“, performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965, in: The Tulane Drama Review, Bd. 10, H. 2 (Winter 1965), S. 168–178, hier S. 178.
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Die tiefenstrukturellen Ähnlichkeiten von Trio A und No Manifesto sind offensichtlich: Das Manifest beginnt mit „NO“ in Majuskeln und korrespondiert mit dem innegehaltenen KÖRPER im Moment vor der Bewegung in Trio A. Die folgenden Wortbündel sind durch einen metronomen Sprachrhythmus aneinandergereiht: ohne Akzentuierung quasi mit schwingender Modulierung und dennoch grundiert von sinnstiftenden Phrasierungen. Diese typo-choreographische Form liquidiert den Inhalt im zweifachen und mit gespaltenem Sinn. Performance und Manifest lassen sich mit historischer Perspektive durchaus als Dematerialisationen von Text-Körpern verstehen. Die Diskursivierung von Bewegungstexturen in Trio A und No Manifesto unter dem Paradigma der Verflüssigung ist gegenwartsbezogener und erweitert zugleich den Blick auf das Gewesene: In den 1960er Jahren dient den widerständigen künstlerischen Akten der Arrière-Gardistin Yvonne Rainer eine verborgene Struktur als Referenz, die man provisorisch mit Choreographie als Gesetz in seiner gesetzlosesten Form benennen könnte.
CONSTANZE SCHELLOW
MANIFESTATIONEN. DAS ‚NICHT‘ DES TANZES UND DIE INSZENIERUNG DER TANZFORSCHUNG
Die folgenden Überlegungen bewegen sich auf zwei Ebenen: Sie berühren Reflexionen, die im Feld des zeitgenössischen Tanzes seit den späten 1990er Jahren in Westeuropa stattgefunden haben, sowie solche, die mit der üblichen institutionellen Verspätung in den letzten 15 Jahren im Feld der ihn betrachtenden Wissenschaft angestellt werden. Die einsetzende akademische Historisierung der choreographischen Experimente der späten 1990er Jahre betont deren Infragestellung eines bis dato vorherrschenden Medienverständnisses von Tanz und hebt diese Periode auf eine Ebene mit den beiden großen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts: dem freien und dem Ausdruckstanz in den 1920er und 1930er Jahren, vor allem in Deutschland, sowie dem US-amerikanischen Postmodern Dance.1 Vor 1
Ramsay Burt: Problematising Progress, in: Dance Theatre Journal, Bd. 18, 2002, H. 2, S. 11–15, hier S. 12; Gabriele Klein: Die reflexive Tanzmoderne. Wie eine Geschichte der Tanzmoderne über Körperkonzepte und Subjektkonstruktionen lesbar wird, in: Johannes Odenthal (Hg.): tanz.de: Zeitgenössischer Tanz in Deutschland – Strukturen im Wandel – eine neue Wissenschaft, Berlin 2005, S. 20–27; Pirkko Husemann: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld 2009, S. 60.
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diesem Hintergrund wird der manifestartige Charakter und der radikale Gestus im Tanz der 1990er Jahre hervorgehoben, und in diesem Zusammenhang wird auch das vielleicht berühmteste Tanz-Manifest, das eigentlich nie eines sein wollte,2 in die Argumentationen einbezogen. Mir geht es hier nicht primär um die nachweisbare Rezeption von Yvonne Rainers No Manifesto3 und den intensiven Rückbezug auf die Arbeit von Rainer und anderen aus dem Umfeld von Judson Church durch KünstlerInnen wie Xavier Le Roy oder Mette Ingvartsen,4 vielmehr diskutiere ich den tanzwissenschaftlichen Rekurs auf das No Manifesto als diskurs-choreographische Geste.5 Was mich beschäftigt, ist die Frage der Materialität und Politizität tanzwissenschaftlicher Theoriebildung – also eher die Möglichkeit, eine wissenschaftstheoretische Perspektive auf ‚den corpus‘ der Tanzforschung zu gewinnen. Ich bringe für mein Gedankenexperiment drei tanzwissenschaftliche Perspektiven in Konstellation, ergänzt durch einen Einwurf von Michel Foucault. In der Einleitung zu ihrem 2007 erschienenen Sammelband Methoden der Tanzwissenschaft nennen es Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein ein „Desiderat der Tanzwissenschaft“, dass diese bislang nicht in ausreichendem Maß die „Selbstthematisierung des eigenen Standpunktes im Sinne jener Reflexivität [leistet], die Pierre Bourdieu als ‚objektive Reflexivität‘ gekennzeichnet hat, als eine Selbst-Reflexivität, die nicht nur den eigenen gedanklichen Hintergrund, sondern auch den Ort der eigenen Fachdisziplin berücksichtigt“.6 2
Siehe dazu den Beitrag von Isa Wortelkamp in diesem Band.
3
Yvonne Rainer: NO manifesto, zit. n.: dies.: A Woman Who ... Essays, Interviews, Scripts, Baltimore/London 1999, S. 16, Anmerkung 1.
4
So war etwa Xavier Le Roy 1996, zwei Jahre vor der Premiere seines Solos Self Unfinished (1998), an der Rekonstruktion von Continuous Project – Altered Daily (1970) von Yvonne Rainer mit dem Kollektiv Quatuor Albrecht Knust beteiligt. Im Jahr 2000 kam es zu einer direkten performativen Begegnung zwischen Le Roy und Rainer in der Reihe „Zwischenrufe“ beim Festival Tanz im August in Berlin, in der sich die beiden u. a. auf Le Roys Arbeit an der Rekonstruktion bezogen, aber auch mit Rainers Trio A (1966) auseinandersetzten. Zu Mette Ingvartsens Antwort auf das No Manifesto siehe den Beitrag von Gabriele Brandstetter in diesem Band.
5
Zum Begriff der Diskurs-Choreographie vgl. Constanze Schellow: Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ‚Nicht‘ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft, München 2016.
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Selbst-Reflexivität nicht nur aus individueller, sondern aus fachdisziplinärer Perspektive zu denken, ist dabei, und hier greife ich einen Gedanken von Claudia Jeschke auf, nicht gleichbedeutend damit, ‚die Tanzwissenschaft‘ zu einem ominösen Quasi-Subjekt zu erheben, denn, so Jeschke in einem frühen Aufsatz von 1990: „Die Tanzforschung gibt es nicht.“7 Das, was sich in der Theoretisierung von Tanz artikuliere, sei in jedem Einzelfall nicht mehr und nicht weniger als das je spezifische Interesse von Menschen am Tanzen anderer Menschen.8 Jeschkes Sorge gilt damit zu einem Zeitpunkt, als die Tanzwissenschaft noch längst nicht in vergleichbarer Zahl wie heute über Lehrstühle und Studiengänge verfügt, den grundsätzlich immer regulierenden und zugleich generativen Begleiterscheinungen der disziplinären Perspektive. Michel Foucault definiert die Disziplin wie folgt: „Die Disziplin ist ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses. Sie setzt ihr Grenzen durch das Spiel einer Identität, welche die Form einer permanenten Reaktualisierung der Regeln hat.“9 Ich schlage vor, Jeschkes Diktum im Jahr 2016 neu zu denken: Es gibt die Tanzforschung als ‚Disziplin Tanzwissenschaft‘, und genau deshalb gehört das identitäre Spiel ihrer sich reaktualisierend regulierenden Denk-Bewegungen zu ihren eigenen vordringlichen Untersuchungsgegenständen: Wie und warum konstituieren sich bestimmte Forschungsgegenstände zu einem bestimmten Zeitpunkt als Gegenstände? In genau diesem Sinn kann eine Untersuchung tanzwissenschaftlicher Texte der letzten 20 Jahre im deutschsprachigen Raum als Grundlagenforschung zu den Selbstbegründungschoreographien einer Wissenschaft im Allgemeinen verstanden werden. Einen dritten tanzwissenschaftlichen Impuls beziehe ich aus Christina Thurners Forschungen zu der nie nur mittelbaren Produktivität analytischer Texte über Tanz. Tanztheorie, mein Schreiben hier und jetzt einge6
Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein: Bewegung in Übertragung. Methodische Überlegungen am Beispiel von „Le Sacre du Printemps“, in: dies. (Hg.): Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs „Le Sacre du Printemps“, Bielefeld 2007, S. 9–26, hier S. 14.
7
Claudia Jeschke: Der bewegliche Blick. Aspekte der Tanzforschung, in: Renate Möhrmann (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin 1990, S. 149–164, hier S. 149.
8 9
Ebd. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses [frz. O. 1972], Frankfurt am Main 2010, S. 25 [Hervorhebungen i. O.].
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schlossen, be-schreibt und analysiert nicht vorgängige Bühnen- oder in meinem Fall Text-Wirklichkeiten. Sie konturiert oder er-schreibt neue Ästhetiken, und damit schreibt sie Wahrnehmungsweisen und Wahrnehmungsmöglichkeiten von Tanz vor – im Sinne einer zeitlichen, aber auch im Sinne einer richtenden, einschränkenden Vorschrift.10
NO NO. 1: NEGATIVITÄT, NICHT NEGATION
Im Jahr 2002 beschäftigt sich die deutsche Tanzwissenschaftlerin und Kuratorin Pirkko Husemann mit Yvonne Rainers No Manifesto. Ihre Publikation Ceci est de la danse widmet sich dabei nicht dem Tanz der 1960er und 1970er Jahre, sondern, so der Untertitel, Choreographien von Meg Stuart, Xavier Le Roy und Jérôme Bel und einem Phänomen im zeitgenössischen europäischen Tanz, das sie wie folgt beschreibt: „Im Tanz wird immer seltener getanzt [...].“11 Mit dieser auf die Arbeiten der, wie es heißt, „jüngsten Generation von Choreographen“ bezogenen Beobachtung steht Husemann nicht allein. Eine Reihe von Publikationen beschäftigt sich, beginnend um 2000, mit der Aufarbeitung künstlerischer Strategien, für die ein regelrechtes Repertoire an ex negativo-Begriffen geprägt wird. Die Rede ist vom „‚I prefer not to‘-Modus“12 oder einer „Haltung der Ver-Haltung“13, vom „Nullpunkt“14, der „Null-Figur“15, dem Tanz der „Abwesenheit“16 oder der „exhaustion“ von Bewegung im „still act“17 oder dem „Nicht-Tanz“18. Gebündelt zu einem halb ästhetischen, halb periodisierenden und in seiner Brauchbarkeit durchaus umstrittenen Begriff findet sich der Topos des „Nicht-Tanzes“ und alternierend der des „Anti-Tanzes“ oder „Kon10 Vgl. Christina Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009. 11
Pirkko Husemann: Ceci est de la danse. Choreographien von Meg Stuart, Xavier Le Roy und Jérôme Bel, Norderstedt 2002, S. 13.
12
Krassimira Kruschkova: Vorwort: Mit-Sein, Kollaboration, Respons. Zur Ethik der Performance, in: Martina Ruhsam: Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung, Wien u. Berlin 2011, S. 9–13, hier S. 11.
13
Susanne Foellmer: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld 2009, S. 411.
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zept-Tanzes“ mittlerweile als feste Größe in tanzgeschichtlichen Kompendien auf einer Ebene mit „Modern Dance“, „Postmodern Dance“, oder „Tanztheater“.19 Ich adressiere im Folgenden die künstlerische Praxis nur in ihrer Funktionalisierung als Begründungsfigur für eine terminologische, methodische und – wie ich hinzufügen würde – disziplinäre Neupositionierung der Tanzwissenschaft. Man könnte die Funktion der als Facetten eines ‚Nicht‘ des Tanzes theoretisierten künstlerischen Arbeitsweisen seit den 1990er Jahren auch so beschreiben, dass es sich um die erste Periode überhaupt handelt, die von einer institutionalisierten Tanzwissenschaft in ein kunsthistorisches Narrativ überführt werden kann.20 Es ließe sich einwenden, dass die theoretische Beschäftigung mit Tanz von Anfang an eine Geschichte der Beschäftigung mit Facetten seiner vorgeblichen Negativität gewesen ist: seiner Immaterialität, Nicht-Objekthaftigkeit oder Nicht-Dokumentierbarkeit. Diese mediale Bestimmung hat systematisch zur Marginalisierung von Tanz beigetragen. In sozusagen strategischer Umwertung wurde mit ihrer Hilfe aber tanzwissenschaftlich von Anfang an auch ein Gegenraum zu anderen kulturellen 14
Helmut Ploebst: No wind no word. Neue Choreographie in der Gesellschaft des Spektakels, München 2001, S. 7; Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, S. 380.
15
Peter Stamer: „[...] im ∆ der Auslassung, in: Krassimira Kruschkova (Hg): Ob?scene – Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film. [=] Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film-, und Medienwissenschaft, Bd. 51, 2005, H. 1, S. 129–142, hier S. 135–137.
16
Vgl. Siegmund 2006 (wie Anm. 14).
17
André Lepecki: Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement, London/New York 2006, S. 57–64, 82 und 130.
18 Vgl. u. a. Gabriele Brandstetter: Still/Motion – Zur Postmoderne im Tanztheater, in: dies.: BildSprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005, S. 55–72 sowie Claudia Rosiny: Einleitung: Zeitgenössischer Tanz, in: dies. und Reto Clavadetscher (Hg.): Zeitgenössischer Tanz, Körper – Konzepte – Kulturen. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2007, S. 9–17. 19
So zum Beispiel in dem einleitenden Abriss deutscher Tanzgeschichte von Susan Manning und Lucia Ruprecht: Introduction: New German Dance Studies/New German Cultural Studies, in: dies. (Hg.): New German Dance Studies, Urbana/Chicago/Springfield 2012, S. 1–16.
20 Man könnte hier einwenden, dass dies bereits in Bezug auf die Periode des Tanztheaters der Fall gewesen ist – allerdings würde ich hier seinerzeit noch vereinzelne etablierte tanzwissenschaftliche Positionen wie die von Hedwig Müller, Patricia Stöckemann oder Susanne Schlicher von einer Disziplinarität im Sinne Foucaults unterscheiden. Letztere setzt aus machttheoretischer Perspektive die akademische Etabliertheit als institutionell eigenständiges Studienfeld voraus.
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und akademischen Praktiken etabliert, das heißt ein Zusammenhang hergestellt zwischen einer Marginalisierung des Tanzes und einer Marginalisierung der Tanzwissenschaft. Und obwohl die Ontologie des Transitorischen als Wesensbestimmung von Tanz heute ihrerseits als ein historisches Konstrukt der Moderne reflektiert wird, wird der besagte Gegenraum durch eine universitär institutionalisierte Tanzwissenschaft weiterhin beansprucht.21 Zwei Dinge möchte ich hier festhalten: 1. Die neueren Theorien grenzen sich explizit von älteren Theoretisierungen des Tanzes als ‚Nicht-‘ in Zusammenhang mit der Ephemeralitätsdebatte ab, und sie koppeln 2. die Notwendigkeit der kritischen Reflexion im Sinne einer Überarbeitung des wissenschaftlichen Kanons direkt an ein künstlerisches Phänomen. Adressiert werden mittels der ex-negativo-Terminologien Stücke, die Bewegung und Choreographie nicht mehr allein im TänzerInnenkörper verortet haben, sondern in Objekten, in Raum- und Sprachordnungen, in individuellen und kollektiven Handlungsmustern oder in der Wahrnehmung der Zuschauenden. Es sind im Zuge dieser Entwicklung Choreographien entstanden, die aus einem gesprochenen Vortrag bestehen (Xavier Le Roy: Product of Circumstances, 1999) oder in Buchform publiziert wurden (Thomas Lehmen: Schreibstück, 2002), deren Protagonisten ein Staubsauger, eine Packung Salz oder eine Taschenlampe sind (Jérôme Bel: Nom donné par l’auteur, 1994) oder Nebel, Schaum und Licht (Mette Ingvartsen: Evaporated Landscapes, 2009). Dabei ist der tanzwissenschaftliche Diskurs als rein reaktive Bewegung im Verhältnis zu Bewegungen in der Kunst unangemessen beschrieben. Er lässt sich als Manifestation von Gesten der (Selbst-)Disziplinierung einer im Fächerspektrum der Universität jungen Wissenschaft auffassen, die mit wachsendem Nachdruck ein privilegiertes Zugriffsrecht auf bestimmte For21
Vgl. dazu eine Aussage Gabriele Kleins: „Tanz-Wissenschaft ist [...] Wissenschaftskritik insofern, als sie sich gegen ein Wissen wendet, das dynamische Vorgänge über statische Konzepte zu fassen versucht“. Gabriele Klein: Tanz in der Wissensgesellschaft, in: Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke (Hg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007, S. 25–36, hier S. 33.
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schungsgegenstände behauptet. Mich interessiert, anders gesagt, die Art und Weise, wie sich TanzwissenschaftlerInnen anlässlich oder mittels des Diskurses zum Nicht-Tanz positionieren, und zwar insbesondere in ihrem Verhältnis zu den älteren Fächern der Theaterwissenschaft und der Performance Studies. Doch zurück zu Husemanns Relektüre des No Manifesto. Diese dient der Entwicklung ihrer These, dass die Geste des sogenannten zeitgenössischen Nichttanzes eine grundsätzlich andere sei als die im No Manifesto sich manifestierende Geste der Negation im Postmodern Dance. Der zeitgenössische Nichttanz sei nicht ‚nicht mehr Tanz‘, sondern sein „Entzug des Tanzens im Tanz“22 setze sich in ein anderes Verhältnis zur geltenden Norm der Kunstform als seinerzeit Yvonne Rainer: Gehe Rainers „Nein“ mittels der Negation in Opposition zu einem vorherrschenden Tanzverständnis und bliebe damit in dialektischer Weise an das gebunden, was negiert wird, beziehe sich der zeitgenössische Nichttanz lediglich referenziell auf geltende normative Vorstellungen. Husemann schlägt vor, den Unterschied zwischen dem oppositionell verfahrenden Postmodern Dance der Generation Judson und dem referenziell verfahrenden zeitgenössischen Nichttanz „auf der Grenze zwischen Negativität und Negation [zu] bestimmen“.23 ‚Negativität‘ definiert sie als die „qualitative Aufwertung der Negation hin zu einer differenzierten kritischen Praxis“.24 Wie ist das zu verstehen? Wenn der zeitgenössische Nichttanz die Relationalität der Negation eines bestimmten Tanzkonzeptes überschreitet – etwa des Modern Dance im Postmodern Dance –, so beansprucht er selbst den Status einer neuen Positivität. ‚Tanz‘ und ‚Nichttanz‘ werden in der Denkfigur einer wissenschaftlich zu affirmierenden Negativität als verbundene, einander zugehörige Gegensätze zusammengespannt und so bis zu einem gewissen Grad neutralisiert. Als Analysekategorie zur Beschreibung zeitgenössischer Tanzformen praktiziert die ‚Negativität des Nichttanzes‘ 22 Husemann 2002 (wie Anm. 11), S. 9. 23 Ebd., S. 14. 24 Ebd., S. 13.
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ihrerseits einen logischen Einschluss: Über ihre theoretische Affirmation wird sie im hegelianisch-dialektischen Sinn über einen Vermittlungsschub auf die Ebene einer neuen Ganzheit gehoben. Die Abgrenzung des „NO“ des Postmodern Dance von den Arbeiten Stuarts, Le Roys oder Bels ist funktional: Das Narrativ des Bruchs oder Umbruchs im Tanz der 1990er Jahre dient dem Entwurf eines parallelen Narrativs des Umbruchs in der Tanzwissenschaft.
NO NO. 2: DIES IST KEIN TANZ
Am 7. Juli 2004 weist das Bezirksgericht Dublin die Zivilklage eines gewissen Raymond Whitehead gegen das International Dance Festival of Ireland (IDF) ab. Der Geschäftsmann hatte im Anschluss an seinen Besuch einer Aufführung des IDF im Jahr 2002 dem Veranstalter Vorspiegelung falscher Tatsachen, Vertragsbruch und Fahrlässigkeit vorgeworfen und eine Entschädigung in Höhe von 38000 Euro gefordert. Der Auslöser für Whiteheads Gang zum Gericht war die Performance Jérôme Bel (1995) des gleichnamigen französischen Choreographen. Wie der Anwalt des Klägers in der Verhandlung ausführte, sei das Stück in seiner Ankündigung als Rückkehr zu den „basic principles of dance“ beschrieben worden – obwohl es „anything but dance“ sei.25 In den tanzwissenschaftlichen Re-Inszenierungen des Vorfalls, der zunächst in irischen und britischen Tageszeitungen verhandelt wurde, spielt Raymond Whitehead die Rolle des Neinsagers. Dem Vorwurf entsprechend, den der Vertreter der Anklage dem Choreographen und dem Festival macht: ‚Nein, das Stück Jérôme Bel ist kein Tanz und wurde somit widerrechtlich als solcher annonciert.‘ Es ist diese Geste, die dem Tanz sein Tanzsein abspricht, die im Modus des Zitats heraufbeschworen wird – primär zu dem Zweck, um sich 25 Anthony Garvey: ‚Disgusted‘ of Dublin’s theatre suit dismissed, The Stage, 20. Juli 2004, http://www.thestage.co.uk/news/2004/07/disgusted-of-dublins-theatre-suit-dismissed [Abruf: 5.5.2015]; vgl. auch Ray Managh: Disgusted ‚naked dancing‘ protester loses court action, Independent, 8. Juli 2004, http://www.independent.ie/woman/celeb-news/disgusted-naked-dancing-protester-loses-court-action-25905364.html [Abruf: 5.5.2015].
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von ihr zu distanzieren. In den einleitenden Bemerkungen deutschsprachiger Publikationen zum Tanz seit den 1990er Jahren sind unpersonifiziert bleibende Positionen des Neinsagens eine feste Größe. Sie werden indirekt, über Kategorisierungen wie „konventionell“26 oder „klassisch“27 eingeführt. Es wird eine antagonistische Spannung zwischen einem dominierenden und unangemessenen ‚dogmatischen‘ und einem von der Wissenschaft vertretenen ‚aufgeschlossenen‘ Diskurs aufgebaut, und daraus abgeleitet: Der nicht mehr im konventionellen oder klassischen Sinn tanzende Tanz setze konventionelle, klassische Erklärungsmuster der Theorie außer Kraft.28 Tanzwissenschaftlich sei ein analytisch fundiertes Nein der Wissenschaft zu dem als unhaltbar auszuweisenden Nein von Kritik und Publikum unerlässlich, wozu es einer Haltung bedürfe, die sich selbst als systematische Negation dieser „spontanen Negation“ (Husemann) affirmativ zu den Veränderungen in der Tanzpraxis verhält und an dieser orientiert.29 Der Auftritt der NeinsagerInnen leistet für die wissenschaftliche SprecherInnenperspektive eine Form negativer Autorisierung; wer ihnen widerspricht, wird zu FürsprecherInnen des Tanzes, der zu Unrecht vor Gericht steht.
NO NO. 3: SAG NEIN ZUM NEIN
Aus Hans-Thies Lehmanns Begründung seiner Motivation, eine Theorie des postdramatischen Theaters zu erarbeiten, spricht 1999 ein durchaus ähnlicher Gestus. Es fehle, so Lehmanns Bilanz des theaterwissenschaftlichen Forschungsstandes bei Erscheinen von Postdramatisches Theater, an Instrumentarien, um das Theater eines Einar Schleef, Robert Wilson oder Jan Fabre zu analysieren. Dies sei „am Vorherrschen rein negativer Kriterien“ in der Rede über diese Künstler ablesbar: „Das neue Theater, hört und liest man, ist nicht dies und nicht das und nicht jenes, aber an Kategorien und Worten zur positiven Bestimmung und schon Beschreibung 26 Husemann 2002 (wie Anm. 11), S. 7, [Hervorhebung C. S]. 27 Siegmund 2006 (wie Anm. 14), S. 9, [Hervorhebung C. S]. 28 Vgl. Husemann 2009 (wie Anm. 1), S. 113. 29 Husemann 2002 (wie Anm. 11), S. 7.
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dessen, was es denn sei, herrscht Mangel.“30 Zwar dient auch hier der zitathafte Gebrauch der Formel „nicht dies und nicht das und nicht jenes“ dem Ausweis eines Kriterienmangels und somit einer Unzulänglichkeit, der Lehmann abzuhelfen ansetzt. Jedoch wird mit der Aussage nicht eine Perspektive verknüpft, aus der neuen Theaterformen ihre Identität als Theater abgesprochen wird – was dem Autor die Möglichkeit gäbe‚ im Namen der Kunst zu (wider-)sprechen. Unbestritten konturieren und ermöglichen Theorien neue Sichtweisen auf die Theater- und Tanzpraxis. Auch gibt es gute Argumente dafür, theoretisches Arbeiten von einem engagierten Standpunkt aus zu beginnen – die Forderung, die unumgängliche ‚Positionalität‘ des Forschens und der Forschenden (um einen Begriff von Yvonne Hardt zu gebrauchen) im Sinne eines stets nur relationalen, dabei spezifischen Ortes des Sprechens in die eigenen methodischen Vorgehensweisen unmittelbar einzubeziehen und in ihnen explizit zu machen, bildet gewissermaßen ihre Kehrseite.31 Man könnte zudem einwenden, es gehöre schlicht zu der Entwicklungslogik kunstwissenschaftlicher Fächer, dass diese immer dann zu einer Überarbeitung ihrer Methoden ansetzen, wenn sie von der Kunstpraxis her durch radikale Veränderungen dazu genötigt werden.32 Auf der anderen Seite darf ein kunstwissenschaftliches Schreiben und ein forscherisches Selbstverständnis, das mittels des Anschlusses an eine als ‚fortschrittlich‘ apostrophierte künstlerische Bewegung operiert, die doch selbst erst mittels eines theoretisch geführten Innovationsdiskurses als solche konstituiert wird, Bedenken wie die des Theaterwissenschaftlers Stefan Hulfeld nicht leichtfertig ignorieren: „Ein Diskurs, der Theater [bzw. Tanz – C. S.] als Untersuchungsfeld für die Beobachtung neuer Formen von Körperlichkeit, Wahrnehmung, Kommunikation etc. definiert, assoziiert seinen Gegenstand entsprechend einer problematischen Tradition seiner Wissensgeschichte 30 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 17. 31
Vgl. Yvonne Hardt: A Relational Perspective on Dance and Theory – Implications for the Teaching of Dance Studies, in: Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein (Hg.): Dance [and] Theory, Bielefeld 2013, S. 265–270.
32 Als historisches Fallbeispiel für einen solchen Vorgang aus der Tanzgeschichte kann die Zeit zwischen 1900 und 1930 in Deutschland gelten, vgl. dazu Schellow 2016 (wie Anm. 5), S. 224–234.
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mit Fortschrittlichkeit und perpetuiert so einen bürgerlichen Herrschaftsgestus [...].“33 Die Wissenschaft konturiert den Umstand, dass ihr Gegenstand umstritten ist, gezielt mit und übersetzt ihn in eine Argumentationsfigur, die der Autorisierung ihrer Position dient: Sie ergreift für die Kunst Partei, wobei der Bruch mit eingeführten Paradigmen demonstrativ hervorgehoben wird. Dabei ist die Frage nach dem Auftauchen bestimmter Kunstwissenschaftsformen nicht schon mit dem Auftauchen bestimmter Kunstformen zu beantworten. Ich beziehe mich noch einmal auf Foucault: Eine wissenschaftliche Aussage, so Foucault, ist nicht das, was über einen unabhängig von der Aussage vorhandenen Gegenstand gesagt wird. Sie ist als ein Ereignis in einem Feld von Aussagen zu verstehen.34 Begreift man die Tanzwissenschaft als solches Aussagenfeld, würde dies bedeuten, dass sich auch tanzwissenschaftliche Aussagen nicht über ihren Gegenstandsbezug begründen lassen, sondern man müsste untersuchen, wie genau sie im Feld als Ereignisse auf- und hervortreten. Diese Annahme kollidiert mit einer in der Tanzwissenschaft verbreiteten Denkfigur, nämlich der engen Verknüpfung unseres Selbstbildes mit Eigenschaften, die wir jeweils unserem Gegenstand, ‚dem Tanz‘, zugeschrieben haben. Nur so lässt sich etwa auf der Basis eines Verständnisses von Tanz als transitorisch – und: marginalisiert – vor dem Hintergrund eines bestimmten Wissensverständnisses eine für andere Wissenschaften vorbildliche, erkenntnisleitende Funktion der Disziplin behaupten. Um präzise zu sein: Entfällt die ‚Gegenstandsadäquatheit‘ als theoretische Begründungsfigur, bedeutet das nicht die Leugnung der Singularität jedes einzelnen tänzerischen Untersuchungsgegenstandes. Allerdings wäre einem so die Möglichkeit entzogen, Reaktualisierungen der Regeln, die die Tanzwissenschaft als Disziplin ebenso kontrolliert wie sie aus ihnen be33 Stefan Hulfeld: Wie Wissen über Theater entsteht. Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis, Zürich 2007, S. 348. 34 Vgl. dazu Foucaults Bemerkungen zur Aussage als Ereignis, in: Michel Foucault: Archäologie des Wissens, in: ders.: Die Hauptwerke, Frankfurt am Main 2008, S. 471–699, dort insbes. den Abschnitt „Das historische Apriori und das Archiv“, S. 610–616.
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steht, damit zu rechtfertigen, man wolle lediglich dem Tanz und dessen Reaktualisierungen ‚gerecht‘ werden. Als „redselige Ordnungen“35 sind Wissenschaften immer in weiter gefasste Ordnungen eines Wissens eingebunden, auf dem ihre Ordnungsmuster ruhen und vor dessen Hintergrund sie als solche hervortreten. Bei Foucault heißt es: Eine Wissenschaft „lokalisiert sich in einem Feld des Wissens und spielt darin eine Rolle“.36 Eine Wissenschaft wird gerade dort als Ordnung ‚redselig‘, wo sie innerhalb einer weitläufigeren Wissenstopologie einen bestimmten Platz für sich reklamiert. Dort, „wo sich die Wissenschaft aus dem Wissen herausschält“37,wird Wissenschaftlichkeit als ein Zusammenspiel von Diskursen erkennbar, das letztlich immer ideologisch funktioniert. Diese Beziehung der Wissenschaft zur Ideologie ist für Foucault nicht etwas, was korrigiert werden müsste oder was überhaupt korrigiert werden kann, etwa dadurch, dass man intern Irrtümer beseitigt. Sie „wird nicht in dem Maße geschmälert, in dem die Strenge zunimmt und die Falschheit verschwindet“38, sondern sie besteht immer schon, „insoweit die Wissenschaft in einer diskursiven Regelmäßigkeit ihren Platz findet“39 und in einem gegebenen Feld des Diskurses „bestimmte seiner Gegenstände strukturiert, bestimmte seiner Äußerungen systematisiert und einige seiner Begriffe und Strategien formalisiert, […] das Wissen skandiert, es modifiziert und zum Teil neu verteilt, zum Teil bestätigt und gelten lässt“40. Foucaults Anmerkungen sind deshalb hilfreich, weil sie nachhaltig in Erinnerung rufen, dass die wissenschaftliche Methodenfrage gar nicht unabhängig von der Institutionalisierungs- und Disziplinierungsfrage gestellt werden kann. Sich auf Foucault zu beziehen, bedeutet in diesem Zusammenhang aber auch, dass es bei einem diskursanalytischen Zugriff auf Entwicklungen in der jüngsten Forschung nicht darum gehen kann, einzelnen Publikationen und den in ihren entworfenen Modellen ‚falsche‘ ideologi35 Eine Formulierung von Petra Gehring für Foucaults Wissenschaftsverständnis, vgl. dies.: Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt am Main 2004, S. 47 [Hervorhebung i. O.]. 36 Foucault 2008 (wie Anm. 34), S. 670. 37 Ebd., S. 671. 38 Ebd., S. 672. 39 Ebd., S. 671. 40 Ebd.
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sche, bewusst oder unwillentlich mitgeführte Annahmen nachzuweisen, sondern dass es vielmehr das Ziel sein muss, im Bewusstsein der ideologischen Grundierung einer jeden, also auch der eigenen wissenschaftlichen Position, eine bestimmte „Produktionsordnung der Wahrheit“41 zu beschreiben. Im Diskurs zum Tanz seit den 1990er Jahren werden außer dem No Manifesto auch einflussreiche Positionen aus der Theaterwissenschaft und den Performance Studies unter anderm von Peggy Phelan, Erika Fischer-Lichte oder Hans-Thies Lehmann erneut und kritisch in den Blick genommen.42 Das Terrain der Tanzwissenschaft wird gegenüber diesen älteren Disziplinen abgesteckt, nachdem im Zuge der Ausarbeitung von Theorien der Performance und des Performativen der Tanz noch einfach mitverhandelt worden war. Ohne diese Diskussion hier erschöpfend referieren zu können, möchte ich zwei Beispiele geben: Helmut Ploebst versteht seinen Terminus „Neue Choreographie“ 2001 als „eine alternative Setzung zu dem Versuch des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, die Tanzperformance in seine doch etwas weitreichende Kategorie ‚Postdramatisches Theater‘ zu integrieren“.43 Ploebsts Gegenvorschlag ist als „historische und typologische Arbeitserleichterung in der Analyse“44 intendiert und wendet sich gegen eine von ihm noch 2005 beobachtete Eingemeindung von Tanz in das Feld der 41
Michel Foucault: Die politische Funktion des Intellektuellen, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Bd. 3: 1976–1979, Frankfurt am Main 2003, S. 145–152, hier S. 152.
42 Zur kritischen Re-Lektüre von Peggy Phelan vgl. Gerald Siegmund: Erfahrung dort, wo ich nicht bin: Die Inszenierung von Abwesenheit im zeitgenössischen Tanz, in: Gabriele Klein und Wolfgang Sting (Hg.): Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld 2005, S. 59–75, hier S. 63; Siegmund 2006 (wie Anm. 14), S. 63–77; Lepecki 2006 (wie Anm. 17), S. 126–128; Paula Caspão: Stroboscopic Stutter: On the not-yet-captures ontological Condition of Limit-Attractions, in: André Lepecki und Jenn Joy (Hg.): Planes of Composition. Dance, Theory and the Global, London/New York/Calcutta 2009, S. 123–159, hier S. 135 u. 139. Besonders differenziert argumentiert aus fachinterner Sicht der Performance Studies Rebecca Schneider: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London/New York 2011, S. 94–105. Zur Abgrenzung von Erika Fischer-Lichte siehe u. a. Siegmund 2005 (wie Anm. 42), S. 61; zur Abgrenzung von Lehmann vgl. u. a. Ploebst 2001 (wie Anm. 14), S. 270–271. 43 Ploebst 2001 (wie Anm. 14), S. 270. 44 Ebd.
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Performance von Seiten der Theaterwissenschaft: „Eine krasse Vereinfachung liegt gegenwärtig [...] vor, wenn jene Formen im zeitgenössischen künstlerischen Tanz, die aus dem durch Jahrhunderte eingebürgerten ästhetischen Kanon des leichten, explosiven oder schweren, jedenfalls aber artistischen und gehorsamen Tanzens ausbrechen, ausschließlich unter dem Begriff ‚Performance‘ zusammengefasst werden.“45 Ploebsts Vorwurf impliziert zweierlei: Wird der zeitgenössische Tanz aus theaterwissenschaftlicher Sicht zum idealtypischen Modell des Performativen erklärt – eine Tendenz, die sich etwa in Lehmanns Aussage widerspiegelt, der Tanz sei „exemplarisch für das postdramatische Dispositiv“46, da er „nicht Sinn, sondern Energie“47 formuliere –, wird er auf die Funktion eines Instrumentes der Reflexion für das Theater reduziert. Denn trotz der so ‚exemplarischen‘ Bedeutung des Tanzes für das Postdramatische, nimmt der Abschnitt „Tanz“ bei Lehmann mit seinen knappen Bemerkungen zu den Arbeiten von Meg Stuart, Pina Bausch oder William Forsythe gerade einmal drei der gut 500 Seiten von Postdramatisches Theater ein. Außerdem, und das ist die zweite wichtige Facette von Ploebsts Kritik, kann ein medienontologisch und in Opposition zum Dispositiv des Dramas als performativ bestimmter Tanz in Bezug auf sich selbst nicht dieselbe reflexive Bewegung vollführen wie das Postdramatische. In seiner ex-negativo-Bezugnahme auf das Dramatische, so hat es Christoph Menke einmal formuliert, stellt es als ein „Neinsagen zum Dramatischen, das [...] im Dramatischen selbst seinen Grund findet [...] eine ‚bestimmte‘, nicht eine ‚abstrakte‘ Negation des Dramatischen“ dar.48 Gerald Siegmund schließt in seiner Studie Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes von 2006 an die definitorische Frage „[I]st ein 45 Helmut Ploebst: Tanzen [Totsein!] Vanitas Vitalität, in: Krassimira Kruschkova (Hg.): Ob?scene – Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film, Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film-, und Medienwissenschaft, Bd. 51, 2005, H. 1, S. 99– 125, hier S. 106 [Hervorhebung i. O.]. 46 Lehmann 1999 (wie Anm. 30), S. 373. 47 Ebd., S. 371. 48 Christoph Menke: Praxis und Spiel. Bemerkungen zur Dialektik eines postavantgardistischen Theaters, in: Patrick Primavesi und Olaf A. Schmitt (Hg.): AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation, Berlin 2004, S. 27–35, hier S. 34.
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Tänzer, wenn er nicht mehr tanzt, überhaupt noch ein Tänzer?“ die Frage an, wie der nicht tanzende Tanz denn zu nennen wäre: „Einem Paradigma der bildenden Kunst folgend ‚Body Art‘, oder aufgrund der Inszenierungsqualitäten doch ‚Theater‘? Wie für viele zeitgenössische Formen wurde auch hier der Begriff ‚Performance‘ ins Feld geführt, wohl nicht zuletzt deshalb, weil er als ein gattungsübergreifender Sammelbegriff dient, unter den heterogene Praktiken subsumiert werden können.“49 Wie der Untertitel von Abwesenheit zeigt, sind solche Überlegungen bei Siegmund rhetorischer Natur, denn ausgehend von den Arbeiten von William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy und Meg Stuart soll eben keine Ästhetik der Body Art, des Theaters oder der Performance, sondern eine „Ästhetik des Tanzes“ erarbeitet werden. Die hohe Sensibilität für Aspekte der disziplinären Zuständigkeit geht auch aus seiner Bemerkung hervor, in der aktuellen theaterwissenschaftlichen Diskussion spiele der Begriff der Präsenz eine weitaus zentralere Rolle als der der Absenz. Siegmunds Studie will sich „demgegenüber“ positionieren, indem sie die Abwesenheit als operative Kategorie aufwertet, vor allem, da an dem „Konsens, der in den Performance-Studies im Hinblick auf das kritische und widerständige Potential künstlerischer Performances herrscht“50, „in unserer Mediengesellschaft, in der das Spektakel den Wert der Präsenz längst für sich entdeckt hat“51 nicht mehr fraglos festzuhalten sei. Über diese Peggy Phelans Performance-Ontologie des Verschwindens adressierende Feststellung hinausgehend, reformuliert Siegmund an anderer Stelle Lehmanns Konstruktion eines exemplarisch postdramatischen Tanzes als die Notwendigkeit des postdramatischen Theaters, seinerseits ‚choreographisch‘ zu werden: „[D]as postdramatische Theater [betritt] unweigerlich die Szene der Choreographie“52, denn „just in jenem Moment, in
49 Siegmund 2006 (wie Anm. 14), S. 9–10. 50 Ebd., S. 451 [Hervorhebung C. S.]. 51
Ebd., S. 10.
52 Gerald Siegmund: Affekt ohne Zuordnung – Zonen des Unbestimmbaren: Zu den Choreographien von Antonia Baehr, in: Martina Gross und Patrick Primavesi (Hg.): Lücken sehen ... Beiträge zu Theater, Literatur und Performance. Festschrift für Hans-Thies Lehmann zum 66. Geburtstag, Heidelberg 2010, S. 303–318, hier S. 318.
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dem das Theater über seine Voraussetzungen und sein Material nachdenkt, wird es choreografisch und zum Tanz“53. Es sei dementsprechend nicht verwunderlich, dass ein „um alle Mittel des Theaters erweiterter Choreographie-Begriff zum Zauberwort des postdramatischen Theaters allgemein“ geworden sei.54 Abschließend möchte ich die tanzwissenschaftlichen Gesten der Distanzierung von Theorien des Postdramatischen und des Performativen, wie auch das Nein zu Yvonne Rainers „NO“, ein letztes Mal an die Frage der Herleitung eines disziplinären Selbstbildes über einen starken Gegenstandsbezug rückbinden, der heute unter veränderten politischen und gesellschaftlichen Vorzeichen stattfindet. Aspekte von Performance und Performativität stehen im Zentrum der postfordistischen Wirtschaftsordnung. In dieser Situation fahndet, so eine mögliche Schlussfolgerung aus den beschriebenen interdiskursiven Bewegungen, die Tanzwissenschaft nach Strategien, die wieder eine kritische Bezugnahme auf diese Situation seitens einer Kunstform und ihrer Wissenschaft erlauben, für deren Analysen Begriffe wie ‚Ereignis‘, ‚Präsenz‘ und ‚Performativität‘ lange zentral gewesen sind. Es wird hinterfragt, welche Rolle der Tanz im Zuge des performative turn gespielt hat. Nur solange sich eine prinzipielle Opposition zwischen dem ereignishaften, präsentischen, performativen Wesen des Tanzes und der objektbasierten Logik der Waren- und Repräsentationsökonomie konstruieren lässt, kann die subversive Schubkraft von Tanz von Seiten der ihn analysierenden Wissenschaft in ein Selbstbild übersetzt werden, das von einer ebenso prinzipiell kritischen Schubkraft der Disziplin für die vorherrschende Wissensordnung ausgeht. Dies ist unter den veränderten Vorzeichen nicht (mehr) möglich: Wie der Tanz plötzlich in der Gefahr steht, in einem durchdynamisierten Gesellschaftssystem von sich selbst als zu formende Projekte be53 Gerald Siegmund: Von der Katastrophe des Sehens, in: Primavesi/Schmitt 2004 (wie Anm. 48), S. 368–370, hier S. 370. 54 Gerald Siegmund: Choreographie und Gesetz: Zur Notwendigkeit des Widerstands, in: Nicole Haitzinger und Karin Fenböck (Hg.): Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden, München 2010, S. 119–129, hier S. 121.
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greifenden Individuen zur Modellkunst zu werden, rückt die Tanzwissenschaft, zumindest, wenn sie sich als Wissenschaft im Namen des Tanzes versteht, gleichfalls aus ihrer vormaligen Randständigkeit, die sie so lange mittels einer Doppelfigur aus unfreiwilliger Marginalisierung und für sich in Anspruch genommener subversiver Alternativexistenz bestimmt hat, ins Zentrum der ‚Kulturgesellschaft‘. Bleibt abzuwarten, wie wir als Disziplin damit umgehen.
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SAUM DER ZEIT. DAS MANIFEST ALS PARADOXE SPRACHHANDLUNG
In seinen Überlegungen zur Archäologie des Wissens spricht Michel Foucault von der Analyse des Archivs als einem „privilegierte[n] Gebiet“: „gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben, ist es der Saum der Zeit, die unsere Gegenwart umgibt, über sie hinausläuft und auf sie in ihrer Andersartigkeit hinweist; es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt. Die Beschreibung des Archivs entfaltet ihre Möglichkeiten (und die Beherrschung ihrer Möglichkeiten) ausgehend von Diskursen, die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein; ihre Existenzschwelle wird von dem Schnitt gesetzt, der uns von dem trennt, was wir nicht mehr sagen können, und von dem, was außerhalb unserer diskursiven Praxis fällt; sie beginnt mit dem unserer eigenen Sprache Äußeren; ihr Ort ist der Abstand unserer eigenen diskursiven Praxis.“1 Geht man von konventionellen Vorstellungen über das Archiv aus, ist der Bezugspunkt dieser Passage die Vergangenheit, die allerdings in einer widersprüchlichen Beziehung zur Gegenwart steht. Das entscheidende Moment ist hier der Schnitt, der Unterschied, der einerseits die Analyse ermöglicht und andererseits allererst durch sie hervorgebracht wird. Das Bild des Saums – verstanden als 1
Michel Foucault: Archäologie des Wissens [frz. O. 1969], Frankfurt am Main 1981, S. 189 f.
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umgenähte Gewebekante – erfasst diese paradoxe Gleichzeitigkeit, die Verschlungenheit von Vergangenheit und Gegenwart: das eine wird im anderen hervorgebracht.2 Im Folgenden möchte ich (unter anderem) an Foucault anschließen, indem ich die Zeitlichkeit des Archivs auf die Form des Künstlermanifests übertrage.3 Damit einher geht zuallererst eine Umkehrung der Perspektive: Im Fokus steht nicht das Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sondern das zwischen Gegenwart und Zukunft, während die strukturelle Logik des Schnitts und des Saums erhalten bleibt.4 Eine meiner Thesen lautet, dass das Künstlermanifest – in Abgrenzung zum politischen Manifest und zu angrenzenden Textsorten wie Proklamationen oder Programmschriften, aber auch in Abgrenzung zu dem, was sich als manifester Text-Sinn zeigt – einer paradoxen Logik folgt, in der Zukunft (das in einem radikale Sinne Kommende, Unbekannte, Offene) als gegenwärtig vorgestellt wird.5 Entscheidend ist dabei, dass Künstlermanifeste dies nicht aus einer Abgrenzung zu politischen Formen der Manifestation tun (etwa indem sie sich auf einen Status als „zweckfreie“ Kunst oder Literatur berufen), sondern indem sie deren Platz usurpieren – und somit auch die Möglichkeit von
2
Vgl. weiterführend: Saum & Zeit. Ein Wörter-und-Sachen-Buch in 496 lexikalischen Abschnitten angezettelt von Ellen Harlizius-Klück, Berlin 2005, insbes. die Lemmata „Saum“, „Saum der Zeit“, „Saum und Zeit“, „säumen“, S. 168–171.
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Der Begriff des „Künstlermanifests“ markiert als heuristisches Instrument die Differenz zu politischen und sozialen „Manifestationen“. Dazu gehört, dass die Beurteilung des Einzelfalls schwierig ist – weder weisen sämtliche von Künstlern verfassten Manifeste die im Folgenden entwickelten Merkmale auf noch lassen sich Manifeste mit politischem oder sozialen Anspruch prinzipiell davon abgrenzen.
4
Weitere Referenzen für diese Umkehr der Perspektive sind die Idee der Avantgarde als Projekt (Peter Bürger) und die romantische Konzeption des Fragments, insbesondere Friedrich Schlegels Formulierung vom „Fragment aus der Zukunft“. Vgl. Walter Fähnders: Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manifestantismus, in: Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/ Atlanta, GA 2000, S. 69–95.
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Diese Überlegungen sind Derridas vielfältigen Reflexionen zur Gabe, zum Ereignis, zur Universität verpflichtet. Exemplarisch seien genannt: Jacques Derrida: Die unbedingte Universität [frz. O. 1998], Frankfurt am Main 2001, insbes. S. 71–78; ders.: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen [frz. O. 1997], Berlin 2003.
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Missverständnissen eröffnen.6 Unter solchen Voraussetzungen wird auch plausibel, dass Strategien der Negation und der Selbstnegation – über die Jahrzehnte, Epochen, Genres hinweg – ein bestimmendes Moment in fast allen Künstlermanifesten sind. Dies betrifft ihre Form, ihre Inhalte – und die (Un-)Möglichkeit ihrer Lektüre. Denn dass Künstlermanifeste unserer Aneignung Widerstand entgegensetzen, ist meines Erachtens offenkundig: Nichts ist weniger gesichert, als dass wir das Künstlermanifest und die in ihm wirksamen Negationen überhaupt richtig (aber was wäre dies auch?) zu lesen verstehen, dass wir ihm einen sicheren Ort im Gefüge des Diskurses zuweisen können; es ist nicht einmal sicher, dass wir einen Text in dem hier skizzierten Sinne als Künstlermanifest anerkennen. In meiner Untersuchung möchte ich einige der wesentlichen Merkmale des Künstlermanifests und der in ihm wirksamen Paradoxien und Negationen herausarbeiten. Dazu werde ich von dem Befund ausgehen, dass Künstlermanifeste eine eigenständige künstlerische Praxis sind, die in einer spezifischen Beziehung zum Konzept des Performativen steht. Ein erstes Indiz dafür ist die Beobachtung, dass Künstlermanifeste häufig auf Medien und Formen zurückgreifen, die der Oralität verpflichtet sind und insofern unter dem Vorbehalt eines Flüchtigen und Prozesshaften stehen.7 Dies allerdings ist lediglich der Ausgangspunkt für eine grundlegende Befragung ihres Status. Entscheidend nämlich ist ihr Bezug zur Schriftlichkeit, wie ich unter Rückgriff auf die Sprechakttheorie Austins und deren Lektüre durch Jacques Derrida zeigen möchte. Zur Verdeutlichung beziehe ich mich auf drei Texte beziehungsweise Textstrategien, die sowohl historische Kontinuitäten als auch aktuelle Entwicklungen erkennbar werden lassen: zum einen Tristan Tzaras Manifeste Dada 1918, das ich mit dem Letzten Manifest von Johannes Baader (mutmaßlich aus dem Jahr 1925) vergleichen möchte, zum an6
Für eine Analyse der intertextuellen Bezüge zwischen dem avantgardistischen Manifest und der politischen Proklamation siehe Hubert van den Berg: Zwischen Totalitarismus und Subversion. Anmerkungen zur politischen Dimension des avantgardistischen Manifests, in: Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): „Die ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997, S. 58–80.
7
Eine systematische Aufarbeitung der Bezüge zwischen dem Manifest und der Sprechakttheorie findet sich bei Birgit Wagner: Auslöschen, vernichten, gründen, schaffen: zu den performativen Funktionen der Manifeste, in: Asholt/Fähnders 1997 (wie Anm. 6), S. 39–57.
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deren die intermediale Praxis des Manifests von Jonathan Meese, hier am Beispiel eines Spiegel-Gesprächs im Vorfeld der documenta in Kassel 2012. Eine der Grundannahmen der Sprechakttheorie nach John L. Austin besteht darin, dass es Aussagen gibt, die nicht als Beschreibungen von Wirklichkeit aufzufassen sind, sondern selbst wirklichkeitskonstituierende Kraft besitzen; diese sind nicht „wahr“ oder „falsch“, sondern sie „glücken“ bzw. „misslingen“. Diese Funktion übernehmen insbesondere eine Klasse von Verben, die einen Sprechakt ermöglichen, „den man vollzieht, indem man etwas sagt, im Unterschied zu dem Akt, daß man etwas sagt“8, Beispiele sind insbesondere vertragliche und deklaratorische Äußerungen wie anklagen, schenken, versprechen, verurteilen, wetten usw. Eben solche Verben finden sich auch in vielen Künstlermanifesten; gleichwohl lässt sich die Frage nach ihrem performativen Charakter auf dieser Grundlage noch nicht beantworten. Denn für unseren Zusammenhang sind zwei weitere Aspekte der Sprechakttheorie wichtig, die auch für deren Rezeption und Weiterentwicklung von Bedeutung sind: Erstens, dass das Ge- bzw. Misslingen performativer Äußerungen nicht allein von den verwendeten Formulierungen abhängt, sondern vom Status des Sprechers, den passenden Umständen (Kontext) und der Legitimität des Verfahrens. „Unernste“ Verwendungsweisen (etwa auf einer Theaterbühne, in einem Gedicht, in einem Selbstgespräch) werden von Austin explizit ausgeschlossen, da performative Äußerungen darin nur als Repräsentationen von performativen Äußerungen vorkommen und keine außerliterarische beziehungsweise -theatrale Wirksamkeit besitzen.9 Dies gilt freilich auch umgekehrt: Sobald eine performative Äußerung als wirksam angesehen wird, verliert sie ihren Status als Literatur oder Theater. Zweitens sind solche Äußerungen nicht an Formen der (mündlichen) Aufführung geknüpft, schriftliche Verträge und Bekanntmachungen können die gleiche Funktion übernehmen – so wird die Betitelung eines Texts als „Manifest“ von Austin selbst als Beispiel angeführt.10 8
John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words) [engl. O. 1955/1962], Stuttgart 1972, S. 117.
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Ebd., S. 43 f.
10 Ebd., S. 95.
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Vor diesem Hintergrund stellt sich die doppelte Frage, in welchem Verhältnis die literarische Dimension der Künstlermanifeste zu ihrem performativen Anspruch steht – und inwieweit sich dieser (auch) in der Materialität der Schrift niederschlägt. Sieht man die Frage nicht als von vornherein beantwortet an, dürfte sich eine Klärung des jeweiligen Status als schwierig erweisen; immerhin sind die performative Dimension eines Vortrags, die aktionistische Verteilung von Flugblättern oder die durch Gerichtsprozesse hergestellte Öffentlichkeit – „Situationen, die ihre Einmaligkeit zur Schau stellen und den Bruch mit der Vergangenheit als Akt konsumieren.“11 – Indizien für einen Anspruch auf Wirksamkeit. Zugleich lässt eine Betonung der aktionistischen Dimension die genuine Schriftlichkeit der Texte selbst in den Hintergrund treten; dies gilt selbst dann, wenn man zwischen einer „primären“ und einer „sekundären“ Schriftlichkeit unterscheidet.12 Alternativ möchte ich vorschlagen, die Künstlermanifeste im Zeichen der Austin-Lektüre Derridas zu verstehen und sie damit einem Schriftbegriff zu unterstellen, der sich durch eine prinzipielle Trennung zwischen den Zeichen und dem Autor/Leser sowie deren kontinuierliche Iterierbarkeit und Neukontextualisierung auszeichnet.13 Die Pointe von Derridas Überlegungen liegt darin, eben diesen Schriftbegriff als Bedingung jeglicher Kommunikation und somit auch als Voraussetzung für das Gelingen eines Sprechakts anzunehmen; zudem wird Austins Grenzziehung zwischen dem Sprechakt und dem Theater (der Literatur, der Kunst) zugunsten einer „differentiellen Typologie von Iterationsformen“14 aufgegeben. So enthüllt der vermeintliche Sonder- und Grenzfall des Theaters die Bedingung der Möglichkeit: Der Schriftcharakter des Sprechakts und die performative Dimension der Schrift bedingen einander. 11
Wagner 1997 (wie Anm. 7), S. 48.
12
Ebd., S. 49: „Die primäre Schriftlichkeit der Printmedien erlaubt, daß im Horizont der Zeitgenossenschaft ein Teil der performativen Äußerungen ihre performative Rolle behält [...]. In der sekundären Schriftlichkeit der literarischen Tradition hingegen kann dasselbe Syntagma nur mehr Dokument, Gedächtnisspur einer performativen Äußerung sein.“
13
Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext [frz. O. 1972], in: ders.: Limited Inc., Wien 2001,
14
Ebd., S. 40.
S. 15–45, hier S. 27 f.
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Bezieht man diesen Schriftbegriff auf Künstlermanifeste, treten die Momente der Selbstreferenz deutlich hervor: Sie reichen von der Verwendung von Allegorien und Metaphern über die Aneignung und Parodie etablierter literarischer Formen, inhaltliche und formale intertextuelle Referenzen bis hin zur Betonung ihrer graphematischen Dimension, etwa durch Bezüge zu massenmedialen Werbestrategien oder zur konkreten Poesie.15 Zunehmend rückt dabei ihre schriftliche Verfasstheit – der Akt des Schreibens, die mediale Distribution, die Lektüre – ins Zentrum, wird die Aufmerksamkeit von der kommentierenden oder appellierenden Funktion der Kommunikation auf die Schrift und die raum-zeitliche Verfasstheit des Schreibens und Lesens gelenkt. Eben dies aber geht keineswegs mit einem Verzicht auf performative Wirksamkeit einher, sondern impliziert deren Erfahrbarkeit (in) ihrer materiellen Dimension. Die Wirklichkeit, die mit Hilfe des Künstlermanifests konstituiert wird, ist die Möglichkeit eines anderen, neuen Schreibens und Lesens (auch: von Manifesten). Davon ist auch die Frage der Negation betroffen: Die – sei es spielerische, sei es aggressive – Infragestellung gängiger Formen der Kommunikation bedeutet keinen Verzicht, sondern einen Exzess der Möglichkeiten. Künstlermanifeste produzieren Präsenz – freilich eine, die in der Lektüre als eine in sich gespaltene / gefaltete erfahrbar wird. Eben dadurch halten sie den Bezug zur Zukunft offen; diese wird als an- und abwesend zugleich vorgestellt: Nicht weil das, was das Manifest fordert, schon realisiert worden wäre oder in naher Zukunft erreicht werden könnte, sondern weil es selbst schon (nicht mehr) / noch (nicht) da ist: weil es sich im Schreiben zu lesen, und im Lesen zu schreiben gibt. Dass die historische Avantgarde nicht nur eine Vielzahl unterschiedlicher Formen des Manifests hervorgebracht hat, sondern diese von Beginn an auch kritisch reflektiert, spielerisch parodiert und bis zur eigenen Aufhebung getrieben hat, ist bekannt.16 Ein frühes Beispiel ist Tristan Tzaras be15
Vgl. dazu auch Wagner 1997 (wie Anm. 7), S. 49–51.
16
Vgl. für eine historische Übersicht die Einleitung in Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart 1995, S. XV-XXX.
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kanntes Manifeste Dada 1918, das in zuweilen nur schwer nachvollziehbaren semantischen Konstruktionen eine Feier des Selbstwiderspruchs bietet. Eine exemplarische Passage lautet: „Ich schreibe ein Manifest und will nichts, trotzdem sage ich gewisse Dinge und bin aus Prinzip gegen Manifeste, wie ich auch gegen die Prinzipien bin [...]. Ich schreibe dieses Manifest, um zu zeigen, daß man mit einem einzigen frischen Sprung entgegengesetzte Handlungen gleichzeitig begehen kann; ich bin gegen die Handlung; für den fortgesetzten Widerspruch, für die Bejahung und bin weder für noch gegen und erkläre nicht, denn ich hasse den gesunden Menschenverstand.“17 Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang, dass allgemeine Gattungsmerkmale und die nominelle Bezeichnung als Manifest auseinandertreten können. Walter Fähnders hat in diesem Zusammenhang eine Skala skizziert, an deren einem Ende sich „selbsternannte Manifeste mit manifesttypischen Textmerkmalen“ finden, daneben „Texte ebenfalls mit manifesttypischen Charakteristika, freilich ohne die entsprechende Selbstbezeichnung“ und am anderen Ende „Texte, die sich zwar Manifest nennen, aber nur geringe oder gar keine Gattungsmerkmale zeigen“.18 Dieser Befund verweist auf das heikle Verhältnis zwischen Performativität und Schrift: Die Benennung eines Texts als Manifest wäre demnach selbst als ein performativer Akt anzusehen – freilich als einer, dessen Gelingen in Frage steht und dessen Legitimität keineswegs gesichert ist, und der sogar in Widerspruch zur Form und Inhalt dessen, was er bezeichnet, treten kann. Verstärkt wird dieses Problem, sobald es nicht mehr nur um eine Gattungsbezeichnung, sondern um eine weitergehende Aussage über den Status des Manifests geht. Dies ist der Fall bei jenem Text, das ich als historisches Beispiel genauer untersuchen möchte: das so genannte Letzte Manifest von Johannes Baader (Abb. 1). 17
Zit. n. Tristan Tzara: Manifest Dada 1918, in: Dada Almanach. Im Auftrag des Zentralamts der Deutschen Dada-Bewegung herausgegeben von Richard Huelsenbeck, Berlin o. J. [1920], S. 116–131, hier S. 117 f. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich um einen Text handelt, der – wie in der Publikation ausdrücklich vermerkt – als Vortrag präsentiert wurde, als ein performatives Ereignis also, dem die Schrift in Form eines Manuskripts vorausging: „Gelesen vom Autor am 23. Juli 1918 in der ,Meise‘ in Zürich.“ (Ebd., S. 116.)
18 Fähnders 2000 (wie Anm. 4), S. 78.
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Abb. 1
Johannes Baader: Letztes Manifest, ca. 1925, Collage, 28,6 × 22,2 cm, Archives Andrei Nakov
Bevor ich auf den Kontext und die besonderen Merkmale dieses Texts eingehe, möchte ich bei der Titelformulierung „Letztes Manifest.“ (genauer: beim Akt der Betitelung) verweilen: Erstens setzt die Wahl des Titels das Wissen des Lesers voraus, dass diesem Text vergleichbare Texte vorausgegangen sind. Zweitens wird er dadurch zum Endpunkt einer Reihe erklärt, was ihm eine gewisse Dringlichkeit verleiht, er appelliert an unser Interesse, mehr über seinen finalen Charakter zu erfahren. Auf der anderen Seite, und dies erscheint mir ebenso wichtig, fehlt ein Artikel, der klären würde, ob es sich hier um „das“ oder „ein“ letztes Manifest handeln soll, ob der Text also Anspruch auf eine singuläre Position erhebt oder ob es sich um ein Element einer Gruppe oder Klasse handelt (immerhin bleibt so auch die Option weiterer „letzter Manifeste“ – sei es von Baader selbst, sei es von anderen Künstlern – implizit gewahrt). Und schließlich scheint mir auch die Verwendung des Punktes, der dem Titel die Kraft einer Aussage verleiht, signifikant zu sein. Dies alles zusammengenommen, ermöglichst den Schluss, dass es gerade seine explizite Kategorisierung ist, die den Status des Textes fraglich macht.19
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Die Verunsicherung des Lesers aber reicht weit über dieses Problem hinaus. Zwar bietet eine kunst- bzw. literaturhistorische Kontextualisierung der verwendeten Strategien keine Probleme – die Technik der Collage, die Betonung der typographischen Dimension bis hin zur Durchkreuzung der Lesbarkeit lassen sich in vielen Dokumenten insbesondere im Kontext der historischen Avantgarde (und auch in vielen ihrer Manifeste) finden. Zugleich, und nur diesem Aspekt möchte ich hier nachgehen, appelliert Baader durch längere, einheitlich mit Schreibmaschine verfassten Textstreifen durchaus an das Lektüreinteresse eines Lesers: Es wird suggeriert, dass es „etwas“ zu verstehen gibt. Eine provisorische Rekonstruktion einiger halbwegs plausibler Zusammenhänge könnte so aussehen: „Ich verlie[re] die Architektur, weil mir nur im Beschauen ab[er] nicht im Schaff[en] [...] feinster Schwingungen le[bendi]g wurden. // Also wollen wir bei dem Bescheid bleiben, dass jedes Werk Hemmungen sucht, damit es nicht zu schnell abläuft, und Schwierigkeiten, damit es gut wird. // Aber dass der Tod himmlisch werde, / Und der Kampf Spiel, / Und das Böse die Würze der Spi[...] // Niemand denkt daran, die Gegensätze im Weltspiel [au]fzuheben [...] // Nicht unbesät werden die Aecker tragen. // Das ist das Rauschen des Aars / Über dem neuen Reich Gottes.“ Vergleicht man diese Passage mit dem Auszug aus Tzaras Manifest Dada 1918 (das man immerhin, wenn auch nicht als das erste DADA-Manifest, so doch – nicht zuletzt mit Blick auf den Titel – als ein Dokument mit Gründungsanspruch und insofern als historisches Gegenstück ansehen kann), fällt auf, dass es hier nicht so sehr um die Selbstreferenz und -negation, sondern um außerliterarische Bezüge geht, die auf die – sowohl innerhalb der Bewegung als auch in der Forschung – durchaus umstrittene Persönlichkeit Baaders verweisen: Nachdem er zum „Führer“ der DADABewegung erklärt wurde, stellen einige der Mitstreiter seine Bedeutung schon Anfang der 1920er Jahre wieder in Frage, wozu Baaders (tatsäch19
Man könnte hier in der Analyse noch weitergehen und die spezifische Form der Textüberlieferung einbeziehen. Dazu gehört, dass Titel und Collage erkennbar auf einer größeren Seite zusammengestellt wurden, die weitere Markierungen der Archivierung (Ziffern, Lochung) trägt. Weiterführende Hinweise gibt Alfons Backes-Haase: Kunst und Wirklichkeit. Zur Typologie des DADA-Manifests, Frankfurt am Main 1992, S. 163 f., Anm. 439.
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lich über den Kontext von DADA hinaus weisenden) okkult-religiösen und selbstmystifizierenden Tendenzen sowie seine Distanz zum Kunst- und Literaturbetrieb beigetragen haben dürften. Bekannt wurde er u. a. durch seine performativen Interventionen im Berliner Dom und in der Weimarer Nationalversammlung, die sich durch eine aggressiv-ironische Besetzung der dort jeweils wirksamen religiösen und politischen Funktionen auszeichnen.20 „Seine Selbsternennung zum Oberdada“, schreibt Richard Huelsenbeck retrospektiv, „seine Taten im Berliner Dom und in der Weimarer Volksversammlung [...] machten aus dem Dadaismus so etwas wie einen metaphysischen Ulk, eine Art universellen Witz, von dem aus sich nur mit großer Schwierigkeit ein Weg zur Kunst zurückfinden ließ. Es ist hier wichtig, zu wiederholen: Obwohl der Dadaismus ursprünglich eine emotionale Reaktion war, die sich in jeder Form ausdrücken konnte, operierte er doch auf einer Ebene, von der die Künste leicht erreichbar waren. Unsere Stellung zur Kunst wurde von Haß und Liebe diktiert, wir waren Künstler, die von der Sprödigkeit ihrer Geliebten überwältigt waren. Baader aber hatte mit der Kunst ganz und gar nichts zu tun.“21 Wenn DADA also tendenziell Kunst, Baader aber kein Künstler beziehungsweise ein „Nicht-Künstler“ war: Welcher Status kommt dann seinen Aktionen und Manifesten (und deren Negation) zu, in wessen Namen und für welches Publikum spricht er? Folgt man den Forschungen von Hanne Bergius22 und Stephen C. Foster23, die für eine (Wieder-) Entdeckung Baaders stehen, müsste die von Huelsenbeck vorgebrachte Kritik umgewendet werden: „Baaders Angriff auf die Kunst und ihren Stellenwert im Verhältnis zur Wirklichkeit“, schreibt Alfons Backes-Haase, „erringt [...] die letztmögliche 20 Vgl. dazu Hanne Bergius: Radikale Sanierung des Erd- und Weltballs. „Oberdada“ Johannes Baader, in: dies: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen, Gießen 1993, S. 144–161. 21
Richard Huelsenbeck: Mit Witz, Licht und Grütze. Auf den Spuren des Dadaismus. Wiesbaden 1957, S. 112 f.
22 Hanne Bergius: Anmerkungen zur Person Baaders, in: Sprache im technischen Zeitalter, 1976, H. 58 (April–Juni), S. 179 f.; dies.: Zur phantastischen Politik der Antipolitik Johannes Baaders oder die unbefleckte Empfängnis der Welt, in: dies., Norbert Miller und Karl Riha (Hg.): Johannes Baader Oberdada, Gießen 1977, S. 181–191. 23 Stephen C. Foster: Johannes Baader: Kunst und Kulturkritik, in: Wolfgang Paulsen und Helmut G. Hermann (Hg.): Sinn aus Unsinn. Dada International, Bern u.a. 1982, S. 153–176; ders.: Johannes Baader: The Complete Dada, in: ders. (Hg.): Dada/Dimensions, Ann Arbor 1985, S. 249–271.
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dadaistische Qualität. Die Kunst dringt in die Wirklichkeit und schafft dort neue Wirklichkeitszusammenhänge, neue Beziehungen, deren Neuigkeit und damit Unkonventionalität sich in einem Aufschrei des Publikums oder einem Prozeß gegen den Provokateur niederschlägt. Die programmatische Äußerungsform Manifest bleibt nicht mehr Text, sondern wird Tathandlung selbst.“ Und weiter, mit Blick auf Letztes Manifest: „,Wirkliche‘ Beziehungen werden hier mit der Schere hergestellt und damit das willkürlich Beziehungen schaffende künstlerische Arbeitsmittel der Collage, die selbst ein Abbild der nur noch aus einem Fragment-Chaos bestehenden äußeren Wirklichkeit ist, durch seine praktische Anwendung auf einen Text, der damit jegliche inhaltliche Botschaft verliert, zum Korrespondenzprodukt der Wirklichkeit.“24 Demnach wäre – analog zur Aneignung etablierter Rollen wie die des (geistigen, politischen) Führers – Baaders Verwendung außerliterarischer Referenzen als Versuch anzusehen, das Manifest (seine Inhalte, seine Negationen) selbst als Wirklichkeit zu behaupten, ohne es als Kunst oder Literatur (z. B. als konkrete Poesie) auszuweisen und damit zu neutralisieren; damit einher geht eine radikale Erweiterung des Adressatenkreises. Inwiefern (und ob überhaupt) die aufgerufenen Inhalte untereinander und mit dem Leser „korrespondieren“, bleibt völlig offen: So wie im Binnenraum der Collage disparate Materialien zugleich getrennt und vereint erscheinen, sich durchkreuzen und eventuell einen neuen oder anderen Sinn ermöglichen, kollidieren das Manifest und Wirklichkeit des Lesers mit ungewissem Ausgang. So verstanden, bestünde der im Titel behauptete finale Charakter des Texts nicht darin, das Genre Manifest aufzukündigen, sondern darin, es dauerhaft von sämtlichen inhaltlich-politischen Ansprüchen zu entkoppeln, um eine künftige (unbestimmte und unbestimmbare) Produktivität zu ermöglichen. Es ist heikel, von hier aus einen Brückenschlag über fast ein Jahrhundert zu wagen, in einen Kontext, der – jedenfalls vordergründig – ganz anderen ästhetischen und medialen Bedingungen untersteht. Gleichwohl soll dieser Versuch abschließend gewagt werden, um die Relevanz der am Beispiel 24 Backes-Haase 1992 (wie Anm. 19), S. 115.
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Baaders veranschaulichten Produktivität der Schrift für die Gegenwart zu zeigen. Geschehen soll dies, indem ein Blick auf die Manifestpraxis von Jonathan Meese geworfen wird. Der Terminus „Manifestpraxis“ signalisiert, dass es nicht mehr um (einzelne) Texte (und sei es in Form der Collage) geht, sondern um eine Vielzahl von Aktionsformen in ganz unterschiedlichen medialen Abb. 2 Website von Jonathan Meese, Screenshot (Detail) Kontexten (darunter: Performance, Video, Internet), auf die an dieser Stelle nur beispielhaft eingegangen werden kann: anhand eines Auftritts Meeses im Rahmen eines vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel veranstalteten Künstlergesprächs mit den Redakteurinnen Ulrike Knöfel und Marianne Wellershoff unter dem Titel Größenwahn in der Kunstwelt am 4. Juni 2012 in der Universität Kassel. Diese Veranstaltung hat wegen eines anschließenden Strafverfahrens, dessen Anlass Meeses Verwendung des so genannten „Hitlergrußes“ war, zusätzliche mediale Aufmerksamkeit gefunden.25 Der Titel der Veranstaltung gibt bereits einen (ironischen?) Hinweis auf die Wahrnehmung der öffentlichen Person Meeses, die sich durch einen spielerischen Umgang mit historisch und politisch belasteten Formen und Formeln – etwa der Rhetorik des Führerkults, die programmatische Verwerfung von Kultur und Demokratie sowie das Lob der Unterordnung, der 25 Ein Nachbericht des Spiegel mit Auszügen der Videodokumentation findet sich unter: http:// www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/jonathan-meese-sorgt-fuer-eklat-bei-spiegel-gespraechin-kassel-a-837151.html. Weitgehend vollständig und neu kontextualisiert ist die Videoaufnahme auf Meeses Website zu finden: http://www.jonathanmeese.com/2012/20120604_Kassel_ Spiegel/index.php [Abruf: 22.6.2016].
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Disziplin, des Infantilismus – im Namen einer „Diktatur der Kunst“ auszeichnet. Wichtig ist dabei, dass es sich dabei weniger um konkrete historische Bezüge als um popkulturelle Referenzen aus zweiter und dritter Hand handelt, mit deren Hilfe eine emphatisch-naive Vorstellung von „Kunst“ als radikaler Gegenentwurf zur sozialen Wirklichkeit propagiert wird – ein Screenshot von Meeses Website gibt einen Eindruck von den verwendeten sprachlichen und visuellen Strategien (Abb. 2). Eine zentrale Rolle spielt bei Meese die Verfertigung von Manifesttexten, die er – teils mit, teils ohne entsprechende Betitelung – seit vielen Jahren mit erkennbarer Lust an Wiederholungen und Redundanzen veröffentlicht.26 So auch im Spiegel-Gespräch: „Während der Veranstaltung [...] verlas der Angeklagte über mehrere Minuten hinweg ein Manifest zur ,Diktatur der Kunst‘. Seine Sprache war dabei geprägt durch Stakkatosätze, Übertreibungen sowie Superlative. Er steigerte sich im Laufe der Veranstaltung sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der Lautstärke in seine Rede hinein. Er sprach davon, ,total spielen‘ zu wollen, keine Ideologie zu dulden und die Kunst herrschen zu lassen. Dabei machte er immer wieder deutlich, nichts von Realpolitik, egal ob links oder rechts, zu halten. Er äußerte sich auch über Künstlerkollegen, die er für ,ichversaut‘ hält.“27 Auffallend ist Meeses Vortragsstil, der einerseits die inhaltliche Emphase des Texts aufnimmt, sie zugleich aber als Konvention markiert, etwa durch abrupte Brüche, Lachen und distanzierende Kommentare wie „Jetzt lese ich erst mal das Manifest vor und dann geht’s ab [...]“ (00:02:35).28 Dem entsprechend wird seine Lesung vom Publikum mit Heiterkeit aufgenommen. Aufschlussreich ist auch der Effekt einer Unterbrechung der Lesung durch Wellershoff (ca. 0:05:30) – danach findet Meese nicht mehr in die Emphase zurück und beendet die Lesung in einem zunehmend beschleunigten, leiernden Tonfall. 26 Vgl. etwa Jonathan Meese: Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst, Frankfurt am Main 2002. 27 Aus der Urteilsbegründung des Amtsgerichts Kassel vom 14. August 2013 (Az. 1614 Js 30173/ 12 – 240 Cs), online unter: http://openjur.de/u/689302.print [Abruf: 22.6.2016]. Meese wurde unter Hinweis auf die Freiheit der Kunst nach Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes freigesprochen. 28 Hier und im Folgenden sind die wörtlichen Zitate der auf Meeses Website verlinkten Videodokumentation der Veranstaltung (wie Anm. 25) entnommen und durch Zeitangaben nachgewiesen [Transkription: H.-F. B.].
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Abb. 3
Website von Jonathan Meese, Screenshot (Detail)
Ein weiteres Merkmal der Manifestpraxis Meeses ist die handschriftliche Verfertigung der Texte. Er bedient sich dabei durchgängig einer ausgestellt kindlichen, raumgreifenden Handschrift; die Seiten werden stets sorgfältig nummeriert, datiert und signiert und auf der eigenen Website archiviert (vgl. Abb. 3). In dieser Form werden sie auch auf der Spiegel-Veranstaltung präsentiert, wobei sich die Redakteurinnen erstaunt darüber zeigen, dass Meese im Vorfeld mehrere Texte mit ähnlichem Inhalt verfasst (und ihnen zugeschickt) hat: zwei Tage vorher sechs Seiten, dann am Tag des Ge-
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sprächs zwölf Seiten und noch einmal drei; der vorgetragene Text scheint eine weitere Variante zu sein (vgl. 0:38:00–0:38:35). Es geht Meese also nicht darum, seine inhaltliche Position ein für alle Mal erschöpfend darzustellen, seine Manifestpraxis ist vielmehr von einer (offenkundig lustbesetzten) Serialität geprägt. Im Gespräch sagt er an gleicher Stelle: „Es gibt doch so viel zu tun. Nicht, warum schreiben nicht alle hier totale Manifeste jeden Tag [...]?“ Und auf den Einwand Wellershoffs „Und wann soll man sie denn lesen?“: „Sie sollen sie doch selber lesen.“ (0:38:44–0:38:55). Es wird deutlich, dass das Manifest bei Meese gar keine kommunikative Funktion mehr erfüllt, sondern zu einem Instrument der Selbstverständigung beziehungsweise Selbstaffektion geworden ist. Blickt man mit Meese auf Baader zurück, zeigen sich Parallelen und Unterschiede, die meines Erachtens geeignet sind, die paradoxe Verfassung des Künstlermanifests zu verdeutlichen: Beide besetzen inhaltlich und rhetorisch den Platz des politischen Manifests und der dazugehörigen auktorialen Figur des „Führers“, höhlen diese aber durch spezifische Strategien im Zeichen der Schrift aus: Baader, indem er unterschiedliche, schwer zu bestimmende Referenzen mit okkult-religiösem Bezug wählt, die sich collagenhaft durchkreuzen, Meese, indem er wiedererkennbare, jedoch im politischen Diskurs verworfene Bezüge (u. a. zum Nationalsozialismus) aufnimmt und sie spielerisch gegen sich / sie selbst kehrt (davon ist sogar noch die wiederholt propagierte Kritik an sämtlichen Ideologien betroffen). In beiden Fällen stellt sich die Frage, was in den Texten überhaupt gesagt wird, ob es den Autoren „ernst ist“, ob sie das Gesagte auch „wirklich meinen“ – oder ob alles nur ein (sei es: metaphysischer, sei es kunstbetrieblicher) „Witz“ ist. Die Texte geben darauf keine Antwort, weil sie keiner etablierten diskursiven Rahmung (auch nicht: der Kunst, der Literatur, des Theaters) angehören. Zu benennen sind allerdings auch grundlegende Unterschiede: Baader operiert – darin bleibt er dem Gestus von DADA verhaftet – mit einer Geste der Negation, die das Genre des Manifests selbst in Frage stellt, Meese betont die eben dadurch freigesetzten Energien, die sich u. a. in einer inflationären Produktion von Manifesten niederschlagen. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass das Künstlermanifest artikuliert, was in der Gegenwart noch nicht auszusprechen oder zu denken ist. Die von
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ihm behauptete Wirklichkeit liegt nicht in einer konkreten oder einer absurden, einer realisierbaren oder utopischen, ja überhaupt nicht in einer wie auch immer vorstellbaren Zukunft, sondern in der Gegenwart der eigenen Setzung, die gleichsam gedoppelt / von sich selbst getrennt erscheint. Seine Produktivität liegt darin, sich in dieser Setzung einzunisten, zu erschöpfen, zu verschlingen, zu falten (zu versäumen), denn dadurch erst kommt das Kommende zu seinem Recht. Anders gesagt: Das Künstlermanifest bietet eine grundlegende Kritik aller Versuche, Zukunft als Effekt unseres aktuellen Denkens und Handelns und damit als Verlängerung von Gegenwart zu denken. Dabei ist es entscheidend, dass sich Künstlermanifeste nicht vorschnell (wieder) in den Bereich der Kunst (sei es die Literatur, sei es das Theater) eingemeinden lassen. Mit anderen Bestrebungen der historischen Avantgarde teilen sie den Anspruch, die Autonomie der Kunst zugunsten einer umfassenden, übergreifenden Praxis aufzukündigen. Spezifisch an ihnen ist, dass sie die geläufige Ausrichtung dieser Bewegung umkehren: Nicht um die Auflösung der Kunst in Lebenspraxis ist ihnen zu tun, sondern um die Verschiebung des Lebens (hier: der diskursiven Form des politischen Manifests) hin zur Kunst. Formelhaft gesagt, negieren sie nicht die Kunst, sondern das Leben – zugunsten einer anderen, auch ihren Autoren prinzipiell unbekannten Praxis, von der keineswegs ausgemacht ist, wie sie zu benennen wäre.29
29 Von hier aus ergeben sich weitere Bezüge zur gegenwärtigen Ästhetik, beispielsweise bei HansThies Lehmann, der im Zusammenhang eines „Theater des Präsens“ die Idee des Saums – hier: im Sinne des Versäumens – aufgreift: „Ein Signal, das man nicht deuten kann und das einen trifft. Gegenwart als dergestalt nicht sistierte und sistierbare Erfahrung ist Erfahren des Versäumens. Im Versäumen findet die Erfahrung statt, am Saum der Zeit.“ Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 258.
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VERBA VOLENT, SCRIPTA MANENT. DIE MANIFESTE DER MÜNCHNER KÜNSTLERGRUPPE SPUR
Die Städtische Galerie im Lenbachhaus ist in ihrer Sammlungs- und Ausstellungspolitik nicht allein auf München fokussiert; anderseits gehören Münchner Kunstereignisse von bedeutendem Rang unbedingt zu ihren Programmschwerpunkten. Beim Thema Künstlermanifeste oder im weitesten Sinne kunsttheoretische Äußerungen von Künstlern denken wir daher zuerst an die Künstler der Münchner Gruppe SPUR. Im Jahr 2015 hat das Lenbachhaus deren fast vergessene Werke entmagaziniert und in der Schausammlung platziert.1 An dieses wiedererwachte Interesse soll angeschlossen werden, wenn es hier darum geht, die Entstehungsgründe der Gruppe SPUR in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, ihre äußere und innere Verfassung und die Veröffentlichungen ihrer Manifeste zu erörtern. Denn mit ihren Manifesten haben die SPUR-Künstler frühzeitig versucht, sich neben ihrer Kunstpraxis auch eine politische Öffentlichkeit zu verschaffen; und das ist es, was sie heute in doppeltem Sinne interessant macht.
1
Zum Anlass der Werkpräsentation erschien die erste deutsch-englische Publikation sämtlicher von der Gruppe SPUR veröffentlichter Manifeste: Gruppe SPUR. Manifeste / Manifestos, hg. von Matthias Mühling und Eva Huttenlauch, München 2015.
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Dass Künstler malen, erklärt sich von selbst; dass sie reden, schreiben, handeln, um ins politische Leben einzugreifen, wurde meist weniger für ihre Kompetenz gehalten. Als Georg Baselitz im Jahr 2015 den Entwurf für ein neues Kulturgüterschutzgesetz öffentlich sanktionierte, war der publizierte Subtext, Kulturgesetzgebung sei für ihn als Maler genuin kein Handlungsfeld. Es gibt jedoch eine historische Typologie der politischen Künstlermanifestation, für die hier nur zwei passende Beispiele stehen sollen. Als erster Künstler, von dem wir wissen, hat der Metallbildhauer Demetrios von Ephesos im Jahr 55 n. Chr. sich kunstpolitisch aktiv betätigt. Er war mit Devotionalienstatuen für den Pilgertourismus zum Diana-Heiligtum des Artemision künstlerisch und wirtschaftlich erfolgreich gewesen, bis Paulus die Epheser aufforderte, keine Götterbilder mehr zuzulassen, da es nur einen Gott gebe. Demetrios war damit um sein Geschäft gebracht. Apostelgeschichte 19, Vers 23–40 beschreibt, wie er daraufhin durch öffentliche Propagandareden den ersten Volksaufruhr um die Kunstfreiheit entfesselte, der obrigkeitlich nur unter Schwierigkeiten durch Vernunft zu schlichten war und für Paulus im Gefängnis endete. Wie bei Baselitz und, wie wir später noch sehen werden, auch im Falle der SPUR-Künstler, stand hinter der Empörung zugleich auch ein wirtschaftliches Motiv, das bei jedem ideengeschichtlichen Ansatz mit im Auge behalten werden muss. Goethe wird auch den Demetrios-Aufstand im Sinn gehabt haben, als er dichtete „Bilde, Künstler! Rede nicht!“2. Davon wird regelmäßig nur dieser erste Vers zitiert, weil er außer Zusammenhang so leicht zu missbrauchen ist. Der zweite Vers besagt dann, was Goethe, der ja selbst auch Politiker war, meint: „Nur ein Hauch sei dein Gedicht.“ Künstler dürfen demnach reden, soviel sie wollen, aber sie sollen ihr Wort mit Bedacht setzen, als Hauch, das heißt mit Geist. Demetrios und Baselitz wollten das nicht beherzigen und provozierten öffentliche Erregung: Sie wurden außerkünstlerisch auch politisch aktiv. 2
Diesen Zweizeiler hat Goethe 1815 dem Abschnitt „Kunst“ in seinen gesammelten Gedichten als Motto vorangestellt: „Bilde, Künstler! Rede nicht! / Nur ein Hauch sei dein Gedicht.“. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Band 9. Epoche der Wahlverwandtschaften 1807–1814, hg. von Christoph Siegrist u. a., München 1987, S. 95.
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Haben sich die Künstler der Gruppe SPUR an Goethes Rat gehalten, als sie 1958 ihr erstes Manifest veröffentlichten? Die SPUR-Mitglieder waren 1958, im Jahr ihres Gruppenzusammenschlusses, Absolventen der Münchner Kunstakademie im Alter von Mitte 20 und befanden sich damit in einer intern biografisch wie extern politisch krisenhaften Situation. Künstlerisch sahen sie sich vor der Schwierigkeit, einen eigenen Weg zu finden. Die großen Schlachten der Moderne und der Abstraktion schienen geschlagen und entschieden. Rückblickend auf diese Generation lässt sich bestätigen, dass es nur wenigen der um 1935 Geborenen gelang, sich in Westdeutschland eine authentische Position von kunstgeschichtlichem Rang zu erarbeiten. Die Kernmitglieder der SPUR waren die Maler Heimrad Prem (1934– 1978), Helmut Sturm (1932–2008), Hans Peter Zimmer (1936–1992) und der Bildhauer Lothar Fischer (1933–2004); hinzu kam kurzzeitig der politisierende Dieter Kunzelmann (geb. 1939). Ihr Unbehagen äußerte sich zunächst ungerichtet als Verneinung. Mit einem Bein standen sie in überkommenen Vorstellungen vom Künstlerberuf als Bohème. Sie kokettierten mit der Sendung des Geniekünstlers in seiner Sonderrolle als Außenseiter der Gesellschaft. Anderseits erkannten sie die Wirkungen eines sich zunehmend professionalisierenden Kunstbetriebes, als dessen Geächtete sie sich nun wirklich fühlten. Die zeitgemäßen Fragen von wirtschaftlichem Erfolg am Kunstmarkt, medialer Präsenz, Eigenwerbung, institutionellem Interesse, Form und Stil als Markenzeichen, Kooperativen zwischen Produzent und Vermarkter lagen nicht im Visier ihrer Karriereplanung – und lagen auch außerhalb ihrer persönlichen Reichweite. Mit diesen außerkünstlerischen Bewährungskriterien innerhalb eines zu jener Zeit aufkommenden Funktionssystems kontrastierten ihre eigenen existentiellen und materiellen Sorgen. Zunächst suchten sie in der Gruppenbildung Auswege aus ihrer doppelt bedrückenden Lage; für jeden allein ließ diese sich weder psychisch noch gestalterisch durchstehen. Ihr naheliegendes Vorbild war die Künstlervereinigung Der Blaue Reiter – das drängte sich in München auf. Nach ihrem Muster wollten sie erstens ihr programmatisches Defizit durch eine vereinigte konzeptionelle Anstrengung beheben und zweitens ihre noch undeutlichen Einzelprofile unter einem Markendach gemeinschaftlicher Aus-
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Abb. 1
Gruppe SPUR: Manifest, November 1958. Als Flugblatt publiziert und öffentlich verteilt. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
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drucksformen zu besserer Wirkung entfalten. Wie beim Vorbild sollte eine schriftliche Selbstdarstellung diese Initiative öffentlich bekannt machen. Anders als bei Franz Marc und bei Wassily Kandinsky herrschten bei SPUR zu dieser Zeit jedoch noch keine, seien es noch so latente, positiven Zielvorstellungen; die gemeinsame Position bestand vielmehr prinzipiell im Widerspruch zum Bestehenden, im Protest. Es waren also primär persönliche wie künstlerische Verzagtheit und Auflehnung, die sich im Entschluss zur Wendung an die Öffentlichkeit Bahn brachen. Die Entstehung des ersten Manifests muss man sich modellhaft wohl so vorstellen, dass die Gruppe am Schwabinger Wirtshaustisch aus ungeordneten spontanen Zurufen Sätze sammelte und formulierte, die als Statements zusammenhanglos hintereinander notiert wurden (Abb. 1). Als Sammlung von Einzelthesen bilden sie Facetten persönlicher, kunsttheoretischer, kunstpolitischer, auch ökonomischer Zustandsbeschreibungen und Zukunftsforderungen. Dabei bleibt offen, an wen sich diese Forderungen überhaupt richten. So erklärt sich die Feststellung, dass das Manifest zwar literarisch und inhaltlich wirr erscheint – dass aber gerade aus dieser wirren Verfassung die klare Diagnose des biografischen und historischen Zustands seiner Autoren ablesbar wird. Das mit Manifest überschriebene Blatt ist undatiert; wir wissen jedoch, dass es im November 1958 als Flugblatt in kleiner Auflage erschien und in Schwabinger Lokalen, aber auch in Galerien und Museen Münchens verteilt wurde und auslag. Das Lenbachhaus besitzt alle von der SPUR publizierten Manifeste, Flugblätter und Zeitschriften – unser Haus war also schon damals auf diese Gruppe aufmerksam und hielt deren schriftliche Äußerungen für bewahrenswert. Das erste Manifest trägt die Unterschriften von Heimrad Prem, HP Zimmer, Erwin Eisch, Helmut Sturm, Lothar Fischer, Asger Jorn, Dieter Rempt, G. Britt, Gretel Stadler. Der Gruppenname SPUR erscheint hier erstmals öffentlich, jedoch verschwindend klein gedruckt an letzter Stelle. Anders als die Künstlergruppe Blauer Reiter, der mehrere künstlerisch bedeutende Frauen angehörten, war SPUR ihrer Wesensart nach eher männerbündisch verfasst. Gretel Stadler war ihr nur in diesem einen Fall namentlich attachiert; seit 1960 ging sie mit ihrem Ehemann Erwin Eisch eigene Wege. Von der sonst undokumentierten
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G. Britt kennt heute niemand aus dem Umkreis der SPUR auch nur noch den Vornamen.3 Welche Kernthesen enthalten die 21 nummerierten Einzelaussagen? Zuerst der hier herangezogene Kunstbegriff. Positiv wird er mit Freiheit und Individualismus konnotiert (§§ 2 und 4). Als Entstehungsgrund von Kunst sind demzufolge genannt: Instinkt (§ 7), schöpferische Urkraft, individuelle Potenz, wilde Ungebundenheit, aus Urschlamm und geistigen Misthaufen drängender Äußerungswille, Unendlichkeit, Geist. Dann die Katachrese in § 20: „Wir sind ein Meer von Wellen“. Negativ der Kunst abgesprochen wird die Beziehung zu Objektivität und Wahrheit, Ehrlichkeit und Idealismus, Fortschritt (§ 13). Der Kunst stehen als ihre größten Widersacher mit dem Differenzkriterium der Rationalität Wissenschaft und Technik gegenüber. Die Abstraktion und der Konstruktivismus werden als leere Ästhetizismen abgelehnt (§ 15), ohne jedoch eine eigene Position dagegen zu stellen, außer die provokativ anmaßenden affirmativen Behauptungen in §§ 18 und 21: „Wir können nichts dafür, dass wir gut malen“ und „Wir sind die Maler der Zukunft!“. Aus all dem spricht ein zivilisationskritischer, geradezu esoterischer Universalismus. Der Text erweist sich unberührt von den zeitgleichen aktuellen Strömungen des französischen Existentialismus und Strukturalismus, die die intellektuellen Altersgenossen andernorts bewegten. Ein versteckter Punkt beklagt schließlich nicht ohne Larmoyanz die eigene ökonomische Verlassenheit im materiellen Diesseits (§ 6). Er blickt mit unverhüllter Missgunst auf verachtete sogenannte „arrivierte“ Künstlerkollegen. Hier kommt ein interessanter Subtext zum Vorschein: Die in den 1950er Jahren ubiquitär gültige Bildformel von Abstraktion, Informel, Tachismus der „Arrivierten“ wird als „verbindlich“ diskreditiert. Verbindlichkeit steht aber antithetisch zu den akkordierten Leitsternen der SPUR von individueller Freiheit, schöpferischer Subjektivität und ursprünglicher Empfindung. Verbindlichkeit meint dagegen Lenkung und Unterwerfung. SPUR durchschaut und kritisiert damit früher als andere den Stilzwang, der seit der Documenta und dem profes3
Umfragen der Autorin in den Jahren 2015 und 2016 im Umkreis der SPUR ergaben, dass es sich um die damalige Gefährtin eines der Künstlermitglieder handelt.
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Abb. 2
Gruppe SPUR: Ein kultureller Putsch – während Ihr schlaft!, April 1959. Als Flugblatt publiziert und öffentlich verteilt anlässlich der 3. Konferenz der Situationistischen Internationale in München. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
sionalisierten Kunstbetrieb vom Galeristen bis zum Kunstkritiker ausgelöst wurde und der die Malerei zur leeren Bildformel hatte verfallen lassen. Neben den Aussagen zur Kunst enthält das Manifest als zweites Hauptthema gesellschaftspolitische Standpunkte. Stichworte sind Revolution und Putsch (§ 1), Atombombe (§ 3), Kulturzerstörung (§ 5), Absage an Demokratie und Kommunismus, an Wissenschaft, Fortschritt, Technik und Rationalität (§§ 4 und 13). Stattdessen: Eine Diktatur des Geistes und
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schließlich die Rettung der Welt durch uns Künstler sind das Programm (§§ 17 und 21). So ratlos die inhaltliche Substanz den Leser heute macht, so signifikant ist sie doch für die weltanschauliche und kunsttheoretische Hilflosigkeit junger deutscher Akademieabsolventen in der Münchner Abgeschiedenheit am Vorabend der revolutionären 1960er Jahre. Klarer als die eigenen künstlerischen Möglichkeiten erkannten sie den politischen Handlungsbedarf, und sie sahen die Aktionsmotive der nach ihnen kommenden, nur wenig Jüngeren voraus. Als einziges zukunftsweisendes Signal kann in § 20 das Stichwort gelten: „(SITUATIONISMUS)“. Denn hier erscheint zum ersten Mal – in Klammern gesetzt, aber in Majuskeln gedruckt, also so herausgehoben wie zugleich zurückgenommen – der vorsichtige Hinweis auf den Situationismus. Die nächstfolgende Veröffentlichung Ein kultureller Putsch – während Ihr schlaft! stammt vom April 1959 (Abb. 2). Sie steht neuformiert vor dem inzwischen in der Gruppe durchgedrungenen Gedankenbau der Internationalen Situationisten. Deren dritte Konferenz hatte in München stattgefunden mit den SPUR-Mitgliedern als Gastgebern vor Ort. Erstaunlich und schwer zu deuten erscheint das Einladungsflugblatt zu einer Pressekonferenz am 21. April in der Gaststätte Herzogstand, abgefasst in gebrochener Typografie – auf den ersten Blick nicht gerade ein revolutionäres Fortschrittssymbol, aber doch passend zur Diagnose, wie ungefestigt, um nicht zu sagen: unkritisch weltanschauliche Vorstellungen und ihre Signale zu dieser Zeit noch umliefen. Verrat an der Rebellion durch Anbiederung an die Autorität also? Der semantische Widerspruch zwischen dem Signal der Typographie und den rebellischen Inhalten darf nicht unbeachtet bleiben. Die – allerdings unbelegbare – Gegenthese wäre, dass die Gruppe mit der Frakturschrift eine typographische Maskerade wählte, um die bürgerlich-konservative Gesellschaft herauszufordern, womöglich zu ironisieren, deren kulturelle Attitüde den Künstler, wenn er zum Aufrührer wird, in konkreter Situation der (Lebens-)Gefahr überantwortet. Wie kam es zur Verbindung von SPUR und Situationismus? Denn wie schon angedeutet, gab es zwischen den Münchner Studenten und dem zeitgenössischen französischen philosophischen Diskurs im Gegensatz zu anderen intellektuellen Zellen in Westdeutschland keine Berührung. München
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war traditionsbefangen und isoliert. An der Universität lehrte Hans Sedlmayr (1896–1984) den Verlust der Mitte aus verlorenem Christentum4, und Norbert Lieb (1907–1994) prägte an derselben Stelle den Satz „Kultur ist Saat aus Gottes Hand“5; die Pinakothek leitete der 1945 bei der Entnazifizierung als Mitläufer eingeschätzte Generaldirektor Ernst Buchner (1892– 1962), Parteimitglied seit Mai 1933 und Mitglied im Kampfbund für Deutsche Kultur6. An der Akademie lehrten Xaver Fuhr (1898–1973) und Toni Stadler (1888–1982), bei dem Prem studierte. Erich Glette (1896–1980), ein vergessener Meister des routinierten Pinselstrichs, war der akademische Lehrer seiner Meisterschüler Sturm und Zimmer. Unter allen Münchnern sah allein Hans Konrad Röthel (1909–1982), der Leiter des Lenbachhauses, mit wachen Augen auf die junge Generation seiner Zeit, und er hatte auch die SPUR-Künstler dabei fest im Blick, wie unsere Sammlung zeigt. Eine Perspektive über München hinaus in die geistigen und künstlerischen Gegenwartsbewegungen bewiesen nur die Galeristen Otto und Etta Stangl (1915–1990 und 1913–1990) und Otto van de Loo (1924–2015). Otto van de Loo vertrat den dänischen Maler Asger Jorn (1914–1973), der zu dieser Zeit in München lebte. Anlässlich der Eröffnung seiner ersten Einzelausstellung in der Galerie van de Loo 1958 begegnete Jorn den späteren SPUR-Künstlern erstmals persönlich. Auf deren Bilder war er schon zuvor im Schwabinger Kunstzelt aufmerksam geworden, und ihr Gestaltungsansatz hatte ihn berührt. Er entschloss sich daher, die Studenten in ihrer Arbeit zu bestätigen und zu fördern wie auch den Gruppenverband zu festigen. Den öffentlichkeitswirksam wirtschaftlichen Niederschlag und den internen Diskursgewinn von Gruppenzusammenschlüssen hatte er als Gründungsmitglied der Gruppe CoBrA einst selbst erfahren. Gemeinsam mit van de Loo, mit dem Münchner Druckereibesitzer Willi Bleicher und dem Mailänder Großindustriellen Paolo Marinotti 4
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg/Wien 1948.
5
Norbert Lieb: Jörg Seld. Goldschmied und Bürger von Augsburg. Ein Meisterleben im Abend des Mittelalters, München 1947, S. 5. Lieb war Ordinarius für Bayerische Kunstgeschichte an der Universität München.
6
Donald M. McKale: Nazis after Hitler. How Perpetrators of the Holocaust cheated Justice and Truth, Lanham, MD u. a. 2011, S. 235.
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wurde Jorn zum Unterstützer und Finanzier ihrer Aktionen. Die Mäzene übernahmen die Druckkosten der Manifeste sowie der sieben Ausgaben der SPUR-Zeitschrift, die zwischen 1958 und 1961 erschienen. Jorns Interesse an den jungen Künstlern war jedoch auch von eigennützigen Motiven geleitet. Er hatte erkannt, dass der abstrakt-neoexpressionistische Ansatz, dem er selbst nach französischen Vorbildern lange gefolgt war und dem er seine eigentümliche nordische Note gegeben hatte, in eine künstlerische Sackgasse geraten war. Die in der expressiven Ichbezogenheit mitbeschlossene Abweisung von politischen Implikationen widerstand seinen ideologischen Absichten. Als Kommunist und Syndikalist, der er gewesen war und blieb, strebte er danach, gesellschaftliches Engagement und Kunstpraxis zu integrieren. Seine vordem expressionistische Basis ließ sich weltanschaulich nicht befrachten; Jorn musste sich daher einen für politische Inhalte tragfähigen neuen bildnerischen Ansatz erschließen. Hier konnten die wagnisbereiten Münchner SPUR-Künstler umgekehrt ihn fördern. Denn ihrer Generation galt das privatistische Informel des abstrakten Expressionismus als überlebt. Es bezeichnet ihre Orientierung, dass sie auf HAP Grieshaber und auch auf K.R.H. Sonderborg aufmerksam waren – Grieshaber, der das Figürliche einschloss und Künstlertum immer als politische Arbeit verstanden hatte; Sonderborg, der 1958 in Selbstbildnis als erlegter Wolf und mit späteren Bildthemen wie Elektrischer Stuhl oder Maschinengewehr inhaltliche Auseinandersetzungen in seinen informellen Individualkult integrierte. Unter diesen Prämissen wurde die SPUR-Gruppe zusammen mit Gleichaltrigen wie Horst Antes, Dieter Krieg oder Walter Stöhrer zu Pionieren einer „Neuen Figuration“7. Diese sich um 1958 andeutende Wendung über das Figurative zum Inhaltlichen musste Asger Jorn als Ausweg auch für sich selbst faszinieren. Er war es dann, der die ideologischen Defizite der Gruppe erkannte; ohne intellektuelle Basis in anthropologisch definierten Bereichen – seien es Psychologie wie bei Stöhrer oder Ethnologie wie bei Antes – ließ sich kein künstlerischer Entwurf formulieren. Sich auf seine 7
Der Begriff „Neue Figuration“ für die figurale Kunst nach 1945 entstammt dem Buchtitel von Hans Platschek: Neue Figurationen. Aus der Werkstatt der heutigen Malerei, München 1959.
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Pariser Verbindungen besinnend, brachte er seine Schützlinge in Kontakt mit dem französischen Soziologen, Philosophen und Künstler Guy-Ernest Debord (1931–1994). Debord war literarisch als Autor, politisch als Revolutionär profiliert. 1957 hatte er in Paris die Situationistische Internationale (S.I.) mitgegründet – eine linksintellektuell, linksradikal orientierte politische Organisation mit revolutionären Plänen für ganz Europa. Sie wollte die Kunst, die Politik und den individuellen Lebensvollzug zu einer neuen idealen Einheit revolutionieren. Angeleitet von Jorn, fand der jugendlich schweifende utopische Idealismus der SPUR-Mitglieder im Programm der Situationistischen Internationale seinen geistigen Ankergrund. Hier konnten sie ihre dilettantisch gewonnenen Einsichten mit schlüssigen Theorien intellektuell unterlegen. Sie suchten den engeren Kontakt mit Debords Gedanken und Person, was im ersten Manifest nur erst undeutlich durchscheint. Vielmehr orientiert es sich in seiner schwärmerischen Diktion und in seinen reichlich mitgeführten Sprachbildern deutlich an der eher poetischen Stilhaltung des situationistischen Kulturphilosophen Raoul Vaneigem (geb. 1934) als am abstrakten Theoretiker Debord. Schon 1959 jedoch fand die dritte internationale Konferenz der Situationistischen Internationale in München statt, die die Gruppe SPUR anschließend als deutsche Delegation in die Bewegung aufnahm. Ihr Ausschluss dann bereits im Januar 1962 – aufgrund von Differenzen über den Weg zum gemeinsamen Ziel – beendete für SPUR die unmittelbare Zusammenarbeit an gemeinsamen Projekten. Die folgenlose Theorielust der zum Literarischen neigenden Situationisten bewog sie, das Äußerungssystem zu wechseln. Denn zufolge ihrer sich nach 1960 weiterentwickelnden eigenen Vorstellungen musste die Sinnhaftigkeit des neuen Lebensentwurfes statt im Diskurs über Programme und statt durch literarische Kontroversen vielmehr mittels öffentlicher Werke und Taten gestiftet werden. Es ergibt sich mithin der Schluss, dass die Erarbeitung und Publikation der SPUR-Manifeste letztlich die eigene Einsicht herbeiführten, mit ungeeigneten Mitteln zu prozessieren. Die Grundideen der Situationisten waren und blieben jedoch der Angelpunkt ihres künstlerisch-politischen Ansatzes zeit ihres Zusammenhalts als Gruppe zwischen 1958 und 1965.
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Abb. 3
Gruppe SPUR: Januar-Manifest (auch Gaudi-Manifest), Januar 1961. Als Flugblatt publiziert und öffentlich verteilt, sowie anlässlich der Ausstellung Engagierte Kunst im Münchner Kunstverein als Wandbild angebracht. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
1961 verteilte die SPUR-Gruppe das Januar-Manifest, auch Gaudi-Manifest genannt, das in Zusammenhang mit der Ausstellung Engagierte Kunst im Münchener Kunstverein stand (Abb. 3). Dieses Manifest erschien noch in der Hochphase ihrer Situationisten-Mitgliedschaft, und es liegt nahe, den Begriff der „Gaudi“, der in jedem seiner Paragraphen programmatisch vorkommt, in Abhängigkeit von Debords Schlüsselvorstellung des „Spektakels“ zu sehen. Der Grundbegriff des „Spectacle“ war im Diskurs der Situationisten stets
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zentral, auch wenn Debord sein Buch Société du Spectacle (auf deutsch als Die Gesellschaft des Spektakels) erst später, nämlich 1967, publizierte.8 Darin denunziert er die Scheinhaftigkeit des gesamten sozialen, kulturellen und individuellen modernen Lebensvollzuges als einen Täuschungsvorgang mit zugewiesenen oder eingenommenen Rollen, hinter deren Masken Persönlichkeit und Selbstbestimmung verschwinden. 8
Guy Debord: La Société du spectacle, Paris 1967; deutsche Erstausgabe: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978.
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Was übertragen die Spuristen aus Debords geistigem Reservoir in die deutsche Kunstlandschaft? Bei Debord steht der Begriff des „Spectacle“ für das Resultat seiner Wirklichkeitsdiagnose. Er kritisiert damit die Uneigentlichkeit des privaten und sozialen Lebens unter gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnissen und unter der Herrschaft schrankenloser Rationalität. Die Entfremdung von der existentiellen Substanz des Individuums erlaubt nur noch eine Wirklichkeit aus zweiter Hand und nach vorgegebenen Mustern. Aus dem Verlust lebendiger Unmittelbarkeit folgt, dass Menschen lediglich Larven in einem gefälschten Theaterspiel sind. An dieser Stelle sehen die SPUR-Mitglieder ihre Aufgabe als Künstler gekommen. Sie wollen es nicht bei der Diagnose von Debord belassen, sondern die negative Kritik zur positiven Aktion weiterführen. Nicht vom Literarischen, sondern vom Ursprung her wollten sie zur Kunst kommen. Das Gaudi-Manifest fordert vom Künstler als dem Musterfall des Individuellen schlechthin, die Verantwortung für die Weltveränderung und ihre Neuschöpfung durch Taten zu übernehmen. Nur der Künstler als Originalgenie kann der Gesellschaft den kreativen Impuls übermitteln (§§ 6, 10): „Die ganze Welt ist der Bereich, in dem sich der schöpferische Impuls, der allein der Gaudi vorbehalten ist, entfalten kann“. Oder: „Schöpferisch sein heißt: Durch dauernde Neuschöpfung mit allen Dingen seine Gaudi zu treiben.“ Und auf einmal stimmen auch ihre Begriffe: im abzulehnenden Sinne in § 9 das „l’art pour l’art“ – gleichgesetzt mit Besitzgier, Sexismus, Materialismus, Rationalismus, sowie in § 8 der „Fasching“ als Inbegriff organisierter Unkultur. Umgekehrt in positiver Wendung: „homo ludens und homo gaudens“ als revolutionäre Ansätze (§ 11), um Erlebensunmittelbarkeit zurückzuerlangen. Was also meint hier der kognitiv schwierig zu begreifende Ausdruck der „Gaudi“, der durch seine Anstößigkeit erst Aufmerksamkeit und Neugier auslöst? Ganz vordergründig zielt er wohl auf ein authentisches positives Lebensgefühl, das es zurückzugewinnen gilt. Im tieferen Sinne bezieht er sich auf die Forderung nach einer Ästhetisierung der Welt und des Lebensvollzugs durch die tätliche Befreiung von Organisation, Regulierung, Bürokratie, Recht, Anwendungszwängen, Ideologien. Und gerade hier, wo SPUR die abstrakte Idee in die Forderung nach politischem Handeln umschlagen lässt, trennten sich die Wege der Deutschen von den Franzosen, trennten
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Abb. 4
Gruppe SPUR: Avantgarde ist unerwünscht!, Januar 1961. Als Flugblatt publiziert und öffentlich verteilt. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
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sich der Intention nach Vita activa von Vita contemplativa, Wirklichkeit von Vorstellung, Utopie von Dystopie. Ebenfalls im Januar 1961 verteilten die Künstler anlässlich einer Ausstellung im Haus der Kunst entgegen einem Verbot der Veranstalter das Flugblatt Avantgarde ist unerwünscht (Abb. 4). Der darin formulierte Aufruf zum Boykott der herrschenden Systeme löste ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren gegen die Gruppe SPUR aus. Die SPUR-Zeitschriften Nr. 5 und 6 aus demselben Jahr 1961 hatten die Justiz bereits in Stellung gebracht und eine Anklage aktiv eingeleitet mit dem Vorwurf, gotteslästerliches und pornografisches Gedankengut zu verbreiten. Mit Rückendeckung der Situationistischen Internationale hatte man sich jedoch bereits öffentlichkeitswirksame Verteidigungsstrategien zurechtgelegt und den Skandal lauernd erwartet. Die Münchner Staatsanwaltschaft tappte in die provokativ gestellte Falle und verhalf einem neuartigen Konfrontationstyp zur Premiere. Konsequent verwies das gleich nach der Beschlagnahmung verteilte Flugblatt HEUTE vom 9. November 1961 auf die Unterbindung künstlerischer Tätigkeit durch den Nationalsozialismus (Abb. 5). Das 1962 folgende Gerichtsurteil sprach Sturm frei und verurteilte Kunzelmann und Zimmer zu mehreren Monaten Haft auf Bewährung. Letztere nahmen das Urteil nicht an, der Prozess zog sich durch die Instanzen, bis er erst 1975 mit der Ablehnung einer Verfassungsbeschwerde beendet wurde. Aber bereits nach diesem ersten Urteil hielten sich die SPUR-Mitglieder publizistisch zurück. Den Provokationsmut, bis zum Äußersten zu gehen, der 1968er brachten sie noch nicht auf; 1962 siegte schließlich die Angst vor den Apparaten. Ihre Rebellion fand künftig nur mehr auf der Leinwand statt. Die Aktionen der SPUR und der Gerichtsprozess werfen ein scharfes Licht auf die Zeit. Sie war reif für Veränderung; man wollte eine bewegungslos gewordene Ruhe stören, ohne zugleich über ein klares Zukunftsbild zu verfügen, was in der Tatsache durchscheint, dass vieles in Unernst vor sich ging und man lediglich mit Humor und frechem Witz die Verhältnisse angriff. Tatsächlich waren diese so versteinert, dass mit Gerichtsprozessen auf leichtsinnige ästhetische Aktionen reagiert wurde. Der SPUR-Prozess war eine erste bewusst provozierte Konfliktentfachung mit Politik und Justiz; angesichts der ausgelösten Konsequenzen durch die Staatsautoritäten
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Abb. 5
Gruppe SPUR: Flugblatt HEUTE [...], 9. November 1961. Als Flugblatt publiziert und öffentlich verteilt aus Protest gegen die Beschlagnahmung der SPUR-Zeitschriften durch das Sittendezernat München. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
jedoch gerieten die handelnden Personen in Angst und Schrecken, was die Gruppenbindung schließlich zermürbte. Im Gegensatz zu diesem Zentralereignis waren alle vorherigen Aktionen zwar inhaltlich und stilistisch provokant, aber doch nur an einen imaginären inneren Zirkel der Kunstöffentlichkeit gerichtet gewesen, die sie beunruhigen und aus der Reserve ihrer geistigen Stagnation locken sollten. Der jetzt angelegte Maßstab und seine Konsequenzen in der politischen Wirklichkeit überraschte und überforder-
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te die Moral der SPUR – die Gruppe verließ ihre exzentrische Bahn und einzeln kehrten ihre Mitglieder zurück in die Sicherheit der Ateliers. Dies belegen frühe Notizen von HP Zimmer in einem Brief an seine Eltern vom 13.2.1959: „Liebe Eltern, ich habe mir die ganze Sache nocheinmal gründlich überlegt und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß der letzten Karte, die ich Euch schrieb, doch etwas wesentliches gefehlt hat: Ich weiß nicht mehr, was genau drinstand, aber jedenfalls hatte ich vergessen, Euch zu versprechen, daß ich meine provokativen Scherze in Zukunft (wenn überhaupt in Zukunft solche stattfinden) so einrichten werde, daß man mit der Polizei oder den Gerichten nicht in Berührung kommt. Man kann es sich nämlich als Künstler nicht leisten, mit der Polizei, d. h. mit lauter untergeordneten Organen zu streiten, weil man dann vor lauter Schreibereien und kleinlichen persönlichen Streitigkeiten nicht mehr dazu kommt mit den wesentlichen Leuten, die auf der Spitze des Apparates stehen, zu streiten. [...] Das Theater ist oft provokativ, aber nie kriminell, und oft wahr, aber nie toternst. Wenn die Zuschauer durch wahre Reden kurz vor dem Einschlafen sind, werden sie durch provokative Taten wieder aufgeweckt und genauso ist es in der Malerei. Wenn das Material erfasst und langweilig wird, wird es durch etwas Plötzliches, Fremdes, Unerhörtes wieder provoziert, zerstört, verwandelt und dann, nach dem Schreck, wieder höflich und ordentlich behandelt. Die Dadaisten haben diese Methoden zum ersten Mal angewandt: die Leute provoziert, und wenn sie empört waren, sie wieder beruhigt, indem sie sich entschuldigt haben, und wenn sie eingesäuselt waren, sie wieder hintenreingetreten, um sich darauf noch viel höflicher zu entschuldigen. Und so fort, das Publikum war dauernd in Bewegung und sich nie sicher, was nun endgültig sei.“ 9 Was ist heute, ein halbes Jahrhundert nach ihrer aktiven Zeit und nach dem Tod aller vier Kernmitglieder, von der Gruppe SPUR als kunsthistorische Bedeutung ihres künstlerischen Ansatzes und als fortlebendes Interesse an ihren Werken und Vorstellungen geblieben? Erstmals wurde von SPUR eine spontane Situation provoziert, bei der das zufällig präsente Publikum als Konstitutiv an der Werkentstehung beteiligt und damit die 9
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HP Zimmers noch unpublizierte Briefe befinden sich im SPUR-Archiv, Berlin.
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Öffentlichkeit zur integralen künstlerischen Kategorie wird. Der mit dem romantischen Kunstbegriff verbundene, ins Museum strebende ewige Wahrheitsanspruch dankte ab zugunsten eines ort- und zeitgebundenen Hier und Jetzt. Damit wurde Kunstpraxis in einem frühen Beispiel zu einer partizipativen Erfahrung zwischen Künstler und Publikum, aus einer axiomatischen These zu einem Präsenzmedium, wie es gegenwärtig in Geltung ist. Die Kunst der SPUR – abgesehen von den im Atelier entstandenen Gemälden und Skulpturen, die sie aber betrachtete als ihren integralen Beitrag zu einer neuen Gesellschaftsform – bestand darin, Konstellationen zu schaffen, die derart das Potential zu Empörung und Anarchie haben, dass sie Aufruhr auszulösen vermögen. Die Verteilung von Schriften an ein Publikum auch außerhalb der bildungsbürgerlichen Orte von Museen und Galerien, vielmehr in Kneipen, auf der Straße, aber auch im Theater und im öffentlichen Ausstellungszusammenhang, bildete ein ereignishaftes Novum für die Münchner Gesellschaft. Das gemeinschaftliche Arbeiten der Gruppe war motiviert durch den Willen und mit dem Ziel nach gesellschaftlicher Veränderung; dieser mit dissidenten Lebensformen verbundene kommunitarische Gedanke war hier im Kern präsent, zehn Jahre bevor er im Gesellschaftsprozess Deutschlands und Europas zu politischer und sozialer Wirklichkeit wurde.
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GESTE STATT GEHALT. DIE PANDÄMONISCHEN MANIFESTE VON EUGEN SCHÖNEBECK UND GEORG BASELITZ
In den 1950er Jahren verließen die beiden gebürtigen Sachsen Georg Baselitz (*1938) und Eugen Schönebeck (*1936) Ostdeutschland, wo sie ihre künstlerische Ausbildung begonnen hatten, um ihr Studium an der Hochschule für Bildende Künste in West-Berlin fortzusetzen. Hier begegneten sie sich 1957 zum ersten Mal. Die Kommilitonen wurden nicht nur durch biografische Parallelen, sondern auch durch ähnliche künstlerische Interessen verbunden. Alsbald entstand eine enge Freundschaft und künstlerische Zusammenarbeit, in deren Folge sich Baselitz und Schönebeck – bis zu ihren Abschlüssen in den Jahren 1963 und 1961 – weitgehend vom Hochschulbetrieb zurückzogen. Schönebeck bilanzierte deshalb später: „Eigentlich sind wir Autodidakten.“1 Anlässlich ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung, die vom 10. bis zum 30. November 1961 in einem zum Abriss freigegebenen Wohnhaus in Berlin-Wilmersdorf ausgerichtet wurde, traten Baselitz und Schönebeck mit einem Manifest in Erscheinung, das retrospektiv als Erstes Pandämoni1
Eugen Schönebeck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 18.6.2014.
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Abb. 1
Georg Baselitz und Eugen Schönebeck: Erstes Pandämonisches Manifest [1. Version], 1961, Offsetdruck auf Papier, 124 × 100,2 cm, Georg Baselitz
sches Manifest (Abb. 1) bezeichnet wird. Der Name wurde dem zweiten Manifest beider Künstler entlehnt, das im Folgejahr – ebenfalls anlässlich einer gemeinsamen, letztlich jedoch nicht realisierten Ausstellung – konzipiert wurde. In den Überschriften ihrer dortigen Textbeiträge riefen beide Künstler das Pandämonium aus, mit dem sie das Gegenteil des Pantheons
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Georg Baselitz und Eugen Schönebeck: Zweites Pandämonisches Manifest, 1962,
Abb. 2
Offsetdruck auf Papier, 90,3 × 128,7 cm, Georg Baselitz
beschworen: die Gesamtheit aller Dämonen oder deren Aufenthaltsort. Dieses ursprüngliche Pandämonium gilt mittlerweile als Zweites Pandämonisches Manifest (Abb. 2). Es markiert zugleich das Ende der künstlerischen wie freundschaftlichen Verbindung beider Künstler. Georg Baselitz und Eugen Schönebeck hatten eigentlich nicht das Ziel gehabt, Manifeste zu verfassen, wie Baselitz später erläuterte: „Wir befanden uns – in der Stadt und auch innerhalb des Kunstbetriebes – in einer totalen Isolation und hatten deswegen immer den Wunsch, eine Gruppe zu bilden, oder uns mit Leuten zusammenzutun, von denen wir meinten, sie hätten eine gleiche oder ähnliche Haltung wie wir, vielleicht nur in Form von Protest.“2 Doch das Vorhaben scheiterte: „da sich niemand uns anschloss, mussten wir anders auf uns aufmerksam machen. Also schrieben wir 1961 das ‚1. Pandämonische Manifest‘ und dann ein halbes Jahr später unser ‚2. Pandämoni2
Georg Baselitz, zit. n.: Johannes Gachnang: Ein Gespräch mit Georg Baselitz, in: Georg Baselitz. Tekeningen / Zeichnungen, Ausst.-Kat. Groninger Museum, Groningen 1979, S. 3–16, hier S. 3.
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sches Manifest‘.“3 Die Manifeste entstanden also nicht allein mit dem Ziel einer künstlerischen und gesellschaftlichen Abgrenzung, sondern auch als Resultat einer ebensolchen Ausgrenzung. In dieser Situation bot sich ein Manifest in besonderer Weise an, erlaubte diese Methode doch den Anschluss an zahlreiche Künstlergruppen des frühen 20. Jahrhunderts, die sich auf der Grundlage von Manifesten formiert oder sich hiermit artikuliert hatten. Von besonderem Interesse für Baselitz und Schönebeck war hierbei der Surrealismus, wie Eckhart Gillen gezeigt hat.4 Indem sich Baselitz und Schönebeck in die Tradition der avantgardistischen Manifeste des 20. Jahrhunderts stellten, konnte die bisherige Ablehnung ihrer Kunst oder die Erfolglosigkeit ihres Versuches, eine Gruppe zu begründen, gar zum Beweis ihrer künstlerischen Fortschrittlichkeit verkehrt werden. Um sich größtmögliches Gehör zu verschaffen und im Vergleich mit anderen Manifesten bestehen zu können, bemühten sich Baselitz und Schönebeck erneut, mindestens einen weiteren Mitstreiter von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Zunächst versuchten Baselitz und Schönebeck, den Kommilitonen Antonius Höckelmann von ihrer Idee zu begeistern. Doch der lehnte mit der Begründung ab, das Vorhaben sei „zu faschistisch“5: „Höckelmann meinte, wir wären einfach zu laut, zu autoritär, ihm war das Ganze ein bisschen zu gefährlich.“6 Anschließend wandten sich Baselitz und Schönebeck an eine Randfigur des Kunstbetriebs. Sie nahmen Kontakt zu dem Zeichner Friedrich Schröder-Sonnenstern auf, der mittlerweile zu den bekanntesten deutschen Vertretern der Art Brut zählt. Seine widersprüchliche Rezeption und sein „antiakademisches Gebaren“7 machten ihn zu einem „Wunschkandidaten“8 3
Georg Baselitz: Als Georg Baselitz seine Weltkarriere startete, in: Die Welt online, 4.2.2012, www.welt.de/kultur/article13841235 [Abruf: 25.5.2016].
4
Vgl. Eckhart Gillen: Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945–1990, Berlin 2009, S. 311–313.
5
Baselitz, zit. n.: Gachnang 1979 (wie Anm. 2), S. 3.
6
Baselitz, zit. n.: ebd., S. 3 f.
7
Pamela Kort: Friedrich Schröder-Sonnenstern: Vom barfüßigen Propheten zum Avantgarde-Künstler, in: Friedrich Schröder-Sonnenstern, Ausst.-Kat. Michael Werner, New York, New York 2011, o. S.
8
Pamela Kort: Identität und Engagement in der Malerei Eugen Schönebecks, in: Eugen Schönebeck 1957–1967, hg. v. ders. und Max Hollein, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, München 2011, S. 97–136, hier S. 118.
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von Baselitz und Schönebeck. Im Herbst 1961 versuchten sie, den Außenseiter für ihr Vorhaben zu gewinnen.9 Doch der „Einzelgänger par excellence wollte mit niemandem kollaborieren“.10 So mussten Baselitz und Schönebeck schlussendlich auf den gewünschten dritten Mitstreiter verzichten, mit dem ihr Manifest ebenso viele Unterzeichner gehabt hätte wie das Pintorarium (Abb. 3), das ihnen als Vorbild diente. Im September 1959 hatten die österreichischen Künstler Ernst Fuchs (1930–2015), Friedensreich Hundertwasser (1928–2000) und Arnulf Rainer (*1929) die Künstlergruppe Pintorarium begründet und als Verein eintragen lassen.11 Hierzu erschien das gleichnamige Manifest, auf dem jeder Künstler einen eigenen Abschnitt textlich und bildlich gestaltete. Auf diese Weise wurden die Bildung und Zielsetzung dieser „Anti-Akademie“12 verkündet, deren Lehre nicht allein auf künstlerische Bereiche beschränkt sein sollte. Vielmehr ging es um eine grundlegend neue Denk- und Lebensweise in Abgrenzung von gesellschaftlichen Konventionen. In dem Textbeitrag Hundertwassers heißt es: „Wir fordern die österreichische Bevölkerung auf, ab sofort der Automatisierung, Sterilisierung und Uniformierung mit passivem Widerstand zu begegnen. Kauft keinen Teller, keinen Gebrauchsgegenstand mehr, von dem Ihr wisst oder annimmt [sic!], daß er in Serie erzeugt worden ist. […] Haltet Euch von jeglichen Organisationen, Gemeinschaften und Gruppen fern, denen anzugehören Euch Gewerkschaften, Militär, Schule, Religionen, Philosophien und Parteien nötigen wollen. Laßt Euch nicht erfassen. Seid keine Nachfolger.“13 Unter der Wortschöpfung Pintorarium, die vom italienischen Begriff „pittura“ abgeleitet wurde und jede auf die Malerei zurückgehende, 9
Vgl. Kort 2011 (wie Anm. 7), o. S.
10 Ebd. 11
Vgl. Gerhard Habarta: Ernst Fuchs. Das Einhorn zwischen den Brüsten der Sphinx. Eine Biographie, Graz/Köln/Wien 2001, S. 109.
12
Astrid Becker: Das Pintorarium, in: Friedensreich Hundertwasser. Gegen den Strich. Werke 1949–1970, hg. v. ders. und Christoph Grunenberg, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, Ostfildern 2012, S. 145 f., hier S. 145.
13
[Friedensreich] Hundertwasser, in: ders., Ernst Fuchs und Arnulf Rainer (Hg.): Pintorarium, Wien 1959, o. S.
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141
Ernst Fuchs, Friedensreich Hundertwasser und Arnulf Rainer: Pintorarium, 1959,
Abb. 3
Offsetdruck und Aquarell auf Papier, 42,4 × 116,8 cm, Hundertwasser Archiv, Wien
schöpferische Tätigkeit bezeichnen sollte, wurde also unter anderem eine stärkere Selbstbehauptung des Subjektes in Abwendung von Interessens-, Glaubens- oder Parteiverbänden, Bildungseinrichtungen sowie den aktuellen Produktions- und Konsumgewohnheiten angestrebt. Arnulf Rainer fasst diese Ziele in seinem Textbeitrag pointiert als „Distanzierung von der allgemeinen Geschäftigkeit und Konformierung“14 zusammen. In Bezug auf die Kunst war damit die Abkehr von der klassischen Kunstausbildung verbunden, wie Rainer ebenfalls prominent herausstellt: „Das Pintorarium ist ein Creatorium zur Einäscherung der Akademie“.15 Diese Haltung war im Falle von Rainer und Hundertwasser wohl auch biografisch begründet. Beide hatten die Kunstakademie bereits nach kurzer Zeit wieder verlassen. Nun forderten sie die junge Generation auf, es ihnen gleich zu tun: „Um das 14
Arnulf Rainer, in: ebd.
15
Ebd.
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Zentrum unserer heutigen Kultur, die Malerei, vor der Kastrierung in den Akademien zu retten, ist es notwendig, die Jugend mit einer Imagination zu verseuchen, mit der Vorstellung eines Zentrums, eines Nestes, einer Höhle, in der das creative Leben genügend Licht und Luft hat zu gedeihen. Diese Imagination wird ihr den Mut geben unsere Kunstschulen zu boykotieren [sic!] und zu verlassen, denn jede Form des Schulemachens hat sich heute aufgehört.“16 Der Beitrag von Ernst Fuchs fällt in doppelter Hinsicht aus der Reihe der Texte. Im Gegensatz zu den hauptsächlich typografisch gestalteten Texten seiner Künstlerfreunde brachte Fuchs seinen Text mit der Hand zu Papier. Nicht nur dadurch wird die Lektüre seines Beitrages erschwert. Auch inhaltlich ist der mit religiöser Rhetorik aufwartende Text nicht 16
Ebd.
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leicht zugänglich. Er „ist hermeneutischer, mehr auf die Sprache und Gedanken von Geheimlehre, Alchimie, Magie eingehend“17, wie Gerhard Habarta attestierte. Abgesehen von diesen mystischen Beschwörungen wurde mit dem Pintorarium ein ganzer Katalog konkreter Forderungen unterbreitet, mit denen sich die Künstler von der Wiener Gesellschaft abgrenzten und ein provokativ-nonkonformistisches, utopisches Reformmodell offerierten. Um den künstlerischen wie gesellschaftlichen „Protest von der Behaglichkeit der Ausstellungsräume in die Kälte der Straße“18 zu übertragen, veröffentlichten die Wiener ihre Postulate in Form eines querformatigen Plakat-Manifestes. Mit Rotaprint-Kleinoffsetmaschinen vervielfältigten sie das Manifest, das aus zwei zusammengeklebten Bogen im A2-Format besteht. Im September 1959 wurde das Manifest in der Wiener Stadtbahn verteilt und an Plakatwänden ausgehängt. Dies geschah nicht etwa heimlich, sondern im Rahmen eines Happenings: „Nach der Affichierung der Plakate ließen“ sich die Künstler „auf Sesseln durch die Straßen der Wiener Innenstadt tragen und landeten als Schlussapotheose im Tanzlokal ‚Adebar‘ zur finalen Demonstration.“19 Auch darüber hinaus fand das Manifest Verbreitung: Exemplare wurden an zahlreiche Zeitungsredaktionen versandt, die kritisch berichteten. Zwei Exemplare sollten auch nach Berlin gelangen und Georg Baselitz und Eugen Schönebeck unabhängig voneinander in die Hände fallen. Schönebeck kam nach eigener Erinnerung über einen Kommilitonen mit dem Pintorarium in Berührung.20 Baselitz begegnete dem Manifest der Wiener Künstler vermutlich in der Buchhandlung von Camilla Späte.21 Die Begegnung sollte nicht ohne Folgen bleiben. Die Berliner Künstler übernahmen die Idee, ihre künstlerische Maxime in Form eines Plakates zu formulieren und mit diesem erstmalig auf sich und ihre erste Ausstellung aufmerksam zu machen.22 Und auch sprachlich ließen sie sich inspirieren, wie Eckhart 17
Habarta 2001 (wie Anm. 11), S. 111.
18 Ebd., S. 109. 19
Ebd.
20 Vgl. Kort 2011 (wie Anm. 8), S. 117. 21
144
Vgl. ebd.
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Gillen herausgearbeitet hat: „Der im Zusammenhang mit dem ‚Pintorarium‘ von den Wiener Malern geprägte Neologismus ‚Creatorium‘ taucht mehrfach in den beiden Manifesten von Baselitz und Schönebeck auf.“23 Der Begriff Pandämonium, der letztlich zum Titel beider Manifeste avancierte, weist eine strukturelle und rhythmische Verwandtschaft zu dieser und anderen sprachlichen Neuschöpfungen auf. Zugleich eröffnet er eine kunsthistorische Dimension, wie Gregor Jansen mit Blick auf das Pandämonium (1915/16) von George Grosz24 zeigte. Das Blatt präsentiert ein breites Spektrum großstädtischer Abgründe. Jansen zufolge stellte Grosz hiermit den Ausbruch des Ersten Weltkriegs „als Sinnbild einer aus den Fugen geratenen (‚Verkehrten‘) Welt in einem thematischen Zusammenhang mit dem Verfall des großstädtischen Lebens“25 dar. Unter demselben Titel prangerten Georg Baselitz und Eugen Schönebeck rund 60 Jahre später den angeblichen künstlerischen Verfall ihrer Zeit an. Zunächst entstand das hochformatige Erste Pandämonische Manifest. Es lässt sich kompositorisch in zwei horizontale Bereiche gliedern. Vier handschriftliche, vertikale Textspalten erstrecken sich über die obere Hälfte des Manifests, das – ebenfalls in erkennbarer Bezugnahme auf das Pintorarium – mit den Namen beider Künstler überschrieben ist. Über diesen finden sich die Angaben zur Ausstellung am Fasanenplatz in Berlin-Wilmersdorf. Einige Unterstreichungen und Markierungen durchziehen den darunter befindlichen Textblock, der eine figürliche Tuschzeichnung von Georg Baselitz umschließt und zum rechten Rand von einem Tuschgespinst Eugen Schönebecks flankiert wird. Die untere Hälfte des Blattes wird ebenfalls von Tuschfäden Schönebecks eingenommen, die 22 Derartige Anleihen widersprechen indes dem Konzept des Pintorariums, wie aus dem Textbeitrag Hundertwassers hervorgeht: „Grundsatz des Pintorariums ist die individuelle Autonomie. Nacheiferungen sind untersagt. Vorbilder gibt es nicht. Studierende, Lernende und Schülernde finden im Pintorarium weder Halt noch Ansatzpunkt. Ihnen wird kein Strohhalm gereicht.“, Hundertwasser 1959 (wie Anm. 13). 23 Gillen 2009 (wie Anm. 4), S. 310. 24 Vgl. z. B. Christopher Clark: Weimar Politics and George Grosz, in: The Berlin of George Grosz. Drawings, Watercolours and Prints 1912–1930, hg. v. Sophie Lawrence, Ausst.-Kat. Royal Academy of Arts, London, London/New Haven 1997, S. 21–27, hier S. 22, Abb. 18. 25 Gregor Jansen: Eugen Schönebeck. Eine deutsche Legende, Diss. Aachen 1998, S. 162.
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sich übereinanderlegen, verknoten und den Bildraum vom unteren Bildrand geradezu organisch erobern. Mit einer Rotaprintmaschine druckten die Künstler eine einstellige oder niedrige zweistellige Auflage ihres Manifestes als Blaupause auf günstiges, bald vergilbendes Papier.26 Der Abdruck des großformatigen Manifestes gestaltete sich schwierig. Immer wieder verschoben sich die zusammengeklebten Tuschvorlagen während des Druckvorganges, so dass sie wiederholt arrangiert und neu zusammengeklebt werden mussten.27 Deshalb zeigen die Drucke variierende Anordnungsverhältnisse von oberer und unterer Hälfte. In Publikationen und Ausstellungen war dies bislang kaum festzustellen: Hier wurde meist nur der obere Textblock gezeigt. Das Manifest wird von Baselitz’ umfangreichem Textbeitrag eröffnet, der rund zwei Drittel des gesamten Textblockes einnimmt. Baselitz leitet seine Stellungnahme mit einem Zitat von Antonin Artaud ein, dessen Schreibstil und Inhalte dem Text Pate standen. Mit Zitaten und der poetischen Sprachgewalt des französischen Dichters kritisiert Baselitz die Hegemonialmacht der Gegenstandslosigkeit. Insbesondere im Rahmen einer Vergangenheitsbewältigung fordert er, Abstand von kunsthistorischen „Schlußstrichen“28 zu nehmen – also auch von der Stilisierung der Gegenstandslosigkeit zum maximalen Ausdruck künstlerischer Freiheit. Schönebecks kurzer Textbeitrag zum Ersten Pandämonischen Manifest ist mit „Methoden zur Bildung von Sein-Objekten“ überschrieben. Unter diesem Titel findet sich eine eigenwillige Wort- und Zitatanhäufung. Es ist ein Wortgewitter, dessen Inhalt und Zielsetzung nicht leicht zu entschlüsseln sind. Eine Essenz ist jedoch auszumachen. So richtet sich der junge Künstler gegen die „Untergrabung der jungen Moral“ und „Tendenzen, die das Maul aufreißen“, da diese einem allgemeinen wie subjektiven Erkennt26 Die widersprüchlichen Angaben zur Auflagenhöhe basieren auf Gesprächen mit Georg Baselitz und Eugen Schönebeck. Auskunft von Georg Baselitz über seine Mitarbeiter per E-Mail am 6.6.2016; Eugen Schönebeck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 18.12.2015. 27 Auskunft von Georg Baselitz über seine Mitarbeiter per E-Mail am 6. und 8.6.2016. 28 Die Pandämonischen Manifeste werden zitiert nach den Transkriptionen in: Georg Baselitz. Die Aachener Zeichnungen 1958–1976. Das Pandämonische Manifest 1961/1962, hg. v. Wolfgang Becker, Ausst.-Kat. Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen, Aachen 1992, S. 14 f., 21 und 28–32.
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Abb. 4
Georg Baselitz und Eugen Schönebeck: Erstes Pandämonisches Manifest [2. Version], 1961, Offsetdruck auf Papier, 65,4 × 112,6 cm, Georg Baselitz
nisgewinn im Weg stünden. Er spricht sich hingegen für eine „absolute Lauterkeit der Mittel“ aus. Er scheint also eine neue moralische Kunst zu beschwören. Fernab der „Routinegleise“ und des „Wohlbekannten“ könne diese Kunst „unfehlbar den wahren Sinn der Freiheit“ aufzeigen. Unmittelbar nach Veröffentlichung der Ursprungsversion entwarfen die Künstler eine zweite, kleinere Version des Manifestes (Abb. 4). Auf der linken Seite des Querformates prangen die Nachnamen beider Künstler. Darunter ist eine rechteckige Tuschzeichnung von Baselitz angeordnet, die an dessen ersten Bildbeitrag erinnert. Unter den Umrissen der figürlichen Darstellung sind Textfragmente sichtbar. Im Anschluss beginnt ein Fließtext, der auf die rechte Seite hinüberreicht. Hierunter ist eine knäuelartige Tuschzeichnung Eugen Schönebecks platziert. Links daneben klafft ein großer Freiraum. Durch diese nur angedeutete Verwendung des Bildraumes wird der Entwurfsstatus ebenso offenkundig wie durch den Schreibfehler der typografischen Überschrift. Hier heißt es statt Schönebeck: „Sohoenebeck“. Und auch der Textbeitrag lässt erkennen, dass es sich lediglich um einen Entwurf für eine Überarbeitung des Ersten Pandämonischen Manifestes und nicht um eine zweite Version desselben handelt, wie es in bisherigen Publikationen oftmals heißt. Denn über das Blatt zieht sich lediglich eine
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überarbeitete und gekürzte Version des ersten pandämonischen Textes von Baselitz. Der Textbeitrag Schönebecks fehlt. In seinem hiesigen Textbeitrag hat Baselitz seinen Unmut präzisiert: die gegenstandslosen Maler, die er als die „Äußerlichen“ abwertet, hätten nichts anderes als „kunstgeschichtliche Additionen ausgeführt“, „fortwährend von Schlußstrichen gesprochen“ und sich letztlich lediglich mit „artistischen Leistungen“ profiliert. Vielleicht hatten die drucktechnischen Schwierigkeiten bei der großformatigen Ursprungsversion des Ersten Pandämonischen Manifestes zu der Idee einer kleineren Ausführung mit gekürzten Textbeiträgen geführt. Zu einer Weiterentwicklung des Entwurfes kam es nach Angaben Eugen Schönebecks jedenfalls nicht.29 Im Frühjahr 1962 erschien das zweite und eigentliche Pandämonium. Die Bezeichnung ist auf die Überschriften der Textpassagen beider Künstler zurückzuführen. Baselitz überschrieb seinen Text mit „Vorruf zum Pandämonium“, Schönebeck kündigte „Bruchstücke zu einem Pandämonium“ an. Stilistisch ist das Querformat geschlossener als sein Vorgänger: beide Künstler haben das Blatt mit Tuschgespinsten überzogen, in denen – vor allem bei Baselitz – figurative Erscheinungen nisten. Wieder ist links der Textbeitrag von Baselitz, rechts der Beitrag von Schönebeck angeordnet. Die Passagen wurden jedoch nicht mehr mit der Hand, sondern mit der Schreibmaschine zu Papier gebracht. Im Gegensatz zum Ersten Pandämonischen Manifest weisen die Texte beider Künstler nun ungefähr die gleiche Länge auf. Wie sein Vorgänger sollte auch das Zweite Pandämonische Manifest anlässlich einer gemeinsamen Ausstellung erscheinen. Obwohl es nicht zur geplanten Ausstellung kam, wurde das Zweite Pandämonische Manifest dennoch gedruckt. Es soll sogar eine wesentlich größere Verbreitung als das vorangegangene Manifest gefunden haben.30 Der Textbeitrag von Georg Baselitz wird erneut – in potenzierter Anlehnung an Antonin Artaud – von fragmentarischen Passagen bestimmt, 29 Eugen Schönebeck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 18.12.2015. 30 Eugen Schönebeck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 6.5.2016. Die oft oben links angeführten Auflagenzahlen geben hierüber keine verlässliche Auskunft: die Blätter wurden bisweilen willkürlich nummeriert, Auskunft von Georg Baselitz über seine Mitarbeiter per E-Mail am 8.6.2016.
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in denen Aspekte der Körperlichkeit, Sexualität, Kunst, Politik und Gesellschaft thematisiert und gewertet werden. Zumeist handelt es sich dabei um kurze, provokante Auflehnungen gegen westdeutsche Moralvorstellungen und künstlerische Konventionen. Seinen formalen und inhaltlichen Rebellionen hat Georg Baselitz im Einleitungssatz ein Postulat vorangeschickt, das er sicherlich auch auf das eigene Manifest bezog: „Negation ist geniale Gebärde“. Gemäß diesem Credo rechnet der junge Künstler auch mit der eigenen, langwierigen Hochschulausbildung ab, der er eine Orientierung an stilistischen Moden nebst einer oberflächlichen Anbiederung an das Publikum und entsprechende Inhaltslosigkeit vorwirft: „Kein Bild ohne Seidenstrümpfe als Leitfaden, kein Bild ohne diese nutzlose Menge ekstatischer Gesichter in Schachteln. Extrakt 5jähriger Schulung für Professionelle. Wie man mir nichts sagen kann. Ich habe euch gewarnt.“ Im Gegensatz zu der bisweilen schwer verständlichen Zitat- und Wortansammlung im Ersten Pandämonischen Manifest kommt Eugen Schönebecks zweiter pandämonischer Beitrag mit klaren Postulaten daher. Diese kreisen um die Leitmotive Wahrheit, Wirklichkeit und Lauterkeit. Sie leiten sich von Schönebecks beanspruchter Außenseiterposition im Kunstgeschehen ab: „Ich bin Pandämonier, weil meine Kollegen von natürlicher Noblesse sind und das schöne Medium des Pandämonierens meiden.“ Schönebeck präsentiert sich hingegen als Vertreter einer „tragischen Noblesse“, die er als „Keimstätte der Lauterkeit“ bestimmt. Seinen „Kollegen“ wirft er vor, „unehrlich“ und „extrovertiert“ zu sein. Sich selbst attestiert der Maler indes fehlende Beziehungen zu diesen gut vernetzten Künstlerkollegen und verweist auf „die sich daraus ergebenen Unmöglichkeiten“. Pamela Kort stellte kürzlich heraus, dass sich Schönebeck hiermit beispielsweise auf Ernst Wilhelm Nay bezog.31 Letztlich reflektierte Schönebeck mit dieser Aussage auch die eingangs geschilderte künstlerische und kollegiale Isolation, die beide Künstler überhaupt erst dazu veranlasst hatte, die Pandämonischen Manifeste zu verfassen. Ausgehend von seiner Abgrenzung vom künstlerischen wie gesellschaftlichen Mainstream formuliert Schönebeck zwei zentrale Postulate, die of31
Vgl. Pamela Kort: Ernst Wilhelm Nay and the Issue of Content in Abstract Painting, in: dies. und John-Paul Stonard (Hg.): Ernst Wilhelm Nay, London 2012, S. 159–184, hier S. 161.
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fenbar zu mehr „Lauterkeit“ führen sollten. Zuerst fordert der junge Maler: „Keine Kunst, kein gestaltendes Wollen!“ Stattdessen verweist er auf die „Notwendigkeit kopflos zu malen.“ Das zweite zentrale Postulat lautet: „Das Sehenlernen der politischen Symbole als Kunst.“ Es wurde von einem Satz Friedensreich Hundertwassers im Pintorarium abgeleitet, in dem „das Liebenlernen der politischen Symbole als graphisches Zeichnen“32 gefordert wird. Damit begab sich Schönebeck auf gefährliches Terrain. Denn politische Symbole in der beziehungsweise als Kunst wurden damals entweder mit der propagandistischen Kunst des Nationalsozialismus oder des Sozialistischen Realismus assoziiert und waren in der BRD und in West-Berlin entsprechend verpönt. Mit wenigen Sätzen lehnte sich Eugen Schönebeck also gegen die geltenden Konventionen auf, die auch das künstlerische Studium an der Hochschule bestimmten. In dieser Ablehnung der eigenen und allgemeinen akademischen Kunstausbildung besteht die entscheidende inhaltliche Parallele zwischen den Pandämonien und dem Pintorarium. Für die Artikulation dieses Feindbildes griff Schönebeck auch auf eine Formulierung Arnulf Rainers zurück: im Ersten Pandämonischen Manifest fordert er wie Rainer die „Einäscherung der Akademie“. Doch nur selten fallen die pandämonischen Texte so eindeutig wie in den zitierten Passagen aus. Meist schrieben die beiden Künstler zwar wortgewaltig, jedoch weitgehend unspezifisch gegen Ordnung und Obrigkeit an. In „rüder, obszöner Sprache“33 unterbreiten sie durch die Berufung auf zahlreiche bildende Künstler, Schriftsteller und andere Persönlichkeiten ein reichhaltiges Assoziationsangebot. Oft handelt es sich um künstlerische und gesellschaftliche Außenseiter. Die einzelnen Bezugspositionen wurden bereits in verschiedenen Publikationen sorgsam herausgearbeitet.34 Größtenteils handelt es sich um literarische und künstlerische Vertreter des Existenzialismus, Surrealismus und Symbolismus. Den möglichen Be32 Hundertwasser 1959 (wie Anm. 13). 33 Gillen 2009 (wie Anm. 4), S. 309. 34 Vgl. hierzu z. B. Peter Gorsen: Der frühe Georg Baselitz und seine Zeit. Die Bildproduktion im Bann der Pandämonischen Manifeste, in: Georg Baselitz. Gemälde. Schöne und häßliche Porträts, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Prinz-Max-Palais Karlsruhe und Neue Galerie der Stadt Linz, Karlsruhe 1993, S. 27–47; vgl. auch Gillen 2009 (wie Anm. 4), S. 308–317 und Jansen 1998 (wie Anm. 25), S. 155–174.
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deutungsdimensionen dieses Referenznetzwerkes wurde in den bisherigen Publikationen meist ausgiebig nachgegangen. Auch wenn die Nennung von Antonin Artaud, Samuel Beckett, Gottfried Benn, Dado, Fred Deux, Alexander Frenz, Gustave Moreau, Jules Pascin, Michail Wrubel und anderen zu entsprechenden inhaltlichen Aufladungen verlockt, soll dies hier nicht wiederholt werden. Denn sind diese Assoziationslandschaften tatsächlich inhaltlich fundiert und entsprechend ernst zu nehmen? So berichtete Eugen Schönebeck später, die entsprechenden Texte – beispielsweise von Antonin Artaud und Comte de Lautréamont – kaum gelesen zu haben.35 Das Namedropping ist folglich weniger Ausdruck einer umfänglichen philosophisch-künstlerischen Fundierung: Es ist vielmehr eine Methode, um den Text philosophisch, literarisch und kunsthistorisch aufzuladen.36 Daneben versprach diese Methode Belustigung, Aufmerksamkeit und Provokation, wie Schönebeck später erläuterte.37 Das Spiel mit dem „bedeutungsvollen Bedeutungslosen“38 ist also vor allem eine große, pathetische Geste. Es ist ein ebenso mutiger wie unbedachter Rundumschlag gegen die Kulturszene West-Berlins, mit dem Baselitz und Schönebeck zugleich die Hoffnung verbanden, sich in eben dieser Kunstwelt zu behaupten. Gegenüber Wolfgang Max Faust erklärte Schönebeck: „Wir wollten uns profilieren. Denn wir waren unbeachtete Außenseiter.“39 Baselitz und Schönebeck bekundeten später entsprechend übereinstimmend, dass es sich bei ihren Manifesten nicht um einen intellektuellen, sondern einen „pubertären“ Protest gehandelt habe.40 Schönebeck beschreibt die Texte heute als „Mischung von Gag und Ernst“.41 Baselitz erklärte in den 1980er Jahren im Gespräch mit Heinz-Peter Schwerfel: „das ‚Erste Pandä35 Eugen Schönebeck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 18.12.2015. 36 Dies gilt nicht allein für die genannten Bezugspositionen, sondern auch für die verwendeten Begriffe: so erklärte Schönebeck z. B., dass ihm damals die Bedeutung des Wortes „Pandämonium“ nicht umfänglich bewusst gewesen sei. Eugen Schönebeck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 18.12.2015. 37 Ebd. 38 Jansen 1998 (wie Anm. 25), S. 156. 39 Eugen Schönebeck, zit. n.: Wolfgang Max Faust: Die exemplarische Biographie des Eugen Schönebeck, in: Wolkenkratzer Art Journal, 1987, H. 2, S. 66–73, hier S. 66. 40 Vgl. Jansen 1998 (wie Anm. 25), S. 155. 41
Eugen Schönebeck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 18.12.2015.
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monium‘ […] ist ja eigentlich nichts anderes als Wut und inhaltlich ziemlich unausgegoren. Allerdings verleiht es zumindest einer Haltung Ausdruck, die unkonventionell war und rücksichtslos. In der selbstgewählten Position des Außenseiters konnte ich mir eben alles leisten.“42 In dieser Situation erfolgte eine Identitätskonstruktion ex negativo und weniger durch eigene Inhalte. Die Konturen dieser Identität bleiben folglich stets unscharf. Ein künstlerisches, gesellschaftliches oder politisches Reformmodell, wie es beispielsweise das Pintorarium artikuliert, findet sich in den Pandämonischen Manifesten nicht. Später erklärte Eugen Schönebeck, dass ihn derartige „Spießerprobleme“43 auch gar nicht interessiert hätten. Es sei schließlich nicht sein Ziel gewesen, eine „Anleitung zum Leben“44 zu offerieren. Um allzu konkrete Forderungen ging es Baselitz und Schönebeck also nicht. Dies offenbart auch ihr Schreibstil. Anstatt darauf zu setzen, ihre Ansichten lesergerecht zu artikulieren, provozierten die jungen Künstler bewusst ein allgemeines Unverständnis. Einerseits verwendeten sie eine ebenso verstörende wie unverständliche Sprache. Zahlreiche alogische Momente sind dem Textverständnis ebenfalls nicht zuträglich. Andererseits verweisen Baselitz und Schönebeck in ihren Beiträgen auf unbekannte Außenseiter sowie nicht auszumachende Vorbilder, die sie auch gerne in Form nichtssagender Abbreviaturen anführten. Sie grenzten sich somit nicht nur vom kunsthistorischen Kanon ihrer Zeit, sondern auch von dem um Verständnis bemühten Leser ab. Mit den Pandämonischen Manifesten haben Schönebeck und Baselitz ihre durchaus auch angestrebte Außenseiterposition folglich nicht nur artikuliert. Sie haben sie tatsächlich konstituiert. Das eigentliche Ziel erreichten beide Künstler indes nicht. Sie hatten mit einem Skandal gerechnet, der ihre Namen bekannt machen würde und sie nicht zuletzt in jenen Kunstbetrieb katapultieren sollte, gegen den sie sich sprachgewaltig auflehnten. Damit wollten sie sich letztlich auch von ihren lästigen Broterwerben befreien.45 So hatten sie sich auch einige Mühe mit 42 Georg Baselitz, zit. n.: Heinz Peter Schwerfel: Georg Baselitz im Gespräch mit Heinz Peter Schwerfel, Köln 1989, S. 48 f. 43 Eugen Schönebeck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 18.12.2015. 44 Ebd. 45 Kort 2011 (wie Anm. 8), S. 119.
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der Verteilung ihres ersten Manifestes gegeben: „Seeking to gain a foothold, Schönebeck and Baselitz mailed the initial manifesto announcing their first self-staged show to everyone they could think of. Will Grohmann, Berlin’s most important critic, was at the top of their list. They could have kicked themselves when he actually showed up, during one of the few moments they absented themselves from the icecold provisional exhibition space.“46 Andere Besucherinnen und Besucher zog der ungewöhnliche Ausstellungsort hingegen kaum an, so dass Georg Baselitz später enttäuscht bilanzieren musste: „wir glaubten, diese Ausstellung müsste eine sensationelle Wirkung haben […]. Aber sie hatte überhaupt keine Wirkung, denn keiner kam, es kam absolut niemand.“47 Dabei hatten die Künstler nicht nur einige Exemplare des ersten Manifestes versandt, sondern auch je ein Exemplar in der Kunsthochschule und im Schaufenster der Galerie Springer am Kurfürstendamm ausgehängt. Trotzdem blieb auch in der Presse ein Echo aus. Die pathetische Geste beider Künstler wurde also zunächst gar nicht bemerkt, so dass auch Schönebeck später enttäuscht resümieren musste: „Es herrschte absolute Windstille. Es gab weder Zustimmung noch Polemik.“48 Erst später – im Zuge der Karrieren beider Künstler – wurden ihre Pandämonischen Manifeste rezipiert. Dabei wurden die Texte zunehmend aus dem damaligen Kontext gelöst und häufig nicht mehr als eine ebenso kraftvolle wie unkonkrete Geste eines jungen Künstlerduos, sondern als inhaltliches Fundament ihrer künstlerischen Entwicklung programmatisch aufgeladen. Retrospektiv gelang Baselitz und Schönebeck mit ihren collagierten Wortgewittern somit doch noch der Anschluss an die einflussreichen Künstlergruppen des 20. Jahrhunderts und ihre zunächst verkannten Manifestationen.
46 Kort 2012 (wie Anm. 31), S. 161. 47 Baselitz, zit. n.: Gachnang 1979 (wie Anm. 2), S. 4. 48 Eugen Schönebeck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 18.12.2015.
JUDITH ELISABETH WEISS
„GIVE UP ART!“ MANIFESTE DER KUNSTVERWEIGERUNG
„Art and struggle walk hand-in-hand“: In Auseinandersetzung mit der Frage, an welchem Punkt Künstler ihre Arbeit aufgeben sollten, wenn ihnen keine Anerkennung gezollt wird, mahnt der amerikanische Kunstkritiker und Blogger Brian Sherwin die Verbrüderung von Kunst und Kampf an. „Rediscover your passion“, hält er jenen Künstlern entgegen, die ihrem Kunstschaffen ein Ende setzen wollen.1 Leidenschaft und Hingabe bis zum Erleiden (passio) – diese Metaphorik des Opfers bringt ein emphatisches Verständnis von Kunst zum Ausdruck und räumt dem Künstler einen Sonderstatus ein, der ihn vor allem als eine Figur der Treue zu sich selbst stilisiert. Mit Blick auf die Geschichte der Verweigerungskunst respektive der Kunstverweigerung, die ein breites Repertoire an Akten der Verneinung und Gesten der Entsagung hervorgebracht hat, liegt der Aufgabe der Kunst jedoch ein paradoxer Doppelsinn zugrunde. In der Verweigerung erfüllt sich die Aufgabe der Kunst und der leidenschaftlichen Pflichterfüllung als Verzicht oder Kapitulation. Der Begriff der Verweigerung beschreibt dabei eine Vielzahl künstlerischer Praxen, mit denen Künstlerinnen und Künstler 1
Brian Sherwin: Art and struggle: At what point should an artist ‚give up‘?, http://theartedge.faso. com/blog/92328/art-and-struggle-at-what-point-should-an-artist-give-up [Abruf: 6.7.2016].
„GIVE UP ART!“
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Gegenpositionen einnehmen und Nein sagen: Nein zu den Erwartungen des Publikums, Nein zu Auferlegungen von Kunstbetrieb und Kunstindustrie, Nein zu künstlerischen Programmen und Traditionen, Nein zu politischen Vorgaben, Nein zu sozialen und ökonomischen Einhegungen des Künstlers, kurzum: Nein zur Behaglichkeit in der Kunst. Verweigerung stellt sich dann ein, wenn etwas nicht oder nicht mehr getan werden kann. Sie nährt sich aus der Unbestechlichkeit hinsichtlich eigener Überzeugungen, folglich kann auch der Abbruch der künstlerischen Produktion aus einer ähnlichen Haltung erfolgen. Im Genre des künstlerischen Manifests scheint der Konnex von Kampf und Passion einer gesteigerten Geltung zu unterliegen, denn in seiner allgemeinsten Bestimmung offenbart sich das Manifest als eine emphatische Verdichtung künstlerischer Zielsetzungen.2 Der Blick in die Geschichte des Manifests zeigt, dass nicht zuletzt die inhaltlichen Pointierungen zu hitzigen Debatten und Zerwürfnissen zwischen konträren künstlerischen Lagern und auch innerhalb von Gruppierungen führten. Liegt dem Manifest ein entschiedener Abgrenzungswille zugrunde, so verdient es im Zusammenhang mit extremen Formen künstlerischer Verweigerung besondere Aufmerksamkeit, denn hier steht es im Dienste der Grenzüberschreitung. Gehen wir einen Schritt zurück: Das Manifeste Dada 1918 formuliert ein Paradoxon, das untrennbar mit der Geschichte der Verweigerungsästhetik verbunden ist. „Ich schreibe ein Manifest und will nichts, trotzdem sage ich gewisse Dinge und bin aus Prinzip gegen Manifeste, wie ich auch gegen Prinzipien bin [...] Ich schreibe dieses Manifest, um zu zeigen, daß man mit einem einzigen frischen Sprung entgegengesetzte Handlungen gleichzeitig begehen kann; ich bin gegen die Handlung; für den fortgesetzten Wi2
Emphase meint hier die Verstärkung rhetorischer Absichten, indem ein „more-than-normal involvement“ signalisiert wird. Vgl. Margret Selting: Emphatic speech style – with special focus on the prosodic signalling of heightened emotive involvement in conversation, in: Journal of Pragmatics, Bd. 22, 1994, H. 3/4, S. 375–408. Filippo Tommaso Marinetti negiert zwar den Begriff der Emphase, relativiert diese Negierung jedoch, indem er Formulierungen wie die „gelungene Anklage“, die „gut definierte Beleidigung“, „vernichtende Lakonie“, „Gewalt“, „Präzision“ und „Mut“ als Rezeptur für ein gelungenes Manifest anführt, zit. n. Antje Kramer-Mallordy: Zwischen Revolution und Prophezeiung. Künstlermanifeste, in: Heiko Hausendorf und Marcus Müller (Hg.): Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation, Berlin/Boston 2016, S. 110–131, hier S. 110.
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derspruch, für die Bejahung und bin weder für noch gegen [...].“3 Die hier angedeutet Berührung von Sinn und Nicht-Sinn, von Bedeutung und Bedeutungsverlust, von Kunst und Nicht(mehr)-Kunst kreist letztlich um die Frage nach der Hervorbringung von Kunst durch Nicht-Kunst. Damit lässt sich das dadaistische Manifest um das Prinzip eines fundamentalen Widerspruchs erweitern, das über seine übliche Lesart als Instrument der Provokation und als Sprachrohr gegen Gestaltungskonventionen und institutionelle Vereinnahmungen hinausgeht. Kunstdeserteuren und -dissidenten ist der Dadaismus allein schon deshalb der wichtigste Referenzpunkt, weil sich jegliche Kunstverweigerungskunst4 zunächst durch diese von Tzara formulierte paradoxe Struktur auszeichnet: nämlich die unmögliche Überwindung der Kunst durch die Kunst. Eine Kunst, die sich entzieht, kann immer nur dann ihre Verweigerung artikulieren und wirksam sein, wenn sie ihre Verweigerung produktiv umsetzt und das Paradigma „Kunst“ aufrechterhält. Und sie kann sich nicht von dem Dilemma lösen, dass jene Verneinung, die sie gegen den Kanon stellt, geradewegs wieder in den Kanon eingepasst wird. Auch wenn der Künstler nichts als leere Flächen schafft, so wird die Absenz des Bildes im Kontext von Institutionen, Markt und Kunstgeschichtsschreibung wieder zum Bild. Entsprechend bleibt die emanzipative und kritische Kunst immer auch an den gesellschaftlichen Diskurs gebunden, von dem sie sich zu emanzipieren sucht und den sie kritisiert.5 Verweigerung, so die Konsequenz, existiert stets nur vorübergehend. Die Überwindung des grundlegenden Paradoxons der Verweigerung ist eine zentrale Denkfigur im Œuvre von Künstlern, die entschieden haben, die Kunstproduktion einzustellen. Ihre Manifeste dienen ihnen als Substrat, wel3
Tristan Tzara: Manifest Dada 1918, in: Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart/Weimar 1995, S. 149–155, hier S. 150. Den Erstdruck in französischer Sprache siehe http://sdrc.lib.uiowa.edu/ dada/dada/3/01.htm [Abruf: 30.7.2016].
4
Zum Begriff „Kunstverweigerungskunst“ siehe Herbert Kopp-Oberstebrink und Judith Elisabeth Weiss (Hg.): Kunstverweigerungskunst I. Verweigerung als schöpferische Provokation, Kunstforum International, Bd. 231, 2015, sowie dies.: Kunstverweigerungskunst II. Verneinung zwischen Formgebung und Ausstieg, Kunstforum International, Bd. 232, 2015.
5
Siehe hierzu Judith Elisabeth Weiss: ‚Mord‘ an der Kunst. Zur Verweigerungslogik in der Kunst der Gegenwart, in: Michael Kauppert und Heidrun Eberl (Hg.): Ästhetische Praxis, Wiesbaden 2016, S. 55–82, hier S. 75–79.
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ches das Denken in jenem Moment figuriert, in dem sie ihre Verweigerung auf Dauer stellen. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen exemplarisch drei künstlerische Positionen der Kunstsabotage aus den 1960er Jahren, die dokumentieren, wie sich Verweigerung manifestiert: erstens im Kunststreik, zweitens im Bildentzug und drittens im kompromisslosen Ausstieg aus der künstlerischen Produktion. Das Manifest der Verweigerung, so wird zu zeigen sein, orientiert sich an der typischen Programmatik dieser Textgattung, ihrem Drang nach Öffentlichkeit und der eindeutigen Intentionalität – und gibt sich dennoch als eigenes Genre zu erkennen: Es überschreitet seine allgemeine Bestimmung als „doktrinäre Kampfschrift“6 und lässt sich vielmehr als eine Figuration des Übergangs begreifen – von der Kunst zur Nicht-Kunst, vom Innerhalb zum Außerhalb der Kunst. KUNST-STREIK: DAS MANIFEST ALS FIGUR DES AUFSCHUBS
Die Ausstellung Art into Society – Society into Art: Seven German Artists, die 1974 im Institute of Contemporary Arts in London stattfand, rückte den Begriff der „Mitbestimmung“ (participation) in der Amalgamierung von Kunst und Gesellschaft in den Fokus. Gustav Metzger, der zusammen mit Künstlern wie Joseph Beuys, Hans Haacke und Klaus Staeck zur Schau geladen war, lieferte für die Ausstellung kein Werk, sondern ein Manifest: Art Strike (Abb. 1).7 Die Ambivalenz der Rubrizierung als „German artist“ mag ein Impuls gewesen sein, sich an der Ausstellung zwar zu beteiligen, jedoch nicht mit einem materialen Werk präsent sein zu wollen. Metzger war mit dem Refugee Children’s Movement 1939 nach London gekommen. Seine gesamte Familie, die polnische Wurzeln hatte, wurde im nationalsozialistischen Deutschland ausgelöscht. Markierte das Ende der 1960er Jahre den Abgesang der sozialpolitischen Utopien der Avantgarden, so bleibt festzuhalten, dass immer dann auf den Begriff des „Manifests“ rekurriert wird, wenn künstlerische Forderungen politischer Natur sind.8 Dies trifft 6
Joachim Schultz: Literarische Manifeste der „Belle Epoque“, Frankreich 1886–1909. Versuch einer Gattungsbestimmung, Frankfurt am Main/Bern 1981, S. 36.
7
Art into Society – Society into Art. Seven German Artists. [...], Ausst.-Kat. Institute of Contemporary Arts, London, London 1974, S. 79.
8
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Siehe Kramer-Mallordy 2016 (wie Anm. 2), S. 129.
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Abb. 1
Gustav Metzger: Art Strike 1977–1980, Beitrag zur Ausstellung Art into Society – Society into Art, Institute of Contemporary Arts, London, 1974
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im Besonderen auf Gustav Metzger zu. Mit dem Slogan „Don’t make art but study art“ kündigte er den temporären Wechsel von der Kunstproduktion zur Theorie an.9 Der Aufruf zum Streik sollte den Impuls für eine neue Form der sozialen Kunstproduktion geben, an der Metzger bereits zuvor durch sein Engagement für die Coalition for the Liquidation of Art gelegen war. Die hier vereinigten Künstler veranstalteten 1970 eine Demonstration vor der Tate Gallery und kämpften für ein Ende des Museums als eine Instanz für ästhetische Urteile und moralische Verpflichtungen.10 Das Manifest von Metzger beginnt mit einer kritischen Diagnose: „Künstler, die sich am politischen Kampf beteiligen, handeln auf zwei Ebenen: sie setzen ihre Werke für unmittelbare gesellschaftliche Veränderungen ein, und sie arbeiten auf eine Veränderung der Strukturen des Kunstbetriebs hin. […] Die enge Verschränkung von Kunst und Gesellschaft steht dem Gebrauch von Kunst zur Veränderung der Gesellschaft entgegen. Der Staat unterstützt die Kunst; er braucht sie, um die herrschenden schrecklichen Zustände zu bemänteln, und benutzt sie, um weite Teile der Bevölkerung abzulenken, zu benebeln und zu unterhalten.“11 Mit seinem Konzept der Autodestructive Art trug Metzger dieser zweifachen Wirkungsmacht von Kunst Rechnung, nämlich einerseits auf die Gesellschaft einzuwirken und andererseits die Strukturen des Kunstbetriebs zu kontaminieren: Die Werke, die sich selbst zerstörten, stellten eine unmittelbare Veranschaulichung der destruktiven Kräfte des Menschen dar. Krieg, Atombedrohung und Umweltzerstörung waren Themen, gegen die sich Metzger als Aktivist politisch engagierte. Im gleichen Zuge richtete sich die Autodestructive Art gegen die kommerzielle Verwertung von Kunst, indem sie mit ihrem Verschwinden gerade keinen bleibenden Wert schuf. Die mit Säure behandelten, sich zer9
Vgl. „Verweigerung war für mich eine Pflicht“. Rückblickende Bemerkungen über Zerstörung, das Verschwinden und die Aufgabe der Kunst. Gustav Metzger im Gespräch mit Herbert KoppOberstebrink und Judith Elisabeth Weiss, in: Kopp-Oberstebrink/Weiss 2015 (wie Anm. 4), Bd. 231, S. 136–145, hier S. 136.
10 Justin Hoffman: Die Erfindung der autodestruktiven Kunst, in: Gustav Metzger. Geschichte Geschichte, hg. v. Sabine Breitwieser, Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien, Ostfildern 2005, S. 19–39, hier S. 34. 11
Zit. n. der dt. Übers.: ›Kunststreik‹ 1977–1980, in: Gustav Metzger: Manifeste, Schriften, Konzepte, München 1997, S. 44–45, hier S. 44.
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Abb. 2
Gustav Metzger bei einer Autodestructive Art Performance, 1961, South Bank, London
setzenden Nylon-Leinwände stellen eine aufschlussreiche Analogie zu den Manifesten Metzgers her (Abb. 2). Wie seine Leinwände versuchen auch seine Manifeste, die Kunst von innen her aufzulösen, indem über das Ephemere der Kunst, über ihr Verschwinden und über das Problem der Endlichkeit nachgedacht wird. Das Londoner Destruction in Art Symposium von 1966, dessen Initiator Gustav Metzger war, stellte destruktive Prozesse in den Mittelpunkt des ästhetischen Vokabulars und diskutierte das Ethos einer ganzen Generation, die sich den Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs zu stellen hatte. In seiner grundlegenden Auseinandersetzung mit den Destruktionspotentialen des Menschen und der Verantwortung der Kunst griff Gustav Metzger immer wieder auf die Artikulationsform des Manifests zurück. In seinen Darlegungen im Manifesto World (1962) signalisierte er mit appellierendem Impetus seine Streitbarkeit und deutete bereits seine Ultima Ratio an – den Boykott des Kunstbetriebs: „Wir holen die Kunst aus den Galerien und Museen. Der Künstler muss Galerien zerstören. Kapitalistische Institutionen. Betrugskisten. […] Der Künstler kann nicht alle Erfahrungen der Gegenwart in sich aufnehmen. Er kann sie nicht in Bildern und Skulpturen darstellen. […]. Ihr stinkenden, scheiß zigarrerauchenden Bastards und par-
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fümierten Modeziegen, die ihr mit Kunst handelt.“12 Metzgers Beitrag zur Ausstellung Art into Society – Society into Art war in folgerichtiger Konsequenz die Verweigerung der Ausstellung, und dies, weil die Schau für ihn vor allem die Funktion erfüllte, gesellschaftskritische Kunst in den Mainstream einzupassen. Das Manifest Art Strike von Gustav Metzger reagierte auf dieses Dilemma der Kunst mit einer pointierten Forderung: „Die stärkste Waffe der Arbeiterschaft im Kampf gegen das System ist die Verweigerung der Arbeit; genau dieselbe Waffe können auch Künstler einsetzen. Will man das Kunstsystem zerschlagen, müssen Jahre ohne Kunst ausgerufen werden: In einem Zeitraum von drei Jahren – von 1977 bis 1980 – produzieren und verkaufen Künstler keine Werke, bestücken keine Ausstellungen und verweigern die Zusammenarbeit mit jeglichem Teil der Medienmaschinerie des Kunstbetriebs. Diese vollständige Niederlegung der Arbeit stellt eine kollektive Kampfansage extremster Form der Künstler gegen den Staat dar.“13 Erneuerung und Gerechtigkeit sind die dem Kunststreik übergeordneten Ziele, die auch gerechtere Formen für Verkauf, Ausstellungen und Veröffentlichungen beinhalten. Die Kraft der Kunst, die durch den Kapitalismus geschwächt worden sei, solle durch den Streik erneuert werden. Metzger führte den dreijährigen Streik im Alleingang durch – als gescheitert kann man ihn dennoch nicht bezeichnen. Seinem Vorschlag, sich anstelle der Produktion von Kunst, „mit den historischen, ästhetischen und sozialen Themen, die Kunst betreffen“14, zu beschäftigen, kam er selbst nach. In den drei Jahren seiner Abstinenz befasste sich Metzger mit Vermeer, mit der Erforschung der Kunst im Nationalsozialismus und mit der Frankfurter Schule. Die Darlegungen der Kritischen Theorie zu Strategien der Vereinnahmung und der Neutralisierung der Kunst durch die Kulturindustrie konnten Metzgers Anliegen bestätigen.15 Der Kunststreik bedeutete nicht Negation von Kunst, sondern eine konsequente Weiterführung und 12
Zit. n. der dt. Übersetzung: Manifest-Welt, in: Metzger 1997 (wie Anm. 11), S. 19–20, hier S. 19.
13
Zit. n. Metzger 1997 (wie Anm. 11), S. 44.
14
Ebd., S. 45.
15
Zur „Kulturindustrie“ siehe Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944). Frankfurt am Main 2006, darin besonders: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, S. 128–176.
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Radikalisierung der politischen Kunst. Innerhalb dieser wurde Metzger zu einer Figur des Widerstands, die sich bis zu seinem Tod 2017 entschieden und unkorrumpierbar dem Galeriesystem und den monströsen Erscheinungen der Geschichte entgegenstellte. Infolge seines Manifests wurde er seit Mitte der 1970er Jahre in den Veröffentlichungen über konzeptuelle und aktionistische Kunst nicht mehr erwähnt.16 Erst in den 1990er Jahren setzte die Rezeption seines Werks ein.17 „Don’t make art but study art.“ Der Streik, so ließe sich resümieren, schafft einen Zwischenraum zum Nach-Denken. „Nachdenklichkeit als ein Zögern des Denkens bedeutet eine Unterbrechung der kulturellen wie der reflexiven Normalstimmigkeit von Erwartung und Erfüllung, Handlung und Zweck oder Wunsch und Wirklichkeit.“18 Auch das Manifest selbst kreiert einen solchen Zwischenraum zum Nachdenken, einen Raum des Transitorischen, wenn das Malen, Zeichnen, Hämmern zur Ruhe kommt und stattdessen geschrieben wird. Zwischen der Ruhe, zu der die Kunstproduktion beim Verfassen eines Manifests kommt, und der Öffnung zum gesellschaftlichen Raum durch Sprache entsteht ein Spannungsverhältnis. Manifeste versuchen im Dienste der Kunst mit genuin politischen, also außerkünstlerischen Mitteln, in die Gesellschaft einzugreifen. Das Unvermögen, künstlerisch jenseits der Kunst etwas durchsetzen zu wollen, lässt sich nur dadurch aufheben, dass Manifeste selbst wieder zu Kunst erklärt werden oder gleichsam als solche wirken. Das Manifest Art Strike von Metzger tritt an die Stelle des Kunstwerks, es ist das Kunstwerk. Dies suggeriert jedenfalls der Ausstellungskatalog Art into Society – Society into Art, der es in der Zusammenschau mit anderen Werken und Dokumenten zeigt. Damit steht es dem Anliegen des Künstlers und Autors von Manifesten, Theo 16
Vgl. Justin Hoffman: Gustav Metzger – real underground, in: Metzger 1997 (wie Anm. 11). S. 7–11, hier S. 7.
17
Vgl. z. B. Stewart Home: Art Strike Handbook, London 1989; Justin Hoffmann: Gustav Metzger und die autodestruktive Kunst, in: Artis, Bd. 43, 1991, Heft 5, S. 40–45; Antje van Diest: Gustav Metzger. London Art in the Sixties, (Diplomarbeit) Leiden University 1992; life/live. La scène artistique au Royaume-Uni en 1996, de nouvelles aventures hg. v. Laurence Bossé und Hans Ulrich Obrist, 2 Bde., Ausst.-Kat., Musée d’Art Moderne de la ville de Paris, Paris 1996.
18 Philipp Stoellger: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen 2000, S. 341.
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van Doesburg, nahe, der die Theorie als eine unvermeidliche Konsequenz der kreativen Tätigkeit aufgefasst hat: „Die Künstler schreiben nicht über ihre Kunst, ihre Schriften sind eine Erweiterung der kreativen Aktivität.“19 Metzgers Manifest erweitert den ästhetischen Prozess der Autodestructive Art und ist gleichzeitig Emphase politischer Überzeugungen. Ein Streik bedarf einer Ankündigung, daher ist das Manifest eine Notwendigkeit. Dabei stellt es mehr als eine Proklamation dar, denn in der Formulierung von Kritik, Änderungsanliegen und der Benennung von Alternativen erfüllt es rhetorisch die fundamentalen Kriterien des Genres Manifest.20 „In der Nachdenklichkeit liegt ein Erlebnis von Freiheit“ 21, formulierte Hans Blumenberg, und diese Freiheit durch Nachdenklichkeit mag auch der Impuls für die Manifeste und Schriften von Gustav Metzger gewesen sein. Sie entfalten sich in Momenten des Nachdenkens und sind somit Quellen des Aufschubs: des Aufschubs der Aktion, der künstlerischen Produktion und des Endes der Kunst. Dem Begriff des Aufschubs begegnet man in diversen Schriften Blumenbergs, der ihn mit Gedanken des Umwegs und der Indirektheit in Verbindung bringt.22 So etwa realisiert die Metapher einen Aufschub, denn sie bezeichnet nicht direkt, sondern nimmt den Umweg der Umschreibung durch sprachbildliche Rede. Manifeste gehen Umwege, weil sie mit poetologischen Metaphern arbeiten. Sie sind selbst Metaphern, die sich innerhalb eines ästhetischen Rahmens entfalten, und zwar so lange, bis das Manifest die Kunst endgültig beendet: Erst dann wird das 19
Theo van Doesburg: De nieuwe beweging in de schilderkunst [1917], http://sdrc.lib.uiowa.edu/ dada/De_Nieuwe_Beweging/pages/005.htm [Abruf: 30.7.2016]; zit. n. Kramer-Mallordy 2016 (wie Anm. 2), S. 117.
20 Walter Fähnders benennt vier fundamentale Kriterien des Manifests: Programmatik, Öffentlichkeit, Eindeutigkeit und Signatur, siehe Walter Fähnders: „Vielleicht ein Manifest“. Zur Entwicklung des avantgardistischen Manifestes, in: ders. und Wolfgang Asholt (Hg.): „Die ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997, S. 18–38, hier S. 21. 21
Hans Blumenberg: Nachdenklichkeit. [Dankrede zur Überreichung des Sigmund-Freud-Preises, 1980], in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 1980, Bd. 2, Heidelberg 1981, S. 57–61, sowie im Netz: http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/ sigmund-freud-preis/hans-blumenberg/dankrede [Abruf: 22.7.2016].
22 Siehe Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt am Main 2006, S. 558–560. Zu Verzögerung und Umweg siehe ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt am Main 2001, S. 420–421.
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Manifest zu einer interventionistischen Gegenfigur zum Aufschub, die mit ihrem Verweigerungspotential den ästhetischen Raum und den metaphorischen Boden der Kunst verlässt. Erst dann flankiert oder kommentiert das Manifest nicht mehr länger die künstlerische Produktion – die rhetorische Dramatik wird vielmehr zum Ernstfall. Erst wenn das Manifest die Kunst beendet, tritt die Verweigerung aus der Latenz und realisiert sich im Manifest. Verweigerung tritt dann als Manifestation gleichsam an die Oberfläche und wird zum Symptom.23 Diese Aufgabe der Kunst in ihrer doppelten Wortbedeutung soll in den folgenden Überlegungen noch weiter zugespitzt werden. BILDENTZUG: DAS MANIFEST ALS HANDLANGER DER ETHIK
„Wir meinen zunächst, dass die Welt verändert werden muss. Wir wollen die größtmögliche emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft und des Lebens, in die wir eingeschlossen sind“, beginnt Guy Debord, der Wortführer der Situationistischen Internationale, seinen Rapport sur la construction des situations et sur les conditions de l’organisation et de l’action de la tendance situationniste internationale24, des wohl wichtigsten Manifests der Bewegung: „Die situationistische Haltung besteht darin, auf die Vergänglichkeit zu rechnen im Gegensatz zu den ästhetischen Verfahren die danach strebten, die Emotionen zu fixieren.“25 Wie Gustav Metzger widersetzten sich die Situationisten dem Kult- und Ewigkeitswert der Kunst, welcher sich im Objekt verkörpert und darin überdauert. Für ihre leidenschaftliche Gesellschafts-, Kunst- und Medienkritik griff die Gruppe klassische Topoi moderner Zivilisationsmüdigkeit auf. Ihr Blick richtete sich auf die Stadt als Schaltzentrale des Kapitalismus und als Zentrum der Macht, wo Kontrolle und Massenkultur die herrschenden Merkmale waren. Die Situationisten 23 Zur Kunst als Symptom mit Rekurs auf Freuds Opposition von Latenz und Manifestation, von Tiefe und Oberfläche, von Unbewusstem und Bewusstem siehe die kunsttheoretischen Ausführungen von Georges Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes [frz. O. 1992], München 1999; ders.: Vor einem Bild [frz. O. 1990], München 2000. 24 Guy Debord: Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz [1957], in: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S. 28–44, hier S. 28. 25 Ebd. S. 43.
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lehnten jegliche Produktion ästhetischer Objekte ab und schrieben sich stattdessen die Schaffung von Situationen zur Veränderung des Alltagslebens auf die Fahne, und dies lange bevor Aktion, Ereignis und Partizipation zu den fundaAbb. 3 Guy Debord: Dépassement de l´art mentalen Kriterien der Kunstproduktion (Directive n°1), 1963, Öl/Leinwand, in Happening, Fluxus und Performance Sammlung Paul Destribats, Paris avancierten. Das Alternativkonzept zum fassbaren Kunstwerk gleicht einer Passage im Denken und Fühlen, es handelt von der Undokumentierbarkeit der Zeit und der Nichtdarstellbarkeit des Augenblicks.26 Für seine Thesen, Credos, Appelle, Proklamationen und Deklarationen verwandte Guy Debord niemals die Bezeichnung „Manifest“ – vermutlich hängt dies mit der grundsätzlichen Distanzierung von avantgardistischen Bestrebungen und der mit ihnen zusammenhängenden manifestatorischen Praxis zusammen. Der Rapport folgt dennoch der Rhetorik eines Manifests. Die hier formulierte Notwendigkeit zur Veränderung richtete sich auf die Kontrolle der Kulturindustrie über die Bevölkerung mit ihrer Erzeugung und Potenzierung von Begehren durch massenhaft produzierte Filme, Fernsehserien, Werbesendungen und Life-Style-Magazine. In seiner später verfassten Schrift Gesellschaft des Spektakels (1967) kondensierte Debord die radikale Anklage an die Industriegesellschaft mit ihrer Grundlegung der Ware und den damit einhergehenden Formen der politischen Machtausübung. Unter den Direktiven, die Debord 1963 auf Transparente schrieb, findet sich die Aufforderung „Dépassement de l’art“, die die Grenzziehung der Sphären von Kunst und Leben strapaziert (Abb. 3). Die Aufgabe der Kunst ist es, über die Kunst hinauszugehen. Diese Aufforderung ist paradox, denn sie zielte auf die Aufhebung der Kunst, während sie gleichzeitig ihr Anliegen einer Gegen-Kunst oder Nicht-Kunst formulierte. In seiner Suche nach „Spielen neuer Art“27 hat Debord konsequent die Repräsentierbarkeit seiner 26 Zu Reflektionen zum Nichteinholbaren, Undarstellbaren und zur Widerständigkeit der Dinge vgl. Dieter Mersch: Posthermeneutik, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 26, Berlin 2010, hier besonders S. 49.
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Person, die Vergegenständlichung seines Schaffens in Form eines Werks und insbesondere die Musealisierung seiner Person und der Gruppe scharf bekämpft. Als schöpferische Provokation benötigten die Situationisten für ihre Wirksamkeit dennoch eine Form. Dies sind Pamphlete, Proklamationen, Plakate, Abb. 4 Internationale Lettriste: Déclaration sur l’expérience de la dérive, 1953 Collagen, Comics mit eingesetzten fremden Texten, Briefumschläge mit Notizen, Zeitschriften, Pläne für imaginäre Architekturen, Film- und Tondokumente – sie bilden heute ein umfangreiches Archiv von Dokumenten einer Gegenkultur (Abb. 4). Die Bewegung gehört zu den prominenten Vertretern in der Domäne der Kunstdeserteure, die programmatisch das Feld der Kunst verließen, um in späteren Ausstellungen wieder ungewollt in das Paradigma „Kunst“ eingepasst zu werden. Wie lässt sich das Manifest im Kontext des Situationismus begreifen? Manifeste der Verweigerung, die die künstlerische Produktion als Provokationen nicht einfach begleiten, sondern Leerstellen ästhetischer Objekte produzieren, um diese selbst zu besetzen, haben einen wesentlichen Anteil an der Überschreitung der Ästhetik hin zur Ethik. Sie sind eine Weiterführung der ironischen Manöver des Dadaismus, der mit gewollten Paradoxien eine Überschreitung der Grenzen des Ästhetischen erreicht wollte, und zwar hin zu einer „neue[n] künstlerische[n] Ethik“.28 Auch Walter Benjamin kommt in der ersten Fassung seines Aufsatzes Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu dieser Einschätzung, wenn er den Dadaismus als „soziales Verhalten“ begreift.29 Die hier konstatierte Verschiebung der Ästhetik zur Ethik ist ein zentraler Aspekt mit folgenrei27 Debord 1995 (wie Anm. 24), S. 40. 28 Hans Richter: Dada – Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 1964, 3. Aufl. 1973, S. 8. 29 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, 2. Aufl. 1978, S. 435–469, hier S. 463.
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cher Wirkung bis in die Gegenwart. Sie markiert ein neues Nachdenken über Kunst von deren Grenze aus, denn nach der Ästhetik, nach der Kunst kommt die Ethik. Künstlermanifeste haben einen wesentlichen Anteil an diesem Prozess, der mit der politischen Kunst der 1960er Jahre bis hin zu gegenwärtigen künstlerischen Positionen, die als soziale Instanzen agieren, neue Dimensionen erreicht hat. Pointierte Forderungen, die sich vor allem durch eine kämpferische Sprachcodierung ausdrücken, gehören zum gängigen Werkzeug von Manifesten. Die superlativistische Wortwahl dient dazu, energische Handlungsaufforderungen zu formulieren und eine Distinktion zwischen der eigenen und der gegnerischen Anschauung auszudrücken.30 Manifeste der Verweigerung verstehen sich in diesem Sinne als Antwort. Sie konstituieren sich zugleich als ein Medium der Verantwortung. Doch wie lässt sich dem Umstand begegnen, dass die Nicht-Präsenz von Kunst nur ein Notbehelf ist, wenn das „Nein“ und „Nicht“ die künstlerische Wahrheit über die Hintertür wieder einführt? Eine mögliche Antwort ist die radikalste Form der künstlerischen Entsagung: die Totalverweigerung.
AUSSTIEG: DAS MANIFEST ALS VOLLZUG
Die paradoxe Struktur des kritischen Diskurses, der stets an das gebunden bleibt, was er kritisiert, stellte für die New Yorker Künstlerin Lee Lozano zunehmend ein Problem dar. Im Mai 1968 notierte sie: „Künstler, Kritiker, Händler und Museumsfreunde, eigentlich fast alle: In eurem schlechten Atem kann ich noch immer die vor so langer Zeit ohne Widerspruch geschluckten Regeln anderer Leute riechen.“31 Ihre wachsende Kritik am System Kunst formulierte Lozano in einer scharfen Stellungnahme knapp ein Jahr später bei einer Sitzung der Art Workers Coalition: „Ich kann ein Programm zur Reform der Museen nicht ernsthaft in Betracht ziehen, ohne gleichzeitig Reformen von Galerien und Kunstzeitschriften ins Auge zu fassen, die darauf hinauslaufen würden, ganze Künstler- und Kritiker-Ställe auszumisten. Ich verstehe mich nicht als 30 Johanna Klatt und Robert Lorenz (Hg.): Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011, S. 22; siehe auch Schultz 1981 (wie Anm. 6), S. 171 und S. 185. 31
Zit. n. Sabine Folie: „Seek the extremes, that’s where all the action is.“, in: „Seek the Extremes …“. Bd. 2. Lee Lozano, Ausst.-Kat. Kunsthalle Wien, Nürnberg 2006, S. 16–36, hier S. 34.
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Kunstarbeiterin, sondern eher als Kunstträumerin, und ich werde mich nur an einer totalen, gleichzeitig privaten und öffentlichen Revolution beteiligen.“32 Vorausgegangen war ihr Bildmanifest General Strike Piece mit einer Boykotterklärung an das Kunstsystem und einem bereits hier formulierten Entwurf einer „Totalen Persönlichen & Öffentlichen Revolution“ nebst einer Generalkritik an der eigenen Zunft. In einem fiktiven Gespräch stellt sie am Ende fest: „Aber schau doch, wer die Künstler sind, sie sind Trottel […].“33 Nicht das Establishment, Staat und Kapitalismus sind die alleinigen Zielscheiben des Protests, sondern mit ihnen die Künstlerinnen und Künstler, die Lozano innerhalb einer gesellschaftlich-politischen Gemengelage situiert. Sie selbst haben an der Konstituierung und Aufrechterhaltung des Betriebssys- Abb. 5 Lee Lozano: Untitled, o. J., Kugelschreiber, tems Kunst teil. Kunststreik kann sich also nicht alleine Tinte/Papier in Institutionenkritik erschöpfen, sondern muss als umfassende Systemkritik angelegt sein. Mit Blick auf das Œuvre der Künstlerin wird die „Totale Persönliche & Öffentliche Revolution“ als Teil einer intensiven Auseinandersetzung mit der Dialektik des Innen und Außen begreifbar. Die frühen Zeichnungen Lozanos zeugen von einer überbordenden Phantasie, die sich in kraftvollen, fast gewalttätig anmutenden Strichen, in beißendem Wortwitz und einer Obsession für sexuelle Inhalte entlud (Abb. 5). Ein polymorph-perverses Universum versammelt erigierte Penisse, grotesk überzeichnete Körperöffnungen und Köpfe und Gesichter, die keine mehr sind, weil sie in ihrer Reduktion auf Geschlechtsorgane jegliche Individualität verloren haben. Die Auseinandersetzung mit Körperöffnungen als Markierungen und Übergänge von Innen und Außen ist grundlegend für spätere Überlegungen zum Drinnen und Draußen. Der Weg aus der Kunst heraus manifestierte sich als zunehmende Verknappung und Bescheidung der künstlerischen Mittel. Den ekstatischen Bildern und den Ausschöpfungen des Repertoi32 Ebd., S. 35. 33 Ebd.
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Lee Lozano: Notebook 8, 5. April 1970, S. 115–116
Abb. 6
res sado-masochistischen Begehrens folgte die Formberuhigung. Lozanos Exerzitien der Askese mündeten in der Reduktion der Kunst auf den Akt des Niederschreibens einer Handlungsanweisung. Diese Bildmanifeste, Language Pieces, waren Denkübungen, Alltagsanalysen und Sprachstücke, die den Dialog mit der Öffentlichkeit suchten. Ihre letzte künstlerische Geste nannte Lozano Drop Out Piece, das sie in ihren tagebuchartigen Notizen im April 1970 mehrere Male erwähnte: „Dropout Piece ist die schwierigste Arbeit, die ich je gemacht habe. […] Es bringt die Zerstörung (oder zumindest vollständiges Verstehen) gewaltiger emotionaler Gewohnheiten mit sich.“34 Das Ausstiegs-Stück war ein Manifest, das nicht existiert, das Lo34 Der Text vom 5. April lautet: „IT WAS INEVITABLE, SINCE I WORK IN SETS OF COURSE, THAT I DO THE DROPOUT (NOTE
PUN )
PIECE. IT HAS BEEN CHURNING FOR A LONG
TIME BUT I THINK IT’S ABT TO BLOW. DROPOUT PIECE IST THE HARDEST WORK I HAVE EVER DONE. THE REASON DROPOUT [COPOUT, DROPOUT] (P FEIFFER : M IDDLECLASS TO ARTIS LYING INERT AS ART STATEMENT )
COPOUT REFERENCE
IS THE HARDEST WORK I’VE EVER DONE IS THAT
IT INVOLVES DESTRUCTION OF (OR AT LEAST COMPLETE UNDERSTANDING OF) POWERFUL EMOTIONAL HABITS. KEY –> EMOTIONS ARE ALSO HABITS, LIKE ANY OTHER REPETITIVE BEHAVIOUR. I WANT TO GET OVER MY HABIT OF EMOTIONAL DEPENDENCE ON LOVE. I WANT TO START TRUSTING MYSELF & OTHERS MORE. I WANT TO REALLY BELIEVE THAT I HAVE POWER & COMPLETE MY OWN FATE. [...] DROPOUT ONLY WORKS ALONG WITH DIMINISHED CONSUMPTION: OF CALORIES, CIGS, DOPE; OF JOYOUS ENERGY (LIKE DANCING), EMOTIONS, INTENSITY; OF RESTLESSNESS, AMBITION, WORK. MY DROPOUT INSIGHTS CAME TODAY FROM A NEAR-SOBER STATE. I DID NOT GET SMASHED UPON ARISING, FOR A CHANGE.“ Zit. n. Sarah Lehrer-Graiwer: Lee Lozano. Dropout Piece, London 2014, S. 24; Abb. 1–3, S. 33.
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zano gerade nicht als materiales Werk formte, sondern das sich als Ausführung einer Handlungsanweisung gleichsam im Verschwinden auflöste und sich jeglicher Verwertbarkeit im System „Kunst“ radikal entzog (Abb. 6). 1972 verließ Lee Lozano New York und brach den Kontakt zur Kunstszene ab, dann wurde es still um sie. Ihre künstlerische Produktion umfasste nur etwa eine Dekade, von 1961 bis 1971. Über die letzten zwei Jahrzehnte ihres Lebens ist so gut wie nichts bekannt. Folgt man der Einschätzung von Lucy Lippard, dass Lozano die weibliche Hauptfigur der New Yorker Kunstszene in den 1960er Jahren war und zu einer Hauptakteurin der Kunstwelt hätte werden können,35 dann mag dieser Bruch als umso radikaler erscheinen. Folgt man der Logik des Œuvres Lozanos, so offenbart sich der Ausstieg als konsistentes Moment innerhalb ihres Anliegens. Manifeste der Verweigerung, so wird hier erneut deutlich, sind Figurationen des Übergangs. Im Zuge des Kunststreiks von Gustav Metzger markiert das Manifest den Übergang von der Kunst zur Theorie, im Situationismus bezeichnet es den Übergang von der Kunst zur Nicht-Kunst, während es bei Lee Lozano mit dem Übergang von der Kunst zum Ende der Kunst, zum Anderen der Kunst verbunden ist. Mit ihrem Verschwinden war Lee Lozano draußen. Die letzte Handlungsanweisung war nicht ein Sprung zu entgegengesetzten Handlungen, wie eingangs aus dem Manifeste Dada 1918 zitiert, sondern das Manifest ist der Sprung selbst, der Sprung ins Off, hinaus aus dem Moloch Kunst. Wer aussteigt, ist draußen, im Nichts. Es ist das Nichts jenseits der dadaistischen Aporie als ironisches Manöver, wie es einst Richard Huelsenbeck formulierte: „Dies ist das bedeutende Nichts, an dem nichts etwas bedeutet. Wir wollen die Welt mit Nichts ändern, wir wollen die Dichtung und die Malerei mit Nichts ändern und wir wollen den Krieg mit Nichts zu Ende bringen. […] Ich verabschiede mich nun mit einem Dadagruß und einer Dadaverbeugung.“36 35 Vgl. Lucy R. Lippard: Escape Attempts, in: dies. (Hg.): Six Years: The dematerialization of the art object from 1966 to 1972 [...] [1973], Berkeley/Los Angeles/London, 2001, S. vii-xxii, hier S. xii; siehe auch dies.: Cerebellion and Cosmic Storms, in: Lee Lozano, hg. v. Iris Müller-Westermann, Ausst.-Kat. Moderna Museet, Stockholm, Ostfildern 2010, S. 188–201, hier S. 188. 36 Richard Huelsenbeck: Erklärung. Vorgetragen im Cabaret Voltaire, im Frühjahr 1916, in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 3), S. 117. Dieser Text von Richard Huelsenbeck gilt als das erste Manifest des Dadaismus.
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YAEL BARTANAS A MANIFESTO. WIDERSTÄNDIGKEIT UND ENTGRENZUNG DER KUNST
„We long to write new pages into a history that never quite took the course we wanted“ 1 A Manifesto ist ein Manifest des Unmöglichen. Es wurde 2010 von Yael Bartana für die von ihr gegründete politische Bewegung Jewish Renaissance Movement in Poland geschrieben, die die Rückkehr von 3,3 Millionen Juden nach Polen fordert. Das Manifest selbst tritt dabei immer wieder in verschiedenen Ausstellungskontexten und in mehreren Sprachen als Poster, stapelweise und zur freien Mitnahme durch die Besucher, in Erscheinung, so unter anderem 2011 auf der 54. Biennale di Venezia im polnischen Pavillon als Teil ihrer Arbeit …and Europe will be stunned, wo es zusammen mit der gleichnamigen Videotrilogie gezeigt wurde (Abb. 1). Das Jewish Renaissance Movement in Poland (JRMiP), dessen politische Ziele A Manifesto bekannt gibt, ist wiederum ein Kunstprojekt, das neben der bereits genannten Trilogie aus einem Gemenge verschiedener Aktionen, Ausstellungen, einer Website, die um Mitglieder wirbt, und einem 2012 als Teil der 7. Berlin Biennale abgehaltenen internationalen Kon1
Yael Bartana: A Manifesto (Manifesto of the Jewish Renaissance Movement in Poland), 2010.
YAEL BARTANAS A MANIFESTO
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Abb. 1
Abb. 2
Yael Bartana: Manifesto of the Jewish
Abb. 3
Yael Bartana, The First International
Renaissance Movement in Poland,
Congress of the Renaissance Movement in
2010, Ausstellungsansicht Tel Aviv 2012
Poland, 2012, Berlin, Foto: Ilya Rabinovich
Yael Bartana: Zamach (Assassination), 2011, video still
gress besteht. Zentrales Gründungsmoment des JRMiP ist neben A Manifesto die dreiteilige Videoarbeit, welche die Ziele und Projekte der Bewegung zeigt, angefangen bei einer Rede ihres Anführers, gespielt von dem polnischen Journalisten und Herausgeber der Zeitschrift Krytyka Polityczna, Sławomir Sierakowski, vor dem leeren und verlassenen „Stadion Dziesięciolecia“ in Warschau, über den Bau eines Kibbuz inmitten des ehemaligen Warschauer Ghettos, bis hin zur Trauerfeier für den – in der Zwischenzeit – von politischen Gegnern getöteten Anführer. Bei A Manifesto, so lässt sich schon zu Beginn sagen, handelt es sich also nicht um ein Künstlermanifest im Sinne
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einer Manifestation der künstlerischen Praxis der Künstlerin Yael Bartana, sondern vielmehr um ein politisches Manifest einer Bewegung, deren Entstehung und Repräsentation Teil der künstlerischen Praxis der Künstlerin ist. Gemäß dieser Verortung des JRMiP im Raum des Imaginären, und in seiner Repräsentation in kunstspezifischen Kontexten (die Konferenz fand im Theater Hebbel am Ufer in Berlin als Teil der Berlin Biennale statt, der angebliche Anführer der Bewegung ist in Wirklichkeit ein bekannter Journalist, usw.) ist es ein Leichtes, und so ist es auch vielfach geschehen, das JRMiP als „fiktional“ zu bezeichnen.2 Dabei ist der Fiktionalitätsbegriff, der dieser Zuschreibung zugrunde liegt, alles andere als unproblematisch, da er als seinen Gegenpart nach einem realen, dokumentarischen oder auch politischen „Echten“ verlangt. Innerhalb dieser problematischen Denkfigur jedoch ist das Dilemma um A Manifesto und das JRMiP im Gesamten leicht zu lösen, als immanente Reflexion der Kunst über die Kunst, ohne weitere Effekte im Realen. Doch die in der Trilogie gefilmte Demonstration (Abb. 2) und die Konferenz (Abb. 3) im Rahmen der Berlin Biennale im darauffolgenden Jahr fanden tatsächlich statt und verhandelten ihre Ziele und ihr politisches Programm öffentlich. Eine Mitgliedschaft ist jedem möglich, der sich dem 2
Die Zuschreibung „fiktional“ findet ihre Verwendung als (manchmal nur vorläufige) Beschreibung der Arbeit. So schreibt zum Beispiel Carol Zemel in ihrem Text The End(s) of Irony: „‚…and Europe Will Be Stunned‘ is made up of three short films gathered under the rubric of the Jewish Renaissance Movement in Poland — known under the acronym JRMiP — a fictional entity founded by Bartana. Though JRMiP does not exist, Bartana has designed its manifesto and logo: a blood-red Polish Eagle combined with a Magen David. Blurring the lines between fact and fiction further, membership cards and tote bags are available.“, http://forward.com/culture/139457/the-ends-of-irony/?attribution=author-article-listing-3-headline, [Abruf: 23.5.2016]. Die Kunsthistorikerin Nina Folkersma beschreibt Bartanas Projekt in einem Interview mit der Künstlerin als marginal: „In a borderland between reality, fiction and propaganda, Bartana focuses on ceremonies, public rituals and social diversions that are intended to reaffirm a collective or national identity.“, http://www.ninafolkersma.nl/?p=1299 [Abruf: 23.5.2016]. Sehr häufig begegnen (halb-)ironische oder relativierende Verwendungen des Begriffs wie etwa „quasi-fictional“, http://artforum.com/words/id=28418 [Abruf: 23.5.2016] oder „on the threshold between fiction and non-fiction“, (http://www.afterall.org/journal/issue.30/ loudspeaker-and-flag-yael-bartana-from-documentation-to-conjuration [Abruf: 23.5.2016]. Es ist bemerkenswert, dass alle Charakterisierungen der Arbeit einen wesentlich komplexeren diskursiven Realitäts- und Fiktionalitätsbegriff annehmen, als sie zunächst selbst zur Beschreibung der Arbeit gebrauchen.
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JRMiP anschließen möchte, kurz, das JRMiP operiert als politische Bewegung und tut alles, was es dazu tun muss. Bartana selbst nannte ihre Bewegung in einem Podiumsgespräch zum Thema „Artistic Practice – The Artist as Activist“ mit Hans Ulrich Obrist auf der Art Basel 2012 eine „imaginäre Bewegung“, nur um dann aber zu ergänzen, es ginge darum, die Geschichte mit der Kunst und ihren Praktiken herauszufordern und das „Imaginative“ in das Reale einzuführen, was sie, neben den bereits zuvor angesprochenen politischen Praktiken wie Demonstrationen und Konferenzen konkret mit ihrer Entscheidung, Holocaust-Überlebende polnischer Herkunft in das Projekt einzubinden, begründet.3 Es gibt also, so kann man sagen, gesellschaftspolitisch reale Effekte, die ein einfaches Verständnis von Fiktionalität nicht zu fassen vermag. Der Status des JRMiP und mithin der von A Manifesto ist unbestimmt. Inwieweit ist Bartanas A Manifesto als künstlerische Praxis zu verstehen und weniger als „klassisches“ (oder besser: modernes) Künstlermanifest? Und inwieweit ist es eben genau das, ein (Künstler-)Manifest? Wenn man sagen kann, dass auch die Manifeste der Moderne versuchten, die Spaltung von Kunst und Leben mit politisch wirksamen Manifestationen aufzulösen, so ist die Frage, ob sich auch Bartanas Manifest möglicherweise einfach in diese Tradition einschreibt oder ob in diesem Manifest nicht noch etwas anderes wirksam ist, das sich spezifisch der zeitgenössischen Kunst und ihrem modernen Erbe widmet. Kann eine solche Bewegung (oder ein solches Projekt) wie das JRMiP überhaupt als in diesem Sinne fiktional bezeichnet werden? Verweist diese Zuschreibung nicht auf den Kern der Sache, nämlich dass zeitgenössische künstlerische Praxis sich eben mit der Auflösung gesellschaftlicher Grenzen und ihrer eigenen Grenzen befasst? Die Frage, der ich in diesem Text nachgehen möchte, motiviert sich nicht aus einem Versuch, Yael Bartanas A Manifesto gegen andere Projekte aus der Geschichte der Manifeste abzugrenzen und eine Aussage darüber zu treffen, inwieweit sich dieses Manifest von seinen Vorgängern unterscheidet. Viel3
Art Basel Conversations: The Future of Artistic Practice – The Artist as Activist, https://www. youtube.com/watch?v=cc6TurcumLU [Abruf: 23.5.2016].
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mehr geht es mir um eine Frage aus kunsttheoretischer und künstlerischer Perspektive: Inwieweit ist es heute möglich, ein Manifest zu schreiben, und inwieweit kann Yael Bartana mit A Manifesto dies beantworten. Natürlich hat diese Frage große Implikationen, die sich an die „Ursprünge“ der Manifestbewegung als Setzung durch die Manifeste der Avantgarden richten und eine Analyse der Unterschiede notwendig machen.
I.
MANIFESTE
Ich beginne mit dem Begriff „Manifest“ und seiner etymologischen Herkunft. Als Manifest wird, laut dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache, ein öffentlich dargelegtes Programm einer Gruppierung bezeichnet, eine Verlautbarung oder Deklaration. Dabei ist manifest, als Adjektiv, das, was offenkundig und eindeutig bestimmt ist. Wörtlich übersetzt, heißt manifest so viel wie „handgreiflich oder begreiflich gemacht“.4 Ein Manifest ist konkret. Aber bereits in dieser ersten Definition verbirgt sich ein Paradox, denn das Manifest ist gleichzeitig eindeutig bestimmt und offenkundig, muss aber, durch das Manifest selbst, erst begreiflich gemacht werden. Dieses Machen im Manifest ist ein Herstellen von Begriffen, die nicht einfach bezeichnen, sondern konstruieren und konstruiert werden. Der Germanist Walter Fähnders verweist in seinem Text „Vielleicht ein Manifest“ auf die ambivalente Begriffsgeschichte und stellt fest, dass das Wort zunächst eine Staatserklärung bezeichnete und sich nur langsam und oft nicht als Selbst- sondern als Fremdbezeichnung für programmatische Texte politischer sowie künstlerisch-literarischer Herkunft etablierte.5 Erst mit den Avantgardebewegungen setzte sich das Manifest als Selbstzuschreibung durch. Möchte man das Manifest in einigen Aspekten seiner Funktion definieren, und dies soll im Folgenden geschehen, so ist zunächst die Funktion der Anrufung, die einem Manifest zugrunde liegt, augenfällig und bedeutsam. Wenn das, was eigentlich eindeutig, gleichsam selbstverständlich ist, durch 4 5
http://www.dwds.de/?qu=Manifest [Abruf: 1.8.2016]. Walter Fähnders: „Vielleicht ein Manifest“. Zur Entwicklung des avantgardistischen Manifestes, in: Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): „Die ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997, S. 18–38, hier S. 19 f.
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das Manifest selbst, das dies begreiflich macht, erst produziert, gemacht werden muss, zeigt sich, dass hier etwas konstruiert wird, was eben nicht eindeutig und selbstverständlich ist. Eine Wiederholungsfigur, die auf eine bestehende Lücke, eine Leerstelle, deutet und sich in der schon nicht mehr selbstverständlichen, sondern bereits brüchigen gesellschaftlichen Struktur ausbreitet und in seiner eigenen Imperativ- oder Anrufungsstruktur Begriffe herstellt, deren Subjekte es mitproduziert. Im Althusser’schen Sinn ist vom Manifest angesprochen, wer sich zum Angesprochenen macht, und wird so zu seinem Subjekt. Im Manifest der Kommunistischen Partei ist der Aufruf klar: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Es trifft den, auf den die Beschreibung zugetroffen haben wird, weil er oder sie sich unter die Leerstelle der Anrufung stellt und sich so subjektiviert.6 Das moderne politische Manifest versteht sich dabei zumeist als radikale Neuerung, als Vorbote eines einzulösenden Paradigmenwechsels. Dass dieser Wechsel, oder besser: dass dieser in der Zukunft einzulösende Wechsel, überhaupt eingeführt werden kann, setzt schon eine Leerstelle voraus, die mit der Offenlegung der Wurzeln des derzeit Bestehenden einhergeht und dessen Nichtfunktionieren manifest werden lässt. Hier trifft sich das politische Manifest auch mit dem von ihm abzuleitenden künstlerischen Manifest. Fähnders schreibt darüber an anderer Stelle: „Die Avantgarde hat die Textgattung des Manifestes für sich entdeckt und usurpiert und bis zur Selbst-Aufhebung mit der Gattung experimentiert. Darin zeigt sich ein Aktionismus, der sich selbst bereits als Realität setzt und der unmittelbar aus dem Manifestantismus resultiert. In der kritischen Überprüfung des Manifestantismus durch die Avantgarde selbst läßt sich der Versuch erkennen, nicht allein als ‚Avant-Garde‘ zu fungieren, sondern diese von sich aus im Sinne einer neuen Kunst-Leben-Relation im ‚Projekt‘ aufzuheben.“ 7 6
Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Anmerkungen für eine Untersuchung [frz. O. 1970], in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 108–153.
7
Walter Fähnders: Projekt Avantgarde und Avantgardistischer Manifestantismus, in: Wolfgang Asholt und ders.: Der Blick vom Wolkenkratzer: Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta, GA 2000, S. 69-96, hier S. 70.
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Die Aufhebung der angenommenen Spaltung von Kunst und Leben im Manifest ist dabei zentrales Programm. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt der Funktion des Manifests ist der Modus des Zusammentreffens von „Aussagen“ (als Vorgang) und „Ausgesagtem“. Eine Variante dafür ist auf eine Formulierung Ecos zurückzuführen, wie sie Fähnders als für die Manifeste der Avantgarde bedeutsam nennt, und der damit ein Zusammentreffen von „intentio auctoris“ und „intentio operis“ im Manifest konstatiert.8 Zwei weitere Möglichkeiten, dieses Zusammentreffen begrifflich zu fassen, wären aber auch Levinas Unterscheidung von „le dit“ und „le dire“, Sagen und Gesagtem,9 oder Lacans „Subjektspaltung“ zwischen dem Subjekt der Aussage („sujet de l’énoncé“) und dem Subjekt des Aussagens („sujet de l’énonciation“).10 Doch für welche der Varianten man sich im Bezug auf das Manifest auch entscheiden möchte, für alle drei Formulierungen gilt, dass das Manifest sich in ihnen dort verorten ließe, wo Aussage und Ausgesagtes sich treffen und Identität behaupten. Diese Behauptung lässt sich so weit fortführen, dass Manifeste immer „anderen etwas sagen wollen“, und selbst wenn es sich dabei um widersprüchliche Aussagen handelt, ist zumindest das „Sagen-wollen“ im Manifest stets gegeben.11 Man könnte also zuspitzen, dass selbst dann, wenn sie nichts sagen, sie doch eben dieses Nichts aussagen. Und mit dieser Formulierung und der eingangs in diesem Abschnitt erwähnten Eigenschaft des Manifests, als Anrufung zu funktionieren, kann man ein weiteres Kriterium des Manifests ausmachen: den performativen Charakter dieses Textes. Der Text produziert seine eigenen Voraussetzungen, sein Subjekt der Aussage und sein Subjekt des Aussagens, immer mit. Gleichzeitig schafft er aber auch, einer seltsamen Schleife folgend, das 8
Umberto Eco: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, München 1996, S. 31 ff, zit. n.: Walter Fähnders und Helga Karrenbrock: „Ich sage nämlich das Gegenteil, aber nicht immer“. Die Avantgarde-Manifeste von Kurt Schwitters, in: Hubert van den Berg und Ralf Grüttemeier (Hg.): Manifeste: Intentionalität, Amsterdam/Atlanta, GA 1998, S. 57–90, hier S. 57.
9
Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht [frz. O. 1974], Freiburg/ München 1992, S. 29 ff.
10 Jacques Lacan: Das Seminar, Buch XI, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim 1996, S. 50; ders.: Schriften II, Weinheim 1999, S. 173 f. 11
Vgl. Fähnders/Karrenbrock 1998 (wie Anm. 8), S. 58.
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Resultat seines Aufrufs als potenzielle Zukunft, die es zu verfolgen und zu aktualisieren gilt. Das 1909 erschienene Manifeste du Futurisme, das als erstes futuristisches Manifest gilt, trug ursprünglich und auch später immer wieder den Zusatz „Gründung“, „fondation“, im Titel,12 was schon einen weiteren Charakter des Manifests anklingen lässt. Auch der Gründungsmythos, also die Zu- und Herschreibung einer eigenen Basis, einer ideologischen Heimat, ist Ziel und Programm des Manifests. Zu guter Letzt sei an dieser Stelle auch noch auf Freud verwiesen, der in seiner Traumdeutung, erschienen 1899, also gewissermaßen als Zeitgenosse des modernen Manifests, noch einen weiteren semantischen Bereich eröffnet: manifester Trauminhalt wird hier gegen latenten Trauminhalt abgegrenzt. Manifester Trauminhalt ist also das, was offenkundig, erkennbar, bestimmt ist, weil es im „Sprechen über“, also im Sprechen über den Traum, so erscheint, während der latente Trauminhalt erst mit sorgfältiger Analyse des manifesten Inhalts herausgearbeitet wird.13
II.
A MANIFESTO (ALS TEIL DES JRMIP)
Neben A Manifesto besteht die Arbeit ...and Europe will be stunned aus einer Videotrilogie. Die drei Teile, Nightmares, Wall and Tower und Assassination, zeigen verschiedene Momente in der Geschichte des JRMiP: Erstens: Die Rede des Anführers der Bewegung vor dem leeren und verlassenen, grasüberwucherten Warschauer „Stadion Dziesięciolecia“, der fordert: „Heal our wounds and you’ll heal us, without you we will remain locked in the past…Return today and Poland will change. Europe will change. The world will change.“14 Kameraeinstellung und Schauplatz rufen Assoziationen zu Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens hervor, der den nationalsozialistischen Reichsparteitag 1934 dokumentiert.15 (Abb. 4) 12
Ebd. S. 62 f.
13
Vgl. Sigmund Freud: Traumdeutung, Kapitel VI (Die Traumarbeit), in: ders.: Studienausgabe, Band II, Frankfurt am Main 1972, S. 280 ff.
14
Yael Bartana: And Europe Will Be Stunned / Mary Koszmary (Nightmares), 2007, one channel video and sound installation, 11 min.
15
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Triumph des Willens (Deutschland 1935), Regie: Leni Riefenstahl.
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Das grasüberwucherte Stadion mit dem vollen Namen „Stadion Dziesięciolecia Manifestu Lipcowego“ („Stadion des 10. Jahrestages des Juli-Manifestes“) trägt das Manifest als Signifikanten bereits in sich.16 Die abgefilmten grasbewachsenen Trümmer lassen in diesem Kontext an KZ- und die zugehörigen Gleisanlagen denken.
Abb. 4
Yael Bartana: Mary Koszmary (Nightmares), 2007, video still
Zweitens: Die Errichtung eines Kibbuz inmitten des ehemaligen Warschauer Ghettos, oder besser einer sogenannten Abb. 5 Yael Bartana: Zamach „Turm-und-Palisaden-Siedlung“, hebrä(Assassination), 2011, video still “ (gesprochen „chomá isch „ wemigdál“, zu deutsch „Mauer und Turm“), wie sie seit 1936 in Palästina von jüdischen Einwanderern binnen 24 Stunden aus vorgefertigten Bauteilen aufgebaut wurde und die an diesem Ort vierfach geschichtliche Referenzen mit sich trägt: Warschauer Ghetto bzw. Konzentrationslager der Nationalsozialisten, Kolonialismus und Imperialismus, Kibbuz und sozialistischzionistische Bewegung und uns zeitgenössische israelische Siedlungspolitik in Form der Errichtung der Mauer und des Zauns, offiziell als „israelische Sperranlagen“ bezeichnet, die um das Westjordanland gezogen werden. Und schließlich die Trauerfeier nach dem Attentat auf den Anführer des JRMiP (Abb. 5), die sozialistische und nationalsozialistische Großereignisse zitiert und sich in einer Demonstration in der Warschauer Innenstadt fortsetzt, in der Transparente wie „You can’t kill us all“, „Jews and Poles refuse 16
Das „Stadion Dziesięciolecia Manifestu Lipcowego“ wurde 1955 aus den Trümmern der während des Warschauer Aufstands zerstörten Häuser erbaut und war seit den 1980er Jahren nicht mehr in Betrieb. Das namensgebende Manifest war im Juli 1944 vom „Polnischen Komitee der nationalen Befreiung“ verfasst worden und diente zur Ermächtigung der kommunistischen Vereinigung, im Falle eines weiteren Vorstoßes der Roten Armee die polnische Regierung zu übernehmen. 2008 wurde das Stadion abgerissen und durch das neue Nationalstadion ersetzt.
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to be enemies!“ (auf Englisch und Hebräisch),17 „Faszyzm“, „More colors, less blood“, oder „Nationalizm=Terroryzm“ gezeigt werden. Allen drei Teilen ist gemein, dass sie Material aus verschiedenen historischen Momenten auf einen Punkt hinlenken und verdichten. Dabei ist zum einen auffällig, dass in dieser Verdichtungsbewegung alle Projekte, seien sie nationalsozialistisch, zionistisch, sozialistisch oder religiös-nationalistisch motiviert, auf diese Weise synchronisiert werden. Gleichzeitig arbeitet diese Verdichtung aber auch spaltend, indem sie die vermeintliche Einheit der sinnlichen Wahrnehmung im Video durch die überbordenden und widersprüchlichen Referenzen auftrennt und die zunächst synchrone Wahrnehmung des Videomaterials diachron werden lässt. Eine seltsame Gleichheit im Sinne einer Abwesenheit von zeitlicher und qualitativer Differenz stellt sich durch beide Bewegungen ein. An Stelle der Differenz tritt aber noch etwas, nämlich der Eindruck, etwas Unerhörtes und zugleich Absurdes zu verfolgen. Was allerdings in der Analyse der Arbeit am häufigsten begegnet, ist die eingangs erwähnte Zuschreibung „(mehr oder minder) fiktional“,18 wenn es um den Status des JRMiP geht. Ich werde auf diesen Punkt später noch einmal zurückkommen, zunächst aber das Manifest selbst untersuchen.
III.
EIN MANIFEST
A Manifesto beginnt nicht mit einer Forderung (sofern man diese als an ein bestimmtes Gegenüber gerichtete Begehrensäußerung versteht), sondern mit einem Wunsch oder Begehren zurückzukehren: „We want to return!“ Doch an wen richtet sich dieses Begehren? Der Titel „Jewish Renaissance Movement in Poland“ macht zumindest klar, wer wohin zurückkehren soll. 17
Sowohl der Wortlaut der Plakate als auch ihre hebräische und englische Sprache verweisen auf die Schilder der israelisch-palästinensischen Friedensbewegung, auf denen der Slogan „Jews and Arabs refuse to be enemies!“ zumeist dreisprachig, in Englisch, Arabisch und Hebräisch, verwendet wird.
18 Diese Formulierung bezieht sich unter anderem auf den Artikel Der Rat der Kreativen, in der Bartanas Arbeit als „mehr oder minder fiktionale Bewegung“ bezeichnet wird: http://www.artmagazin.de/szene/7017-rtkl-kunstaktivisten-berlin-der-rat-der-kreativen [Abruf: 1.8.2016]; für weitere Referenzen siehe Anm. 2.
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Abb. 6
Yael Bartana / The Jewish Renaissance Movement in Poland: A Manifesto, 2010, Plakat
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Die Namen anderer möglicher Territorien zur Gründung eines jüdischen Staates wie Uganda, Argentinien, Madagaskar, Palästina werden zurückgewiesen. Die Heterogenität der Orte und der Modalität ihres Auftauchens ist auffällig: Während „Uganda“ das Vorhaben britischer Kolonialmacht und der zionistischen Bewegung Theodor Herzls aufruft, ist „Madagaskar“ Signifikant eines nationalsozialistischen Projekts. „Argentinien“ wiederum ist nichts als bloße Spekulation, eine Verschwörungstheorie rechtsnationaler argentinischer und chilenischer Gruppierungen zur angeblichen Errichtung eines jüdischen Staats in Südamerika. „Palästina“ schließlich ist mehr und weniger als die bloße Potenzialität all dieser Projekte, real oder fiktional, zusammen: An diesem Ort liegt der einzige jüdische Staat, der je realisiert wurde, Israel, realisiert unter der Anrufung einer Wiederholung, der Einlösung oder Aktualisierung des biblischen Exodus. Gleichzeitig verweist die Bezeichnung „Palästina“ – nicht „Israel“! – auf eine Zeit, in der auch Israel noch bloße Potenzialität war. Oder auf die Gegenwart, in der „Palästina“ genauso irreal ist wie all die zuvor genannten Projekte. Doch diese Reihe lässt noch weitere Überlegungen zu: Von welchem Zeitpunkt der Geschichte her ist dieses Manifest geschrieben? Allen Signifikanten ist gemein, dass sie in etwa zur selben Zeit auftauchten: Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und damit deutlich vor der Staatsgründung Israels. Israel ist keine Option in diesem Manifest, Israel ist noch nicht einmal real. Diese Zeit ist aber auch die Zeit der Avantgarde und ihrer Manifeste, die in Bartanas Manifest mitgetragen und wiederholt werden. „It is Poland that we long for, the land of our fathers and forefathers.“ In diesen Worten drückt sich eine Sehnsucht nach einem Ort vor dem Holocaust aus. Und wer ist „wir“? „...the land of our fathers and forefathers“ lässt zunächst vermuten, dass mit diesem „wir“ alle diejenigen angesprochen sind, die polnisch-jüdischer Herkunft sind. Der nächste Paragraph begehrt mehr: „We want to see the squares in Warsaw, Łódź and Kraków filled with new settlements. Next to the cemeteries we will build schools and clinics. We will plant trees and build new roads and bridges.“ Das Wort „Siedlung“ löst Unbehagen aus, wo es einen semantischen Raum mit „jüdisch“ und „Palästina“ bildet. Siedlungen sollen die Leer-
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stellen in den Städten füllen und keinen Raum für Lücken geben. Auch ist dieses „Sehen“ interessant: der Blick soll sich an den gefüllten Plätzen sattsehen, imaginäre Vollständigkeit wird auf diese Weise heraufbeschworen. Und gleichzeitig zeigen die angesprochenen Friedhöfe an, dass es doch ein Wissen um die Geschichte gibt: sie wird nicht verleugnet, vielmehr parallelisiert mit einem weiteren Narrationsstrang: ganz an zionistische Projekte anknüpfend, werden Straßen, Brücken, Krankenhäuser, Schulen gebaut, das Land gleichsam durch Besiedlung erneuert. Und doch bleiben die Friedhöfe deutlich sichtbar daneben stehen. Vom Weiß des JRMiP-Symbols unterlegt strahlt die nächste Begehrensäußerung: „We wish to heal our mutual trauma once and for all.“ Der Wunsch, das Insistieren des Traumas möge aufhören, wenn nur die richtigen Maßnahmen ergriffen werden: hier leben und sterben, die Überreste der Toten sollen bleiben. Wenn man Heimat zurückführen möchte auf die Sesshaftwerdung des Menschen durch die Bestattung der Toten, die Toten also als Markierung dessen, wo man hingehört, dann ist die Heimatlosigkeit der europäischen Juden umso klarer im Bezug auf den Holocaust, wo es kein Grab gibt, das die Zugehörigkeit bestätigen könnte. Und so ist dieser Wunsch auch der Versuch der Restitution der zerstörten Bedeutungszusammenhänge, der imaginären Einheit, die durch den real erlebten Verlust im Symbolischen als Reste wiederholt werden. Diese Wiederholung, das Insistieren des signifikanten Rests, geht einher mit einem Begehren, das entsteht aus eben diesem Wunsch nach Restitution und das seinerseits den Möglichkeitsraum für eine neue Konstruktion von Geschichte schafft.19 19
Zu dem komplexen Verhältnis von Wiederholung, Begehren und der Konstruktion eines Neuen äußert sich Jacques Lacan in der Vorlesung zu Tyche und Automaton anhand von Freuds berühmter Schilderung des „Fort-Da-Spiels“ in Jenseits des Lustprinzips : „Freud, der die Wiederholung im Spiel seines Enkelkinds, in jenem wiederholenden fort-da zu erfassen sucht, mag zwar versichern, das Kind wolle damit dem Effekt des Verschwindens seiner Mutter entgegenwirken, indem es sich selbst in die Position des Akteurs bringt. Das ist von sekundärer Bedeutung. [...] Die Kluft, die das Auftreten dieser Abwesenheit einführt, und die immer offen bleibt, bleibt Ursache einer zentrifugalen Bahnung, in die nicht der andere stürzt, als Bild, auf das hin das Subjekt sich projiziert, sondern jene Spule, die mit ihm über einen Faden verbunden ist, den es in der Hand behält.“ Wiederholung, so definiert er dabei wenige Zeilen zuvor, ist für Freud keine „Wiederholung, die einer natürlichen Anlage oder irgendeiner Wiederkehr von g
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Wie diese Konstruktion geschehen soll, klingt auch im nächsten Satz an: „We are revivifying the early Zionist phantasmagoria.“ – „Zionistische Phantasmagorie“ schließt das Trugbild bereits ein. Es besteht kein Zweifel, dass es sich bei diesen Ideen in A Manifesto immer auch schon um Täuschungen handelt: „We reach back to the past — to the imagined world of migration, political and geographical displacement, to the disintegration of reality as we knew it — in order to shape a new future.“ Der Versuch, sich durch die Vergangenheit hin zur Zukunft zu arbeiten, liest sich wie ein Freud’sches Projekt. Es geht um „displacement“, Verschiebung als imaginierte Formel, die die Welt verändern soll. „The promised paradise has been privatized“ lässt sich in verschiedene Richtungen ausdeuten. Einerseits gibt es eine Abrechnung mit ideologischen Heilsversprechen (die in verschiedenen Ausführungen adressiert werden) und die letztlich in kapitalistischen Sinnzusammenhängen aufgehen. Andererseits ist das Wort „privatized“ im Zusammenhang mit „paradise“ auch ein möglicher Verweis auf einen Mangel, aber ein Mangel eines niemals bestehenden, sondern immer nur versprochenen Paradieses.20 Es stellt sich langsam der Eindruck ein, dass die unterschiedlichen Abschnitte des Manifests sich gegenseitig aufheben, widersprechen und durchkreuzen. Der Sprachduktus der einzelnen Teile schwankt stark zwischen verschiedenen ideologischen Strömungen, wie zionistischen oder nationalsozialistischen Projekten, aber auch beispielsweise dem der avantgardistischen Künstlermanifeste. „We shall face many potential futures as we leave behind our safe, familiar, and one-dimensional world. “ Möglichkeitsräume sind es, die Bartana hier Bedürfnissen zuzuschreiben wäre. Die Wiederkehr des Bedürfnisses ist auf Konsumption aus [...]. Dagegen verlangt die Wiederholung nach einem Neuen.“ Lacan 1996 (wie Anm. 10), S. 67 f. 20 Zudem ist das Wort „Paradies“, oder Hebräisch „Pardes“ (
) im Talmud in der allegorischen
Geschichte der Vier zu finden, die in den Pardes(-Garten) eintreten und von denen nur einer unversehrt wiederkehrt. Pardes ist nach talmudischer Auffassung ein Akronym für die vier verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der biblischen Texte (wörtlich, allegorisch, interpretativ und mystisch) und bezeichnet das höchste Wissen. Vgl. hierzu Giorgio Agamben: Pardes. Die Schrift der Potenz, in: Michael Wetzel und Jean-Michel Rabaté (Hg.): Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin 1993, S. 3–18.
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interessieren, Potentialitäten, nicht Faktizität. Das wird im nächsten Abschnitt deutlich, wenn Bartana definiert, wer in diesem Manifest angesprochen ist: „We direct our appeal not only to Jews. We accept into our ranks all those for whom there is no place in their homelands — the expelled and the persecuted. There will be no discrimination in our movement. We shall not ask about your life stories, check your residence cards or question your refugee status. We shall be strong in our weakness.“ Nicht nur Juden, sondern auch all jene, die keinen Platz in ihrem Heimatland finden, umfasst die Aufforderung. Damit führt sie, wie so oft in diesem Manifest, ihr eigenes Projekt ad absurdum. „The Jewish Renaissance Movement“ ist nicht nur auf Juden beschränkt, und so ist die Forderung vielleicht als ein Exempel zu verstehen, als ein Zeichen der Solidarität mit all denen, die keine Heimat besitzen oder die sie verlassen müssen. Aber die Absicht scheint tiefer zu greifen als das. Die Einladung an „alle, die keinen Platz in ihrem Heimatland haben“, höhlt den Namen der politischen Bewegung aus und macht ihn zu einem leeren Signifikanten, der auf nichts als sich selbst verweist. Die Unterscheidung (die für ein Manifest so wichtig zu sein scheint) zwischen Angesprochenen und Ausgeschlossenen, wird ins subjektive Erleben des Lesers verschoben. „We shall be strong in our weakness“, zeigt die Subversion des zuvor vorgenommenen Schritts. Politische Stärke und Macht sind nicht das Ziel, Stärke findet nur statt in der Schwäche, die die Position des gesellschaftlich Ausgeschlossenen auszeichnet. Wieder lässt sich eine Differenz zu dem erkennen, was ein Manifest sonst ausmacht: Der Wille, die politisch Unterdrückten an die Macht zu bringen, wie es im politischen Manifest gefordert wird, oder die Exklusivität der repräsentierten Gruppe und ihre Ideen an die Spitze gesellschaftlicher Erneuerung zu stellen, wie es oftmals in avantgardistischen Künstlermanifesten proklamiert wird, ist in diesem Manifest nicht vorhanden. „We long to write new pages into a history that never quite took the course we wanted“ – letztlich formuliert das Projekt noch einmal Sehnsucht, nicht Willen, als Motivation. Geschichte taucht als bloßer Möglichkeitsraum auf, nicht als Faktizität. Mehr noch, die zeitliche Abfolge dieses Satzes scheint ebenso gestört wie das ganze Projekt. Eine Geschichte, die nie den Verlauf genommen hat, den wir wollten, das ist von der Vergangen-
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heit gesprochen in eine bereits bestehende Zukunft. Oder um es mit Lacan zu sagen, „Das was gewesen sein wird“: „Was sich in meiner Geschichte verwirklicht, ist nicht die abgeschlossene Vergangenheit (passé défini) dessen, was war, weil es nicht mehr ist, auch nicht das Perfekt dessen, der in dem gewesen ist, was ich bin, sondern das zweite Futur (futur antérieur) dessen, was ich für das werde gewesen sein, was zu werden ich im Begriff stehe.“21 An anderer Stelle sagt Lacan, es ginge weniger darum „sich der Geschichte zu erinnern, als sie noch einmal zu schreiben“.22 Dies scheint sich perfekt auf das anwenden zu lassen, was Bartana mit ihrem Manifest versucht. Eine letzte Beobachtung zu diesem Text soll dem letzten Abschnitt gelten: „With one religion, we cannot listen. With one color, we cannot see. With one culture, we cannot feel. Without you, we can’t even remember. Join us, and Europe will be stunned.“ In diesem letzten Abschnitt wird noch einmal verdeutlicht, dass dieses Manifest nicht funktioniert wie andere Manifestationen. All das, was in diesem Text einheitsstiftend war, zerbricht in diesen letzten Zeilen. Es geht hier nicht um imaginäre Einheit, sondern, wenn man es in kurzen Worten fassen möchte, um reale Differenz.
IV.
EIN MANIFEST?
Inwieweit zeigt Bartana, ob und wie man heute ein Manifest schreiben kann? Zunächst lässt sich festhalten, dass diese Frage sowohl das künstlerische als auch das politische Manifest betrifft. Dies ist zuerst dem Umstand geschuldet, dass jede politische Äußerung auch eine ästhetische Dimension enthält, aber auch umgekehrt jede ästhetische eine politische. Mit dem Aufbruch in die Moderne, also präzise zur Zeit der aufkommenden politischen und künstlerischen Manifeste, bricht auch die als selbstverständlich wahrgenommene Übereinstimmung von politischer Äußerung und ihrer 21
Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: ders.: Schriften III, Weinheim 1986, S. 71–169, hier S. 143.
22 Jacques Lacan: Das Seminar, Buch I, Freuds technische Schriften, Weinheim 1990, S. 20.
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ästhetischen Ausformung auseinander und muss – gerade paradigmatisch in der Form des Manifests und als solches immer nur partiell – behauptet werden. Der französische Philosoph Jacques Rancière denkt das Verhältnis von Politik und Kunst in diesem Sinne miteinander verschränkt: „Kunst ist dadurch politisch, dass sie einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit aufteilt […]. Sie ist eine spezifische Form der Sichtbarkeit, eine Veränderung der Beziehungen zwischen den Formen des Sinnlichen und den Regimen der Bedeutungszuweisung, zwischen unterschiedlichen Geschwindigkeiten, aber auch und vor allem zwischen den Formen der Gemeinsamkeit oder der Einsamkeit. Denn bevor Politik die Ausübung von Macht oder ein Machtkampf ist, ist sie die Aufteilung eines spezifischen Raums der ‚gemeinsamen Angelegenheiten‘.“23 Dieser Abschnitt aus der Aufteilung des Sinnlichen eröffnet ein Spektrum an Fragen, die sich im Bezug auf die Manifeste der Avantgarden im Gegensatz zu Bartanas Manifest stellen. Wenn wir die Avantgarde, und auch dieser Gedanke trifft sich mit den Überlegungen Rancières, als Bewegungen betrachten können, deren Manifeste Ausdrucksmittel ihres eigenen Programms sind und der Definition und Anrufung des in ihm entstehenden (Künstler-)Subjekts dienen, und sich somit ihren eigenen Gründungmythos zuschreiben, dann geschieht dies unter der Voraussetzung, dass es eine Verbindung zwischen Ästhetischem und Politischen in diesen Manifesten gibt. Ranciere setzt hinzu: „In gewisser Weise war die Postmoderne lediglich der Name, unter dem sich eine Reihe von Künstlern und Künstlerinnen, Denkern und Denkerinnen bewusst gemacht haben, was die Moderne war: der verzweifelte Versuch, das ‚Eigene der Kunst‘ auf einer simplen Teleologie der Evolution und der historischen Brüche zu begründen.“24 Es ist bemerkenswert, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Kunst eben genau über dieses „Bewusstmachen“, das oftmals in einer kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Produktionsbedingungen 23 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, 2., durchges. Aufl., Berlin 2008 [frz. O. 2000], S. 77. 24 Ebd. S. 48.
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mündet, eine kritische „Verdopplung“ dieser Bedingungen, stattgefunden hat. Damit wird letztlich die Grenze zwischen Ästhetik und Politik nicht offengelegt, sondern in dieser Verdopplung verschleiert, weil darin erneut eine Identität zwischen Sagen und Gesagtem behauptet wird.
V.
DAS REALE EINER FIKTION
Yael Bartanas A Manifesto, und auch das JRMiP, gehen einen anderen Weg. Indem Bartana die Funktion des Manifests als Gründungsmythos aufzeigt und ein fiktionales Projekt in die reale Welt einführt und dort wirksam werden lässt, verweist sie auf das, was man mit Walter Benjamin und Gershom Scholem als „Geltung ohne Bedeutung“25 bezeichnen könnte: Zwar entleert sich Bartanas ebenso irrwitziges wie widerständiges Manifest von jeglicher Bedeutung, indem es sich immer wieder selbst durchkreuzt. Dennoch entfaltet es Geltung, wird wirksam wie jedes andere Manifest. Eine andere Weise, diese Funktion zu umschreiben, wäre Blanchots Begriff des „desœuvrement“, der „Entwerkung“.26 Das Manifest könnte demnach als ein Werk der Entwerkung beschrieben werden, etwas, was signifikant leer, aber dennoch wirksam ist. A Manifesto sagt weder etwas noch nichts aus. Es beansprucht keine Bedeutung, wohl aber Geltung. Weil es sich Bedeutungsproduktionen widersetzt, legt es die Verbindung von Politik und Ästhetik offen und lässt ihre Implikationen unbeachtet. In Bartanas Projekt geht es nicht um Realismus, und es ist auch nicht die Fiktion des Projekts, die es antreibt, sondern um ein Drittes, um das Reale einer Fiktion. Damit arbeitet sie, ganz im Sinne von Rancières „ästhetischem Regime“, mit Fiktion als Anordnung von Handlungen. Es stimmt, Bartanas Projekt ist durch und durch fiktional. Aber nur durch Fiktionalität ist es Bartana 25 Vgl. dazu den Briefwechsel von Gershom Scholem und Walter Benjamin in Bezug auf die Funktion des Gesetzes in den Erzählungen Kafkas, insbesondere Scholems Brief an Benjamin vom 20.9.1934: Gershom Scholem (Hg.): Walter Benjamin und Gershom Scholem: Briefwechsel 1933–1940, Frankfurt am Main 1980, S. 175. 26 Maurice Blanchot: Der literarische Raum [frz. O. 1955], Zürich 2012, S. 14 f.
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möglich, eine wirksame Änderung im Realen zu schaffen. Sie deckt dabei auf, dass diese Fiktion nicht nur ihr eigenes, sondern auch jedes politische und künstlerische Manifest betrifft und auch diese nur auf Basis ihrer eigenen Fiktionalität möglich sind. Doch anders als diese anderen Manifeste widersetzt ihr Manifest sich seiner selbst und kann damit eine Position der Offenheit für die Wirksamkeit des Politischen im Ästhetischen, aber auch des Ästhetischem im Politischen, aufrechterhalten.
MICHA BRAUN
„THE WORLD CANNOT FUNCTION IN THE LONG RUN WITHOUT SURREALISM.“ MANIFESTE UND MANIFESTATIONEN NEO-AVANTGARDISTISCHER AKTIONSKUNST IN POLEN UND DER SOWJETUNION NACH 1975
„The world will not speak of a crisis any more. Let’s not back off when we have got so far. The whole world is a work of art. […] Let’s have fun, our destiny is not a cross to bear.“ 1 Waldemar „Major“ Fydrych
1
Waldemar Fydrych: Manifest surrealizmu socjalistycznego [1981]. Autorisierte englische Fassung,
zugänglich
unter
http://www.orangealternativemuseum.pl/#manifesto-of-socialist-
surrealism [Abruf: 1.2.2017].
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Diese aktivistischen Kernsätze eines Manifests des sozialistischen Surrealismus erscheinen angesichts der politischen, sozialen und kulturellen Lage im Europa der 2010er Jahre hochaktuell und laden zum Reflektieren neo-avantgardistischer Spuren in gegenwärtiger Kunst und auch Politik ein. Verfasst wurden sie allerdings im Jahre 1981, unmittelbar vor der Ausrufung des Kriegszustandes in der Volksrepublik Polen. Der Kunstgeschichtsstudent Waldemar Fydrych veröffentlichte sein Manifest in der Breslauer Studentenzeitschrift Pomarańczowa Alternatywa, welche später einer ganzen kunstaktivistischen Bewegung den Namen geben sollte. Das Dokument war zugleich eine Absage an alle politischen Hoffnungen wie auch ein Appell an die künstlerische Kreativität, mit dem Alltag im real existierenden Sozialismus produktiv umzugehen. Seine radikale Absage an eine nur kontemplative Schau des Spektakels des Sozialismus markierte nicht nur die Theatralität des multimedialen Gesamtkunstwerkes der „Traumfabrik Kommunismus“ (B. Groys), sondern entlarvte zugleich die Strategien der Oppositionsbewegungen als auf dramatische Inszenierung und ritualisierten Protest abzielende Wiederholungen des eigentlich zu bekämpfenden ästhetischen Regimes.2 In der Sowjetunion spielten sich zu gleicher Zeit ganz ähnliche Vorgänge ab – junge Künstler des Moskauer konzeptualistischen Kreises entwickelten zunächst Strategien der Privatisierung, Ironisierung und Profanisierung des offiziellen kulturellen Diskurses, die es ihnen erlaubten, eine Beobachterposition gegenüber dem Spektakel des sowjetischen Alltags und seiner auf Überwältigung zielenden visuellen Kultur einzunehmen.3 Zugleich publizierte der Philosoph und Kunsthistoriker Boris Groys seine manifestartige Analyse Moscow Romantic Conceptualism (1979) in der Pariser Exilzeitschrift A–Ya.4
2
Vgl. hierzu Berenika Szymanski: Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989. Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarność, Bielefeld 2012, S. 209–219.
3
Vgl. zum Verhältnis der hier beschriebenen Künstler und Aktivisten zur verborgenen Spektakularität der sozialistischen Alltagkultur meinen Aufsatz: „Proletarier aller Länder, seid schön!“ Strategien der Aneignung und Überschreitung spektakulärer Alltagskultur in Polen und der Sowjetunion der 1970er und 1980er Jahre, in: Elisabeth Fritz, Simon Frisch und Rita Rieger (Hg.): Spektakel als ästhetische Kategorie: Theorien und Praktiken, 2017 (in Vorbereitung).
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Diese beiden Bestimmungsversuche zu Künstlern der ‚letzten Generation‘ des Sozialismus möchte ich daraufhin untersuchen, wie sie sich sowohl retrospektiv an einer Aneignung der stets unterdrückten Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts versuchten als sie auch prospektiv für eine Infragestellung und Überschreitung dieser ‚Traditionslinien‘ einstanden, die sich insbesondere in Formen der Aktionskunst manifestierten.
1.
„LET US LOVE THE POLITICIANS“ – VOM (WIEDER-)EINZUG DES SURREALISMUS IN POLEN
Am 7. November 1987 sollte in Polen auch der siebzigste Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution mit einer im Fernsehen übertragenen Zeremonie vor einer Gruppe ausgewählter Warschauer Jubilanten begangen werden. Etwa eine Woche zuvor wurde in der Innenstadt Wrocławs/Breslaus ein Flugblatt verbreitet, welches verkündete, dass in diesem Jahr dem historischen Ereignis bereits an seinem Vorabend gedacht werden sollte. Das Schriftstück hielt die Bewohner der Stadt nicht nur an, sich feierlich zu kleiden, indem sie etwas Rotes tragen sollten: Schuhe, Hüte, Schals oder wenigstens ein Baguette mit Ketchup; auch rote Flaggen oder rot lackierte Fingernägel waren erwünscht. Sie sollten auch an diversen Aktionen teilhaben, die die Ereignisse des Oktober 1917 rekapitulierten.5 Es gab unter anderem einen aus Kartons gefertigten Panzerkreuzer Potemkin und eine Aurora aus Leintüchern, eine Horde von Proletariern, eine Gruppe von Kronstadt-Matrosen, eine Rote Kavallerie und einen Engel der Revolution. Als zu bestürmendes Winterpalais wurde die zentral am Breslauer Marktplatz gelegene 4
Stehend für den ersten und letzten Buchstaben des kyrillischen Alphabets. 1979 von Igor’ Šelkovskij und Aleksandr Sidorov gegründet, war es das erste ‚Magazin für inoffizielle russische Kunst‘. Zur Geschichte und Rezeption des Magazins im Westen wie in der SU vgl. Vjačeslav Terpugov, Zachar Kolovskij und Anna Kolupaeva (Hg.): A–Ja. Žurnal neoficjal’nogo russkogo iskusstva. 1979–1986. Reprintnoe izdanie, Moskva 2004, S. III–XXIV.
5
Siehe dazu und zur nachfolgenden Schilderung der Vorgänge Szymanski 2012 (wie Anm. 2), S. 223–258, insbes. S. 232 f.; George Branchflower: Oranges and Lemons, in: Here & Now 7–8 (o. J.), online zugänglich unter http://www.driftline.org/cgi-bin/archive/archive.cgi?list=spoon-archives/avant-garde.archive/papers/orange.txt [Abruf: 10.8.2016], sowie Juliusz Tyszka: The Orange Alternative. Street Happenings as Social Performance in Poland under Martial Law, in: New Theatre Quarterly, Bd. 14, 1998, H. 56, S. 311–321, hier S. 318 ff.
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Bar Barbara gewählt, in welcher es Rote-Beete-Suppe und andere entsprechende Gerichte zu essen geben sollte. Und so herrschte am späten Nachmittag des 6. November ein ordentliches Durcheinander auf der zentralen Einkaufsstraße ul. Świdnicka. Große Menschengruppen riefen „Revolution!“ oder sangen die Internationale. Mit einer beachtlichen Menge von Bannern wurden Forderungen wie die nach einer Rehabilitation Leo Trotzkis, nach einem Acht-Stunden-Tag für die Miliz oder einfach nach Borschtsch gestellt. Obwohl die Miliz, die Staatssicherheit und andere Staatsorgane durch die Flugblätter vorinformiert und auf gewisse Aktionen im öffentlichen Raum vorbereitet waren, überstieg die schiere Masse der oft zufällig Beteiligten und die vielen Zentren der Aktionen ihre Kapazitäten. Am Ende wurden etwa 150 der mehreren Tausend Teilnehmer verhaftet, welche die Polizeiautos und später das Hauptquartier der Miliz füllten. Augenzeugen berichteten, dass dort die offiziellen Feierlichkeiten aus Moskau im Fernsehen zu sehen waren, was die Festgenommenen veranlasste, die Große Oktoberrevolution mit Gesang und Skandierungen lautstark weiterzufeiern.6 Mittels solcher und ähnlicher Spektakel erarbeitete sich ein Kreis von Studenten und Absolventen der Universität Wrocław und der Breslauer Kunsthochschule, der sich selbst Pomarańczowa Alternatywa (Orange Alternative)7 nannte, in den 1980er Jahren eine ernstzunehmende Rolle in der Reihe der oppositionellen Bewegungen in der Volksrepublik Polen. Eine solche künstlerisch-politische Umdeutung der sozialistischen Lebensrealität stellte jedoch weder einen besonderen Einzelfall dar, noch kam sie aus dem luftleeren Raum. Bereits während der 1960er und 1970er Jahre war das post-stalinistische Tauwetter auch in die westlicheren Regionen des Ostblocks vorgedrungen und hatte eine erhebliche Entspannung in der polnischen sozio-politischen Szene bewirkt. Nach den blutigen Studentenunruhen von 1968 und den großen Generalstreiks von 1970, als Dutzende Demonstranten erschossen worden waren, übte das Regime einen relativ liberalen Umgang mit zivilgesellschaftlichen, studentischen und Künstlermilieus – bei zumindest äußerlicher Aufrechterhaltung des Status quo. 6
Vgl. den Augenzeugenbericht von Wojciech Marchlewski, zitiert in: Tyszka 1998 (wie Anm. 5), S. 320.
7
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Fortfolgend abgekürzt mit PA.
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Eines der Zentren für zeitgenössische Kunst, alternatives Theater und politisch aktive Studentenorganisationen bildete dabei Wrocław. Es lag weitab der Hauptstadt und war mit vielfältigen kritischen und intellektuellen Kreisen und Institutionen ausgestattet.8 Noch in diesem liberalisierten Kontext, kurz vor der Machtergreifung des Militärs, veröffentlichte Waldemar Fydrych, eine spätere Schlüsselfigur der PA, in der Zeitschrift der zunächst studentischen Bewegung sein Manifest des sozialistischen Surrealismus (Abb. 1). Er lehnte sich damit unmittelbar an westliche kunstphilosophische Strömungen des Situationismus und des Surrealismus an, aber auch an künstlerische Netzwerke und Einzelkünstler in Polen, die sich der Wiederentdeckung der Avantgarde verschrieben hatten. Fydrych erklärte darin die sozialistische Realität in all ihren Erscheinungen zu einem spektakulären Kunstwerk, zu welchem jeder beitragen könne und beizutragen habe. Niemand dürfe daher nur abwarten und auf Besserung hoffen – ganz im Gegenteil sollte die politische, soziale wie die ästhetische Krise der Gegenwart durch selbständige Produktion künstlerischer Situationen bekämpft werden. „The socialist times are particularly beneficial for the development of arts. […] The only solution for the future and for the present is surrealism. […] The whole world is a work of art. Even a single policeman standing in the street is a piece of art. Let’s have fun, our destiny is not a cross to bear. What sense does it make to suffer when you can enjoy yourself.“9 Anstatt also zu rebellieren, schlug Fydrych kreative Spiele mit dem real existierenden Sozialismus vor – und zeigte dabei eine besondere Vorliebe für die surrealistische Verfremdung der ästhetischen wie soziokulturellen Alltagskultur. Die Aktivisten der PA nutzten die Medien von Demonstration und öffentlicher Zurschaustellung, welche sonst den Staatsorganen vorbehalten waren und banden in ihre Kommunikationsstrategie grafische und semantische Elemente offizieller Verlautbarungsmedien wie Tages8
Vgl. Tyszka 1998 (wie Anm. 5), S. 311–313.
9
Ich zitiere hier und im Folgenden aus der autorisierten englischen Übersetzung des Manifests (wie Anm. 1).
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Abb. 1
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Waldemar Maria Fydrych: Manifest surrealizmu socjalistycznego, 1981
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zeitungen und Banner ein. Dabei veränderten sie oft nur kleine Details, um ihnen eine surrealistische Note zu verleihen. Die populärste war der Slogan auf der eigenen Zeitschrift Pomarańczowa Alternatywa: „Wszyscy proletariusze – bądźcie piękni!“ („Alle Proletarier, seid schön!“), eine Abwandlung des berühmten Mottos von Marx und Engels, welches nahezu jede Zeitung des Ostblocks zierte. Sie entmonopolisierten auch den Gebrauch von Spruchbändern und wandelten diese in positiv besetzte Ausrufe um wie „Wir sind dafür!“, „Liebt die Volkspolizei!“, „Lang leben die Geheimdienstagenten!“ Damit knüpfte die PA an Traditionen an, die von den surrealistischen Anfängen um André Breton über die nur kurze Weiterführung der Avantgarden im Mittel- und Osteuropa der unmittelbaren Nachkriegszeit10, die erst zwanzig Jahre später durch Tadeusz Kantor nach Polen eingeführte Theorie und Praxis des Happenings bis hin zur Situationistischen Internationale um Guy Debord und Raoul Vaneigem reichten. Gemein ist all diesen Bewegungen neben ihrer avantgardistischen Forderung, die Grenzen zwischen Kunstwerk und alltäglichem Leben aufzulösen, dass die gemeinsame Imagination den Sieg über jegliches Konzept von Realität davontragen solle. Fydrych beruft sich ausdrücklich auf eine Internationale der Phantasie: „The manifest is written for all the minds of the world. […] You are well aware that Imagination means a world without limits.“ Nach Fydrychs Diagnose mangelte es der Welt des real existierenden Sozialismus – und nicht nur dieser – an Phantasie; ein Mangel, dem er gern Abhilfe schaffen wollte. Er erklärte kurzerhand das Leben in der sozialistischen Gesellschaft und insbesondere die Äußerungen seines politischen und gesellschaftlichen Apparates zum Kunstwerk, welches allein durch aktive Anschauung die Phantasie noch jedes Einzelnen anrege. Dabei spielt das politische Regime in seiner sozialen und kulturellen Mangelhaftigkeit eine wesentliche Rolle für die ästhetische Position Fydrychs: „The politicians have always remained surrealists. Let us love the politicians. The philosophers defeated. Let us love the politicians.“ 10 Siehe Piotr Piotrowski: In the Shadow of Yalta. Art and the Avant-garde in Eastern Europe, 1945–1989, London 2009, S. 33–57, insbes. S. 46 ff.
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In einer Phase des Aufbruchs, im Kontext anhaltender theoretischer wie praktischer Auseinandersetzungen mit dem Dogma des sozialistischen Realismus, kommt ein solcher Aufruf zum sozialistischen Surrealismus, der scheinbar nur die Vorzeichen umkehrt, zunächst etwas leichtfüßig und nahezu selbstverständlich daher. Doch war der relativ liberale Kontext in Wrocław zu Anfang der 1980er Jahre lang erkämpft worden und dauerte zunächst auch nur bis zur Ausrufung des Kriegsrechtes an. Aus dem – wenn man es so nennen kann – institutionellen Zusammenhang der „Konterkultur“ geboren, etablierten sich in den 1970er Jahren in den regionalen Zentren abseits der Hauptstadt (in Gdańsk, Łódź, Kraków und eben Wrocław) Galerien, Ausstellungen und Aktionsorte, welche es dem von Alfrun Kliems facettenreich beschriebenen ‚Underground‘ ermöglichten, an unterdrückte Traditionen und subversive Artikulationsformen anzuknüpfen.11 So lassen sich in aller Knappheit Włodzimierz Borowskis Synkretistische Vorführungen, Jerzy Bereś’ ritualisierende Aktionen, die urbanen Interventionen der Akademia Ruchu oder die Performances von Elżbieta und Emil Cieślar um die Figur des Stańcyzk als dezidiert im Kunstkontext verortete Aktionsformen aufrufen, um den subkulturellen Ereignishorizont der 1970er Jahre zu charakterisieren.12 Waldemar Fydrych und seine Mitstreiter entstammten einem anderen Zusammenhang – ihre ersten Aktionen fanden an der Universität statt und richteten sich, marxistisch informiert, gegen die „Entfremdung des in einer Industriegesellschaft lebenden Menschen von sich selbst“13. So erklärt sich vermutlich der zugleich intellektuellenfeindliche wie im intellektuellen Jargon verfasste Ton des Manifestes: „And who grafted intellectual bigotry in the minds of a generation? It is the philosophers who are also at fault. What do the philosophers do to the world? […] We shall soon get rid of the philosophers.“ Alfrun Kliems spricht dem Manifest Fydrychs eine „gewisse aufgesetzt rebellische, eklektizistische Harmlosigkeit“ zu, welche auch sein ästheti11
Siehe Alfrun Kliems: Der Underground, die Wende und die Stadt. Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa, Bielefeld 2015.
12
Siehe dazu Wojciech Włodarczyk: Kunst in Polen in den Jahren 1918–2000, Warszawa 2000, S. 127–152, sowie ausführlicher Piotrowski 2009 (wie Anm. 10), S. 190–206, 288–302.
13
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Zit. nach Szymanski 2012 (wie Anm. 2), S. 213.
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sches Programm einschließe, „das abermals an Breton und dessen Postulat anschließt, der ‚gute Geschmack‘ stelle einen ‚ausgesprochenen Makel‘ dar“14. Zumindest gesteht sie ihm zu, sich im Feld der subversiven Affirmation zu bewegen, welches ein „‚Bewohnen der Diskurse in der Sprache der Diskurse‘, ein ‚Sich-Bemächtigen‘ dieser Sprache und ihre Überschreitung als permanente Grenzverschiebung, immer auch im auf den (machtvollen) Diskurs gerichteten Begehren“15 auszeichne. Allerdings würden die späteren Aktionen der PA niemals einen ernsthaft irritierenden oder gar schmerzhaften Nonsensgrad erreichen, wie er etwa Aktionen der Gruppe TotArt in Danzig oder andere postsurrealistische Aktionsformen charakterisierte. Dies aber hängt von der Perspektive auf Non-Sens ab: Wenn darunter ein rein mimetisches Verballhornen semantischer Einheiten verstanden wird, sind die Aktionen der PA womöglich vor allem als Parodien beschreibbar, die nichtsdestotrotz ihre Wirksamkeit entfalten können. Doch findet man bei Fydrych ein fundamentales (und historisch älteres) Verständnis von Realität, Ästhetik und ihrem Verhältnis zueinander. Die zentral im Text platzierte Herleitung, warum ausgerechnet surrealistische Positionen in Zeiten des Spätsozialismus angebracht sind, weist darauf hin: „Luckily, even in the moments least propitious for surrealism, it has always found refuge in public toilets of every city. Advisable. I recommend such spiritual wanderings. It was there that Icarus soared. […] For nowhere is there such a close relation between relief and the aesthetic feeling.“ Das Aufgreifen eines solch basal-leiblichen Motivs überrascht nur auf den ersten Blick. Wenn man den sehr wohl auf den Körper und seine Ausscheidungen zu beziehenden ökonomischen Kontext der polnischen 1980er Jahre betrachtet, in welchem es unter anderem grundlegend an Toilettenpapier und anderen Hygieneartikeln mangelte, erscheint Fydrychs Wortwahl schon weniger zufällig. So gab es in den Jahren 1987/88
14
Kliems 2015 (wie Anm. 11), S. 340.
15
Ebd. Zum Begriff der ‚subversiven Affirmation‘ siehe grundlegend Sylvia Sasse und Inke Arns: Subversive affirmation. On mimesis as a strategy of resistance, in: Maska. Performing Arts Journal, Bd. 21, 2006, H. 3–4, S. 5–21, sowie weitere Beiträge der Ausgabe.
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mehrere Aktionen der PA, bei denen unter dem Titel Kto się boi papieru toaletowego? (Wer hat Angst vor Toilettenpapier?) ebensolches, aber auch Damenbinden und andere knappe Hygieneartikel auf der Straße verteilt wurden, was als unmittelbarer Ausdruck für den Fortschritt des Sozialismus gedeutet werden sollte.16 Auf einer weiteren Ebene wurde hier nicht nur das sozialistische Regime ob seiner Unfähigkeit zur Versorgung der eigenen Bevölkerung zur Deckung basalen Grundbedarfs aufs Korn genommen. Vielmehr stellt sich der Leib als erstes und primäres Subjekt und Objekt der Imagination, als Träger und Medium von Phantasie und ästhetischem Widerstandspotenzial einem rein rationalistisch argumentierenden, ideologischen Menschenbild entgegen. Ganz in der Tradition der Surrealisten um André Breton oder Louis Aragon wird hier die Befreiung des Körpers und Individuums von Konvention und Moral eingefordert und gegen die Einengungen der Realität beziehungsweise eher eines geforderten Realismus verteidigt. Fydrychs Nonsens verweist hier also auf die basal-leiblichen Grundbedingungen menschlichen Lebens, die weder einer ideologischen Durchdringung noch einer rationalen Ausdeutung bedürfen, auch wenn dies natürlich – Foucault hat es uns eindringlich vorgeführt – immer wieder unternommen wurde und wird. Damit aber verortet sich sein Manifest, vor allem aber die durch ihn und andere initiierten Happenings und Straßenaktionen der späteren 1980er Jahre, in einem ästhetischen wie theatralen Diskurs, der weit älter ist als die klassische Moderne (worauf nicht nur Ikarus verweist) und der seine Legitimation aus einer grundlegenden Perspektivverschiebung auf das alltägliche wie das ideologisch durchdrungene Gemeinschaftsleben genauso wie auf das vorherrschende Verständnis vom Menschsein und seiner angemessenen Darstellung erhält.17
16
Siehe Branchflower o. J. (wie Anm. 5), o. S., sowie Szymanski 2012 (wie Anm. 2), S. 227 f.
17
Zur Leib-Körper-Differenz sowie zu weiteren anthropologischen und historischen Voraussetzungen von ‚Menschendarstellung‘ und/oder Schauspielkunst vgl. Gerda Baumbach: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Bd. 1: Schauspielstile, Leipzig 2012, S. 153–199.
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Abb. 2
Gruppe SZ: Čtenie zaklinanij unitazu / Casting a magical spell on a lavatory (Serie Samooborony ot veščej / Series Self Defense Against Things), 1981, Foto: Viktor Skersis
2.
„ESSENTIALLY, IT IS THE SAME THING AS DYING“ – MANIFESTATIONEN ‚KONZEPTUALISTISCHER‘ ACTION ART
An einigen Beispielen aus dem sowjetischen Kontext möchte ich solchen Verund Entortungen beziehungsweise De- und Rekontextualisierungen ästhetischer Positionen der Moderne weiter nachgehen. Beginnen wir dabei mit jenem Abort, mit welchem die Betrachtungen von Fydrychs Text endeten. „My pale-bellied friend, you’re like the wonderful lily, blossoming in the foul place! Oh, how unhappy I am that you, You! cannot like be [sic!] a free bird flying among the white clouds. Oh, how beautiful you would be, pulling the tinkling cast iron into the sky! But who? Who bolted you down to the floor? Who poured the cement over your base? Who is now celebrating your immobilized state? The Chairs! Squeaking bastards of a soft-eared dog, eaten by an inferiority complex because of their darkness and weakness, they laugh over you, you, the son of Hercules.“18 18 SZ Group. Viktor Skersis—Vadim Zakharov. Collaboration, hg. v. Alexandra Oboukhova und Vadim Zakharov, Ausst.-Kat. E.K.ArtBureau Moscow, Moskva 2004, S. 63.
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Zu sehen ist hier (Abb. 2) Vadim Zakharov, neben Viktor Skersis Initiator und Mitglied der Gruppe SZ. Er brachte im Jahr 1981 diesen magischen Spruch gegenüber einem Toilettenbecken aus, um es gegen die Stühle auszuspielen. Ein ähnlicher, etwas kürzerer Text existiert auch für die Gegenrichtung. Diese nur fotografisch beziehungsweise als Textvorlage dokumentierte Aktion gehört zu einer ganzen Serie von Handlungen und später auch Workshops mit dem Titel Samooborony ot veščej (Selbstverteidigung gegen die Dinge, 1981–82). Skersis und Zakharov erschreckten Schränke und schüchterten Türen und Tische ein, verleumdeten Kühlschränke oder liebkosten einen Fernseher. So intervenierten sie in den alltäglichen Umgang des Menschen mit den ihn umgebenden Objekten und organisierten Selbstverteidigungskurse für entfremdete Städter. Diese halböffentlich durchgeführten Aktionen waren tatsächlich auf so etwas wie ‚Heilung‘ von einer kulturell bedingten Entfremdung gerichtet. Sie sollten Anleitung bieten für ein körperlich und mental gesünderes Leben in der Gegenwart des real existierenden Sozialismus, ohne dabei Aufstandsphantasien zu wecken.19 Das erinnert wiederum nicht zufällig an die Bestrebungen der modernen Avantgarden, das Leben und die Kunst, den Alltag und die Ideologie und nicht zuletzt die Realität mit der Imagination wieder stärker in Berührung, wenn nicht in Übereinstimmung zu bringen. Der Text, der solchen Manifestationen einer – wenn auch absichtsvoll ins Komische gewendeten – Wiederaneignung avantgardistischer Traditionen eine Art Überbau gab und sie damit überhaupt erst für eine Öffentlichkeit dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs bekannt machte, war Boris Groys’ Essay Moscow Romantic Conceptualism aus dem Jahre 1979.20 19
Zu einer ausführlicheren Analyse der Arbeiten von SZ und Zakharovs frühem Einzelschaffen siehe Micha Braun: „[A] ‚body art‘ that did not fit“. Körper und Gesten in den frühen Arbeiten Vadim Zakharovs, in: Torsten Erdbrügger und Stephan Krause (Hg.): Leibesvisitationen. Der Körper als mediales Politikum in den (post)sozialistischen Kulturen und Literaturen, Heidelberg 2014, S. 103–121.
20 Boris Groys: Moskovskij romantičeskij konceptualizm / Moscow Romantic Conceptualism, in: A–Ya. Unofficial Russian Art Review / Žurnal neoficial’nogo russkogo iskusstva, Bd. 1, 1979, H. 1, S. 3–11 [Wiederabdruck in: (ders.): History Becomes Form. Moscow Conceptualism, Cambridge 2010, S. 35–55].
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Dieses ‚Manifest‘ postulierte allerdings keine kommende Kunst, sondern sollte eher aus einer Rück- beziehungsweise Überblicksposition heraus die Vielzahl an untergründigen Entwicklungen und künstlerisch-ästhetischen Positionen in einem möglichst bündigen Begriff vereinen und so einem nicht unmittelbar involvierten Publikum die Möglichkeit bieten, sich zu orientieren und dazu zu positionieren. Groys lieferte in seinem Essay eine nachträgliche Theoretisierung der Arbeiten wesentlich nonkonformistischer Künstler, die seit den späten 1950er Jahren, vor allem aber in den 1970ern, einen Wiederanschluss an den globalen Kunstkontext der Moderne suchten. Der studierte Kunsthistoriker und Philosoph erschien, aus einer inneren Logik des weitgehend unter sich bleibenden Kreises Moskauer Privatkünstler heraus, die an keiner Akademie lehrten und kaum Möglichkeiten hatten auszustellen, als logischer Repräsentant ihres Verbundes dissidenter ästhetischer Positionen, die sie selbst einem andauernden kritischen Diskurs unterwarfen.21 Im soeben gegründeten A–Ya Magazin wurde ihm daher ein programmatischer Platz am Anfang der ersten Ausgabe eingeräumt (Abb. 3). Der von Groys gleich zu Beginn problematisierte widersprüchliche Begriff eines „Romantic conceptualism“ setzte dann auch entgegen seinen eigenen Absichten für das folgende Jahrzehnt einen Trend – die Moskauer Künstler waren entweder bemüht, den Begriff als markenbildend zu proliferieren oder sich nachhaltig von ihm abzusetzen. Konzeptualismus verstand Groys durchaus im westlichen Sinne als eine der Spätmoderne entspringende Praxis, die mit der Ablösung eines mimetischen Kunstbegriffs zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach neuen Verhältnissen zwischen Künstler, Realität und Kunstwerk fragte. Der analytische Ansatz einer Problematisierung konventioneller Sehgewohnheiten, einer Entmystifizierung des Kunstwerkes und der Neubestimmung der Grenzen zwischen Kunst und Alltag wird von Groys auch für die Moskauer 21
Vgl. zur Selbstdokumentation der Aktiven des Moskauer Konzeptualismus: NOMA oder Der Kreis des Moskauer Konzeptualismus. Installation, hg. v. Ilya Kabakov und Helmut R. Leppien, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Ostfildern 1993, insbes. S. 8–40, sowie das stetig anwachsende Online-Archiv des Moskauer Konzeptualismus, welches Vadim Zakharov in Kooperation mit den beteiligten Künstlern pflegt. Verfügbar unter http://www.conceptualism-moscow.org. Vgl. insbes. das Moskogo archiv novogo iskusstva (MANI), das von Zakharov edierte Journal PASTOR sowie die Biblioteka moskovkogo konceptualizma, hg. von German Titov.
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Titel und Seite 3 der Zeitschrift A-Ya. Unofficial Russian Art Review /
Abb. 3
Žurnal neoficial’nogo russkogo iskusstva, No. 1, 1979, mit Groys’ Essay
Künstler der 1960er und 1970er Jahre reklamiert. Zugleich aber konstatiert er in der sowjetischen dissidenten Kunst einen deutlichen Bezug zum Immanenten, welcher sich vom durch die Art & Language-Gruppe prolongierten reinen „Visualisieren von Denkprozessen“ (Joseph Kosuth) insofern unterscheidet, als er eben keine vollständige Transparenz von Kunstwollen und Kunsthandeln erfordert. Vielmehr sei der Moskauer Konzeptualismus um eine mystische Dimension erweitert, die in der westeuropäischen Moderne keinen Platz mehr habe. Dies nun sei genau die romantische Dimension der sowjetischen Konzeptkunst: „In Russia, however, it is impossible to paint a decent abstract picture without reference to the Holy light. The unity of collective spirit is still so very much alive in our country that mystical experience here appears quite as comprehensible and lucid as does scientific experience. And even more so. Unless it culminates in a mystical experience, creative activity seems to be of inferior worth. And this is essentially true to the extent that, where a certain level of understanding has been attained, it must be traversed.“22 22 Groys 1979 (wie Anm. 20), S. 4. Der Wiederabdruck von 2010 enthält demgegenüber Abweichungen im Text.
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Diese Überschreitung des kognitiven Bereiches der Wahrnehmung hin zu einer mystischen Erfahrung vereint die Welten von Realität und Imagination. Sie zeichnet bei Groys – bei aller Problematik solcher Essenzialisierungen – sowohl die generelle Produktionsperspektive als auch die kollektive Rezeptionshaltung sowjetisch-konzeptualistischer Kunst aus – und dies entgegen allen Versuchen, den Alltag wie die hochkulturellen Gemeinschaftsinstitutionen der Sowjetmenschen zu rationalisieren und durchzuorganisieren. „The language of art differs from everyday language not because it speaks of the world in a more elegant and beautiful way or discloses the ‚internal world of the artist‘. What makes it different is the message it has to convey about the other world – something that only art can say. […] In Russia, art is magic. […] All you need to do is to take a one sideward step, and you find yourself in another place. This is quite as simple as dying; and essentially, it is the same thing as dying.“23 Und in der Tat lassen sich gerade in den Aktions- und Performancearbeiten der jüngeren Konzeptualisten solche romantisch-mystischen Elemente in einer grundlegend konzeptuell-kognitiven Perspektive aufzeigen. Sie bezogen sich entweder auf die überraschende psychosoziale Wahrnehmung der nächsten Umgebung beziehungsweise des absichtsvoll entleerten physischen Raums oder aber auf das Verhältnis von Dingen und Körpern zur Realität sozialistischer Vergemeinschaftung. So konfrontierte die Gruppe Gnezdo (Nest), bestehend aus Viktor Skersis, Gennadij Donskoj und Michail Rošal’, bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mit ihren Aktionen die visuellen Ikonen des sozialistischen Realismus mit ihren pathologischen wie auch ihren korporalen Gegenseiten.24 Die Aktion Odplodotvorenie zemli (Die Befruchtung der Erde, 1976) greift zum Beispiel ein mythisch-apokryphes Motiv auf, das vielfach in die russische Dichtung einging, und hinterfragt zugleich mit einfachen Mitteln der Abstraktion die ruralen Utopias, welche als kollektive Imagination 23 Ebd., S. 11. 24 Siehe zu einer Auflistung und Dokumentation ihrer Aktionen das Archiv Vadim Zakharovs, zugänglich unter http://www.conceptualism-moscow.org/page?id=533&lang=en [Abruf: 10.8.2016].
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Gruppe Gnezdo: Odplodotvorenie zemli / Fertilization of the Earth, 1976, Foto: Igor’ Pal’min
Abb. 4
der visuellen Kultur mit der industriellen Arbeitsteilung in den großen Städten wie in den Kolchosen zugleich kollidierten (Abb. 4). Auch in der Aktion Poedanie (Essen, 1978), in der sie ikonische Objekte des sozialistischen ästhetischen Alltags verzehrten, ging es um widersprüchliche Wahrnehmungen von Kognizität und Korporalität: Unter dem Schlagwort „Wenn man die Essenz der Dinge verstehen will, muss man sie zu seinem eigenen Teil machen“ aßen sie gemeinschaftlich 1. eine Kakerlake, 2. eine Reproduktion eines Bildes von Il’ja Repin, 3. eine Massenkopie der Skulptur Schwerter zu Pflugscharen von Evgenij Vuchetich und 4. eine Ein-Rubel-Banknote. Die Strategie, die visuelle Alltagskultur der Sowjetunion zu inkorporieren, um sie ‚verständlich‘ zu machen, zeigte nicht nur, dass es ein gewisses Unverständnis und einen Mangel an Unterordnung gegenüber dem sozialistischen Drill gab. Zugleich verwies sie darauf, dass ein haptischer, leiblicher, ja sogar libidinöser Drang zur Aneignung eben dieser Alltagskultur existierte, der sich mit ideologisch-konzeptuellen Überlegungen nicht zufriedengab.25 Auch Skersis und Zakharov setzten sich auf ihre Weise mit dem Körper und seiner Konditionierung durch den ideologischen wie ästhetischen Realismus sozialistischer Hoch- und Alltagskultur auseinander. So wandten 25 Vgl. zu diesem Aspekt Viktor Tupitsyn: The Museological Unconscious. Communal (Post)Modernism in Russia, Cambridge 2009, insbes. S. 13–32, 101–122.
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Abb. 5
Gruppe SZ: Laski i pocelui delajut ljudej urodlivymi / Caresses and Kisses Make People Ugly, 1983, 5 Fotografien von Viktor Skersis/Vadim Zakharov
sich SZ als erste im konzeptualistischen Kontext der Ikonografie pornografischer Darstellungsweisen zu.26 In Projekten wie Laski i pocelui delajut ljudej urodlivymi (Küsse und Umarmungen machen die Menschen hässlich, 1983) gingen sie dabei nicht nur künstlerische Risiken ein (Abb. 5): Die explizite Thematisierung und Befragung von herkömmlichen Körper- und Geschlechterrollenbildern, von Heterosexualität und dem ‚klassisch-schönen‘ Männerkörper stellten für die 1980er Jahre in der Sowjetunion eine klare Provokation dar.27 Die exaltierten Körperhaltungen und sexuell ambivalenten Gesten Skersis’ und Zakharovs genauso wie die geradezu barocke Beweglichkeit ihrer eben nicht perfekten Körper konnten als Zeichen der Transgression und libertinärer Lebensweise gelesen werden und stellten damit einen offenen Affront gegen die überkommenen Regeln der Darstellung des Körpers im sozialistischen Realismus dar, der Nacktheit noch immer fast ausschließlich im Sportkontext akzeptierte.28 Auch die offene Darstellung von deformierten Körpern und Behinderungen – Skersis’ rechte Hand war durch eine angeborene Brachydaktilie sehr viel kleiner als die linke – durchbrach die Konventionen von Bildproduktion und -rezeption in der Sowjetunion. Nicht zuletzt zeugt davon die prompte Durchsuchung und 26 Vgl. etwa zu ihrer Serie Anatomija sliček / Anatomie der Streichhölzer (1983) und zu weiteren Beispielen Braun 2014 (wie Anm. 19), S. 112 f. 27 Vgl. zu einer Problematisierung dieser Fragen für den gesamten ehemaligen Ostblock Piotr Piotrowski: Male Artist’s Body. National Identity vs. Identity Politics, in: Laura Hoptman und Tomáš Pospiszyl (Hg.): Primary Documents. A Sourcebook for Eastern and Central European Art Since the 1950s, New York 2002, S. 225–233. 28 Vgl. hierzu Nina Sobol Levent: Healthy Spirit in a Healthy Body. Representations of the Sports Body in Soviet Art of the 1920s and 1930s, Frankfurt am Main 2004, S. 110 ff., 137 ff.
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Teilzerstörung der Zweiten persönlichen Ausstellung von SZ (1983) sowie die Beschlagnahmung der Bilder. Dies alles könnte als Manifestation, wenn nicht eines postulierten Stils, dann doch eines mehr oder weniger homogenen künstlerischen Denk- und Produktionsansatzes gelesen werden. In Groys’ Worten bezeugte der Moskauer Konzeptualismus (zumindest der 1970er Jahre) eine „continued unity of the ‚Russian soul‘“29, also eine geteilte romantisch-lyrische Perspektive auf das Leben in einem sozialistischen Regime wie auf die Möglichkeiten der Kunst darin. Gerade in seiner transgressiven Form, die die Bedingungen einer Überschreitung der Kunstgrenzen hin zum alltäglichen Mystizismus und zur religiös-geistigen Sphäre zugleich untersuchte, sollte dieser romantische Pfad konzeptualistischer Kunst andere und neue Einsichten über die Produktion und Rezeption genau dieser Grenzen ermöglichen: „By invading our History, the other world gives us the power to make statements about it that it could not make itself. And what may we finally conclude? Precisely this: that other world is not another world at all; but it is our own historicity, revealed to us here and now.“30 Zugleich aber lehnten sich die Praktiken der zweiten Generation des Moskauer Konzeptualismus immer auch gegen solche theoretisierenden und romantisierenden Zuschreibungen auf.31 Gerade in ihrer das Diktum einer Verbindung von Profanem und Mystischen in aller Konsequenz ausbuchstabierenden Konfrontation von intellektuellem semiotischem Spiel mit den sehr diesseitigen basalen Grundbedürfnissen des Menschen – Essen, Schlafen, Fortpflanzen, Verdauen und Ausscheiden – kommt eine besondere Aneignung des modernen Kunstkanons und seiner avantgardistischen Formen zum Tragen. In ihren teilweise fast schamanistisch zu nennenden Aktionen traten die jungen Künstler jeglichem ontologisierenden Bemächtigungsversuch in einem Modus der aneignenden Wiederholung entgegen, in der Einverleibung und ‚Verdauung‘ der immer gleichen Zeichen, Gesten und Abläufe, die sie dem soziokulturellen Kontext der Sow29 Groys 1979 (wie Anm. 20), S. 4. 30 Ebd., S. 11. Vgl. die Textabweichungen im Wiederabdruck von 2010. 31
Die hier betrachteten Künstler und ihre Arbeiten wurden in Groys’ Text noch gar nicht erwähnt, fanden jedoch Eingang in weitere Beiträge der A–Ya.
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jetunion entnahmen. Vor allem in ihren gemeinsamen, performativen Arbeiten bewegten sie sich weg vom kognitiven und spirituellen hin zu einem individuell-leiblichen Erfahrungsraum. In der Verweigerung gegenüber einer dramatischen Handlung, die dem sich Ereignenden nachträglich Sinn verleihen würde, kamen dabei die Kontingenz, die Zufälligkeit und Willkürlichkeit von symbolischen Ordnungsentwürfen wie auch von literarisierenden Manifesten zur Erfahrung, deren semiotische und mediale Überhöhung oft in basal leiblichem Gelächter aufgelöst wurde. Ganz ähnlich wie die Akteure der PA überholten sie damit nicht nur den ‚offiziellen‘ kulturellen Diskurs und sein repressiv-ideologisches System quasi von unten, sondern durchaus auch jeden Versuch einer manifestartigen Bestimmung ihres Auftrages wie ihrer Methoden. Wenn die Moskauer Konzeptualisten der zweiten Generation das Groys’sche Konzept eines ‚romantisch-lyrischen‘ Zweiges der Moderne ergänzten und komplementierten, indem sie unmittelbar auf die niederen Bereiche des Lebens Bezug nahmen, so überschritten auch die Breslauer Zustände in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre das ‚ursprüngliche‘ surrealistische Projekt Waldemar Fydrychs. Denn sobald der Körper als leiblich-basales Kommunikationsmedium in seinen grotesken, sinnübergreifenden und vor allem komisch-sinnlichen Ausgestaltungen das Feld der ästhetischen Produktion wie Rezeption betritt, werden die surrealistische Form ebenso wie die konzeptuelle Idee auf eine Weise aktualisiert und verräumlicht, dass sie mit Literarisierungen nur noch sehr bedingt einzufangen sind. Und so muss man sich die eingangs zitierten Kernsätze aus Fydrychs Manifest des sozialistischen Surrealismus auch heute noch und immer wieder auf den Straßen getanzt und laut ausgerufen vorstellen. Eine performative Aktualisierung dieses Versprechens und dieser Aufforderung zugleich gilt es täglich neu zu erwarten wie selbst zu vollziehen.
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DRAMACUM. MANIFESTATIONEN EINES UNMITTELBAREN THEATERS IM POSTTOTALITÄREN RUMÄNIEN IM KONTEXT DER HISTORISCHEN AVANTGARDE
Rumänien gilt angesichts ökonomischer Dauerkrisen und zahlreicher Rückschläge bei der Etablierung einer funktionierenden Demokratie noch immer als Armenhaus Europas. Jahrzehntelang war das Land kulturell und politisch von der Außenwelt isoliert. Nach wie vor leidet es unter den Traumata des jahrzehntelang den Alltag prägenden Ceauşescu-Regimes, das die meisten Rumänen dezidiert nicht als Sozialismus deklarieren sondern als Totalitarismus.1 Vor diesem gesellschafts- und kulturpolitischen Hintergrund formierte sich um die Jahrtausendwende eine Phalanx jüngerer Theater- und Performancekünstler mit dem erklärten Ziel, die rumänische Theaterlandschaft durch inno1
Zur Geschichte Rumäniens und den politischen Entwicklungen seit 1989 siehe Anneli Ute Gabanyi: Das politische System Rumäniens, in: Wolfgang Ismayr (Hg.): Die politischen Systeme Osteuropas, Opladen 2002, S. 525–562, hier S. 552 f. Gabyani belegt, dass trotz wirtschaftlicher und politischer Probleme in Rumänien nach 1989 kein Ostalgie-Trend zu verzeichnen ist. Vorherrschend ist jedoch ein grundlegendes Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen und eine Verlagerung gesellschaftspolitischer Aktivitäten auf NGOs.
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vative Zeitstücke zu reformieren und ein neues Verständnis von Theaterarbeit zu propagieren. Am 25. Januar 2002 lancierte eine Gruppe von Regiestudierenden der renommierten Bukarester nationalen Theater- und Filmhochschule (UNATC) Ion Luca Caragiale, unterstützt von ihrem damaligen Dozenten Nicolae Mandea, dem heutigen Rektor der Hochschule, einen Aufruf zu einem Stückwettbewerb unter dem programmatischen Titel dramAcum. Es handelt sich bei diesem Slogan um ein Kofferwort2, bestehend aus „Drama“ und dem rumänischen Wort für „jetzt“: „acum“.3 Durch die lautliche Nähe zum altgriechischen „dran“, also dem Wort für Handeln, von dem „drama“ abgeleitet ist, formuliert der Slogan einen programmatischen Appell zum eigenen Tun, konkret zur Abfassung von Theatertexten. Zeitgenössisches Vorbild für die Rückbesinnung auf einen neuen Realismus war vermutlich das seinerzeit viel diskutierte Manifest Dogma 95, mit dem sich die dänischen Filmregisseure technisch und inhaltlich einem wieder mehr anti-illusionistischen Filmemachen verschrieben hatten.4 Doch statt einem theoretischen Manifest mit konkreten Handlungsanweisungen lancierten die dramAcum-Aktivisten einen inhaltlich und ästhetisch bewusst offen gehaltenen Stückwettbewerb. Der Aufruf richtete sich an alle unter 26-Jährigen, also jene Generation, die das Ende der Ceauşescu-Ära nur als Jugendliche erlebt hatte und bislang noch kaum in den staatlichen Theaterapparat involviert war: „Hast du eine Idee? Wir verwirklichen sie!; Überschreite die Grenze!; Schreib, was du siehst!; Inszeniere dich, wenn wir dich inszenieren sollen!“5 2
Siehe hierzu die Definition des Portemanteau- bzw. Kofferwortes, die Humpty Dumpty der kleinen Alice gibt: „there are two meanings packed up into one word“. Lewis Caroll: Alice’s Adventures in Wonderland, Through the Looking Glass, London 1962, Kap. Humpty Dumpty, S. 276.
3
Das rumänische „cum“ bedeutet allerdings auch „wie“, so dass in dem Begriff auch die Konnotation mitschwingt: Drama – wie, auf welche Art und Weise?
4
Zum Text des Dogma-Manifests von 1995 siehe http://pov.imv.au.dk/Issue_10/section_1/ artc1A.html [Abruf 16.7.2016]. Eine explizite Referenz auf das Dogma-Manifest ist m. W. nicht nachweisbar, die Hinwendung zu einem neuen Realismus war Anfang der 2000er (vor allem nach 9/11) jedoch ein Topos des Kunstdiskurses.
5
Die Motti der Aufrufe zit. n. sowie allgemein zum Stückwettbewerb siehe Mihaela Mihailov: Theater als Eingriff in den Alltag (Aus dem Rumänischen von Aranca Munteanu), in: Alina Mazilu, Medana Weident und Irina Wolf (Hg.): Das rumänische Theater nach 1989. Seine Beziehungen zum deutschsprachigen Raum, Berlin 2011, S. 109–114, hier S. 111. Rumänisches Original: Mihaela Mihailov: Teatrul intervenţiei în cotidian, in: Aurora, 1.12.2008, http://www. aurora-magazin.at/medien_kultur/rumtheat_michailov_rum_frm.htm [Abruf 15.7.2016].
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Gesucht wird bei den jährlich stattfinden dramAcum-Wettbewerben nach Theatertexten (oder Szenarien oder noch unfertigen Entwürfen), die sich unmittelbar auf die soziale Realität beziehen und in enger Zusammenarbeit zwischen Autor, Regie und Darstellern auf der Bühne realisiert werden (Abb. 1)6. Die Gründungsmitglieder der Gruppe Andreea Vălean, Gianina Cărbunariu, Radu Apostol und Alexandru Berceanu, wie auch eine Reihe der von ihnen in den ersten Jahren entdeckten Autoren, haben sich mittlerweile, oftmals in Personalunion, als „Dramatiker-Regisseure“, etabliert. Ihr Abb. 1 Flyer mit dem Aufruf zum 5. dramAcum-Stückewettbewerb, damaliger Aufruf hat eine entscheidende o. O., o. J. [Bukarest 2007/08] Wende im rumänischen Gegenwartstheater initiiert und eine innovative Theaterliteratur sowie ein neuartiges Verständnis von Theaterarbeit hervorgebracht. Doch abgesehen von vereinzelten Produktionen und Gastspielen bei internationalen Festivals – wie etwa der Wiesbadener Biennale Neue Stücke aus Europa (1992 bis 2014) oder dem Heidelberger Stückemarkt, bei dem Rumänien 2007 Gastland war – ist das zeitgenössische rumänische Theater international bislang auf eher geringe Resonanz gestoßen.7 Diese Zurückhaltung ist nur teilweise darauf zu6
Der Text des Flyers lautet: „Schreib einen dramatischen Text* [*Theaterstück, Szenario oder Bearbeitung], den man aufführen kann. Schicke ihn bis zum 1. März an folgende Adresse [...] INSZENIERE DICH, WENN DU WILLST, DASS WIR DICH INSZENIEREN. Wir machen die Aufführung. Du wirst dafür bezahlt. Du wirst ein Dramatiker mit einem regulären Vertrag sein! Du bist über 26 Jahre alt? Zu spät! ** [** Gibt es eine Ausnahme? Das Alter zählt nicht!]“.
7
Zum Rumänien-Länderschwerpunkt des Heidelberger Stückemarkts 2007 siehe Katharina Keim und Silvia Stammen: Neues aus dem wilden Ostern. Rumänisches Theater, nicht nur in Heidelberg, in: Theater heute, 2007, H. 8/9, S. 56–61. Die Aktivitäten der Wiesbadener Biennale trugen maßgeblich dazu bei, dass ab 2004 zeitgenössische rumänische Stücke ins Deutsche übertragen und auf deutschsprachigen Bühnen gespielt wurden. Als Scouts und Übersetzerinnen aktueller rumänischer Stücke bzw. Performances sind seit über einem Jahrzehnt vor allem Luisa Brandsdörfer (Hamburg) und Irina Wolf (Wien) aktiv.
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rückzuführen, dass die sich in den rumänischen Zeitstücken artikulierende Erfahrung des Sprungs vom Totalitarismus zum Turbokapitalismus im Westen nur schwer nachempfunden werden kann. Darüber hinaus beziehen sich die programmatischen und künstlerischen Manifestationen von dramAcum auf Tendenzen der rumänischen Kunst, die von den Traditionen der internationalen, westlich geprägten Moderne abweichen. Dies betrifft zum einen den besonderen Stellenwert der Literatur (beziehungsweise Anti-Literatur) in der Theaterpraxis und zum anderen die Programmatik der rumänischen Avantgarde, auf die sich der Aufruf und die Aktivitäten von dramAcum unausgesprochen berufen.
VORAUSSETZUNGEN: BESONDERHEITEN DER RUMÄNISCHEN AVANTGARDE
Während in Westeuropa dem zumeist auf nicht-literarischen Texten basierenden postdramatischen Theater eine besondere Innovationskraft zugebilligt wird, steht in der zeitgenössischen rumänischen Theaterszene die Verbindung zwischen einem sprachlich innovativen Theatertext und seiner Aufführung im Vordergrund. Statt auf der (in der westlichen historischen Avantgarde geprägten und im postdramatischen Theater vorherrschenden) Entliterarisierung des Theaters fußt das rumänische Theater vorwiegend auf der Entliterarisierung der Literatur. Die performative (und damit auch die gesellschaftskritische) Dimension von Theater wird nicht primär in der Körperlichkeit der Darstellung verortet, vielmehr ist sie bereits in der Poetizität der geschriebenen und gesprochenen Sprache verankert.8 Anders als im 8
In der Diskussion um die Rolle des Textes im postdramatischen bzw. im performativen Theater wird dieser oftmals marginalisiert oder auf Stimmlichkeit und Schriftprojektionen in der Aufführung reduziert. Dabei forderte, wie auch Hans-Thies Lehmann bemerkt, schon Brecht eine Literarisierung des Theaters. Vgl. hierzu Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 261–264. Brecht verwendete zur Literarisierung des Theaters verschiedene Verfahren: zum einen versuchte er die Prosodie und damit die sprachliche Äußerung des Textes durch die Bühnendarsteller durch bestimmte poetische Verfahren, wie etwa eine das gängige Versmaß verfremdende Rhythmisierung, zu konditionieren. Zum anderen versuchte er durch orthographische Verfremdungseffekte (wie etwa die Schreibweise „Thaeter“ statt „Theater“ im Kleinen Organon) bewusst Mehrdeutigkeiten im Schrifttext zu kreieren, um so auf die performative Dimension der geschriebenen Sprache zu verweisen.
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deutschsprachigen Raum werden Theatertexte in Rumänien seit dem späten 19. Jahrhundert weniger als literarische sondern als orale Texte verstanden. Vorbild hierfür ist zum einen Rumäniens bekanntester Dramatiker Ion Luca Caragiale (1852–1912). In seinen gesellschaftskritischen Texten verwendet der Komödiendichter die verschiedensten Sprachregister, um seine Protagonisten sozial und psychologisch zu charakterisieren oder die politischen Verhältnisse zu karikieren. Diese hieraus resultierende überbordende Sprachkomik widersetzt sich allerdings hartnäckig einer Übersetzung in andere Sprachen, sodass der Autor außerhalb seines Heimatlandes ziemlich unbekannt geblieben ist.9 Die andere, für das zeitgenössische rumänische Theater bestimmende Traditionslinie lässt sich in der historischen Avantgarde Rumäniens und dem Anti-Theater nach dem Zweiten Weltkrieg verorten. Die westliche Wahrnehmung der rumänischen Avantgardisten beschränkt sich oftmals auf die Dadaisten Tristan Tzara (Pseudonym für Samuel Rosenstock) und Marcel Ianco sowie den Theaterautor Eugène Ionesco. Ihre Beiträge werden meist diskutiert im Kontext einer gesamteuropäischen, de facto aber westeuropäisch geprägten Avantgarde, die sich gegen überkommene bürgerlich-akademische Kunstauffassungen wendet. Nationale Besonderheiten werden eher wenig beachtet.10 Eine Vorreiterrolle für die Entwicklung der rumänischen Avantgarde kommt dabei der absurden Prosa des unter 9
Einige der bekanntesten Komödien Caragiales wurden nach der rumänischen Revolution von seinem Landsmann Eugène Ionescu (in Zusammenarbeit mit Monica Lovinescu) kurz vor dessen Tod 1994 ins Französische übertragen und im gleichen Jahr beim renommierten Pariser Theaterverlag Arche publiziert. Ionescu und Lovinescu bezeichneten diese Übertragungen jedoch ausdrücklich als „Adaptationen“. Die aus den 1950er und 1960er Jahren stammenden Übertragungen ins Deutsche, die (für die deutschsprachige Minderheit) in Rumänien und außerdem in der DDR publiziert wurden, fanden nur wenig Resonanz. Zu den Komödien und zur Sprache Caragiales siehe Liviu Papadima (Hg.): Comediile lui I. L. Caragiale, Bucureşti 1996, insb. Kap. Limbajul, S. 29–31.
10 Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die rumänischen Avantgarde-Zeitschriften, die im wesentlichen das Sprachrohr bildeten, während des sozialistischen Regimes 1947 bis 1989 archivalisch etwas schwer zugänglich waren. Die Bestände sind bislang nicht vollständig systematisch erfasst, liegen heutzutage aber teilweise in digitalisierter Form vor. Siehe hierzu die Bestände der Bibliotheca digitală a Bucureştilor, Colecţia Avantgarda românescă, http://www. digibuc.ro/colectii/avangarda-romaneasca-c2049 [Abruf: 10.9.2016] sowie der Bibliotheca digitală BCU Cluj, Abteilung Periodice, http://dspace.bcucluj.ro/handle/123456789/3 [Abruf: 10.9.2016].
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dem Pseudonym Urmuz bekannten Literaten Demetru Demetrescu Buzău (1883–1923) zu. Seine bereits 1908/09 entstandenen, erst ab 1922 in der Zeitschrift Cugetul românesc (Das rumänische Denken) herausgegebenen, „fast futuristisch anmutende[n] Skizzen und Novellen“ beeinflussten die experimentelle rumänische Kunst bis hin zu Ionescos Anti-Theater maßgeblich.11 Wie sich aus der Bezugnahme auf Marinettis futuristisches Manifest12 ablesen lässt, war Urmuz mit dem europäischen Kunstdiskurs seiner Zeit gut vertraut. Allerdings verhandelt er den Traditionsnihilismus nicht diskursiv, sondern erhebt ihn zum poetischen Prinzip seiner absurden Prosa, in der er die normierte symbolische Ordnung des Erzählens durch neuartige a-logische Bezüge außer Kraft setzt. Seine antizipatorischen Vorstöße finden sich wieder in den aggressiven Manifesten der rumänischen Avantgarde der 1920er Jahre.13 Anders als die italienische und französische Avantgarde definiert sich die rumänische weniger über die Zurückweisung vorausgegangener Ismen oder die Forderung nach Zerstörung des kulturellen Erbes. Vielmehr dominiert hier ein ausgeprägtes Bewusstsein, dass der Gestus der Negation und die diskursive Formulierung der eigenen Programmatik ihrerseits ein dogmatisches Potenzial beinhalten. Dieses dem künstlerischen Manifest innewohnende, nicht nur ästhetisch sondern auch politisch zu verstehende Heilsversprechen decouvriert Tristan Tzara 1920 in seinem Dada manifeste sur l’amour faible et l’amour amer: „Ein Manifest ist eine Mitteilung an die ganze Welt, deren einziger Anspruch die Entdeckung des Mittels ist, sofort die politische, astronomische, 11
Die Charakterisierung der eigenen Erzählungen als „schiţe si nuvele... aproape futuriste“ findet sich auf einem Manuskript von Urmuz aus dem Jahre 1916. Siehe hierzu Urmuz: Schiţe şi nuvele... aproape futuriste..., hg. v. Ian Pop, mit einem wissenschaftlichen Vorwort von Domenico Jacono, Bucureşti 2012, hier S. 5–8. Zum Einfluss Urmuz’ auf die rumänische Avantgarde und das absurde Theater siehe Eugène Ionesco: Précurseurs roumains du surréalisme, in: Les Lettres nouvelles, Bd. 13, 1965, janvier-février, S. 71–73.
12
Filippo Tommaso Marinetti: Manifeste du Futurisme, in: Le Figaro, 20.2.1909, (Titelseite), http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2883730.item [Abruf: 11.9.2016].
13
Einen Überblick der rumänischen Avantgarde bietet Eva Behring (Hg.): Texte der rumänischen Avantgarde. 1907–1947, Leipzig 1988. 1928 erschien eine avantgardistische Zeitschrift unter dem Titel Urmuz. Auf der Titelseite der Erstausgabe vom Januar 1928 beruft sich der Herausgeber George Bogza explizit auf das Erbe von Urmuz und dessen Bedeutung für die heutige Kunst. Siehe hierzu Urmuz. Revista de Avantgarda, Nr. 1, Januar 1928, (Titelseite).
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künstlerische, parlamentarische, agronomische und literarische Syphilis zu heilen. Es kann sanft, bieder sein, es hat immer recht, es ist stark, kräftig und logisch.“14 Statt einer Destruktion des Bestehenden steht in der rumänischen Avantgarde eine radikale, inhaltlich offene Neu-Konstruktion der Kunst und aller Lebensbereiche im Vordergrund. Dies hat vor allem kulturhistorische Gründe. Im Gegensatz zu den westlichen Ländern war Rumänien zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur ein junger Nationalstaat, sondern auch eine überaus jungfräuliche Kulturnation, deren Kulturgüter sich überwiegend auf Baudenkmäler, rurales Volksgut, Sagen und Märchen beschränkten.15 Dies führte, wie Roland Prügel in seiner Dissertation zur rumänischen Avantgarde herausgearbeitet hat, dazu, dass die Orientierung an der internationalen Avantgarde innerhalb Rumäniens auf die Schaffung einer modernen, bislang wenig ausgeprägten Nationalkultur abzielte.16 Im Geiste des technologischen Fortschrittsdenkens und des internationalen Konstruktivismus wurde eine weitgehend undogmatische Synthese von Futurismus, Expressionismus, Kubismus, Dadaismus und Surrealismus praktiziert. Eine solche Stoßrichtung zeigt sich im Aktivistischen Manifest an die Jugend aus dem Jahre 1924 von Ion Vinea (1895–1964), einem Jugendfreund von Tristan Tzara und Marcel Ianco. Im expressionistischen und futuristischen Telegramm-Stil holt Vinea hier zum Rundumschlag gegen alle Kunstgattungen aus, propagiert „das Wunder des neuen Wortes“, „den Aufbau Rumäniens“, kritisiert die „Rammdösigkeit der Parteien“ und fordert die Abkehr vom anachronistischen „Byzantinismus“ und vom „Ludwigtum“ (also der Imitation des 14
Tristan Tzara: Dada Manifest über die schwache Liebe und die bittere Liebe, in: ders.: Sieben Dada Manifeste. Hamburg, 2. Aufl. 1978, S. 36–37, hier S. 37. [frz. O: Dada manifeste sur l’amour faible et l’amour amer, Erstdruck in: La Vie des lettres, Nr. 4, 1921].
15
Zur Gründung des rumänischen Nationalstaats siehe Gabyani 2002 (wie Anm. 1), S. 525 f. Eine bürgerliche rumänische Kultur und Rumänisch als Unterrichtssprache an höheren Schulen hatten sich erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts durch das Bemühen der Siebenbürgischen Schule etabliert. Insofern kann Rumänien nicht nur aus nationaler sondern auch aus kultureller Perspektive als eine „verspätete Nation“ angesehen werden.
16
Siehe hierzu Roland Prügel: Im Zeichen der Stadt. Avantgarde in Rumänien 1920–1938, Köln/ Weimar/Wien 2008, speziell S. 211–215.
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französischen Großbürgertums).17 Diese eklektizistische, sich einer politischen Indienstnahme verweigernde aber gleichwohl gesellschaftspolitische Ausrichtung der rumänischen Avantgarde deklarierte der Dichter Ilarie Voronca (Pseudonym für Eugen Marcus, 1903–1946) anlässlich einer Kritik von Bretons Manifeste du surréalisme im Jahre 1925 als integralism (Integralismus). Ziel dieses spezifisch rumänischen Ismus war eine Befreiung der Kunst von jeglichen ästhetischen, ethischen wie auch sozialen Dogmen zugunsten von Unmittelbarkeit und Authentizität.18 Neben diskursiv ausgerichteten Manifesten greift die rumänische Avantgarde in ihren Appellen auch Darstellungstechniken der visuellen Poesie auf, die von Marinettis Konzept der Parole in libertà inspiriert sind. In der 1924 herausgegebenen Zeitschrift HP75 (75PS) propagieren Voronca und der Maler Victor Brauner die Kunstform der Pictopoezie (Piktopoesie) als einer emblematischen Verbindung von Wort und Bild. Voroncas hier abgedrucktes Pamphlet AVIOgrama paraphrasiert diese neue Kunstform nicht nur semantisch, sondern setzt sie typographisch um19 (Abb. 2) An den Leser/Betrachter des in Versalien gestzten Textes ergeht der, in Anspielung auf die Aviatik vertikal an den Seitenrand ge-
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Ion Vinea: Manifest activist către tinerime, in: Contimporanul, Bd. 3, H. 46 (Mai 1924), S. 10; dt. Übers. in: Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, Stuttgart 1995, S. 320.
18 Siehe hierzu Ilarie Voronca: Suprarealism şi Integralism, in: Integral, H. 1 (März 1925), S. 4 f.; deutsche Übersetzung unter dem Titel „Surrealismus und Integralismus“ in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 17), S. 360 f. Vergleiche hierzu auch Prügel 2008 (wie Anm. 16), S. 69–74. Anfang der 1930er Jahre zerstritt sich Voronca mit seinen Weggefährten wegen der Parteinahme Bretons für die Sowjet-Union, die er vehement ablehnte. Die paradoxe Verbindung von unvermittelter Realitätserfahrung und Surrealismus bzw. Hyperrealismus ist auch kennzeichnend für den rumänischen Avantgarde-Roman der Zwischenkriegszeit, wie etwa Max L. Blechers: Intâmpliri in irealitatea imediată, Bucureşti 1936 [Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit. Dt. Übers. v. Ernest Wichert, Frankfurt am Main 2004]. Blechers Roman erschien 1936 im Verlag Vremea, in dem damals auch Ionescu/Ionesco publizierte. 19
Ilarie Veronca: AVIOGRAMA, in: HP75, H. 1 (Oktober 1924), [o. S.]. Dt. Teilübers. des Textes in: Asholt/Fähnders (Hg.) 1995 (wie Anm. 17), S. 339. Voronca akzentuiert in seinem Quasi-Manifest insbesondere den anti-mimetischen Charakter der Kunst: „Der Künstler erschafft / Die Linie das Wort die Farbe die du im Lexikon nicht auffindest“. Zu HP75 siehe auch Christina Vogel: Die rumänische Avantgarde der 1920iger [sic!] Jahre im Zeichen der piktopoetischen Revolution, in: Kodikas / Code, Bd. 36, 2013, H. 1–2, S. 23–31.
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setzte drastische Appell: „CETITOR DESPARAZITEAZĂ-ŢI CREIERUL“ (Leser entlause dein Hirn). Durch die in Klammern gesetzte Bezeichnung „IN LOC DE MANIFEST“ (anstelle eines Manifests) deklariert Voronca sein Werk als ein hybrides Quasi-Manifest. Diese Tradition des Quasi-Manifests20 mit typographisch inszenierter Handlungsaufforderung kann als ein historisches Vorbild für den nur aus einem einzigen Kunstwort bestehenden Slogan dramA- Abb. 2 Ilarie Voronca: AVIOgrama, In Loc de Manifest (Aviogramm – anstatt eines Manifests), cum und den damit verbunde1924 nen Appell zur Teilnahme am Stückewettbewerb angesehen werden. Während allerdings in der Avantgarde die Manifestation des Künstlers im Vordergrund steht, verschiebt sich mit der Übertragung auf die darstellenden Kunst der Akzent vollends auf den Rezipienten. Diesem wird die Urheberschaft eines formal und inhaltlich offenen Werks angetragen. Hauptanliegen der Initiatoren war es, Theatertext und szenische Umsetzung von vornherein als Einheit zu konzipieren, mit Fokus auf dem Gegenwartsbezug von Dargestelltem und Darstellung. Damit sollte die problematische rumänische Alltagsrealität wieder Einzug ins Theater halten. 20 Ein weiteres prominentes Quasi-Manifest, das die diskursive Negation künstlerischer Traditionen selbst als einen ideologischen Akt decouvriert, inszenierte 1934 der junge Eugène Ionescu: Er veröffentlichte im Verlag Vremea eine gegen die drei großen rumänischen Schriftsteller Tudor Arghezi, Ion Barbu und Camil Petrescu gerichtete literarische Polemik. In einem zweiten Essay negierte er seine eigenen Thesen, indem er dieselben Autoren überaus positiv beurteilte und das Genre der Literaturkritik an sich persiflierte. Die beiden gegensätzlichen Darstellungen überschrieb er mit Nu! (Nein!), um so den Dogmatismus literarischer Kritik ad absurdum zu führen. Eugen Ionescu: Nu [1934], Bucureşti 1991. Siehe hierzu Martin Esslin: Das Theater des Absurden [engl. O. 1961], Reinbek bei Hamburg 1991, S. 103 f.
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Darüber hinaus zielt das programmatische Kofferwort dramaAcum darauf ab, die Kluft zwischen dem sekundären, dem Theaterereignis unweigerlich vorgängigen Charakter des Dramas beziehungsweise Theatertextes und der Aufführung mit ihrem ontologischen Status im Hier und Jetzt zu überbrücken. Dadurch wird die dominierende Rolle der zwischen Drama und Aufführung stehenden Regie als reflexive Vermittlungsinstanz von Sinn und Sinnlichkeit in Frage gestellt.21 In Folge der sozialistischen Kulturpolitik und Zensur existierte nach 1989 kaum ein Repertoire innovativer zeitgenössischer Texte, es überwog das Regietheater. Auf der Basis kanonischer Texte versuchte sich das Theater mit den Mitteln der uneigentlichen allegorischen Rede und versteckten historisch-politischen Andeutungen als atopischer Hort der Kritik zu behaupten. Ungewollt wurde damit der Status der Bühne als ein jenseits der sozialen Wirklichkeit verorteter (letztlich idealistischer) Zufluchtsort vor der gesellschaftspolitischen Realität zementiert.
DAS REPERTOIRE DES RUMÄNISCHEN THEATERS NACH 1989
Nach der Revolution im Dezember 1989 kehrte eine Reihe exilierter, international erfolgreicher rumänischer Theaterregisseure zurück in ihr Heimatland. Aus den USA kamen Liviu Ciulei (1923–2011) und Andrei Şerban (geb. 1943), der ab 1970 mit Peter Brook, u. a. bei der legendären „Orghast“-Inszenierung, und mit Ellen Stewart im New Yorker La MaMa Experimental Theatre Club zusammen gearbeitet hatte. Sie prägten die Arbeiten der in den 1950er Jahren geborenen rumänischen Regisseure der mittleren Generation, wie etwa Tompa Gábor aus Klausenburg, Mihai Măniuţiu und Silviu Purcărete aus Bukarest, oder auch der etwas jüngeren, im Westen vor allem als Film- und Theaterschauspielerin bekannten Maia Morgenstern, die seit 2012 das jüdische Staatstheater in Bukarest leitet. Die frühen 1990er Jahre 21
Die Theaterregie hat sich um 1800 nicht nur als Reaktion auf das Literaturtheater formiert. Im Rahmen der Kunstautonomie und der damit verbundenen Krise des Regimes der Repräsentation entsteht die Regie als eine neue Vermittlungsinstanz zwischen materiell-sinnlicher Aktion und rationaler Reflexion. Siehe hierzu Peter M. Boenisch: Regie und die „Aufteilung des Sinnlichen“: Überlegungen zur Theorie der Theaterregie, in: Michael Gissenwehrer und Katharina Keim (Hg.) Materialität(en) des Kultur- und Wissenstransfers in prä- und transnationalen Kontexten, Frankfurt am Main 2015, S. 159–170.
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waren gekennzeichnet von einem opulenten Bildertheater und aufwändigen Klassiker-Inszenierungen: Şerban nahm seine bereits in den 1970ern am La MaMa erarbeitete Trilogia antică (Elektra nach Sophokles, Medea und Die Troerinnen nach Euripides) am Bukarester Nationaltheater wieder auf. Purcărete inszenierte 1995 am Nationaltheater Craiova Aischylos’ Hiketiden in einer eigenen Textfassung mit Massen-Chören.22 Die auf den rumänischen Bühnen nach 1989 dargestellten Tyrannenmorde der Atriden-Sage und die Schicksale antiker Exilantinnen reflektierten mehr oder weniger direkt die real-historischen Ereignisse, wie die Hinrichtung des Diktatoren-Ehepaars Ceauşescu im Dezember 1989 und die massenhafte Migration bzw. teilweise auch die Re-Migration der frühen 1990er Jahre. Die Ästhetik des Bildertheaters und der Chorregie auf der Basis kanonischer Dramentexte erwies sich jedoch um die Jahrtausendwende zur Darstellung des rumänischen Dilemmas als nicht mehr geeignet. Auch der Versuch, den rumänischen Avantgarderoman der Zwischenkriegszeit für die Bühne zu adaptieren, erwies sich nur als bedingt tauglich. So zielt die 1995 entstandene Theateradaptation des 1933 veröffentlichten Romans Patul lui Procust (Das Prokrustes-Bett) von Camil Petrescu durch die renommierte Regisseurin Cătălina Buzoianu (geb. 1938) letztlich darauf ab, atmosphärisch an den mondänen Mythos von Bukarest als „Klein-Paris“ aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg anzuknüpfen.23 Ähnlich bedient Buzoianu auch 1996 in ihrer gefeierten Bühnenfassung von Panaït Istratis Roman Kyra Kyralina aus dem Jahre 1924 in gewisser Weise ein ‚Orientalismus‘-Klischee: Die Regisseurin inszenierte das Stück als nostalgische Vision des Vielvölkerstaates Rumänien der Vorkriegszeit in exotisch historisierten Kostümen und in einem Sepia-Farbton gehaltenen Bühnenbild mit dem Ensemble des Theaters in Brăila, der bis ins 19. Jh. unter türkischer Herrschaft stehenden Geburtsstadt Istratis.24 Damit bediente sie abermals eben22 Zur Situation des rumänischen Theaters in den 1990er Jahren siehe Marian Popescu: Oglinda spartă, Teatrul Românesc după 1989, Bucureşti 1997, hier S. 351–363. 23 Siehe hierzu Popescu 1997 (wie Anm. 22), S. 303–305. 24 Cătălina Buzoianu und Monica Andronescu: „Chira Chiralina mi-a redat lumea copilăriei“ (Kyra Kyralina hat mir die Welt meiner Kindheit wieder gegeben), Interview, in: Jurnalul National, 26.1.2010, S. 14.
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jene Klischees des „Ludwigtums“ und des „Byzantinismus“, die schon Vinea und Voronca in ihren Manifesten der 1920er Jahre angeprangert hatten. In den Jahren nach 1989 vermochten letztlich weder die Theaterarbeiten der aus dem Ausland heimgekehrten Regie-Stars noch der Rekurs auf die rumänische Literatur des „goldenen Zeitalters“ der demokratischen Zwischenkriegszeit dem neuen postkommunistischen Lebensgefühl mit seiner totalen Umwälzung aller Verhältnisse künstlerisch Ausdruck zu verleihen. Das bürgerliche Konzept von Theater als Spiegel der Gesellschaft ist zerbrochen; „Oglinda spartă“, der zerbrochene Spiegel, wird zur Metapher des rumänischen Theaters der 1990er inmitten einer konturlosen Gesellschaft. Zwar wurde von der 1990 neu gegründeten rumänischen Bühnengenossenschaft UNITER ein Wettbewerb für neue Dramatik ins Leben gerufen. Doch da sich die institutionellen Strukturen des staatlichen Theaterapparats nach 1989 nicht so rasch reformieren ließen, zeichneten sich im Jahrzehnt nach der Revolution kaum Änderungen ab.25 Zudem war das Land noch immer geprägt von den allerorten spürbaren Folgen der Diktatur: die Demokratisierung und Etablierung einer Zivilgesellschaft unter dem bis 2004 regierenden Präsidenten Ion Iliescu,26 einem früheren Mitglied der Ceauşescu-Regierung, verlief extrem schleppend.
SPECTACOLUL MANIFEST – DIE AUFFÜHRUNG ALS MANIFEST
Um dem potenziellen Dogmatismus diskursiver Kunstmanifeste zu entgehen und der Vermittlungsinstanz der Regie weniger Spielraum zu geben, versuchte die dramAcum-Gruppe den Kreis der Akteure des zeitgenössischen Theaters durch Stückwettbewerbe zu erweitern und die Dramatiker selbst in die Inszenierung zu involvieren. Die Autorschaft des künftigen Theaters sollte an die junge rumänische Gesellschaft übertragen werden. Damit kehrt sich die avantgardistische Programmatik der Veränderung der Gesellschaft durch die Kunst um zugunsten einer Veränderung der Kunst durch die Gesellschaft. Statt einer Orientierung an internationalen ästhetischen Trends wurde der unmittelbare Bezug zur städtischen rumänischen 25 Siehe hierzu Popescu 1997 (wie Anm. 22), S. 379. 26 Iliescu war von Ende 1989 bis 1996 und von 2000 bis 2004 Präsident Rumäniens.
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Alltagsrealität zum Maßstab erhoben. Das Ergebnis war ein Theater, das auf der Ästhetik des Improvisierten und des Straßen-Jargons beruht und weniger an einer rationalen Durchdringung als an der synästhetischen Darstellung der politisch und ökonomisch absurden Verhältnisse interessiert ist. Theaterhistorisch steht es in der Tradition des künstlerischen Kabaretts, wie es bereits die Dadaisten außerhalb Rumäniens erprobt hatten. Preisträger des ersten Stücke-Wettbewerbs von dramAcum war Peca Ştefan.27 Neben Gianina Cărbunariu gilt er heute als einer der provokantesten rumänischen Autoren. 2007 gewann er beim Heidelberger Stückemarkt mit România 21 den „Innovationspreis“.28 In dieser 2004 auf Englisch verfassten Musical-Parodie wird die Geschichte einer den gängigen Rumänien-Klischees entsprechenden korrupten Familie von den 1980ern bis 2007, dem Jahr der Aufnahme Rumäniens in die Europäische Union, als Revue dargestellt. Der Sprachduktus ist direkt an das Publikum adressiert und das falsche Pathos ähnelt auffällig demjenigen sozialistischer Parteiveranstaltungen. Vater Ion ist bis 1989 beim Geheimdienst Securitate, zu Hause erfüllt er die familienpolitischen Vorgaben Ceauşescus und nach 1990 kann er gewisse Ähnlichkeiten mit dem Ex-Präsidenten Ion Iliescu kaum verleugnen. Die Mutter betreibt nach 1989 Kinderhandel, die Tochter wird Prostituierte und die blutsaugerischen Söhne machen krumme Geschäfte. Doch zum Glück ist Gott auch nur ein Rumäne; er erteilt allgemeine Absolution, predigt Integration und regelt den Beitritt in die europäische Union. Pecas radikaler Bruch mit den Theaterkonventionen deklarierte der Literaturkritiker Mircea Ghiţulescu als „literarisches Manifest“, dem er allerdings wegen der verwendeten Fäkalsprache jegliche literarischen Qualitäten absprach.29 Die sich in diesen Stücken manifestierende Einheit von 27 Pecas preisgekrönter Text Punami wurde aus organisatorischen Gründen allerdings erst 2005 uraufgeführt. Siehe hierzu Iulia Popovici: Un nou teatru românesc: proiecte pentru o lume nouă (Ein neues rumänisches Theater: Enwürfe für eine neue Gesellschaft), in: LiterNet (Internet-Portal), 27.9.2005, http://atelier.liternet.ro/articol/2781/Iulia-Popovici/Un-nou-teatruromânesc-proiecte-pentru-o-lume-nouă.html [Abruf: 10.8.2016]. 28 Peca Ştefan: Rumänien 21. Aus dem Englischen von Ewald Palmetshofer, Typoskript, Österreichischer Bühnenverlag Kaiser, Wien o. J. [2007]. 29 „[...] este vorba de un manifest literar şi nu de literatură pur şi simplu“. Mircea Ghiţulescu: Manifestele lui Peca Ștefan sau literatura în impas (Die Manifeste Peca Ștefans oder die Literatur in der Einbahnstraße), in: Luceafărul de diminieaţă, Nr. 12, Februar 2008, http://www.revistaluceafarul. ro/index.html?id=281&editie=17 [Abruf: 10.9.2016]. Die krude, unpsychologische Darstellung g
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(auch sprachstilistisch gegenwartsbezogenem) Text und Aufführung kann der konservative Kritiker nicht mehr in eine Traditionslinie einordnen. Ein besonderes Problem der dramAcum-Projekte im ersten Jahrzehnt bestand vor allem darin, geeignete Spielstätten für derlei unkonventionelle Stücke zu finden. In den 1990er Jahren war das kleine Bukarester Teatrul ACT das einzige nicht-kommerzielle Theater, das nicht unter staatlicher Verwaltung stand.30 Unter den öffentlich geförderten Theatern stellte zunächst nur das Bukarester Teatrul Mic sein Studio, das Teatrul Foarte Mic, für die Projekte von dramAcum zur Verfügung.31 Wichtigste Spielstätte für die aus den dramAcumWettbewerben hervorgegangenen Stücke war allerdings kein eigentliches Bühnenhaus, sondern der 1997 gegründete Bukarester Kunst- und Jazzkeller Green Hours, ein Treffpunkt für Musiker, Maler, Medienkünstler und Theatermacher. Hier eröffneten sich Freiräume für kulturpolitische Diskurse und spartenübergreifende Ästhetiken jenseits der staatlichen Institutionen.32 An
der Auswüchse des Kapitalismus und der damit verbundenen Entmenschlichung erinnert nicht zufällig an die britische Dramatik der 1990er. Impulsgeberin für dramAcum ist die 1960 geborene Klausenburger Dramatikerin und Anglistin Alina Nelega. Sie hatte bereits 1997 das Forum dramafest für die Entwicklung einer neuen rumänischen Dramenliteratur ins Leben gerufen. Als Übersetzerin trug sie zur Verbreitung des britischen „In-Yer-Face-Theatre“ der 1990er, also der Stücke von Sarah Kane, Mark Ravenhill, MartinMcDonagh etc., in Rumänien bei. Zur britischen Dramatik siehe Aleks Sierz: In-Yer-Face Theatre. British Drama Today, London 2001. 30 Diese seit 1998 bestehende Spielstätte geht zurück auf eine von prominenten Rumänien, wie dem Regisseur Liviu Ciulei und dem Schauspieler Marcel Iureş (geb. 1951), initiierte und von amerikanischen und englischen Künstlern mitfinanzierte Stiftung. Der Spielplan des Teatrul ACT konzentriert sich auf internationale Dramatik. Vgl. hierzu Irina Wolf: Ein Jahrzehnt Act-Theater, in: Mazilu/Weident/Wolf 2011 (wie Anm. 5), S. 295–300. Das rumänische Theatersystem ähnelt mit seinem Repertoiresystem und den von der öffentlichen Hand geförderten Staats- und Stadttheatern dem der deutschsprachigen Länder. Eine Förderung der Off-Szene gibt es allerdings nicht. Zur Situation der freien Theaterszene in Rumänien siehe den Dokumentarfilm In Debt we Art (RO 2014) von Daniel Popa. 31
Das Studio Teatrul foarte mic ist seit November 2015 (aus baubehördlichen Gründen) geschlossen, aktuelle dramAcum-Projekte können im Theatersaal des Teatrul Mic stattfinden. Seit einigen Jahren bieten auch die Staatstheater in der Provinz, insb. in Temesvar und Hermannstadt, den jungen Theatermachern Produktionsmöglichkeiten.
32 Siehe hierzu das Video von Cinty Ionescu Dan Perjovschi deseneaza la Green (Der Zeichenkünstler Dan Perjovschi be-zeichnet den Green Hours Club), in dem der Unterschied zwischen dem staatlichen Theatersystem (repräsentiert durch das Bukarester Nationaltheater) und der freien Theaterszene im Green Hours zeichnerisch und sprachlich als Site-specific-Performance inszeniert wird. http://cintyionescu.weebly.com/dan-perjovschi-does-green-hours.html [Abruf: 10.8.2016].
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den, an staatlichen Theatern meist spielfreien Montagen werden hier unter dem Label Teatrul Luni de la Green Hours (Montagstheater im Green Hours) die aus den dramAcum-Aktivitäten hervorgegangenen Stücke aufgeführt. Die räumlichen Bedingungen dieses kleinen Café-Theaters ohne Proszeniumsbühne, Bühnenmaschinerie und Beleuchtungseinrichtung sowie die fehlende Distanz zwischen Akteuren und Publikum verlangt von vorn herein nach einer improvisierten reduzierten Darstellungsästhetik. Im Rahmen des dramAcum-Spielzeit-Projekts „‚Konsum‘ – neun Stücke, neun Premieren in neunzig Aufführungen über ein Jahr verteilt“ – fanden hier 2003/2004, jeweils in Eigen-Regie der Autoren, die Premieren von Peca Ştefans Showdown und Gianina Cărbunarius Stop the Tempo! statt33 Peca war der Preisträger des ersten Dramatikerwettbewerbs, Carbunariu eines der Gründungsmitglieder von dramAcum.34 In Cărbunarius Stück warten drei junge Leute in Anspielung auf die dramaturgische Grundsituation des absurden Theaters in einer Disco auf jemanden oder etwas, das nie kommen wird. Paula hat drei Jobs, um sich und ihre Familie über Wasser zu halten. Maria ist lesbisch (Homosexualität wurde in Rumänien erst 2002 legalisiert) und Rolando ist ein erfolgloser DJ, der von seiner Freundin verlassen wurde. Ihr Leben ist geprägt von überzogenen Erwartungen, die andere an sie stellen. In ihren an das Publikum gerichteten inneren Monologen erscheint die Gesellschaft als ein seelenloser Ort, als ein Riesen-Supermarkt. Hier hat alles seinen Preis, doch nichts einen Wert. Das neue Leben im Kapitalismus ist hart, schnell und ohne Filter. Doch dann entschließen sich die drei, einen Gang herunterzuschalten und gegen Modetrends, Partysucht und das Mediendiktat anzukämpfen. In drastischer Sprache und mit aggressiver Soundcollage wird hier dem Lebensgefühl einer verlorenen Generation ohne Zukunftsaussichten Ausdruck verliehen. 33 Gianina Cărbunariu: Stop the Tempo!, in: Editura LiterNet (Internet-Portal) 2004, http://editura.liternet.ro/carte/111/Gianina-Carbunariu/Stop-the-Tempo.html [Abruf: 15.7.2016]; deutsche Fassung von Oliver Trautwein, stückgut Bühnen- und Musikverlag, München o. J. (2007). Der Text von Pecas Showdown wurde m. W. nicht veröffentlicht. 34 Cărbunariu debütierte im Jahre 2000 mit dem Stück Irealităţi din Estul Sălbatic Imediat (Die Unwirklichkeit des gegenwärtigen wilden Ostens). Der Text basiert auf Max L. Blechers avantgardistischem Roman Intâmpliri in irealitatea imediată (Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit), siehe hierzu auch Anm. 18.
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Die von Cărbunariu inszenierte Uraufführung war direkt auf die Atmosphäre des winzigen Café-Theater Luni de la Green Hours zugeschnitten. Der Raum war weitgehend dunkel, die Spieler drängten durch die Zuschauerreihen, einzige Lichtquelle waren mobile Scheinwerfer, welche die Gesichter der Sprecher oder der Angesprochenen beleuchteten. Diese Lichtregie ähnelt der Schnitttechnik im Film und erweckte den Eindruck, dass hier keine kohärenten individuellen Schicksale gezeigt werden, sondern Momentaufnahmen einer verlorenen Generation. Ähnlich wie Peca Ştefans România 21 auf die gleichermaßen überzogenen Rollenklischees kommunistischer Partei-Parolen und kapitalistischer Werbe-Slogans anspielt, werden hier der Drang und Zwang zu Selbstdarstellung und Selbstvermarktung sprachlich und visuell ins Visier genommen. In den Blick gerät dabei weniger das große Ganze, sondern der Einzelne, der auf die Fragen der gesellschaftlichen Existenz, für die Kommunismus und Kapitalismus gleichermaßen eine leuchtende Zukunft versprechen, keine Antwort mehr hat, aber trotzdem auf seiner Daseinsberechtigung verharrt. Damit erhält die Theateraufführung, deren Text und Sound zwar keine Anleitung zum Glücklichsein formulieren kann, aber jene Lücke und Leere, die sich in der Gegenwart auftut, fokussiert, selbst den Charakter eines Manifests. Dessen Inhalte sind weder diskursiv vermittelbar noch realisieren sie sich ausschließlich im poetischen Sprachduktus. Sie erschließen sich im Gestus des Ausschnitthaften, in der szenischen Momentaufnahme, in der die Sprachlosigkeit dieser Übergangsgesellschaft für wenige Augenblicke unmittelbar fassbar wird. Eben diese programmatische Unmittelbarkeit attestiert auch die Theaterkritikerin Iulia Popovici der Uraufführung Cărbunarius: „Die Aufführung von Gianina Cărbunariu lässt dich nicht so weggehen wie du hergekommen bist; es ist ein Theater mit einer kategorischen ethischen Haltung, das es dem Zuschauer nicht mehr gestattet, unbeteiligt, im Refugium ästhetischer Autonomie zuzuschauen, und zwar, weil die Regisseurin sich ein für allemal für genau das entschieden hat, was Theater eben ist: die direkteste und unmittelbarste Ausdrucksform des eigenen Selbst.“35 35 „Spectacolul Gianinei Cărbunariu nu te lasă să pleci la fel cum ai intrat; e un teatru cu o atitudine etică tranşantă care nu-i mai dă voie spectatorului să privească detaşat, la adăpostul autonomiei g
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Nach dreizehn Aufführungen im Montags-Theater wurde Stop the Tempo! trotz des großen Publikumsandrangs auf Wunsch Căbunarius im März 2005 vom Spielplan genommen, um den, dem Stück inhärenten „Charakter des Manifests nicht zu entstellen“.36 Die aus dem dramAcum-Manifest hervorgegangenen, in der Traditionslinie des rumänischen Integralismus und einer Entliterarisierung der Literatur stehenden Theatertexte verstehen sich als Manifestationen eines neuen politischen Theaters, das ohne politische und ästhetische Thesen auskommt und sich Abb. 3 Flyer für die Site-specific-Theatervorstellung Ora verda (Grüne Stunde) der dramAcumerst im Theaterereignis unmittelbar reaGruppe im Teatrul Luni de la Green Hours, lisiert. Indem die Aufführung durch den Bukarest, 21.10.2013 in Personalunion agierenden Dramaturg-Regisseur erarbeitet wird, kann der Part der Regie als reflexiver Vermittlungsinstanz minimiert werden. Basierend auf dem performativen Gestus des Sprachspiels propagiert dramAcum eine Theaterarbeit im Bewusstsein der Flüchtigkeit und Vorläufigkeit des Szenischen. Selbstironisch deklariert sich die Gruppe als teatrul de urgenţia (Theater der Dringlichkeit, Not[fall]-Theater), das sich der gesellschaftspolitischen Notwendigkeit des Ausgangs von der Bühne in die soziale Wirklichkeit verschreibt (Abb. 3). esteticului, şi asta fiindcă, odată pentru totdeauna, regizoarea-dramaturg a ales teatrul pentru exact ceea ce el este: cea mai directă şi imediată formă de exprimare de sine.“ Iulia Popovici: Stop the Tempo / Ultimul stinge lumina! (Stop the Tempo – Der Letzte macht das Licht aus!), in: LiterNet (Internet-Portal), Januar 2004, http://agenda.liternet.ro/articol/685/Iulia-Popovici/Stop-the-Tempo-Ultimul-stinge-lumina.html [Abruf: 15.7.2016]. In ihrer Rezension der e-book-Ausgabe von Cărbunarius Stücks diskutiert Popovici deren sprachliche Stilmittel, insbesondere Lautmalerei und Homophonie, indem sie ihre Ausführungen programmatisch mit den Worten betitelt: „Tu faci viitorul! – O, da, I fuck it.“ [Hervorhebungen K. K.], (Du machst [faci] deinen Weg! – Oh ja, ich scheiß [fuck] drauf.) ,http://editura.liternet.ro/carte/111/Gianina-Carbunariu/Stop-the-Tempo.html [Abruf: 10.8.2016]. 36 Siehe hierzu Popovici 2005 (wie Anm. 27): „‚Stop the Tempo‘ [...] a fost oprit, [...] în martie 2005, în ciuda afluenţei de public, din dorinţa regizoarei de a nu-i denatura spiritul de manifest.“
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MANIFESTE DER MIGRATION. VON KANAK ATTAK ZUM MANIFEST DER VIELEN
Das Ende der 1990er Jahre formierte Bündnis Kanak Attak war ein Hybrid aus Polit-AktivistInnen, PoetInnen, MusikerInnen, PerformerInnen und WissenschaftlerInnen. Kanak Attak konstiuierte sich als Zusammenschluss aus KünstlerInnen oder Hip-Hop-Gruppe, bestand aus Film- und PerformancekünstlerInnen, war eine Ansammlung Intellektueller – und, wie in diesem Beitrag postuliert wird, eine lautstarke Manifestation. Kanak Attak publizierte programmatische Texte, die Nein zu Rassismus und Verdrängung sagten, und die Gruppenaktivitäten bildeten in ihrer Gesamtheit ein großes politisches und künstlerisches Manifest. In ihren Auftritten und Festivals trug Kanak Attak die verdrängte Migrationsgeschichte und -gegenwart ins Rampenlicht. Die laute und raumgreifende Präsenz von Kanak Attak, wie sie sich seit 2001 in Auftritten an der Berliner Volksbühne und andernorts körperlich und sprachlich artikulierte, stand ein für ein neues Selbstbild junger MigrantInnen: Es war eine Geste der Abwendung vom Opfer- und Täterstatus, den Einwandererinnen und Einwanderer in einer schizophrenen Doppelprojektion oftmals ertragen müssen. Einerseits werden sie in der öffentlichen Wahr-
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Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 1
Kanak Attak: Ausländer und Deutsche: Gefährlich fremd, ohne Datum, Plakat
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Kanak Attak: deutsch mich nicht voll!, ohne Datum, Plakat
Abb. 3
Kanak Attak: no integración, 19.–22. Mai 2002, Plakat
nehmung und in der Medien- und Politsprache seit Jahrzehnten häufig als Verlierer der Gesellschaft mit geringer Bildung und mangelnden Aufstiegschancen bezeichnet. Andererseits sind sie auch die sozialen Problemgruppen, das heißt potenziell gewaltbereit, machistisch, islamistisch, radikal und übergriffig.1 Diesen Zuschreibungen stellte Kanak Attak (in ironisierender Aneignung von stereotypen Formulierungen populärer Printmedien wie Der Spiegel) einen selbstbewussten Aktivismus entgegen, der frech, aufdringlich und vollmundig Handlungsmacht formulierte und Slogans verwendete wie „Deutsch mich nicht voll!“ (Abb. 1 und 2). Dieser Beitrag wird diese künstlerischen Strategien der vehementen Artikulation und Präsentation politischer Inhalte in den Blick nehmen. Zu fragen wäre, warum die Form und Aufführungspraktiken tradierter Künstlermani1
Siehe dazu beispielhaft nicht nur Titelgeschichten der Zeitschrift Der Spiegel von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart (u. a. Der Spiegel 16/1997 mit dem Titelthema Gefährlich fremd. Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft), nicht nur populistische Publikationen wie Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010), sondern auch die stereotypen Auftritte von Schauspielern nichtdeutscher Herkunft im deutschen Fernsehen und Kino bis in die jüngere Gegenwart. Zu diesen Politiken im Umgang mit MigrantInnen siehe Kurt Möller: Hybrid-Kulturen. Wie „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ postmigrantisch werden, in: Kanak Cultures. Kultur und Kreativität junger MigrantInnen, hg. v. Archiv der Jugendkulturen e.V., Berlin 2010, S. 9–22, hier S. 18.
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feste gewählt wurden, um dem Thema Migration Raum zu geben. Verweist das „no integración“ (Abb. 3) von Kanak Attak auf Strategien der Verweigerung, wie sie auch in Yvonne Rainers No Manifesto begegnen? „Wir müssen uns nicht integrieren“ lautet im Übrigen auch eine Zeile im Manifest der Vielen, das 2011 eine literarische Form des Protestes wählte: Als Antwort auf Thilo Sarrazins polemische Streitschrift Deutschland schafft sich ab (2010) veröffentlichte die Publizistin Hilal Sezgin ein Jahr später einen Band mit Texten von Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Herkunft, die über ihr Verhältnis zu Deutschland schreiben. Kanak Attak und das Manifest der Vielen sind Zeugnis der Aktualität künstlerischer und literarischer Manifeste in einer sich diversifizierenden Gesellschaft im Umbruch.
KANAK ATTAK: EIN BÜNDNIS ENTSTEHT
Kanak Attak war ein loser Zusammenschluss verschiedener AkteurInnen aus unterschiedlichen Branchen beziehungsweise Arbeitsfeldern und entstand im Jahr 1998 in Reaktion auf Debatten um eine nationale Leitkultur2, die Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland durch die amtierende rot-grüne Regierung und die darauffolgenden massiven Reaktionen des konservativen und politisch rechten Lagers. Zur Gruppe gehörten unter anderem SoziologInnen wie Mark Terkessidis, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos und Ellen Bareis, die Kulturanthropologin Sabine Hess, die Schriftsteller Feridun Zaimoğlu und Imran Ayata.3 Der Name Kanak Attak eignete sich einerseits den Begriff des „Kanaken“ an, der eine Geschichte als verbreitetes Schimpfwort gegen MigrantInnen hat. Umkodiert wurde der Begriff spätestens durch Texte des Schriftstellers Feridun Zaimoğlu, die „Kanaken“ als selbstbewusste Selbstbezeichnung von Menschen migrantischer Herkunft einführten.4
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Zu Begriff und Debatte siehe Hartwig Pautz: Die deutsche Leitkultur: Eine Identitätsdebatte. Neue Rechte, Neorassismus und Normalisierungsbemühungen, Stuttgart 2005.
3
Diese und weitere Mitglieder sind erwähnt bei Nanna Heidenreich: Die Kunst des Aktivismus. Kanak Attak revisited, in: Burcu Dogramaci (Hg.): Migration und künstlerische Produktion. Aktuelle Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 347–360, hier S. 347.
4
Siehe u. a. Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) und Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft (1999).
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Kanaken kommt etymologisch vom polynesischen „Kanaka“ für „Mensch“.5 Kanaken ersetzt in diesem Sinne das ausgrenzende „Ausländer“, „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „Gastarbeiter“ durch den „Menschen“. Der Begriff „Attak“ wiederum artikuliert das aktivistische Potenzial und die verbal aggressive Präsenz der Gruppierung; so finden sich in den Äußerungen von Kanak Attak immer wieder Referenzen auf den Angriff, die Attacke, den Widerstand, wenn es etwa heißt, man wolle „die Kanakisierung bestimmter Gruppen durch rassistische Zuschreibungen mit all ihren Folgen an[zu] greifen“ oder auf „[e]ine andere rassistische Denkfigur [verweisen], die es zu attackieren gilt“6. Diese Haltung formuliert sich als Strategie des Konflikts und kann in Zusammenhang gesehen werden mit einflussreichen theoretischen Strömungen wie dem italienischen Operaismo der 1960er Jahre.7 Die Verbindung zum Operaismo ist beispielsweise im Geschichtsverständnis von Kanak Attak zu erkennen: Beide eint die Annahme, dass Konflikte und soziale Kämpfe wesentliche Triebkräfte der Geschichte sind (man denke dabei
5
Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts wird im Brockhaus „Kanaken“ wie folgt definiert: „die eingeborene Bevölkerung der Sandwichinseln. Das Wort Kanaka bedeutet ‚Mensch‘ [...]“. Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, 13. [...] Auflage, Bd. 10: Kadett–Lenzkirch, Leipzig 1885, S. 59.
6
Beide Zitate aus Kanak Attak: Ein Manifest gegen Mültükültüralizm, gegen demokratische und hybride Deutsche sowie konformistische Migranten. „Dieser Song gehört uns!“, in: die tageszeitung, Jg. 21, 28.1.1999, S. 12.
7
Siehe dazu ein Gespräch von Katja Diefenbach und Sabine Grimm mit verschiedenen AktivistInnen von Kanak Attak, in dem Vassilis Tsianos zu Protokoll gab: „Operaismus in der Rassismustheorie finde ich eine schöne Formulierung. In unserer theoretischen Praxis arbeiten wir tatsächlich an einer widerstandstheoretischen Perspektive, aus der wir Rassismus analysieren und kritisieren wollen. Dabei geht es nicht so sehr um MigrantInnen als Subjekte, sondern vor allem um eine Konzentration auf die Dynamik der Kämpfe.“ Katja Diefenbach und Sabine Grimm: Der Kanak-Aha-Effekt. Was hat „OpelPitbullAutoput“ mit Antirassismus und Subjektivität zu tun? Ein Gespräch mit kanak attak, 2001, http://www.kanak-attak.de/ka/text/jw180401.html [Abruf: 12.8.2016]. Siehe dazu auch Heidenreich 2013 (wie Anm. 3), S. 354. Der in der italienischen Arbeiterbewegung entstandene Operaismo wurde durch Antonio Gramscis Lesart marxistischer Theorie inspiriert. Der Ausruf „Vogliamo tutto!“ im Kontext der Zusammenstöße zwischen Fiat-Arbeiterinnen und -Arbeitern und der Polizei 1962 in Turin formuliert die kompromisslose Konfliktbereitschaft im „Kampf gegen die Arbeit“. Zur Geschichte und Definition des Operaismo (in einer wortgetreuen deutschen Übersetzung heißt dies „Arbeiterismus“) siehe Martin Birkner und Robert Foltin: (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte & Gegenwart, Theorie & Praxis. Eine Einführung, 2., erw. Aufl., Stuttgart 2010.
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an die Kanak History Revue von Kanak Attak in der Volksbühne 2001).8 Zugleich sind diese Kampfansagen aber auch in der Tradition der Textgattung Manifest zu verorten, für die Strategien der Verneinung charakteristisch sind – verwiesen sei hier auf das „NO“ im No Manifesto von Yvonne Rainer. Das Negieren und Verneinen trägt den Widerspruch in sich, ist ein Sprechen gegen und damit (als Dialog mit einem imaginären Gesprächspartner) eine dialektische Verfahrensweise, die das Negieren als Voraussetzung für Aushandlungsprozesse versteht. Vor allem ist Kanak Attak ein Verstärker multipler Stimmen, die nicht ungehört bleiben sollen. Damit verweist Kanak Attak auf die Objektivierung von MigrantInnen zum problembeladenen Thema, über die gesprochen und geschrieben wird, die jedoch selbst keine Möglichkeit der Artikulation haben. Die migrantischen AkteurInnen sind merkwürdig unsichtbar, verschwinden „sang- und klanglos, und alle, die nicht in das dominante Raster des ‚Deutschen‘ passen“, so Fatima El-Tayeb, „mutieren wieder zum stummen, ‚fremden‘ Objekt. Diese Fremdheit, so scheinbar die stillschweigende Übereinkunft, disqualifiziert es für einen Platz im öffentlichen Raum – diskursiv und auch sonst.“9 In der Perspektive von Kanak Attak ist der Antagonismus zwischen Fremden und Nativen aufgehoben, da der Ausgangspunkt eine von Anbeginn unreine Gesellschaft ist, die nie homogen, weiß oder pur war. Geschlossene Geschichtsmodelle und auch normative Kulturbegriffe werden verworfen, negiert, ausgeschlossen. Und dieser Ansatz meint auch die Sprache, die ein Hybrid unterschiedlicher Versatzstü8
Zu Kanak Attak als post-operaistisches Netzwerk siehe Birkner/Foltin 2010 (wie Anm. 7), S. 176–179. Ob und wie agonistische Theorien z. B. von Chantal Mouffe für Kanak Attak prägend waren, kann nur vermutet werden, liegt aber nicht fern. So lebt nach Mouffe die Demokratie von der Anerkennung der unvermeidbaren Existenz von Konflikten; sie wendet sich offensiv gegen einen konsensorientierten Ansatz. Siehe dazu u. a. Chantal Mouffe: The Return of the Political, London/New York 1993; Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007. Eine gute Einführung zu Mouffes frühen Theoriekonzepten gibt Dirk Jörke: Die Agonalität des Demokratischen: Chantal Mouffe, in: Oliver Flügel, Reinhard Heil und Andreas Hetzel (Hg.): Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute, Darmstadt 2004, S. 164–184.
9
Fatima El-Tayeb: Kanak Attak! HipHop und (Anti-)Identitätsmodelle der „Zweiten Generation“, in: Angelika Eder (Hg.): „Wir sind auch da!“. Über das Leben von und mit Migranten in europäischen Großstädten, München/Hamburg 2003, S. 313–326, hier S. 314.
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cke aus verschiedenen Sprachen – Deutsch, Türkisch, Arabisch usw. – und Dialekten ist, die Anglizismen vermengt mit deftigen Fäkalausdrücken und einem eigenen Rhythmus und einer eigenen Logik folgt. Beispielhaft kann hier ein Wort aus dem Titel des Kanak-Attak-Manifests von 1999, auf das noch einzugehen ist, zitiert werden: „Mültükültüralizm“ setzt das türkische Kültür für Kultur, verballhornt das deutsche Multi und nimmt die Endung aus dem angelsächsischen Sprachraum. Ebenso selbstverständlich wird in den deutschen Texten das türkische Almanya (für Deutschland) benutzt. Einflussreich für das Sprachenspiel der Kanaken waren die frühen Texte von Feridun Zaimoğlu, unter denen die Bücher Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) und Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft (1999) wohl die bekanntesten Werke sind.10 Mit ihrer hybridisierten Kunstsprache rekurrieren Kanak Attak auf den normativen und essentialistischen Umgang mit Mehrsprachigkeit vor allem bei Einwandererinnen und Einwanderern südeuropäischer oder arabischer Herkunft. Sprache entscheidet zwischen In- und Exklusion, sie ist Machtund Autoritätsinstrument. Dabei wird Mehrsprachigkeit oder ein Sprachproblem oftmals im Kontext kultureller oder ethnischer Herkunft bewertet: Das Beherrschen der Muttersprache gilt bei ArbeitsmigrantInnen, wie das verworfene Strategiepapier der CSU von 2014 zeigte, nicht als Mehrwert sondern als ein Defizit, während Mehrsprachigkeit bei Nativen als besonders gute Voraussetzung für eine Karriere angesehen wird.11 Kanak Attak verwendet hybride Sprachgebilde und verweist darauf, dass Sprache einer ständigen Weiterentwicklung und verschiedensten sozialen Einflüssen ausgesetzt sind. Dies ist eine Attacke auf die besorgten Wächter deutscher 10 Zu Kanak Sprak von Feridun Zaimoğlu siehe Thorben Päthe: Vom Gastarbeiter zum Kanaken. Zur Frage von Identität in der deutschen Gegenwartsliteratur, München 2013, S. 142–149. Päthe zitiert auch einen Ausspruch Zaimoğlus, der eine Reaktion auf die Entweder-Oder-Debatte ist: „Türkisch oder deutsch, beides ist scheiße. Beides ist scheiße. Warum werden wir das gefragt? Ich geh doch nicht in den Supermarkt und schaue mir nur zwei Regale an […]“ (S. 9). 11
Dazu die Künstlerin Esra Ersen, die sich in ihren Arbeiten mit Sprache und Exklusion beschäftigt: „If you come from a European country and travel through Europe, language does not have the same significance as if you come, for instance, from Iraq, Iran or Peru. To Swedes it may seem nice when you as a German try to speak Swedish and make mistakes. The same tolerance is not shown an Iraqi.“ Esra Ersen, zit. in: Moderna Museet Projekt: Esra Ersen, Ausst.-Kat. Moderna Museet, 2001, Stockholm 2002, S. 32.
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Leitkultur und deutscher Sprache, wie sie beispielsweise im Jahr 2000 in Person des CDU-Politikers Friedrich Merz für Diskussionen sorgten.12 Die Sprache von Kanak Attak kann aber auch im Kontext künstlerischer Praktiken beurteilt werden, wie sie bei DADA zu Beginn des 20. Jahrhunderts begegnet. Poesie und die phantastische, absurd anmutende Lautsprache waren Teil der dadaistischen Kritik am Kulturbürger, wie sie von den DadaKünstlern in Gedichten, performativen Auftritten und Manifesten artikuliert und vertreten wurde.13 Schon diese beiden Deutungen der Kanak Sprak veranschaulichen eine gewisse Hilflosigkeit im Umgang mit der Bewegung, die auch in den Texten über diese Vereinigung begegnet.14 So ist es nahezu unmöglich, Kanak Attak zu kategorisieren: Ist es eine künstlerisch ambitionierte politische Gruppierung oder eher ein künstlerischer Zusammenschluss mit politischem Impetus? Geht es um Sprache, Politik oder Geschichte (vermutlich um alle drei Bereiche), wer sind die Adressaten? In welchem Verhältnis stehen die künstlerischen und politischen Mittel, politischen Forderungen, Konzerte, Auftritte, CDs und Literaturen? Diese Fragen werden auch in diesem Text unbeantwortet bleiben. Dennoch lässt sich argumentieren, dass vor allem die produktive Inkonsistenz die Vielheit möglicher Stimmen der Gruppe Kanak Attak zum Ausdruck bringen kann.
KANAK ATTAK: MANIFEST, PERFORMATIVITÄT UND HANDLUNGSMACHT
Obgleich Kanak Attak bereits seit 1998 existierte, formulierte das Bündnis seine Überzeugungen erst ein Jahr später als Manifest, das unter dem Titel Ein Manifest gegen Mültükültüralizm, gegen demokratische und hybride Deutsche sowie konformistische Migranten in der taz – die tageszeitung vom 12 13
vgl. Pautz 2005 (wie Anm. 2), S. 90–93. Einige der dadaistischen Laut- und Simultangedichte, Textbilder und Ideogramme sind versammelt in: dada Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction. Textbilder, Lautgedichte, Manifeste, hg. v. Andreas Puff-Trojan und H. M. Compagnon, Zürich 2016.
14
Siehe u. a. El-Tayeb 2003 (wie Anm. 9), S. 315, die schreibt: „Wo genau die Gruppe sich im steinigen Feld postkolonialer antiessenzialistischer Politik positioniert, ist nicht immer deutlich (und auch nicht konsistent) […]“.
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Abb. 4
Kanak Attak: Ein Manifest gegen Mültükültüralizm, gegen demokratische und hybride Deutsche sowie konformistische Migranten. „Dieser Song gehört uns!“, in: die tageszeitung, 21. Jg., 28. Januar 1999, S. 12
28. Januar 1999 veröffentlicht wurde (Abb. 4): „Kanak Attak ist ein Zusammenschluß von Leuten über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter ‚Identitäten‘ hinweg. Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder nach der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft. […] Kanak Attak ist antinationalistisch, antirassistisch und lehnt jegliche Form von Identitätspolitiken ab, die sich etwa aus ethnologischen Zuschreibungen speisen.“15 Kanak Attak positioniert sich hier weder als leidender „Ausländer“ – der Begriff und die damit einhergehende rechtliche Sonderstellung ohne Wahlrecht und Staatsbürgerschaft wird grundsätzlich abgelehnt –, noch als kriminalisierter Muslim. Mit ihrem Aufbegehren gegen Islamophobie waren Kanak Attak 1999 ihrer Zeit weit voraus. Im Manifest heißt es: „Der Rassismus artikuliert sich auch in Deutschland aktuell vor allem in kulturalistischer Ausprägung: Der Islam dient als eine Projektionsfläche für unterschiedliche Rassismen. Dabei geht es nicht zuletzt um das Phantasma der Unterwanderung durch fremde Mächte. Für uns kommt der Islam nicht als homogene Ideologie daher. Mit der alltäglichen Religionsausübung hat der organisierte politische Islam, den wir gänzlich ablehnen, wenig zu tun.“16 Es stellt sich die Frage, warum eine politische und künstlerisch aufgestellte Gruppierung wie Kanak Attak das Nachrichtenmedium Tageszeitung für ihre Manifestation wählte? Die Zeitung ist als Multiplikator für Texte an ein lesendes und rezipierendes Publikum ein idealer Ort für Manifeste, da sich die künstlerischen Verlautbarung Manifest in den meisten Fällen an eine Öffentlichkeit, zumindest aber an einen Adressaten richtet. Manifeste sind appellativ, wollen gelesen oder gehört werden, artikulieren ein Ausrufezeichen in ihren Aussagen. Manifesten ist dabei zumeist eine über die Kunst hinausweisende gesellschaftsbildende oder -verändernde Funktion inhärent.17 Der Ort, an dem das Manifest von Kanak Attak in die Öffentlichkeit kam, steht in der Tradition künstlerischer Manifeste. Am 15
Kanak Attak 1999 (wie Anm. 6), S. 12.
16
Ebd.
17
„Historisch gesehen ist das Manifest eine deklamatorische Form; es spricht laut und dringlich zur Gegenwart. Womöglich warnt es vor drohenden Krisen oder postuliert eine anders sich vorzustellende Zukunft.“ Duncan Forbes und Florian Ebener: Manifeste! Eine andere Geschichte der Fotografie, in: Manifeste! Eine andere Geschichte der Fotografie, Ausst.-Kat. Museum Folkwang, Essen 2014, S. 69–71, hier S. 69.
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20. Februar 1909 veröffentlichte der italienische Dichter Filippo Tommaso Marinetti in der Pariser Zeitung Le Figaro das erste Manifeste du Futurisme, das der futuristischen Bewegung einen theoretischen Rahmen gab.18 Das Manifest hatte 11 Nummern und sprach von einem „wir“, das wolle oder werde. Damit war der Pamphlet-Charakter des Textes exponiert, ebenso formulierte sich der Autor gleich im Plural als Handelnder. Moderne, postmoderne und zeitgenössische Manifeste sind demonstrative Artikulationen, die für sich ein pars pro toto behaupten. Neben der Zeitung ist aber in früheren Zeiten auch das Radio oder aber der Fernseher der Verbreitungsort für Manifeste, erinnert sei beispielsweise an die Erklärung vor dem Fernsehen (1960/61) der Gruppe SPUR. In unserer Gegenwart wäre das World Wide Web ein bedeutender Distributor für Manifeste, da damit in kurzer Zeit eine globale Leserschaft erreicht werden kann. Auch die Manifeste von Kanak Attak finden sich im Internet auf der Homepage der Gruppierung, die, obgleich dort offiziell die Auflösung bekannt gegeben wurde, heute noch existiert.19 Allerdings wählte Kanak Attak wie einst die Futuristen eine Tageszeitung als Weg in die Öffentlichkeit. Damit begab sich Kanak Attak auf jene mediale Bühne, die den Diskurs über „Ausländer“ maßgeblich mitbestimmte. Mit der taz wurde dabei ein Organ gewählt, das eine politisch linke Haltung artikuliert, doch war damit auch eine Reaktion anderer, bürgerlicher oder wertkonservativer Medien mitgedacht. Die taz war für Kanak Attak ein Nadelöhr in den Diskursraum Zeitung. Dabei steht das Manifest von Kanak Attak bereits im Duktus in der Tradition der Künstlermanifeste des 20. Jahrhunderts: Es provoziert und polarisiert. Es besänftigt nicht. Es erregt und erzeugt Widerspruch. Kanak Attaks Widerstand gegen folkloristische Veranstaltungen, Stadtteilinitiativen der Lokalpolitik, die von oben verordnet werden, ist absichtlich unverschämt und stößt jene vor den Kopf, die sich als Sympathisanten der Schwachen verstehen. Mit Slogans wie „Das Ende der Dialogkultur“ sollen eben diese von Freundlichkeit camouflierten gesellschaftlichen Asymmetrien aufgedeckt und entlarvt werden. Kanak Attak solidarisiert sich nicht mit einem freund18 Siehe Umbro Apollonio: Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1909–1918, Köln 1972, S. 30–36. 19
Das in der taz veröffentlichte Manifest findet sich mit leichten Abweichungen auf der Homepage von Kanak Attak: www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html [Abruf: 24.11.2015].
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lichen „Mültikültüralizm“, der in der öffentlichen Rhetorik ohnehin für gescheitert erklärt wird.20 Vielmehr wird dort angesetzt, wo zwischen „den Deutschen“ und „den Anderen“ unterschieden wird, die nur akzeptiert werden, wenn sie sich integrieren, assimilieren, anpassen. In seinem Manifest fordert Kanak Attak Nonkonformismus und eine Revidierung kategorischer Prinzipien von Inklusion und Exklusion, ebenso wird gegen sogenannte Erfolgsgeschichten polemisiert, die besänftigen sollen und die „guten“ gegen die „schlechten“ MigrantInnen ausspielen: „Obwohl Kanak Attak für viele nach Straße riecht, ist es kein Kind des Ghettos. So hätten es die Spürhunde der Kulturindustrie gerne, die auf der Suche nach authentischem und exotischem Menschenmaterial sind. Dazu paßt die Figur des jungen, zornigen Migranten, der sich von ganz unten nach oben auf die Sonnenseite der deutschen Gesellschaft boxt. Was für eine rührende Geschichte könnte da erzählt werden, wie sich Wut in produktives kulturelles und ökonomisches Kapital verwandelt: eine wahre Bereicherung für die deutsche Literatur und den heimischen Musikmarkt! Sie sollen nur kommen.“21 Diese Forderung wurde in Aktionen, Auftritten und Performances nachdrücklich unterstrichen. Sprachlich und performativ eigneten sich Kanak Attak die Ausdrucksmittel der Hip-Hop-Kultur an, die jedoch mit wissenschaftlichen Argumenten, literarischem Duktus und künstlerischer Haltung (so auch in den formulierten Bildproduktionen) überkreuzt wurden. Und so heißt es am Ende der digitalen Fassung des Manifests von Kanak Attak: „Wer glaubt, daß wir ein Potpourri aus Ghetto-HipHop und anderen Klischees zelebrieren, wird sich wundern. Wir sampeln ganz selbstverständlich verschiedene politische und kulturelle Drifts, die allesamt aus einer oppositionellen Haltung heraus operieren. Wir greifen auf einen Mix aus Theorie, Politik und künstlerischer Praxis zurück. Kanak Attak sinniert nicht über Kulturkonflikte, lamentiert nicht über fehlende Toleranz. Wie äußern uns: mit Brain, fetten Beats, Kanak-Lit, audio-visuellen Arbeiten und vielem mehr. Dieser Song gehört uns. Es geht ab. Kanak Attak!“22 20 „Kanak Attak ist kein Freund des Mültikültüralizm. Viele Befürworter hat dieses Modell aber ohnehin nicht mehr.“ Kanak Attak 1999 (wie Anm. 6), S. 12. 21
Ebd.
22 www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html [Abruf: 20.2.2017].
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Wie in der Geschichte der Künstlermanifeste evident, war das geschriebene und publizierte Manifest nur eine Möglichkeit, den Zielen Ausdruck zu verleihen. Grundsätzlich entstanden und entstehen die meisten geschriebenen Manifeste von vornherein als „bewußt performativ gedachte Texte“.23 Die als Manifeste niedergeschriebenen Texte wie Tristan Tzaras Manifeste Dada 1918 oder das von Daniel Buren und Künstlerkollegen formulierte Flugblatt Kundgebung vom 3. Abb. 5 Januar 1967 sind als gesprochenes Wort, aktionistiKanak Attak: Dieser Song sche Handlung und Schriftform formuliert. Im Kongehört uns!, 13. April 2001, text von Kanak Attak sind performative Handlungen Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz, Berlin, eine spektakuläre und selbstverständliche ErweitePlakat rung der Präsenz in Manifestform – oder vielmehr ist das Manifest nur eine mögliche, textliche Verkörperung der Leitlinien von Kanak Attak. Auftritte, Revuen, Konzerte, Kanak TV, CDs und Merchandising-Artikel wie T-Shirts und Taschen waren maßgebliche Multiplikatoren. Im April 2001 organisierte Kanak Attak die mehrtägige Revue Dieser Song gehört uns! (einer der Schlusssätze des Manifests von 1999) (Abb. 5) in der Berliner Volksbühne, die sich 50 Jahren migrantischen Widerstands widmete – eine mögliche Form, die Geschichte der Einwanderung nach Deutschland zu schreiben und nicht Anpassung, sondern widerständiges Agieren zu akzentuieren –, ein Narrativ, das in den öffentlichen Jahresfeiern der Anwerbeabkommen keinen Platz erhielt. Gezeigt wurden Filmausschnitte von Demonstrationen (gegen Rassismus, gegen die Brandanschläge von Hoyerswerda) und anderen Aktionen, die in die Erzählung der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik nicht oder kaum eingegangen sind. Überdies brachte Kanak Attak an jenen Tagen Vorträge, Diskussionen, Performances und Konzerte zur Aufführung. Dabei ist der Ort des Ereignisses, die Berliner Volksbühne, durchaus ambivalent. Als Anti-Mainstream-Formation bespielte Kanak Attak ein zwar avantgardistisches, nonkonformistisches und polarisierendes 23 Wolfgang Asholt und Walter Fähnders: Einleitung, in: dies. (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart/Weimar 1995, S. XV–XXX, hier S. XXV.
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Haus, das jedoch noch immer eine fundamental bürgerliche Kunstinstitution ist: das Theater. Vielleicht war es eine strategische Entscheidung, die Themen von Kanak Attak eben dort hinzubringen, wo (kulturalistische) Exklusion immer noch funktioniert: in das deutsche Theater oder ins deutsche Museum, wo künstlerische Mitarbeiter oder die Leitungspositionen größtenteils von nativen Deutschen besetzt sind, während das Wachpersonal oder das Reinigungspersonal von MigrantInnen gestellt werden.24 Bei einer anderen Aktion wiederum wurde die bürgerliche Kulturinstitution offensiv kritisch „gestürmt“: So schleuste sich Kanak TV zur offiziellen Feier des 40. Jahrestages des Anwerbeabkommens mit der Türkei 2001 in die Philharmonie zu Köln, um das Publikum mit denselben Vorbehalten zu konfrontieren, denen Deutsche nichtdeutscher Herkunft immer wieder ausgesetzt sind: Woher kommen Sie? Wann gehen Sie wieder zurück? Wenn Dieter Bohlen seine Partnerin schlägt, ist das dann repräsentativ für die deutsche Gesellschaft? Wenn es nur wenig Professorinnen an deutschen Universitäten gibt, ist dies dann repräsentativ für die Gleichberechtigung in Deutschland?25 In ihren Antworten weisen die deutschen Gäste in der Philharmonie diese Essentialismen streng zurück – ungeachtet dessen, dass diese häufig an MigrantInnen adressiert werden. In einer absurden und äußerst unterhaltsamen Interviewsequenz über das „Weiße Ghetto“ Köln-Lindenthal werden die BewohnerInnen dieses homogen „weißen“ Stadtteils auf ihre mangelnde Integrationsfähigkeit in eine diversifizierte deutsche Gesellschaft befragt – und offenbaren unverhohlenen Rassismus.26 Diese Auftritte von Kanak Attak im Gewand der Satire sind 24 Siehe dazu das Statement der Münchner Kammerspiele zu Body Talk / Ein Festival über Körper und Märkte, Geschlecht und Sichtbarkeit im 21. Jahrhundert, das vom 14. bis 16. Juli 2016 stattfand „Das deutsche Theater ist mehrheitlich, schlicht und ergreifend: männlich, weiß, hetero. Das betrifft die Stoffe, die Regisseure, das leitende Personal. Die Münchner Kammerspiele machen da keine Ausnahme. Wo sind sie denn bloß, die Frauen, die Schwarzen, die Queers, die Freaks? Sie werden in den progressiveren Einrichtungen der Branche immer wieder als Instanz angerufen. Aber ändern sich dadurch schon die symbolischen, geschweige denn die politischen Machtverhältnisse?“, https://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/body-talk [Abruf: 12.8.2016]. 25 Kanak TV: Philharmonie Köln – 40 Jahre Einwanderung, ca. 9 Min., Köln, 6. November 2001, https://www.youtube.com/watch?v=qVmq8m8hUF0 [Abruf: 13.8.2016]. 26 Kanak TV: Weißes Ghetto Köln-Lindenthal, ca. 8 Min., 2002, https://www.youtube.com/ watch?v=Gwdy_GAPBJQ [Abruf: 12.8.2016].
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geprägt von bissiger Ironie, die aber umso mehr die gesellschaftlich tief verankerten Vorurteile aufzudecken vermag. Besonders produktiv werden popkulturelle Strategien genutzt, so wenn der Text des Manifests für das Hip-Hop-Stück Dieser Song gehört uns paraphrasiert wird.27 Der Song wurde im Jahr 2001 in der Volksbühne aufgeführt und brachte SängerInnen wie Aziza A. oder Murat G. zusammen. Er formuliert in seinem Refrain den zukunftsorientierten Anspruch auf Veränderung, den Künstlermanifeste miteinander teilen: Abb. 6
Hilal Sezgin (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin: Blumenbar Verlag 2011, Cover
„Kanak Attak wir nehmen das was uns gehört Mit einem bild das dich betört Stehen in einer Tradition Kommen mit unsere vision Die Idee die in die zukunft weißt Längst schon Zeit kanak attak rise“28
Mit diesem Hip-Hop-Song erweiterte Kanak Attak sein Publikum jenseits der ZeitungsleserInnen und TheaterkonsumentInnen. Damit kommunizierten sie mit jenen, um die der von Kanak Attak verhandelte Diskurs eigentlich kreiste: den jungen MigrantInnen der zweiten oder dritten Einwanderergeneration, welche die deutsche Gesellschaft
27 Die Referenz auf die Hip-Hop-Kultur ist für die zweite und dritte Generation an MigrantInnen naheliegend. Dazu Fatima El-Tayeb: „Die erste Generation von jugendlichen MigrantInnen organisierte sich meist entlang ethnischer Grenzen und in traditionellen politischen Strukturen; Gewerkschaften spielten aufgrund der Beschäftigungsstruktur eine wichtige Rolle, ebenso (feministische) Stadtteilarbeit. Die Situation der ‚zweiten Generation‘ als ‚fremd im eigenen Land‘ mit einer Orientierung nicht auf ‚Herkunfts-‘ und potenzielles ‚Rückkehrland‘, sondern auf die bundesrepublikanische Gegenwart, in der sie meist als Störfaktor wahrgenommen wird, schafft eine Affinität zu HipHop – aufgrund der dominanten Rolle, die Rap innerhalb der internationalen Jugendkultur spielt, aber auch, weil er ein direktes Produkt der beschriebenen urbanen Situation ist.“ El-Tayeb 2003 (wie Anm. 9), S. 318. 28 http://www.kanak-attak.de/ka/archiv/vb01/cd.htm [Abruf: 25.11.2011].
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in steigender Prozentzahl überhaupt erst konstituieren.
MIGRATION UND EIN MANIFEST DER VIELEN
Einen anderen Modus der Wissensproduktion und Meinungsbildung suchte das Manifest der Vielen, das, anders als Kanak Attak, einen rein literarischen Weg des Politischen wählte. Das Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu (2011) (Abb. 6) war eine Antwort auf Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab (2010), das ein düsteres Bild der kulturellen Vielfalt im Land zeichnete und Kriminalität, Bildungsverlierer und Verlustangst in den Mittelpunkt stellte.29 Da- Abb. 7 Manifest der Vielen, in: Hilal Sezgin (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich rauf antwortete der von Hilal neu, Berlin: Blumenbar Verlag 2011, S. 221 Sezgin zusammengestellte Band mit einer Vielzahl differenzierter und intellektueller Perspektiven, die literarisch, poetisch, dokumentarisch oder soziologisch waren. Das Manifest der Vielen versammelt Texte von Feridun Zaimoğlu, Ilija Trojanow, Navid Kermani, Imran Ayata (und damit auch von AutorInnen, die einst zu Kanak Attak gehörten). In ihrem eigenen Beitrag Deutschland schafft mich ab dekonstruiert Sezgin das Stereotyp der „Problemmuslime“, indem sie auf die multiplen Lebensentwürfe und Erscheinungsbilder verweist, die der Terminus Muslima/Moslem oder seine Pervertierung „Moscheebraut“ oder 29 Zum Komplex Sarrazin und das Manifest der Vielen siehe Saniye Uysal Ünalan: Interkulturelle Begegnungsräume. Neue Identitätskonstruktionen in der türkisch-deutschen Gegenwartsliteratur, Würzburg 2013, S. 44–71.
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„Moslemheuchelbraut“ kaschiert.30 Charakteristisch für das Manifest der Vielen ist die Vielstimmigkeit der Texte und beteiligten Autoren, die für die Diversität und Heterogenität deutscher Kulturproduktion einstanden. Das am Ende des Buches abgedruckte Manifest (Abb. 7) repräsentiert als Manifestkörper diese Vielheit, handelt es sich doch nicht um das konzis formulierte Statement einer Gruppe. Denn jede Zeile dieses Manifests entstammt einem der Texte und bildet als Zusammenschau unterschiedlichster Haltungen eine Manifest-Collage. Der von Sarrazin postulierten Homogenität deutscher Kultur wird damit ein Vieles, Ungleiches und Unreines entgegengestellt. Zugleich artikuliert das Manifest der Vielen auch ein neues Manifest-Verständnis im Zeitalter der Migration: Dieses Manifest will nicht nur das Eine, und dies ganz bestimmt, sondern es setzt von vornherein ein Dies und Jenes und Solches voraus, ist also weniger ein Ganzes als eine Addition verschiedener Bausteine und AutorInnenperspektiven. Auf einer formalen Ebene antwortet dieses Manifest damit dem Thema Migration in seiner Heterogenität auf eine adäquate Weise. Die Provokationen von Kanak Attak, die eine Möglichkeit waren, den Nicht-Gehörten eine möglichst laute Stimme zu geben, werden hier von einem dichten Gewebe nachdrücklicher Statements ersetzt, die abschließend in Ausschnitten zitiert werden sollen: „Ich bin hier / Ich suche nach etwas Drittem, das in allem steckt / Toleranz ist kein Kuschelsound / Kultur ist nicht aus Stahl / […] Wir müssen uns nicht integrieren / Menschenwürde muss man nicht verdienen / Wer rechnen kann, weiß das / Wir stehen im Abendland auch auf morgenländischen Beinen […]“31
30 Hilal Sezgin: Deutschland schafft mich ab, in: dies. (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin 2011, S. 45–52, hier vor allem S. 51. 31
Manifest der Vielen, in: Hilal Sezgin (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin 2011, S. 221.
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CHRISTOPH BENJAMIN SCHULZ
CREDO, MANIFEST UND KÜNSTLERBUCH. PINA BAUSCHS PROGRAMMHEFTE FÜR DAS TANZTHEATER WUPPERTAL
Als programmatische künstlerische Äußerung ist das Manifest geprägt von einer Geste der Abgrenzung gegenüber anachronistischen und als überholt empfundenen Stilen, Formensprachen oder Werkvorstellungen und dient(e) dazu, neue Wege künstlerischen Ausdrucks aufzuzeigen. Als Textgattung wird mit dem Manifest oft ein appellativer und kämpferischer Duktus als rhetorische Qualität assoziiert. Oft ist es in knapper Form gehalten, manchmal sogar reduziert auf Stichpunkte oder provokante Thesen in Form einer Liste. Doch gibt es für das Formulieren künstlerischer Manifeste keine Regeln, so dass im Grunde sehr unterschiedliche Texte, öffentliche Verlautbarungen und Äußerungen hinsichtlich ihrer Funktion als Manifest betrachtet werden können. Im Tanz gilt Isadora Duncans Rede The Dance of the Future, die sie 1903 in Berlin hielt und drucken ließ, als eine der frühesten manifestartigen Äußerungen des 20. Jahrhunderts. Während manche der seitdem entstandenen Manifeste die Gattungsbezeichnung explizit im (Unter-)Titel tragen, wie beispielsweise Filippo Tommaso Marinettis La danza futurista (1917)1, 1
F. T. Marinetti: La danza futurista (Danza dello shrapnel – Danza della mitragliatrice – Danza dell’aviatore). MANIFESTO FUTURISTA, in: L’Italia futurista, Bd. 2, 1917, H. 21 (18.7.1917), S. 1 f.
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später Yvonne Rainers No Manifesto (1965) und Mette Ingvartsens Replik Yes Manifesto (2004/5), und in gewisser Weise auch Boris Charmatz’ Manifesto for a dancing museum, oder sich deutlich als solche zu erkennen geben, wie Marten Spangbergs 17 Points for the future of dance, treten andere in dieser Hinsicht subtiler auf: Simone Fortis Handbook in Motion (1974) oder Jonathan Burrows A Choreographer’s Handbook (2014) können über die poetologische (Selbst-)Reflexionen hinaus durchaus auch instruktiv verstanden werden.2 Pina Bausch gehört zu den ChoreographInnen des 20. Jahrhunderts, die – auf den ersten Blick – kein vergleichbares Manifest hinterlassen haben. Neben der stark autobiografischen Rede Was mich bewegt, die sie 2007 anlässlich der Verleihung des Kyoto-Preises hielt, und der ebenfalls dort gehaltenen Workshop-Rede Etwas finden, was keiner Frage bedarf, sind es vor allem die zahlreichen Interviews, in denen sie über ihren Blick auf die Tanzgeschichte, ihre Motivationen, ihre Anliegen, ihre Arbeitsweise und das Tanztheater als choreographische Form reflektiert – und zwar explizit dialogisch und nicht als monologische Rede.3 Ein lange in Vergessenheit geratenes Dokument ist ein kurzer Text mit dem Titel „Tanztheater in Wuppertal“, den Pina Bausch für das Programm der Spielzeit 1973/74 der Wuppertaler Bühnen verfasst und mit ihrem Namen unterschrieben hat: 2
Wie Isa Wortelkamp in ihrem Beitrag zu diesem Band ausführt, ist gerade Yvonne Rainers No Manifesto ein gutes Beispiel dafür, wie dieser Auszug aus einem längeren Text erst durch seine Rezeption den Charakter eines eigenständigen Manifests annehmen konnte. Folgende Anthologien versammeln für den Tanz einschlägige Manifeste, manifestartige oder programmatische Texte: Lydia Wolgina und Ulrich Pietzsch (Hg.): Die Welt des Tanzes in Selbstzeugnissen: 20. Jahrhundert, Wilhelmshaven 1979; Jean Morrison (Hg.): The Vision of Modern Dance. Princeton, NJ 1979; Roger Copeland und Marshall Cohen (Hg.): What is Dance?, New York 1983; Robert Cornfield und William Mackay (Hg.): Collected Dance Writings, New York 1986; Selma Jeanne Cohen und Kathy Matheson (Hg.): Dance as a theatre art: source readings in dance history from 1581 to the present, Princeton, NJ 1992. Zum Manifest im Allgemeineren vgl. Ralph J. Poole und Yvonne Katharina Kaisinger (Hg.): Manifeste: Speerspitzen zwischen Kunst und Wissenschaft, Heidelberg 2014.
3
Rezent ist ein Band mit einer Auswahl von Interviews mit Pina Bausch erschienen, der auch die beiden Reden enthält: Stefan Koldehoff und Pina Bausch Foundation (Hg.): O-Ton Pina Bausch. Interviews und Reden, Wädenswil 2016. Die beiden Reden sind zudem auch online zu finden. Was mich bewegt: http://www.pinabausch.org/de/pina/was-mich-bewegt.; Etwas finden, was keiner Frage bedarf: http://www.inamori-f.or.jp/laureates/k23_c_pina/img/wks_g.pdf [Abruf: 16.9.2016].
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„Der Mensch mit seiner vielschichtigen Skala von Stimmungen, der Mensch allein, der Mensch mit Menschen, unter Menschen, fasziniert mich. Deshalb glaube ich, ist es sehr wichtig, außer der Pflege der traditionellen Werke auch Stellung zu den Fragen und Problemen der Menschen von heute und morgen zu beziehen. Damit meine ich, daß man sowohl in der szenischen als auch in der Bewegungssprache immer wieder neue Wege suchen muß. Diese Versuche können ein Wagnis sein, aber ich bin sicher, daß man wagen muß, wenn das Theater, und in meinem Falle die Tänzer, lebendig bleiben sollen. Um die Pläne, die ich für die kommende Spielzeit habe, realisieren zu können, habe ich das Ensemble unter ganz bestimmten Aspekten zusammengestellt. Ich bin der Meinung, daß ein Tänzer heute nicht vielseitig genug sein kann. Er sollte sowohl die klassischen als auch die modernen Tanztechniken beherrschen. Erstrebenswert wäre es, wenn seine Möglichkeiten sich bis ins Schauspielerische, Pantomimische und Sängerische erstrecken würden. Das gleiche sollte für Sänger und Schauspieler im umgekehrten Falle gelten. Aus dieser angestrebten vielseitigen Zielsetzung wird verständlich, daß ich das nur an die klassische Tanzform gebundene Wort Ballett durch das umfassendere Wort Tanztheater ersetzen möchte. Um die Arbeit in einem so weit gespannten Rahmen durchzuführen, wie sie mir vorschwebt und wie ich sie für ein Opernhaus wie Wuppertal für angemessen halte, scheint es mir unerläßlich, möglichst viele wichtige Choreographen mit Werken des internationalen Repertoires nach Wuppertal einzuladen, um eine reiche Palette choreographischer Realisierungen dem Publikum zugänglich zu machen. Unser erster Tanzabend ist bereits unter diesem Gesichtspunkt geplant. Es ist gelungen, Kurt Joos für die Einstudierung seines bedeutenden Werkes ,Der grüne Tischʻ und Agnes de Mille für ihre choreographische Komödie ,Rodeoʻ zu gewinnen. Im gleichen Programm möchte ich eine neue Choreographie zeigen als dritte Farbe neben diesen zwei stark kontrastierenden Werken; sie soll höchstwahrscheinlich ,Fritzʻ heißen. Die zweite große Aufgabe in der kommenden Spielzeit für das Tanztheater soll eine dominierend vom Tanz her diktierte Inszenierte Aufführung der Oper ,Iphigenie auf Taurisʻ von Gluck werden.
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Wir alle, die Tänzer und auch ich, erhoffen uns sehr viel von einem zusätzlichen Sonderprogramm. Dieses Programm soll mehr einen experimentellen Charakter haben. Hier sollen auch junge, begabte Tänzer Gelegenheit haben, ihre eigenen Ideen zu verwirklichen. Um den Kontakt zwischen Publikum und Tänzern intensiver zu gestalten, würden wir gerne einen offenen Samstag einführen, an dem jedem, der interessiert ist, es ermöglicht werden soll, der Arbeit der Tänzer zuzuschauen und in diesem Zusammenhang auch mit ihnen zu diskutieren. Außerdem werden Kinder und Laien, die Freude an der Bewegung haben, durch Unterricht von Tänzern aus dem Ensemble Gelegenheit erhalten, ihre Beziehung zum Tanz zu vertiefen. Wir alle kommen mit großen Hoffnungen nach Wuppertal, jeder, um sein Bestes zu geben. Hoffentlich bin ich in der Lage, diesem Einsatz junger Menschen, mit denen ich arbeite, gerecht zu werden, und hoffentlich vermögen wir alle durch ein vielseitiges Programm Ihr Interesse und Ihre Aufgeschlossenheit dem Tanz gegenüber zu fördern.“4 Anlässlich der Übernahme der Ballettsparte der Wuppertaler Bühnen hat die Choreographin ihre künstlerische Vision hier in knapper Form konzi4
Zunächst erschienen in: Vorschau der Wuppertaler Bühnen 1973/74, Wuppertal 1973, S. 13. Wiederabgedruckt in: Koldehoff 2016 (wie Anm. 3), S. 15–17. In besagter Vorschau findet sich zudem ein kurzer Text Pina Bauschs über ihr erstes an den Wuppertaler Bühnen produziertes Stück Fritz (1974), der, da er seitdem nicht erneut publiziert wurde, zitiert sei: „Meine ursprüngliche Absicht war es, aus dem Märchen ‚Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen‘ ein Libretto für Tanz zu machen. Während der Arbeit an diesem Plan kamen mir immer mehr Erinnerungen an meine Kindheit. So erinnerte ich mich, daß meine Freunde und ich allerlei Spiele erfanden, mit denen wir unseren Mut beweisen wollten. So löschten wir zum Beispiel das Licht und erschreckten einander. Vor allem aber wollten wir selbst erschreckt werden. Es war ein Spiel mit der Angst, aber eben nur ein Spiel. Heute betrachte ich die Umgebung meiner Kindheit natürlich mit ganz anderen Augen. Manch Ecken, die für mich als Kind verwunschene Plätze waren, stellen sich mir heute als ganz winzig dar. Rückerinnernd sahen für mich auch die Menschen ganz anders aus. Kleine Details an einem Menschen waren für mich riesig, und dadurch charakterisierend für eine ganze Person. So kannte ich eine Frau, die immer ein künstliches Lächeln im Gesicht trug. Als Gestalt war mir diese Frau unwichtig, als grinsende Fratze lebt sie in meiner Erinnerung weiter. Wenn jemand große Füße hatte, so waren sie für Kinder gleich riesengroß. Viele Gedanken dieser Art, auch ganz zarte, fast lyrische Beziehungen, haben mich bewogen, den kleinen Jungen Fritz zu erfinden, der mit seiner starken Phantasie nur ahnen lässt, was in Kindern möglicherweise alles vorgeht. Aber auch dies ist nur ein Spiel. – “
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se und durchaus programmatisch formuliert. Sie spricht über die Auswahl der TänzerInnen, über ihr Verhältnis zu Tanztechniken und die Begründung – im doppelten Wortsinn – einer neuen Form des Balletts, in das als Tanztheater auch schauspielerische, sängerische und pantomimische Elemente einfließen sollen.5 Und nicht zuletzt spricht sie einen Dialog mit dem Publikum an, bei dem die Tänzer als Menschen, als Individuen und Persönlichkeiten, eine vermittelnde Rolle einnehmen sollen. Dass der Dialog mit dem Publikum über lange Jahre schwierig war, ist bekannt. Dass er als ein integraler Bestandteil des Selbstverständnisses des Tanztheaters Wuppertal konzeptionell verankert war, dass die Kompanie über das Aufführen und Produzieren von choreographischen Kunstwerken hinaus zu einem Ort des gemeinsamen Austauschs über den Tanz werden sollte, ist bemerkenswert. In jedem Fall liegt mit diesen Zeilen tatsächlich eine Art Gründungsmanifest für das Tanztheater Wuppertal vor. Was Pina Bausch hier über ihre Ambitionen und Ziele zum Ausdruck bringt, ist dabei durchaus kongruent mit Aussagen, die sie in Interviews sowohl in der Anfangszeit als auch in späteren Jahren wiederholt tätigt. Auf ihr vielleicht bekanntestes Statement „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt“ geht sie als programmatische Äußerung in der Kyoto-Rede noch einmal ein: „Dieser Satz ist viel zitiert worden – er ist bis heute gültig.“6 Bereits in einem Interview aus dem Jahr 1978 spricht der Tanzkritiker und Autor Jochen Schmidt sie auf diese Äußerung an, was zeigt dass sie sich schon in der Frühphase des Wuppertaler Tanztheaters zu etablieren begann.7 Auch wenn dies im ursprünglichen Kontext sicher nicht unbedacht geäußert wurde, war ihre Wirkungsmacht und nachhaltige Gültigkeit zu diesem Zeitpunkt schwerlich abzusehen – inwiefern sich an diesem Beispiel exemplarisch nachvollziehen lässt, wie ein Satz durch seine 5
Damit sei allerdings nicht unkritisch kolportiert, dass sie tatsächlich die Erfinderin des Tanztheaters im Sinne der Einbindung von anderen darstellenden Künsten in choreographische Werke ist.
6
Pina Bausch: Was mich bewegt, in: Koldehoff 2016 (wie Anm. 3), S. 313.
7
Ein Interview. Jochen Schmidt im Gespräch mit Pina Bausch am 9. November 1978 [später u. d. T.: Nicht wie sich Menschen bewegen, sondern was sie bewegt] erschien zuerst in: Hedwig Müller, Norbert Servos und Gert Weigelt (Hg.): Pina Bausch – Tanztheater Wuppertal, Köln 1979, S. 5–8; wiederabgedruckt in: Koldehoff 2016 (wie Anm. 3), S. 35–43, hier S. 37.
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Rezeptionsgeschichte zu einem Manifest, mindestens aber zu einem Credo geworden ist. Wenig Beachtung als öffentliche Verlautbarungen haben bisher die Programmhefte des Tanztheaters Wuppertal erfahren. Da die Verantwortung für diese Publikationen Pina Bausch oblag, sind sie wichtige Zeugnisse für die Selbstdarstellung des Tanztheaters und im Sinne der Reflexion über die eigene Arbeit als Kommentar der Künstlerin zu ihrem Werk zu verstehen.8 Es wird sich zeigen, dass sie in poetologischer Hinsicht relevant sind und konzeptuell programmatischen Charakter haben. Der Fokus der folgenden Überlegungen liegt auf Programmen, die zu den Aufführungen in Wuppertal publiziert wurden. Bei Gastspielen wurden von den einladenden Häusern meist eigene Programme gestaltet, die deren institutionellen Konventionen folgen und sich von denen der Wuppertaler Bühnen, respektive des Tanztheaters Wuppertal, deutlich unterscheiden. Die bei den Uraufführungen zu Stücken und Sammelprogrammen der ersten Jahre in Wuppertal angebotenen Programme waren noch recht uneinheitlich. Neben ‚richtigen‘ Programmheften wurden für die Produktionen zwischen Die sieben Todsünden (1976) und Renate wandert aus (1977) hochformatige Faltblätter angeboten, die eher an bescheidene Theaterzettel erinnern. Die für Kontakthof (1978) und Arien (1979) zunächst hergestellten Programme bestanden aus mehreren (vermutlich) kopierten Seiten, die oben links getackert waren. Mit dem Stück Keuschheitslegende beginnt sich ab 1979 hingegen ein Format des Programmhefts zu etablieren, so dass bis heute ein Corpus entstanden ist, das sich – trotz inhaltlicher Unterschiedlichkeit – in formaler und gestalterischer Hinsicht durch seine Geschlossenheit auszeichnet. Mit den Wiederaufnahmen der frühen Stücke nach 1979 wurden neue Programme entwickelt, die sich, so könnte man vermuten, an dem zu Keuschheitslegende orientieren. Dabei ist zu konstatieren, dass auch in den folgenden Jahren zu den Vorstellungen von Uraufführungen oft vorläufige Programme, beispielsweise in Form von Klappkarten, ausgeteilt wurden – und die letztlich gültigen erst anlässlich von Wiederaufnahmen herausge8
Bis Mitte der 1980er Jahre sind die Programmhefte in enger Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Raimund Hoghe, später dann auch mit der Fotografin Ulli Weiss oder dem Bühnenbildner Peter Pabst entstanden.
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bracht wurden.9 Dass die Bilddramaturgie und die Texte der Programmhefte, wenn sie einmal standen, lange Jahre beibehalten, nur selten verändert oder anlässlich von Neueinstudierungen und Umbesetzungen aktualisiert wurden, zeigt, dass sie nicht nur als die jeweilige(n) Aufführungsserie(n) begleitende Souvenirs, sondern als zu den Stücken gehörige Publikationen verstanden wurden.10 Was Theaterdarbietungen begleitende Druckerzeugnisse angeht, gab es bis ins 19. Jahrhundert hinein bekanntlich nur den Theaterzettel, auf dem sachliche und praktische Informationen, wie der Name des Theaters, der Titel des Stücks, die Daten von Aufführungen, die Namen von Darstellern, des Autors und gegebenenfalls des Regisseurs genannt wurden, später dann auch des technischen Personals, sowie, vor allem bei Opern und Operetten, mitunter ein von diesem unabhängiges Textbuch zum Mitlesen des Librettos oder zum Nachlesen der dramatischen Vorlage.11 Die Bandbreite des Programmhefts im Theater des 20. Jahrhunderts reicht von knapp gehaltenen Dokumenten, die bewusst nicht mehr enthalten als der historische Theaterzettel – um das individuelle Erleben der 9
Die Programme zu Nelken (1982) und 1980 [...] (1980) lagen hingegen bereits zur Uraufführung vor und sind bis heute unverändert geblieben. Da die Stücke zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine Titel trugen, stand auf dem Umschlag nur „Stück von Pina Bausch“.
10 Lediglich das Querformat einiger der frühen Programme wurde mit den Jahren in ein DIN-A5-Hochformat übertragen; der Inhalt im Sinne des enthaltenen Bild- und Textmaterials blieb dabei jedoch unverändert. Ein konsequenter Nachvollzug der Entwicklung einzelner Programmhefte ist auf Grund des Umstands, dass sie aktuell nicht in einer lückenlosen chronologischen Ordnung zugänglich sind, nicht zu leisten. Exemplarisch sei in den Fußnoten auf Veränderungen hingewiesen. In jedem Fall kann konstatiert werden, dass deutliche Überarbeitungen eine vergleichsweise seltene Ausnahme darstellen (vgl. hierzu vor allem die Anm. 20, 36 und 37). 11
Zur Geschichte des Theaterzettels und des Programmhefts vgl. Arnold Jacobshagen (Hg.): Praxis Musiktheater. Ein Handbuch, Regensburg 2002, S. 319. Zu dem historischen Phänomen des Theaterzettels vgl. auch: Heitere Episoden aus der Geschichte des Theaterzettels. Nach älteren Quellen und eigenen Sammlungen mitgeteilt von Gotthilf Weisstein [1899], Bargfeld 2007; Johann-Richard Hänsel: Die Geschichte des Theaterzettels und seine Wirkung in der Öffentlichkeit. Dissertation, FU Berlin 1959; Ruth Eder (Hg.): Theaterzettel, Dortmund 1980; Klaus Schultz (Hg.): Münchner Theaterzettel 1807–1982. Altes Residenztheater, Nationaltheater, Prinzregenten-Theater, Odeon, München u. a. 1982; Ralf Eisinger (Hg.): Braunschweiger Theaterzettel 1711–1911, Braunschweig 1990; Ralf S. Schuster: Gedruckte Spielplanverzeichnisse stehender deutscher Bühnen im Ausgang des 18. Jahrhunderts bis 1896. Eine kritische Bibliographie, Frankfurt am Main/Bern/New York 1985; Matthias J. Pernerstorfer (Hg.): TheaterZettel-Sammlungen: Erschließung, Digitalisierung, Forschung, Wien 2012.
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Darbietung nicht durch dramaturgische Lektüreanweisungen zu beeinflussen –, bis hin zu umfangreichen Publikationen, die die Aufführungen durch begleitende Texte zu diskursivieren, sie historisch zu verorten versuchen und über die Grundzüge einer Inszenierung informieren wollen. Auch wenn sich René Pollesch vor einigen Jahren einmal negativ über die zuletzt genannte Art des Programmhefts geäußert hat, scheint es weder in der Theaterpraxis noch in der Theorie einen Diskurs über dieses paratextuelle Format zu geben.12 Über die Programmhefte zu Pina Bauschs Tanzabenden und Stücken lässt sich vorab sagen, dass sie weit über das hinausgehen, was der Theaterzettel in einer historischen Perspektive einmal war, dass sie keine Zusammenfassung oder Nacherzählung der Handlung enthalten, wie es gerade bei Balletten lange üblich war – und dass sie, wie sich zeigen wird, auch eine andere Funktion erfüllen.13 Das 1978 am Bochumer Schauspielhaus entstandene Stück Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen gilt als Wendepunkt in Pina Bauschs Schaffen. In der Beschäftigung mit William Shakespeares Drama Macbeth entwickelte sie die Arbeitsweise, die man in gewisser Weise und mit der gebotenen Vorsicht als charakteristisch bezeichnen könnte: die Entwicklung eigener Stücke in der Auseinandersetzung mit ihren TänzerIinnen auf der Basis von aus Fragen entwickelten Szenen, die kaleidoskopisch arrangiert und verwoben werden.14 Einblicke in ihre Arbeitspraxis hat Pina Bausch in Interviews wie-
12
Vgl. René Pollesch: Requiem fürs Programmheft. Nachruf auf Baudrillard, in: Theater heute, 2007, H. 4, S. 1–3; wieder abgedruckt in: ders.: Liebe ist kälter als das Kapital [...], hg. v. Corinna Brocher und Aenne Quinones, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 303–310.
13
Eine Ausnahme hierzu stellen die Programme zu den beiden Tanzopern Iphigenie auf Tauris (1974, Wiederaufnahme, im Folgenden abgekürzt mit WA, 1990) und Orpheus und Eurydike (1975, WA 1991) dar, denen auch der Ablauf der Szenen der Opern beigegeben war. Das Programm zu Blaubart – beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“ (1977, WA 1981) enthält zudem das Libretto dieser Oper. Gerade bei den zuerst genannten Werken handelt es sich allerdings primär um Inszenierungen und nicht im engsten Sinne um Stücke von Pina Bausch.
14
Darauf weist Pina Bausch in der Rede Etwas finden, das keiner Frage bedarf noch einmal hin. Vgl. Koldehoff 2016 (wie Anm. 3), S. 324. In Was mich bewegt führt Bausch aus, dass die Arbeit mit Fragen in Ansätzen bereits bei der Arbeit an Blaubart [...] begonnen habe. Vgl. ebd., S. 309.
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derholt gegeben. Wichtige Quellen sind darüber hinaus verschiedene filmische Dokumentationen aus den frühen 1980er Jahren, wie beispielsweise die von Klaus Wildenhahn, der in Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? (1982) die Proben zu dem Stück Walzer begleitet. Auf die Praxis des Fragens spielt Chantal Akerman in dem Titel ihres Films Un jour Pina a demandé... (1983) explizit an. Hinzu kommen verschiedene Bücher von Ensemblemitgliedern wie Raimund Hoghe oder Jo Ann Endicott.15 Nun entziehen sich Arbeitsprozesse einer Kompanie doch weitgehend dem Blick von außen16 (wie sich auch deren Darstellungen in den genannten Filmen und Büchern der Überprüfbarkeit entziehen). Und natürlich ändern sie sich mitunter im Laufe der Jahre. Vor diesem Hintergrund seien solche begleitenden Dokumentationen nicht unkritisch als objektive Zeugnisse, sondern als individuelle Erfahrungsberichte der Zusammenarbeit mit der Choreographin betrachtet, die Einblick in die Arbeit hinter den Kulissen des Tanztheaters geben wollen. Das Interessante ist, dass hier wiederholt bestimmte Facetten der Arbeitsweise herauskristallisiert werden, so dass sie als charakteristisch Geltung erlangen konnten. Während diese Publikationen und filmischen Dokumentationen in der Literatur über das Tanztheater immer wieder konsultiert wurden, sind die Programmhefte des Tanztheaters von der Forschung – wie gesagt – bisher unberücksichtigt geblieben. Die folgenden Überlegungen nehmen zunächst Programmhefte zu Choreographien aus den Jahren 1977 bis 1989 in den Blick. Im Allgemeinen sind die Programmhefte des Tanztheaters Wuppertal eher wortkarg und dafür bildreich ausgestattet. Die meisten enthalten unter anderem Auf-
15
Raimund Hoghe und Ulli Weiss: Bandoneon – Für was kann Tango alles gut sein? Texte und Fotos zu einem Stück von Pina Bausch, Darmstadt/Neuwied 1981; Raimund Hoghe: Pina Bausch. Tanztheatergeschichten. Mit Fotos von Ulli Weiss, Frankfurt am Main 1986; Jo Ann Endicott: Ich bin eine anständige Frau!, Frankfurt am Main 1999; dies.: Warten auf Pina. Aufzeichnungen einer Tänzerin, Leipzig 2009.
16
Inwiefern Probenbesuche in den ersten Jahren tatsächlich eingerichtet wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin verwies Pina Bausch 1980 in einem Interview aber noch darauf, dass sie nach Rücksprache versuchen würde, Probenbesuche zu ermöglichen. Vgl. Koldehoff 2016 (wie Anm. 3), S. 65.
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führungsfotografien, wie beispielsweise im Falle von Blaubart [...] (1977, WA 1981) oder Kontakthof (1978, WA 1987/88) sogar ausschließlich.17 Das Programm zu Nelken enthält hingegen ausschließlich Fotografien aus den Probenprozessen (1982, WA 1986/87). Mitunter findet man eine Mischung von Aufführungs- und Probenbildern. Das Programm zu Viktor (1986, WA 1992) zeigt zudem Fotos, die von Ensemblemitgliedern bei einem gemeinsamen Arbeits- und Probenaufenthalt in Rom nachgemacht wurden. Das zu Palermo Palermo (1989) wurde ausschließlich mit solchen Reiseaufnahmen bestritten.18 In den Programmen zu den beiden Tanzopern nach Christoph Willibald Gluck Iphigenie auf Tauris (1974, WA 1990) und Orpheus und Eurydike (1975, WA 1991) findet man zwischen Aufführungsfotos unter anderem Reproduktionen antiker Fresken und Mosaiken oder Gemälde von Parmigianino und Baldassare Peruzzi, die auf ikonographische Bildtraditionen der Kunstgeschichte verweisen und, was Körperhaltungen, Posen und Gesten angeht, als Recherchematerial gedient haben mögen.19 In den Programmheften zu vielen Stücken dieser Dekade spiegelt sich die Arbeit hinter den Kulissen in Form von Probenstichworte[n] wider, in Probennotizen, Bruchstücke[n] aus den Proben und Fragen, die diese inspiriert
17
So auch die Programme zu Er nimmt sie an der Hand [...] (1978, WA 1989; hinzu kommt ein Porträt von Pina Bausch bei den Proben), Arien (1979, WA 1983/84), Two Cigarettes in the Dark (1985, WA 1992; auch hier ein Foto von Bausch) und einige Programme zu Stücken des Spätwerks: Für die Kinder von gestern, heute und morgen (2002), Nefés (2003) und Vollmond (2006). Zu den wenigen Ausnahmen, die gar keine Fotos enthalten, gehören das Programm zu Bauschs Operette Renate wandert aus (1977, WA 1984), das, was Bilder angeht, seitenweise Comics aus der im Stuttgarter Verlag Ehapa herausgegebenen Reihe Young Love zeigt, sowie das zu 1980 [...] (1980), das neben den „Probenstichworten“ von Raimund Hoghe ausschließlich Skizzen und Zeichnungen des Bühnenbildners Rolf Borzik enthält.
18 Auch die Programme zu den späten Stücken Ten Chi (2004) und ...como el musguito [...] (2009), beide in Form von Leporellos, bestehen ausschließlich aus Reisefotografien (vgl. auch Anm. 20 und 42). Der Umschlag des Programms von Bamboo Blues (2007) zeigt zwei Reisefotos von Robert Sturm. Im Rahmen der Jubiläumsspielzeit PINA40 hat Manfred Marczewski eine Ausstellung mit Reisefotografien der Ensemblemitglieder organisiert. 19
Die Programmhefte zu diesen beiden Tanzopern enthalten zudem auch verschiedene Texte über die Stücke und deren Figuren. Dass solche Texte in Programmen des Tanztheaters Wuppertal auftauchen, ist allerdings eine Ausnahme, die dem Umstand geschuldet sein mag, dass es sich hier um Inszenierungen von vorliegenden Stücken handelt. Das Programmheft zu Blaubart [...] (1977, WA 1981) enthält das Libretto der Oper von Béla Bartók.
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haben.20 Sie stellen gleichsam das schriftliche Pendant zu den Probenfotografien dar. Dass Prozesse der Stückentstehung, das sprachliche Rohmaterial, aus dem Szenen entwickelt wurden, Eingang in die Programme finden, ist gerade vor dem Hintergrund, dass diese bei Balletten lange Zeit nacherzählende Zusammenfassungen der Handlung enthielten, signifikant. Indem nicht das Ergebnis beschrieben wird, stellt diese Verkehrung im Sinne einer Inversion die historische Konvention auf den Kopf und mag als kritische Reflexion über die Erwartungshaltung eines bürgerlichen und an ein konventionelles Ballett gewöhnten (Wuppertaler) Publikums an dieses Format zu verstehen sein. Hier manifestiert sich ein Selbstkommentar, der die eigene Arbeitsweise reflektiert und – wenigstens in Ansätzen – transparent und nachvollziehbar zu machen versucht. Vor dem Hintergrund des angestrebten Dialogs mit dem Publikum ist dies eine durchaus programmatische Geste – kommt hier doch der Wunsch zum Ausdruck, die Zuschauer an der eigenen Reflexion über den Tanz und das Tanzen teilhaben lassen zu wollen. Drei Programmhefte sind in poetologischer Hinsicht und mit Blick auf den für Pina Bauschs Schaffen charakteristischen Prozess der Stückentwicklung in enger Zusammenarbeit mit den individuellen Persönlichkeiten ihrer TänzerInnen besonders prägnant und eindrücklich. Sie strapazieren 20 Das gilt beispielsweise für Keuschheitslegende (1979), 1980 [...] (1980, WA 1986/87), Walzer (1982, WA 1986/87), Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört (1984), Two Cigarettes in the Dark (1985, WA 1992), Viktor (1986) und Ahnen (1987, WA 2004), und Palermo Palermo (1989). Einige der Texte aus diesen Programmheften wurden in den beiden Büchern von Raimund Hoghe noch einmal abgedruckt. Die Einbindung von Texten zu den Proben war dabei schon in dem Programm zu Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen (1978), das mit dem Schauspielhaus in Bochum entstand, zu beobachten. Das Programmheft zu Arien (1979, WA 1983/84) ist diesbezüglich eine Ausnahme und enthielt keinen Text. Renate wandert aus (1977, WA 1984) enthält zudem einen freieren Text Hoghes mit dem Titel So schreibt man Liebesbriefe. In manchen Programmheften werden zudem literarische Werke zitiert: Dem Programmheft zu dem Doppelabend Die sieben Todsünden und Fürchtet euch nicht (1976, WA 1995) ist einleitend Das Lied der Schwester vorangestellt, das Programmheft zu Blaubart [...] (1977, WA 1981) enthält das Libretto von Bartóks Oper, und in Nelken (1982, WA 1986/87) findet man eine Florilegium aus Zitaten über die Liebe. Das Programm zu Ein Trauerspiel (1994, WA 1995) enthält unter anderem eine Passage aus Ovids Die große Flut und das zu Danzón (1995, WA 1995) einen Auszug aus Franz Toussaints La Flute de Jade (1920) sowie einen kurzen Text zur Übersetzungsproblematik von Johann Wolfgang von Goethes Gedicht Nachtlied.
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nicht nur die Konventionen der Gattung, sondern unterscheiden sich auch signifikant von denen der bisherigen Stücke. Das Programm zu Bandoneon (1980, WA 2005) zeigt keine Aufführungs- oder Probenfotos, sondern ausschließlich Kinderbilder der an der Uraufführung des Stücks beteiligten Ensemblemitglieder (Abb. 1) Ergänzt werden die Fotos von handschriftlichen Kommentaren der TänzerInnen.21 Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört (1984) enthält Weihnachtsfotos der Ensemblemitglieder (Abb. 2). Walzer (1982, WA 1986/87) – ein Stück, in dem Pina Bausch ihre Arbeitsweise besonders intensiv und offensichtlich thematisiert – zeigt Urlaubsbilder der Tänzerinnen und Tänzer (Abb. 3).22 Dass diese Programmhefte an private Fotoalben erinnern, kommt vor dem Hintergrund, dass diese oft auch kurze biografische Notizen zu den Beteiligten enthalten, einer bemerkenswerten Zuspitzung gleich. Die Fotografien sind dabei eben keine stilisierten Künstlerporträts, sondern dezidiert ungeschminkte Bilder, die den Menschen hinter der Rolle des Künstlers, respektive Tänzers zeigen (sollen).23 Das Interesse für Erfahrungen, die TänzerInnen bewegen und die sich in ihre Bewegungen einschreiben, spiegelt sich hier in den persönlichen Fotos der Ensemblemitglieder wider, auf deren individuelle Geschichten und Beweggründe angespielt wird. In diesem Sinne könnte man hier geradezu von Meta-Tanzfotos sprechen. Indem die Stücke inhaltlich nicht schwerpunktmäßig um Kindheit, das Weihnachtsfest oder Urlaubsaufenthalte kreisen – jedenfalls nicht mehr, als andere Stücke auch –, kommt hier etwas konzeptuell Programmatisches zum Ausdruck, das über diese drei Stücke hinaus auf die Arbeitsweise verweist. Hier bekennt sich Pina Bausch dezidiert zu den Menschen, die die Tanzenden jenseits der Bühne darstellen.24
21
2005 erschien auch ein Programmleporello mit Aufführungsfotografien zu diesem Stück, das mit dem alten Programm keine Ähnlichkeit hat. Meines Wissens ist dies eine der deutlichsten Überarbeitungen, die ein vom Tanztheater Wuppertal herausgegebenes Programmheft erfahren hat. Vgl. hierzu noch einmal die Anm. 9, 37 und 38.
22 Das Programm zu dem Stück Nur Du (1996, WA 2001) greift dieses Dispositiv des Fotoalbums noch einmal auf und zeigt neben Aufführungsfotos auch Porträts beteiligter TänzerInnen im Stil von Automatenfotos, bei denen die Gesichter in unterschiedliche typisch amerikanische Kulissen eingebunden sind. 23 Vgl. in dieser Hinsicht auch: Leonore Mau: Ensemble. Pina Bausch. Das Tanztheater Wuppertal. Portraits, St. Gallen/Köln/Sao Paulo 1988.
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Abb. 1
Programmheft zu Bandoneon (1980, WA 2005)
Abb. 2
Programmheft zu Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört (1984)
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Programmheft zu Walzer (1982, WA 1986/87)
Abb. 3
Dies korreliert mit Szenen aus vielen Stücken, in denen die für das Theater und den Tanz konstitutive Differenz zwischen Privatperson und Bühnenpersönlichkeit respektive Rolle unscharf wird.25 In einer sehr grundsätzlichen Weise gilt dies schon dafür, dass sich die TänzerInnen auf der Bühne oft mit ihren Namen ansprechen. In Walzer (1982) werden sie dem Publikum namentlich vorgestellt – und in Keuschheitslegende (1979) zudem Wohnorte, Stadtviertel, Straßen und mitunter auch Telefonnummern genannt. Dabei ist der Identifizierung der Sprechenden mit ihren Worten und Aussagen grundsätzlich mit Vorsicht zu begegnen: Nicht immer stammen diese auch von dem, der sie auf der Bühne sagt. Mit Wiederaufnahmen und 24 Angesichts des Umstands, dass die Premiere des Stücks am 13. Mai war, also eigentlich zu Beginn des Frühlings, ist der Einsatz von Weihnachtsfotos nicht ohne Ironie und erklärt sich vermutlich daraus, dass die Probenzeit in die Adventszeit fiel. 25 „Es liegt mir am Herzen“, sagt Pina Bausch in der Workshop-Rede, „dass man diese Menschen auf der Bühne wirklich kennen lernen kann. Ich finde es sehr schön, wenn man sich am Ende einer Vorstellung jedem ein wenig näher fühlt, weil er etwas von sich gezeigt hat. Das ist etwas sehr Wirkliches.“ Vgl. dies.: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, in: Koldehoff 2016 (wie Anm. 3), S. 326.
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Neueinstudierungen sind im Laufe der Jahre tradierbare Rollen innerhalb der Stücke entstanden, die an andere Ensemblemitglieder weitergegeben wurden. Die Fragen Bauschs, auf denen eine Szene basiert, wurden also nicht etwa mit jeder Umbesetzung neu beantwortet und aktualisiert – wie mitunter auch schon in den Proben erarbeitetes szenisches und sprachliches Material umverteilt wurde. In vielen Äußerungen Bauschs lässt sich nachvollziehen, dass ihr die Unterscheidung zwischen tatsächlich Privatem und dem Zeigen einer persönlichen Erfahrung, an die die Zuschauer gleichsam anknüpfen können, wichtig war: „Wir zeigen etwas Persönliches, aber es ist nicht privat. Es zeigt etwas von dem, was wir alle teilen.“26 Authentisch sind die Stücke also nur in der Hinsicht, dass die Reaktionen der TänzerInnen die Bandbreite des menschlichen Erfahrungsspektrums widerspiegeln, so dass Individuelles exemplarisch werden kann. Gleichwohl dient dies auch dazu, ein Bewusstsein für die Unterschiedlichkeit ihrer TänzerInnen zu schaffen und die Heterogenität des Ensembles ostentativ zu inszenieren. In Arien stellt Jan Minarik dem Publikum eine Kollegin mit den folgenden Worten vor: „[...] gutbürgerliches Elternhaus, Erziehung auf Privatschule, Klavier, Violine, Tanzunterricht, Pensionat in Schweiz, Konservatorium, deutsch, französisch, englisch, französische Küche, gesundes Gebiß, feste Rückenmuskulatur, deutsch, fleißig, sauber [...], Dreizimmerwohnung, [...] stramme Schenkel“.27 Immer wieder werden die Zuschauer mit Szenen konfrontiert, die auf individuellen Erlebnissen, Erfahrungen und Erinnerungen basieren und die die Persönlichkeit der TänzerInnen in positiver oder trau26 Ebd., S. 326. Weiterhin heißt es diesbezüglich: „Im eigenen Körper ist man sich selbst der Nächste. Das ist man selber, ganz direkt. Stärker kann man es nicht ausdrücken, so ganz ohne Umweg. Aber was wir fühlen, gehört uns nicht alleine, sondern gehört uns allen zusammen. Auch das Publikum trägt diese Gefühle in sich, und wir versuchen diese Sprache zu beherrschen, die nichts mit verbalen Äußerungen zu tun hat. Natürlich gibt es viele kulturelle Unterschiede, aber doch immer etwas Gemeinsames. Es interessiert mich, etwas zu begreifen, ohne es vielleicht zu verstehen. Ich fühle mich gestärkt, wenn ich spüre, jemand fühlt ganz genau so, ob man gemeinsam lacht oder gerührt ist, oder sich gegen etwas schützt. Natürlich reagiert jeder ganz individuell. Jemand, der gerade verliebt ist, sieht eine Vorstellung anders als jemand, der gerade etwas Schreckliches erlebt hat. Aber wenn dann etwas zusammentrifft, ist es wunderbar, mit all diesen unterschiedlichen Menschen, an diesem einen Abend, dann erleben wir zusammen etwas Einzigartiges. Unwiederbringliches.“ Ebd., S. 331 f. 27 Diese Szene ist in Eva Demskis Dokumentation Pina Bausch und die Truppe von Wuppertal (1986) zu sehen.
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matisierender Hinsicht geprägt haben mögen. In Kontakthof (1978) kommen die TänzerInnen mit Stühlen an den vorderen Bühnenrand, setzen sich und beginnen von Erlebnissen bei Verabredungen, Dates und Rendezvous zu erzählen.28 Während an dieser Stelle primär emotionale Erfahrungen im Vordergrund stehen, akzentuiert eine Szene in 1980 [...] physische Erfahrungen: Nacheinander treten die TänzerInnen vor ein Mikrophon und berichten von durchlebten Krankheiten und Operationen. Dabei geht es nicht nur um das Ausstellen von potentiellen Defiziten, die die tänzerische Virtuosität und Leistungsfähigkeit gefährden könnten, sondern um Narben und Spuren des Lebens als Pendants zu psychischen Erfahrungen.29 An anderer Stelle des gleichen Stücks rufen die TänzerInnen dem Publikum zum Klang des ersten Marsches aus Edward Elgars Pomp and Circumstances drei Stichworte zu dem Land ihrer Herkunft zu: Sehenswürdigkeiten, Delikatessen, prominente Persönlichkeiten oder Filmhelden.30 Am Ende von Nelken (1982) kommen alle noch einmal auf die Bühne und erzählen, wie und warum sie Tänzer geworden sind – bevor sie sich abschließend aufstellen, als solle ein Gruppenfoto gemacht werden.31 Anlässlich der Rede Was mich bewegt erinnert sich Pina Bausch an eine Aufführung von Der Fensterputzer (1997): „An einer Stelle im Stück zeigen die Tänzerinnen Fotos von früher: Bilder aus der Kindheit, von den Eltern ... Sie sagen dazu: ‚Das ist meine Mutter.‘ – ‚Das bin ich, als ich zwei Jahre alt war.‘ Später zeigen sich alle gegenseitig ihre Privatfotos und gehen damit ins Publikum, um sie auch den Zuschauern zu zeigen. Plötzlich holten auch die Zuschauer ihre Fotos heraus – das war unbeschreiblich: wie sich alle bei wunderschöner Musik ihre Fotos gezeigt haben. Viele haben geweint ...“.32 Während Strategien der Zurschaustellung des Ensembles also bis ins Spätwerk ein wiederholt zu konstatierendes Element der Stücke bleiben – auch wenn ihre Frequenz abzunehmen scheint –, ändern sich die Programmhefte ab Mitte der 1980er Jahre deutlich. Der Weggang des Drama28 Zu sehen in Peter Przygoddas Film Kontakthof with Ladies and Gentlemen over ‚65‘ (2001). 29 Eine Probe zu dieser Szene zeigt Chantal Akerman in Un jour Pina à demandé... 30 Ebd. 31
Ebd.
32 Pina Bausch: Was mich bewegt, in: Koldehoff: 2016 (wie Anm. 3), S. 313.
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turgen Raimund Hoghe 1987 schlägt sich insofern nachhaltig in der Gestaltung der Programme nieder, als in das zu Palermo Palermo (1989) noch einmal „Fragen, Themen, Stichworte aus den Proben“ integriert wurden, seit Tanzabend II (1991) jedoch, außer den Credits und einem Impressum, (fast) keine Texte mehr abgedruckt wurden.33 1986 beginnt sich die Vorgehensweise Bauschs mit der Arbeit an Viktor (1986) nachhaltig zu ändern. Das unbekannte Reservoir, aus dem für die Stücke geschöpft wird, ist nun nicht mehr nur oder primär das Ensemble, sondern eine fremde Kultur – die, in der die Produktion jeweils erarbeitet wurde.34 Der Fokus verschiebt sich also mindestens tendenziell von der Auseinandersetzung mit den Persönlichkeiten der TänzerInnen35 zu der mit einem geografischen Ort, von persönlichen Erfahrungen zu lokalen Gebräuchen, von individuellen Gesten zu Konventionen einer anderen kulturellen Prägung. Hinsichtlich der Programmhefte fällt dabei auf, dass zunehmend fremdes fotografisches Material zwischen die Aufführungs- und/oder Probenfotos arrangiert wird. Diese appropriierende und unkommentierte Einbindung von Bildern, die in Ansätzen bereits in den bereits erwähnten Programmheften zu den beiden Tanzopern zu beobachten war, verdichtet sich Ende der 1980er und in den 1990er Jahren zu einem gestalterischen Konzept, das sich in vielen Programmen nachvollziehen lässt. In dem Programm zu Viktor (1986) stehen zwischen den Probenund Aufführungsfotografien nicht nur Reisebilder des Tänzers Mark
33 Einzige mir bekannte Ausnahme ist das Programm zu Ein Trauerspiel (1994, WA 1995), vgl. Anm. 19. 34 „Die Idee des Teatro Argentina in Rom, in Zusammenarbeit mit uns ein Stück zu machen, das durch in Rom gemachte Erfahrungen entstehen sollte, war für meine weitere Entwicklung und Arbeitsweise von entscheidender, ich könnte sagen schicksalhafter Bedeutung. Denn seitdem sind fast alle unsere Stücke aus der Begegnung mit anderen Kulturen in Koproduktionen entstanden. [...] Das Kennenlernen mir vollkommen fremder Gebräuche, Musiken, Gewohnheiten hat dazu geführt, in den Tanz das zu übersetzen, was uns unbekannt ist und dennoch allen gehören sollte. Dieses Kennenlernen des Unbekannten, um es zu teilen und es ohne Angst zu erleben, hat in Rom angefangen. Begonnen hat es damals mit Viktor.“ Pina Bausch: Was mich bewegt, in: Koldehoff 2016 (wie Anm. 3), S. 312. Vgl. auch eine Passage in: dies.: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, ebd., S. 330. 35 Zum Tänzer als (zunächst) Unbekanntem vgl. auch: Pina Bausch: Was mich bewegt, in: Koldehoff 2016 (wie Anm. 3), S. 311.
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Sieczkarek sondern auch römische Straßenszenen der italienischen Fotografin Enrica Scalfari. Hier ist also noch ein vergleichsweise offensichtlicher inhaltlicher Bezug zu dem Stück zu konstatieren.36 Ahnen (1987) enthält zwei scheinbar von einem Fernseher abfotografierte Bilder von Sumo-Ringern und das eines kleinen Jungen, der für eine Prozession mit einem Kostüm ausgestattet zu sein scheint.37 Das Programmheft zu Tanzabend II (1991) enthält ebenfalls auf den ersten Blick disparate(re)s Bildmaterial – unter anderem Aufnahmen aus Fotobüchern von Cristobal Hara und Cristina Garcia Rodero und Reproduktionen aus einem Buch über orientalische Tänze.38 Bezeichnenderweise kommen in diesem Stück erstmalig großflächige Projektionen von Fotografien in den Bühnenraum zum Einsatz, die sich über das Geschehen legen – oder von diesem belebt werden. Hier zeigt sich also auch ein ganz neuer Einsatz von Fotografien auf der Bühne. In dem Heft zu Ein Trauerspiel (1994, WA 1995) stößt man beim Blättern zwischen den Aufführungsfotos auf einen Löwen, der ein Gnu reißt, einen mit Lasso bewaffneten Mann, der in einem überfluteten Kirchenraum eine entlaufene Kuh einzufangen versucht, und fliehendes Rotwild sowie auf Bilder des bekannten tschechischen Fotografen Josef Koudelka. Das zu Danzón (1995, WA im gleichen Jahr) enthält unter anderem David Douglas Duncans Aufnahmen des tanzenden Pablo Picasso aus dem Buch Viva Picasso (1984), zwei Fotografien einer älteren Dame mit einem Mickey-Mouse-Hut und das Bild einer traditionell gekleideten asiatischen Mutter beim Stillen ihrer Zwillinge. Hinsichtlich der Einbindung von fremdem fotografischem Material ist das Programm zu Wiesenland (2000, WA 2001) vielleicht das interessanteste.39 Dass sehr unterschiedliches kontextuelles Bildmaterial Eingang in Theaterprogramme findet, ist an sich noch nicht weiter 36 Anlässlich der Wiederaufnahme von Viktor im Jahr 2010 ist das Programmheft deutlich überarbeitet worden. Insgesamt ist es durch zahlreiche Aufführungsfotos mit der (damals) aktuellen Besetzung umfangreicher geworden, einige der Straßenszenen aus dem Programmheft der WA 1992 sind jedoch weggefallen. 37 Für das Programm zur Wiederaufnahme von Ahnen im Jahr 2004 wurde eines der beiden Fotos der Sumo-Ringer gestrichen. 38 Die Bilder sind entnommen aus: Wendy Buonaventura: Les mille et une danses d’Orient, Paris 1989.
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ungewöhnlich. Bemerkenswert ist jedoch, dass die in den Wuppertaler Programmen verwendeten fremden Bilder durch den Verzicht dramaturgisch-begleitender Texte so unvermittelt und gleichwertig zwischen dokumentarischen Aufführungs- oder Probenfotografien integriert sind.40 Was ihre materielle Form angeht, erfahren die Programmhefte zu einigen Stücken des Spätwerks eine Reduktion, die die Tendenz der Verwendung von Fotografien als Medien des Sprechens über Tanz und der Kommunikation über die Stücke noch einmal verstärkt: Für O Dido (1999) gab es zum ersten Mal ein mit Aufführungsfotos bedrucktes Leporello. Bei Vollmond (2006) war das Leporello vollständig mit Aufführungfotos bedruckt, Impressum und Credits standen auf dem eingelegten Abendzettel.41 Und das Programm zu Sweet Mambo (2008) bestand sogar nur aus zwei gefalteten Kartons, die, beidseitig mit je einem Foto bedruckt, lose ineinander gelegt waren.42 Was daran überrascht, ist, dass die materielle Form des Programms gleichsam hinter den Fotografien zu verschwinden scheint – man also gleichsam nur Bilder in den Händen hält. Indem sie nicht mehr in ein Heft als Rahmen eingebunden waren, gewannen sie noch einmal mehr an Eigenständigkeit, Gegenwärtigkeit und Präsenz. Rückblickend lässt sich sagen, dass die Programmhefte des Tanztheaters Wuppertal als öffentliche Verlautbarungen mit Bedacht und großer Sorgfalt konzipiert und gestaltet wurden.43 Im Vergleich zu den frühe(re)n Programmen wirken die des Spätwerks gerade hinsichtlich der Bilddramaturgie deutlich offener und assoziativer – vielleicht sogar subtiler und 39 Appropriiertes Bildmaterial findet man unter anderem auch in dem Programm zu Masurca Fogo (1998, WA 1999) – und das zu Das Stück mit dem Schiff (1993) zeigt Kinderfotos aus unterschiedlichen Kulturen. 40 Trotz dieser Tendenz gab es im Spätwerk auch Programme, die nur mit Aufführungsfotos bestritten wurden. 41
Diese Form des Programmleporellos wurde auch verwendet für die Stücke Água (2001, gestaltet von Ulli Weiss), Ten Chi (2004, gestaltet von Ulli Weiss), für das überarbeitete Programm zu Bandoneon (1980, WA 2005 – vgl. Anm. 20) und für ...como el musguito [...] (2009).
42 Solche Karten gab es beispielsweise als provisorisches Programm für die Uraufführungen von Danzón (1995) und Wiesenland (2000). Für Das Stück mit dem Schiff (1993), das nach der Uraufführung nicht wieder aufgenommen wurde, ist die Klappkarte mit Kinderfotos unterschiedlicher Kulturen das letzte gültige, respektive einzige Programm geblieben. 43 Zur Mitarbeit an den Programmheften vgl. Anm. 8.
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raffinierter. In welchem Bezug die appropriierten Bilder zu den Stücken stehen, ist dabei unklar: Sie mögen bei den Proben eine Rolle gespielt haben, auf Reisen entdeckt oder dem Ensemble zugespielt worden sein. Den Fragen Pina Bauschs vergleichbar könnten sie Szenen inspiriert haben. Es mag eine Verwandtschaft – oder ein Kontrast – zu einem Moment des Stücks beobachtet worden oder vom Publikum zu erkennen sein. Als Bestandteil(e) des Programmhefts prägen sie die individuelle Wahrnehmung der Stücke vor der Aufführung und mischen sich rückblickend unter die Erinnerung(en) an einzelne Szenen. Dass sich die Stücke in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren zu verändern begonnen haben, lässt sich in den Programmen nachvollziehen. Die Art der Kommunikation über die Stücke hat sich hier deutlich gewandelt: Das, was zu den Stücken gesagt werden sollte, wird zunehmend durch Bilder ausgedrückt – was sich gerade dann als vielschichtig und komplex erweist, wenn über dokumentarische Aufführungs- oder Probenfotografien hinaus heterogenes Bildmaterial in eine assoziative Beziehung zu den Stücken gebracht wird. Nicht zu wissen, warum diese Bilder integriert wurden, stellt dabei keinen (Wissens-)Mangel dar, sondern ist ganz wesentlich für die Kraft ihres suggestiven Potentials. Über diese Offenheit hat Pina Bausch einmal gesagt: „Die Zuschauer sind immer ein Teil der Vorstellung, so wie ich selber auch ein Teil der Vorstellung bin, auch wenn ich nicht auf der Bühne bin. Jeder ist eingeladen, seinen eigenen Gefühlen zu vertrauen. Es gibt in unseren Programmheften auch nie einen Hinweis darauf, wie die Stücke zu verstehen sind.“44 Gerade in den Programmen zu Stücken, die bis 1989 entstanden sind, kommt ein künstlerisches Credo zum Ausdruck, das zu ihrer Betrachtung im Kontext der Tradition und Gattung der Künstlermanifeste anregt – lassen sich in poetologischer Hinsicht verwandte Strategien zwischen Pina Bauschs Arbeitsweise und den die Stücke begleitenden Publikationen beobachten.45 Probennotizen gewähren Einblick in den Prozess der Stückentstehung, der sich dem Publikum normalerweise entzieht und private Fotografien der Tänzerinnen und Tänzer zeigen diese als menschliche Indi44 Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, in: Koldehoff 2016 (wie Anm. 3), S. 332.
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viduen in einer Perspektive, die immer wieder auch auf der Bühne thematisiert wurde. Da die Choreographin im Impressum als Autorin respektive als (mit-)verantwortliche Herausgeberin geführt wird, sind sie eine Form von Künstlerpublikation, vielleicht sogar als Künstlerbücher zu verstehen. Im Zusammenhang choreographischer Manifeste sind sie deshalb bemerkenswert, weil sich hier eine künstlerische Praxis des Manifests konstituiert, die dieser nicht vorausgeht, sondern aus der Arbeit an den Stücken erwächst – und durch die Form des Programmhefts in den institutionellen Rahmen des Theaterbetriebs eingebunden ist. Unkonventionell sind sie in diesem Kontext deshalb, weil sie keine allgemeinen, verbindlichen und visionären Forderungen aufstellen, an denen sie sich messen lassen müssten. In diesem Sinne könnte man sie als stille, als diskrete Manifeste verstehen, die nicht mit lauter Geste und agitatorischem Duktus auftreten, sondern die künstlerische Arbeit und deren Entwicklung über die Jahre hinweg konsequent begleiten.
45 Vergleichbare Studien zum Phänomen des Programmhefts in der zeitgenössischen choreographischen Praxis sind ein Desiderat. Dabei fallen auch Programmhefte zu einigen Stücken William Forsythes der 1990er Jahre durch ihre eigenwillige künstlerische Gestaltung auf – wie auch die zu einzelnen Stücken von Hans Kresnik in dieser Hinsicht bemerkenswert sind (beispielsweise zu Hänsel und Gretel (1995) oder Hotel Lux (1998), das an eine Stasi-Akte erinnert). Die Choreographin Wanda Golonka hat sich ebenfalls intensiv mit der Gestaltung von Programmen zu ihren Bühnenarbeiten beschäftig. Im Einzelfall wäre dabei zu prüfen, welche Rolle die Dramaturgen hier als Autoren spielen – und welche Vorgaben es ggf. von Seiten der jeweiligen Theater gab.
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„WE HAVE A PROBLEM“. MANIFEST, ÖKONOMIE UND ÖKOLOGIE IM 21. JAHRHUNDERT
Der flämische Performer und Regisseur Benjamin Verdonck publizierte am 15. März 20111 eine Charta. Der auf Flämisch verfasste Text richtete sich an öffentliche Gelder beziehende künstlerische Häuser und Gruppen in Flandern beziehungsweise deren MitarbeiterInnen. Auf Deutsch lautet der Titel2 „Charta für eine aktive Mitarbeit der darstellenden Künste auf dem Weg zu einer gerechten Nachhaltigkeit“. Diese Charta war begleitet von einem offenen Brief, in dem Verdonck über sein Vorhaben und seine Ziele informierte: Er schrieb, dass er ein neues Kunstwerk plane, das vom 1. September 2012 bis zum 7. Februar 2013 stattfinden solle. Für dieses Kunstwerk brauche er die Hilfe der Organisationen, die darin bestehe, per 1
Jeroen Peeters gibt an: „Verdonck presented the charter at the Royal Flemish Theater in Brussels on December 13, 2010.“ Jeroen Peeters: Imagination, Experience and Meaning as Quality of Live. The Performing Arts and Sustainable Development in Flanders, in: Guy Cools und Pascal Gielen (Hg.): The Ethics of Art. Ecological Turns in the Performing Arts, Amsterdam 2014, S. 89–107, hier S. 105, Fußnote 2. Die Veröffentlichung in Form eines offenen Briefes – auf der Website des Künstlers wird dieser als handschriftliches, grafisch-dynamisches Schriftstück präsentiert – datiert vom [15.] März 2011. Da ich nicht die historischen Fakten zur Genese und Rezeption der Aktion untersuche, gehe ich auf die Differenz nicht weiter ein.
2
Originaltitel: „Handvest voor een actieve medewerking van de podiumkunsten aan een transitie naar rechtvaardige duurzaamheid“, siehe http://benjamin-verdonck.be/web/?p=173&cat=6 [Abruf: 10.9.2016].
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Unterschrift zu garantieren, dass die Forderungen seiner Charta von allen MitarbeiterInnen befolgt würden. Damit würde die Organisation zum Koproduzenten und Kokreateur des neuen Werkes und dürfe es bewerben, kritisieren, ausweiten oder auch verkaufen (Abb. 1). Die Titelformulierung „rechtvaardige duurzaamheid“, auf Deutsch: „gerechte Nachhaltigkeit“, situiert die Charta von Verdonck im Feld von Abb. 1 Benjamin Verdonck: Offener Brief vom März 2011, präsentiert auf der Homepage des Künstlers Ökologie, Ökonomie und Ethik.3 Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung bezeichnen gegenwärtige Praxen, die auf die Zukunft ausgerichtet werden und daran orientiert sind, dass global auf den Feldern der Ökologie, Wirtschaft, Politik und des sozialen Zusammenlebens Verhältnisse geschaffen werden, die gerechte, menschenwürdige Lebensumstände möglich machen.4 Nachhaltigkeit entsteht demnach aus unterschiedlichen ökologischen, ökonomischen 3
Den Begriff „Nachhaltigkeit“ prägte der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz im frühen 18. Jahrhundert. „Conservation und Anbau des Holtzes“ seien so vorzunehmen, heißt es bei Carlowitz, „daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe“. Zit. n. Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2013, S. 117. „Zwingend ist in diesem Zusammenhang der Gedanke der Vorsorge für die nachfolgenden Generationen.“ (ebd., S. 119). Dies ist auch heute das zentrale Kriterium für Nachhaltigkeit.
4
Vgl. Karl-Werner Brand: Nachhaltige Entwicklung als gesellschaftliche Herausforderung: Perspektiven der Soziologie, in: Stefanie Baumert u. a. (Hg.): Nachhaltigkeit. Auf den Spuren eines Begriffs und seiner Bedeutung im universitären Kontext, Berlin/Münster 2013, S. 19–40, hier S. 20: „Nachhaltige Entwicklung beschreibt eine Vision globaler gesellschaftlicher Entwicklung, in der alle Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können und in der die ökologischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür bestehen.“
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und sozialen Praxen, die durch kulturelle Praktiken transversal verbunden und ergänzt werden.5 Kunst, die sich mit nachhaltiger Entwicklung beschäftigt, lässt sich auf die Entwicklung der Environmental Art seit den 1960er Jahren datieren6. Die sogenannten Eco Artists arbeiteten transgressiv7, stellten ein völlig neues Set an Bewertungsmaßstäben für Kunst auf und begründeten auf diese Weise eine neue künstlerische Bewegung, die für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und das beginnende 21. Jahrhundert prägend sei.8 Eco Artists besäßen eine „Mission“9. Und zur genaueren Bestimmung charakterisiert die Kuratorin und Kunstwisssenschaftlerin Linda Weintraub in ihrer Überblicksdarstellung: „They typically address issues that non-art professionals claim, create works that function like objects with no pretentions as art, conduct processes that do not resemble studio art practices, and share creative responsibility with non-artist collaborators.“10 Inzwischen erreichte die Anzahl der KünstlerInnen in diesem Feld eine kritische Masse, konstatiert Weinlaub; über 300 KünstlerInnen und Künstlergruppen wären für die Aufnahme in ihre Publikation infrage gekommen. 47 suchte sie aus, 13 – etwas weniger als ein Drittel – repräsentieren dabei die vergangenen zehn Jahre. Auch wenn die Entwicklung bis in die 1960er Jahre zurückreicht, wird für die vergangenen Jahre ein Boom umweltfokussierter Kunst notiert, in dessen Sog solche Projekte vom Nischenphänomen zum „artistic mainstream“11 5
„Kultur liegt quer zu den Säulen und verbindet sie. Sie ist allgegenwärtig. Nachhaltigkeit ohne kulturellen Bezug ist undenkbar“, so Werner Schenkel: Kultur, Kunst und Nachhaltigkeit?, in: Hildegard Kurt und Bernd Wagner (Hg.): Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit. Die Bedeutung von Kultur für das Leitbild Nachhaltige Entwicklung, Bonn und Essen 2002, S. 31–42, hier S. 38.
6
Vgl. Linda Weintraub: To Life! Eco Art in Pursuit of a Sustainable Planet, Berkeley/Los Angeles/ London 2012, S. XIV.
7
„Driven by the desire to strenghten the planet’s weakened defenses and preserve remnants of our planet’s vitality, these artists venture beyond conventional art boundaries into uncharted territories“, so Weintraub (ebd.).
8
„By bolstering eco art’s status as the current era’s definitive artistic movement they are establishing an entirely new set of standards for measuring an artistic masterwork.“ (ebd.).
9
Ebd.
10 Ebd. 11
Andrew Brown: Art & Ecology Now, London 2014, S. 6. Brown entwirft eine Typologie künstlerischer Strategie in diesem Feld und stellt einen Boom während der vergangenen fünf Jahre vor Veröffentlichung seines Buches fest, also ab etwa 2008/09.
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wurden. Ein wesentlicher Grund für das gegenwärtige Interesse sei in der Diskussion um den Klimawandel zu sehen12 sowie die Überzeugung, dass das anthropozentrische Zeitalter vorbei sei13. Eco Art beinhaltet meist die Kritik an umweltzerstörerischen Verhältnissen und Verhalten, aber nicht notwendig die Kritik an Institutionen. Verdoncks Kunstwerk hingegen, das nicht oder lediglich partiell realisiert wurde, reüssierte als künstlerisches Manifest post festum sowie in neuem Kontext und kann als partizipative und institutionskritische Kunst par excellence gelten, was im Folgenden zu zeigen sein wird. Allerdings beziehe ich mich weder auf die erwähnte Charta von 2011 noch auf die Textkonfiguration, die auf der Homepage von Verdonck präsentiert wird, und ich beschäftige mich auch nicht mit der historischen Rekonstruktion von Entstehung der Charta und deren Wirkung. Meine Referenz ist eine textuelle, und zwar ein gemeinsamer Beitrag von Benjamin Verdonck und dem Dramaturgen Sébastien Hendrickx für den 2014 erschienenen Band The Ethics of Art14. 12
Vgl. Malcom Miles: Eco-Aesthetics. Art, Literature and Architecture in a Period of Climate Change, London u. a 2014. – Auch in den Kunst- und Theaterwissenschaften bildete sich in letzter Zeit ein zunehmendes Interesse für ökologische Fragestellungen aus, wie Daniela Hahn in der Einleitung ihres mit Erika Fischer-Lichte 2015 herausgegebenen Sammelbands Ökologie und die Künste schreibt, die freilich von einer „Randständigkeit ökologischer Themen“ ausgeht. Daniela Hahn: Einleitung, in: Daniela Hahn und Erika Fischer-Lichte (Hg.): Ökologie und die Künste, Paderborn 2015, S. 9–27, hier S. 20. In ihrem Beitrag zu diesem Band arbeitet Annette Jael Lehmann Präsentationsstrategien der „Environmental Art“ heraus: „erstens experimentelle Ansätze und Versuche künstlerischer Forschung, zweitens problemlösungsorientiertes Eingreifen in die Umwelt und drittens öffentlich zugängliche und partizipatorische Langzeitprojekte“. Annette Jael Lehmann: Environmental Art. Produktive Paradoxien und partizipatorische Praktiken, in: Hahn/Fischer-Lichte 2015 (wie Anm. 12), S. 31–50, hier S. 35.
13
Christel Stalpaert und Karolien Byttebier verweisen auf das Jahr 2006 mit dem Erfolg des Films An Innocent Truth sowie auf die Überlegungen von Giorgo Agamben, Bruno Latour, Timothy Morton und Richard Dawkins. Christel Stalpaert und Karolien Byttebier: Art and Ecology. Scenes from a Tumultous Affair, in: Guy Cools und Pascal Gielen (Hg.): The Ethics of Art. Ecological Turns in the Performing Arts, Amsterdam 2014, S. 59–87, hier S. 76 f.
14
Benjamin Verdonck und Sébastien Hendrickx: On the ‚Manifesto for the Active Participation of the Performing Arts Sector in the Transition towards a Fair Durability‘, in: Guy Cools und Pascal Gielen (Hg.): The Ethics of Art. Ecological Turns in the Performing Arts, Amsterdam 2014, S. 109–126. – Verdonck und Hendrickx verweisen eingangs auf einen Artikel über die Motivation und die Rezeption des Manifests (ebd., Endnote 1, S. 126). Im Folgenden Stellenangaben aus dem Text mit Seitenzahlen in Klammern.
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Der Text von Verdonck und Hendrickx trägt den Titel On the ‚Manifesto for the Active Participation of the Performing Arts Sector in the Transition towards a Fair Durability‘. Hier wurde der niederländische Begriff „handvest“ – auf deutsch: Charta – retrospektiv mit dem des Manifests ausgetauscht. Das ist jedoch nicht die einzige signifikante Veränderung: Der Titel „On the ‚Manifesto [...]‘“ zeigt einen Metatext an, der in sich mehrere Textformate inkludiert: Neben Verdoncks Charta und seinem offenem Brief sind Ausschnitte aus Reaktionen von Theatern und Künstlern auf das Manifest abgedruckt. All diese Textteile sind durch Schraffierungen am Rand der Seite grafisch herausgehoben15 und so als Schichten von Binnentext markiert. Diese dramaturgisch zugespitzte Textmontage entstand für das Modul-dance Symposium Ethics is Aesthetics? For an Ecology of the Arts of both Environment and Body, das vom 2. bis 4. Oktober 2012 in der Danshuis Station Zuid in Tilburg stattfand.16 Darüber informieren die den Binnentext rahmenden Kontextualisierungen durch Hendrickx. Diese Textmontage, die Verdoncks Charta retrospektiv als Manifest expliziert und dieses kontextuell erweitert, soll im Folgenden untersucht werden im Hinblick auf das „Problem“, das sich hier stellt, auf die Forderungen des Manifests sowie auf die in der Textmontage präsentierten Reaktionen der adressierten Organisationen auf Verdoncks Charta. Das Problem: „We have a problem“, mailt der Dramaturg Hendrickx an seinen Partner Verdonck und an Guy Cools, ebenfalls Dramaturg, Tanzwissenschaftler und für die Organisation des Symposiums tätig, und verweist auf einen Streik der belgischen Eisenbahner, den diese für den 3. Oktober, den Tag des Vortrags, angekündigt haben (S. 111). Geplant war, dass Verdonck und Hendrickx die Strecke zwischen Antwerpen, ihrem Wohnort, und Tilburg, wo das Symposium stattfand, mit der Bahn zurücklegen würden, morgens hin, abends wieder zurück: Benjamin, nehmen wir das Auto am Mittwochmorgen, fragt Hendrickx seinen Partner per Mail, oder sollen 15
Die senkrechten Linierungen sind zugleich Teil des Buchgestaltungssystems des Designstudios Metahaven.
16
Verdonck und Hendrickx geben als Titel des Symposiums lediglich „Ethics in [sic!] Aesthetics“ an (S. 110).
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wir einen Tag früher mit der Bahn fahren? Und wie kommen wir zurück? Die Fahrt, lässt sich recherchieren, dauert mit dem Auto etwa eine Stunde, mit der Bahn circa 90 Minuten. Guy Cools antwortet, die beiden seien schon am Vorabend herzlich willkommen, man werde ein Hotel für sie buchen. Dann schickt er nach, er wisse vielleicht eine Mitfahrgelegenheit von Antwerpen nach Tilburg, auch gebe es einen Bus, der aber zwei Stunden brauche (S. 112). Was ist das Problem, fragt man sich zunächst angesichts dieses Beginns des Binnentexts, um sogleich durch die süffisanten Fragen von Guy Cools auf die Spur gebracht zu werden: „How faithful can you be to your own manifesto? Is carpooling an option?“ (S. 111), schreibt er an Verdonck. Wie konsequent man seine Forderungen umsetzen kann und will, wenn es um die Organisation des Arbeitsalltags und die eigene Bequemlichkeit geht, das sind Fragen, die ins Zentrum des Manifests führen. Eröffnen doch die fünf Mails, mit denen der Binnentext startet, ein Feld, das sowohl beispielhaft für die Probleme steht, die sich für die Unterzeichner der Verdonck’schen Charta ergäben, als auch für die Überlegungen, die zu eventuellen Lösungen dieser Probleme führen könnten. Die Mails zeigen erstens an, dass in diesem Problemfeld persönliche Verhaltensweisen und Routinen zentral affiziert sind, und zweitens, dass deswegen zusätzliche Überlegungen, Organisationsleistungen und die Abkehr von Routinen erforderlich werden. Welche Lösung Verdonck, der laut abgedrucktem Mailverkehr Adressat, aber nie Absender von Mails ist, und Hendrickx gewählt haben, um rechtzeitig zum Tilburger Symposium zu gelangen, erfahren wir nicht. Dass sie den Weg gefunden und auf dem Symposium zu Gast waren, lässt sich dem Rahmentext entnehmen. Dieses primäre Problem verweist in seiner Beispielhaftigkeit auf das Problem zweiter Ordnung, das zugleich das zentrale Problem der Aktion von Verdonck darstellt. Denn das Konzept des Künstlers Verdonck, manifestiert im Manifest, benötigt die Hilfe des flämischen Sektors der darstellenden Künste, um das Konzept umzusetzen und das neue Kunstwerk zu realisieren. Dieses Kunstwerk heißt „Manifesto for the Active Participation of the Performing Arts Sector in the Transition towards a Fair Durability“. Es realisiert sich, wenn die Adressaten die Charta unterschreiben und so
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garantieren, dass sie sich an die im Manifest aufgeführten Forderungen halten. Tun sie das, beteiligen sie sich über eine festgelegte Zeitspanne partizipativ an Verdoncks Kunstwerk.17 Die Transformierung des Inhalts des Manifests in den Arbeitsalltag der Beschäftigten erschafft die Kunst und ersetzt das Werk. Die partizipativen Adressaten erproben Handlungsspielräume, durch die sich das Kunstwerk konstituiert. Dabei übernehmen sie einerseits ihre konventionelle Aufgabe als Koproduzenten und Distributoren der Kunst, insofern sie als Beschäftigte im Theaterbereich Kunst produzieren, präsentieren und vertreiben. Andererseits übernehmen sie partiell „Auf- Abb. 2 Ende des Manifesto-Texts, gefolgt von Reaktionen (in: Verdonck/Hendrickx 2014, gaben“, die traditionell ins Feld S. 117) der Rezipienten, der Wahrnehmenden von Kunst, fallen, indem Verdoncks Intervention das persönliche Sich-ins-Verhältnis-Setzen zur „Institution Kunst“18 der MitarbeiterInnen eines Theaterbetriebs fordert. Das auf den 15. März 2011 datierte Manifest – das sich in der Textkonfiguration Verdoncks offenem Brief anschließt – besteht aus 15 nicht numme17
Insofern entspricht Verdoncks Kunst den Merkmalen einer relationalen Ästhetik, wie sie Nicolas Bourriaud definierte, worauf ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann. Vgl. Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics [frz. O. 2000], Dijon 2002.
18 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013, 3. Aufl. 2015, S. 116.
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rierten Absätzen (S. 111–117; vgl. Abb. 2)19. Absätze 1 bis 6 wiederholen, was im offenen Brief bereits gesagt wurde – an wen sich das Manifest wendet: an die MitarbeiterInnen flämischer Häuser, die öffentliche Gelder beziehen; warum es geschrieben wurde: um ein Kunstwerk zu schaffen; woraus es besteht: aus Verhaltensregeln, die für eine halbe Spielzeit, 160 Tage, innerhalb der adressierten Organisationen in allen beruflichen Angelegenheiten befolgt werden sollen.20 Absatz 7 umschreibt mit einer ersten Forderung, auf was sich alle folgenden Postulate beziehen: In den teilnehmenden Organisationen sollen die bestehenden, sogenannten „Eco Teams“ aufgelöst und durch Leute von außen ersetzt werden, die über die Gründe der ökologischen Krise nachdenken, und zwar anhand eines Briefes, den die UN an Gilbert & George anlässlich deren Ausstellung von The Naked Shit Pictures geschickt haben sollen, um zu erklären, dass in westlichen Exkrementen noch so viele Nährstoffe enthalten wären, dass sie ein Kind in der Dritten Welt vier Tage ernähren würden.21 Die unwahrscheinlichen oder phantastischen Elemente, die in solchen Forderungen auftauchen, spiegeln zum einen wider, dass systeminterne Widersprüche auftreten, können zum 19
Die flämische Version des Textes auf der Website ist in 23 Absätze unterteilt: http://benjamin-verdonck.be/web/?p=173&cat=6 [Abruf: 17.11.2015].
20 Verdoncks Charta entstand nicht im luftleeren Raum. 2008 initiierte das Vlaams Theater Instituut das EcoPodia-Projekt. Vgl. Peeters 2014 (wie Anm. 1), S. 92. 21
Dass es sich hierbei nicht um Fakten, sondern um eine „montierte“ Proposition handeln dürfte, ergibt sich daraus, dass zwar die im Œuvre von Gilbert & George belegten Naked Shit Pictures (die wie bei Shittet, 1983, nicht mit dem Material Scheiße arbeiten, sondern nur mit der Abbildung von Kotwürsten) 1994 erstmals ausgestellt wurden, die Künstler deshalb aber wohl kaum von der UN angeschrieben wurden (vgl. Gilbert & George. The complete pictures 1971–2005, 2 Bde., London 2007, S. 459 u. S. 821–858). Belegt ist, dass sich das Künstlerduo mit der mikroskopischen Untersuchung von Körperflüssigkeiten und Exkrementen beschäftigt hat (ebd. S. 859–966, sowie http://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/gilbert-george/ gilbert-george-major-exhibition-room-guide/gilbert-11 [Abruf: 17.11.2015]). Berichtet wurde, dass ein Shit Picture in einem Ausmalbuch britischer Künstler vertreten war, das als Spende in einer Auflage von 70 000 für Flüchtlingskinder im Kosovo produziert wurde; eine Verkaufsauflage von 30 000 Exemplaren sollte UNICEF-Schulen in den Camps unterstützen (http://www. theguardian.com/world/1999/jun/08/fiachragibbons [Abruf: 17.11.2015]). Zu lesen ist, dass unhygienische sanitäre Verhältnisse diverse Krankheiten, speziell auch Unterernährung, durch Diarrhoe verursachen. (http://venturesafrica.com/why-improved-sanitation-is-critical-to-ensuring-positive-nutrition/ [Abruf: 17.11.2015]) sowie dass Fäkalien upgecycelt werden können, etwa zur Energieerzeugung oder als Düngemittel (http://www.pri.org/stories/2013-06-13/recycled-lunch-using-human-waste-grow-food-and-fight-climate-change) [Abruf: 17.11.2015]).
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andern ironisch oder spielerisch gemeint sein, drittens für Manifeste typisch provokativ sein oder viertens einen Vorverweis auf die Verweigerung von konsequent nachhaltigem Handeln darstellen. Absätze 8 bis 13 beinhalten Forderungen, die eine Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks jedes einzelnen Mitarbeiters zum Ziel haben, wie etwa den Veggie-Donnerstag durch einen Fleisch- oder Fischtag in der sonst durchweg vegetarischen Woche zu ersetzen, für alle Veröffentlichungen Recyclingpapier zu benutzen und keine Farben zu verwenden oder zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu motivieren. Sollte das nicht möglich sein, weil keine öffentlichen Verbindungen mehr angeboten werden, dann muss eine Übernachtung vor Ort genutzt werden (dreimal während des gesamten Zeitraums dürfe jedoch aus familiären Gründen ein Taxi gerufen werden). Die Postulate beziehen sich auch auf die künstlerische Arbeit: Es sollen keine Bühnenbilder verwendet werden oder nur solche, die aus Materialien gefertigt wurden, die schon im Theater vorhanden sind. Für Aufführungen auswärts soll das Set leicht mitführbar sein. Was dadurch beim Transport gespart wird, muss in die Beschäftigung von Künstlern investiert werden. Flugreisen sollen vermieden werden, außer es würde damit die Existenz der Organisation gefährdet. Wenn Flüge unvermeidlich sind, dann nur, wenn man sich auf innereuropäischen Flügen oder auf Transatlantikflügen per Zaubermittel unsichtbar machen kann und danach drei Monate lang dreimal in der Nacht heult wie ein Hund. Diese phantastische Handlungsalternative reflektiert (ironisch) auf die konventionelle Begründung für die Unmöglichkeit des Verzichts. Absatz 14 fordert auf, sich vorzustellen, was passieren würde, wenn alle Mitarbeiter 160,5 Tage lang die aufgestellten Forderungen des Manifests erfüllen würden. Absatz 15 entwirft fragend eine Utopie: Was würde aus der Befolgung der Regeln für eine Fülle an künstlerischen Möglichkeiten, symbolischem Kapital und Spielfreude entstehen? Referenzpunkt für diesen letzten Punkt ist Jean Cocteau, der, als er gefragt wurde, was er aus seinem brennenden Haus mitnehmen würde, mit einem Paradox geantwortet haben soll: das Feuer (S. 117). Ein Manifest – ob von der Produktionsinstanz selbst so genannt oder einem Text/Werk von anderen zugeschrieben – besitzt strategische Funk-
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tionen. Das Manifest vermittelt Intentionen und Programmierungen, es verortet seine AutorInnen im Kontext ihrer Zeit und ihres Feldes und gibt Auskunft über die Position, die die VerfasserInnen eines Manifests in dem jeweiligen Sektor einnehmen oder einnehmen möchten.22 Explizit oder implizit vermitteln Manifeste Handlungsanweisungen. Sie sind Kunstpraxis und Kunsttext gleichermaßen. Verdoncks Manifest vermittelt Anweisungen zum nachhaltigen Handeln. Die Befolgung der Anweisungen ist als Kunstwerk konzeptualisiert. Insofern weicht sein Nachhaltigkeits-Manifest als Kunstwerk ab von Traditionen der Environmental und Eco Art, da er nicht über ökologische Phänomene künstlerisch forscht oder wissenschaftliche Erkenntnisse für ein nicht-wissenschaftliches Publikum „übersetzt“23. In dieser Übersetzerfunktion übernehmen KünstlerInnen mit ihrem Werk und dessen wirklichkeitskonstitutivem Anspruch die Funktion eines Diplomaten24 oder „die Rolle des Agenten eines gesellschaftlichen Umdenkens und Wandels“25. Annette Jael Lehmann hält für die Environmental Art fest: „Das Verhältnis zwischen Kunst und Umwelt wird als pragmatische, symbolische und imaginative Partizipation und zugleich als appellatives Medium einer gesellschaftspolitischen Veränderung performativ generiert. Der Anspruch auf Wirksamkeit von Environmental Art besteht daher in der wirklichkeitskonstitutiven Kraft von Kunst.“26 Referenzen solcherart be22 Vgl. Hubert van den Berg und Ralf Grüttemeier: Interpretation, Funktionalität und Strategie. Versuch einer intentionalen Bestimmung des Manifests, in: dies. (Hg.): Manifeste: Intentionalität, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 7–38, hier S. 7 f. 23 Indem Künstler z. B. „meteorologische und klimatologische Daten visualisieren, sonifizieren oder auf eine andere Art realisieren, als Übersetzungen auf andere Art als in die bekannten Graphiken oder Landkarten“. Julien Knebusch: Art and Climate (Change) Perception: outline of a phenomenology of climate, in: Sacha Kagan und Volker Kirchberg (Hg.): Sustainability: a new frontier for the arts and cultures, Frankfurt am Main, 2008, S. 242–262. Insofern wird Eco Artists zugeschrieben, dass sie mit ihrer Arbeit dabei helfen, die Situation, in der wir uns befinden, überhaupt „zu begreifen, da die Naturwissenschaften trotz der Sammlung von Daten und der Berechnung von Szenarien die zukünftigen ökologischen Veränderungen nur annähernd vorhersagen könnten“. Hahn 2015 (wie Anm. 12), S. 14. 24 Christel Stalpaert und Karolien Byteebier beziehen sich in der Charakterisierung Verdoncks auf Latours Konzept eines solchen Diplomaten: „Flemish theatre maker and visual artist Benjamin Verdonck is a contemporary eco-artist who might be said to assume this role of the diplomat.“ Sie nennen ihn auch „performer-diplomat“. Stalpaert/Byteebier 2014 (wie Anm. 13), S. 77. 25 Hahn 2015 (wie Anm. 12), S. 18 26 Lehmann 2015 (wie Anm. 12), S. 50.
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schriebener Strategien sind mehrfach gebrochene Repräsentationsweisen, die ephemer, performativ und partizipativ sein können, aber in medialer Dokumentation zugänglich bleiben.27 Als Autor des Manifests kann Verdonck als ein solcher „Agent“ agieren, doch umgesetzt werden soll sein Werk von den gleichen Leuten, die Kunstwerke von ihm bereits produzierten, präsentierten und distribuierten – wie etwa das Brüsseler Stadttheater (KVS)28 – oder dies potentiell tun könnten. In der Relation von Künstler und Produzent und Publikumspartizipation verschiebt sich mit diesem Manifest die Stelle des Kunstwerks in die Partizipation, so dass die Position des produzierenden Hauses und die Kunstproduktion konvergieren, während der Autor des Manifests – in der Tradition der konzeptuellen Kunst – sein Werk durch andere realisieren und medial dokumentieren lässt. Verdoncks und Hendrickx’ Textmontage folgt nicht der Chronologie der Ereignisse. Wie erwähnt, sind dem im März 2011 publizierten Manifest fünf E-Mails von Ende September 2012 vorangestellt; danach werden elf (gekürzte) Reaktionen abgedruckt, die auf die Zeit zwischen 20. März 2011 und September 2012 datiert sind, wobei auch hier nicht chronologisch gereiht wurde.29 Ein signifikanter Effekt dieser Verschiebung besteht darin, dass die einzige positive Reaktion auf das Manifest den letzten Eintrag des Binnentexts und damit einen dramaturgischen Höhepunkt bildet. Sie kam von der kleinen Produktionsstätte The Arts Center Scheld’apen in Antwerpen (die 1998 von einem Künstler- und Hausbesetzerkollektiv als Jugendzentrum und Veranstaltungsort gegründet worden war)30. Die Reaktionen aller übrigen Organisationen, die von Verdonck und Hendrickx präsentiert werden, waren negativ – darunter so renommierte 27 Lehmann exemplifiziert ihre These an der Videoarbeit Under Discussion (2005) von Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla sowie an The Lagoon Cycle (1974–1984) von Helen Mayer und Newton Harrison. 28 Z. B. Global Anatomy, 2007. 29 Das kann vielfältige Gründe haben (Reihung nach Eintreffen, nach Lesedatum), die aber nicht genannt werden. Für den Leser ergibt sich folgende Reihenfolge: 21.3.2011, 24.3.2011, 20.3.2011, 12.4.2011, 28.3.2011, 24.4.2011, 27.4.2011, 1.5.2011, 3.5.2011, September 2012, 20.3.2012. 30 Siehe http://www.scheldapen.be/?action=about&sub=437 [Abruf: 17.11.2015].
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Häuser wie Stuk in Löwen, Victoria in Gent, das Brüsseler Stadttheater, das Toneelhuis in Antwerpen und Jan Lauwers, Direktor der Needcompany. Ihre Antworten sind implizit thematisch arrangiert: In den ersten Reaktionen der Textmontage wird bei grundsätzlicher Anerkennung der Brisanz des Manifests freundlich auf Zeit gespielt („I just wanted to let you know I’m busy with your question. I will get back to you soon“, S. 118). Es wird bereits in Teilen Vollzug gemeldet (wobei durchaus ehrlich gesagt wird, was die Institution aus persönlichen Vorlieben ihres Leiters nicht machen würde – den Veggie-Tag auszudehnen etwa) oder zu bedenken gegeben, dass zusätzlich zur Änderung der eigenen Routinen auch das „System“ zu ändern wäre und man Alternativen zum hegemonialen Kapitalismus finden müsse. Die fünfte Reaktion in der Reihe ist die erste, die das Manifest auf ganzer Linie ablehnt. Sie stammt von Guy Dermul, Schauspieler und Theaterdirektor am Brüsseler Stadttheater, der sachlich die Argumente aufführt, die in den folgenden Statements immer wieder zur Sprache kommen, variiert und/oder ins Ironische erweitert werden. Diese ablehnenden Gründe sind: 1. Man ist Koproduzent, hat aber kein Mitspracherecht am Werk und 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
wie es gemacht wird. Das Manifest ist sehr dogmatisch. Man muss den Regeln Verdoncks folgen. Es ist ein Produkt unserer Zeit, in der Raucher, Fleischesser, Autofahrer verbannt werden. Verdonck zwingt alle, seinen Arte-povera-Stil zu kopieren. Jeder Künstler ist aber frei, so zu arbeiten, wie er will. Allein der Punkt der Flugreisen ist relevant. Aber: Wenn wir nicht mehr fliegen dürften, hätte das gigantische und ungerechte Folgen für unser Fenster zur Welt. Außerdem ist das Projekt zeitlich beschränkt. Nach Ablauf des Projekts darf wieder Energie verschwendet werden. Was ist das also für eine Lösung? (S. 119)
Das Provokative von Verdoncks Manifest liegt in seinem Versuch, ökologisch-politische Forderungen institutionell zu inkorporieren und zugleich
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als Kunst zu markieren. Indem sein Manifest Kunst mit den Bedingungen, unter denen sie entsteht, zusammendenkt und reflektiert, gehört es zum Feld der institutionskritischen Arbeiten. Mit seinem Nachhaltigkeitsaspekt geht es aber über politische, ökonomische und kulturelle Kontexte31 hinaus und fügt der Kritik neoliberaler Produktionsweisen die Kritik ökologischer Zustände in den produzierenden Häusern hinzu. Verdoncks Manifest greift in die ökonomischen und organisatorischen Routinen der Organisationen ebenso ein wie in die Alltagsroutinen und -performanzen ihrer Beschäftigten. Die radikale Verschränkung von Kunst (Partizipation) und Leben (während der Bürozeit) treibt Differenzen auf der ideologischen Ebene hervor. Interessant ist hier die reflexhafte Abwehr von Verhaltensänderungen, deren Folgen hypertrophiert werden. Jan Lauwers etwa folgert aus dem Flugverbot: „saving the planet by turning ultra-nationalist. No more travel. Showing only the art made here in our region.“ (S. 121). Der Gegner der Veggie-Woche, Geert Six, will sich seinen Fleischkonsum nicht verbieten lassen (S. 118) und übersieht das Argument, dass es sich hier um eine Regel für die Mahlzeiten während der Arbeitszeit handelt und er zu Hause jeden Tag so viel Fleisch essen kann, wie er will. Was für ein Theater – bedenkt man, dass im Bereich der Kunstproduktion und -distribution institutionskritische Zumutungen und „unsinnige“Aufforderungen durchaus gängig sind.32 Die in Verdoncks Manifest programmatische Konvergenz von Kunstwerk, Partizipation und Produzenteninstanz zeitigt zudem Auswirkungen auf Selbstverständnis und Befindlichkeit der Institution: Gegenüber dem konzeptuellen Künstler verliert sie einerseits ihre Autonomie und Agentenfunktion als produzierende Instanz. Das, was der Künstler sonst dem zahlenden Publikum zumutet, wenn es Spielregeln zu befolgen gilt, mutet er 31
Die immanente Kritik an den (kultur-)politischen und ökonomischen Bedingungen der Institution Kunst sei kennzeichnend für die institutionelle Kritik seitens der Künstler. Vgl. Rebentisch 2015 (wie Anm. 17), S. 174.
32 Allgemein gilt für partizipative Kunst, dass die Teilnehmenden, KünstlerInnen wie Publikum, und auch die Institutionen Vertrauen gewähren und Verantwortung im Umgang mit den Vorschlägen und Regeln übernehmen. Auch das Nichtannehmen von Vorschlägen oder die Nichtrealisierung eines Konzepts sind dieser Kunstform inhärent. Vgl. Rudolf Frieling: Toward Participation in Art, in: The Art of Participation: 1950 to Now, Ausst.-Kat. San Francisco Museum of Modern Art, New York/London 2008, S. 32–49, hier S. 40.
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nun (in erweitertem Maße) der Kunstinstitution zu. Außerdem verliert die teilnehmende Organisation das Alleinstellungsmerkmal in der Umsetzung – es hätte ja sein können, dass mehrere die Charta unterschreiben. Der Künstler selbst hält mit seinem Manifest den Joker. Dieser Coup Verdoncks ist durchaus übergriffig, was Jan Lauwers schmallippig quittiert, wenn er – nicht an Verdonck direkt, sondern in einem Newsletter der Kompanie – bagatellisierend über Verdonck schreibt: „A naive jester in a kingdom that is too small.“ (S. 121). Der naive, größenwahnsinnige Narr Verdonck maßt sich in Lauwers Logik Kompetenzen an, die ihm im traditionellen Gefüge der Kulturinstitutionen anscheinend nicht mehr zustehen, bedenkt man, welch kritische Rolle der Künstlertypus des Narren übernehmen konnte. Die Belegschaft des Brüsseler Stadttheaters formuliert es in einem offenen Brief so: „And although the ‚Manifesto‘ was intended as an invitation to join in the process of thinking, to play and to experiment, many experienced it as an aggressive top-down decision in which they had had no say.“ (S. 124). Der Versuch der institutionellen Inkorporierung hat auch ästhetische Konsequenzen: Das Manifest reklamiert eine künstlerische Autonomie, die mit dem pauschalen Hinweis auf die Bewahrung künstlerischer Freiheiten anderer Künstler abgewehrt wird (vgl. S. 119, S.120 ff.). Die Argumente lauten: Nicht jeder möge ein minimalistisches Bühnenbild, Künstler wollten international touren, sich überhaupt an Regeln anderer halten zu müssen, sei für Künstler problematisch. Tendenziell lassen sich die beigebrachten Argumente zur Abwehr der Forderungen denen der heutigen dominanten Kultur („Today’s dominant culture“) zuordnen, die von einer Kultur der Nachhaltigkeit („Culture of Sustainability“) unterschieden wird.33 Auf die grundsätzliche Wichtigkeit der von Verdonck vorgebrachten Ziele wird dabei stets hingewiesen. Dieser spielerische Charakter des Projekts, der auf konzeptuellen künstlerischen Strategien basiert, ließe den Organisationen in ihrer Partizipation offen, in welcher Form sie die Um33 Vgl. Davide Brocchi: The Cultural Dimension of Sustainability, in: Sacha Kagan und Volker Kirchberg (Hg.): Sustainability: a new frontier for the arts and cultures, Frankfurt am Main 2008, S. 26–58, hier S. 39.
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setzung des Manifests vermitteln, kommunikativ und durch Rahmensetzung, auch, ob sie die Aktion für sinnvoll halten oder nicht, ob sie deren Überzeugungen, die Relevanz nachhaltiger Arbeit, überhaupt teilen (was ja als Aufgreifen politischer Themen möglich wäre)34; diese Potentialität wird jedoch nie erwähnt. Betont wird, dass man sich nicht vorschreiben lassen will, was konkret zu tun oder zu unterlassen wäre – beispielsweise wenn Verdonck fordert, hausinterne Expertengruppen („Eco teams“) aufzulösen (S. 114), die Belegschaft des KVS dagegen auf dessen seit Jahren erfolgreiches Ecoteam verweist und an der Umsetzung eines von diesem Team gerade erstellten langfristigen Plans (bis 2020) arbeiten will (S. 124). In den abgedruckten ablehnenden Reaktionen wird das Manifest also nie als das wahrgenommen, als was es Verdonck anbietet: als potentielles partizipatives, temporäres Projekt, in das man investieren, das man propagieren und für eine halbe Spielzeit ausprobieren könnte. Genau so nimmt es nur das Arts Center Scheld’apen wahr: „Just to tell you we’re in. We sign the manifesto. All of us. [...] Now when some theater dude passes by and asks us if we would like to participate in an artwork, a temporary experiment to save our planet (imagine!), we don’t have any problems with that. On the contrary, it warms our hearts and drives us a little bit crazy. Our work will not suffer from it, it will just be different.“ (S. 124 f.). Dieser einzigen positiven Stimme der Textmontage folgt abschließend der rahmende Kommentar, der die Partizipation des Arts Center würdigt und einräumt, dass es größere Institutionen anscheinend schwerer hätten als kleine, ihren Kurs zu ändern. Verdoncks Manifest, so wird resümiert, hätte weniger enthusiastische Aktionen als kritische Debatten hervorgerufen. Der Beitrag endet mit einem Interviewstatement Verdoncks, der, seine Intention darlegend, ökonomische und ökologische Kontexte gleichwertig sieht: „Artistic freedom is always limited, but within these limits there are endless possibilities. Often, limits help us to see new possibilities. Artistic freedom is very clearly condi34 Auch bei der Vorstellung des Manifests von Verdonck in meinem Vortrag fielen Reaktionen heftig und ablehnend aus. Dabei sprachen sich die einen gegen Nachhaltigkeitsüberlegungen aus (und damit dem Konzept von Verdonck die Relevanz ab), die anderen warfen ihm im pejorativen Sinn vor, Gebrauchskunst, Kunsthandwerk zu machen.
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tioned by a budget for example. Actually ecological limits should weigh as much as financial ones, as we only have one planet.“ (S. 125). Die Textmontage von Verdonck und Hendrickx verkehrt die Niederlage in eine neuerliche rhetorische-künstlerische Selbstbehauptung. Was als „stilles Manifest“ in seiner wirklichkeitskonstitutiven Wirkung zunächst verpuffte, das erhält in der publizierten Textmontage seine Abb. 3 Festival-Ankündigung im Netz zu „Festivaaalllaallal“ 2012 mit Hinweis auf die aktive politische und künstlerische Mitwirkung von Scheld’apen an Verdoncks Durchschlagskraft zurück. Nachhaltigkeitsprojekt/Kunstwerk Der Kontrast zwischen den ökologisch fundierten, prinzipiell umsetzbaren und mit Witz und märchenhaften Elementen durchsetzten Forderungen des einzelnen Künstlers und den zagenden, im Grunde mächtigen Kulturorganisationen wird in der Textmontage dramaturgisch inszeniert. Die Kunstinstitutionen werden als regressive, phantasiearme, neoliberale und unflexible „Konzerne“ markiert.35 Auf einer zweiten Ebene eröffnet der Manifest-Beitrag einen Kreislauf: Das Manifest als Kunstwerk, das nicht zustande kam, wird als diskursiver künstlerischer Beitrag erneut in den Kunstsektor gespielt und manifestiert sich als Beitrag eines Künstlers, der in der öffentlichen Narration der Verfehlung das letzte Wort behält. 35 Eine Ausnahme bildet der Künstler Alexander Nieuwenhuis, der einen phantasievollen Entwurf retourniert: die Idee eines Zeppelins, der mit einem Tanzstudio von Europa nach Shanghai oder Rio fliegt (S. 120). Lauwers nimmt das Bild des heulenden Hundes auf, wendet es aber vom märchenhaft entlastenden Ausweg ins Repressive: „And if you commit an error, against ecological law, you are punished. Such as howling like a dog three times. Every evening for a month. Penance.“ (S. 122).
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FILMGESCHICHTE IN FLAMMEN. MANIFESTE FÜR EIN MUSEUM DES FILMS
Manifeste sind komplexe zeitliche Konfigurationen. Als ästhetische Akte ereignen sie sich im Hier und Jetzt, in der Gegenwart des Sprechens oder Schreibens. Noch dort, wo sie aus der historischen Distanz zu uns sprechen, tun sie dies im emphatischen Präsens der unmittelbaren Rede. Zugleich ist dieses Sprechen oder Schreiben in die Zukunft gerichtet. Manifeste zielen auf radikale Veränderung bestehender Verhältnisse, indem sie Zukünftiges nicht lediglich fordern, sondern Kraft der Stimme herbeirufen. Da dieses Herbeirufen beinahe zwangsläufig an Stimme und Körper gebunden ist, erweisen sich das Theater und die Performance als privilegierte Formen ihrer Artikulation.1 Wo Manifeste hingegen als historische Akte erinnert werden, verschiebt sich ihre zeitliche Konfiguration. Die Zukunft, die sie proklamieren, ist – sofern sich ihr utopischer Charakter nachträglich bestätigt – nicht ereignete Vergangenheit, ihr Entwurf uneingelöste Versprechung. Dies macht sie zu besonders widerständigen Gegenständen historischer Forschung. Denn während sie als Geschichte betrachtet werden, sind sie selbst mit Künftigem befasst, das sich (noch) nicht ereignet hat. Unter diesen Voraussetzungen scheint den Manifesten kein Ort weniger zu eignen als das Museum, das – wenn wir so 1
Vgl. Martin Puchner: Manifesto = Theatre, in: Theatre Journal, Bd. 54, 2002, H. 3, S. 449–465.
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wollen – ihr Verstummen ausstellt, indem es sie als historische Dokumente bewahrt und ihre Ausrichtung auf Zukünftiges als Geschichte exponiert.2 Wenn hier die Geschichte jener Manifeste in den Blick rückt, die ein Museum für den Film fordern, so wird es nicht nur darum gehen, die Notwendigkeit der Sicherung des filmischen Erbes in der Verlautbarung seines künstlerischen oder kulturellen Werts zu begründen, sondern auch darum, in grundsätzlicher Weise nach dem Verhältnis zwischen Manifest und Museum zu fragen. Die Geschichte des Films und seiner Manifeste wird von der Unbeständigkeit des Filmmaterials und dem mit ihr verbundenen Verlust des filmischen Erbes heimgesucht. Schätzungsweise müssen mindestens achtzig Prozent aller Stummfilme als unwiederbringlich verloren gelten.3 Ursache hierfür ist zunächst mutwillige Zerstörung: Wo sich der Wert der Filme ausschließlich über ihren Gebrauch definierte, wurden sie nach ihrer kommerziellen Kinoauswertung zu Abfall. Die Filmstudios schmolzen sie ein, um ihren Silberanteil zurückzugewinnen, oder zerstörten sie, um Lagerraum zu schaffen und Aufbewahrungskosten zu sparen. In beträchtlichem Umfang geschah dies am Ende der 1920er Jahre, als die Einführung des Tonfilms schlagartig den gesamten historischen Bestand des Stummfilms in ökonomischer Perspektive entwertete. Eine weitere Ursache für den Verlust des Filmerbes ist seine instabile Materialität. Filme auf der Basis von Cellulosenitrat, die bis zu den 1950er Jahren den Standard darstellten, sind wahrhaftige Zeitbomben, leicht entflammbare und selbstentzündliche Bildträger, die sich auch bei professionellen Lagerbedingungen unter Freisetzung säurehaltiger Gase zersetzen. Aufbewahrung und Transport von Nitrofilm werden in Deutschland durch das Sprengstoffgesetz geregelt. Die Umstellung auf schwer entflammbares Celluloseacetat (sog. Sicherheitsfilm), das bereits seit den 1910er Jahren verwendet wurde, konnte zwar die Gefahr der Explosion bannen, nicht aber den unaufhaltsamen Zerfall des Film2
Wenn Martin Puchner die Gleichung „Manifest = Theater“ aufstellt, so könnte diese analog hier lauten: Manifest ≠ Museum.
3
Siehe hierzu die Angaben der Deutschen Kinemathek, Berlin: https://www.lost-films.eu/index/ whylf [Abruf: 29.6.2016]. Zum Verlust des Stummfilmerbes in den USA siehe Anthony Slide: Nitrate Won’t Wait. A History of Film Preservation in the United States, Jefferson, NC 1992; David Pierce: The Legion of the Condemned. Why American Silent Films Perished, in: Film History, Bd. 9, 1997, H. 1, S. 5–22.
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materials abwehren. Schon geringe Luftfeuchtigkeit löst einen chemischen Zersetzungsprozess aus, der als Essigsäure-Syndrom bekannt ist. Für Paolo Cherchi Usai, Chefkurator der Filmabteilung am George Eastman Museum und Mitbegründer der dort beherbergten L. Jeffrey Selznick School of Film Preservation, war dies ein Anlass, eine apokalyptische Geschichte des Films zu schreiben, die dessen Tod in 52 Aphorismen ausbuchstabiert. Das Buch The Death of Cinema (2001) versammelt Szenarien der materiellen und metaphorischen Zerstörung, eines Kinos in Flammen, das der Autor auf säurefreiem Papier beschwört. Die- Abb. 1, 2 Bill Morrison: Decasia, 2002 se Zerstörung ist als Antwort auf die Digitalisierung formuliert, die einen Verlust des Geschichtsbewusstseins mit sich führte, während der unabwendbare Verfall dem Film seine geschichtliche Bedeutung zurückerstattete und seine konservatorische Erhaltung zu einem notwendigen Fehler machte.4 Wenn der Film, wie Cherchi Usai schreibt, eine Kunst der Bildzerstörung ist,5 so wird diese in Bill Morrisons Decasia (2002) bei ihrer Arbeit vorgeführt. Merkwürdige Blumen, Kristalle und Nebelzüge zeichnet die Zerstörung in diesem Film, der Found Footage aus Cellulosenitrat aus der Library of Congress, dem Museum of Modern Art, dem George Eastman Museum, der University of South Carolina Newsfilm Library und der Cinémathèque Suisse kombiniert (Abb. 1 und 2).6 4
Paolo Cherchi Usai: The Death of Cinema. History, Cultural Memory and the Digital Dark Age, London 2001, S. 18: „It is the destruction of moving images that makes film history possible.“
5 6
Ebd., S. 7: „Cinema is the art of moving image destruction.“ Vgl. das Interview mit Dave Heaton: Portrait of Decay. Bill Morrison on Decasia, in: erasing clouds, April 2003, H. 13, http://www.erasingclouds.com/02april.html [Abruf: 29.6.2016].
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Bezeichnenderweise ist Decasia der erste Film aus dem 21. Jahrhundert, den die National Film Registry der USA für die Konservierung in der Library of Congress auswählte.7 Die Vorstellung, dass die Residuen des analogen Films durch Digitalisierung gerettet werden könnten, ja dass mit der Digitalisierung die Sorge um den Erhalt des Films grundsätzlich hinfällig geworden sei, ist irrtümlich. Digitale Daten müssen vielleicht als die fragilsten Bildinformationen gelten. Sie sind leicht korrumpierbar und schwer dauerhaft zu speichern, weil sie unter dem Druck der technologischen Veralterung permanent migrieren müssen. Die Digitalisierung hat die Bereiche der Produktion, Postproduktion und Projektion des Films in den vergangenen Jahren vollständig durchdrungen, bis heute existiert aber keine technologische Infrastruktur für seine langfristige digitale Sicherung. „[…] there is no digital archival master format or process with longevity characteristics equivalent to that of film“,8 resümiert ein Bericht, den der Beirat für Wissenschaft und Technologie der Academy of Motion Picture Arts and Sciences unter dem Titel The Digital Dilemma (2007) veröffentlichte und damit seine Ratlosigkeit hinsichtlich der Langzeitsicherung von digital produzierten Filmen zum Ausdruck brachte. Gegenüber den Möglichkeiten der digitalen Archivierung stellt die Archivierung auf Filmmaterial nach wie vor den präferierten und auch vergleichsweise kostengünstigeren Standard dar. Bei optimalen Bedingungen einer trockenen und kühlen Lagerung können Filme, die nach der gängigen Praxis der Hollywoodstudios in Farbauszügen auf schwarzweißem Polyesterfilm ausbelichtet werden (sog. YCM separation), immerhin etwa hundert Jahre überdauern und als Ausgangsmaterial für die Herstellung getreuer Kopien dienen.9 Der Begriff „lossless“, der mit den digitalen Technologi7
Bill Morrison widmete der Library of Congress den Kurzfilm The Film of Her (1996), der den Zerfall der Paper Print Collection porträtiert. Vgl. Gabriel M. Paletz: Archives and Archivists Remade. The Paper Print Collection and „The Film of Her“, in: The Moving Image, Bd. 1, 2011, H. 1, S. 68–93.
8
Science and Technology Council of the Academy of Motion Picture Arts and Sciences: The Digital Dilemma. Strategic Issues in Archiving and Accessing Digital Motion Picture Materials, Los Angeles 2007, S. 51. Die Publikation ist als Download frei verfügbar: http://www.oscars.org/ science-technology/sci-tech-projects/digital-dilemma [Abruf: 29.6.2016].
9
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Ebd., S. 48.
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en Eingang in den Sprachgebrauch fand und das Versprechen der verlustfreien Speicherung komprimierter Daten birgt, mag im Blick auf die Verlustgeschichte des Films nur wie ein Euphemismus klingen. Lossless (2008) ist der Titel einer Serie fünf experimenteller Kurzfilme von Rebecca Baron und Douglas Goodwin, in denen digitalisierte Filmausschnitte aus Victor Flemings The Wizard of Oz (1939), Maya Derens Meshes of the Afternoon (1943), John Fords The Searchers (1956), Ernie Gehrs Serene Velocity (1979) und Busby Berkeleys Wasserballett in Footlight Parade (1933) bis zur Unkenntlichkeit komprimiert wurden (Abb. 3 und 4). Durch Entfer- Abb. 3 Rebecca Baron und Douglas Goodwin: Lossless #2 (Meshes of the Afternoon), 2008 nung von Keyframes, Filesharing, Abb. 4 Rebecca Baron und Douglas Goodwin: Debugging und andere digitale VerLossless #4 (Serene Velocity), 2008 fahren scheinen sich die Bilder in einen Strom der Artefakte aufzulösen und damit ihrem zukünftigen Verlust für die Filmgeschichte vorauszugreifen.10 Die Sicherung digital produzierter Bilder für die Nachwelt stellt derzeit eine der größten Herausforderung der Filmarchive dar.11 10 Vgl. Dale Hudson: Digital Performances, in: Afterimage, Bd. 36, 2009, H. 5, S. 22. Siehe zum Begriff „lossless“ aus filmarchivarischer Perspektive Michael Loebenstein: A Changing Landscape, in: Journal of Film Preservation, 2011, H. 84, S. 2–3. 11
Siehe hierzu etwa Paolo Cherchi Usai u. a. (Hg.): Film Curatorship. Archives, Museums and the Digital Marketplace, Wien 2008; Giovanna Fossati: From Grain to Pixel. The Archival Life of Film in Transition, Amsterdam 2009; Paolo Cherchi Usai: The Conservation of Moving Images, in: Studies in Conservation, Bd. 55, 2010, H. 4, S. 250–257; Caroline Frick: Saving Cinema. The Politics of Preservation, Oxford/New York 2011; Anna Bohn: Denkmal Film, 2 Bde., Wien/Köln/ Weimar 2013.
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Es ist ein erstaunlicher Befund, dass der Ruf nach einem Museum die Geschichte der Filmmanifeste von Anfang an durchdringt. Bereits 1898, nur drei Jahre nach den ersten öffentlichen Vorführungen des Kinematographen, forderte der in Paris lebende polnische Fotograf und Kameramann Bolesław Matuszewski in einem erstaunlich frühen Manifest der Filmgeschichte ein Museum der Kinematographie.12 Er begründet sein Anliegen im dokumentarischen Wert des Films, in der unbestechlichen und exakten Wiedergabe von Ereignissen, die ihn zu einer unvergleichlichen Quelle historischer Forschung und Bildung mache. Mit der Zustimmung des Zaren Nikolaus II. hatte Matuszewski im Jahr zuvor den Staatsbesuch des französischen Präsidenten Félix Faure in St. Petersburg mit dem Cinématographe Lumière gefilmt und damit Aufnahmen geliefert, mit denen der Vorwurf Otto von Bismarcks zurückgewiesen werde konnte, Faure habe den tapferen Soldaten salutiert, indem er die Hand zum militärischen Gruß an den Hut führte und nicht, wie es das Protokoll verlangte, indem er den Hut vor ihnen zog.13 Mit diesen eigenen Aufnahmen empfahl sich Matuszewski nun für die Begründung einer Sammlung, die in den Räumen der Bibliothèque Nationale, dem Institut de France, den Archives Nationales oder dem Musée de Versailles unterzubringen wäre.14 Matuszewskis Manifest blieb eine Randnotiz innerhalb der Filmgeschichtsschreibung und schien bis zu seiner Wiederentdeckung im Bewusstsein verpasster Chancen der
12
Die auf den 25. März 1898 datierte Schrift Une Nouvelle Source de l’Histoire (création d’un dépôt de cinématographie historique) erschien in Paris als zwölfseitige Broschüre. Die Originalausgabe von 1898 wurde als Faksimile in einer kritischen Edition neu veröffentlicht: Boleslas Matuszewski: Écrits cinématographiques. Une nouvelle source de l’histoire / La Photographie animée, hg. v. Magdalena Mazaraki, Paris 2006. Für eine deutsche Übersetzung siehe Boleslas Matuszewski: Eine neue Quelle für die Geschichte. Die Einrichtung einer Aufbewahrungsstätte für die historische Kinematographie, in: montage/av, Bd. 7, 1998, H. 2, S. 6–12.
13
So berichtet die französische Tageszeitung Le Figaro am 13. Januar 1898: „Or, voici qu’avanthier le cinématographe reproduisit précisément la scène de l’arrivée de M. Félix Faure à SaintPétersbourg. Et chacun pu voir le Président s’avancer à pas lents, devant le front, et baisser tout à coup son chapeau […]. Et c’est ainsi que s’écrira désormais l’histoire: par le cinématographe.“ Zit. n. Magdalena Mazaraki: Boleslas Matuszewski. De la restitution du passé à la construction de l’avenir, in: Matuszewski 2006 (wie Anm. 12), S. 11–46, hier S. 17.
14
Boleslas Matuszewski: Une nouvelle source de l’histoire [1898], in: Matuszewski 2006 (wie Anm. 12), S. 10.
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Filmsicherung nahezu vergessen.15 Nur unter der Voraussetzung, dass man das Paradox einer nachträglichen Vorwegnahme akzeptiert, kann sein Manifest als Gründungstext musealer und archivarischer Bemühungen um den Film gelten. Interessant ist, dass der Film bei Matuszewski selbst zum Träger des musealen Gedankens wird, zum Medium der Erhaltung und Vermittlung von Geschichte. Film sei dabei weniger ein Dokument der Geschichte als ein Bruchstück der Geschichte selbst. Matuszewski vergleicht die Bilder auf dem Filmstreifen – jene animierten Fotografien, wie er sie nennt – mit Organismen, die durch den Lichtstrahl des Projektors aus einem langen Schlaf erweckt werden, um historische Erfahrung lebendig zu halten.16 Es ist das Diskursfeld des Animismus, in dem sich seine Idee eines Filmmuseums als Archiv lebendiger Geschichte konstituiert. In der Auseinandersetzung mit den anthropologischen Schriften Edward B. Tylors hatte Aby Warburg nur wenige Jahre zuvor, in seiner 1893 veröffentlichten Dissertationsschrift über Sandro Botticelli, den Gedanken des Nachlebens in die Kunstgeschichte eingeführt.17 Es ist diese Vorstellung einer Konservierung des Lebens, die auch Ricciotto Canudo in seinem Manifeste des sept 15
Vgl. Richard Abel: Before the Canon, in: ders. (Hg.): French Film Theory and Criticism. A History/Anthology 1907–1939, Bd. 1: 1907–1929, Princeton, NJ 1988, S. 5–34, hier S. 11; Penelope Houston: Keepers of the Frame. The Film Archives, London 1994, S. 10; Bernard Chardère: Le Roman des Lumière. Le Cinéma sur le vif, Paris 1995, S. 423; Paolo Cherchi Usai: Origins and Survival, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.): The Oxford History of World Cinema, Oxford/New York 1996, S. 6–13, hier S. 12; Małgorzata Hendrykowska: East Central Europe Before the Second World War, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.): The Oxford History of World Cinema, Oxford/New York 1996, S. 383–389, hier S. 383; Éric Le Roy: Cinémathèques et archives du film, Paris 2013, S. 11 f.
16
Boleslas Matuszewski: Une nouvelle source de l’histoire [1898], in: Matuszewski 2006 (wie Anm. 12), S. 9.
17
Aby Warburg: Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ und „Frühling“. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance [1893], in: ders.: Werke in einem Band, hg. v. Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Berlin 2010, S. 39–123. Vgl. hierzu Georges Didi-Huberman: Nachleben oder Anthropologie der Zeit: Warburg und Tylor, in: ders.: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg [frz. O. 2002], Berlin 2010, S. 57–67; Frank Fehrenbach: „Du lebst und thust mir nichts. Aby Warburg und die Lebendigkeit der Kunst, in: Hartmut Böhme und Johannes Endres (Hg.): Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten, München/Paderborn 2010, S. 124–145.
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arts (1923) aufruft,18 wenn er Kunstproduktion als solche auf das menschliche Bedürfnis nach Dauerhaftigkeit der Dinge zurückführt. Wenn es Architektur und Musik – und die von ihnen jeweils abgeleiteten Künste Skulptur und Malerei sowie Tanz und Poesie – vermochten, „alle Vergänglichkeit des Lebens zu fixieren und auf diese Weise gegen das Verschwinden der Erscheinungen und Formen anzukämpfen und die folgenden Generationen um die ästhetische Erfahrung zu bereichern“,19 so konnte ihre behauptete Synthese in der siebten Kunst des Films nur eine Steigerung dieses Versprechens bedeuten. Canudo beschreibt den Film gleichsam als Apparat, in dem „das, was wir Leben nennen, […] aus den Drehbewegungen der Kurbel eines Filmprojektors“ entsteht.20 Dieser bereits 1911 geschriebene und 1923 erstmals veröffentlichte Beitrag erschien erst in seinem Nachdruck von 1923 als Manifest, in der zweiten Ausgabe der von Canudo begründeten Gazette des sept arts, die Beiträge von Vertretern aller sieben Künste versammelte. Seine Zählung schloss die Kinematographie programmatisch ein, die das System der Künste nach Hegel zu einem Zeitpunkt erweiterte, als sich der Film noch längst nicht aus den Kontexten des Jahrmarkts und des Varietés gelöst hatte.21 Etwa zur gleichen Zeit plädierte Vachel Lindsay in den USA mit seiner Studie The Art of the Moving Picture (1915, überarbeitete Fassung 1922) nachdrücklich für die Notwendigkeit eines Museums, das den Film als neue Kunstform beherbergen sollte.22 Er 18 Ricciotto Canudo: Manifeste des sept arts, in: Gazette des sept arts, H. 2, 25. Januar 1923, S. 2; online verfügbar über Ciné-ressources, http://www.cineressources.net/consultationPdf/web/ o000/527.pdf [Abruf: 29.6.2016]; für eine deutsche Übersetzung siehe Ricciotto Canudo: Die sieben Künste [Manifest der sieben Künste], in: Margrit Tröhler und Jörg Schweinitz (Hg.): Die Zeit des Bildes ist angebrochen! Französische Intellektuelle, Künstler und Filmkritiker über das Kino. Eine historische Anthologie 1906–1929, Berlin 2016, S. 354–359. Das Manifest wurde in die postum erschienene Aufsatzsammlung L’usine aux images (Genf 1927) aufgenommen. 19
Canudo [1923] 2016 (wie Anm. 18), S. 355 [Hervorh. i. O.].
20 Ebd., S. 359. 21
Siehe zum System der einzelnen Künste in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1835–1838) die beiden Bände der Werkausgabe: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II (Werke, Bd. 14); Vorlesungen über die Ästhetik III (Werke, Bd. 15), hg. v. Eva Moldenhauer und Markus Michel, Frankfurt am Main 1986.
22 Vachel Lindsay: The Art of the Moving Picture [1915/1922], New York 1970. Zur Einrichtung einer Filmsammlung am Denver Art Museum, das Lindsay eine Kooperation in Aussicht gestellt hatte und dessen Direktor George W. Eggers (vormals Direktor des Chicago Art Institute, an dem Lindsay studiert und später zum Film vorgetragen hatte) das Vorwort zur Neuausgabe von 1922 schrieb, sollte es allerdings nicht kommen.
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lieferte damit die theoretische Grundlegung für die Institutionalisierung der Sicherung und Erforschung des Films, auf die sich das Museum of Modern Art anlässlich der Einrichtung einer Filmsammlung später berufen sollte.23 Der Kunststatus des Films ist ein strategisches Argument in der Wegbereitung seiner Archivierung. Wie abwegig das Zugeständnis des Kunststatus noch in den 1930er Jahren, im Umfeld der Begründung der Kinematheken und Filmmuseen erscheint, bezeugen die öffentlichen Reaktionen auf einen Vortrag, den Erwin Panofsky unter dem schlichten Titel On Movies erstmals 1934 an der Princeton University hielt24 und dessen verschiedene Versionen in den kanonischen Aufsatz Style and Medium in the Motion Pictures münden sollten.25 Schon der Umstand, dass ein Kunsthistoriker über Filme sprach, sie darüber hinaus zur Kunst erklärte, war eine Novität. Panofsky lieh seine Stimme einer Idee, die sich in der Begründung der Film Library des Museum of Modern Art 23 Vgl. das Kapitel „Vachel Lindsay and the Universal Film Museum“ in Peter Decherney: Hollywood and the Culture Elite. How the Movies Became American, New York 2005, S. 13–40. 24 Es handelte sich um eine informelle Vorlesung vor den Studierenden und der Fakultät des Department of Art and Archaeology an der Princeton University; unter dem Titel On Movies veröffentlicht in: Bulletin of the Department of Art and Archaeology of Princeton University, Juni 1936, S. 5–15. Am 15. November 1936 hielt Panofsky den Vortrag unter dem Titel The Motion Picture as Art am Metropolitan Museum of Art, illustriert mit Filmen aus der neu begründeten Film Library des Museum of Modern Art in New York, in deren Beirat er im März 1935 als eines von sechs Mitgliedern berufen worden war. Eine überarbeitete Version erschien unter dem Titel Style and Medium in the Moving Pictures in: transition, 1937, H. 26, S. 121–133. Der Umschlagentwurf stammt von Marcel Duchamp und zeigt eine Reproduktion seines Readymade Kamm (Peigne) von 1916. Siehe zu dieser Edition Volker Breidecker: Kracauer und Panofsky. Ein Rencontre im Exil, in: Hamburger Kunsthalle (Hg.): Konstruktionen der Moderne (Im Blickfeld, Bd. 1), Hamburg 1994, S. 125–147, hier S. 128–130; Volker Breidecker: „Ferne Nähe“. Kracauer, Panofsky und „the Warburg tradition“, in: ders. (Hg.): Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky. Briefwechsel 1941–1966, Berlin 1996, S. 129–226, hier S. 215–217. 25 Erwin Panofsky: Style and Medium in the Motion Pictures, in: Critique, Bd. 1, 1947, H. 3, S. 5–28. Siehe zur Editionsgeschichte des Aufsatzes u. a. Irving Lavin: Panofskys Humor, in: Erwin Panofsky: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 9–15, hier S. 10–13; Thomas Y. Levin: Iconology at the Movies. Panofsky’s Film Theory, in: Irving Lavin (Hg.): Meaning in the Visual Arts: Views from the Outside. A Centennial Commemoration of Erwin Panofsky (1892–1968), Princeton, NJ 1995, S. 313–333, hier S. 313 f.; Horst Bredekamp: „On Movies“. Erwin Panofsky zwischen Rudolf Arnheim und Walter Benjamin, in: Thomas Koebner und Thomas Meder (Hg.): Bildtheorie und Film, München 2006, S. 239–252, hier S. 241 f. und S. 247 f.
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im Juni 1935 manifestieren sollte, einem Projekt, das – wie er bemerkt – den meisten Zeitgenossen als ziemlich sonderbar erscheinen musste.26 Iris Barry, die Kuratorin der ersten Stunde, war im Vorfeld an Panofsky herangetreten, um ihn als Fürsprecher dieses Projekts im öffentlichen Diskurs zu gewinnen.27 Panofskys Aufsatz ist kein Manifest, erhielt aber dessen proklamatorische Züge, als er 1937 – in einer zweiten Fassung – in der Literaturzeitschrift transition erschien, die surrealistische, expressionistische und dadaistische Wortkunst publizierte und der selbst ein Manifest des Herausgebers Eugene Jolas zugrunde lag, in dem er die Metamorphose der Realität durch das Wort forderte.28 Während Panofsky eher das klassische Hollywoodkino im Blick hatte, das in den Filmprogrammen des Museum of Modern Art zu sehen war, wurde sein Filmaufsatz in diesem neuen Kontext als Beitrag zur künstlerischen Avantgarde gelesen, die sich hier in einem ihrer international wichtigsten Foren präsentierte. Bei allem Pioniergeist, der die Aufnahme des jungen Films in den Kanon der Künste umwehte, stand der Auftrag der Film Library von Beginn an im Zeichen der Verluste, die die Filmgeschichte zu diesem Zeitpunkt bereits zu vermerken hatte. In einem Entwurf der Film Library, den Iris Barry und John E. Abbott im Vorfeld ihrer Gründung verfassten, heißt es: „This new and living form of expression, a vital force in our time, is such a young art that it can be studied from its beginnings: the primitives among movies are only forty years old. Yet the bulk of all films, whether foreign or domestic, new or old, which are of importance historically or aesthetically, are not merely invisible under existing circumstances but
26 Panofsky in einem Brief an die Redaktion der Zeitschrift Filmkritik, zitiert in der Vorbemerkung zur ersten deutschen Übersetzung des Aufsatzes: Erwin Panofsky: Stil und Stoff im Film, in: Filmkritik, 1967, H. 6, S. 343–355, hier S. 343. 27 Vgl. Robert Gessner: Erwin Panofsky 1892–1968, in: Film Comment, Bd. 4, 1968, H. 4, S. 3. Siehe ferner Robert Sitton: Lady in the Dark. Iris Barry and the Art of Film, New York 2014. 28 Eugene Jolas: Revolution of the Word, in: transition, 1929, H. 16/17, S. 11–13. Die Februar-Ausgabe des Jahres 1937, in der Panofskys Filmaufsatz Style and Medium in the Moving Pictures (wie Anm. 24) erschien, enthielt neben Beiträgen von Marcel Duchamp, Hans Arp, Paul Éluard, James Joyce, Franz Kafka, Man Ray, Brassaï, Edward Weston, Fernand Léger, Piet Mondrian und Alexander Calder auch ein Manifest von László Moholy-Nagy, das die Gründung einer Akademie für das Studium des Lichts forderte.
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are in serious danger of being permanently lost or destroyed.“29 Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld entstanden mit der National Film Library des BFI im Jahr 1935, der Cinémathèque Française im Jahr 193630 sowie der Cinémathèque Royale de Belgique im Jahr 1938 eine Reihe weiterer Kinematheken, die sich der Sammlung und Erhaltung des Films verschrieben. Sie wurden flankiert von der in Paris gegründeten internationalen Vereinigung der Filmarchive FIAF, in der sich das Museum of Modern Art, das British Film Institute, die Cinémathèque Française und das Reichsfilmarchiv zusammenschlossen, um gemeinsame Richtlinien und Standards für die Filmerhaltung zu erarbeiten.31 Der Ruf nach Bewahrung, nach Sicherung der Bilder versetzt die Manifeste für ein Museum des Films in ein merkwürdiges Verhältnis der Ungleichzeitigkeit zur künstlerischen Avantgarde und ihrer ikonoklastischen Rhetorik.32 „Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören“, heißt es in Filippo Tommaso Marinettis Manifeste du Futurisme (1909). „Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen!… Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen!…“33 Und in seinen Erinnerungen an die surrealistische Bewegung bemerkt 29 John E. Abbott, Iris Barry, Alfred H. Barr und Thomas D. Mabry, Jr.: An Outline of a Project for Founding the Film Library of the Museum of Modern Art (17. April 1935), in: Film History, Bd. 7, 1995, H. 3, S. 325–335, hier S. 326. Siehe hierzu ferner Frank Arnold: Pioniere. Das Film Department am New Yorker Museum of Modern Art, in: FilmGeschichte, 2004, H. 19, S. 43–45; Haidee Wasson: Museum Movies. The Museum of Modern Art and the Birth of Art Cinema, Berkeley 2005. 30 Der Filmclub Cercle du cinéma, aus dem die Cinémathèque Française hervorging, wurde von Henri Langlois und Georges Franju bereits 1935 gegründet. 31
Die FIAF (Fédération Internationale des Archives du Film) wurde 1938 in Paris zur Bewahrung des Filmerbes gegründet. Ihr gehören aktuell 85 Institutionen als aktive Mitglieder an. Zur Gründungsgeschichte der FIAF siehe Christophe Dupin: The Origins of FIAF, 1936–1938, in: Journal of Film Preservation, 2011, H. 88, S. 43–58.
32 Vgl. das Kapitel „Modern Art and Iconoclasm“ in Dario Gamboni: The Destruction of Art. Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution, London 1997, S. 255–286. Siehe zu den Manifesten der Avantgarde grundlegend Martin Puchner: Poetry of the Revolution. Marx, Manifestos, and the Avant-gardes, Princeton, NJ/Oxford 2006. 33 Filippo Tommaso Marinetti: Manifeste du Futurisme, in: Le Figaro, 20. Februar 1909, S. 1; zit. n. der deutschen Übersetzung: F. T. Marinetti: Manifest des Futurismus, in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 75–80, hier S. 78 und S. 79.
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Luis Buñuel, dass für ihn der Zerstörungsimpuls stärker als der Schaffensdrang gewesen sei: „Die Vorstellung, ein Museum anzustecken, hat […] immer einen viel größeren Reiz gehabt als die Eröffnung eines Kulturzentrums oder die Einweihung eines Krankenhauses.“34 Im Jahr 1919, zu einer Zeit, als die sowjetische Regierung die Zerstörung der alten russischen Kunstsammlungen im Zuge des Bürgerkriegs fürchtete, stellte sich Kasimir Malewitsch unmissverständlich gegen den staatspolitischen Schutz der Museen. In seinem kurzen Text Über das Museum (1919) empfiehlt er, alle vergangenen Epochen zu verbrennen und auf dem Scheiterhaufen aller Museen eine einzige Apotheke zu errichten, die die Asche der Kunstwerke bewahrt. „Ihr Ziel ist immer ein und dasselbe, selbst wenn der Betrachter vor der Asche Rubens und seiner ganzen Kunst steht – er wird eine Menge Vorstellungen entwickeln, vielleicht lebendigere als das wirkliche Bild (und man braucht weniger Platz).“35 Das antimuseale Wortgefecht der Avantgarde darf mitunter als theoretische Grundlegung tatsächlicher Praktiken der Selbstzerstörung gelten, wie sie in der Aktionskunst der 1960er Jahre ausgetragen wurden. Gustav Metzger, der der auto-destruktiven Kunst gleich sechs Manifeste widmete,36 stellte sein Konzept der Öffentlichkeit erstmals 1960 in einer Performance in der Temple Gallery in London vor, als er ein über Glas gespanntes weißes Nylontuch mit einer Säurelösung bemalte, die den Stoff allmählich zersetzte und den dahinter agierenden Künstler für den Blick des Publikums freigab. Zu ihrer Zeit wollte Metzger die Performance als Kritik
34 Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen [frz. O. 1982], Königstein/Ts. 1983, S. 97. 35 Kazimir Malevič: Über das Museum [1919], in: Boris Groys und Aage Hansen-Löve (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt am Main 2005, S. 203–210, hier S. 205. Siehe zur antimusealen Haltung der russischen Avantgarde ferner Boris Groys: The Struggle against the Museum; or, The Display of Art in Totalitarian Space, in: Daniel J. Sherman und Irit Rogoff (Hg.): Museum Culture. Histories, Discourses, Spectacles, Minneapolis, MN/London 1994, S. 144–162; Boris Groys: Becoming Revolutionary. On Kazimir Malevich, in: e-flux, 2013, H. 47, http://www.e-flux.com/journal/47/60047/becoming-revolutionary-on-kazimir-malevich/ [Abruf: 29.6.2016]. 36 Vgl. Gustav Metzger. Geschichte Geschichte, hg. v. Sabine Breitwieser, Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien, Ostfildern-Ruit 2005; Andrew Wilson: Gustav Metzger’s Auto-Destructive/Auto-Creative Art. An Art of Manifesto, 1959–1969, in: Third Text, Bd. 22, 2008, H. 2, S. 177–194.
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unter anderem am kapitalistischen Kunstsystem verstanden wissen, in dem Bewahrung und Wertsteigerung wechselseitig aufeinander bezogen sind.37 Diesem System sollte sich seine Arbeit entziehen, durch Selbstzerstörung in den Spielarten der Verrottung, Verwitterung, Verätzung oder Explosion. Unter dem Titel Recreation of First Public Demonstration of Auto-Destructive Art (1960, Replik 2004, 2015) sind diese Akte der Selbstzerstörung in der Tate Modern heute auf Dauer gestellt. In ihrer Nachbildung sind sie nunmehr zu einem Zeugnis der Unzerstörbarkeit geworden, haben ein „indestructible object“ geformt, das die ursprüngliche Idee nur unter der Voraussetzung erhalten kann, dass sie diese verrät.38 Für den Film musste die „chemische Revolution“39 gar nicht erst ausgerufen werden, damit sie die Selbstzerstörung der Kunst besorgte. Seine hohe materiale Fragilität macht den Film zu einem besonders schwierigen Gegenstand der Konservierung. Was ihn dabei von den meisten anderen musealen Objekten – nicht kategorisch, aber graduell – unterscheidet, ist der Umstand, dass er durch Betrachtung verschlissen wird. In seinen Überlegungen zum Ursprung des Museums unterscheidet Krzysztof Pomian zwischen Gegenständen, die gebraucht werden, und Gegenständen, die betrachtet werden,40 eine Formulierung, die Giorgio Agamben variiert, wenn er das Museum einen Ort nennt, an dem die „Unmöglichkeit des Benutzens“41 ausgestellt
37 Vgl. Wilson 2008 (wie Anm. 36), S. 181. 38 Die Anspielung bezieht sich auf Man Rays Readymade Object to Be Destroyed (1923), das in einer Protestaktion von Studierenden während einer Dada-Ausstellung in Paris 1957 mutwillig zerstört wurde und nach der Auszahlung der Versicherungssumme vom Künstler durch eine Edition von 100 Multiples ersetzt wurde, die er Indestructible Object nannte. Vgl. Gamboni 1997 (wie Anm. 32), S. 282–286; Dario Gamboni: Image to Destroy, Indestructible Image, in: Iconoclash, hg. v. Bruno Latour und Peter Weibel, Ausst.-Kat. ZKM, Karlsruhe, Karlsruhe/Cambridge, MA/London 2002, S. 88–135. 39 So der Titel von zwei öffentlichen Vorträgen von Gustav Metzger der Jahre 1965 und 1966, in denen er seine Idee der Selbstzerstörung der Kunst im Rückgriff auf unterschiedliche Techniken vorführte. Vgl. Wilson 2008 (wie Anm. 36), S. 192. 40 Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln [frz. O. 1987], Berlin (4. Aufl.) 2013, S. 49 f. 41
Giorgio Agamben: Lob der Profanierung, in: ders.: Profanierungen [ital. O. 2005], Frankfurt am Main 2005, S. 70–91, hier S. 84.
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wird, und deren Bestätigung Marcel Duchamp provoziert, wenn er empfiehlt, man solle einen Rembrandt als Bügelbrett verwenden.42 Für den Gegenstand des Films wäre das Verhältnis zwischen Betrachtung und Gebrauch zu reformulieren. Wenn Filme projiziert werden, werden sie unweigerlich abgenutzt; ihre Betrachtung setzt ihren Gebrauch immer schon voraus. Angesichts dieses Dilemmas erscheint die Kontroverse zwischen Henri Langlois, dem Begründer der Cinémathèque Française (1936–1977), und Ernest Lindgren, dem ersten Kurator des BFI National Film Archive (1935– 1973), besonders virulent. Langlois hatte Filme maßlos gesammelt, sie in den Fluren der Cinémathèque und sogar in seiner Badewanne angehäuft; er hatte, wie er bemerkte, gebettelt, geborgt und gestohlen,43 nur um die Filme zu retten, sie dem cinephilen Publikum der Cinémathèque vorführen zu können, aus dem sich die Nouvelle Vague formierte. Lindgren hingegen hatte Filme selektiert und inventarisiert, sie nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen untersucht und konserviert; unter keinen Umständen zeigte er einen Film, von dessen Masterkopie nicht zuvor ein Duplikat zu Vorführzwecken angefertigt wurde. Ein Manifest, das Lindgren 1948 schrieb, ersinnt die utopische Architektur eines Filmarchivs, das Ausstellungshalle, Programmkino, Bibliothek und Lesesaal, Leihsektion, Labor, Katalogisierungsraum und Lagerflächen unter einem Dach vereint; es entwirft damit zugleich ein Programm für die konservatorische (und pädagogische) Arbeit des National Film Archive. Alle Freiheiten, die sich Lindgren in diesem utopischen Entwurf erlaubt, werden in den Dienst der dauerhaften Bewahrung gestellt: „Film is one of the most ephemeral and perishable materials imaginable. […] The copies thus received are never used for projection: for this purpose dupe prints must
42 Marcel Duchamp in einer zwischen 1911 und 1915 geschriebenen Notiz zum „umgekehrten Readymade“, in den Textfragmenten aus La boîte verte (La mariée mise à nu par ses célibataires, même) (1934). Daniel Spoerri nimmt diese Forderung Duchamps wörtlich in der Assemblage Einen Rembrandt als Bügelbrett verwenden (Marcel Duchamp) (1964), die – im Verweis auf Duchamps L.H.O.O.Q. von 1919 – eine Reproduktion der Mona Lisa als Bügelfläche zeigt. Vgl. Gamboni 1997 (wie Anm. 32), S. 262 f. 43 Henri Langlois in der Dokumentation Le fantôme d’Henri Langlois (2004, Regie: Jacques Richard).
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be made.“44 Der Umstand, dass Vorführkopien aufgrund begrenzter Fördermittel meist nicht hergestellt werden konnten, verleitete böse Zungen zu der Behauptung, dass die Abkürzung NFA für „No Film Available“ stünde.45 Das konträre Selbstverständnis Langlois’ spiegelt sich unter anderem in seinem Umgang mit Nitrofilm. Während Lindgren in seinem Labor den sogenannten Alizarin-Test entwickelte, um die Reaktion entnommener Filmproben auf Hitzeeinwirkung zu prüfen und damit einem Nitratbrand vorzubeugen, trug Langlois, wie seine Biographen schreiben, die Spuren der Verbrennung an seinen Fingern, als Stigmata seiner Passion für den Film.46 Als korrespondierendes Manifest der Cinémathèque Française mag das Archivfeuer des 10. Juli 1959 gelten, das ein gänzlich anderes Selbstverständnis filmarchivarischer Arbeit zum Ausdruck brachte. Im selben Jahr, als Metzger sein erstes Manifest der auto-destruktiven Kunst verfasste, hatte sich Nitrofilm unter dem Glasdach eines Hinterhoflagers vermutlich selbst entzündet und einen erheblichen Teil der Sammlung vernichtet.47 Dem Vorfall folgte ein Zerwürfnis mit der FIAF, das Langlois zum Austritt aus der von ihm einst mitbegründeten Vereinigung bewog. In seiner Funktion als Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten unterstützte André Malraux die Cinémathèque zu dieser Zeit noch in ihrer offensiven Erwerbungspolitik zur Erweiterung der Sammlung.48 Nachdem ein von der Regierung veranlasstes Gutachten im Jahr 1965 den verheerenden Zustand der Cinémathèque feststellte – das Fehlen von Bestandsverzeichnissen und die fragwürdige Provenienz der Filme, die unsachgemäße Lagerung von Filmrollen 44 Ernest Lindgren: The Importance of Film Archives, in: Penguin Film Review, 1948, H. 5, S. 47–52, hier S. 50. Auf der Website des BFI ist nachzulesen: „To this day, the archive’s practice is based on principles established by a special committee of experts commissioned by the BFI in 1934, one of the key principles being that a master print held by the archive can under no circumstances be projected.“ http://www.bfi.org.uk/archive-collections/about-bfi-nationalarchive/history-archive [Abruf: 29.6.2016]. 45 Vgl. Roger Smither: Henri Langlois and Nitrate, Before and After 1959, in: ders. (Hg.): This Film Is Dangerous. A Celebration of Nitrate Film, Brüssel 2002, S. 247–255, hier S. 248. 46 Vgl. Glenn Myrent und Georges P. Langlois: Henri Langlois. First Citizen of Cinema [frz. O. 1986], New York 1995, S. 32 f. Siehe zu Langlois außerdem die Biographie von Richard Roud: A Passion for Films. Henri Langlois and the Cinémathèque Française, New York 1983. 47 Vgl. Smither 2002 (wie Anm. 45), S. 250. 48 1959 erwarb die Cinémathèque Française die historische Sammlung von Will Day. Vgl. Laurent Mannoni: Henri Langlois and the Musée du Cinéma, in: Film History, Bd. 18, 2006, H. 3, S. 274–287; Laurent Mannoni: Histoire de la Cinémathèque Française, Paris 2006, S. 276.
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Ruth Beale: The National Film Library, 2013, Zeichnung nach der Fotokopie
Abb. 5
eines Diagramms von Ernest Lindgren
und die Dunkelziffer der Verluste –, zog Malraux die staatlichen Subventionen ab und forderte eine personelle Neuorganisation der Cinémathèque. Auf die Absetzung von Langlois im Februar 1968 und die vorübergehende Schließung der Cinémathèque reagierte die Öffentlichkeit in einer leidenschaftlichen Protestaktion, die die Ereignisse des Mai desselben Jahres vorzubereiten schien. François Truffaut, der seinen Film Baiser volés (1968) der Cinémathèque widmete, initiierte die Begründung eines Komitees, das die Rückkehr Langlois’ in einem kollektiv unterschriebenen Manifest forderte, welches in den Cahiers du cinéma im Umfeld einer Chronik der Ereignisse erschien.49 Die britische Künstlerin Ruth Beale nimmt die Kontroverse zwischen Ernest Lindgren und Henri Langlois in einer Arbeit auf, die als annotiertes 49 Die Deklaration des Comité de Defense de la Cinémathèque Française erschien in: Cahiers du cinéma, 1968, H. 202, S. 69. Unterzeichner waren Jean Renoir, Alain Resnais, Henri Alekan, Pierre Kast, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, François Truffaut, Jacques Doniol-Valcroze, J.-G. Albicocco, Alexandre Astruc, Roland Barthes, Robert Benayoun, Claude Berri, Mag Bodard, Robert Bresson, Marcel Brion, Philippe de Broca, Marcel Carné, Claude Chabrol, Henry Chapier, Henri-Georges Clouzot, Philippe Labro, Jean-Paul Le Chanois, Claude Lelouch, Louis Malle, Claude Mauriac, Jean Rouch und Roger Vadim. Siehe zur Affäre Langlois außerdem die Ausgaben Cahiers du cinéma, 1968, H. 199 sowie H. 200/201.
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Abb. 6
Ruth Beale: La Cinémathèque Française, 2013, Zeichnung nach der Fotokopie eines Diagramms von Henri Langlois
Skript50 und als Live-Aufführung51 existiert, ergänzt durch eine Videoinstallation52 und zwei großformatige Zeichnungen nach Diagrammen, in denen die beiden Archivare ein Idealbild ihrer jeweiligen Institution entwerfen (Abb. 5–6). Aus unterschiedlichen Dokumenten, aus Notizen, Essays und Interviews, montiert Beale in Lindgren & Langlois: The Archive Paradox (2011) einen fiktiven Briefwechsel zwischen Lindgren und Langlois, der über ihre geradezu gegensätzlichen Temperamente und Ansichten hinaus ein grundsätzliches Paradox filmarchivarischer Arbeit zur Aufführung bringt.53 Soll man so viele Filme wie nur möglich retten wollen oder im 50 Ruth Beale: Lindgren & Langlois: The Archive Paradox, hg. von Cubitt, Glasgow 2011. Das Skript dieses dramatisierten Briefwechsels zwischen Ernest Lindgren und Henri Langlois ist online verfügbar: http://ruthbeale.net/wp-content/uploads/2015/01/Lindgren_Langlois.pdf [Abruf: 29.6.2016]. 51
Die Uraufführung fand am 9. März 2011 im Rahmen der Ausstellung Public Knowledge in der Galerie Cubitt in London statt. Eine Aufzeichnung der Wiederaufführung vom 28. November 2013 im Rahmen der Ausstellung Lindgren & Langlois: The Archive Paradox in der Galerie Grand Union in Birmingham ist online verfügbar: https://vimeo.com/91863322 [Abruf: 29.6.2016].
52 Ruth Beale: We worked in the same field for 36 years, but we never became closer to each other, just further apart, 2013, DVDs, 2 Monitore, 3 Min., Loop.
MANIFESTE FÜR EIN MUSEUM DES FILMS
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Wissen um die Vergeblichkeit dieses Unterfangens ausgewählt sammeln? Soll man sie um den Preis ihrer Abnutzung zeigen oder sie um den Preis ihrer Unsichtbarkeit bewahren? Wird man der historischen Bedeutung der Filme gerecht, indem man sie vorführt oder indem man sie erhält? Ist das gekühlte Lager ein Friedhof für die Filmgeschichte, die nur auf der Leinwand lebendig wird, oder verhält es sich umgekehrt? Was überhaupt ist der Gegenstand, der in die Obhut der Museen gegeben ist; sind es die Projektionsbilder auf der Leinwand oder die empfindlichen Filmrollen in Dosen? Langlois und Lindgren verkörpern unterschiedliche Modellvorstellungen des Museums,54 zwischen denen die FIAF zu vermitteln suchte, als sie 1998 in die Präambel ihres Code of Ethics folgende Formulierung aufnahm: „Film archives recognize that their primary commitment is to preserve the materials in their care, and – provided always that such activity will not compromise this commitment – to make them permanently available for research, study, and public screening.“55 Wie schwer dieser Auftrag gerade angesichts der Forderung nach uneingeschränkter Verfügbarkeit digitalisierter Archivbestände zu erfüllen sein dürfte,56 offenbart sich in einem Manifest, das die FIAF anlässlich ihres 70-jährigen Bestehens im Jahr 2008 vorlegte und dessen Botschaft nur vier Worte umfasst: „Don’t throw film away!“57 Im Namen der ihr angehörenden Filmarchive ruft die FIAF dazu auf, Film unter keinen Umständen wegzuwerfen – weil er in seiner Materialität ein historisches Dokument oder künstlerisches Artefakt darstellt, das zum kulturellen Erbe der Menschheit gehört, weil er trotz seiner physikalischen und chemischen Instabilität verglichen mit digitalen Datenträgern
53 Siehe zu diesem Paradox allgemein Michèle Valerie Cloonan: The Paradox of Preservation, in: Library Trends, Bd. 56, 2007, H. 1, S. 133–147. 54 Vgl. Houston 1994 (wie Anm. 15), S. 37. 55 FIAF: Code of Ethics, 3. Aufl., Brüssel 2008, S. 5, online: http://www.fiafnet.org/images/ tinyUpload/Community/Vision/FIAF_Code-of-Ethics_2009.pdf [Abruf: 29.6.2016]. 56 Vgl. Leo Enticknap: Have Digital Technologies Reopened the Lindgren/Langlois Debate?, in: Spectator, Bd. 27, 2007, H. 1, S. 10–20. 57 FIAF: Don’t Throw Film Away. The 70th Anniversary FIAF Manifesto, in: Journal of Film Preservation, 2008, H. 77/78, S. 5–6. Das Manifest wurde im April 2008 auf der Generalversammlung der FIAF in Paris präsentiert und in einer überarbeiteten Form im September 2008 zur Veröffentlichung freigegeben.
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beständiger ist, weil er derzeit immer noch das beste Medium zur Archivierung bewegter Bilder darstellt, weil er im Kontext des Archivs ein Original ist, an dem die Kopien gemessen und in ihrer Authentizität beurteilt werden können. Diesem Ansinnen, alle Filme in ihrer ursprünglichen Materialität zu bewahren, so wie Langlois sie retten wollte, begegnet Paolo Cherchi Usai mit einem Manifest, das er nach Ernest Lindgren benennt. Darin heißt es: „Preserve everything is a curse to posterity. Posterity won’t be grateful for sheer accumulation. Posterity wants us to make choices. It is therefore immoral to preserve everything; selecting is a virtue.“ Und weiter: „The end of film is a good thing for cinema, both as an art and as an artifact. Stop whining. […] People can and should be able to live without moving images.“58 Wie sind diese zeitgenössischen Manifeste zu lesen? Als Werbung für Filmarchive im Sinne der Werbung um öffentliche Aufmerksamkeit und öffentliche Gelder zur Sicherung des filmischen Erbes? Als Ausdruck der Resignation angesichts der mangelnden öffentlichen Aufmerksamkeit und der öffentlichen Gelder, der Unterwerfung einstiger Utopien unter die Begrenzungen des Budgets und des politischen Willens? Das wäre vermutlich zu einfach. Vielleicht können sie als Gesten der Positionierung des Films innerhalb der Geschichte der Künste und ihrer Manifeste verstanden werden, als Formate der Aushandlung des eigenen Orts innerhalb dieser Geschichte, die immer schon im Modus der Nachträglichkeit erfolgt, im Bewusstsein der Unverfügbarkeit des Vergangenen, das nur unter der Voraussetzung aktualisiert werden kann, dass diese Aktualisierung zu spät kommt. Damit wird nicht eine Umkehrung der ursprünglichen Ausrichtung auf Zukünftiges behauptet,59 aber die Möglichkeit eingeräumt, dass das Manifest immer auch eine Ausrichtung auf Vergangenes enthält. Das Museum würde sich dann in besonderer Weise anbieten, um diese Möglichkeit nachträglich in die Geschichte der Manifeste einzuschreiben. 58 Paolo Cherchi Usai: The Lindgren Manifesto. The Film Curator of the Future, in: Journal of Film Preservation, 2011, H. 84, S. 4; zit. n. der vom Autor überarbeiteten Fassung in: Scott MacKenzie (Hg.): Film Manifestos and Global Cinema Cultures. A Critical Anthology, Berkeley/Los Angeles/London 2014, S. 558–559. Es handelt sich um die Druckfassung eines Vortrags im Rahmen der Ernest Lindgren Memorial Lecture am National Film Theatre, BFI South Bank, London am 24. August 2010. 59 Vgl. Puchner 2002 (wie Anm. 1), S. 452. Martin Puchner spricht von der „futurist performativity“ des Manifests.
STEPHAN TRÜBY
ARCHITEKTUR UND ZUKUNFT: MANIFEST – THEORIE – PROGNOSE
Anders als vor rund hundert Jahren fallen uns heutzutage Architekturmanifeste nicht mehr in den Schoß. Denkt man allein an den Titel einer jüngeren Publikation wie Something Fantastic. A Manifesto by Three Young Architects on Worlds, People, Cities and Houses (2009)1, dann eignet den wenigen aktuellen Manifesten geschriebener Art, die Aussagen über die Architektur der nahen und nicht ganz so nahen Zukunft wagen, etwas harmlos Irrelevantes, ja stumpf aus der Zeit Gefallenes. Dabei wird die kollektive Unlust der Architektenschaft, im Manifestton über zukünftige Architektur zu schreiben, nur noch, so scheint es, von der Unlust übertroffen, für kommende Zeiten in neuartiger Weise zu bauen. Natürlich gibt es nach wie vor Innovationen und eine wie auch immer geartete „progressive Architektur“, aber die Bilder, die mit ihr üblicherweise einhergehen – zumeist gerundete Ecken, Blobs, Sphären etc. –, verdanken sich in den allermeisten Fällen sattsam bekannten Ästhetiken der 1960er und 1970er Jahre. Dazu kommt: Die Manifeste gebauter Art, die in letzter Zeit errichtet wurden, mögen neu und ungewohnt aussehen und auch technologisch innovativ sein – aber für eine neue Art von Gesellschaft werden sie so gut wie nie gebaut. Gerade 1
Elena Schütz, Julian Schubert und Leonard Streich: Something Fantastic. A Manifesto by Three Young Architects on Worlds, People, Cities and Houses, Berlin 2010.
ARCHITEKTUR UND ZUKUNFT
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für Deutschland, ein Land, über das der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt einmal ebenso kritisch wie mit guten Gründen geschrieben hat, dass es „nicht von einer anderen Zukunft, sondern von einer anderen Geschichte“2 träumen würde, gerade für Deutschland also gilt: Rekonstruktionen haben den Platz von gebauten Manifesten eingenommen. Und wer nicht rekonstruiert, der baut zumindest für die Gegenwart, für den Status quo, niemals jedenfalls für Zukünfte und deren Soziotope im Werden. Es sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen: Die Rolle des geschriebenen Architekturmanifests wurde einerseits von der Theorie eingenommen und andererseits von der Trendforschung. Doch der Reihe nach.
MANIFEST (ALS MARXISTISCH INSPIRIERTES ZUKUNFTSVERSPRECHEN)
Fast alle Architekturmanifeste, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verfasst wurden, wären ohne die politische Initialzündung des 1848 in London auf Deutsch erschienenen Manifests der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels nicht zu denken. Die Schrift, die mit dem berühmt gewordenen Satz „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ anhebt und dem ebenso berühmt gewordenen Aufruf „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ endet, diente als politisches Programm des 1847 als Geheimbund gegründeten Bundes der Kommunisten. Der hatte sich die ambitionierte Aufgabe gestellt, weltweit das Proletariat von Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien. Das Manifest der Kommunistischen Partei kann als Geburtsurkunde des sich selbst als „wissenschaftlich“ verstehenden Kommunismus und als das erste Parteiprogramm in der internationalen Arbeiterbewegung betrachtet werden. Es markiert den Beginn der weltweiten kommunistischen Bewegung und formuliert zum ersten Mal die später als „marxistisch“ verstandenen Axiome einer revolutionären Praxis, die besonders auf den Klassenkampf und die internationale Solidarität des Proletariats als Voraussetzungen für die Überwindung des Kapitalismus abheben. So wurde die Schrift zum in mehr 2
Philipp Oswalt: Berlin – Stadt ohne Form, Strategien einer anderen Architektur, München/ London/New York 2000, S. 56.
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als 100 Sprachen übersetzten Grundbuch für den politischen Kampf zahlloser kommunistischer und sozialistischer Arbeiterparteien. „Seine Wirkung“, schrieb einmal Iring Fetscher, „beruhte vor allem auf der grenzenlosen Zuversicht, die durch die Kombination von historischem Rückblick und einer nach Analogie der bürgerlichen Revolution gebildeten Prognose erzeugt wird. Zweck des Manifestes ist es, den Proletariern Mut zu machen, und diese Aufgabe hat es hundert Jahre lang immer wieder erfüllt.“3 Die Architekturmanifeste des frühen 20. Jahrhunderts – dies macht etwa die Lektüre von Ulrich Conrads Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts4 deutlich –, waren in der Mehrzahl mehr oder weniger marxistisch grundiert – und überaus optimistisch gesinnt. Bruno Taut etwa fordert in seinem 1918 gedruckten Flugblatt Ein Architektur-Programm, dass künftig eine „Entscheidung über die Verteilung der Mittel durch einen kleinen, zur Hälfte aus schöpferischen Architekten, zur Hälfte aus radikal gesinnten Laien bestehenden Rat“5 fallen solle. Das Flugblatt zirkulierte mit der Zustimmung des im selben Jahr in Berlin gegründeten Arbeitsrates für Kunst, der es sich unter Anführung von Taut, Walter Gropius, César Klein, Adolf Behne und anderen zum Ziel gesetzt hatte, „Kunst und Volk“6 zu höherer Einheit zu verschmelzen. Im Anschluss an Tauts Manifest veröffentlichte die Gruppe 1919 eine Programmschrift mit dem Titel Unter den Flügeln einer großen Baukunst. Darin wird unter anderem die „Beseitigung der künstlerisch wertlosen Denkmäler sowie aller Bauten, deren Kunstwert im Mißverhältnis zu dem Wert ihres anders brauchbaren Materials steht“ sowie der Bau neuer „Volkshäuser als Vermittlungsstätten aller Künste an das Volk“ gefordert.7 Zum Unterstützerkreis des Arbeitsrates gehörte auch Erich Mendelsohn, der 1919, in Das Problem 3 4
Iring Fetscher: Marx, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien o. J., S. 82. Ulrich Conrads (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts [1964], Braunschweig/Wiesbaden 2. Aufl., 4. Nachdruck 1994.
5 6
Bruno Taut: Ein Architektur-Programm [1918], in: Conrads 1994 (wie Anm. 4), S.38–40, hier S. 39. Arbeitsrat für Kunst (Bruno Taut, Walter Gropius, César Klein, Adolf Behne u. a.): Unter den Flügeln einer großen Baukunst [1919], in: Conrads 1995 (wie Anm. 4), S. 41–42, hier S. 42.
7 8
Ebd. Erich Mendelsohn: Das Problem einer Neuen Baukunst [1919], in: Conrads 1995 (wie Anm. 4), S. 51–52, hier S. 52.
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einer neuen Baukunst, vom „Heiligtum einer neuen Welt“8 schwärmte und in großer Entschlossenheit bekundete: „Gesellschaftsklassen im Banne der Tradition werden diese Zeit nicht heraufführen.“9 Es war Hannes Meyer, der Schweizer Architekt und Nachfolger von Walter Gropius im Amt des Bauhaus-Direktors, der sich vielleicht am deutlichsten für das antinationalistische Projekt eines Sozialismus-Kommunismus aussprach, wenn er in seinem Manifest „bauen“ 1928 schreibt, dass die konstruktive Formenwelt „kein vaterland“ kenne: „sie ist der ausdruck inernationaler baugesinnung. internationalität ist ein vorzug der epoche.“10 Eine stichprobenartige „quantitative Manifestologie“ anhand des Conrads-Buches macht deutlich, dass die relativ höchste Dichte an Programmen und Manifesten im späten ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde: Vier Texte entstammen den Nullerjahren – darunter das Henry van de Velde’sche Programm (1903) als Einstiegsmanifest; fünf Texte wurden zwischen 1910 und 1919 publiziert – darunter Frank Lloyd Wrights Organic Architecture (1910) und Paul Scheerbarts Glasarchitektur (1914); darauf folgt in den 1920er Jahren die beeindruckende Zahl von 29 Texten – darunter Kasimir Malewitschs Suprematistisches Manifest (1924) und El Lissitzkys Ideologischer Überbau (1929); nur fünf Texte datieren aus den 1930er Jahre – darunter die Charta von Athen (1933); lediglich ein Text entstand während des Zweiten Weltkriegs, nämlich Ein Programm für Stadterneuerung von Walter Gropius und Martin Wagner (1943). In der Nachkriegszeit kamen, folgt man Programme und Manifeste, insgesamt 19 Texte bis 1963 heraus – darunter Friedrich Kieslers Magische Architektur (1947), Constants und Guy Debords Situationistische Definitionen (1958), Reinhard Gieselmanns und Oswald Mathias Ungers Zu einer neuen Architektur (1960) sowie Walter Pichlers und Hans Holleins Absolute Architektur (1962). Deren Tonlage ist mit der Vorkriegs-Exaltiertheit nicht mehr zu vergleichen; ein bedächtiger, warnender und auch pessimistischer Ton macht sich breit. Entsprechend betont Conrads auch in seiner „Vorbemerkung“, dass sein Interesse für das Thema seines Buches von Friedensreich Hundertwassers (ebenfalls abge9
Ebd.
10 Hannes Meyer: bauen [1928], in: Conrads 1995 (wie Anm. 4), S. 110–111, hier S. 110.
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drucktem) Verschimmelungs-Manifest gegen den Rationalismus in der Architektur geweckt wurde: „Wer 1958 das ‚verschimmelungs-manifest gegen den rationalismus in der architektur‘ von Hundertwasser zu Gesicht bekam, wird vielleicht ähnlich reagiert haben wie der Herausgeber des vorliegenden Bandes: er wunderte sich weniger über den Protest als solchen – waren doch bereits damals die Stimmen gegen eine funktionelle Architektur unüberhörbar –, er war weit mehr betroffen von der krassen Subjektivität, mit der das Bau-Werk zweier Generationen pauschal der Destruktion und moralischen Unbewohnbarkeit geziehen wurde.“11
THEORIE (ALS FEHLLEKTÜRE UND RETROAKTIVES MANIFEST)
Als Conrads mit Programme und Manifeste die Reihe der Bauwelt Fundamente eröffnete, konnte er gute Gründe für seine Titelwahl geltend machen. Es waren eben vor allem „Programme“ und „Manifeste“ gewesen, die dem Zeitraum, den er dokumentieren wollte, ihren Stempel aufprägten. Ist auch bedauerlich, dass Conrads auf so wichtige Autoren wie Walter Benjamin, Sigfried Giedion, Hermann Sörgel oder Max Raphael verzichtete, konnte er mit Recht darauf verweisen, dass deren ausgeklügelten Texte eher untypisch waren für eine Zeit, die von Weltkriegen und Wirtschaftskrisen gebeutelt und vom Wunsch nach schlagkräftigen Argumenten und einfachen Orientierungen beherrscht wurde.12 Als die heroische Phase der Manifestliteratur in den 1960er Jahren zu Ende ging, kam es zu dem, was K. Michael Hays „the beginning of contemporary architectural theory“13 nennt. In der trügerischen Sicherheit des Kalten Krieges nahm die Attraktivität programmatischer Texte rapide ab. Es kann von einem Paradigmenwechsel die Rede sein: Die Reflexion der Architektur verlor ihren polemischen Charakter, wurde ausführlicher, vorsichtiger und skeptischer.
11
Ulrich Conrads: Vorbemerkung, in: Conrads 1994 (wie Anm. 4), S. 8.
12
Der Verfasser folgt in diesem Absatz Gerd de Bruyn und Stephan Trüby: Vorwort, in: dies. (Hg.): architektur_theorie.doc. Texte seit 1960, Basel 2003, S. 9.
13
K. Michael Hays: Introduction, in: ders. (Hg.): Architecture theory since 1968, Cambridge, MA/ London 1998, S. x–xv, hier S. x.
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Seither wird die Debatte von zwei Modellen architekturtheoretischer Praxis dominiert. Erstens sieht sich ein großer Teil der wichtigsten neueren architekturtheoretischen Produktion dem „Learning from“-Modell verpflichtet. Man könnte auch vom „Retroaktivitäts-Modell“ sprechen. Bei diesem Modell wird ein meistens vom Mainstream geringgeschätztes, manchmal auch anonymes Bauen analysiert, theoretisiert, provokatorisch aufbereitet – und der eigenen Architekturpraxis zugeführt. Als die bekanntesten Vertreter dieses Modells dürfen sicherlich Denise Scott Brown, Robert Venturi, aber auch Rem Koolhaas gelten. Zweitens hat sich Architekturtheorie seit 1960 auch dem Modell des „Misreading“ oder zu Deutsch: dem Fehllesen verschrieben. Dabei geht es um eine Instrumentalisierung von Philosophie (meist aus dem weiten Feld der Dekonstruktion; zunehmend auch aus dem Bereich der Evolutions- und Systemtheorie) fürs Bauen. Peter Eisenman, den viele für den wichtigsten Architekturtheoretiker der letzten 30 Jahre halten, darf sicherlich als der einflussreichste Vertreter dieses Modells des Fehllesens gelten. Zunächst ein paar Worte zu dem zweiten Modell des Fehllesens. Im Gegensatz zum „Learning from“-Modell, das stark strukturalistisch geprägt ist, das oft geradezu ethnologisch auf Feldforschungen beruht – und damit auch immer von einem spezifischen Grund ausgeht –, beruht das Modell des Fehllesens auf der poststrukturalistischen Überzeugung der Dekonstruktion, dass es so etwas wie den „Grund“ nicht gibt. Für die Architektur, die seit der griechischen Antike der Philosophie schon immer als Lieferantin von Stabilitäts- und Begründungsmetaphern zur Verfügung gestanden hat, bedeutet dies: Es gibt – für die Vertreter des „Misreading“ – kein theoretisches Fundament des Architekturdiskurses. Es gibt für die „Misreaders“ also auch keine arché der Architektur: Für sie muss Architektur – und damit auch ihre Theoriebildung – auf rationale Letztbegründungen verzichten – und, ob sie nun will oder nicht, sich auf nur sehr lokale und unzusammenhängende Rationalitäten beschränken. Dieses architektonische Denken geht vor allem auf Jacques Derrida zurück, der die Architek14
Vgl. Mark Wigley: Architektur und Dekonstruktion: Derridas Phantom [amerik. O. 1993], Basel/ Boston/Berlin 1994.
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tur als metaphysisches Projekt schlechthin betrachtete – und daher auch der Philosophie gewissermaßen die Architektur austreiben wollte.14 Die dekonstruktivistische Relativierung jeglichen Grundes hat natürlich auch die Idee einer gründlichen Lektüre von Texten in Frage gestellt. Darauf hat der Literaturwissenschaftler und Derrida-Leser Harold Bloom hingewiesen. Bloom vertrat die Ansicht, dass Lesen ein „so gut wie unmöglicher Akt“15 sei. Jede Lektüre sei immer ein Fehllesen. Das Verstehen sei ein Sonderfall eines allgemeinen Missverstehens. Es ist sicherlich der bereits erwähnte Peter Eisenman, der sich unter den zeitgenössischen Architekten mit der Frage der gelingenden und misslingenden Lektüre wahrscheinlich am eingehendsten befasst hat. Eisenman ist das, was Harold Bloom einmal einen „starken Leser“ nannte: einen Leser, der Bücher nur zuklappt, um an ihnen weiter zu schreiben; was im Falle von Eisenman auch und vor allem heißt: um an ihnen weiter zu bauen. Wenn Harold Bloom mit dem amerikanischen Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson schreibt, dass die zentralen amerikanischen Gedichte Häuser sind, die ihre Fundamente im Meer haben,16 dann lässt sich dies auch auf die Architektur übertragen: Eisenman baut Häuser, die ihre Fundamente im Meer haben. Er übertrug den Fatalismus des Fehllesen-Müssens auf die Architektur; vor allem auf die eigene. Unter dem Titel „Misreading Peter Eisenman“17 blickte der Architekt einmal auf seine eigenen Cardboard Houses zurück – und kam nach einer (übrigens verständnisvollen!) Lektüre von Derrida und Harold Bloom zum Urteil, dass ein Text nicht getreu seiner Botschaft gelesen werden kann – weder vom Leser noch vom Autor des Textes selbst. Es ist wohl keine Diskreditierung Peter Eisenmans, wenn man sagt: Im Grunde ist es völlig egal, woher er seine Texte nimmt, was in ihnen steht – Hauptsache, sie bieten ihm genügend Anlässe, Textpassagen in ein formales Spiel der Architektur zu verwickeln, um damit zu signalisieren: Es gibt ohnehin keine philosophisch „guten Gründe“ 15
Vgl. Harold Bloom: Eine Topographie des Fehllesens. Aesthetica [amerik. O.1975], Frankfurt am Main 1997.
16
Ebd., S. 225.
17
Peter Eisenman: Misreading Peter Eisenman, in: ders. (Hg.): Houses of Cards, New York/Oxford 1987, S. 167–187, hier S. 167.
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fürs Architekturmachen, also verhalten wir uns dementsprechend und machen aus den nächstbesten „Gründen“ einen Rätselbau (selbst wenn sich diese nächstbesten „Gründe“ im Meer befinden mögen). Dem Modell des „Misreading“ sei nun das „Learning from“-Modell gegenüber gestellt, das zweite einflussreiche Modell der Architekturtheorie seit 1960. Diese Einschätzung bedarf sicherlich der Erläuterung. Denn praktizierten die Römer nicht „Lernen von den Griechen“? Praktizierten die Florentiner, die Sieneser etc. nicht „Lernen von den Römern“? Praktizierten die Engländer des 18. Jahrhunderts nicht „Learning from Vicenza“? War die Grand Tour nicht ein großes enzyklopädisches „Learning from“-Unternehmen? Das ist alles sicherlich nicht falsch. Doch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand das „Learning from“-Modell insofern zu sich selbst, als es das angeblich Niedere systematisch zu umarmen begann. Nach den großen programmatischen Zukunftsentwürfen der heroischen Moderne wurde die Architektur ab ca. 1960 auf breiter Basis empirisch. Die Architektur begann sich vehement für anonyme Strukturen, für Selbstorganisation, ja: selbst für Trash zu interessieren. Vollkommen neu ist dieses Interesse der Architektur am „Niederen“ sicherlich nicht – es sei an die spätantike Umwertung aller klassischen Werte im Zeichen einer christlichen Ranking-Inversion erinnert; ebenso auch an das Interesse der Aufklärung, das Prinzip der Urhütte zu universalisieren (Stichwort Laugier 18); und nicht zuletzt an die Vorliebe vieler moderner Architekten des frühen 20. Jahrhunderts für die Kunst der Ingenieure. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Ende der CIAM 1959, gingen avancierte Architektinnen und Architekten mehr und mehr dazu über, ihre Aufmerksamkeit auf „gewachsene Strukturen“ in bestimmten Gegenden, Regionen und Städten zu richten. Das Interesse für das sogenannte „Niedere“ in der Architektur wurde analytisch lokalisiert, um es in der Praxis zu universalisieren. Damit ist die Untersuchung bei dem 1972 erschienenen Buch Learning from Las Vegas angelangt.19 Was als ein Architekturseminar 1968 in 18 Marc-Antoine Laugier: Das Manifest des Klassizismus [frz. O. 1753], Zürich/München 1989. 19
Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour: Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt [amerik. O. 1972), Braunschweig/Wiesbaden 1979.
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Yale begonnen hatte, wurde nicht nur zu einer der einflussreichsten Architekturpublikationen des 20. Jahrhunderts, sondern auch zu einem architekturtheoretischen Paradigma. Dieses Paradigma könnte man wie folgt umschreiben: Man nehme eine Stadt, ein Gebiet, eine Gegend von umstrittenem und gerne auch zweifelhaftem Ruf, identifiziere in der dortigen Architektur mit mehr oder weniger ausgeprägtem Humor gewisse Qualitäten – und erkläre sie dann zum konzeptuellen Vorbild für eine global orientierte Architekturpraxis. Denise Scott Brown machte einmal in ihrem Text Learning from Pop darauf aufmerksam, dass die Architektur von Venturi und Scott Brown sich einer, wie sie sagt, „gewisse[n] Aufschiebung des Urteils“20 verdankt: Sie schreibt: „Das Urteil wird im Interesse des Verständnisses und der Aufnahmefähigkeit zurückgehalten. Es wird aufgeschoben, damit spätere Urteile umso sensibler getroffen werden.“21 „Lernen“ – so könnte man zusammenfassen – heißt bei Venturi und Scott Brown, Hässliches und Gewöhnliches zu zitieren, es damit erst einmal in der Schwebe zu halten, und das Urteil über das Zitierte so lange als möglich hinauszuzögern. Theorie als Vermeidung beziehungsweise Aufschub von Kritik ... Es mag heute vielleicht etwas überraschend klingen, aber New York hatte in den 1970er Jahren keinen wesentlich besseren Ruf als das damalige Las Vegas. In Architekturdiskursen spielte New York damals so gut wie keine Rolle – und wenn doch, dann nur die Rolle des bösen kapitalistischen Verlierers. New York im Jahre 1978 zum paradigmatischen Ort einer Architekturtheorie der Gegenwart auszurufen – und das hat Rem Koolhaas mit Delirious New York22 gemacht –, das war mindestens so verwegen wie Venturis und Scott Browns Versuch, Las Vegas zum Rom des 20. Jahrhunderts zu erklären. Delirious New York hätte auch Learning from Manhattan heißen können. Wieder ging es um eine Stadt, die theorielos (oder fast theorielos) erbaut worden ist. Wieder ging es um die theoretische Bewusstmachung eines halb- bis unbewussten kollektiven Planungsprozesses. Wie20 Denise Scott Brown: Lernen vom Pop [amerik. O. 1971], in: Bruyn/Trüby 2003 (wie Anm. 11), S. 237–242, hier S. 242. 21
Ebd.
22 Rem Koolhaas: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan [engl. O. 1978], Aachen 1999.
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der schwang sich ein Architekt zum Ehrenretter einer Stadt auf, die, so Koolhaas über New York, ohne Manifest, ohne Doktrin, ohne Gesetz, ohne Planung, ohne Ideologie, ohne Theorie errichtet worden war.23 Und wieder ging es darum, aus der theorielosen Selbstorganisation zunächst theoretische und dann architektonische Konsequenzen zu ziehen. Nichts anderes meinte Koolhaas mit seiner Rede von der „Retroaktivität“: Was anonym und ohne Hilfe handlungsbevollmächtigter Subjekte geschehen war, sollte durch ein „retroaktives Manifest“ zunächst bewusst gemacht werden, um dann strategisch als Planungsinstrumente in einer Architektur der Zukunft zum Tragen zu kommen. Was Koolhaas an Manhattan lernte, sollte er in den folgenden Jahren und Jahrzehnten an verschiedenen Orten wiederholen: Learning from Pearl River Delta ...24 Learning from Dubai ...25 Learning from Lagos ...26 etc. Immer geht es um eine retroaktive Fruchtbarmachung komplexer und mehr oder minder anonymer Bauprozesse.
PROGNOSE (ALS FUTOROLOGIE UND TRENDFORSCHUNG)
In den 1960er Jahren, als die priviliegierten Plätze der Architekturpublizistik von den Programmen und Manifesten nach und nach an Theorien weitergereicht wurden – an Theorien im Sinne von retroaktiven Manifesten zu besonderen Territorien ebenso wie im Sinne von Theorien fehllesender Entgründung –, ist der zentrale Logenplatz freigeworden, nämlich der für den Blick in die Zukunft reservierte. Dies war der Moment, als die Zukunftsforschung, auch Futurologie genannt, auf den Plan trat. Deren Wurzeln sieht Holger Rust in der Gründung der Rand Corporation 1948 ebenso wie in den Anfängen der betriebswirtschaftlichen „Weak Signal Research“, die über weite Strecken eng verknüpft ist mit der professionellen Soziologie.27 Nach Vorarbeiten von Ossip K. Flechtheim in den 1950er Jahren kam es zum Aufstieg der Zukunftsforschung vor allem in den 1960er Jahren, als 23 Ebd., S. 85. 24 Chuihua Judy Chung u. a. (Hg.): Project on the City I: Great Leap Forward, Köln 2001. 25 Rem Koolhaas, Mitra Khoubrou und Ole Bouman (Hg.): Al Manakh, Amsterdam 2007. 26 Lagos / Koolhaas, Buch und Regie: Bregtje van der Haak, Produktion: Pieter Van Huystee Film, Vertrieb: Icarus Films, New York, 2003, 55 Min. 27 Vgl. Holger Rust: Zukunftsillusionen. Kritik der Trendforschung, Wiesbaden 2008, S. 68.
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in der Wissenschaft ebenso wie in der Politik Themen wie „Kriegsverhütung, Entwicklungspolitik, Wissenschaftsphilosophie, Sozialpolitik, Neue Internationale Arbeitsteilung, Integration und Desintegration, Ernährung, Umwelt, Urbanisierungsprobleme“28 dominierten – Problemlagen, die Experten ebenso wie eine nach Lösungsansätzen gierende Öffentlichkeit vor Herausforderungen von bis dato kaum dagewesener Komplexität stellten: „Nach den irritierenden Erfahrungen der eigenen Fehlbarkeit in der Identifikation mit dem Stalinismus und der brutalen Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn 1956 wachsen die Zweifel an der Fähigkeit ideologischer Systeme und ihrer historischen Logik.“29 Auch die Sozialwissenschaften deklarierten das Feld der Zukunft als das ihre, wie die Beispiele so antipodischer Intellektueller wie Daniel Bell, des Gründers der modernen sozialwissenschaftlichen Zukunftsforschung,30 und Carl Friedrich von Weizsäcker zeigen, welcher gemeinsam mit Jürgen Habermas das 1970 gegründete Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt leitete und dort die Idee einer „Weltinnenpolitik“ propagierte. Im Gegensatz zu den ambitionierten Themen der Futurologie macht sich die Trendforschung, die ab den 1970er fröhliche Urständ feierte und dann vor allem in den 1980er und 1990er Jahren zur Schrumpfform der Zukunftsforschung unter neoliberalen Bedingungen wurde, mit deutlich kleineren Themen verdient. Ihr zugute kam „die zunehmende Desillusionierung der wissenschaftlichen Zukunftsforschung, die unter dem Druck der Einsichten in die unausweichlich wachsende Komplexität der Wirklichkeit, die Kontingenz der soziokulturellen und wirtschaftspolitischen Entwicklung und die wechselseitigen Wirkungen einer großen Zahl von Komponenten und unüberschaubaren Umwelten ihren Optimismus dämpfte“31. Bereits Alvin Tofflers Buch Future Shock, 1970 erschienen, hatte „präzis auf dieses Ohnmachtsgefühl angesichts der Überkomplexität denkbarer 28 Ebd., S. 71. 29 Ebd., S. 70–71. 30 Ebd., S. 69–70. 31
Ebd., S. 68.
32 Ebd., S. 80.
ARCHITEKTUR UND ZUKUNFT
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Zukünfte“ reagiert.32 In diesem Fahrwasser agierte auch John Naisbitt – mit Büchern wie Megatrends (1982) – und vor allem Faith Popcorn mit ihrer „simple[n] Kernidee, Selbstverständliches in rhetorischem Konstruktivismus semantisch aufzupolieren und an verunsicherte Manager zu verkaufen“33. Zu Popcorns Trendpanorama gehört nicht zuletzt die Rede vom „Cocooning“, die sie in den späten 1980er Jahren prägte – und die alsbald eine weltweite Begriffskarriere antrat. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass das „Cocooning“, also das kollektive Sich-Zurückziehen und Einigeln in häusliche Gewohnheiten nach Krisen- und Stressereignissen, als ultimatives Anti-Architekturmanifest gelten darf. Nichts steht dem Impuls des Manifestes, rhetorisch und mit knappen Worten einen Ist- in einen Sollzustand zu überführen, so sehr entgegen, wie das „Cocooning“ nach bedrohlich empfundenen Zeiten, für das Wirtschaft und Handel bereitwillig Produktpaletten anbieten. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt einer „Cocooning“-Hypothese lässt sich wohl konstatieren: Derzeit befinden wir uns in einem dritten, vom elektromagnetischen Spektrum geprägten Maschinenzeitalter, für das sich der Begriff „Hertzianismus“ anbietet.34 Eine zunehmende Bestimmtheit durch elektromagnetische Prozesse und eine wachsende „elektromagnetische Sensibilität“ lässt sich bei RFID-gestützten Zugangskontrollen,35 im Bereich des Facility Management (also in der Kommunikation zwischen einer zunehmend intelligenten Architektur und einer professionellen Gebäudebewirtschaftung) sowie in der alltäglichen Gebäude-Nutzer-Interaktion ausmachen. So schlug der Pariser Architekt François Roche 2006 für ein neues Architekturmuseum in Orléans eine Gadget-Gebäude-Kopplung vor, bei der die Besucher mittels eines PDAs ihren Weg durch ein labyrinthisches Haus finden sollten, dessen Pfade von einem Roboter ständig neu gebahnt werden. Verstärkt werden die hertzianischen Tendenzen der Gegenwartsarchitektur durch Entwicklungen in der Ambient-Intelligence-Forschung. 33 Ebd., S. 89 f. 34 Vgl. Stephan Trüby (Hg.): Hertzianismus. Elektromagnetismus in Architektur, Design und Kunst, München/Paderborn 2009. 35 Vgl. Christoph Rosol: RFID – Vom Ursprung einer (all)gegenwärtigen Kulturtechnologie, Berlin 2007.
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Was vor Jahren noch als Zukunftsmusik galt, könnte heute schon eingebaut werden: Stellvertretend sei an dieser Stelle nur die Philips-Desso-Kooperation namens „Luminous Carpet“ erwähnt – eines intelligenten Teppichs mit programmierbaren Botschaften, die beispielsweise vom Smartphone aus gesteuert werden. „Als Reaktion auf Miniaturisierungs- und Tertiärisierungsprozesse“, schreibt Anthony Dunne, „lösen sich Objekte nicht nur zunehmend in Software, sondern auch buchstäblich in Strahlung auf. Alle elektronischen Geräte sind Hybride aus Strahlung und Materie.“36 Dasselbe lässt sich immer öfter auch über die Architektur sagen.
AUSBLICK
Wenngleich aktuelle Versuche eines Architekturmanifestes immer ein wenig vom Verdacht der Irrelevanz geplagt sind, so könnte sich dies bald ändern, stehen doch, führt man sich den weltweiten Aufschwung rechtspopulistischer, antiliberaler und antidemokratischer Politikoptionen vor Augen, die Zeichen der Gegenwart eindeutig auf Politiksturm. Publikationen wie das Manifest der Vielen37 (2011), Das Beschleunigungsmanifest für eine akzelerationistische Politik38 (2013) oder Das konvivialistische Manifest39 (2014) adressieren bereits Fragen der Einwanderungspolitik, der Zukunft und Überwindung des Kapitalismus und der Kunst des Zusammenlebens. Dass diese Debatten früher oder später auch die Architekturwelt ergreifen werden, davon darf ausgegangen werden. Mit der Erhitzung politischer Debatten scheint auch die Zeit für Architekturmanifeste des 21. Jahrhunderts wieder reif zu werden. Auf belastbare Aussagen zur digitalen Revolution, zu „hertzianischen“ Bauten als Hybride aus Materie und Strahlung werden sie dabei wohl kaum verzichten können. 36 Anthony Dunne: Hertzianischer Raum [2005], in: Trüby 2009 (wie Anm. 34), S. 79–88, hier S. 79. 37 Hilal Sezgin (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin 2011. Siehe dazu auch den Beitrag von Burcu Dogramaci in diesem Band. 38 Nick Srnicek und Alex Williams: Das Beschleunigungsmanifest für eine akzelerationistische Politik [engl. O. 2013], http://akzelerationismus.de/beschleunigungsmanifest.pdf [Abruf: 1.9.2016]. 39 Les Convivialistes: Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens [frz. O. 2013], Bielefeld 2014.
BIRTE KLEINE-BENNE
KONTINGENZMASCHINE KUNST. WIE EINE PERFORMATIVE FILMINSTALLATION MANIFESTE(S) VERHANDELT
Würde dieser Text die gleichen Operationen zur Anwendung bringen, wie die Kunst, zu der er verfasst ist, dürfte er nicht mit den folgenden vereindeutigenden Imperativen starten, die diese Kunst als epistemische Gewinne in-, besser per-formiert: Akzeptiere Ambiguität. Bewältige Indifferenz. Pflege Komplexität. Und ertrage deren Widersprüche. Riskiere. Sowohl eine Zukunft als auch eine Vergangenheit. Bemerke, wenn du unterscheidest, dass und was du ein- und gleichzeitig ausschließt. Stehe fest auf deinen eigenen Unsicherheiten. Verlasse dich nicht auf Hierarchien. Scheue kein Unbehagen, lass dich dabei aber nicht vom Affekt deines unerfüllten Begehrens überwältigen. Halte dafür auch die Sinne offen. Überstürze und beharre nicht. Und versuche es wieder und wieder. Diese ethischen Direktiven deklariert oder postuliert Manifesto1, die jüngste Filminstallation von Julian Rosefeldt2 (2015) nicht in den bisherigen 1
Ich bedanke mich bei allen, die mir für diesen Text Einblick in ihre Arbeit an Manifesto gegeben haben oder mich an ihren Perspektiven auf Manifesto teilhaben ließen.
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gattungstypischen Spezifika von Manifesten, also mittels Superlativen, Hyperbeln, Oppositionen, Proklamationen und/oder Provokationen. Vielmehr sind sie (meine) Ableitungen aus den ästhetischen Entscheidungen, ein Kontingenz erzeugendes Verfahren folgerichtig nicht zu manifestieren, sondern zu performieren und statt in manifesttypischer Konzentration auf Brüche und Schnitte in die Zwischenräume zu gehen: Manifesto tritt daher erstens als eine performative Filminstallation mit Referenzen an das Theater, die Architektur und die Plastik auf (also diejenigen Medien, die in der künstlerischen Arbeit auch inhaltlich Thema sind). Zweitens hält sich Manifesto nicht nur zwischen den Medien auf, sondern auch zwischen den Texten, den Urhebern, den Zeiten, den Figuren, den Rezeptionsverhalten, den Gattungen, zwischen den Dispositiven, den Produktionsverhältnissen, den Wissenschaftsdisziplinen, zwischen den Theorien, den Distributionswegen und den Semantiken. Diese Dimensionen sind Thema der nachfolgenden Ausführungen, wobei interessieren soll, wie Manifesto mit dem Ausgangsmaterial politischer und künstlerischer Manifeste aus dem 19. bis 21. Jahrhundert operiert, also auch, wie das Manifest als eine als modernistisch deklarierte Gattung mit Manifesto aktualisiert wird und welche epistemischen Gewinne hieraus zu „unserer Gegenwart“ und ihren rezeptorischen, epistemologischen und ideologischen Grundlagen folgen. An diese Kopplung von Gattung und Zeitdiagnose bindet sich auch die Beobachtung, dass Manifesto reduziert, simplifiziert und trivialisiert wird, wenn es nicht in den Kontingenzen und Komplexierungen etwa des Intertextuellen, Intersemantischen und Interdisziplinären belassen wird. Definitionen des Intermedialen, dass die aufgerufenen Einzelmedien (hier Film und Installation) miteinander gekoppelt und in ihrer Differenz weiterhin beobachtbar sind, sich aber gleichzeitig konzeptionell durchdringen („conceptually fused“3) und auf dieser Ebene nicht mehr separierbar sind, verdeutlichen das Spektrum der Herausforderungen und Möglichkeiten: Manifesto ist sowohl we-
2
Für einen Überblick über die Beteiligten an Manifesto und ihre Funktionen siehe http://www. julianrosefeldtinberlin.de/index.php?id=2408 [Abruf: 6.8.2016].
3
Vgl. Dick Higgins: Horizons. The Poetics and Theory of the Intermedia, Carbondale/Edwardsville 1984, S. 138.
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der Film noch Installation als auch sowohl Film als auch Installation – und in dieser paradoxietauglichen Formel ist die dritte, die performative Größe noch nicht einmal untergebracht. Zur Operationsweise von Manifesto kann resümiert werden: Manifesto eruiert, umkreist und wendet Eindeutiges, Apodiktisches, Ausschließliches, Finites, Ultimatives, Geordnetes und Imperatives, verhandelt es und kann im Effekt das (zuvor für Manifestes konstitutiv ausgeschlossene) Kontingente, Anschließende, Infinite, Instabile, Indifferente, Indikative (wieder) einziehen lassen – allerdings nicht ohne die permanenten Möglichkeiten einer neuerlichen Manifestierung gewahr werden zu lassen und damit auch selbstreferentiell die Wahrnehmungen, Affekte und Projektionen (selbst-) beobachtend berücksichtigen zu können: Ein Manifest ist kein Manifest ist ein Manifest ... lautet hier die Formel des permanent kontinuierlichen Prozesses des Ent- und Verwerfens von Größen wie Subjekt, Objekt, Bild, Perspektive, Zeit, Raum, Publikum, Gattung etc. mit offenem Horizont und ohne (Happy-) Ende. Manifestes kann also bewegt werden, indem, so machen die ästhetischen Entscheidungen in Manifesto konkret und darüber hinaus auch exemplarisch sichtbar, vergegenwärtigt, vervielfältigt, intertextualisiert, fiktionalisiert, dekontextualisiert, trans- und intermedialisiert, paradoxiert, indifferenziert wird – allerdings existiert auch die permanente Möglichkeit zu manifestieren, wenn, und auch das macht Manifesto beziehungsweise die Umwelt von Manifesto – wiederum exemplarisch – sichtbar, hierarchisiert, heroisiert, fetischisiert, kausalisiert, spektakularisiert, nostalgiert, sensationiert4 wird. Während Heinz von Foerster die triviale von der nichttrivialen Maschine unterscheidet, bei der die eine vorhersagbar und geschichtsunabhängig (TM) und die andere analytisch unbestimmbar, unvorhersagbar und geschichtsabhängig (NTM) ist, und den Unterschied mit der jeweiligen Ab- beziehungsweise Anwesenheit ei-
4
Vgl. hierfür Formulierungen wie „Manifest der Manifeste“, „die Blanchett“, „Hollywood“, „Blockbuster“, „High-End“ etc. (Quelle: https://www.startpage.com, Suchbegriff: Manifesto Julian Rosefeldt [Abruf: 6.8.2016]), die exklusive Vorabveröffentlichung in Monopol 5/2015 sowie O-Töne von Aufsichtspersonal und Publikum vor Ort.
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nes inneren Zustands ‚z‘ benennt5, kann mit Manifesto das In-Gang-Setzen enttrivialisierender, nämlich komplexierender Vorgänge beobachtet werden, die offenbar aber auch dauerhaft dem Risiko ausgesetzt sind, gestoppt und umgekehrt zu werden: Manifesto ist eine performative Maschine, die auf der Ebene des Werks Kontingenzen in Gang setzt und Anschlussoperationen der Kontingenzbewältigung in Präsentation, Rezeption und Distribution beobachtbar macht. Manifesto, und nun sind sowohl das Kunstwerk n als auch die Beobachtungen n-ter und n+1-ter Ordnung gemeint, ist damit auch ein Anschauungsprozess für Operationen des Komplexierens wie des Reduzierens und dürfte insofern exemplarisch für verschiedene Fachbereiche (Philosophie, Soziologie, Psychologie ...) und Berufsgruppen (Politiker, Journalisten, Unternehmensberater ...) von Interesse sein. Manifesto ist daher auch eine institutions-, gesellschafts- und medienkritische Beobachtungsmöglichkeit, wer wann warum und wo welchen und wessen Interessen wozu und mit dem Einsatz welcher Operationen nachgeht. Für dieses ästhetische, aber auch ethische, kognitive, mediale und ökonomische Unternehmen greift Julian Rosefeldt zunächst auf bereits vorhandenes Material zurück, das als modernistisches par excellence begriffen wird: Ein politisches und weitere 56 künstlerische Manifeste der letzten 168 Jahre, vornehmlich des 20. Jahrhunderts, geben Auskunft darüber, dass sie allesamt einen Bruch im regelmäßigen Lauf der Zeit (also ein Vorher und ein Nachher) sowie einen Kampf proklamieren, in dem es eindeutige Sieger und Besiegte gibt6: angefangen mit dem Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Engels von 1848 über Manifeste des Futurismus, Dadaismus und Surrealismus aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (als eine Vielzahl von Manifesten entstanden und im Umlauf 5
Vgl. Heinz von Foerster: Entdecken oder Erfinden. Wie lässt sich Verstehen verstehen?, in: Heinz Gumin und Heinrich Meier (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus, München 1992, S. 41–88.
6
Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie [frz. O. 1991], Frankfurt am Main 2008, S. 19.
7
Asholt und Fähnders zählen in ihrer Zusammenstellung von 1900 bis 1947 über 250 künstlerische Manifeste. Vgl. Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart 1995.
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waren7) bis hin zu Situationismus und Pop Art, Fluxus und Conceptual Art aus der zweiten Jahrhunderthälfte. Das jüngste Manifest ist Man is Double Man is Copy Man is Clone von Elaine Sturtevant aus dem Jahr 2004. Sturtevant ist hier nicht nur zitierte Manifestautorin, deren Propositionen zum Di-(statt zum Indi-)viduum („Man was once original [...]. But now all that is dead, finished. Man is disposable and dispensable“8) auch konzeptionell in Manifesto wiederzufinden sind. Sie ist außerdem mit ihrem Verfahren der künstlerischen Appropriationen auch Referenz des von Rosefeldt eingesetzten Verfahrens, auf der Ebene des Textes zu appropriieren. Mit der Cut-up-Technik, die zunächst in der bildenden Kunst als Collage und später in der Literatur angewandt wurde, fragmentiert Rosefeldt historische Texte meist männlicher Künstler, Architekten, Choreographen und Filmemacher (wie Filippo Tommaso Marinetti, Kasimir Malewitsch, Bruno Taut, Robert Venturi, Sol LeWitt, Claes Oldenburg, Yvonne Rainer, Adrian Piper und Lars von Trier), um sie dann aber nicht etwa chronologisch, geo- oder monografisch zu montieren, sondern als Themenblöcke der bildenden Kunst, der Architektur, des Films, der Performance und des Theaters zusammenzupassen. Die Cut-up-Technik fand noch einmal später, in der Theorie der 1970er Jahre ihren Stellenwert, als Deleuze und Guattari sie in ihren Ausführungen zu Denkformen und Wissensorganisationen als „büschelige Wurzel“ zwischen der (hierarchisch zentrierten, binär logischen, einheitlichen) „Pfahlwurzel“ einerseits und dem (vielheitlichen, ökologischen, flachen, asignifikanten) „Rhizom“ andererseits anordneten und dabei trotz ihrer linear- und autoritär-skeptischen Ausrichtung vor ihren Ambitionen für Totalität und Überdeterminierung warnten: „das Buch wird umso totaler, je zerstückelter es ist“9. Zeitliche oder räumliche Inkongruenzen von originären Entstehungszeiten und -orten oder Verfasserschaften werden dabei in den Themenblöcken durch die Textstilistik geschliffen. Denn die Intertextualität ihrer Aus8
Elaine Sturtevant: Man is Double Man is Copy Man is Clone [2004], zit. n. Manifesto. Julian Rosefeldt, hg. von Anna-Catharina Gebbers u. a., Ausst.-Kat. Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, London 2016, S. 48.
9
Gilles Deleuze und Félix Guattari: Rhizom [frz. O. 1976], Berlin 1977, S. 10.
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gangstexte zwischen politischer Agitation, literarischer Poetik, spekulativer Realistik und theoretischer Programmatik behalten die neu montierten Texte in Manifesto wie auch die Geste der Entunterwerfung bei gleichzeitig autoritärer Apodiktik unverändert bei.10 Die Quellenangaben der Textfragmente liegen neben dem Eingang zur ersten öffentlichen Präsentation von Manifesto in Deutschland, im Berliner Hamburger Bahnhof, zur Mitnahme aus. Sogenannte Stacks, also Papierstapel, deren kubische Form die Minimal Art zitieren, informieren über den 13-teiligen Aufbau von Manifesto und mediatisieren die Hintergrundinformationen zu Flugblättern, die sich über den Museumsraum hinaus verbreiten (können). Aufgestellte Hinweisschilder warnen die Besucher, dass die Gesamtlänge der 13 Einzelfilme 130 Minuten beträgt, und meterhohe Referenzlisten informieren wie der Abspann eines Filmes über mehrere Hundert Beteiligte sowie eine Vielzahl von Kooperations-, Förder- und Finanzpartnern aus dem Kunst- und dem Mediensystem, mit deren Einsatz Manifesto realisiert wurde.11 Der Katalog zur Präsentation12 in gleich mehreren internationalen Ausstellungshäusern innerhalb nur eines Jahres13 veröffentlicht auf 50 Seiten die Textmontagen als Ausgangsmaterial, kontinuierlich in durchlaufendem Text, mit unterschiedlichen Schriftgrößen kontrastiert und aufgelockert, aber auch hier nicht gegeneinander abgesetzt. Ihnen sind in zarter, dezenter Typografie 10 Urheberrechtsverletzungen hat Rosefeldt durch juristische Prüfungen im Vorfeld ausgeschlossen. Quelle: persönliche E-Mail-Korrespondenz mit Julian Rosefeldt, 18.7.2016. 11
Manifesto ist eine gemeinsame Produktion der Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, des Australian Centre for the Moving Image, Melbourne, der Art Gallery of New South Wales, Sydney, dem Sprengel Museum Hannover, in Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk und realisiert durch Unterstützung des Medienboards Berlin-Brandenburg sowie der Burger Collection Hongkong und der Ruhrtriennale. Das Produktionsbudget betrug 500 000 Euro, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Manifesto_(2015) [Abruf: 6.8.2016]. Die vier produzierenden Kunstinstitutionen erhielten nach Fertigstellung von Manifesto eine Patron Edition von Manifesto für die eigene Sammlung.
12
Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), gestaltet von Anja Lutz, Book Design.
13
Australian Centre for the Moving Image, Melbourne: 9. Dezember 2015 bis 13. März 2016; Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin: 10. Februar bis 10. Juli, verlängert bis 18. September 2016, erneut verlängert bis 6. November 2016; Art Gallery of New South Wales, Sydney: 28. Mai bis 13. November 2016; Sprengel Museum Hannover: 5. Juni 2016 bis 29. Januar 2017, verlängert bis 7. Mai 2017; Ruhrtriennale: 13. August bis 24. September 2016; Staatsgalerie Stuttgart: 16. Dezember 2016 bis 14. Mai 2017; Museum Villa Stuck München: 16. Februar bis 21. Mai 2017.
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Abb. 1, 2 Julian Rosefeldt, Manifesto, 2015, Installationsansicht, Hamburger Bahnhof – Abb. 1, 2 Museum für Gegenwart, Berlin 2016, Fotos: David von Becker
sowohl die Urheber der Ursprungsmanifeste als auch knappe Regieanweisungen an die Seite gestellt, zum Beispiel: „voice over, while we see here observing and instructing the dancers“14. Denn Rosefeldt hat den montierten Themenmonologen letztlich zwölf (aus etwa fünfzig vorab kreierten) Szenarien zugeordnet, um sie in einem nächsten Schritt des Arbeitsprozesses in Bewegtbilder zu setzen. In einer extra mit klangabsorbierendem Material ausgestatteten, gut 500 Quadratmeter 14
Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 44.
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großen Black Box in einem Seitenflügel des Hamburger Bahnhofs sind die Szenen auf 13 montierten Wänden simultan projiziert und als eine nichtlineare Mehrkanal-Installation inhaltlich und räumlich in Beziehung gesetzt (Abb. 1, 2): Eingangs ein vierminütiger „Prolog“, der metaphorisch für die hier performierte Entzündung der Manifeste eine dauerbrennende Zündschnur zeigt; dann im Raum verteilt, den Raum zerteilend, aber auch den Raum verbindend zwölf zehneinhalbminütige Episoden in Endlosschleife, denen wiederum 13 (+1) Protagonisten unserer Gegenwart zugeordnet sind: Eine „tätowierte Punkerin“ spricht in einem Tonaufnahmestudio zum „Kreationismus/Estridentismus“, eine „Börsenmaklerin“ inmitten von Computerbildschirmen und Telefonen zum „Futurismus“, eine „konservative Mutter mit Familie“ in ihrem häuslichen Umfeld zur „Pop Art“, eine „Puppenspielerin“ in ihrem Atelier mit ihrem miniaturisierten Puppenklon (daher +1) zum „Surrealismus“, eine „Nachrichtensprecherin“ im Fernsehstudio mit ihrer „Außenreporterin“ in Wind und Wetter zu „Konzeptkunst/ Minimalismus“ ... Die Figuren werden zuvorderst durch ihre im weitesten Sinne titelgebenden „Tätigkeiten“ sowie im Folgenden durch ihre Zugehörigkeiten zu Klasse, Herkunft, Religion und Gender markiert und hierüber inmitten ihrer „Taten“15, eher Daseinsformen, bezeichnet. Dabei sind die Originaltexte auch mit dem bildgebenden Verfahren in jedem einzelnen Fall der Zeit, dem Raum, dem Kontext, dem Medium, der Vollständigkeit, dem Urheber und zum Teil auch der Sprache ihres Entstehens entnommen16 und aus den Jahrhunderten oder auch nur Jahrzehnten oder Jahren zuvor in ein kosmopolitisches, universelles, englischsprachiges, urbanes, heteronormatives, das heißt rezeptorisch anschlussfähiges Szenario transportiert und transponiert, das damit eine Vorstellung von „Gegenwart“ konstruiert. Mit dieser Dekontextualisierung des Ausgangsmaterials geht, wenngleich inhaltlich das Medium des Alltäglichen der hier aufgenommenen Deklarationen und Appellationen beibehalten wird, auch ein Medien15
Vgl. die Kapitelüberschrift „Flammende Taten, verletzendes Sprechen“ in: Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen [engl. O. 1997], Berlin 1998, S. 67.
16
„Ich spreche vom Verfahren der Montage: das Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in welchem es montiert ist.“ Walter Benjamin: Der Autor als Produzent [1934], http://www.texturen-online.net/methodik/benjamin/autor-als-produzent [Abruf: 6.8.2016].
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wechsel einher: Die Manifeste im Medium der Flüchtigkeit (Flugblätter, Anzeigen, Plakate, Lesungen, Online-Veröffentlichungen) und damit in einer meistenteils raschen, ubiquitären und kostengünstigen, eben viralen Distribuierbarkeit sind, nachdem sie nicht selten bereits in Anthologien abgelegt worden waren, nun (filmisch, kuratorisch und institutionell) in, mit und durch gewichtige mediale Argumente inszeniert. Bei diesen handelt es sich allerdings nicht um eine inhaltliche Entscheidung in Bezug auf die Gattung und das Thema Manifeste, sondern um die Entscheidung für eine logische und stilistische Kohärenz der Autorschaft17 von Rosefeldt: eine Multi-Screen-Filminstallation, die auf Produktions- und Rezeptionsebene um die Dimension der Performativität zu ergänzen ist, ein technisch hochwertiges Spielfilm-Setup18, das ruhige, unverbrüchliche Bildwelten produziert hat, ein Querschnitt von Lebenswelten, eine prominente Hauptdarstellerin mit Celebrity-Faktor und internationale Kunstinstitutionen als signifikante Vertreter von Kunstsystem und White Cube19. So gelingt es mit anschlussfähigen Wahrnehmungsangeboten auf technischer, visueller, personeller und institutioneller Ebene sowie mit garantierten Aufmerksamkeitsökonomien, das Thema zu behandeln, zu aktualisieren und zu installieren, das heißt, Manifesto zu produzieren, zu präsentieren und zu distribuieren. Jede einzelne Filmszene ist dabei – und hier starte ich mit der wahrscheinlichen Variante, als Rezipient in die Dunkelheit der Filminstallation einzutreten – zunächst für sich geschlossen und erzählt mittels ihrer Bilder die Lebenswelten der hier(in) komfortabel, prekär oder distinguiert situierten, verstrickten Figuren. So werden die Texte von den Protagonisten sowohl aus dem Off körperlos als Voice-over rezitiert, wie sie auch integrierter Bestandteil der Szenerie werden können, wenn beispielsweise die „Choreographin“ ihren Tänzerinnen die Forderungen von „Fluxus/Merz/Performance“ auf einer Bühnenprobe nahezu einpeitscht, 17
Vgl. hierzu Michel Foucault: Was ist ein Autor? [frz. O. 1969], in: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 198–229.
18 In Kooperation u. a. mit Schiwago Film GmbH und ARRI Rental Berlin. 19
Vgl. Brian O’Doherty: In der weißen Zelle. Inside the White Cube [engl. O. 1976, 1986], hg. v. Wolfgang Kemp, Berlin 1996.
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die „Lehrerin“ ihren Grundschülern Forderungen an den „Film“ in ihre Hefte diktiert20 oder die „Nachrichtensprecherin“ mit schneidender Stimme die Nachrichten des Tages verkündet: „Good evening ladies and gentlemen. All current art is fake [...].“21 Dabei stehen die Texte nicht selten in einem spannungsreichen (irrwitzigen, absurden oder auch humorvollen), aber nicht als Bruch herausgestellten Widerstreit mit den Bildern, wenn beispielsweise die exaltierte „Trauerrednerin“ auf einer opulenten Beerdigungszeremonie inmitten von trauernden Gästen und weißen Lilien vulgär wird („[...] your rotten teeth, your scab-filled ears, your cankercovered tongue. Before I rip off your ugly, incontinent and cheesy little dick [...].“22), die tief mit ihrem Schichtdienst verstrickte „Arbeiterin in einer Müllverbrennungsanlage“ die emanzipatorische Kraft von Architektur mehrfach mit einem „Hurray“23 lobpreist oder die tiefgläubige Mutter und Ehefrau am Tisch im Angesicht duftender Truthahnkeulen inbrünstig für „the art of underwear“ and „the art of taxicabs“ betet: „I am for an art that is political-erotical-mystical that does something other than sit on its ass in a museum.“24 Oder ihre Kausalität und Aktualität ist verblüffend unbestechlich, wenn die Börsenmaklerin (zu denken ist an den Hochfrequenzhandel von Wertpapieren) die Schönheit der Geschwindigkeit25 oder die Wissenschaftlerin (zu denken ist an die fortschreitende Digitalisierung) die Überwindung des Gegenständlichen preist: „Objects died yesterday. We are creators of non-objectivity“26 (und die Kamera dann geradewegs die haptische Erfahrung der Bilder fixiert). Oder, eine letzte Variante, sie können im Angesicht des Todes nicht pointierter in Relation gebracht
20 Siehe hierzu eine Ausstellungsansicht dieses Screens im Hamburger Bahnhof: http://www.smb. museum/ausstellungen/detail/julian-rosefeldt-manifesto.html [Abruf: 6.8.2016]. 21
Sturtevant: Shifting Mental Structures [1999], zit. n. Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 48.
22 Georges Ribemont-Dessaignes: To the Public [1920], zit. n. Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 33. 23 Robert Venturi: Non-Straightforward Architecture: A Gentle Manifesto [1966], zit. n. Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 17. 24 Claes Oldenburg: I am for an Art... [1961], zit. n. Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 40. 25 Alexander Rodtschenko: Manifesto of Suprematists and Non-Objective Painters [1919], zit. n. Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 29. 26 Alexander Rodtschenko: Manifesto of Suprematists and Non-Objective Painters [1919], zit. n. Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 29.
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sein: „To sit in a chair for a single moment is to risk one’s life“27, mahnt die „Trauerrednerin“ die Trauergemeinde, und: „One dies as a hero, or as an idiot, which is the same thing.“28 In einer Sowohl-als-auch-Operation wird hier zusammengefügt und zusammengehalten, was in strenger Kausalität nicht zusammengedacht würde, das bedeutet, mal koinzidiert – und das auch innerhalb einer Episode – die Text-Bild-Zuordnung, mal verfügt sie über eine inkonsistente Logik und wird über eine kohärente Rhetorik zusammengespannt. Kommentierend, konterkarierend, affirmierend finden somit Verschiebungen statt, die mit ihren Sinn-Entsicherungen und -Entregelungen inmitten der Text-Bild-Angebote bei den Rezipienten zu Aufmerksamkeiten, epistemischen Gewinnen, eben zu Wechseln in semantisch manifesten Sinnbildungsleistungen führen – durchaus vergleichbar mit den Originaltexten mit ihrer zum Teil aufgehobenen Syntax, Logik und/oder Typografie. Die ambivalenten Text-Bild-Zuordnungen sind von Rosefeldt gemeinsam mit Christoph Krauss als Director of Photography in Szene gesetzt: Die zum Einsatz gebrachte digitale Kinokamera29 nähert sich beispielsweise dem Geschehen in der Obdachlosen-Episode aus der Vogel-Drohnen-Perspektive, bevor sie in weitere, auf das Setting abgestimmte Perspektiven übergeht; die Einstellungsgrößen zeigen in den 13 Episoden das größtmögliche Repertoire von Panorama und Totale über Halbtotale und Halbnahe bis hin zu Groß- und Detailaufnahmen. Die Bestandteile der einzelnen, prächtig und minutiös choreografierten Mises en Scène werden ruhig, gleitend, zum Teil in langen Plansequenzen und Zeitlupen extra-diegetisch abgetastet und damit als abstrahierte „Stillleben“ (zum Beispiel farbkomponierter und lichtgestalteter Bierdosen, brennender Zigaretten, Kaffeebecher und
27 Richard Huelsenbeck: First German Dada Manifesto [1918], zit. n. Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 33. 28 Francis Picabia: Dada Cannibalistic Manifesto [1920], zit. n. Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 32. 29 Krauss nutzte als A-Kamera eine Alexa XT Plus und als B-Kamera eine Alexa Plus. Zusätzlich kam eine Phantom Flex für zwei Zeitlupenaufnahmen im Prolog und in der Schulepisode zum Einsatz. Quelle: persönliches Gespräch mit Christoph Krauss, 29.7.2016.
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küssender Paaren) bedeutungsschwer ins Bild gesetzt. Dabei fährt die Kamera im Bildformat 16:9 über die Oberflächen des Sicht- und Wahrnehmbaren, wie ein Scanner, der die zugehörigen taktilen, sensomotorischen und perzeptuellen Grundlagen, anders formuliert, das zugehörige Subface unter dem Surface30 oder auch die Ordnung der Dinge31 zu erfassen versucht. Mit den skulpturalisierten Ergebnissen entstehen Auskunft gebende Darstellungsepisteme der jeweiligen Szenerie. Je nach Episode handelt es sich um Hightech, Oldtech, Smarttech oder auch Home-Ästhetik, in jedem einzelnen Fall fokussiert die Kamera im Verlauf der Szene die Körperhaltungen und -bewegungen, die Gesichtshaut, Mund- und Halspartien, Hände und Fingernägel der jeweiligen ProtagonistIn und berührt damit (durch den Einsatz ausgewählter Objektive verstärkt32) in mehrfacher Bedeutung. Nicht selten drängen sich angesichts der unterschiedlichen Genres Assoziationen oder auch Spekulationen zu einer Familientragödie, einer Milieustudie oder einer Science Fiction auf, alles wahlweise weitererzählbar als Kultur- oder Dokumentarfilm oder aber, dann mit weniger vorsichtig gesetzten Schnitten, als Spielfilm. Die weniger wahrscheinliche Variante wäre, Manifesto in dem Moment zu betreten, in dem die zwölf Episoden zu einer akustischen, bildlichen und räumlichen Gesamtinstallation verschmelzen. Etwa alle zehn Minuten wechselt das hier quasi-narrative Medium Film (quasi, da hier eine Erzählung oder Handlung zu deuten nur verleitet wird) für 30 Sekunden zu einem appellativen Medium: Alle ProtagonistInnen, von der Lehrerin über die Börsenmaklerin bis zur Wissenschaftlerin, lösen sich beinahe zeitgleich und sanft aus ihrem jeweiligen Bildkontext, wenden sich in Großaufnah30 Vgl. Frieder Nake: Surface, Interface, Subface: Three Cases of Interaction and One Concept, in: Uwe Seifert, Jin Hyun Kim und Anthony Moore (Hg.): Paradoxes of Interactivity. Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction, and Artistic Investigations, Bielefeld 2008, S. 92–109. 31
Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [frz. O. 1966], Frankfurt am Main 1971.
32 Krauss verwendete hierfür Objektive der Firma Cooke, „because he likes the ‚slightly softer skin tones they produce‘“, https://en.wikipedia.org/wiki/Manifesto_(2015_film), wie Krauss im Gespräch am 29.7.2016 bestätigte.
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me33, ohne Schnitt und frontal, die vierte Wand durchbrechend, in einem veränderten Artikulationsmodus (im Produktionsteam als „pitch-tone singing“ bezeichnet) an das Publikum, so dass dieses bis auf wenige, durch künstlerisch-kuratorische Entscheidungen34 räumlich verhinderte Ausnahmen von zwölf direkt blickenden, ja fixierenden, kontextlosen Konterfeis umringt ist. Die zuvor ungestörte Kontinuität und Illusionierung eines szenischen Filmraums ist fortan aufgehoben, anders formuliert, das Publikum ist fortan strukturell und installativ impliziert – und dies über die 30 Sekunden hinaus. Die Synchronisation von räumlicher und zeitlicher Kohärenz, quasi-narrativer Kausalität und Zuschauerplatzierung fällt für den Rezipienten für diesen Fall nachhaltig auseinander, das heißt auch, dass die Konstruiertheit des Films sicht- und fühlbar wird – auch das über die 30 Sekunden hinaus. Die Sicht- und Blickachsen verlaufen für diesen und auch ab diesem Augen-Blick nicht mehr innerhalb des zweidimensionalen Films, sondern erweitern sich in und um den dreidimensionalen Raum des Publikums. In diesem Moment bildet sich eine durch ästhetische Mittel hergestellte Zwischenraumzeit synchronischer Akkumulation, gelöst von Raum, Zeit und „Handlung“ des Filmographischen wie auch des A- oder Außerfilmischen, eine quasi-entleerte (quasi, weil sie zweifelsohne nicht voraussetzungsfrei ist), dekontextualisierte, situative Raumzeit zwischen den Ereignissen, zwischen dem (Film-)Bild und den Rezipienten, auch zwischen den Rezipienten und zwischen den Realitäten – und so dürfte es kaum überraschen, dass die eingangs angekündigten 130 Minuten Gesamtlaufzeit (eine angesichts der nahtlosen Loops der Filminstallation ohnehin nicht existente Zäsur) eine eigene Zeitqualität modelliert. In diesen 30 Sekunden wird die vorherige Surround-Polyphonie der lautstarken, auch gegenläufigen Stimmen und Töne im Raum – der das Publikum zuvor nur in räumlicher Nähe zu einem Screen entkommen konnte, 33 Zu Affektbild, Gesicht, Großaufnahme und ihrem Status als Entität vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 [frz. O. 1983], Frankfurt am Main 1989. „Die Großaufnahme ist keine Vergrößerung, auch wenn sie eine Größenveränderung impliziert; sie ist eine absolute Veränderung [...]“, ebd. S. 134. 34 Die Berliner Ausstellung wurde kuratiert von Anna-Catharina Gebbers und Udo Kittelmann.
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um dann auch die zugehörige Einzelstimme identifizieren und ihr inhaltlich folgen zu können (vor jedem Screen sind unterhalb der von der Decke abgehängten, nicht verborgenen Projektoren und Lautsprecher dunkle Sitzbänke platziert und damit ist für diesen Zweck der Betrachter-Standort und -Sehwinkel restringiert) – mit einem Toncluster als und im Chor homogenisiert. Der in 13 unterschiedlichen, vorab festgelegten und gleichbleibenden Tonhöhen in Staccato deklamierte uneinheitliche Text mediatisiert sich in dieser halben Minute zu einer Plastizität des Tons im Raum, der Ton enthierarchisiert sich vom Bild, das Bild löst sich aus einem ikonisch-semantischen Repräsentationskonzept, das Quasi-Narrativ friert für einen aufgrund der medialen Verdichtung unendlich wirkenden Moment ein, der Einzeltext bleibt auch in diesem Moment disparat, fraktal, verschieden, ja schwer bis unverständlich (sofern sich der Rezipient nicht auch hier für einen Lautsprecher und eine Sitzbank entscheidet und er damit durch eine nur minimale Positions- und Perspektivänderung die babylonische Sprachverwirrung zugunsten einer Verständlichkeit aufhebt oder aber sich ihr wieder aussetzt) – um dann für die nächsten zehn Minuten wieder in die geschlossene Bildwelt der Einzelszene(n) zurückzuschleichen und mit der jeweiligen Episode, in jedem Fall mit einer dramaturgisch abgestimmten, ruhigen und entspannenden akustischen und bildlichen Situation fortzusetzen. Statt von der Filmtheorie des 20. Jahrhunderts als voyeuristisch oder ausgeliefert, als privilegiert oder unbeteiligt markiert werden zu können35, wird das Publikum einem komplexeren als einem dualistischen Subjektivierungsprozess (und schon lange nicht als neutraler, vereinheitlichter, totaler Zuschauerkörper) ausgesetzt, in den auch die Widersprüche seiner Bedingungen eingebaut sind. Hier wird „der Betrachter“36 in einer durch die Projektionstechnik ohnehin hellen Dunkelheit als ein blickendes, affektiv eingewobenes, sichtbares, flanierendes, nicht mehr körperloses, ja auch sich 35 Vgl. hierzu u. a. die von Laura Mulvey für das Kino stereotype und geschlechtsspezifisch deklarierte Gegenüberstellung einer Lust am Schauen und eines Angesehen-Werdens. Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino [engl. O. 1975], in: Gislind Nabakowski, Helke Sander und Peter Gorsen (Hg.): Frauen in der Kunst, Bd. 1, Frankfurt am Main 1980, S. 30–46. 36 Vgl. O’Doherty 1996 (wie Anm. 19).
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selbst nicht als körperloses, sondern sich in Bewegung, Position und/oder Perspektive wahrnehmbares Publikum sozial, geschlechtlich und kulturell (ver)gegenwärtig(t). Das nonlineare Manifest im Medium der performativen Filminstallation weist in dieser konstruktivistischen Rezeptionsvariante – es existiert außerdem eine 94-minütige lineare Kinofassung37 – ein eingebautes perzeptives Element auf. Diese Rezeption als syntaktische Implikatur setzt die performative Perspektive der ästhetisch Erfahrenden zusammen mit einem multiperspektivischen Sehen und Hören in Gang: So wandert der Blick von einem Screen zum nächsten, von der Seenlandschaft über Wissenschaftsmilieus zu Mandela-, Castro- und Hitler-Handpuppen, zu anderen Rezipienten und Raumfigurationen, zur Technik oder den Quellenauskünften. Als immer wiederkehrendes akustisches Signal von Manifesto setzt sich inmitten der Polyphonie im Raum neben dem diegetischen und zwar feierlichen Blechblasorchester der Beerdigungsszene die Schulklingel der Schulklassen-Episode durch – aber eben regelmäßig und zuverlässig unterlaufen durch die 30-sekündige Attraktion der synchronischen und akkumulierenden Ereignisse (der Stimmen, der Texte, der Blicke, der Perzeptionen, der Rezeptionen), die sich als ein Ton- und Bild-Choral verkörpern, um dann wieder in die Polyphonie überzugehen – die vorherige Anwesenheit des Chorals mit seiner liturgischen Dimension wird aber unvergessen bleiben. Hier kreiert sich eine spezifische perzeptive und zwar intermediäre, aufgrund der Wiederholung verlässliche Situation, niemals in toto und niemals vollendet, „mit beiden Beinen fest auf den eigenen Unsicherheiten zu stehen, sich ihnen nicht zu ergeben und sie nie ganz zu verleugnen“38. Nun wäre es allenfalls eine kunsthistorische, aber für weitere Überlegungen nützliche Pointe, wenn Manifesto auf die fast schon in Vergessenheit geratene performative Dimension künstlerischer Manifeste und damit auch auf eine im Sinne Marshall McLuhans mediale Botschaft39 von Mani37 Manifesto soll künftig auch auf Filmfestivals sowie 2018 im Bayerischen Rundfunk gezeigt werden. 38 Vgl. Dirk Baecker: @ImTunnel, 6.7.2016, 12:21, https://mobile.twitter.com/ImTunnel/status/750771696865599488?p=v [Abruf: 6.8.2016]. 39 Vgl. Marshall McLuhan und Quentin Fiore: The Medium is the Massage: An Inventory of Effects, New York 1967.
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festen aufmerksam machen wollte: Uns liegt ein reichhaltiges Erbe künstlerischer Manifeste in Textform vor, obwohl diese zeit- und ortsgebunden als ein multimediales und synästhetisches Spektakel mit Performancequalitäten avant la lettre konzipiert wurden. Die hegemoniale Distribution verschluckt aber diese lautstarken, performativen und appellativen Dimensionen und hinterlässt uns künstlerische Manifeste in Form gedruckter, zum Teil bereits musealisierter Anthologien im Textformat, die auf die textlichen Besonderheiten, auf die Syntax, die Logik, die Grafik geprüft werden und in dieser medialen Form zwar ehrenwert, aber doch artig, grotesk oder auch verhoben anmuten. Manifesto löst ein politisches und weitere künstlerische Manifeste in Buchform aus ihrem „traurigen, gefangenen Dasein“ ihres monomedialen Speichers40 und revitalisiert und aktualisiert sie durch das Reenactment des medialen Konnexes von gedrucktem Text, gesprochenem Wort und aktionistischer Handlung in einer filminstallativen Performierung, schließt sie aber in eben dieser Medialität, zudem für den White Cube produziert und hier auch präsentiert, auch wieder ein. Die frühere, gleichsam konzipierte und damit genuine Intermedialität nimmt Manifesto auf (sofern es sich nicht zu einem einzigen Medium verhebt oder verhoben wird und damit Deleuze/Guattari zufolge totalisieren würde41): Das mediatisierte Ergebnis oszilliert zwischen den Medien, zwischen Film, Installation, Vokalexperiment, Ton- und Rauminszenierung, Plastik, Theater und Architektur und nutzt dabei die Performativität in mehrfacher Hinsicht: als Gattung und Darstellungsmittel, als künstlerisches Verfahren, Durchwirkungs- und Entfaltungstechnik, als rezeptorischen Ansatz und Streuverfahren. Im Unterschied zu dem originären Ausgangsmaterial der Manifeste findet die rhythmisierte Medienbeziehung allerdings medial, zeitlich, räumlich und inhaltlich höher beziehungsweise hochkomprimiert und -getaktet statt. Dass dabei gerade das „Inter-Net“ in der Funktion eines Distributionsmediums42 und nicht mit seinen genuinen medialen Quali40 Vgl. Burcu Dogramaci: Sprechen, Spielen, Verwandeln – Manifeste als Metamorphosen. Zu Julian Roselfeldts Manifesto, in: Ausst.-Kat. Berlin 2016 (wie Anm. 8), S. 92–95, hier S. 94. 41
Wie Anm. 9.
42 Vgl. http://julianrosefeldtinberlin.de [Abruf: 6.8.2016]. Domaininhaber ist laut denic der Verein der Freunde der Nationalgalerie e.V.
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täten genutzt wird43, ist dem künstlerischem Programm des/der Urheber geschuldet, ist gleichermaßen aber auch ein Hinweis, dass der gewählte Medieneinsatz nicht in Relation zu den Inhalten steht. Die filmische Performierung geht nun aber nicht nur mittels der Intermedialität, des bruchlosen, oft unmerklichen Wechsels einer mal inkonsistenten, mal kohärenten Text-bzw. Ton-Bild-Komposition, der Bildung eines ästhetischen Zwischenraums, des perzeptiv sich überlagernden, untrennbaren Wechsels zwischen synchronisch Akkumulierendem und dissonant Dissidentem vonstatten, sondern auch mittels der Entscheidung Rosefeldts, alle 13 Figuren von nur einer Person und zwar von der australischen Filmschauspielerin Cate Blanchett verkörpern zu lassen. Blanchett verschmilzt mit dem Setting der Szene, der Architektur, den Gängen und Räumen, mit dem Interieur, ihrem Text, der Kostümierung und Maske44, macht die performierten Typen zu einer Anhäufung und Synthese von Mimik, Gestik, Positur, Motorik, Stimme, Redeweise und Blicken45 und dekonstruiert sie bis in die Farbe der Fingernägel und den Haaransatz als verleiblichte Maskeraden. Mit Manifesto sind die erzwungenen, begünstigten oder auch ge- und verhinderten Körperbewegungen mit Gefühlen, Denkweisen und Haltungen gekoppelt zur Ansicht gebracht – diese Verbindungen dürften fortan nicht mehr unmerklich zu rezipieren sein. Manifesto verschaltet die fast schon aus den Augen verlorene Dimension der Performativität künstlerischer Manifeste der Vergangenheit mit der Performativität der Körper- und Subjektherstellung in ihrer Gegenwärtigkeit, die ihrerseits eng verbunden ist mit der dekonstruktivistischen Dimension von Performativität und ihren garantierten Variationen von Bedeutung als politischem Versprechen 46. 43 Siehe hierzu den Unterschied zwischen Kunst im oder auch auf dem Netz und Netz.Kunst, u. a. bei Thomas Dreher: NetArt: Einführung, 2000/2001, http://iasl.uni-muenchen.de/links/ NAEinf.html [Abruf: 6.8.2016]. 44 Make-up Artist Morag Ross, Hair Artist Massimo Gattabrusi und Costume Designer Bina Daigeler. 45 Zu den Begriffen Hexis und Habitus vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft [frz. O. 1972], Frankfurt am Main 1976; ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [frz. O. 1979], Frankfurt am Main 1982. 46 Vgl. Seyla Benhabib u. a.: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmodere in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993.
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Julian Rosefeldt: Manifesto, 2015
Abb. 3
Dabei zeigt Manifesto, wie (auch Selbst-)Deklarationen und Imperative47 sich zu einem beziehungsweise zu 13 Körpern (und nicht in einem, denn das könnte einen vorgängigen Körper suggerieren) manifestieren, hier allerdings immer mit dem Hinweis, dass der Körper, das Subjekt und das Geschlecht (mit der Figur des Obdachlosen ist auch diese Differenz aktiviert) auch anders ausfallen könnte und damit kontingent, infinitiv, instabil, nicht totalisierbar ist – womit auch begründet wäre, warum sich für eine Darstellerin (Abb. 3) und nicht für 13 entschieden wurde. Wenngleich sich 47 Vgl. hierzu Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [frz. O. 1975], Frankfurt am Main 1976.
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hier auch andeutet, dass sich mit der kongenialen Cate Blanchett und ihrer schauspielerischen Brillianz das Thema publikumswirksam vermittelt, aber durch die Dimension ‚Celebrity‘ zugleich eine der eingangs erwähnten Simplifizierungsvarianten in Gang gesetzt wird. Die Performativität von Manifesto ist somit auch eine theoretische Performierung und Performance etwa der Sprechakttheorie Austins48, der Sprachtheorie Derridas49 und der Performativitätstheorie Butlers50, allerdings nicht ohne dass das hier eigesetzte Verfahren der künstlerischen De-/Re-/Konstruktion theorieentfaltende Differenzen einbaut. Manifesto schaltet die Materialität etwa von Körper mit dem Sprechakt, Austin zufolge mit dem illokutionären Sprechakt, also zu einem Äußerungsakt zusammen, der mit der sprachlichen Realisierung einer Handlung ineins fällt. Indem geäußert wird, wird eine Tat ausgeführt, oder mit Manifesto präzisiert: Indem ich äußere, führe ich eine Tat aus. Denn eine Bedeutungsmöglichkeit des polysemantischen Titels lautet ich offenbare, ich zeige (1. Person Singular Präsens Indikativ Aktiv des lateinischen Verbs manifestare). Austin stellt in seinen sprachphilosophischen Untersuchungen erstens die Identität von Sprechendem und Handelndem heraus, die das Verb nur in der ersten Person Singular möglich macht, zweitens muss eine Simultaneität von Sprechakt und vollzogener Handlung vorliegen, die nur hic et nunc realisiert werden kann und damit das Präsens verlangt. Und drittens kommt eine autoreflexive Semantik hinzu, bei der die sprachliche Äußerung zugleich den Akt konstituiert, den sie bedeutet51 – diese Zusammenhänge unterbricht und komplexiert Manifesto (etwa um filmisch-installative Äußerungen, um Quasi-Handlungen, um Dissimultaneitäten zwischen Äußerungsakt und Handlung) und zieht in Differenz auch hier entmanifestierende und damit konsequent poststrukturalistische Potentiale der nicht 48 Vgl. John Langshaw Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words) [engl. O. 1955/1962], Stuttgart 1979. 49 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie [frz. O. 1967], Frankfurt am Main 1983. 50 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter [engl. O. 1990], Frankfurt am Main 1991; dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts [engl. O. 1993], Berlin 1995. 51
Wie Anm. 48.
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stillstellbaren Beziehungen ein, wie Derrida sie mit der différance in eine Denkfigur gebracht hat52. Der Prozess verläuft hier, Hegel paraphrasierend, nicht von einer unbestimmten zu einer bestimmten Einheit, sondern von einer Differenz zu einer nächsten. Derrida hat in seiner Sprachtheorie die „citationalité“ und „itérabilité“, also die Zitathaftigkeit und Iterabilität des sprachlichen Zeichens und seiner wirklichkeitskonstituierenden Kraft, herausgestellt53; dieses Konzept des Performativen greift Manifesto auf, indem es bereits existierende Texte zitiert und (mehrfach, permanent, filmisch) wiederholt und dabei und damit eine performative Aussage überhaupt erst gelingen lässt – allerdings wird hier noch eine weitere Größe, nämlich die Paradoxie ins Spiel gebracht. Butlers Performativitätstheorie des Körpers als unfreiwilliger performativer Akt einer diskursiven Praxis, der sich als eine Kategorie innerhalb der Sprache und als eine Praxis des Zitierens regulierender Normen herstellt, wird durch Manifesto performativ auf das immer wieder missverstandene Körperlose durchgearbeitet: Bei allem Unbehagen der Geschlechter (1991) wird hier herausgestellt, dass Maskeraden keine körperlosen Vorgänge eines nur flüchtigen Maskierens (im Sinne von Drag) sind, sondern, dass sie sich verkörpern, verleiblichen, verinnerlichen, eben als einen Körper von Gewicht (1995) manifestieren, sei es in den sehnigen Körpern zäher Choreografinnen, in den eingefallenen Schultern und dem stoischem Gang realitätsbedrückter Arbeiterinnen oder in der manierierten Körper- und Sprechstilistik von Menschen vor einer Fernsehkamera. Die Rezipienten halten sich jedoch immer in dem durch ästhetische Mittel der performativen Filminstallation generierten Wissen auf, dass der erzwungene, unentwegte, performative Akt niemals vollendet, also kontingent ist, demnach immer auch anders ausfallen könnte und nicht selten sogar schleichend oder unmerklich und immer auch widersprüchlich
52 Vgl. Jacques Derrida: Die différance. Ausgewählte Texte, hg. v. Peter Engelmann, Stuttgart 2004. 53 Hempfer widerspricht dieser Auffassung und weist darauf hin, dass die Bindung des Performativen an Zitathaftigkeit und Iterabiltität nicht Derrida, sondern der Derrida-Rezeption Butlers zuzuschreiben ist. Vgl. Klaus W. Hempfer: Performance, Performanz, Performativität. Einige Unterscheidungen zur Ausdifferenzierung eines Theoriefeldes, in: Klaus W. Hempfer und Jörg Volbers (Hg.): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011, S. 13–41.
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stattfindet. Statt Ja-Nein-Operationen finden für Manifesto paradoxietaugliche und komplexierende Sowohl-als-auch-Operationen (der Gattungen, der Medien, der Zeiten, der Körper, der Publika, der Sinne, der Perzepte) ihren Einsatz.54 Nach zwischenzeitlicher Abkehr, zum Teil auch proklamatischer Absage der Kunst an das Manifest als deklariert modernistischer Gattung ist 2015 mit Manifesto in einer zweieinhalbjährigen Produktionszeit, inklusive Vorund Nachbereitung, eine künstlerische Arbeit entstanden, die als Unternehmen im Sinne einer performativen Kontingenzmaschine wirksam ist. Diese Maschine operiert mit der überlieferten Deklarationstechnik und Moralinstanz der Avantgardegattung Manifest, verhandelt sie und praktiziert sie nunmehr als ein permanentes, prozessuales, unaufhörliches Performieren: Mittels Appropriation, Recuperation und Re-/Enactment findet ein Re-/Casting und Re-/Mastering statt. Das Kontingente ist das Medium des Wirklichen, legt Manifesto nahe, informiert, dass auch Manifestes dynamisierbar ist und die Moderne, wenn sie ihrer selbst ungewiss wird, ein zu prüfendes Konzept ist. Denn mit Latour würden wir, wenn wir allein ein Ensemble zweier Praktiken (nämlich die Reinigungstechniken mit den zuvor stattgefundenen Hybridisierungstechniken) zusammendenken und als eine zwingend zusammengehörende Konfiguration begreifen, aufhören, modern gewesen zu sein. Dann würde sich sowohl unsere Vergangenheit als auch unsere Zukunft zu verändern beginnen.55 An diese Kontingenzmaschine koppeln sich, und auch das ist als Aussage über das, was wir Gegenwart nennen, zu verstehen, Maschinen der (mit Deleuze/ Guattari gesprochen) Überdeterminierung und Totalität, die Manifesto zur „Pfahlwurzel“ kürzen (möchten). Diese Operationen, die zu vereindeuti-
54 Rosefeldts Verfahren der künstlerischen De-/Re-/Konstruktion zeigt sich auch in seiner vorherigen filmischen Arbeit, dem Schwarz-Weiß-Film Deep Gold von 2013/14, mit dem er sich auf Luis Bunuels Film L’Age d’Or von 1930 bezieht und der Pflichtlektüre in jedem Subjekt-, Gender-, Queer-, LGBT-Seminar werden könnte: Hier wird L’Age d’Or gut 80 Jahre später eine 18-minütige fiktionale Einfügung zwischen der letzten Szene und dem Epilog des Originalfilms hinzugefügt, um (s)eine feministische Umschreibung zu erzählen. 55 Vgl. Latour 2008 (wie Anm. 6), S. 20.
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gen versuchen, durchkreuzen den (an von Foersters ethischen Imperativ angelehnten) ästhetischen Imperativ, bei dem stets „die Anzahl der Möglichkeiten zu vermehren“56 sei. Hier wird die Anzahl der Möglichkeiten, die sich durch das Intertextuelle, Intersemantische, Interdisziplinäre und Intermediale erhöht hat, durch kuratorische, journalistische, kunsthistorische oder auch wirtschaftliche Entscheidungen minimiert und in der Folge (mit von Foerster) zu Gewissheiten gestrichen – beispielsweise wenn der polysemantische Titel Manifesto auf eine einzige Bedeutung, nämlich auf das aus dem Englischen übersetzten Substantiv Manifest reduziert wird, wenn kunstgeschichts- und kunstmarktselegierend die Intermedialität der performierenden Filminstallation auf nur ein Medium vereindeutigt oder die 6er-Edition von Manifesto plus 2 Artist Proofs und 4 Patron Editions für die Investoren quantitativ und qualitativ auf die Idee eines Originals gekürzt wird, wenn Produktion, Produktionsverhältnisse, Distributionswege und Sozialverhalten zwischen Kunst- und Medienbetrieb plausibilisierend dem Programm nur eines Funktionssystems zugeschlagen werden, wenn die Unternehmensform von Manifesto zwischen Start-up, Freund- und Partnerschaften, Investmentfond und Sponsoring auf nur einen Teilbereich reduziert wird. Mit dem Dramatisieren, Heroisieren, Sensationalisieren, Spektakularisieren, Popularisieren, Plausibilisieren und Skandalisieren werden Operationen zum Einsatz gebracht, die sich von den gattungstypischen Spezifika deklarierender Manifeste und ihrer Effekte erstaunlich gering unterscheiden und als eine Simplifizierungsökonomie bezeichnet werden können. Folgekonsequent wäre der Titel des vorliegenden Textes auch auf „Kontingenzmaschine Kunstwerk“ zu präzisieren.
56 Vgl. Heinz von Foerster: KybernEthik, Berlin 1993, S. 78.
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NIC LEONHARDT
NÄGEL MIT KÖPFEN? MEHR ODER WENIGER 95 ÜBERLEGUNGEN ZU DIGITALEN MANIFESTEN. EIN ESSAY
PROLOG: SCHRIFT AUF BAUWERK
Eine Person in Aktion, eine Holztür, ein Schriftstück, Hammer und Nagel. Über beinahe fünf Jahrhunderte hinweg halten sich Bild und Lesart, Martin Luther habe am Nachmittag des 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg genagelt. Zahlreiche Kupferstiche und Zeichnungen, Gemälde und Beschreibungen transportieren über die lange Zeitspanne dieses Bild des entschlossenen Gelehrten, wie er die Reformation einleitenden Gedanken auf Papier und an dem Bauwerk anbringt. Die Darstellungen sind stereotyp, sie halten den Augenblick fest, als Luther im Mönchsgewand und mit entschlossenem Blick den Zettel an der Tür fixierte. Das konkrete Bild verdankt sich möglicherweise der Überlieferung durch Philipp Melanchthon, der Luther viele Jahre eng begleitete. Kurz nach Luthers Tod gab er dessen Werke heraus und hielt die eindrückliche Szene im Vorwort seiner Edition fest: Luther habe, am Vortag des Festes Allerheiligen, die Ablassthesen an die Tür der Kirche nahe dem Witten-
ÜBERLEGUNGEN ZU DIGITALEN MANIFESTEN
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berger Schloss angeschlagen. Ob Luther wirklich mit Nagel und Hammer unterwegs war, wie behauptet wird, oder nicht, wird die Wirkung nicht schmälern, die seine Gedanken haben sollten.1 Selbst wenn die Darstellung Legende ist, bleibt die Manifestation der Worte starkes Bild und Icon der Reformationsgeschichte. Ich möchte mich in diesem Essay nicht weiter inhaltlich auf die Thesen beziehen, die Luther ersann. Vielmehr interessieren mich die Parameter der Thesen – verstanden als frühes Manifest – und ihrer Veröffentlichung, wie sie auch die Bebilderungen jener berühmten Szene und ihre Historiographie festhalten. Überliefert sind: eine Person, die eine Idee einer Bewegung oder Gruppe vertritt (Luther die Gedanken der Reformation, hier konkret die Kritik an den Ablass-Praktiken); ein konkretes Datum: der Tag vor Allerheiligen, beziehungsweise der 31. Oktober 1517; ein spezifischer Ort: Wittenberg, Schlosskirche, Eingangspforte; ein konkretes Medium: Papier, festgenagelt auf Holz (die Aktion ist auch als eine Referenz auf die Überlieferung der Zehn Gebote durch Moses auf dem Berg Sinai zu verstehen), das eine Botschaft zugänglich macht für eine Öffentlichkeit, um sie von etwas Neuem in Abkehr vom Vorherrschenden zu öffnen. Ein Manifest wird bekanntlich definiert als eine öffentliche Erklärung, eine politische Streitschrift, Stellungnahme, eine Flugschrift, ein Aufruf, als Darlegung eines politischen/ideologischen/ästhetischen Programms. Historiographisch sind Manifeste Quellentypen. Etymologisch gesehen leitet sich das Wort Manifest vom Lateinischen manifestus, beziehungsweise manufestus ab, das ‚augenscheinlich, offensichtlich‘ bedeutet, wörtlich ‚so deutlich, dass es sich mit der Hand greifen lässt‘. Luthers Thesen sind hierfür ein gutes Beispiel, auch wenn er sie nicht als Manifest bezeichnete (er spricht von disputatio beziehungsweise propositiones). Sie sind sicht- und greifbar; manifest performativ sind sie durch das sichtbare Verkünden und 1
Im Jahr 2006 wurde in der Jenaer Universitätsbibliothek ein neuerlicher Beleg für den Thesenanschlag gefunden. Er stammt von Luthers Zeitgenossen und Vertrauten Georg Rörer, dessen Notizen (anders als Melanchthons Ausführungen) noch zu Luthers Lebzeiten erschienen und die den Thesenanschlag bestätigen.
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NIC LEONHARDT
Festnageln. Aber auch im übertragenen Sinne sind Worte eines Manifests greifbar, indem sie leicht zu verstehen sind, kognitiv eingängig. Die Regeln des Teilens und der Zugänglichkeit von Wissen konstituieren die digitale Kultur. Auf der Seite Wikihow2 werden die weiter oben skizzierten analytischen Kriterien für ein Manifest zur Handlungsanleitung für das Verfassen von Manifesten in einem Tutorial mit dem Titel „Wie schreibe ich ein Manifest?“ gebündelt. In einfacher Sprache wird definiert, was ein Manifest ist: „Das Wort Manifest kommt aus dem Lateinischen und es bezeichnet etwas, das sehr klar und deutlich ist. Während die Länge und der Inhalt eines Manifests sich stark unterscheiden können, wird ein wohlformuliertes Manifest nicht nur einen Angriff auf eine Weltansicht darstellen, sondern auch ein praktisches Instrument, durch das konkrete Ziele sichtbar werden. Beim Verfassen eines Manifests solltest du all das vor Augen haben.“3 In bebilderten Abschnitten werden dann Schritt für Schritt die Vorgehensweise und rhetorischen Strategien erläutert, die es zum Verfassen eines wirkmächtigen Manifests braucht: - Beginne mit einer bedeutsamen Frage. - Denke an dein Publikum. - Brainstorme deine Ideen. - Stelle Recherchen an. - Schreibe einen Überblick. - Gib deine Identität und deine Absichten preis. - Beziehe eine These mit ein. - Erkläre deine Grundsätze in der Einleitung. - Gib einen Aktionsplan vor. - Arbeite deine Ideen einzeln heraus. - Sei präzise. - Schreibe auf jeden Fall eine Zusammenfassung. 2
http://de.wikihow.com/Ein-Manifest-schreiben [Abruf: 19.11.2016]..
3
Ebd.
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Wie gestalten sich aber neben dieser praktischen im Internet verfügbaren Anleitung zum Verfassen von Manifesten nun digitale Manifeste? Wie ist es um die Präsenz von Manifesten im World Wide Web bestellt? Welchen Stellenwert haben sie? Was sind überhaupt „digitale Manifeste“? FLUIDE MODERNE UND OFFENE NETZE? DREI SPIELFORMEN DIGITALER MANIFESTE
Meine Suche nach digitalen Manifesten im Internet – denn nur dort ist ihr Ort – ergab vorab skizziert folgendes: Zunächst einmal sind populäre Manifeste der Kunst- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als Digitalisate für jede Person online verfügbar und damit zugänglich. Sodann bleibt vorerst zu notieren, dass sich aus dem Bereich der visuellen und darstellenden Künste kaum digitale Manifeste ausmachen lassen. Digitale Manifeste lassen sich häufig im Bereich des Marketings und des Journalismus finden. Kunst- und Kulturschaffende jedoch scheinen von dem medial immanenten Potential der Streuung und Vernetzung noch nicht allzu regen Gebrauch zu machen, wenn es um die ‚Manifestation‘ neuer Ideen geht. Manifeste entfalten ihre Wirkung erst im Hinblick auf (eine Gruppe von) Adressaten; sowohl im Moment der Konzeption als auch hinsichtlich der Distribution über Medienkanäle. Die Konventionen, Wahrnehmungsweisen und das Wissen um die Informationskanäle der Adressaten ist von hoher Bedeutung, wenn es um die Verbreitung eines Manifestes geht. Manche Manifeste erreichen ihre Adressaten und bewerkstelligen, sie im Sinne des Festgehaltenen zu mobilisieren, manchen gelingt das nicht. In postmodernen Gesellschaften, die sich durch fluide Grenzen und instabile Strukturen auszeichnen, mögen Manifeste als ein antiquiertes Modell erscheinen, vorausgesetzt sie sollen agitativ wirken. Einerseits sind die Möglichkeiten, Manifeste zu verbreiten, so ausdifferenziert wie nie zuvor in der Kultur- und Mediengeschichte. Andererseits lassen sich Einbußen in der Wirkkraft von Manifesten erwarten in einer Gesellschaft, in der ‚anything goes‘. Wir wissen über die künstlerischen Manifeste beispielsweise der Avantgarde-Bewegungen, dass sie für Aufruhr sorgten, Tabus wissentlich zu brechen im Stande waren, mindestens zu Diskussionen angeregt haben,
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imperativ oder adhortativ wirkten und auch politische Agitation anregten. In einer solchen Radikalität, so ließe sich behaupten, können Manifeste heute nicht mehr wirken, weil sie stärker definierte Grenzziehungen verlangen, konkretere Positionierungen, von denen Abgrenzungen möglich sind. Die ‚Liquidität‘, von der Zygmunt Bauman spricht, die ‚Flexibilität‘, wie sie in ähnlicher Weise Richard Sennett benennt (siehe unten), manifestieren sich durch eine Installierung von Flexibilität als Währung, durch lockere Grenzen eher als durch starre Kategorisierung und Grenzziehung – und genau diese Volatilität und (individualpsychologische) Haltlosigkeit kann wiederum zum kritischen Gegenstand von Manifesten taugen. Im Folgenden möchte ich zur Sortierung digitaler Manifeste drei Unterordnungen vorschlagen, nämlich 1) Digitale Manifeste verstanden als Digitalisierungen vormals gedruckter oder anderweitig publizierter Manifeste, 2) digitale Manifeste als Diskurs(-anstöße) über digitale Kultur und 3) digitale Manifeste als Spielfelder und Reflexionsräume für den kreativen Umgang mit den Möglichkeiten digitaler Technologie in Künsten und Medien. Die Grenzen zwischen diesen drei Gruppen können fluid sein, Relationalität und Intertextualität sind digitaler Vernetzung bekanntlich eigen. Voranschicken möchte ich, dass dieser Essay nur heuristisch ‚Nägel mit Köpfen‘ machen kann. Die diskutierten Beispiele können nur Momentaufnahmen sein, sie sind notwendigerweise selektiv, indem sie Schlaglichter werfen auf den jüngst vergangenen und gegenwärtigen Umgang mit Manifesten im digitalen Zeitalter. Dieser kann sich morgen schon anders gestalten.
1. DIGITALE MANIFESTE ALS MANIFESTE DIGITALISATE
Digitale Manifeste sind Digitalisate ehemals auf Papier veröffentlichter Manifeste der Kunst-, Politik- und Kulturgeschichte. Es hat in den vergangenen Jahren einen regelrechten Schwung an Digitalisierungsinitiativen großer Bibliotheken, Sammlungen und Verlagshäuser gegeben, die kanonische und populäre Texte, insbesondere bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, digitalisieren und für die allgemeine Nutzung im Netz verfügbar machen. Auch Manifeste, politische, künstlerische und andere finden sich
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gezielt und sind wertvolle online-Quellen.4 Sie sind frei zugänglich und recherchierbar, teilbar, annotierbar, kommentierbar.5 Fachforen halten wie in einer ‚begehbaren‘ Enzyklopädie Verweise und Kontextualisierungen über künstlerische und politische Bewegungen und ihre jeweiligen Protagonisten, Einflüsse und eben auch theoretische Schriften und Manifeste bereit. Diese Digitalisate bedeuten nicht nur eine instantane Verfügbarkeit des (historischen) Materials, sondern ermöglichen auch komparatistische Studien, historiographische Arbeit, kuratorische Überlegungen am und mit dem Material. Die digitale Streuung macht auch die älteren Schriften in zuvor nicht da gewesener Reichweite verfügbar – wenngleich ihre Wirkung nicht exponentiell steigt. Dirk von Gehlen schreibt in Eine neue Version ist verfügbar. Wie die Digitalisierung Kunst und Kultur verändert (2013), dass der dominierende Blick auf das Digitale, der „die neuen Möglichkeiten lediglich als erweiterte Abspielfläche für die gleichen Inhalte versteht“, nicht weiterbringe. Es sei ein Trugschluss, anstelle von „Papier-Vertrieb oder terrestrische[n] Rundfunkfrequenzen“ nun das Internet als Vertriebsweg zu begreifen.6 Sich auf die häufig verwendete Metapher des Fluiden und des Aggregatzustandes zur Beschreibung der ‚liquiden Moderne‘ (Zygmunt Bauman) und der durch die digitale Technologie beförderten (transnationalen oder globalen) ‚flows‘ (Ulf Hannerz) beziehend, schlägt von Gehlen vor, digitalisierte Inhalte in ihren „neuen klimatischen Bedingungen“ zu sehen, sie in der „Veränderung ihres Aggregatzustandes“ zu betrachten: „Um also zu verstehen, wie man mit digitalisierten Inhalten umgehen kann, muss man diesen Klimawandel verstehen. Man muss Kultur weniger als Produkt, sondern mehr als Prozess denken, in dem nicht einzig ein robustes Werkstück, sondern die Entstehungsversionen eine Rolle spielen.“7 Bestehende, anderswo publizierte Manifeste zu digitalisieren und sie beinahe unbegrenzt einer Leserschaft zur Verfügung zu stellen, ist das eine. Ein anderes ist es, die Herausforderungen der Digitalisierung zu verhandeln und ihre Möglichkeiten auszuloten. 4
Vgl. z. B. http://www.391.org/manifestos; http://www.manifestos.net/ [Abrufe: 19.11.2016].
5
http://www.kunstzitate.de/bildendekunst/manifeste/kuenstlermanifeste.htm [Abruf: 14.11.2016].
6
Dirk von Gehlen: Eine neue Version ist verfügbar. Wie die Digitalisierung Kunst und Kultur verändert, Berlin 2013, S. 9.
7
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Ebd., S. 9 f.
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2. DIGITALE MANIFESTE ALS DISKURS(-ANSTÖSSE) ÜBER DIGITALE KULTUR
Digitale Manifeste sind Manifeste, die die digitale Kultur und Digitalisierung zum (kritischen) Gegenstand haben; sie sind in hohem Maße auch intertextuell und medial relational. In Referenz auf Luthers 95 Thesen veröffentlichten 1999, noch vor der Dotcom-Blase8, vier Autoren9 das Cluetrain-Manifest10, eine digitale Streitschrift, die 95 Punkte versammelt, welche die Verfahrensweisen und Rhetoriken zeitgenössischer Märkte anprangern. Schon bald nach seinem viralen Erscheinen kam das Manifest auch als Buch heraus unter dem Titel Das Cluetrain Manifest. 95 Thesen für die neue Unternehmenskultur im digitalen Zeitalter11. Im Zentrum der Kritik stehen die im Marketing und in der Welt der Märkte verbreitete Interpretation des Menschen als Konsument12 sowie die ‚Zerfaserung‘ und mangelnde Greifbarkeit der ökonomischen Umschlagplätze in der digitalen Welt.13 Die ersten 10 der 95 Thesen nehmen die Möglichkeiten digitaler Vernetzung ernst, deuten sie aber konstruktiv aus der Perspektive des Menschen, des Individuums. Damit sind die Thesen als Beitrag zu verstehen, 8
Aus den frühen Jahren des Internets sei hier auch noch auf das GNU Manifest hingewiesen, das bereits 1985 von Richard Stallman verfasst wurde: https://www.gnu.org/gnu/manifesto.de.html [Abruf: 19.11.2016]. In diesem Manifest rief der Software-Entwickler und Aktivist Stallman zur Teilnahme und Unterstützung im Prozess der Programmierung der freien Software GNU auf. Anstoß und Motivator zum Verfassen des Manifests war die zunehmende Kommerzialisierung von Software und die Macht großer Technologie-Institute wie etwa des MIT. Statt Kontrolle repräsentiert das GNU-Manifest die Idee der vier Freiheiten der allein durch den Nutzer gesteuerten Nutzung, Untersuchung, Weiterleitung/Teilung und Modifikation. Ich danke an dieser Stelle Axel Podehl für den Hinweis auf GNU.
9
Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls, David Weinberger.
10 http://www.cluetrain.com/auf-deutsch.html [Abruf: 15.11.2016]. Ich danke an dieser Stelle Sven Lackmann für den Hinweis auf Cluetrain 11
Rick Levine, Christopher Locke und Doc Searls: Das Cluetrain Manifest. 95 Thesen für die neue Unternehmenskultur im digitalen Zeitalter, Berlin 2000.
12
„Wir sind keine Zuschauer oder Empfänger oder Endverbraucher oder Konsumenten. Wir sind Menschen – und unser Einfluß entzieht sich eurem Zugriff.“ http://www.cluetrain.com/aufdeutsch.html [Abruf: 16.11.2016].
13
„Vernetzte Märkte beginnen sich schneller selbst zu organisieren als die Unternehmen, die sie traditionell beliefert haben. Mithilfe des Webs werden Märkte besser informiert, intelligenter und fordernder hinsichtlich der Charaktereigenschaften, die den meisten Organisationen noch fehlen.“ http://www.cluetrain.com/auf-deutsch.html [Abruf: 16.11.2016].
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wie Märkte, aber auch Kommunikation über digitale Medien und in digitalen Medien generell, transparent und ethisch operabel sein können. 1. Märkte sind Gespräche. 2. Die Märkte bestehen aus Menschen, nicht aus demographischen
Segmenten. 3. Gespräche zwischen Menschen klingen menschlich. Sie werden in
einer menschlichen Stimme geführt. 4. Ob es darum geht, Informationen oder Meinungen auszutauschen, Standpunkte zu vertreten, zu argumentieren oder Anekdoten zu verbreiten – die menschliche Stimme ist offen, natürlich und unprätentiös. 5. Menschen erkennen sich am Klang dieser Stimme. 6. Das Internet ermöglicht Gespräche zwischen Menschen, die im Zeitalter der Massenmedien unmöglich waren. 7. Hyperlinks untergraben Hierarchien. 8. Sowohl in intervernetzten Märkten als auch in intravernetzten Unternehmen sprechen Menschen miteinander auf eine machtvolle neue Art. 9. Diese vernetzten Gespräche ermöglichen es, daß sich machtvolle neue Formen sozialer Organisation und des Austauschs von Wissen entfalten. 10 . Als Resultat dieser Entwicklung werden Märkte intelligenter, besser informiert und besser organisiert. Die Teilnahme an den vernetzten Märkten verändert die Menschen grundlegend.14 Der Sprachstil des Manifests schwankt zwischen vieldeutig poetisch15 und pointiert imperativisch oder adhortativ. Die Rezeption des Cluetrain war widersprüchlich, mal polemisch ablehnend, dann respektvoll unterstrei14
http://www.cluetrain.com/auf-deutsch.html [Abruf: 15.11.2016].
15
Vgl. etwa „Der Himmel ist übersät mit Sternen. Wolken ziehen über uns am Tag und in der Nacht. Ozeane senken und heben sich. Was immer ihr gehört habt, dies ist unsere Welt, der Platz, an dem wir leben. Was immer man euch erzählt hat, unsere Freiheit kann man uns nicht nehmen. Unser Herz hört nicht auf zu schlagen. Menschen der Erde, erinnert euch.“ Cluetrain-Manifest, http://www.cluetrain.com/auf-deutsch.html [Abruf: 15.11.2016].
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chend. Am 8. Januar 2015 wurde von Doc Searls und David Weinberger eine neue, nun 121 Thesen umfassende Revision unternommen.16 Die Möglichkeiten ebenso wie die Schattenseiten und das Unbehagen gegenüber digitalen Medien und Kommunikationswegen waren Ausgangspunkte für die Konzeption von Das Slow Media Manifest unter Federführung von Benedikt Köhler, Sabria David und Jörg Blumtritt, unterzeichnet in Stockdorf und Bonn am 2. Januar 2010. Das Logo der Initiative schmückt eine – ähnlich dem Pegasus – beflügelte Schildkröte, die sich auf dem Flug über das Wasser zwischen zwei Gebirgszügen befindet. Das Emblem ist überschrieben mit „amor addidit“.17 In den einleitenden Worten zum Manifest auf der Website www. slow-media.net/manifest heißt es: „Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, den so genannten Nuller-Jahren, haben sich die technologischen Grundlagen der Medienlandschaft tiefgreifend verändert: die wichtigsten Schlagworte lauten: Vernetzung, Internet und soziale Medien. Im zweiten Jahrzehnt wird es weniger darum gehen, neue Technologien zu finden, die das Produzieren von Inhalten noch leichter, schneller und kostengünstiger gestalten. Stattdessen wird es darum gehen, angemessene Reaktionen auf diese Medienrevolution zu entwickeln – sie politisch, kulturell und gesellschaftlich zu integrieren und konstruktiv zu nutzen. Das Konzept „Slow“ – Slow wie in Slow Food und nicht wie in Slow Down – ist ein wichtiger Schlüssel hierfür. Analog zu Slow Food geht es bei Slow Media nicht um schnelle Konsumierbarkeit, sondern um Aufmerksamkeit bei der Wahl der Zutaten und um Konzentration in der Zubereitung. Slow Media sind auch einladend und gastfreundlich. Sie teilen gerne.“18 16
Siehe auch https://www.brandeins.de/archiv/2015/marketing/ [Abruf: 19.11.2016].
17
Das Lemma ließe sich im Kontext des Icons verstehen als eine verkürzte Form von „amor addidit alas“ (die Liebe verleiht Flügel), das als Emblem eines Salernitanischen Fürsten in Symbolographien und Enblemverzeichnissen um 1700 angeführt wird. Diese verbreitete Devise „amor addidit“ ziert andererseits auch das Storchen-Emblem einer italienischen Bomberstaffel. Im Kontext eines Adorno-Zitats zur „Geduld und Ausdauer des Verweilens beim Einzelnen“ wird hier das Bild paradox und ambivalent perspektiviert (ich danke Thomas Betz für die Hinweise). Zur Illustrationsgeschichte des international verbreiteten Manifests vgl. den Tag von Sabria David: Eine kleine Ikonographie der Slow Media, 23.7.2010, http://www.slow-media.net/tag/slow-media [Abruf: 19.11.2016].
18 http://www.slow-media.net/manifest [Abruf: 19.11.2016].
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Es geht hier also weniger um die technischen Voraussetzungen als um eine gesellschaftliche Nutzung digitaler Medien und Plattformen. Im Sinne eines konstruktiven Umgangs mit ihnen besteht die rhetorische Operation des Manifests darin, Vorurteile, Vorwürfe und Bedenken, auch Missbrauch der und durch digitale Medien und Plattformen diametral zu kehren. Negativa werden in vierzehn Thesen in Positiva gewandelt: 1. Slow Media sind ein Beitrag zur Nachhaltigkeit 2. Slow Media fördern Monotasking 3. Slow Media zielen auf Perfektionierung 4. Slow Media machen Qualität spürbar 5. Slow Media fördern Prosumenten – Menschen, die aktiv 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
bestimmen, was und wie sie konsumieren und produzieren wollen Slow Media sind diskursiv und dialogisch Slow Media sind soziale Medien Slow Media nehmen ihre Nutzer ernst Slow Media werden empfohlen statt beworben Slow Media sind zeitlos Slow Media sind auratisch Slow Media sind progressiv, nicht reaktionär Slow Media setzen auf Qualität – sowohl in der Produktion wie bei der Rezeption von Medieninhalten Slow Media werben um Vertrauen und nehmen sich Zeit, glaubwürdig zu sein. Hinter Slow Media stehen echte Menschen. Und das merkt man auch.
Wie Benedikt Köhler, einer der Autoren des Manifests, in einem Interview formulierte, sei das Programm keine „Ausrede, dass die alten Medien so bleiben können, wie sie sind“; vielmehr sei es als eine Art Sonde zu verstehen, die die Qualität der Medien ins Visier nähme. Das Manifest verstehe sich nicht als generelle Antwort auf die Frage, wie in Journalismus und Kommunikation, aber auch in allgemeineren Bereichen des Dialogs über 19
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https://www.youtube.com/watch?v=VQZoJcCT98k (ab Minute 4:44) [Abruf: 19.11.2016].
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digitale Medien intersubjektiv, informiert und qualitativ gehandelt werden könne, sondern sei mehr ein Anstoß dafür.19 Interessant ist hier, dass sich das Slow Media Manifest auch institutionell aufgestellt hat, in Form nämlich des „Slow Media Institutes“ und eines Slow Media Blogs. Der Manifest-Text ist mittlerweile in acht unterschiedlichen Sprachen verfügbar, die Website informiert zudem über die mittlerweile globale Resonanz, die das Manifest erfährt und die den Diskurs weiterbestimmt. Der Übergang zwischen dieser Zuordnung digitaler Manifeste als Diskurs-(anstöße) über digitale Kultur und der nachfolgend beschriebenen als Spielfelder und Reflexionsräume sind fließend.
3. DIGITALE MANIFESTE ALS SPIELFELDER UND REFLEXIONSRÄUME FÜR DEN KREATIVEN UMGANG MIT DEN MÖGLICHKEITEN DIGITALER TECHNOLOGIE IN KÜNSTEN UND MEDIEN
Als digitale Manifeste lassen sich auch Versuche benennen, die Eigenschaften digitaler Medien in die jeweiligen Kunstformen und Kulturpraktiken zu implementieren, sozusagen in einem Verständnis von Intermedialiät als Übernahme medialer Konventionen und Seh-/Wahrnehmungsgewohnheiten eines Mediums in ein anderes. Die Futuristen, wie andere Avantgardisten auch, inkorporierten etwa neue Maschinen, technoide Figuren und Objekte in ihre Arbeiten20, und diese Einbeziehung mechanischer Elemente und neuer Technologien war die logische Umsetzung der in den Manifesten geäußerten Idee, sämtliche Traditionalismen zugunsten der Orientierung an der Moderne ad acta zu legen. Gleichzeitig hatte ihre Verwendung die Reflexion und Kritik an bisherigen künstlerischen und theatralen Konventionen implizit. Martin Puchner hat in seinem Überblick Poetry of the Revolution. Marx. Manifestos, and the Avant-Gardes (2006) die zahlreichen künstlerischen Manifeste zusammengetragen, die im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts für Störung und Konsens, für Innovation und Revolte sorgten. Die Pluralität 20 Etwa das Lokomotiven-Ballett von Fortunato Depero (1924) oder Enrico Prampolinis Teatro magnetico (1925), eine Apparatur mit elektromagnetisch angetriebenen Leuchtkörpern, Lautmaschinen und Projektionen.
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der Avant-Gardes im Titel ist berechtigt. Puchner zeigt auch auf, dass die Manifeste durch die engen Netzwerke der jeweiligen Künstler verbreitet wurden, lange bevor digitale Plattformen und Infrastrukturen diesen Austausch medial ermöglichten. Der Dichter und Journalist Filippo Tommaso Marinetti beispielsweise erwies bei der Verbreitung des Manifeste du Futurisme durchaus Kenntnisse und Fertigkeiten in demjenigen Bereich, den man wohl heutzutage am ehesten mit ‚Public Relations‘ benennen würde. Das erste futuristische Manifest wurde unter seiner Federführung am 20. Februar 1909 von der französischen Tageszeitung Le Figaro veröffentlicht; es beinhaltet eine vehemente Kritik an der (künstlerischen) Orientierung an der Vergangenheit und proklamiert demgegenüber die Idee des Fortschritts und den Einbezug technischer Errungenschaften, der Maschinen als Zeichen der modernen Zeit. Ist die Avantgarde generell charakterisiert durch die Äußerung von neuen Ideen und Kritik an der Tradition in Form von Manifesten, so erregen insbesondere die Manifeste der Futuristen (ein Merkmal dieser Bewegung ist gerade auch die Vielzahl der Manifeste) an verschiedenen Orten Europas besondere Aufmerksamkeit, was sich auch der Streuung der Künstler und ihrer provokanten Agitationen und Auftritte verdankt.21 Relativ genau ein Jahrhundert später fordert die Digitalisierung Künstler, Theater- und Medienschaffende heraus. Vielleicht sogar in einem Maße, das dem der Avantgarde vergleichbar ist. Digitale Technologie vermag zu reproduzieren, entführt Betrachter und Zuschauer in virtuelle Umgebun-
21
„Mit der Entdeckung der Aktion als neuem Medium gewannen die Futuristen der Kunst eine bis dahin unbekannte Wirkungsmöglichkeit: das Aufrütteln aus geistiger und seelischer Lethargie durch gezielte Provokation. Neben die mittelbare Kommunikation über das von seinem Schöpfer abgelöste Werk, über ein Gedicht oder ein Bild, trat nun die direkte Begegnung zwischen dem Künstler und seinem Publikum. Die Literatur und vor allem die bildende Kunst erfuhren auf diese Weise eine Erweiterung ins Theatrale. Seit dem Futurismus ist dieses Moment, verbunden mit der Hoffnung auf eine Annäherung von Kunst und Leben, immer wieder in Erscheinung getreten, besonders intensiv im Dadaismus sowie in der Aktionskunst der sechziger und siebziger Jahre.“ Peter Simhandl: Theatergeschichte in einem Band, 2. Aufl., Berlin 2001, S. 371.
22 Bill Blake: Theatre & The Digital, New York 2014, S. ix. Vgl. zum Themenkomplex auch Steve Dixon: Digital Performance. A History of New Media in Theater, Dance, Performance Art, and Installation, Cambridge, MA/London 2007; Sarah Bay-Cheng u. a. (Hg.): Mapping Intermediality in Performance, Amsterdam 2010; Matthew Causey: Theatre and Performance in Digital Culture. From Simulation to Embeddedness, London 2006.
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gen oder verschmilzt die ‚äußere Wirklichkeit‘ mit der virtuellen/dargestellten in so genannten erweiterten (‚augmented‘) Realitäten. Die vier fundamentalen theatralen Parameter, wie sie Peter Brook einst als konstitutiv für das Theater identifizierte: „the performer, the audience member, at this particular place and in this particular time – are all challenged in a world that is networked“, notiert Bill Blake in Theatre & The Digital (2014).22 Auf einer strukturellen, mediengeschichtlichen Ebene sind solche Konfrontationen der bildenden und darstellenden Künste mit neuen Technologien nicht wirklich neu. Vielmehr gehören Medienwechsel, Intertextualität und Re-Mediation zur Geschichte der Künste hinzu. Für die darstellenden Künste hält beispielsweise Bill Blake fest: „When we consider the digital in the context of theatre, it may be most productive to focus in on the most significant and disruptive elements that it brings to bear on the artform. Theatre has prized itself as an interactive artform, especially in opposition to the cinema and television as each technological upstart usurped the stage from which it sprang. However, the most significant characteristic of the ‘digital revolution’ is an explosive new amount of interaction and participation that is profoundly different in volume and character from what has gone before. It poses new challenges for theatre that are only beginning to be understood. It offers new audiences and new communities. And it demands new forms of performance and new spaces to show it in.“23 Das Fachblatt Deutsche Bühne edierte 2015 (Jg. 86, Heft 6) ein Themenheft, in dem die zunehmende ‚Digitalisierung‘ von Theater multivokal diskutiert wurde. Betitelt mit „Geht Theater auch digital?“ reichten die besprochenen Beispiele von auf der Bühne installierten und in den szenischen Ablauf integrierten digitalen Medien über digitale Live-Streams von Aufführungen hin zur Verwendung von sozialen Medien in und während der Aufführungen.24 Die Redaktion des Hefts hatte Stimmen der Schauspieler, 23 Blake 2015 (wie Anm. 22), S. ix. 24 Als ein Beispiel kann hier die Live-Kritik unter Verwendung des Messenger-Diensts WhatsApp in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen in der Regie von Peter Carp am Theater Oberhausen (Premiere: 27. März 2015) genannt werden: http://www.die-deutsche-buehne.de/ Kritiken/Schauspiel/Elfriede+Jelinek+Die+Schutzbefohlenen/Jelinek-Kammerspiel [Abruf: 19.11.2016].
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Zuschauer und Theatermacher eingefangen, deren Stellungnahmen zur Frage, ob Theater heute digital sei/sein müsse, sehr heterogen ausfielen. Unter dem Kapitel „Total digital, radikal theatral: Die virtuelle Ästhetik am Schauspiel Dortmund“ informierte das Heft ausgiebig über die aktuellen Inszenierungen und ästhetischen Marschrouten des Hauses unter der Intendanz von Kay Voges. Hier wurde 2013 ein Manifest entworfen, das so genannte Dogma 20_13. Meines Wissens ist dies eines der wenigen, wenn nicht das einzige zeitgenössische Theater-Manifest, das sich explizit und mehr noch implizit auf die Herausforderungen der darstellenden Künste durch neue Medien bezieht. Formuliert wurde Dogma 20_13 von Kay Voges und dem Dramaturgen Alexander Kerlin; der Titel des Manifests verbirgt nicht die Referenz zu Lars von Triers Dogma von 1995; es ist gleichzeitig auch als ironischer Seitenhieb zu lesen: „DOGMA 95 wurde eine Marke auf dem Markt. Die Beschränkung der Mittel erzeugte kurzfristige Freiheit, die der zunehmenden Entfremdung im Kino aber nichts Nachhaltiges entgegenzusetzen wusste. Das Ziel stimmte, aber nicht die Mittel. [...] DOGMA 95 war der Aufbruch in eine Sackgasse, weil Filmkonventionen wie Montage, massenhafte Distribution und von Menschen bediente Kameras nicht radikal infrage gestellt wurden. [...] Heute ist der Film tot. Die digitalen Medien haben ihn in eisiger Koalition mit dem Fernsehen erdolcht. [...] Heute erfährt der Film seine Auferstehung im Theater. Einst raubte der Film den Kunstwerken ihre Aura, nun ist es an der Zeit, dem Film selbst eine Aura im Hier und Jetzt 25 DOGMA 20_13. Dortmunder Manifest, https://www.theaterdo.de/uploads/events/downloads/ DOGMA_20_13.pdf [Abruf: 16.11.2016]. Siehe hierzu auch den Artikel „Zum Geburtstag viel Dogma“ von Geraldine Gau (29.9.2014): „Auf der einen Seite stellt dieses Manifest eine ironische Überhöhung seines Vorgängers dar. Manche Regeln bilden eine direkte Antithese zum Dogma 95. Während die Handkamera dort eine personale Sicht imitiert, darf auf der Bühne nur eine maschinell gesteuerte Kamera fungieren, die von den Schauspielern nicht beeinflussbar ist und damit Objektivität zumindest suggeriert. Auf der anderen Seite wird hier die Zukunft von Kino und Theater, auch nicht ohne ein Augenzwinkern, verhandelt. Es stellt sich die Frage, ob beide Künste nur noch in Verbindung existieren können und als Einzeldisziplinen obsolet geworden sind. Der Film, so besagt das neue Manifest, erfährt seine Auferstehung im Theater. Er ist gleichermaßen Motion Picture und Life-Performance.“ https://literaturundfeuilleton.wordpress. com/2014/09/29/zum-geburtstag-viel-dogma/ [Abruf: 19.11.2016].
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zu verschaffen. Das wahre Kino der Zukunft und das wahre Theater der Zukunft ist eins!“25 Was Voges und Kerlin anbieten, ist sozusagen ein durch eine gemeinsame „Bedrohung“ durch digitale Medien und Möglichkeiten hervorgebrachter Schulterschluss von Theater und Film, wobei Theater als Ort der angemessenen Umsetzung der Kooperation vorausgesetzt wird. Die im oben wiedergegebenen Abschnitt des Manifests geäußerte Kritik an Lars von Triers Dogma – das Ziel habe gestimmt, nicht aber die Mittel –, greifen Voges und Kerlin auf zur Konstruktion ihres neuen Dogmas, indem sie Montage, Edition, Ausschnitte und nachträgliche Schnitte et cetera ablehnen zugunsten einer vollkommenen Transparenz des Herstellungsvorgangs. Punkt 1 des Manifests lautet dementsprechend: „Die Dreharbeiten dürfen nur dort stattfinden, wo die Zuschauer anwesend sind“, Punkt 2: „Niemals verwenden wir vorproduziertes Bildmaterial. Alle Bilder werden im Augenblick hergestellt“ und Punkt 3 „Es darf keine Schnitte und kein Kameraauge mehr geben. Die Schauspieler erhalten die Macht über die Bilder zurück, die sie vor undenklichen Zeiten an die Monteure verloren haben.“26 Diese Punkte des Manifests nehmen, wie erwähnt, kritisch Bezug auf die monierte Inkonsequenz in von Triers Dogmas; sie referieren aber auch auf die Intransparenz der Produktion im Kontext digitaler Kultur. Um noch einmal Blake zu zitieren: „The conventions for how we articulate arts values and promote our cultural work, for instance, are being reshaped right before our eyes, though much of this reshaping seems to be going unnoticed, or at least
26 DOGMA_20_13 (wie Anm. 25). Weitere Punkte des insgesamt zwölf Prämissen umfassenden Manifests lauten: 4. Das Kameraauge darf niemals von Menschen bedient werden, 5. Das Kameraauge hält niemals still. Niemals. Die Erde friert ja auch nicht plötzlich ein; 6. Die Kulissen dürfen ausschließlich durch die Schauspieler bewegt werden und niemals den Eindruck von Naturalismus erzeugen. Das Leben ist hart, die Kulissen sind weich. Technische Manipulationen der Bildgestaltung [...] sind absolut unzulässig; 7. Die Vertonung muss live geschehen; 8. Die Musik durchweht Kulissen und Robotik, transzendiert sie und hebt das Kunstwerk auf eine höhere Wirklichkeitsstufe; 9. Morde, Waffen, Gewalt und explizite Sexualität sind zulässig, wenn sie der Veranschaulichung makrokosmischer Zusammenhänge dienen; 10. Kinder gehören nicht auf die Bühne. Gutes Schauspiel ist auch immer Kinderspiel; 11. Es darf kein Tageslicht verwendet werden; 12. Der Name des Regisseurs darf niemals in Vergessenheit geraten.
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unremarked, even by those who happen to adopt the new rhetoric themselves. “ Die Herstellung des Gezeigten mitzudenken und zu zeigen, ruft Dogma_2013 auf den Plan. Das ‚Digitale selbst‘, wenn dieser komplexe Singular überhaupt haltbar ist, lässt sich nicht festzurren. What our theatre culture is responding to with respect to the digital is just as uncertain as how it is responding“, so Blake.27 Wenn sich digitale Manifeste auch als Spiel- und Reflexionsräume von (digitaler) Kultur beschreiben lassen, wie sehen weitere Umgangsformen der Kritik mit digitalen Mitteln aus? In meinen Eingangsbemerkungen habe ich die ‚Fluidität‘, die Dynamiken und Flexibilitäten der Gegenwart und ihre Entsprechung in den technologischen Voraussetzungen der digitalen Kulturen skizziert und behauptet, dass die durch diese Fluidität hervorgerufene Haltlosigkeit selbst zum kritischen Gegenstand von Manifesten taugen kann. Empört euch!, titelt etwa Stéphane Hessel, 2010; ein Manifest der Vielen publiziert Hilal Sezgin, 2011. Manifest-Charakter lässt sich auch dem Hashtag #aufschrei! zuschreiben, der zu Beginn des Jahres 2013 auf der Social-Media-Plattform Twitter kursierte und eine bis dahin nicht dagewesene sozialmediale Debatte über Sexismus im Alltag zum Gegenstand hatte. Initiatorin des Hashtags war unter anderem die Feministin Anne Wizorek; die Diskussionen fanden medienübergreifend und -vernetzend statt. #aufschrei erhielt 2013 in der Kategorie „Spezial“ den Grimme Online Award. Ausgezeichnet wurden all diejenigen, die sich an dem Hashtag beteiligt hatten, indem sie ihn weiter verbreiteten. In der Begründung der Jury wurden den neuen technologischen Möglichkeiten des schnellen Verbreitens von Ideen und Ideologiekritik über Grenzen hinweg und die demokratische Beteiligung vieler Stimmen über digitale Medien besonderer Stellenwert und Potential zugeschrieben: „Ausgezeichnet wird eine gesamtgesellschaftlich in aller Breite geführte Diskussion, die im Web mitgezündet wurde, bei Twitter unter dem Hashtag #aufschrei an Dynamik gewann, sämtliche Mediengrenzen übersprang. Und bis heute Menschen in ganz Deutschland (und darüber hinaus) bewegt. Die Gewinner des Grimme Online Award 2013 in der Kategorie Spe-
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zial sind folgerichtig viele: All jene Hashtag-Nutzer, die die Problematik des existierenden Alltagssexismus konstruktiv diskutiert haben. Die damit neue Blickwinkel und Handlungsoptionen eröffnet haben – online wie offline [...]. Dabei belegt #aufschrei eindrucksvoll, wie der Brückenschlag zwischen digitalem Resonanzraum und arrondierenden publizistischen Leistungen gelingen kann. Der Wunsch der Jury, die diese Nominierung intensiv diskutierte: Weitere gesellschaftlich virulente Themen sollen eine digitale Diskussionsheimat finden, gestützt von einer neuen, verzahnten On- und Offline-Debattenkultur. Groß ist die Chance, dass Einzelpersonen diesen Themen dank Hashtagging gemeinsam ein Gesicht und in der Vielzahl Gewicht geben.“28 Aufgrund digitaler Technologien sind die Rollenzuweisungen, dies wurde mehrfach deutlich, nicht immer eindeutig: Autoren sind auch Rezipienten, Journalisten können Bürgerjournalisten sein, User sind nicht nur Konsumierende, sondern auch Prosumer. Auf der Ebene des Journalismus haben als Antwort auf diese Verschiebungen oder auch Uneindeutigkeiten des, wenn man so will, ‚Who is Who im World Wide Web‘ fünfzehn Autoren29, darunter Journalisten und Blogger, das so genannte Internet-Manifest verfasst. Gezeichnet wurde es am 7. September 2009, als Zeichnungsort ist angegeben: „Internet“.30 Der letzte Punkt der insgesamt 17 Punkte umfassenden Thesen, überschrieben mit „Alle für Alle“, beziffert recht augenfällig die Agenda des Manifests: „Das Web stellt eine den Massenmedien des 20. Jahrhunderts überlegene Infrastruktur für den gesellschaftlichen Austausch dar: Die ‚Generation Wikipedia‘ weiß im Zweifel die Glaubwürdigkeit einer Quelle abzuschätzen, 27 Blake 2014 (wie Anm. 22), S. 11 28 http://www.grimme-institut.de/html/index.php?id=1667#c10914 [Abruf: 19.11.2016]. 29 Die Unterzeichner sind: Markus Beckedahl, Mercedes Bunz, Julius Endert, Johnny Haeusler, Thomas Knüwer, Sascha Lobo, Robin Meyer-Lucht, Wolfgang Michal, Stefan Niggemeier, Kathrin Passig, Janko Röttgers, Peter Schink, Mario Sixtus, Peter Stawowy, Fiete Stegers. Es stellt sich die Frage, warum der Frauenanteil der Unterzeichner (und in der Digitalbranche generell) so gering ausfällt. 30 http://www.internet-manifest.de/ [Abruf: 19.11.2016].
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Nachrichten bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen und zu recherchieren, zu überprüfen und zu gewichten – für sich oder in der Gruppe. Journalisten mit Standesdünkel und ohne den Willen, diese Fähigkeiten zu respektieren, werden von diesen Nutzern nicht ernst genommen. Zu Recht. Das Internet macht es möglich, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die man einst Leser, Zuhörer oder Zuschauer nannte – und ihr Wissen zu nutzen. Nicht der besserwissende, sondern der kommunizierende und hinterfragende Journalist ist gefragt.“ Die übrigen Prämissen lauten wie folgt: 1. Das Internet ist anders. 2. Das Internet ist ein Medienimperium in der Jackentasche. 3. Das Internet ist die Gesellschaft ist das Internet. 4. Die Freiheit des Internet ist unantastbar. 5. Das Internet ist der Sieg der Information. 6. Das Internet verbessert den Journalismus. 7. Das Netz verlangt Vernetzung. 8. Links lohnen, Zitate zieren. 9. Das Internet ist der neue Ort für den politischen Diskurs. 10. Die neue Pressefreiheit heißt Meinungsfreiheit. 11. Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information. 12. Tradition ist kein Geschäftsmodell. 13. Im Internet wird das Urheberrecht zur Bürgerpflicht. 14. Das Internet kennt viele Währungen. 15. Was im Netz ist, bleibt im Netz. 16. Qualität bleibt die wichtigste Qualität.
Auf der Website des Manifests (www.internet-manifest.de) sind Übersetzungen in mehrere Sprachen zu lesen; ebenso gesammelte Kommentare und Hinweise auf die Rezeption des Manifests. Neueren Datums ist ein „Beipackzettel“ eines der Ur-Verfassers der Schrift, Stefan Niggemeier, in dem er noch einmal die Absichten, die Motivationen des Manifests und die Adressaten darlegt. Letztere, so räumt er ein, habe das Team beim Verfas-
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sen des Manifests zu wenig im Auge behalten, so dass von Gleichgesinnten die vermeintliche Überheblichkeit der Verfasser arg kritisiert wurde.31 In den hier skizzierten Beispielen wird noch einmal deutlich, dass Manifesten auch etwas Normatives, Präskriptives anhaftet, was durch den Imperativ oder Adhortativ noch verstärkt wird. Die Sprache von Manifesten ist janusköpfig: sie beschreibt (mehr oder weniger) deutlich und in Abgrenzung (vom Alten, Bestehenden) und verhilft zu Orientierung; sie schreibt aber auch vor und produziert damit Abgrenzung und Ausschluss.
EPILOG: SCHRIFT AUF BAUWERK ALS BILD: MANIFESTO
Eine Person in Aktion, eine Holztür, ein Schriftstück, Hammer und Nagel ... Was wäre, rein hypothetisch, wenn Luther heute lebte und auf die Idee käme, seine 95 Thesen zu verbreiten? Welchen Ort würde er wählen? Wer wäre sein Publikum? Welches Medium zöge er vor zur Veröffentlichung seiner Gedanken? Und bliebe er bei der Anzahl oder würde er kürzen, im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie heutiger Prosumer, des Nachrichtenwerts und der Effizienz heutiger digitaler Kultur? Nagel und Hammer zur Untermauerung seiner Absicht reichten heute nicht; wollte er digital seine Ideen verbreiten, müsste er so rebellisch vorgehen wie seine Aktion am letzten Oktobertag des Jahres 1517 ex post anmutet, wenn er nicht wollte, dass seine Thesen untergehen in der Vielfalt digitaler Kultur (Luthers Thesen wie der sprichwörtliche Sack Reis in China). Durch relationale Netzwerke und Hashtags sowie die Verbreitung von Videos und Bildern seiner Aktion im World Wide Web würde er allerdings mit einem Klick eine größere Adressatengruppe erreichen als durch das Anbringen seines Papiers an der Kirchenpforte. Er könnte sich einer größeren Streuung seiner Ideen in einem 31
„Wir sind nicht die Gegner der guten etablierten Medien, im Gegenteil. Wir schreien auf, weil wir die Sorge haben, dass viele von ihnen ihre Zukunft verspielen, wenn sie glauben, die Leser müssten zu ihnen kommen und nicht sie zu den Lesern. Wir sorgen uns um diese Medien, aus ganz eigennützigen Gründen, weil wir für sie arbeiten, und aus ganz anders eigennützigen Gründen, weil wir glauben, dass eine Gesellschaft auch in Zukunft guten Journalismus braucht.“, http://www.stefan-niggemeier.de/blog/6830/das-manifest-das-wozu-und-das-danach/ [Abruf: 19.11.2016].
ÜBERLEGUNGEN ZU DIGITALEN MANIFESTEN
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dichten Zeitraum bewusst sein. Und auch die Gegenbewegung würde ihre Kanäle finden, um instantan zu reagieren. Ich habe meine „mehr oder weniger 95 Überlegungen“ mit dem Bild von Luthers Thesenanschlag begonnen, um die Parameter von Manifesten zu bestimmen. Dieses Bild ist, so möchte ich nun am Ende noch vorschlagen, selbst zu einem ‚Manifesto‘ geworden. Das italienische Wort manifesto hat in erster Instanz mit der in ihm vermittelten Botschaft nichts zu tun, sondern ließe sich mit ‚Poster‘ oder ‚Affiche‘ übersetzen. Ein manifesto ist demzufolge der Träger einer für eine größere Öffentlichkeit gedachten Botschaft, ein Anschlagszettel, auf dem wesentliche Informationen für die jeweiligen Adressaten aufbereitet sind; es inkludiert und gebietet den Kontext, indem es entsteht. Das Denken über Manifeste, das Denken durch Manifeste, das Denken in Manifesten ist auch ein Denken in Bildern. Digitale Medien lassen diese manifesti zirkulieren, stellen sie zur paritätischen Diskussion, verhandeln ihr Potential und bieten neue Formen kreativen Umgangs (remediativ, intertextuell, intermedial etc.) mit ihnen. Über digitale Manifeste zu schreiben, heißt, sich mit der Liquidität digitaler Kultur anzufreunden. Denn die ist, wie Bill Blake formuliert, ein „ever multiplying and mostly impossible-to-pin-down referent“.32
32 Blake 2014 (wie Anm. 22), S. 11.
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NIC LEONHARDT
AUTOREN- / AUTORINNENBIOGRAFIEN
HANS-FRIEDRICH BORMANN , Dr. phil., lehrt als Akademischer Ober-
rat am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Studium der Angewandten Theaterwissenschaft und Promotion in Gießen, danach wiss. Mitarbeiter im DFG-Schwerpunktprogramm Theatralität. 2003–2009 wiss. Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Publikationen zur Geschichte und Theorie der performativen Künste sowie zu Fragen der theatralen, medialen und musikalischen Praxis, darunter: Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, München 2005; (Hg. mit Gabriele Brandstetter u. Annemarie Matzke) Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld 2010. GABRIELE BRANDSTETTER ist Professorin für Theater- und Tanz-
wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2008 Mitdirektorin des Internationalen Kollegs Verflechtungen von Theater-Kulturen. Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Ästhetik von Tanz, Theater und Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, Virtuosität in Kunst und Kultur sowie die Beziehung von Körper, Bild und Bewegung. Sie ist Gottfried Wilhelm
AUTOREN-/AUTORINNENBIOGRAFIEN
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Leibniz-Preisträgerin 2004. Letzte Veröffentlichungen: Poetics of Dance. Body, Image and Space in the Historical Avant-Gardes, New York 2015; (Hg. mit Gabriele Klein) Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs „Le Sacre du Printemps“, Bielefeld 22015; (Hg. mit Nanako Nakajima) The Aging Body in Dance. A cross-cultural perspective, Abingdon/New York 2017; (Hg. mit Holger Hartung) Moving (Across) Borders. Performing Translation, Intervention, Participation, Bielefeld 2017. MICHA BRAUN , Dr. phil., ist Mitarbeiter am Institut für Theaterwissen-
schaft und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Centre of Competence for Theatre (CCT) an der Universität Leipzig. 2011 Promotion in Leipzig. 2006–2010 Stipendiat im DFG-Graduiertenkolleg Bruchzonen der Globalisierung. Forschungen zu theatralen Praktiken und Medien der Wiederholung, des Erinnerns und Erzählens mit Schwerpunkt Ostmittel- und Osteuropa (insbes. Archiv, Dokument, Fake). Publikationen: (Hg. mit Veronika Darian u. a.) Die Praxis der/des Echo. Zum Theater des Widerhalls, Frankfurt am Main u. a. 2015; (Hg. mit Günther Heeg u. a.) Reenacting History: Theater & Geschichte, Berlin 2014; In Figuren erzählen. Zu Geschichte und Erzählung bei Peter Greenaway, Bielefeld 2012. BURCU DOGRAMACI , Prof. Dr. phil., lehrt am Institut für Kunstgeschichte
der LMU München mit Schwerpunkt auf der Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. 2016 Auszeichnung mit dem ERC Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrates. Forschungen zu Exil, Migration und Flucht, Fotografie und Fotobuch, Mode, Filmkostüm und -architektur, Urbanität und Kunst, Architektur, Skulptur der Moderne und Nachkriegszeit. Publikationen (Auswahl): (Hg. mit Marta Smolińska) Re-Orientierung. Kontexte zeitgenössischer Kunst in der Türkei und unterwegs, Berlin 2017; Heimat. Eine künstlerische Spurensuche, Köln 2016; (Hg. mit Fabienne Liptay) Immersion in the Visual Arts and Media (Studies in Intermediality, SIM 9), Amsterdam/New York 2015; Fotografieren und Forschen. Wissenschaftliche Expeditionen mit der Kamera im türkischen Exil nach 1933, Marburg 2013; (Hg.) Migration und künstlerische Produktion. Aktuelle Perspektiven, Bielefeld 2013.
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AUTOREN-/AUTORINNENBIOGRAFIEN
NICOLE HAITZINGER , assoz. Prof. Dr. Phil., ist aktuell am Fachbereich
Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg tätig. Sie promovierte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften der Universität Wien. Als Dramaturgin und Kuratorin nimmt sie an diversen internationalen Projekten und Theorie-Praxis-Modulen teil. Mitherausgeberin des Magazins Tanz und Archiv, München (seit 2009) sowie Redaktionsmitglied beim Internet-Magazin CORPUS (www.corpusweb.net). Ko-Leitung des Universitätslehrgangs Kuratieren in den szenischen Künsten. Ko-Sprecherin der interdisziplinären Doctorate School geschlecht_ transkulturell. Aktuelle Publikationen: (Hg. mit Franziska Kollinger) Moderne Szenerien. Skizzen zur Diversität von Tanz- und Musikkulturen (1910–1950), München 2016; Resonanzen des Tragischen. Zwischen Ereignis und Affekt (Habilitationsschrift), Wien/Berlin 2015. SABINE HUSCHKA , Dr. phil., ist Privatdozentin am Institut für Thea-
terwissenschaft der Universität Leipzig und habilitierte dort 2011 kumulativ zum Thema Wissenskultur Tanz: Der choreografierte Körper im Theater. Zur Zeit leitet sie das DFG-Forschungsprojekt Transgressionen. Energetisierung von Körper und Szene am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) der Universität der Künste Berlin, wo sie auch assoziiertes Mitglied des Graduiertenkollegs Wissen der Künste ist und zuvor als Gastprofessorin für Theorie und Geschichte des Theaters tätig war. Verschiedene Vertretungs- und Gastprofessuren für Theater- und Tanzwissenschaft (Freie Universität Berlin, Universität Bern und Universität Hamburg). Leitungsfunktion am Deutschen Institut für Tanzpädagogik sowie mehrjährige Tätigkeit als Dramaturgin am TAT/Frankfurt und dem Ballett Frankfurt bei William Forsythe. Publikationen (Auswahl): Tanz/ Wissen. Choreographierte Körper im theatron. Auftritte und Theoria ästhetischen Wissens, (in Vorber.); (Hg.) Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld 2009; Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien, Reinbek (rowohlts enzyklopädie) 2002, 2. Aufl. 2012; Merce Cunningham und der Moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik, Würzburg 2000.
AUTOREN-/AUTORINNENBIOGRAFIEN
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EVA HUTTENLAUCH ist Sammlungsleiterin des Bereichs „Kunst nach
1945“ der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München. Sie studierte Kunstgeschichte und Romanistik in Heidelberg und Rom und wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Sie begann den Berufsweg als Trainee am Museum of Modern Art, New York, war dann an der Villa Massimo Rom, am Witte de With Center for Contemporary Art Rotterdam, für den Deutschen Pavillon der Venedig Biennale 2007–2013 und das Museum für Moderne Kunst Frankfurt kuratorisch tätig. Arbeitsschwerpunkt ist die internationale Moderne mit Fokus auf italienischer Kunst und Gegenwartskunst. Ausstellungen und Publikationen zu (Auswahl): Giacomo Manzù, Sung Hwan Kim, Thomas Scheibitz, Carsten Nicolai, Saâdane Afif, Erik van Lieshout, Gruppe SPUR, Michaela Melián, Thomas Bayrle. PAY MATTHIS KARSTENS , M.A., promoviert an der TU Berlin, Mitar-
beiter der Galerie Judin, Bearbeiter des Werkverzeichnisses von Eugen Schönebeck. 2009–2014 Studium der Kunst- und Bildgeschichte sowie Contemporary Art Theory in Berlin und London. 2010–2014 Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Publikationen: (Hg. mit Juerg Judin) Uwe Wittwer – Im Widerschein, Ausst.-Kat. Galerie Judin, Berlin 2016; (Hg. mit Gudrun Fritsch) Mahnung und Verlockung. Die Kriegsbildwelten von Käthe Kollwitz und Kata Legrady, Ausst.-Kat. Käthe-Kollwitz-Museum Berlin, Leipzig 2014; Verboten und verfälscht. Heinrich Zille im Nationalsozialismus, Berlin 2012. KATHARINA KEIM , Dr. phil., lehrt als Privatdozentin Theaterwissenschaft
an der LMU München, war DAAD-Lektorin an der West-Universität Temesvar (Rumänien) und an der University of Alberta, Edmonton (Kanada). Promotion zur Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, Tübingen 1998; Habilitation mit der Studie Von der Bühne ins Buch. Dramen-Übersetzungen zwischen Spätbarock und Frühaufklärung (LMU München 2011). Arbeitsschwerpunkte: Theatergeschichte der Frühen Neuzeit, postdramatische Theaterformen und Übersetzungsstudien.
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AUTOREN-/AUTORINNENBIOGRAFIEN
BIRTE KLEINE-BENNE , Dr. phil., 2006 Promotion in Hamburg. Lehrauf-
träge, Gastprofessuren und Vertretungsprofessuren an der Universität der Künste Berlin, der Universität Hamburg, der Burg Giebichenstein/Kunsthochschule Halle und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Theoretische und angewandte Forschungen zu zeitgenössischen oder sog. nächsten Formen von Kunst- und Theorieproduktion, von Präsentations-, Rezeptions- und Vermittlungsformen, die ihrerseits Bild-, Kunst-, Ästhetik- und Wissenstheorien sowie dazugehörige Geschichten der Moderne in-formieren. Forschung, Lehre, Publikationen, kuratorische Tätigkeit und Weiteres: http://bkb.eyes2k.net. CHARLOTTE KLINK , Künstlerin und Doktorandin an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und seit 2015 Stipendiatin des „Minerva Fellowship Program“ der Max-Planck-Gesellschaft an der Universität von Tel Aviv. Sie hat Ausstellungen und Konferenzen co-kuratiert und organisiert, darunter das Symposium Ästhetik des Fleisches (2011) und die Ausstellung No Place to Hide (2013). Sie unterrichtet Seminare zu Ästhetik und zeitgenössischer Kunst an der Kunstakademie Stuttgart. Ihre Dissertation trägt den Arbeitstitel Transformation of a Missed Encounter. Repetition and the New in Contemporary Video Art und beschäftigt sich mit den Arbeiten der Künstlerinnen Yael Bartana und Keren Cytter. Sie ist (zusammen mit Felix Ensslin) Herausgeberin des Sammelbandes Aesthetics of the Flesh, erschienen bei Sternberg Berlin (2014). NIC LEONHARDT , Dr. phil., ist gegenwärtig Senior Researcher im
ERC-Projekt Developing Theatre an der LMU München. 2015 bis 2016 Gastprofessur für Inter Artes an der Universität Köln; 2010–2015 Associate Director des DFG-Projektes Global Theatre Histories; seit 2013 PI des LMUexcellent-Projekts Theatrescapes. Mapping Theatre Histories. Nach der Promotion zu Piktoral-Dramaturgie (2007) Forschung und Lehre in Köln, Leipzig, New York City, Heidelberg und München. Forschungsschwerpunkte: Theater- und Mediengeschichte, Populärkultur, Globalgeschichte, Visual Culture, Urban Studies, Digital Humanities. Daneben als freie Autorin und Texterin tätig. Publikationen (Auswahl): Durch Blicke im
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Bild. Stereoskopie im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Berlin 2016; (Hg. mit Christopher Balme) Journal of Global Theatre Histories, Online-Zeitschrift, München (ab 2016), https://gthj.ub.lmu.de/index.php/gthj/; The Routledge Companion to Digital Humanities in Theatre and Performance, London 2017 (in Bearbeitung). FABIENNE LIPTAY , Prof. Dr. phil., Professorin für Filmwissenschaft an der
Universität Zürich. Studium der Filmwissenschaft, Theaterwissenschaft und Anglistik in Mainz, dort 2002 Promotion bei Thomas Koebner. 2002 bis 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Filmwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2007 bis 2013 Juniorprofessorin für Filmgeschichte am Institut für Kunstgeschichte der LMU München. Forschung zur Bildlichkeit des Films, zu ästhetischen Diskursen und kunstwissenschaftlichen Theorien des Films sowie zu den Wechselbeziehungen zwischen den Künsten und Medien. Publikationen (Auswahl): Telling Images. Studien zur Bildlichkeit des Films, Zürich/Berlin 2016; (Hg. mit Burcu Dogramaci) Immersion in the Visual Arts and Media, Amsterdam/New York 2015. CONSTANZE SCHELLOW , Dr. phil., ist Tanzwissenschaftlerin und Dra-
maturgin. Von 2014 bis 2016 Gastprofessorin für Angewandte Tanzwissenschaft und Performancetheorie am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin. Lehraufträge u. a. am Institut für Medien und Theater Hildesheim, Freie Universität Berlin, Hochschule für Musik und Tanz Köln. Dramaturgische Zusammenarbeit u. a. mit Doris Uhlich, Simone Aughterlony, Eva Meyer-Keller. Sie wurde 2014 mit dem Fakultätspreis der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern sowie 2016 mit dem Tanzwissenschaftspreis NRW ausgezeichnet. Forschungen zur disziplinären Politik tanzwissenschaftlicher Diskursbildung, zur Interaktion von Tanz(wissenschaft) und Philosophie sowie zu Fragen der Zuschauerschaft. Aktuelle Publikationen: Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ‚Nicht‘ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft, München 2016; Perform Spectatorship or Else … Der emanzipierte Zuschauer als Figur auf der Bühne des Tanz- und Theaterdiskurses, in: Marc Caduff, Stefanie Heine und Michael Steiner (Hg.): Die Kunst der Rezeption, Bielefeld 2015, S. 21–39.
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KATJA SCHNEIDER , Dr. phil., lehrt als Privatdozentin und wissenschaftli-
che Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Lehraufträge in Bytom (Polen), Salzburg, Bern. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Tanz und Medialität, Performance Art sowie zeitgenössisches Theater und Theater im 18. Jahrhundert. Promotion 1996 in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft mit einer interdisziplinären Arbeit zu dem Theaterautor Johann Christian Krüger; Habilitation 2013 mit einer Schrift zu Tanz und Text. Figurationen von Sprache und Bewegung, München 2016. Als Redakteurin arbeitete sie für die Fachmagazine tanzdrama, tanzjournal und tanz (1992–2012), als Dramaturgin ist sie für das Münchner Festival „Dance“ tätig. Publikationen (Auswahl): (Hg. mit Gabriele Brandstetter) Sacre 1913/2013, Freiburg im Breisgau/ Berlin/Wien 2017; (Hg. mit Thomas Betz) Schreiben mit Körpern. Der Choreograph Raimund Hoghe, München 2012; (Hg. mit Frieder Reininghaus) Experimentelles Musik- und Tanztheater, Laaber 2004 (= Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert; Bd. 7); (mit Klaus Kieser) Reclams Ballettführer, Stuttgart 2002, 16., durchges. u. akt. Aufl. 2015. CHRISTOPH BENJAMIN SCHULZ , Dr. Phil., ist Postdoc an der For-
schungsstelle für Visuelle Poesie an der Bergischen Universität Wuppertal, wo er im Rahmen des DFG-Projektes Das Künstlerbuch als ästhetisches Experiment arbeitet. Er studierte Komparatistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Bochum, Berlin und Paris. Forschungsschwerpunkte: Facetten der Materialität und Medialität literarischer Kommunikation, beispielsweise Strategien der Ästhetisierung und Semantisierung des Buches; experimentelle, visuelle, akustische und konzeptuelle Literaturen des 20. Jahrhunderts; historische Entwicklung von Text-Bild-Beziehungen. Darüber hinaus widmete er sich in Forschung und Lehre den Dialogen zwischen Literatur und bildender Kunst, Musik und Film im Kontext interdisziplinärer Schnittstellen zwischen den ästhetischen Disziplinen und Diskursen sowie von in literarischer Hinsicht anschlussfähigen intermedialen Werkformen. Ausstellungen (Auswahl): Daumenkino – The Flip Book Show für die Kunsthalle Düsseldorf und das Fotomuseum Antwerpen (2005) mit gleichnamiger Begleitpublikation (hg. mit Daniel Gethmann); Alice in Wonder-
AUTOREN-/AUTORINNENBIOGRAFIEN
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land – through the visual arts für die Tate in Liverpool, die dann auch in Italien und in der Hamburger Kunsthalle gezeigt wurde (www.youtube. com/watch?v=Cz7k84WkVdU). Zuletzt erschien Poetiken des Blätterns, Hildesheim 2015, das im Rahmen des DFG-Projekts Literarisch-ästhetische Experimente mit der Gestalt des Buches [...] an der Ruhr-Universität Bochum entstanden ist. STEPHAN TRÜBY ist Theoretiker und Professor für Architektur und Kul-
turtheorie an der TU München. Nach dem Studium der Architektur an der AA School in London arbeitete er zunächst als Architekt in Büros in Zürich (Meili Peter), Berlin (Barkow Leibinger, Nägeliarchitekten) und München (Götz_Hootz), bevor er von 2001 bis 2007 Architekturtheorie an der Universität Stuttgart (Wiss. Mitarbeiter am IGMA) und von 2007 bis 2009 an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe lehrte (Gastprofessur für Architektur). Von 2009 bis 2014 leitete er den englischsprachigen postgradualen Studiengang MAS Scenography / Spatial Design an der Zürcher Hochschule der Künste, 2012–2014 war er Lecturer für Architekturtheorie an der Graduate School of Design der Harvard University. Für die Architekturbiennale Venedig 2014 (Direktor: Rem Koolhaas) fungierte er als Leiter Forschung und Entwicklung. Publikationen (Auswahl): (Hg. mit Verena Hartbaum) Germania. Venezia. Die deutschen Beiträge zur Architekturbiennale Venedig seit 1991. Eine Oral History, Paderborn 2016); (Hg.) Hertzianismus. Elektromagnetismus in Architektur, Design und Kunst, Paderborn 2009; Exit-Architektur. Design zwischen Krieg und Frieden, Wien/New York 2008; (Hg. mit Shumon Basar) The World of Madelon Vriesendorp, Paintings/Postcards/Objects/Games, London 2008; (Hg. mit Gert de Bruyn) 5 Codes. Architektur, Paranoia und Risiko in Zeiten des Terrors, Basel 2006); (Hg. mit Gert de Bruyn) architektur_ theorie.doc: Texte seit 1960, Basel 2003. Er ist ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift ARCH+. JUDITH ELISABETH WEISS , Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL), Leitung des Forschungsprojekts Urform und Umbildung. Naturvorbilder und das Pa-
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AUTOREN-/AUTORINNENBIOGRAFIEN
radoxon künstlerischer Natürlichkeit; Lehrbeauftragte an der Universität der Künste Berlin; Gastherausgeberin und Redakteurin des Kunstforum International; 2000–2011 Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst in verschiedenen Museen; Forschungsinteressen: Phänomene der Gegenwartskunst, Avantgarde und Surrealismus, Kulturen der Verweigerung, Figurationen des Verschwindens, Kunst und Natur, Bild- und Kulturgeschichte des Gesichts, kulturwissenschaftliche Bildtheorien; letzte Publikationen: (mit Mona Körte) Randgänge des Gesichts. Kritische Perspektiven auf Sichtbarkeit und Entzug, Paderborn 2017; (Hg. mit Colleen M. Schmitz) Sprache – Ein Lesebuch von A bis Z. Perspektiven aus Literatur, Forschung und Gesellschaft, Göttingen 2016; (Hg. mit Herbert Kopp-Oberstebrink) Kunstforum International (Bd. 231). Kunstverweigerungskunst I. Verweigerung als schöpferische Provokation, Köln 2015; (dies.) Kunstforum International (Bd. 232). Kunstverweigerungskunst II. Verneinung zwischen Formgebung und Ausstieg, Köln 2015. ISA WORTELKAMP , Dr. phil., Tanz- und Theaterwissenschaftlerin, Hei-
senberg-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. 2008 bis 2015 war sie Juniorprofessorin an der Freien Universität Berlin. Dort leitete sie von 2012 bis 2015 das DFG-Forschungsprojekt Bilder von Bewegung – Tanzfotografie 1900–1920 und von 2015 bis 2016 das Projekt Writing Movement. Inbetween Practice and Theory concerning Art and Science. Forschungen zu den Verhältnissen von Aufführung und Aufzeichnung, Choreographie und Architektur sowie von Bild und Bewegung. Publikationen (Auswahl): (Hg. mit Tessa Jahn und Eike Wittrock) Tanzfotografie – Historiografische Reflexionen der Moderne, Bielefeld 2015; (Hg.) Bewegung Lesen. Bewegung Schreiben, Berlin 2012; Sehen mit dem Stift in der Hand – die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung, Freiburg im Breisgau 2006.
AUTOREN-/AUTORINNENBIOGRAFIEN
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XXX
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
GABRIELE BRANDSTETTER Yes! | Das Manifest als künstlerische Praxis Abb. 1:
Yvonne Rainer: A Manifesto Reconsidered, in: Manifesto Pamphlet, 18./19.10.2008, [Begleitpublikation zu dem von Hans Ulrich Obrist kuratierten Serpentine Gallery Manifesto Marathon], Serpentine Gallery, London, [o. P. = S. 22]
Abb. 2:
Mette Ingvartsen: 69 Positions, 2014, Foto: Fernanda Tafner
Abb. 3:
Mette Ingvartsen: 50/50, 2005, Foto: Peter Lenaerts
Abb. 1:
© Yvonne Rainer / Serpentine Gallery
Abb. 2:
© Fernanda Tafner
Abb. 3:
© Peter Lenaerts
Bildnachweise:
ISA WORTELKAMP Vom Fragment zum Manifest. | Das No Manifesto von Yvonne Rainer in seinem medialen Kontext Abb. 1:
Pigeon Event in St. Mark’s Place, New York City, Foto von George Maciunas auf dem Cover von The Tulane Drama Review, Bd. 10, H. 2 (Winter 1965) Bildnachweis:
Abb. 1:
© Foto George Maciunas; abgebildet 2009 im Blog Walkerart, http://blogs.walkerart.org/ design/2009/02/02/tulane-drama-review-volume-10-number-2-winter-1965
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
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SABINE HUSCHKA Szenen der Entleerung und Transgression. | Reflexionen zu Yvonne Rainers No Manifesto Abb. 1:
Yvonne Rainer: Trio A (The Mind is a Muscle, Part I), 1966. Erstaufführung, Judson Memorial Church, New York, 10. Januar 1966. Im Bild: Steve Paxton, David Gordon, Yvonne Rainer. Foto: Peter Moore
Abb. 2:
Yvonne Rainer: Trio A, 1966. Getanzt von Rainer in Steppschuhen als Lecture in The Mind is a Muscle, 1966–1968. Anderson Theater, New York, 11. April 1968. Foto: Peter Moore
Abb. 3:
Yvonne Rainer: Trio A, 1966. Getanzt von Rainer in Steppschuhen als Lecture in The Mind is a Muscle, 1968. Foto: Peter Moore Bildnachweise:
Abb. 1:
Abb. nach Carrie Lambert-Beatty: Moving Still: Mediating Yvonne Rainer‘s ‚Trio A‘, in: October, Bd. 89, Summer 1999, S. 88
Abb. 2:
Abb. nach Carrie Lambert-Beatty: Being watched. Yvonne Rainer and the 1960s, Cambridge,
Abb. 3:
Abb. nach Lambert-Beatty 1999, S. 88 — alle: © Estate of Peter Moore / VAGA, New York, NY
MA 2008, 20, plate 3.5, S. 136
HANS-FRIEDRICH BORMANN Saum der Zeit. | Das Manifest als paradoxe Sprachhandlung Abb. 1:
Johannes Baader: Letztes Manifest, ca. 1925, Collage, 28,6 × 22,2 cm, Archives Andrei Nakov
Abb. 2:
Website von Jonathan Meese, Screenshot (Detail)
Abb. 3:
Website von Jonathan Meese, Screenshot (Detail)
Abb. 1:
Dawn Ades: Dada and Surrealism Reviewed, London 1978, S. 90
Abb. 2, 3:
http://www.jonathanmeese.com/2012/20120604_Kassel_Spiegel/index.php[Abruf:22.6.2016] /
Bildnachweise:
© VG Bild-Kunst, Bonn 2017
EVA HUTTENLAUCH Verba volent, scripta manent. | Die Manifeste der Münchner Künstlergruppe SPUR Abb. 1:
Gruppe SPUR: Manifest, November 1958. Als Flugblatt publiziert und öffentlich verteilt.
Abb. 2:
Gruppe SPUR: Ein kultureller Putsch – während Ihr schlaft!, April 1959. Als Flugblatt publi-
Städtische Galerie im Lenbachhaus, München ziert und öffentlich verteilt anlässlich der 3. Konferenz der Situationistischen Internationale in München. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München Abb. 3:
Gruppe SPUR: Januar-Manifest (auch Gaudi-Manifest), Januar 1961. Als Flugblatt publiziert und öffentlich verteilt, sowie anlässlich der Ausstellung Engagierte Kunst im Münchner Kunstverein als Wandbild angebracht. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München.
Abb. 4:
Gruppe SPUR: Avantgarde ist unerwünscht!, Januar 1961. Als Flugblatt publiziert und öffentlich verteilt. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abb. 5:
Gruppe SPUR: Flugblatt HEUTE [...], 9. November 1961. Als Flugblatt publiziert und öffentlich verteilt aus Protest gegen die Beschlagnahmung der SPUR-Zeitschriften durch das Sittendezernat München. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München Bildnachweise:
Abb. 1–5:
© Städtische Galerie im Lenbachhaus, München / © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
PAY MATTHIS KARSTENS Geste statt Gehalt. | Die Pandämonischen Manifeste von Georg Baselitz und Eugen Schönebeck Abb. 1:
Georg Baselitz und Eugen Schönebeck: Erstes Pandämonisches Manifest [1. Version], 1961,
Abb. 2:
Georg Baselitz und Eugen Schönebeck: Zweites Pandämonisches Manifest, 1962, Offsetdruck
Abb. 3:
Ernst Fuchs, Friedensreich Hundertwasser und Arnulf Rainer: Pintorarium, 1959, Offset-
Offsetdruck auf Papier, 124 × 100,2 cm, Georg Baselitz auf Papier, 90,3 × 128,7 cm, Georg Baselitz druck und Aquarell auf Papier, 42,4 × 116,8 cm, Hundertwasser Archiv, Wien Abb. 4:
Georg Baselitz und Eugen Schönebeck: Erstes Pandämonisches Manifest [2. Version], 1961, Offsetdruck auf Papier, 65,4 × 112,6 cm, Georg Baselitz Bildnachweise:
Abb. 1:
Foto: Archivaufnahme Georg Baselitz
Abb. 2:
Foto: Frank Oleski, Köln
Abb. 3:
Foto: Hundertwasser Archiv, Wien. Für das abgebildete Werk von Ernst Fuchs: © 2017 www.ernstfuchs-gallery.com; für das abgebildete Werk von Friedensreich Hundertwasser: © 2017 Hundertwasser Archiv, Wien; für das abgebildete Werk von Arnulf Rainer: © 2017 Arnulf Rainer
Abb. 4:
Foto: Frank Oleski, Köln. Für die abgebildeten Werke von Georg Baselitz: © Georg Baselitz 2016; für die abgebildeten Werke von Eugen Schönebeck: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
JUDITH ELISABETH WEISS „Give up Art!“ | Manifeste der Kunstverweigerung Abb. 1:
Gustav Metzger: Art Strike 1977–1980, in: Art into Society – Society into Art. Seven German
Abb. 2:
Gustav Metzger bei einer Autodestructive Art Performance, 1961, South Bank, London, in: Gustav
Abb. 3:
Guy Debord: Dépassement de l´art (Directive n°1), 1963, Öl/Leinwand, 41,5 × 60,2 cm,
Artists, Ausst.-Kat. Institute of Contemporary Arts, London 1974, S. 79 Metzger. Geschichte Geschichte, Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien, Ostfildern 2005, S. 116 Sammlung Paul Destribats, Paris, in: In Girum Imus Nocte Et Consumimur Igni – Die Situationistische Internationale (1957–1972), Ausst.-Kat. Museum Tinguely Basel, Zürich 2007, Abb. 48, o. S. Abb. 4:
Internationale Lettriste: Déclaration sur l’expérience de la dérive, 1953, in: In Girum Imus Nocte Et Consumimur Igni – Die Situationistische Internationale (1957–1972), Ausst.-Kat. Museum Tinguely Basel, Zürich 2007, o. S., o. Abb.
Abb. 5:
Lee Lozano: Untitled, o. J., Kugelschreiber, Tinte/Papier
Abb. 6:
Lee Lozano: Notebook 8, 5. April 1970, S. 115–116
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
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Bildnachweise: Abb. 1:
© Gustav Metzger
Abb. 2:
© Hulton Archive
Abb. 3:
© Fotorechte: BNF, dpt manuscrits, fonds Guy Debord
Abb. 5, 6:
© The Estate of Lee Lozano, Courtesy Hauser & Wirth
CHARLOTTE KLINK Yael Bartanas A Manifesto. | Widerständigkeit und Entgrenzung der Kunst Abb. 1:
Yael Bartana: Manifesto of the Jewish Renaissance Movement in Poland, 2010, Ausstellungsansicht Helena Rubinstein Pavillon, Tel Aviv Museum 2012
Abb. 2:
Yael Bartana: Zamach (Assassination), 2011, video still
Abb. 3:
Yael Bartana, The First International Congress of the Renaissance Movement in Poland,
Abb. 4:
Yael Bartana: Mary Koszmary (Nightmares), 2007, video still
Abb. 5:
Yael Bartana: Zamach (Assassination), 2011, video still
Abb. 6:
Yael Bartana / The Jewish Renaissance Movement in Poland: A Manifesto, 2010, Plakat,
2012, Berlin, Foto: Ilya Rabinovich
97,7 × 68,5 cm Bildnachweise: Abb. 1, 6:
Courtesy Yael Bartana
Abb. 2, 5:
Courtesy Yael Bartana, Annet Gelink Gallery, Amsterdam, and Sommer Contemporary Art, Tel Aviv
Abb. 3:
Courtesy Yael Bartana, © Ilya Rabinovich
Abb. 4:
Courtesy Yael Bartana, Annet Gelink Gallery, Amsterdam and Foksal Gallery Foundation, Warsaw
Abb. 6:
Courtesy Yael Bartana
MICHA BRAUN „The world cannot function in the long run without Surrealism.” | Manifeste und Manifestationen neo-avantgardistischer Aktionskunst in Polen und der Sowjetunion nach 1975 Abb. 1:
Waldemar Maria Fydrych: Manifest surrealizmu socjalistycznego, 1981, Flugblatt (Zeichnung und Schreibmaschinentext auf Dünndruckpapier), Archiwum Zakładu Narodowego im. Ossolińskich, Wrocław (Pomarańczowa Alternatywa I-2, tom 1, 1981–1987); online verfügbar unter http:// www.orangealternativemuseum.pl/#manifesto-of-socialist-surrealism [Abruf: 1.2.2017].
Abb. 2:
Gruppe SZ: Čtenie zaklinanij unitazu / Casting a magical spell on a lavatory (Serie Samooborony ot veščej / Series Self Defense Against Things), 1981, Fotografie: Viktor Skersis, in: SZ Group. Viktor Skersis—Vadim Zakharov. Collaboration, hg. v. Alexandra Oboukhova und Vadim Zakharov, Ausst.-Kat. E.K.ArtBureau Moscow, Moskva 2004, S. 63; online verfügbar unter http://www. conceptualism-moscow.org/page?id=375&lang=en [Abruf: 10.8.2016].
Abb 3:
Titel und Seite 3 (mit dem Essay von Boris Groys: Moskovskij romantičeskij konceptualizm / Moscow Romantic Conceptualism) der Zeitschrift A-Ya, Unofficial Russian Art Review / Žurnal neoficial’nogo russkogo iskusstva, No. 1, 1979. Reprint in: Vjačeslav Terpugov, Zachar Kolovskij und Anna Kolupaeva (Hg.), A–Ja. Žurnal neoficjal’nogo russkogo iskusstva. 1979–1986. Reprintnoe izdanie, Moskva 2004, S. 3, 5.
382
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abb. 4:
Gruppe Gnezdo: Odplodotvorenie zemli / Fertilization of the Earth, 1976, Fotografie: Igor’ Pal’min, in: Drugoe Iskusstvo. Moskva 1956–76, hg. v. Leonid Taločkin und Irina Alpatova, Ausst.-Kat. Chudožestvennaja Galereja „Moskovskaja Kollekcija“, 2 Bde., Moskva 1991, Bd. I, S. 242; online verfügbar unter http://www.conceptualism-moscow.org/page?id=540& lang=en [Abruf: 10.8.2016]
Abb. 5:
Gruppe SZ: Laski i pocelui delajut ljudej urodlivymi / Caresses and Kisses Make People Ugly, 1983, 5 Fotografien von Viktor Skersis / Vadim Zakharov, in: Oboukhova/Zakharov, Ausst.-Kat. Moskva 2004 (wie Abb. 2), S. 92–93; online verfügbar unter http://www.conceptualismmoscow.org/page?id=406&lang=en [Abruf: 10.8.2016] Bildnachweise:
Abb. 1:
© Waldemar Maria Fydrych
Abb. 2:
© Viktor Skersis/Vadim Zakharov
Abb. 3:
© A-Ya/Boris Karmašov/Igor’ Šelkovskij
Abb. 4:
© Igor’ Pal’min/Vadim Zakharov
Abb. 5:
© Viktor Skersis/Vadim Zakharov
KATHARINA KEIM dramAcum. | Manifestationen eines unmittelbaren Theaters im posttotalitären Rumänien im Kontext der historischen Avantgarde Abb. 1:
Werbeflyer mit dem Aufruf zum 5. dramAcum-Stückewettbewerbs, o. O., o. J. [Bukarest 2007/08]. „Schreib einen dramatischen Text* [*Theaterstück, Szenario oder Bearbeitung], den man aufführen kann. Schicke ihn bis zum 1. März an folgende Adresse [...] INSZENIERE DICH, WENN DU WILLST, DASS WIR DICH INSZENIEREN. Wir machen die Aufführung. Du wirst dafür bezahlt. Du wirst ein Dramatiker mit einem regulären Vertrag sein! Du bist über 26 Jahre alt? Zu spät! ** [** Gibt es eine Ausnahme? Das Alter zählt nicht!] “
Abb. 2:
Ilarie Voronca: AVIOgrama, In Loc de Manifest (Aviogramm – anstatt eines Manifests), 1924, in: HP 75, Oktober 1924, S. 3, 23 × 28 cm. Original: Biblioteca Academiei Române, Digitalisiat: Biblioteca Digitală a Bucresţilor, http://www.digibuc.ro/colectii/75-hp-c2112 [Permalink, Abruf: 10.9.2016]
Abb. 3:
Flyer für die Site-specific-Theatervorstellung Ora verda (Grüne Stunde) der dramAcumGruppe im Teatrul Luni de la Green Hours, Bukarest, 21.10.2013. Grafik: Dan Perjovschi, o. O., o. J. [Green Hours, Bukarest, 2013] Bildnachweise:
Abb. 1:
© DramAcum
Abb. 2:
© Biblioteca Academiei Române, Biblioteca Digitală a Bucresţilor
Abb. 3:
© Dan Perjovschi / Green Hours
BURCU DOGRAMACI Manifeste der Migration. | Von Kanak Attak zum Manifest der Vielen Abb. 1:
Kanak Attak: Ausländer und Deutsche: Gefährlich fremd, ohne Datum, Plakat
Abb. 2:
Kanak Attak: deutsch mich nicht voll!, ohne Datum, Plakat
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
383
Abb. 3:
Kanak Attak: no integración, 19.–22. Mai 2002, Plakat
Abb. 4:
Kanak Attak: Ein Manifest gegen Mültükültüralizm, gegen demokratische und hybride Deutsche sowie konformistische Migranten. „Dieser Song gehört uns!“, in: die tageszeitung, 21. Jg., 28. Januar 1999, S. 12
Abb. 5:
Kanak Attak: Dieser Song gehört uns!, 13. April 2001, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-
Abb. 6:
Hilal Sezgin (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin: Blumenbar
Abb. 7:
Manifest der Vielen, in: Hilal Sezgin (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu,
Platz, Berlin, Plakat Verlag 2011, Cover Berlin (Blumenbar Verlag) 2011, S. 221 Bildnachweise: Abb. 1–3, 5: © sandy kaltenborn / image-shift.net / kanak-attak Abb. 4:
© die tageszeitung / Kanak Attak
Abb. 6, 7:
© Hilal Sezgin / Blumenbar Verlag
CHRISTOPH BENJAMIN SCHULZ Credo, Manifest und Künstlerbuch. | Pina Bauschs Programmhefte für das Tanztheater Wuppertal Abb. 1:
Programmheft zu Bandoneon (1981, WA 2005)
Abb. 2:
Programmheft zu Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört (1984)
Abb. 3:
Programmheft zu Walzer (1982, WA 1986/87) Bildnachweise:
Abbildungen aus den Programmheften mit freundlicher Genehmigung des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und der Pina Bausch Foundation. © Pina Bausch Foundation
KATJA SCHNEIDER „We have a problem“. | Manifest, Ökonomie und Ökologie im 21. Jahrhundert Abb. 1:
Benjamin Verdonck: Offener Brief vom März 2011, präsentiert auf der Homepage des Künst-
Abb. 2:
Ende des Manifesto-Texts, gefolgt von Reaktionen, in: Benjamin Verdonck und Sébastien
lers, http://benjamin-verdonck.be/web/?p=173&cat=6 [Abruf 17.11.2015] Hendrickx: On the ‚Manifesto for the Active Participation of the Performing Arts Sector in the Transition towards a Fair Durability‘, in: Guy Cools und Pascal Gielen (Hg.): The Ethics of Art. Ecological Turns in the Performing Arts, Amsterdam 2014, S. 109–126, hier S. 117 Abb. 3:
Hinweis auf die aktive Mitwirkung von Scheld’apen an Verconcks Nachhaltigkeitsprojekt/ Kunstwerk im Rahmen der Festival-Ankündigung zum elftägigen, multidisziplinären „Festivaaalllaallal“ im September 2012, geposted von Bart Somers, 3.8.2012, http://www.indiestyle. be/nieuws/festivaaalllaallal-2012-in-scheld-apen-van-6-tot-23-september [Abruf: 17.11.2015] Bildnachweise:
Abb.1, 2:
© Benjamin Verdonck / © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Abb. 3:
© Indiestyle
384
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
FABIENNE LIPTAY Filmgeschichte in Flammen. | Manifeste für ein Museum des Films Abb. 1:
Bill Morrison: Decasia, 2002, 35mm, s/w, Dolby Digital, 67 Min., National Film Registry, Library of Congress, Washington, D.C.
Abb. 2:
Bill Morrison: Decasia, 2002, 35mm, s/w, Dolby Digital, 67 Min., National Film Registry, Library of Congress, Washington, D.C.
Abb. 3:
Rebecca Baron und Douglas Goodwin: Lossless #2 (Meshes of the Afternoon), 2008, Digital
Abb. 4:
Rebecca Baron und Douglas Goodwin: Lossless #4 (Serene Velocity), 2008, Digital Video, s/w,
Video, s/w, Stereo, 3 Min., George Eastman Museum, Rochester stumm, 15 Min., George Eastman Museum, Rochester Abb. 5:
Ruth Beale: The National Film Library, 2013, Graphit auf Fabriano Liscia Papier, Zeichnung nach der Fotokopie eines Diagramms von Ernest Lindgren, 200 × 150 cm, Ausstellung „Lindgren & Langlois: The Archive Paradox“, Grand Union, Birmingham
Abb. 6:
Ruth Beale, La Cinémathèque Française, 2013, Graphit auf Fabriano Liscia Papier, Zeichnung nach der Fotokopie eines Diagramms von Henri Langlois, 220 × 150 cm, Ausstellung „Lindgren & Langlois: The Archive Paradox“, Grand Union, Birmingham Bildnachweise:
Abb. 1, 2:
© Icarus Films
Abb. 3, 4:
© Rebecca Baron und Douglas Goodwin
Abb. 5, 6:
© Ruth Beale
BIRTE KLEINE-BENNE Kontingenzmaschine Kunst. | Wie eine performative Filminstallation Manifeste(s) verhandelt Abb. 1:
Julian Rosefeldt: Manifesto, 2015, Installationsansicht, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin 2016, Foto: David von Becker
Abb. 2:
Julian Rosefeldt: Manifesto, 2015, Installationsansicht, Hamburger Bahnhof – Museum für
Abb. 3:
Julian Rosefeldt: Manifesto, 2015
Gegenwart, Berlin 2016, Foto: David von Becker
Bildnachweise: Abb. 1, 2:
© Julian Rosefeldt und VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Foto: David von Becker
Abb. 3:
© Julian Rosefeldt und VG Bild-Kunst, Bonn 2017
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
385
REGISTER KURSIV GESETZTE SEITENZAHLEN VERWEISEN AUF ABBILDUNGEN.
A
Aziza A. 244 Abbott, John E. 298
Bausch, Pina 94, 249, 250, 252–260, 261, 262, 262–265, 268, 370, 384
Agamben, Giorgio 274, 301
Beale, Ruth 304, 304, 305, 305, 385
Akerman, Chantal 257, 264
Beckedahl, Markus 363
Althusser, Louis 178
Beckett, Samuel 151
Antes, Horst 126
Behne, Adolf 311
Apostol, Radu 215
Bel, Jérôme 84, 86, 88, 95
Aragon, Louis 202
Bell, Daniel 319
Arghezi, Tudor 221
Benjamin, Walter 167, 190, 313
Art & Language 206
Benn, Gottfried 151
Artaud, Antonin 146, 148, 151
Berceanu, Alexandru 215
Asholt, Wolfgang 19, 48, 49, 326
Bereś, Jerzy 200
Austin, John Langshaw 101, 102, 103, 341
Bergius, Hanne 108
Ayata, Imran 233, 245
Berkeley, Busby 293 Beuys, Joseph 14, 158
B
Bismarck, Otto von 294
Baader, Johannes 101, 105–110, 106, 113, 380
Blake, Bill 359, 361, 362, 366
Barbu, Ion 221
Blanchett, Cate 15, 325, 339, 341
Bareis, Ellen 233
Bleicher, Willi 125
Baron, Rebecca 293, 293, 385
Bloom, Harold 315
Barry, Iris 298
Blumenberg, Hans 164
Bartana, Yael 173, 174, 175–177, 181, 182–184,
Blumtritt, Jörg 355
183, 186–190, 373, 382 Baselitz, Georg 118, 137, 138, 139, 139, 140, 141, 144–149, 147, 151, 152, 153, 381 Bauman, Zygmunt 73–75, 351, 352
386
REGISTER
Bohlen, Dieter 243 Borowski, Włodzimierz 200 Botticelli, Sandro 18, 295 Bourdieu, Pierre 82
Brauner, Victor 220
David, Sabria 355
Brecht, Bertolt 24, 216
Debord, Guy-Ernest 127–130, 165, 166, 166, 199,
Breton, André 199, 201, 202, 220
312, 381
Britt, G. 121, 122
Deleuze, Gilles 34, 35, 327, 338, 343,
Brook, Peter 222, 359
Demetrios [Demetrius, Goldschmied] 118
Broodthaers, Marcel 77
Der Blaue Reiter 119, 121
Brouwn, Stanley 11
Deren, Maya 293
Brown, Denise Scott 314, 317
Dermul, Guy 282
Brown, Trisha 42, 44
Derrida, Jacques 100, 101, 103, 314, 315, 341, 342
Buchner, Ernst 125
Deux, Fred 151
Buñuel, Luis 300, 343
Dewey, Ken 40
Bunz, Mercedes 363
Dilley, Barbara 62
Buren, Daniel 242
Djuric, Miodrag [Dado] 151
Burrows, Jonathan 35, 250
Doesburg, Theo van 163, 164
Burt, Ramsay 55, 66
Dolan, Jil 39
Butler, Judith 341, 342
Donskoj, Gennadij 207
Buzoianu, Cătălina 223
dramAcum 214, 215, 215, 216, 221, 224–227, 229,
C
Duchamp, Marcel 297, 298, 302
Cage, John 28, 40, 41, 369
Duncan, David Douglas 266
Canudo, Ricciotto 295, 296
Duncan, Isadora 18, 19, 20, 249
Caragiale, Ion Luca 214, 217
Dunn, Judith 44
Cărbunariu, Gianina 215, 225, 227, 228, 229
Dunne, Anthony 321
Carlowitz, Hans Carl von 272 Caspari, Arthur C. 12 Ceauşescu, Elena 223
229, 283
E
Eisch, Erwin
Ceauşescu, Nicolae 223, 225
Eisenman, Peter 314, 315
Chandler, John 71
Elgars, Edward 264
Charmatz, Boris 250
El-Tayeb, Fatima 235, 244
Chauchat, Alice 34
Emerson, Ralph Waldo 315
Cherchi Usai, Paolo 291, 307
Endert, Julius 363
Childs, Lucinda 42, 44
Endicott, Jo Ann 257
Church, Judson 82
Engels, Friedrich 14, 73, 199, 310, 326
Cieślar, Elżbieta 200
Ersen, Esra 236
Cieślar, Emil 200
Euripides 223
Ciulei, Liviu 222, 226 CoBrA 125 Cocteau, Jean 279 Conrads, Ulrich 311, 312, 313 Constant [Constant Anton Nieuwenhuys] 312
F
Fabre, Jan 89 Fähnders, Walter 19, 48, 49, 105, 164, 178, 179, 326, 277
Cools, Guy 275, 276
Faure, Félix 294
Corrigan, Robert W. 39
Faust, Wolfgang Max 151
D
Fetscher, Iring 311 Fischer, Lothar 119, 121
Dado [Miodrag Djuric] 151
Fischer-Lichte, Erika 93
Danchev, Alex 10
Flechtheim, Ossip Kurt 318
REGISTER
387
Fleming, Victor 293 Flynt, Henry 12 Foerster, Heinz von 325, 344 Ford, John 293 Forsythe, William 94, 95, 269, 371 Forti, Simone 42, 250 Foster, Stephen C. 108 Foucault, Michel 82, 83, 85, 91, 92, 99, 100, 202 Franju, Georges 299 Franko, Mark 55, 61 Frenz, Alexander 151 Freud, Sigmund 165, 180, 185 Fried, Michael 29 Fuchs, Ernst 141, 142, 143, 381 Fuhr, Xaver 125 Fydrych, Waldemar Maria 193, 194, 197, 198, 199–203, 211, 383, 384
H
Haacke, Hans 158 Habarta, Gerhard 144 Habermas, Jürgen 319 Haeusler, Johnny 363 Halprin, Anna 31, 40, 41 Hannerz, Ulf 352 Hara, Cristobal 266 Hardt, Yvonne 90 Hay, Deborah 42, 44 Hays, Kenneth Michael 313 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 296, 342 Hendrickx, Sébastien 274–276, 277, 281, 286, 384 Herzl, Theodor 184 Hess, Sabine 233 Hessel, Stéphane 362 Higgins, Dick 40, 41 Höckelmann, Antonius 140
G
Gábor, Tompa 222 Gehlen, Dirk von 352 Gehr, Ernie 293 Giedion, Sigfried 313 Gies, Frédéric 34 Gieselmann, Reinhard 312 Gilbert & George [Gilbert Prousch und George Passmore] 278 Gillen, Eckhart 140, 145 Glette, Erich 125 Gluck, Christoph Willibald 18, 251, 258 Gnezdo 207, 208, 383 Goethe, Johann Wolfgang von 118, 119, 259 Golonka, Wanda 269 Goodwin, Douglas 293, 293, 385 Gordon, David 42, 62, 63, 64, 380 Graham, Martha 74 Gramsci, Antonio 234 Grenn, Nancy 62 Grieshaber, Helmut Andreas Paul 126 Grohmann, Will 153 Gropius, Walter 311, 312 Gross, Sally 44 Grosz, George 145 Groys, Boris 194, 204, 205, 206, 207, 210, 211, 382 Guattari, Pierre-Félix 327, 338, 343
Hoghe, Raimund 254, 257–259, 265, 375 Holder, Tony 44 Hollein, Hans 312 Huelsenbeck, Richard 108, 171 Hundertwasser, Friedensreich 13, 141, 142, 142, 145, 150, 312, 313, 381 Husemann, Pirkko 84, 87, 89
I
Ianco, Marcel 217, 219 Iliescu, Ion 224, 225 Ingvartsen, Mette 28–35, 31, 32, 52, 82, 86, 250, 379 Ionescu, Eugène 217, 221 Istrati, Panaït 223 Iureş, Marcel 226
J
Jansen, Gregor 145 Jeschke, Claudia 83 Johnston, Jill 61, 63 Jolas, Eugene 298 Joos, Kurt 251 Jorn, Asger 121, 125–127
K
Kanak Attak 231–237, 232, 238, 239–246, 242, 384 Kandinsky, Wassily 121 Kane, Sarah 226
388
REGISTER
Kantor, Tadeusz 199
Lozano, Lee 168–171, 169, 170, 382
Kaprow, Allan 12, 40
Luther, Martin 347, 348, 353, 365, 366
Karakayali, Serhat 233 Kerlin, Alexander 360, 361 Kermani, Navid 245
M
Maciunas, George 12, 14, 40, 40, 41, 379
Kessler, Harry Graf 21
Maclow, Jackson 40
Kiesler, Friedrich 312
Malewitsch, Kasimir 300, 312, 327
Kirby, Michael 40, 41
Malraux, André 303, 304
Klein, César 311
Man Ray [Emmanuel Rudnitzky, Emmanuel
Kliems, Alfrun 200
Radnitzky] 298, 301
Knöfel, Ulrike 110
Mandea, Nicolae 214
Knüwer, Thomas 363
Măniuţiu, Mihai 222
Knust, Albrecht 82
Marc, Franz 121
Köhler, Benedikt 355, 356
Marcus, Eugen [Ilarie Voronca] 220
Koolhaas, Rem 314, 317, 318, 376
Marinetti, Filippo Tommaso 20, 22, 156, 218, 220,
Kort, Pamela 149
240, 249, 299, 327, 358
Kosuth, Joseph 206
Marinotti, Paolo 125
Koudelka, Josef 266
Marx, Karl 14, 73, 199, 310, 326
Krauss, Christoph 333, 334
Matuszewski, Bolesław 294, 295
Kresnik, Hans 269
McDonagh, Martin 226
Krieg, Dieter 126
McLuhan, Marshall 377
Kundera, Milan 75
Meese, Jonathan 102, 110–113, 110, 112, 380
Kunzelmann, Dieter 119, 132
Melanchthon, Philipp 347, 348
L
Laban, Rudolf von 74, 75 Lacan, Jacques 179, 185, 188
Mendelsohn, Erich 311 Merz, Friedrich 237 Metzger, Gustav 11, 158, 159, 160–165, 161, 171, 300, 301, 303, 381
Lambert-Beatty, Carrie 42, 63, 380
Meyer, Hannes 312
Langlois, Henri 299, 302–307, 305, 385
Meyer-Lucht, Robin 363
Latour, Bruno 274, 280, 343
Michal, Wolfgang 363
Lauwers, Jan 282, 283, 284, 286
Mille, Agnes de 251
Le Roy, Xavier 82, 84, 86, 88, 95
Minarik, Jan 263
LeWitt, Sol 327
Moore, Peter 37, 41, 42, 64, 65, 380
Lehmann, Annette Jael 274, 280, 281
Moreau, Gustave 151
Lehmann, Hans-Thies 89, 90, 93, 94, 95,
Morgenstern, Maia 222
114, 216
Morris, Bob 44
Levine, Rick 35
Morris, Robert 40, 43, 61
Lieb, Norbert 125
Morrison, Bill 291, 291, 292, 285
Lindgren, Ernest 302–307, 304, 385
Mouffe, Chantal 235
Lindsay, Vachel 296
Müller, Hedwig 85
Lippard, Lucy 71, 171
Müller, Vanessa Joan 71
Lissitzky, El [Eliezer] 312
Murat G. 244
Lobo, Sascha 363 Locke, Christopher 353 Loo, Otto van de 125 Lovinescu, Monica 217
N
Naisbitt, John 320 Nay, Ernst Wilhelm 149
REGISTER
389
Nelega, Anglistin Alina 226
Ravenhill, Mark 226
Nietzsche, Friedrich Wilhelm 19
Rempt, Dieter 121
Nieuwenhuis, Alexander 286
Restany, Pierre 13
Niggemeier, Stefan 363, 364
Roche, François 320 Rodero, Cristina Garcia 266
O
Rošal, Michail 207
Obrist, Hans Ulrich 26, 54, 176, 379, Oldenburg, Claes 40, 41, 327, 332 Oswalt, Philipp 310
Rosefeldt, Julian 14, 15, 323, 326–329, 329, 331, 333, 339, 340, 343, 385 Röthel, Hans Konrad 125 Röttgers, Janko 363
P
Rubens, Peter Paul 300
Panofsky, Erwin 297, 298 Parmigianino [Girolamo Francesco Maria Mazzola] 258 Pascin, Jules 151
Rust, Holger 318
S
Saint-Point, Valentine de 19, 21, 22
Passig, Kathrin 363
Sandford, Mariellen 39
Passmore, George 278
Sarrazin, Thilo 232, 233, 245, 246
Paxton, Steve 42, 44, 62, 63, 64, 380
Schad, Isabelle 34
Peeters, Jeroen 271
Schechner, Richard 31, 39
Peruzzi, Baldassare 258
Scheerbart, Paul 312
Petrescu, Camil 221, 223
Schink, Peter 363
Phelan, Peggy 93, 95
Schleef, Einar 89
Picasso, Pablo 226
Schlemmer, Oskar 75
Pichler, Walter 312
Schlicher, Susanne 85
Piper, Adrian 327
Schlichter, Joseph 44
Ploebst, Helmut 26, 51, 93, 94
Schmidt, Jochen 253
Pollesch, René 256
Schneider, Rebecca 39
Pomarańczowa Alternatywa [PA] 194, 196,
Schönebeck, Eugen 137, 138, 139, 139, 140, 141,
197, 199, 201, 202, 211
144–153, 147, 372, 381
Pomian, Krzysztof 301
Schröder-Sonnenstern, Friedrich 140
Popcorn, Faith 320
Schultz, Joachim 17
Popovici, Iulia 228
Scott, Lincoln 62
Preciado, Beatriz 32
Searls, Doc [David] 353, 355
Prem, Heimrad 119, 121, 125
Sedlmayr, Hans 125
Prousch, Gilbert 278
Seitz, Odile 34
Prügel, Roland 219
Sennett, Richard 351
Puchner, Martin 19, 20, 290, 307, 357, 358
Şerba, Andrei 222, 223
Purcărete, Silviu 222, 223
Seyfert, Robert 20
R
Shakespeare, William 256
Rainer, Arnulf 141, 142, 142, 150, 381
Sherwin, Brian 155
Rainer, Yvonne 9, 10, 11, 23–29, 27, 34, 37–49,
Sieczkarek, Mark 266
Sezgin, Hilal 233, 244, 245, 245, 362, 384
51–63, 64, 65, 67, 68, 71–73, 76–78, 82, 84, 87,
Siegmund, Gerald 94, 95
96, 233, 235, 250, 327, 379, 380
Sierakowski, Sławomir 174
Rancière, Jacques 189, 190
Simanowski, Roberto 73
Raphael, Max 313
Situationisten [Internationale Situationisten,
Rauschenberg, Robert 44
Situationistische Internationale] 12, 123, 124, 127, 128, 131, 132, 165, 167, 167, 199
390
REGISTER
Six, Geert 283 Sixtus, Mario 363 Skersis, Viktor 203, 204, 207–209, 209, 282, 383 Sonderborg, Kurt Rudolf Hoffmann 126 Sontag, Susan 28, Sophokles 223 Sörgel, Hermann 313 Spangberg, Marten 250 Späte, Camilla 144 Spoerri, Daniel 302 SPUR 12, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124–128, 128, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 240, 372, 380, 381 Stadler, Gretel 121 Stadler, Toni 125 Staeck, Klaus 158 Stallman, Richard 353 Stangl, Etta 125 Stangl, Otto 125 Stawowy, Peter 363 Ştefan, Peca 225, 227, 228 Stegers, Fiete 363 Steinbrügge, Bettina 71, 72 Stewart, Ellen 222 Stöckemann, Patricia 85 Stöhrer, Walter 126 Stuart, Meg 84, 88, 94, 95 Sturm, Helmut 119, 121, 125, 132 Sturtevant, Elaine 327 Sun, William Huizhu 39
T
Taut, Bruno 311, 327 Terkessidis, Mark 233 Thurner, Christina 83 Tofflers, Alvin 319 TotArt 201 Trier, Lars von 327, 360, 361 Trojanow, Ilija 245 Trotzki, Leo 196 Truffaut, François 304 Tsianos, Vassilis 233, 234 Tylor, Edward Burnett 295 Tzara, Tristan [Samuel Rosenstock] 101, 107, 157, 217, 218, 219, 242
U
Unger, Oswald Mathias 312 Urmuz [Demetru Demetrescu Buzău] 218
V
Vălean, Andreea 215 Valie Export [Waltraud Stockinger] 11 Vaneigem, Raoul 127, 199 Vautier, Ben 14 Velde, Henry van de 312 Venturi, Robert 314, 316, 317, 327 Verdonck, Benjamin 271, 272, 272, 274–278, 277, 280–286, 286, 384 Vinea, Ion 219, 224 Voges, Kay 360, 361 Voronca, Ilarie 220, 221, 221, 224, 383 Vuchetich, Evgenij 208
W
Wagner, Martin 312 Warburg, Aby 295 Watt, Robert 41 Weinberger, David 353, 355 Weintraub, Linda 273 Weizsäcker, Carl Friedrich von 319 Wellershoff, Marianne 110, 111, 113 Whitehead, Raymond 88 Whitman, Robert 40, 41 Wigman, Mary 74, 75 Wildenhahn, Klaus 257 Wilson, Robert 89 Wizorek, Anne 362 Wolf, Stacy 39 Wright, Frank Lloyd 312 Wrubel, Michail 151
Y
Yeaton, Kelly 40 Young, La Monte 40
Z
Zaimoğlu, Feridun 233, 236, 245 Zakharov, Vadim 203, 204, 205, 208, 209, 209, 383 Zar Nikolaus II. [Romanow, Nikolaus Alexandrowitsch] 294 Zimmer, Hans Peter 119, 121, 125, 132, 134
REGISTER
391
Erweiterte Publikation zur Tagung „Clear the Air“. Künstlermanifeste in Choreographie, Performance Art und bildender Kunst seit den 1960er Jahren des Departments Kunstwissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München in Kooperation mit Access to Dance – Tanzbasis München, dem Bayerischen Staatsballett und der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, 3. bis 5. Dezember 2015. Tagung und Publikation wurden realisiert mit freundlicher Unterstützung von Access to Dance, des Departments Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Münchener Universitätsgesellschaft.
Access to Dance ist ein Programm zur Förderung von zeitgenössischem Tanz, das von einem Zusammenschluss verschiedener Münchner Tanzorganisationen und Institutionen – der Tanzbasis e. V. – initiiert und durchgeführt wird. Access to Dance wird ermöglicht durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld, und die Autoren © VG Bild-Kunst, Bonn 2017: Lothar Fischer, Jonathan Meese, Heimrad Prem, Julian Rosefeldt, Eugen Schönebeck, Helmut Sturm, Benjamin Verdonck, HP Zimmer Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Lektorat: Thomas Betz Register: Susann Kühn Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Claas Möller, Hamburg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3640-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3640-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter [email protected]
Kunst- und Bildwissenschaft Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.)
Bildwissenschaft und Visual Culture 2014, 352 S., kart. 24,99 E (DE), 978-3-8376-2274-4
Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
Haare hören — Strukturen wissen — Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3
Jelena Jazo
Postnazismus und Populärkultur Das Nachleben faschistoider Ästhetik in Bildern der Gegenwart Januar 2017, 284 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3752-6 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3752-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kunst- und Bildwissenschaft Michael Bockemühl
Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) 2016, 352 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3656-7 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3656-1
Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.)
Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken 2016, 218 S., kart. 32,99 E (DE), 978-3-8376-3452-5 E-Book PDF: 32,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3452-9
Werner Fitzner (Hg.)
Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen 2016, 260 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3598-0 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3598-4
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