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German Pages 3424 [3452] Year 2012
Claus-Wilhelm Canaris Gesammelte Schriften
CLAUS-WILHELM CANARIS Gesammelte Schriften
herausgegeben von Jörg Neuner und Hans Christoph Grigoleit in Zusammenarbeit mit Ingo Koller, Johannes Hager, Michael Junker, Reinhard Singer, Jens Petersen, Katja Langenbucher, Felix Hey, Carsten Herresthal, Thomas Riehm und Marietta Auer
Band 1: Rechtstheorie
De Gruyter
ISBN 978-3-11-027392-2 e-ISBN 978-3-11-027403-5
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbi bliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Datenerfassung/Satz: iNCO Sp. z o.o., Wawrów (Polen) Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Am 1. Juli 2012 vollendet Claus-Wilhelm Canaris das 75. Lebensjahr. Wie kaum ein anderer Gelehrter hat er in den letzten fünf Jahrzehnten die Entwicklung der Privatrechtswissenschaft national und international geprägt. Sein Werk erstreckt sich von der Rechtstheorie über die Grundrechte bis hin zur Vertrauenshaftung und zahlreichen anderen Grundlagenthemen des gesamten Zivil- und Handelsrechts. Seine Ideen haben nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs entscheidend beeinflusst, sondern auch der Praxis vielfältige Impulse gegeben und die Reformgesetzgebung, nicht zuletzt im Rahmen der großen Schuldrechtsreform, wesentlich mitgestaltet. Die gesammelten Schriften von Canaris sollen die Verfügbarkeit seines Werks für Wissenschaft und Praxis dauerhaft sicherstellen und einem noch breiteren Leserkreis im In- und Ausland zugänglich machen. Die Schriften sind in die drei Bände „Rechtstheorie“, „Vertrauenshaftung“ und „Privatrecht“ aufgeteilt, die das Werk von Canaris in diesen Themengebieten systematisch geschlossen und facettenreich präsentieren. Ausgenommen sind im Wesentlichen nur die Lehrbücher von Canaris zum Besonderen Schuldrecht und Handelsrecht (C.H. Beck-Verlag), die jüngeren Aufsätze, die der Vorbereitung des demnächst erscheinenden Lehrbuchs zum Allgemeinen Teil des Schuldrechts dienen, sowie die Kommentierungen zum Bankvertragsrecht im Staubschen HGB-Großkommentar (de Gruyter). In den Fließtext des Neudrucks sind die Originalseitenzahlen in Klammern und Fettdruck eingearbeitet. Dadurch soll gewährleistet werden, dass die ursprünglichen Fundstellen verglichen und zitiert werden können. Unser herzlicher Dank gilt vor allem dem Verlag de Gruyter für die tatkräftige und umsichtige Verwirklichung des Projekts. Ferner danken wir allen Verlagen, die freundlicherweise den Abdruck der einzelnen Beiträge genehmigt haben. Die Verlage sind am Ende jedes Bandes in einer alphabetisch geordneten Dankesliste mit den entsprechenden Beitragstiteln angeführt. Jörg Neuner
Hans Christoph Grigoleit
Inhalt Inhalt von Band II ......................................................................................................... IX Inhalt von Band III........................................................................................................ XI RECHTSTHEORIE Methodologische Grundlagen Die Feststellung von Lücken im Gesetz ....................................................................... 3 Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz ........................................... 191 Theorienrezeption und Theorienstruktur ................................................................. 347 Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien .................................... 385 Richtigkeit und Eigenwertung in der richterlichen Rechtsfindung ....................... 423 Konsens und Verfahren als Grundelemente der Rechtsordnung – Gedanken vor dem Hintergrund der „Eumeniden“ des Aischylos ................ 433 Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht ........................................................ 453 Die Stellung der „UNIDROIT Principles“ und der „Principles of European Contract Law“ im System der Rechtsquellen ............................. 491 Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre ........................................................................... 519 Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre ........................................................................... 581 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung ........................................................................................................ 599 Die Europäische Union als Gemeinschaft des Rechts – von Athen und Rom über Bologna nach Brüssel ................................................................. 621 Grundrechte und Privatrecht Grundrechte und Privatrecht(1999) .......................................................................... 641 Grundrechte und Privatrecht(1984/1985) ............................................................... 727 Verstöße gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot im Recht der Geschäftsfähigkeit und im Schadensersatzrecht......................................... 775 Zur Problematik von Privatrecht und verfassungsrechtlichem Übermaßverbot ...................................................................................................... 807 Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip in der richterlichen Anwendung und Fortbildung des Privatrechts ........................... 819 Die Verfassungswidrigkeit von § 828 II BGB als Ausschnitt aus einem größeren Problemfeld ........................................................................................... 851
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Inhalt
Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 07.02.1990 – 1 BvR 26/84 ................... 859 Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft ......................................................................................... 871 Das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für die Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte als Verfassungsverstoß ................................................... 891 Das Recht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG als Grundlage eines arbeitsrechtlichen Kontrahierungszwangs ................................................ 919 Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten ................................ 945 Danksagung und Verlagsnachweis ............................................................................ 985
Inhalt von Band II VERTRAUENSHAFTUNG Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht ....................................................... 3 Haftung Dritter aus positiver Forderungsverletzung .............................................. 657 Ansprüche wegen „positiver Vertragsverletzung“ und „Schutzwirkung für Dritte“ bei nichtigen Verträgen ..................................................................... 669 Schweigen im Rechtsverkehr als Verpflichtungsgrund ........................................... 691 Bewegliches System und Vertrauensschutz im rechtsgeschäftlichen Verkehr ................................................................................................................... 717 Die Reichweite der Expertenhaftung gegenüber Dritten ....................................... 731 Die Schadensersatzpflicht der Kreditinstitute für eine unrichtige Finanzierungsbestätigung als Fall der Vertrauenshaftung................................ 773 Die Vertrauenshaftung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ............................................................................................... 795 Danksagung und Verlagsnachweis ............................................................................ 865
Inhalt von Band III PRIVATRECHT Rechtsgeschäfts- und Vertragslehre Gesetzliches Verbot und Rechtsgeschäft ..................................................................... 3 Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht....................... 35 Die Verdinglichung obligatorischer Rechte ............................................................. 139 Gesamtunwirksamkeit und Teilgültigkeit rechtsgeschäftlicher Regelungen ........ 207 Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“ .................................................................................................. 259 Die Übertragung des Regelungsmodells der §§ 125–130 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als unzulässige Rechtsfortbildung contra legem ........................................................................................................... 349 Funktionen des Allgemeinen Teils eines Zivilgesetzbuchs und Grenzen seiner Leistungsfähigkeit....................................................................................... 403 Schuldrechtsmodernisierung Zur Bedeutung der Kategorie der „Unmöglichkeit“ für das Recht der Leistungsstörungen ............................................................................................... 423 Die Reform des Rechts der Leistungsstörungen ..................................................... 451 Schadenersatz wegen Pflichtverletzung, anfängliche Unmöglichkeit und Aufwendungsersatz im Entwurf des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes ................................................................................................................... 521 Das allgemeine Leistungsstörungsrecht im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz ....................................................................................................................... 541 Einführung in das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz ......................................... 559 Die Neuregelung des Leistungsstörungs- und des Kaufrechts – Grundstrukturen und Problemschwerpunkte – ............................................................ 623 Bereicherungsrecht Der Bereicherungsausgleich im Dreipersonenverhältnis ........................................ 717 Der Bereicherungsausgleich im bargeldlosen Zahlungsverkehr ............................ 777 Die Gegenleistungskondiktion ................................................................................... 819 Gewinnabschöpfung bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ...... 867 Schadensersatzrecht Notstand und „Selbstaufopferung“ im Straßenverkehr ......................................... 895 Risikohaftung bei schadensgeneigter Tätigkeit in fremdem Interesse .................. 917 Schutzgesetze – Verkehrspflichten – Schutzpflichten ............................................ 945
X II
Inhalt von Band III
Täterschaft und Teilnahme bei culpa in contrahendo .......................................... 1025 Die Gefährdungshaftung im Lichte der neueren Rechtsentwicklung................. 1053 Die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens“ und ihre Grundlagen ........ 1085 Grundstrukturen des deutschen Deliktsrechts ...................................................... 1109 Bankvertrags- und Wertpapierrecht Der Einwendungsausschluß im Wertpapierrecht .................................................. 1129 Die Verrechnung beim Kontokorrent .................................................................... 1151 Grundprobleme des bankgeschäftlichen Abrechnungsverkehrs ......................... 1179 Der Wechselbereicherungsanspruch ....................................................................... 1229 Der Zinsbegriff und seine rechtliche Bedeutung................................................... 1255 Kreditkündigung und Kreditverweigerung gegenüber sanierungsbedürftigen Bankkunden .................................................................................... 1275 Verlängerter Eigentumsvorbehalt und Forderungseinzug durch Banken .......... 1305 Einwendungsausschluß und Einwendungsdurchgriff bei Dokumentenakkreditiven und Außenhandelsgarantien ........................................................ 1335 Das Verhältnis zwischen dem wechsel- und scheckrechtlichen Einwendungsausschluß und der Lehre vom Einwendungsdurchgriff kraft Rechtsmißbrauchs ...................................................................................... 1361 Das Informations- und das Inhaltsschrankenmodell beim Konsumentenkredit ..................................................................................................................... 1415 Interessenlage, Grundprinzipien und Rechtsnatur des Finanzierungsleasing .................................................................................................................... 1447 Grundprobleme des Finanzierungsleasing im Lichte des Verbraucherkreditgesetzes ....................................................................................................... 1505 Die Bedeutung des „materiellen“ Garantiefalles für den Rückforderungsanspruch bei der Garantie „auf erstes Anfordern“ ......................................... 1531 Danksagung und Verlagsnachweis .......................................................................... 1553
RECHTSTHEORIE
Methodologische Grundlagen
Die Feststellung von Lücken im Gesetz Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem SCHRIFTEN ZUR RECHTSTHEORIE, HEFT 3, 2. AUFL., BERLIN 1983, S. 5–13, 15–219 Inhaltsverzeichnis* Vorwort zur 2. Auflage .................................................................................................... 5 Aus dem Vorwort zur 1. Auflage .................................................................................... 6 Inhaltsverzeichnis ............................................................................................................. 9 Erstes Kapitel §§ 1-46 Der Begriff der Gesetzeslücke .............................................................15 §§ 1-5 Vorbemerkung: Zur Methode der Begriffsbildung...........................15 §§ 3-4 A. Der allgemeine Sprachgebrauch: Die Lücke als „planwidrige Unvollständigkeit“ ...................................................16 §5 B. Die besondere Aufgabe des Lückenbegriffs: Die Lücke als Voraussetzung der Rechtsfindung praeter legem .......................17 §§ 6-19 1. Abschnitt: Die Unvollständigkeit: Abgrenzung gegenüber der Rechtsfindung secundum legem („Auslegung“) ..................19 §§ 11-14 A. Lücke und Analogie ........................................................................24 §§ 15-17 B. Lücke und konkretisierungsbedürftige Rechtsbegriffe ..............26 § 18 C. Lücke und Gewohnheitsrecht .......................................................29 §§ 20-44 2. Abschnitt: Die Planwidrigkeit: Abgrenzung gegenüber der Rechtsfindung contra legem ..........................................................31 §§ 30-39 I. Die Fälle „qualifizierten Schweigens“ des Gesetzes...................40 §§ 30-34 A. Lücke und „rechtsfreier Raum“ ....................................................40 §§ 35-39 B. Lücke und „argumentum e contrario“ .........................................44 §§ 40-44 II. Die übrigen Fälle des Schweigens des Gesetzes .........................48 §§ 41-42 A. Der „allgemeine negative Satz“ .....................................................49 §§ 43-44 B. Lücke und „argumentum e silentio (legis completae)“ ..............50
* Anm. d. Hrsg.: Das Inhaltsverzeichnis wurde aus dem Original übernommen, die Seitenanzahlen beziehen sich folglich auf das Original.
4 §§ 45-46 [10]
Die Feststellung von Lücken im Gesetz
Anhang: Lücke und ergänzende Vertragsauslegung (i. w. S.) ..........53
Zweites Kapitel §§ 47-118 Maßstäbe und Mittel der Lückenfeststellung .....................................55 §§ 50-62 1. Abschnitt: Die Anordnungen des positiven Rechts in Verbindung mit dem Rechtsverweigerungsverbot.....................59 § 50 A. (Offene) Normlücken.....................................................................59 §§ 51-53 B. (Offene) Regelungslücken..............................................................60 § 54 C. Fragen innerhalb eines rechtlichen Verfahrens...........................61 §§ 55-57 D. Fehlen einer Sanktion im Falle einer „lex perfecta“ ...................63 §§ 58-62 E. (Logische und teleologische) Kollisionslücken ...........................65 §§ 63-83 2. Abschnitt: Die Wertungen des positiven Rechts, insbesondere in Verbindung mit dem Gleichheitssatz ..............71 §§ 64-73 I. Der positive Gleichheitssatz ..........................................................71 § 64 A. Analogie als Mittel der Lückenfeststellung ..................................71 § 70 B. Argumentum a fortiori als Mittel der Lückenfeststellung .......................................................................................78 § 73 C. Normlücken und positiver Gleichheitssatz .................................81 §§ 74-78 II. Der negative Gleichheitssatz: Teleologische Reduktion als Mittel der Lückenfeststellung...................................................82 §§ 79-83 III. Die ratio legis unmittelbar .............................................................88 § 80 A. Teleologische Reduktion als Mittel der Lückenfeststellung ......88 § 81 B. Teleologische Extension als Mittel der Lückenfeststellung.......89 § 83 C. Teleologische Umbildung als Mittel der Lückenfeststellung.....91 §§ 84-117 3. Abschnitt: Allgemeine Rechtsprinzipien und Rechtswert .........93 §§ 84-112 I. Allgemeine Rechtsprinzipien .........................................................93 §§ 89-98 A. Gewinnung eines allgemeinen Prinzips aus dem positiven Recht .................................................................................................97 [11] §§ 99-106 B. Rückführung eines allgemeinen Prinzips auf die Rechtsidee ..................................................................................... 106 §§ 107-112 C. Rückführung eines allgemeinen Prinzips auf die „Natur der Sache“ ........................................................................ 118 §§ 113-117 II. Rechtswerte................................................................................... 123 §§ 114-115 A. Gewinnung aus dem positiven Recht........................................ 124 § 116 B. Rückführung auf die Rechtsidee ................................................ 125 § 117 C. Rückführung auf die „Natur der Sache“ ................................... 126 § 118 Zusammenfassung.............................................................................. 127 Drittes Kapitel §§ 119-135 Die Arten der Lücken ........................................................................ 129
Schriften zur Rechtstheorie, Heft 3, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 5–13, 15–219
§§ 120-123 § 120 § 121
§§ 122-123 §§ 124-130 §§ 124-125 §§ 126-127 § 128 §§ 129-130 [12] §§ 131-135
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1. Abschnitt: Unzutreffende Einteilungen .................................... 129 A. Verwischung der Grenze zur Rechtsfindung secundum legem: Lücken „intra und praeter legem“; „formelle und materielle“ Lücken; „Gebots- und Wertungslücken“ ............. 130 B. Verwischung der Grenze zur Rechtsfindung contra legem: „Anwendbarkeitslücken“ und „kritische Lücken“; „immanente und transzendente“ Lücken; „logische und ethische“ Lücken; „eigentliche und uneigentliche“ Lücken .................... 130 C. Zitelmanns Unterscheidung „echter und unechter“ Lücken ........................................................................................... 131 2. Abschnitt: Die wichtigsten herkömmlichen Einteilungen .................................................................................. 134 A. Unterscheidung nach der Stellungnahme des historischen Gesetzgebers: „Bewußte und unbewußte“ Lücken ................. 134 B. Unterscheidung nach dem Entstehungszeitpunkt der Lücke: „Anfängliche und nachträgliche“ Lücken .................... 135 C. Unterscheidung nach dem Verhältnis zum Wortlaut des Gesetzes: „Offene und verdeckte“ Lücken ............................. 136 D. Unterscheidung nach der Art der Unvollständigkeit: „Norm-, Regelungs- und Gebietslücken“................................. 137 3. Abschnitt: Der eigene Einteilungsvorschlag ............................ 139 Unterscheidung nach dem Maßstab der Lückenfeststellung: „Anordnungs- oder Rechtsverweigerungslücken“, „teleologische“ Lücken und „Prinzip- und Wertlücken“
Viertes Kapitel §§ 136-162 Das Verhältnis von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung................................................................................ 144 (insbesondere: drei verschiedene Funktionen der Analogie) §§ 137-139 1. Abschnitt: Das Verhältnis von Feststellung und Ausfüllung bei den Rechtsverweigerungslücken (insbesondere: die Fälle der „möglichen“ Analogie) ............... 144 §§ 140-151 2. Abschnitt: Das Verhältnis von Feststellung und Ausfüllung bei den teleologischen Lücken (insbesondere: die Fälle der „notwendigen“ Analogie)............................................................ 148 §§ 140-142 A. Die Fälle der „notwendigen“ Analogie ..................................... 148 § 143 B. Die Fälle des „notwendigen argumentum a fortiori“ .............. 150 § 144 C. Die Fälle teleologischer Normlücken ........................................ 150 §§ 145-151 D. Die Fälle der teleologischen Reduktion .................................... 151
6 §§ 152-160 §§ 161-162
Die Feststellung von Lücken im Gesetz
3. Abschnitt: Das Verhältnis von Feststellung und Ausfüllung bei den Prinzip- und Wertlücken (insbesondere: die ,,konkretisierende Funktion“ der Analogie) ............................. 160 Zusammenfassung.............................................................................. 169
Fünftes Kapitel §§ 163-188 Die Grenzen der Lückenausfüllung ................................................. 172 §§ 164-170 1. Abschnitt: Die Grenzen der Lückenausfüllung bei den Rechtsverweigerungslücken ........................................................ 172 §§ 164-168 A. Die Möglichkeit unausfüllbarer Lücken .................................... 172 §§ 169-170 B. Die Problematik des Analogieverbotes ..................................... 177 [13] §§ 171-185 2. Abschnitt: Die Grenzen der Lückenausfüllung bei den teleologischen Lücken ................................................................. 180 § 171 A. Die Möglichkeit unausfüllbarer Lücken .................................... 180 §§ 172-185 B. Die Problematik von Analogie-, Induktion- und Reduktionsverbot .................................................................................... 180 §§ 173-180 1. Die Unzulässigkeit der Analogie ................................................ 180 §§ 181-185 2. Die Unzulässigkeit der teleologischen Reduktion ................... 189 §§ 186-188 3. Abschnitt: Die Grenzen der Lückenausfüllung bei den Prinzip- und Wertlücken ............................................................. 194 § 186 A. Die Möglichkeit unausfüllbarer Lücken .................................... 194 §§ 187-188 B. Die Problematik von Analogie- und Induktionsverbot .......... 194 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse..................................................... 197 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 204 Sachverzeichnis ............................................................................................................ 215 Stichwortverzeichnis zu den wichtigsten Beispielen ............................................... 218 [5] Vorwort zur 2. Auflage Wenn eine Dissertation in 2. Auflage erscheint, ist das für den Verfasser Freude und Verlegenheit zugleich – Freude, weil der wissenschaftliche Erstling offenbar noch immer im Gespräch ist, Verlegenheit, weil man heute, zumal bei einem zeitlichen Abstand von fast zwanzig Jahren, naturgemäß manches anders – und manches gar nicht mehr – sagen würde. Indessen stehe ich zu den wesentlichen methodologischen Aussagen dieses Buches noch immer; die wenigen Stellen, auf die das nicht zutraf, habe ich entsprechend geändert. Heikler sind die vielen praktischen Beispiele, von denen einige durch die seitherige Gesetzgebung überholt sind oder durch die Fortentwicklung der Dogmatik in einem anderen
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Licht erscheinen. Insoweit durchgreifende Änderungen vorzunehmen, war jedoch aus drucktechnischen Gründen nicht möglich und schien mir auch nicht unumgänglich, weil die Beispiele nicht um ihrer selbst willen behandelt sind, sondern lediglich zur Veranschaulichung bestimmter methodologischer Gesichtspunkte dienen und diesen Zweck nach wie vor erfüllen können; wo ich die seinerzeit vertretene Lösung nicht mehr für richtig halte, habe ich das jeweils in einer Fußnote vermerkt. München, im Dezember 1982
Claus-Wilhelm Canaris [6]
Aus dem Vorwort zur 1. Auflage Der Problematik der Lückenfeststellung ist bisher in Literatur und Rechtsprechung überraschend wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Gleichwohl ist sie nicht weniger bedeutsam, ja regelmäßig sogar wichtiger als die Frage der Lückenausfüllung, fällt doch bereits bei der Lückenfeststellung die einschneidende Entscheidung darüber, ob der Richter überhaupt zur Rechtsfortbildung befugt ist. Die vorliegende Arbeit hat sich daher, wie auch der Untertitel hervorhebt, ein bestimmtes praktisches Ziel gesetzt: durch die Untersuchung des Lückenbegriffs und der Möglichkeiten der Lückenfeststellung die Voraussetzungen zu klären, unter denen der Richter das Recht ergänzen darf. Freilich steht hier nicht das gesamte Gebiet der richterlichen Rechtsfortbildung in Frage, sondern nur jener Bereich, der herkömmlicherweise als Rechtsfindung „praeter legem“ oder „Gesetzesergänzung“ bezeichnet und in Gegensatz zur Rechtsfindung „secundum legem“ oder „Gesetzesauslegung“ und zur Rechtsfindung „contra legem“ oder „Gesetzesberichtigung“ gestellt wird. Diesen Bereich aber sucht die Arbeit – durch eine entsprechend weite Fassung des Lückenbegriffs (vgl. §§ 24 ff.) – vollständig auszuschreiten; insbesondere so hochaktuellen und weitgehend ungeklärten Problemkreisen wie der Bildung neuer Rechtsinstitute durch die Rechtsprechung und der Rechtsfortbildung mit Hilfe „allgemeiner Rechtsprinzipien“ gilt dabei besondere Aufmerksamkeit, wobei zugleich der Versuch unternommen wird, auch insoweit einigermaßen praktikable methodische Regeln aufzustellen und so dem Richter die erforderliche Hilfe zu geben wie die unerläßlichen Schranken zu weisen. Entsprechend dem Anliegen, den Bereich zulässiger Gesetzesergänzung vollständig abzustecken, werden schließlich im letzten Kapitel die „Grenzen der Lückenausfüllung“ behandelt, also jene Fälle, in denen der Richter trotz Vorliegens einer Lücke nicht zur Rechtsfortbildung schreiten darf. Die Problematik der Lückenausfüllung als solche ist dagegen nicht Gegenstand dieser Arbeit; dennoch haben auch die wichtigsten Lückenausfüllungsmittel wie Analogie, teleologische Reduktion, allgemeine Rechtsprinzipien, Natur der Sache usw. eine eingehende Erörterung gefunden, da sie – und das ist bereits eines der wesentlichsten Ergeb-
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz
nisse dieser Untersuchung – regelmäßig auch im Rahmen der Lückenfeststellung von Bedeutung sind. [7] Der Untertitel des Buches hebt noch ein weiteres hervor: es handelt sich um eine methodologische Studie. Damit ist zugleich gesagt, was die Arbeit nicht sein will: sie ist keine rechtsphilosophische und keine positiv-rechtliche, insbesondere keine verfassungsrechtliche Untersuchung. Dennoch gilt auch für sie, was Larenz (Methodenlehre S. V) das „doppelte Gesicht“ einer jeden methodologischen Arbeit genannt hat: ihr liegen ebenso bestimmte rechtsphilosophische Vorstellungen, insbesondere vom Wesen des Rechts, zugrunde wie sie auf eine besondere, historisch konkretisierte Rechtsordnung, insbesondere auf eine bestimmte, verfassungsrechtlich vorgeprägte Gestaltung des Richtertums, Bezug nimmt. In der Tat wird jedem, der sich mit methodologischen Problemen befaßt, immer wieder bewußt werden, in welchem Maße gerade in den entscheidenden Fragen Methodologie, Rechtsphilosophie und positives Recht miteinander verflochten und aufeinander angewiesen sind. Läßt sich doch schon die Relevanz so „selbstverständlicher“ juristischer Argumentationsmittel wie Analogie, teleologischer Reduktion, argumentum a fortiori, e contrario, ad absurdum usw. nicht rein formallogisch, sondern letztlich nur durch den – allen gemeinsamen – Bezug auf den (positiven oder negativen) Gleichheitssatz begründen. Daß auf der anderen Seite das positive Recht von entscheidendem Einfluß ist, ergibt sich hier schon daraus, daß der Lückenbegriff bewußt und ausdrücklich im Hinblick auf die verfassungsrechtlich festgelegten Aufgaben und Befugnisse des Richters bestimmt wurde. Alle diese Fragen aber mußten, sollte der Rahmen dieser Arbeit, der Sache wie dem äußeren Umfang nach, gewahrt bleiben, vorausgesetzt werden und haben nur ausnahmsweise, z. T. in Exkursen in den Fußnoten, nähere Ausführung gefunden. München, im Oktober 1964
Claus-Wilhelm Canaris [15] Erstes Kapitel
Der Begriff der Gesetzlücke Vorbemerkung Zur Methode der Begriffsbildung § 1 Es ist eine häufig wiederholte Selbstverständlichkeit, daß es für die Bildung juristischer Begriffe in vielen Fällen keine festen Regeln in dem Sinne gibt, daß eine Terminologie als „richtig“ oder „falsch“ bezeichnet werden könnte. Andererseits aber handelt es sich dabei doch auch um nichts weniger als um eine Frage bloßen Beliebens. Soll ein Rechtsbegriff sinnvoll und brauchbar sein, so ist
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bei seiner Bestimmung vielmehr regelmäßig zweierlei zu beachten: der allgemeine Sprachgebrauch zum einen und seine besondere juristische Aufgabe zum anderen. Der allgemeine Sprachgebrauch hat als Ausgangspunkt und Wegweiser zu dienen, – jedenfalls soweit es sich nicht um spezifisch juristische Begriffe wie etwa Hypothek, Dienstbarkeit, Vorerbschaft usw. handelt; denn wenn anders die wissenschaftliche Terminologie nicht jeden kennzeichnenden Charakter verlieren und zu einer bloßen abstrakten Formel ohne inneren Sinnbezug auf ihren Gegenstand herabsinken soll, muß sie Rücksicht nehmen auf den in einem Wort typischerweise enthaltenen und daher regelmäßig mitgedachten Bedeutungsgehalt. § 2 Zur genauen Abgrenzung eines Begriffs aber kann der allgemeine Sprachgebrauch keinesfalls genügen. Dazu ist er schon deswegen nicht brauchbar, weil er regelmäßig nicht eindeutig ist, sondern mehreren Möglichkeiten Raum läßt. Vor allem aber werden wissenschaftliche Begriffe nicht um ihrer selbst willen geschaffen, sondern zur Klärung und Abgrenzung bestimmter sachlicher Probleme; erst aus dem besonderen Funktionszusammenhang, in dem sie gebraucht werden, erhalten sie daher ihr eigentümliches Gewicht und ihren genauen Umfang. Somit ist für die endgültige Bestimmung eines Begriffs entscheidend die besondere Aufgabe, die er zu erfüllen hat. [16] Damit ist zweierlei gewonnen: erstens ist es möglich, den Mehrdeutigkeiten des allgemeinen Sprachgebrauchs zu entrinnen, ohne Zuflucht zu einer bloßen Nominaldefinition nehmen zu müssen. Zweitens ist gewährleistet, daß bei der Bildung des Begriffs stets der Zusammenhang mit der Sachproblematik erhalten bleibt, deren Erfassung seine Schaffung letzten Endes allein rechtfertigt. – Freilich bringt diese Bestimmung der Terminologie aus ihrer Aufgabe auch erhebliche methodische Schwierigkeiten mit sich: es ist nicht möglich, die einzelnen Merkmale schrittweise im Wege der Deduktion zu entwickeln und den so gewonnenen fertigen Begriff dann auf seinen Gegenstand anzuwenden; vielmehr lassen sich seine Grenzen erst mit der fortschreitenden Erhellung der sachlichen Problematik genauer festlegen, und es wird sich daher mitunter nicht vermeiden lassen, ihn zugleich schon vorauszusetzen und erst näher zu bestimmen. Doch werden diese Nachteile aufgewogen durch die auf diese Weise gewonnenen Vorzüge der besonderen Sachnähe und der erhöhten praktischen Brauchbarkeit. Im folgenden werden daher als Abgrenzungskriterien für die Bestimmung des Begriffs der Gesetzeslücke der allgemeine Sprachgebrauch und die besondere juristische Aufgabe des Lückenbegriffs dienen. A. Der allgemeine Sprachgebrauch: die Lücke als „planwidrige Unvollständigkeit“ § 3 Wenn man von einer Mauerlücke, einer Zaunlücke, einer Wissenslücke, einer Gedächtnislücke usw. spricht, so will man in allen diesen Fällen auf eine
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz
Unvollständigkeit – innerhalb eines mehr oder weniger geschlossenen Ganzen – hinweisen: in der Mauer, im Zaun, im Wissen, im Gedächtnis fehlt etwas. Doch nicht schlechthin jede Unvollständigkeit wird als Lücke bezeichnet; die Mauer, der Zaun, das Wissen, das Gedächtnis werden vielmehr nur deshalb als lückenhaft empfunden, weil sie „eigentlich“ vollständig sein sollten. Neben die bloße Tatsachenfeststellung, daß etwas fehlt, tritt also das Werturteil, daß etwas vorhanden sein sollte. Eine Lücke ist demnach eine unbefriedigende, eine „planwidrige“ Unvollständigkeit1. Überträgt man nun diese, aus dem allgemeinen Sprachgebrauch abgeleitete Bestimmung des Begriffs auf den Fall der Gesetzeslücke, so ergibt sich: Eine Gesetzeslücke ist eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes. [17] Damit ist indessen noch nicht viel gewonnen. Denn da die Feststellung einer Lücke ein Werturteil erfordert2, so kommt es entscheidend darauf an, einen Bewertungsmaßstab zu finden. Wonach beurteilt sich also, ob eine Unvollständigkeit des Gesetzes unbefriedigend ist, was ist – anders gesprochen – der „Plan“, dem sie zuwiderläuft? Ist dieser dem Gesetz selbst zu entnehmen, oder ergibt er sich von einem Standpunkt außerhalb des Gesetzes: entscheidet über die Frage der Lückenhaftigkeit z. B. das Naturrecht, das „richtige“ Recht, das Gemeinwohl, das Rechtsgefühl der Allgemeinheit oder des Richters usw.? § 4 Schon an diesem Punkte versagt nun der Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch; denn er ist in dieser Frage nicht einheitlich. So bezeichnet man eine Mauer oder einen Zaun als lückenhaft, weil sie auf Grund der Unvollständigkeit ihrer eigenen Zwecksetzung – Unberechtigten den Zutritt zu verwehren – nicht entsprechen; der Bewertungsmaßstab wird also dem Bewertungsobjekt selbst entnommen. Anders bei der Gedächtnis- oder der Wissenslücke: das Gedächtnis (z. B. eines Zeugen) oder das Wissen (z. B. eines Prüflings) werden deshalb als lückenhaft empfunden, weil sie bestimmten außer ihnen selbst liegenden Anforderungen nicht genügen; der Bewertungsmaßstab wird hier von einem Standpunkt außerhalb des Bewertungsobjektes bestimmt. – Der allgemeine Sprachgebrauch gibt somit keinen Aufschluß darüber, welches Kriterium für die Feststellung einer Gesetzeslücke maßgeblich sein soll. Nach dem oben Ausgeführten ist es daher nunmehr erforderlich, dem Lückenbegriff eine bestimmte Aufgabe zuzuweisen, um so zu einer genaueren Bestimmung zu gelangen.
1 Hierauf im Zusammenhang mit dem Begriff der Gesetzeslücke zum ersten Mal hingewiesen zu haben, ist das Verdienst von Elze (S. 4 ff.); ebenso: Engisch, Einführung, S. 137 f.; Larenz, ML, S. 286; ähnlich schon Bekker, S. 61. Zur Kritik an Elze vgl. aber im übrigen unten Fußn. 69. 2 Dies wird allgemein anerkannt. Vgl. z. B. Heck, Gesetzesauslegung, S. 163; Binder, S. 983; Stoll, Methode, S. 100; Somlo, Die Anwendung des Rechts, S. 65; Ross, S. 343; Engisch, Rechtslücke, S. 90 f.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 252, Fußn. 56; Larenz, ML, S. 282 f.; Du Pasquier, Lacunes, S. 19.
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B. Die besondere Aufgabe des Lückenbegriffs: die Lücke als Voraussetzung der Rechtsfindung praeter legem § 5 Wie jeder juristische Begriff, so hat auch der Lückenbegriff vornehmlich der Anwendung des Rechts zu dienen. Eine praktische Aufgabe kann er daher dort erfüllen, wo die – das Wesen der Lücke ausmachende – Unvollständigkeit des Gesetzes für die Rechtsanwendung bedeutsam wird. Dies ist der Fall in jenem Bereich, der herkömmlicherweise als „Rechtsfindung praeter legem“ bezeichnet wird, in dem also der Richter zur „Ergänzung“ des Gesetzes tätig wird. Da das wesentliche Merkmal des Lückenbegriffs eben die Unvollständigkeit – und d. h. die Voraussetzung der Ergänzungsbedürftigkeit – ist, eignet er [18] sich vorzüglich dazu, Voraussetzungen und Grenzen dieser Rechtsfindung „iuris supplendi gratia“ abzustecken. So wird denn auch der Zusammenhang zwischen den Gesetzeslücken und der Rechtsfindung praeter legem – trotz mancher Unstimmigkeiten im einzelnen – allgemein anerkannt. – Hat der Lückenbegriff damit seine konkrete praktische Aufgabe erhalten, so ist nunmehr durch die Verbindung mit einer bestimmten richterlichen Tätigkeit und die auf diese Weise gegebene Beziehung auf die Stellung des Richters in unserem Rechtssystem auch die Grundlage geschaffen, um zu einer näheren Bestimmung der einzelnen Merkmale zu gelangen. – Diese gilt es dabei hauptsächlich nach zwei Seiten hin vorzunehmen: einmal ist zu klären, wann das Gesetz überhaupt unvollständig ist, also keine Regelung enthält, – anders gesprochen: wo die Grenze zur Rechtsfindung secundum legem liegt (1. Abschnitt); und zum zweiten ist zu untersuchen, von welchem Standpunkt aus sich die „Planwidrigkeit“ einer festgestellten Unvollständigkeit bestimmt, wo also die Trennungslinie zur – grundsätzlich unzulässigen – „Rechtsfindung contra legem“ verläuft (2. Abschnitt). [19] Erster Abschnitt Die Unvollständigkeit: Abgrenzung gegenüber der Rechtsfindung secundum legem („Auslegung“) § 6 Um den Begriff der Unvollständigkeit näher zu umreißen, empfiehlt es sich wieder, auf den allgemeinen Sprachgebrauch zurückzugreifen. Bei einer Mauer oder einem Zaun beginnt die Lücke dort, wo deren Material – Steine oder Latten – aufhört. Das „Material“, aus dem ein Gesetz besteht, sind nun Normen. Normen sind ihrem Wesen nach Befehle oder – nach einer anderen Ansicht –
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Geltungsanordnungen3. Die gesetzliche Anordnung aber tritt in Erscheinung ausschließlich durch die Worte, in denen sie formuliert ist. Es liegt daher nahe, als Abgrenzungskriterium für das Vorliegen einer Lücke des Gesetzes seinen Wortsinn zu verwenden. § 7 Hinter der Anordnung jedoch steht die Wertung des Gesetzes, hinter der lex die ratio legis. Auch diese bildet, zumal seit sich die teleologische Interpretation als letztlich maßgebend immer mehr durchgesetzt hat, einen in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden Auslegungsfaktor. Es wäre daher immerhin auch denkbar, von einer Unvollständigkeit erst dort zu sprechen, wo dem Gesetz für einen bestimmten Fall keine Wertung zu entnehmen ist, und nicht schon dort, wo es keine ausdrückliche Anordnung enthält. Diese Ansicht wird in der Tat nicht selten vertreten, – vor allem im schweizerischen Schrifttum4, aber auch in der deutschen Literatur5 –, ohne daß freilich das maßgebliche Abgrenzungskriterium immer mit der wünschenswerten [20] Klarheit herausgestellt würde. Terminologisch wird dabei häufig der „Auslegung“ – unter Einschluß der „ergänzenden Auslegung“6 – die „freie Rechtsfindung“ gegenübergestellt“7. Mitunter werden auch die Fälle, in denen eine Regelung nicht mehr vom Wortlaut, wohl aber noch vom „Sinn“ des Gesetzes gedeckt ist, als lediglich „formelle“ Lücken8 bezeichnet im Gegensatz zu den „materiellen“, die dann vorliegen sollen, wenn es an einer gesetzlichen Wertung fehlt; nur diese werden dabei als „eigentliche“ Lücken anerkannt. Der Sache nach Ähnliches bezeichnet die Unterscheidung Hecks9 zwischen „Gebots-“ und „Wertungslücken“, wobei er aber – darin allerdings seinerseits zu weit gehend10 – beide gleichermaßen als echte Gesetzeslücken betrachtet. 3 Eines Eingehens auf den Streit um die Richtigkeit der „Imperativentheorie“ bedarf es in diesem Zusammenhang nicht. Vgl. dazu z. B. einerseits Engisch, Einführung, S. 22 ff., und Larenz, ML, S. 151 ff., andererseits. 4 Hier kann sie geradezu als h. L. bezeichnet werden. Vgl. Gmür, S. 61; Germann, Grundfragen, S. 111; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 54, 58, 61 und Kommentar, Randziffer 263; Schweizer, S. 9, 43 und öfter; Waiblinger, S. 236; unklar Keller, S. 59 ff., der einerseits auf den Wortsinn abzustellen scheint (vgl. insbesondere S. 67 f.), andererseits aber doch Lücken „intra legem“ anerkennt (vgl. S. 59 f.; näher zu diesem Begriff vgl. unten § 16). 5 Vgl. vor allem Sax, Analogieverbot, insbesondere S. 87 f.; ferner Bastian, S. 52; Heck, Gesetzesauslegung, S. 173 f. spricht von Lücke sowohl beim Fehlen einer Anordnung als auch beim Fehlen einer Wertung. 6 Gmür, S. 61; Becker, S. 433. Der Ausdruck läßt deutlich erkennen, daß in Wahrheit bereits eine Lücke vorhanden ist: Von „Ergänzung“ kann nur dort gesprochen werden, wo eine Unvollständigkeit zugrunde liegt. 7 So besonders klar Gmür, S. 61 ff. und 100 ff.; Germann, Grundfragen, S. 104 ff., und Analogieverbot, S. 131. 8 Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 61 f.; Spiro, Gerichtsgebrauch, S. 36 f.; Bastian, S. 69 f.; vgl. auch von Laun, S. 381 ff., und Baumgarten, Wissenschaft vom Recht, S. 303. 9 Gesetzesauslegung, S. 161 ff., insbesondere S. 169. 10 Zur Kritik an Hecks Lückenbegriff vgl. Redel, S. 27; Engisch, Rechtslücke, S. 89, Fußn. 13; unten § 15 a. E.
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§ 8 Eine derartige Bestimmung der Terminologie ist nun gewiß nicht unmöglich; denn auch das Fehlen einer gesetzlichen Wertung stellt ja eine Unvollständigkeit dar. Sie ist indessen weniger sachgerecht als die zuerst genannte Abgrenzung, die am Wortsinn des Gesetzes ausgerichtet ist. Denn ein Gesetz besteht primär aus Befehlen, Geboten, Anordnungen, und erst „dahinter“ stehen die Wertungen. Von seiner Unvollständigkeit spricht man daher sinnvollerweise schon dann, wenn eine solche Anordnung fehlt, wenn also keine unmittelbar anwendbare Norm vorhanden ist. Die Anordnung des Gesetzes aber wird durch den Wortsinn begrenzt: „Nur dem Text des Gesetzes kommt die Autorität des vom Gesetzgeber Angeordneten zu11.“ Damit ist zugleich ein weiterer, noch bedeutsamerer Grund für die Wahl des Wortsinnes als Grenzkriterium genannt: soweit eine Entscheidung mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbar ist, kann sie sich unmittelbar auf die Autorität des Befehles des Gesetzgebers berufen; soweit sie darüber hinausgeht, hat sie ihre Überzeugungskraft auf andere Gründe zu stützen. Wenn etwa das BGB in § 463 S. 2 den Verkäufer, der arglistig einen Mangel verschweigt, zum Ersatz des Erfüllungsinteresses verpflichtet, so bedarf ein Urteil, das – bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen – einer entsprechenden Klage stattgibt, grundsätzlich keiner weiteren Rechtfertigung. Anders dagegen, wenn der Verkäufer nicht einen Mangel verschwiegen, sondern eine [21] günstige Eigenschaft arglistig vorgespiegelt hat: es besteht zwar Einigkeit darüber, daß auch hier das positive Interesse zu gewähren ist12; eine solche Entscheidung kann ihre Autorität aber nicht unmittelbar aus der Anordnung des Gesetzgebers gewinnen13, sondern nur aus ihr in Verbindung mit dem Gebot der Gerechtigkeit, daß gleiche Tatbestände gleich zu behandeln sind: in beiden Fällen hat sich der Verkäufer einen Irrtum des Käufers über die Beschaffenheit der Sache arglistig zunutze gemacht, um diesen zum Abschluß des Vertrages zu bewegen, und da nur das der entscheidende Grund für die Zuerkennung des Erfüllungsinteresses sein kann14, ist auch hier der Klage stattzugeben. Die Entscheidung hält sich also streng an die Wertung des Gesetzes und überschreitet lediglich seinen Wortlaut. Dennoch ist die Verschiedenheit der beiden Fälle augenscheinlich: das erste Mal gründet das Urteil seinen Richtigkeitsanspruch ausschließlich auf den Befehl des positiven Rechts, das zweite Mal auf den Gleichbehandlungsgrundsatz; in methodischer Hinsicht handelt es sich im ersten Fall um eine bloße Subsumtion, im zweiten dagegen um Analogie, also um einen Vorgang, der in der Regel wegen der Notwendigkeit, die „Rechtsähnlichkeit“ zu begründen, ungleich schwieriger ist. Larenz, ML, S. 243 f. Vgl. z. B. RGZ 92, 295; Larenz, SR II, § 37, II c 3; Esser, § 106, 7. 13 Darauf weist für die Analogie Gény Méthode, Bd. II, S. 125 f., nachdrücklich hin. 14 Vgl. Larenz a.a.O. 11 12
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§ 9 In diesem Zusammenhang sei dabei noch einmal an die Aufgabe des Lückenbegriffs erinnert: er soll der Absteckung des Bereichs der Rechtsfindung praeter legem dienen, also eines Bereichs, in dem der Richter zur Rechtsfindung zwar berufen ist, dazu aber doch stets einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Eben dies aber ist – wie gezeigt – der Fall, wo die durch den Wortlaut des Gesetzes beschränkte Autorität der unmittelbaren Anordnung des Gesetzgebers endet. Deswegen und wegen der Verschiedenartigkeit der methodischen Vorgänge, die mit der Überschreitung des Wortlautes beginnen, ist es berechtigt, diesen und nicht das Vorliegen einer gesetzlichen Wertung zur Abgrenzung des Lückenbegriffs zu verwenden15, 16 und die Klarstellung des Wortsinnes dem Gebiet der bloßen Auslegung zuzuordnen17, 18 [22] 15 So auch i. E. die im deutschen Schrifttum h. L.: Herrfahrdt, S. 80; Wüstendörfer, S. 293; von Tuhr, S. 40; Baumgarten, Wissenschaft vom Recht, S. 299, und Methodenlehre, S. 38; Schwinge, S. 48; Lehmann, § 8 III 3; Dahm, S. 49; Engisch, Rechtslücke, S. 88, und Einführung, S. 146; Larenz, ML, S. 243. 16 Zur Gegenmeinung vgl. die oben in Fußn. 4 und 5 Zitierten sowie Zimmermann, Der Wortlaut des Gesetzes, S. 1264, Sp. 2; Bender, Methode der Rechtsfindung, S. 599, Sp. 1, und Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 445, Sp. 1. 17 Da in dieser Frage im Schrifttum viel Unklarheit herrscht, sei noch einmal nachdrücklich darauf hingewiesen, daß „Auslegung“ – im Sinne der Ermittlung der unmittelbaren Anordnungen des Gesetzes – hier als Gegensatz zur Lückenergänzung – und gleichbedeutend mit „Rechtsfindung secundum legem“ – gebraucht wird. Damit soll nicht bestritten werden, daß „Auslegung“ – im Sinne der Ermittlung alles dessen, was, wenn auch nur mittelbar, im Gesetz enthalten ist – auch den Gegensatz zur freien Rechtsfindung bezeichnen kann (vgl. das oben Fußn. 4 aufgeführte Schrifttum und Sax, Analogieverbot, durchweg). Man muß sich dabei nur stets über den verschiedenen Sprachgebrauch und vor allem über das verschiedene Abgrenzungskriterium – den Wortsinn zum einen, die Wertungen des Gesetzes zum anderen – klar bleiben. Beide Einteilungen überschneiden sich (anders Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 61 f.; Bastian, S. 35 f. und durchweg, der Lückenergänzung und freie Rechtsfindung identifiziert); so fällt etwa die Analogie zwar in den Lückenbereich (vgl. unten § 14), aber nicht in das Gebiet der freien Rechtsfindung (anders, aber ohne überzeugende Begründung, MeierHayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 255, Fußn. 3), ist also „Auslegung“ im zweiten, nicht im ersten Sinne, während umgekehrt die Konkretisierung wertausfüllungsbedürftiger Normen nicht der Lückenausfüllung, wohl aber – mindestens teilweise – der freien Rechtsfindung zuzurechnen ist (vgl. unten §§ 16 f.). 18 Interessante und z. T. sehr subtile Unterscheidungen trifft Siorat in seiner eingehenden Untersuchung über das Lückenproblem im Völkerrecht. Er grenzt die „lacunes“ von den „carences“ einerseits (vgl. dazu unten Fußn. 76) und von den „obscurités de la réglementation juridique“ andererseits ab (vgl. S. 63 ff.); diese liegen vor „lorsque, au regard du cas d’espèce, le sens (sc.: de la réglementation) paraît douteux“ (S. 63). Dem stellt Siorat die „insuffisances logiques“ zur Seite (S. 131 ff.), die er vom Lückenbegriff trennt; davon spricht er, wenn die Regelung „n’a qu’un rapport indirecte avec le cas d’espèce“ (S. 131), und faßt hierunter – was freilich die wenig glückliche Terminologie nicht deutlich werden läßt – die Fälle der extensiven und restriktiven Interpretation (S. 145 ff.) und ein Verfahren zusammen, das er als „développement logique du contenu du texte“ bezeichnet (S. 147 ff.) und das der Sache nach z. T. der Ermittlung allgemeiner Rechtsprinzipien im Wege der Induktion (vgl. dazu unten §§ 89 ff.), z. T. der „teleologischen Extension“ (Zu Begriff und Methodik vgl. unten §§ 81 ff.) entsprechen dürfte.
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§ 10 Abschließend bedarf diese Ansicht allerdings noch einer weiteren Präzisierung. Denn der Wortlaut ist keine feste Größe, sondern weist eine erhebliche Schwankungsbreite auf. Wenn das Gesetz z. B. von „Verwandten“ oder „Angehörigen“ spricht, so sind darunter mit Sicherheit die Eltern und die ehelichen Kinder zu verstehen; weniger gewiß ist schon, ob etwa auch ein uneheliches Kind oder der Verlobte unter diesen Begriff fallen; und vollends zweifelhaft erscheint schließlich, ob auch noch die Schwiegereltern oder Vettern und Cousinen 2. Grades gemeint sind. Der Wortlaut besitzt also neben einem festen „Bedeutungskern“ einen nach den Rändern zu immer mehr verschwimmenden „Bedeutungshof“19. Ob im Einzelfall die Anwendung des Gesetzes auf den Kern beschränkt oder auf den Hof ausgedehnt wird, ist eine Frage der Auslegung; je nachdem spricht man von einschränkender (restriktiver) oder ausdehnender (extensiver) Auslegung. Soweit sich die Entscheidung aber noch irgendwie mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbaren läßt, reicht auch die Autorität des vom Gesetzgeber Angeord- [23] neten20. Damit ist das Abgrenzungskriterium für die Scheidung der Rechtsfindung secundum legem von der Lückenfüllung der mögliche Wortsinn des Gesetzes21. Daß die Grenzen auch des möglichen Wortsinnes häufig schwer festzulegen sind, und daß daher – was allgemein betont wird22 – die Abgrenzung von Auslegung und Lückenfüllung fließend ist, kann der Brauchbarkeit dieses Kriteriums ebensowenig entgegenstehen wie die Tatsache, daß sich in beiden Gebieten – jedenfalls in den Grenzfällen – mitunter ähnliche methodische Vorgänge abspielen und daß insbesondere auch die Auslegung bereits ein wertendes und sogar schöpferisches Element enthält23, 24. Denn mindestens in den Kernbereichen lassen sich Auslegung und Lückenfüllung mit Hilfe des möglichen Wortsinnes 19 Vgl. dazu Heck, Gesetzesauslegung, S. 173; Du Pasquier, Lacunes, S. 18; Larenz, ML, S. 242 f. 20 Diese sogenannte „Andeutungstheorie“ genauer zu begründen, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Eingehend zu dieser Frage: Heck, Gesetzesauslegung, S. 138 ff.; Engisch, Einführung, S. 82 f.; Nipperdey, § 54 Fußn. 3; ebenso schon v. Savigny (Methodenlehre, S. 19): „Interpretation ist Rekonstruktion des Gedankens ..., der im Gesetz ausgesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar ist.“ 21 Heck, Gesetzesauslegung, S. 33; Schwinge, S. 48; Engisch, Rechtslücke, S. 88, und Einführung, S. 146; Larenz, ML, S. 243; Dahm, S. 53. 22 Vgl. schon Windscheid-Kipp, S. 103; ferner: von Tuhr, S. 40, Fußn. 146; Burckhardt, Lücken, S. 87; Dahm, S. 52 f.; Siebert, S. 14; Westermann, S. 30, Anm. 39; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, S. 6 f.; Esser, Interpretation, S. 377, und Grundsatz und Norm, S. 255 f.; Zweigert, S. 385; Engisch, Rechtslücke, S. 88, und Einführung, S. 146; Larenz, ML, S. 275, Fußn. 1; Du Pasquier, Lacunes, S. 26; Boulanger, Etudes, S. 64; Siorat, S. 65 und S. 127. 23 Vgl. dazu Rümelin, Werturteile und Willensentscheidungen, insbesondere S. 29 ff.; Larenz, ML, S. 275 und die dort Genannten; Bachof, Richterliche Kontrollfunktion, S. 27 f. mit weiteren Nachweisen. 24 Unhaltbar ist daher die Abgrenzung von Schack, S. 278, Anm. 4; danach soll die Auslegung dadurch gekennzeichnet sein, daß sie nicht schöpferisch ist. Ähnlich Saleilles, S. 90 ff.
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klar trennen, und mehr kann man von einem Abgrenzungskriterium jedenfalls dann nicht verlangen, wenn es um die Scheidung innerlich verwandter Bereiche geht: die Lückenfüllung ist nichts anderes als die „Fortsetzung der Auslegung“, aber „auf anderer Stufe“25. Damit ist es nunmehr möglich, die beiden wesentlichsten Probleme in diesem Zusammenhang zu entscheiden: die Frage, ob die Möglichkeit eines Analogieschlusses die Annahme einer Lücke ausschließt oder vielmehr umgekehrt gerade voraussetzt, und die Frage, ob bei „unbestimmten“, insbesondere bei wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen und Generalklauseln von einer Lücke gesprochen werden kann oder nicht. [24] A. Lücke und Analogie § 11 Zunächst sind in diesem Zusammenhang diejenigen Fälle auszuscheiden, bei denen die Analogie – im Sinne der gleichen Behandlung rechtsähnlicher Tatbestände – unzweifelhaft noch in den Bereich der Rechtsfindung secundum legem fällt. Dies ist einmal dann der Fall, wenn das Gesetz selbst die „entsprechende Anwendung“ einer Norm auf einen von ihr unmittelbar nicht erfaßten Sachverhalt anordnet. So schreibt das BGB z. B. in § 347 die Anwendung der §§ 987 ff. auf die Rückabwicklung eines durch Rücktritt aufgelösten Schuldverhältnisses vor; ähnlich wird in § 1192 I für die Grundschuld auf einen Teil des Hypothekenrechts oder in § 412 für die cessio legis auf die Vorschriften über die rechtsgeschäftliche Abtretung verwiesen26. Da in diesen Fällen, in denen man von einer „Verweisungsanalogie“ sprechen könnte, die entsprechende Anwendung auf einer Anordnung des Gesetzes beruht, dieses also nicht unvollständig ist, kann von einer Lücke keine Rede sein27. § 12 Ebensowenig handelt es sich um eine Lücke, wenn das Gesetz einige Fälle beispielhaft aufzählt und dann hinzufügt „und in ähnlichen Fällen“28. Auch hier werden allerdings die gleichzustellenden Tatbestände mit Hilfe des Analogieverfahrens ermittelt: es sind zunächst aus den gesetzlichen Beispielen die für den Eintritt der Rechtsfolge entscheidenden Elemente herauszuarbeiten, und sodann Larenz, ML, S. 273; eingehend Interpretation, S. 384 ff. Weitere Beispiele sind §§ 413, 292, 309, 323 I HS 2, 515, 523 II 2, 720 HS 2, 1065, 1227, 1273 II 1, 1369 III, 2037, 2385. Für das französische Recht vgl. z. B. Gény, Méthode, Bd. I, S. 308. 27 a. A. Keller, S. 60, der hier von „Ausführungslücken“ spricht. 28 Zu weit geht Graven, der (S. 397) schon von Analogie spricht, wenn es im Gesetz heißt „ou de toute autre manière“; genügt jede andere Art, so ist ein Ähnlichkeitsschluß gerade nicht erforderlich. 25 26
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ist zu prüfen, ob sie auch auf den nicht ausdrücklich genannten Fall zutreffen29. Ein Beispiel dieser Art ist etwa § 868 BGB30. § 13 Schließlich kann die Analogie auch als bloße Auslegungshilfe dienen31. Wenn z. B. unklar ist, ob eine Bestimmung eng oder weit auszulegen ist, so läßt sich die Frage mitunter durch die Heranziehung [25] eines rechtsähnlichen, vom Gesetz eindeutig geregelten Falles lösen. Beispielsweise sind nach § 3 Ziff. 3 AnfG die in dem letzten Jahre „vor der Anfechtung“ von dem Schuldner vorgenommenen unentgeltlichen Verfügungen anfechtbar. Ist die Frist hier vom Zeitpunkt der bloßen Erklärung der Anfechtung durch den Gläubiger an zurückzurechnen, oder ist eine förmliche Prozeßhandlung wie die Erhebung einer Klage, die Anmeldung des Anspruchs im Konkurs, die Prozeßaufrechnung u. ä. erforderlich? Mit dem Wortsinn ist beides vereinbar; den Ausschlag zugunsten der zweiten Möglichkeit gibt die Heranziehung des § 209 BGB32. Von einer Lücke kann hier indessen keine Rede sein, weil und soweit die Anwendung der zweifelhaften Bestimmung noch innerhalb der Grenzen des möglichen Wortsinnes bleibt. § 14 Im übrigen aber erfordert jede Analogie das Bestehen einer Lücke. Das ergibt sich ohne weiteres aus den oben gemachten Voraussetzungen. Denn die Analogie überschreitet – von den erwähnten Fällen abgesehen – den möglichen Wortsinn des Gesetzes; sie findet ihre Rechtfertigung nicht in den positivrechtlichen Anordnungen, sondern im Gleichheitssatz33, und sie stellt schließlich methodisch gesehen nicht bloße Auslegung im Sinne einer Klarstellung der Gebote des Gesetzgebers dar, sondern ist Findung neuer, im Gesetz nicht ausgesprochener Normen. Diese Ansicht entspricht auch der durchaus h. L.34, 35, 36. [26] 29 Hier wird die Nähe des Analogieverfahrens zur Konkretisierung allgemeiner Rechtsbegriffe durch Fallvergleichung besonders augenfällig. Vgl. dazu H. J. Wolff, S. 44; Larenz, Wegweiser, S. 292 ff. 30 Vgl. dazu als Beispiel die Streitfrage, ob die Geschäftsführung ohne Auftrag ein „ähnliches“ Rechtsverhältnis i. S. d. § 868 ist; bejahend RGZ 98, 131, (134), verneinend Westermann, § 19 II 2. 31 Vgl. Bierling, S. 402; Herrfahrdt, S. 38; Nawiasky, S. 116; Keller, S. 72; Hafter, S. 138; Merz, S. 333 f.; als „Widerspruch in sich“ bezeichnet dies fälschlich Friedrich, S. 451. Weitergehend als hier Grabherr, S. 32 f., bei dessen Beispielen der „mögliche Wortsinn“ z. T. klar überschritten ist. 32 Vgl. Rosenberg, § 181 VI 2. Die Rechtsähnlichkeit der beiden Fälle liegt in dem Erfordernis der Rechtssicherheit, für die Berechnung der Frist einen eindeutig feststellbaren Zeitpunkt maßgeblich sein zu lassen und sie unabhängig zu machen von der meist schwierigen Beweisaufnahme über das Parteiverhalten. 33 Zur Literatur vgl. unten Kap. II, Fußn. 47. 34 Außer den oben Fußn. 15 Genannten vgl. noch Vangerow, S. 56; Wächter, S. 124; Reichel, S. 103; Bovensiepen, S. 134; Pisko, Kommentar, S. 127; Saleilles, S. 90 ff.; Gény, Méthode, Bd. I, S. 304 ff.; Siorat, S. 323 ff.; Du Pasquier, Lacunes, S. 32 f.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 2 f.; Bastian, S. 75; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 255, Fußn. 3, und Kommentar, Randziffer 346; Graven, S. 398; Hafter, S. 138; Friedrich, S. 450 f.; Teichmann, S. 86 ff.
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B. Lücke und konkretisierungsbedürftige Rechtsbegriffe
§ 15 Wie bereits oben37 erwähnt, sind nahezu alle Begriffe mehr oder weniger „unbestimmt“ in dem Sinne, daß sie „unscharfe Ränder“ besitzen38. In solchen Fällen hat der Richter durch ausdehnende oder einschränkende Auslegung den Willen des Gesetzes zu ermitteln; hier schon von Lücken zu sprechen39, würde
35 Ausdrücklich a. A. nur Huber, S. 354; mindestens mißverständlich Nawiasky, S. 146 (Die Lehre von der Lückenausfüllung sei mit der Lehre von der Analogie „verwandt“). Vgl. im übrigen die oben Fußn. 4 Genannten und Windscheid-Kipp, S. 104 (der die „Gesetzesanalogie“, nicht aber die „Rechtsanalogie“ als „Auslegung“ bezeichnet). Sie rechnen – ebenso wie Sax (Analogieverbot) – die Analogie dem Bereiche der Auslegung zu; ob die entsprechende Anwendung einer Vorschrift deshalb die Annahme einer Lücke ausschließt, bleibt dabei jedoch offen, weil nicht klar gesagt wird, ob „Auslegung“ nur den Gegensatz zur freien Rechtsfindung oder überhaupt zur Rechtsfindung praeter legem und damit zum Lückenbereich bezeichnen soll. – Unklar ist insbesondere die Ansicht Germanns. Nach ihm kann die Analogie sowohl Mittel „sinngemäßer Auslegung“ als auch „freier Rechtsfindung“ sein (Analogieverbot, S. 136; ähnlich Grundfragen, S. 67 f. und 121 f.); im letzteren Fall reiche weder die „Ähnlichkeit des Tatbestandes noch die dem Gesetz immanente Wertung“ aus (!), sondern es handele sich um Lückenausfüllung „nach den in Betracht kommenden Interessen unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit“ (Analogieverbot, a.a.O.; ähnlich auch Grabherr, S. 26 ff., und offenbar schon Spassoїevitch, S. 70 ff. und S. 87 ff.). Inwiefern hier noch von Analogie, also von einem Ähnlichkeitsschluß gesprochen werden kann, ist unerfindlich. Allenfalls handelt es sich um die Auffindung allgemeiner Rechtsgedanken im Wege der Induktion aus den Normen des positiven Rechts (vgl. dazu unten §§ 89 ff.). – Unhaltbar ist auch die Ansicht von Meier-Hayoz (Der Richter als Gesetzgeber, S. 255, Fußn. 3; anders offenbar S. 72, wo eine Auffassung vertreten wird, die der Ansicht Germanns ähnelt), der die Analogie ausnahmslos der freien Rechtsfindung zurechnet; da die Analogie wesensmäßig durch die feste Bindung an die Wertungen des Gesetzes charakterisiert ist (vgl. unten §§ 63 ff.), würde eine derartige Ausdehnung den Begriff der „freien“ Rechtsfindung gänzlich entwerten. – Inwieweit die Analogie bei der Anpassung im Wege freier Rechtsfindung geschaffener neuer Institute an das geltende Recht als Hilfsmittel dienen kann, wird unten §§ 152 ff. näher dargelegt werden. 36 Unklar ist mitunter der Sprachgebrauch des französischen Schrifttums, wo von „interprétation analogique“ oder „interprétation par analogie“ die Rede ist. Vgl. Fabreguettes, S. 372; De Page, Bd. II, S. 245; ebenso Del Vecchio, Gény-Festschrift, S. 71; eindeutig dagegen und wie die deutsche h. L. Saleilles, S. 90 ff.; Gény, Méthodes, Bd. I, S. 304 ff.; Spassoїevitch, S. 4 f., 70 ff.; Robine, S. 190; Graven, S. 397 f.; Siorat, S. 323 f. 37 Vgl. § 10. 38 Vgl. dazu z. B. Engisch, Logische Studien, S. 30 ff.; Larenz, ML, S. 222 ff. 39 So allerdings Zitelmann, S. 45, Anm. 18, der eine Lücke überall da annehmen will, „wo das Gesetz einen Begriff gebraucht, ohne ihn genau zu definieren“; ebenso Heck, Gesetzesauslegung, S. 173 f.: eine Lücke liege bereits vor, wenn der Richter „die Gesetzesbegriffe näher zu bestimmen“ habe. Ähnlich Schreier, S. 50 („Deutlichkeitslücken“) und Betti, Rechtsfortbildung, S. 397 (Lücken „aus fehlender Eindeutigkeit des Gesetzesgebotes“); Keller, S. 60 („Ausführungslücken“).
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dazu führen, daß man im Gesetz „nicht weniger Lücken als Worte“40 annehmen müßte, und würde daher den Lückenbegriff gänzlich entwerten41. § 16 Wesentlich zweifelhafter ist dagegen, ob bei den „wertausfüllungsbedürftigen“ Begriffen und Generalklauseln wie „gute Sitten“, „Treu und Glauben“, „wichtiger Grund“, „berechtigtes Interesse“ oder „niedriger Beweggrund“ von einer Lücke gesprochen werden kann. Mögen die Übergänge im einzelnen auch fließend sein, so unterscheiden sich diese Fälle von der zuerst genannten Gruppe doch insofern klar, als hier das Gesetz keine festen Merkmale bietet, unter die der Richter [27] subsumieren könnte; es weist ihm vielmehr nur die Richtung, in der die Entscheidung zu suchen ist, überläßt es aber im übrigen ihm selbst, wie weit er in dieser Richtung gehen will42. Wird im allgemeinen das Urteil – wenigstens der Idee nach – durch bloße Analyse des vom Gesetz Angeordneten gefunden, so ist hier zusätzlich eine Eigenwertung des Richters erforderlich. Nicht bloße Subsumtion, sondern „Konkretisierung“ des allgemeinen Maßstabs im Hinblick auf die besonderen Umstände des einzelnen Falles ist daher seine Aufgabe43. Man hat in diesem Zusammenhang auch von „einer Art delegierter Gesetzgebungsgewalt“ gesprochen44. Da hier die Bindung des Richters an das Gesetz wesentlich schwächer ist als sonst bei der Rechtsfindung secundum legem und da zudem mindestens teilweise gesetzliche Wertungen nicht vorhanden sind, will eine Reihe von Schriftstellern diese Fälle dem Lückenbereich zurechnen45. Einige sprechen dabei von „Lücken intra legem“46, andere von „Deutlichkeits- und Delegationslücken“47, wieder andere von „materiellen Lücken“48. [28] So in der Tat Kantorowicz, S. 15; ähnlich E. Fuchs, S. 16. Gegen Zitelmann und Heck daher mit Recht: Bierling, S. 385; Redel, S. 27; Engisch, Rechtslücke, S. 89, Fußn. 13. 42 Vgl. Schweizer, S. 43; Germann, Grundfragen, S. 117; Larenz, Wegweiser, S. 292; Less, S. 25 f. 43 Larenz, a.a.O.; Less, a.a.O. 44 Less, S. 26; ähnlich Stoll, Rechtsstaatsidee, S. 175 f.; Schreier, S. 50 f.; Bender, Methode der Rechtsfindung, S. 600, Sp. 1. 45 Hellwig, S. 165; v. Laun, S. 381 ff.; Kiß, S. 466; Stoll, Rechtsstaatsidee, S. 175 f.; Burckhardt, Lücken, S. 49; Rümelin, Das neue schweizerische ZGB, S. 29 f.; Baumgarten, Wissenschaft vom Recht, S. 303; Hildebrandt, S. 78; Schreier, S. 50 f.; Pisko, Kommentar, S. 135; Germann, Grundfragen, S. 105, 111, 117, 135 f.; Schweizer, S. 9 ff.; Bastian, S. 66 ff.; Keller, S. 59 f.; Spiro, Gerichtsgebrauch, S. 36 f.; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffern 262 ff.; Merz, S. 333; Lehmann, § 8, III, 1 a; Nipperdey, § 58, I, 1; differenzierend Schallstein, S. 5 f.; ihm folgend Sax, Analogieverbot, S. 42, Fußn. 6. 46 Germann, Grundfragen, S. 105, 111, 117, 135 f.; Schweizer, a.a.O.; Keller, S. 59 f.; MeierHayoz, Kommentar, Randziffern 262 ff. und 291 f.; Nipperdey, a.a.O. – An dieser Terminologie ist in zweifacher Hinsicht Kritik zu üben: „intra legem“ soll den Gegensatz zu „praeter legem“ bilden (so ausdrücklich Schweizer, S. 9, Fußn. 1; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffern 270 und 292); dabei bedeutet aber „lex“ die Gesamtheit der positiven Rechtsnormen, während bei den „Lücken intra legem“ „lex“ als Einzelnorm zu verstehen ist (Schweizer, S. 9); beide Begriffe liegen 40 41
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§ 17 Die besseren Gründe sprechen jedoch gegen die Annahme einer Gesetzeslücke49. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß das Gesetz, so allgemein und unbestimmt es auch sein mag, doch immerhin eine Regelung enthält50, daß also zwar u. U. von einem Fehlen gesetzlicher Wertungen51, nicht aber von einer Unvollständigkeit der gesetzlichen Anordnungen gesprochen werden kann; letzteres ist aber oben als Kriterium für die Begrenzung des Lückenbereichs gewählt worden. – Vor allem aber fehlt es auch an dem zweiten entscheidenden Merkmal des Lückenbegriffs: der Planwidrigkeit52. Dies ist ohne weiteres einleuchtend, soweit man der „subjektiven Auslegungstheorie“53 folgt; denn der historische Gesetzgeber hat die Unbestimmtheit der Regelung gewollt. Auch für die „objektive Theorie“54 ergibt sich aber nichts anderes. Wie im folgenden dargelegt werden wird, bestimmt sich der Begriff der Planwidrigkeit im wesentlichen nach der der Rechtsordnung immanenten Teleologie. Im Gesamtplan des Gesetzes aber haben die unbestimmten, wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffe und Generalklauseln durchaus eine sinnvolle Aufgabe: überwiegend sollen sie die Berücksichtigung der „besonderen Umstände“ des Einzelfalles ermöglichen, also der also auf verschiedenen Ebenen. Zum zweiten umfaßt diese Terminologie auch die „Normlücken“ (vgl. dazu Larenz, ML, S. 280 und unten § 129), die jedoch mit den wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen nichts gemeinsam haben. Die Gegenüberstellung Schweizers, es bestehe hier „eine Lücke in der Gesetzesnorm selbst“ (S. 9), während bei den Lücken praeter legem „ein Rechtssatz überhaupt“ fehle (a.a.O., Fußn. 1), trifft also nicht den Kern der Problematik und ist außerdem – wie das Beispiel der Normlücken, die zweifellos dem Bereich der Rechtsfindung praeter legem angehören, zeigt – in dieser Formulierung unzutreffend. 47 Schreier, a.a.O.; Pisko, Kommentar, S. 135; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 262. 48 von Laun, a.a.O.; Baumgarten, a.a.O.; ähnlich Rümelin, a.a.O. 49 Vgl. Elze, S. 19; Bierling, S. 384; Weigelin, S. 8; Sauer, S. 282; Staudinger-Brändl, Anm. 64, Einleitung vor § 1; Engisch, Rechtslücke, S. 88 und Einführung, S. 137; Less, S. 25 f; Bender, Methode der Rechtsfindung, S. 600; Larenz, ML, S. 280, Fußn. 4. 50 Weigelin, a.a.O.; Sauer, a.a.O.; Engisch, Rechtslücke, a.a.O.; Larenz, a.a.O. 51 Die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe ist daher mindestens teilweise dem Gebiet der „freien Rechtsfindung“ zuzurechnen (vgl. dazu auch oben, Fußn. 17). Insoweit ist Nipperdey (§ 58, Fußn. 5) daher durchaus zuzustimmen, wenn er auf die Ähnlichkeit zu manchen methodischen Vorgängen bei der Lückenausfüllung hinweist. Dies rechtfertigt aber entgegen Nipperdeys Ansicht nicht die Einordnung der ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffe in den Lückenbereich. Denn nicht jede Lückenfüllung ist freie Rechtsfindung (so bleiben etwa Analogie und teleologische Reduktion streng im Rahmen der gesetzlichen Wertung), und so kann auch umgekehrt freie Rechtsfindung vorliegen, ohne daß eine Lücke anzunehmen ist. Die Abgrenzungskriterien liegen auf verschiedenen Ebenen, und daher überschneiden sich beide Einteilungen wechselseitig (vgl. eingehend oben Fußn. 17). 52 Darauf weist schon Elze (S. 19) hin. Auch Engisch (Einführung, S. 137) spricht von „planmäßiger Auflockerung“. Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 262 prägt dementsprechend den – in sich widersprüchlichen – Begriff der „planmäßigen Lücke“. 53 Vgl. dazu Engisch, Einführung, S. 88 ff. sowie das dort zitierte Schrifttum; ferner Gény, Méthode, Bd. I, S. 264 ff. und 300 ff. 54 Vgl. dazu Larenz, ML. S. 30 ff. und S. 237 ff. sowie das dort und bei Engisch (a.a.O.) zitierte Schrifttum.
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Billigkeit im Sinne der individuellen Gerechtigkeit Rechnung tragen55, teilweise dienen sie auch oder gleichzeitig als Einbruchstelle [29] außerrechtlicher – z. B. sozialer oder ethischer – Wertungen56. Davon, daß sie im Gesamtbau der Rechtsordnung „planwidrig“ seien, kann daher keine Rede sein. Damit aber scheidet die Annahme einer Gesetzeslücke aus57. C. Lücke und Gewohnheitsrecht § 18 Als letztes Problem im Zusammenhang der Abgrenzung gegenüber der Rechtsfindung secundum legem stellt sich die Frage, ob das Vorliegen einer gewohnheitsrechtlichen Regelung die Annahme einer Lücke ausschließt oder nicht. Gewiß fehlt – jedenfalls bei dem hier allein in Betracht kommenden ergänzenden (also nicht abändernden) Gewohnheitsrecht – eine gesetzliche Vorschrift. Dennoch sollte man nicht von einer Lücke sprechen58, selbst wenn das Gesetz nach seiner immanenten Teleologie eine der gewohnheitsrechtlichen Regelung entsprechende Bestimmung fordert. Denn wie eingangs ausgeführt, ist der Lückenbegriff aus seiner Aufgabe, der Abgrenzung des Bereichs der Rechtsfindung praeter legem, näher zu bestimmen. Bei der Anwendung von Gewohnheitsrecht aber wird der Richter secundum legem tätig in dem Sinne, daß er seine Entscheidung unmittelbar auf die Autorität des positiven Rechts stützen kann; er hat hier nicht die für die Rechtsfindung praeter legem charakteristische gleichzeitig freiere und unsicherere Stellung. Mag also auch durch das Gewohnheitsrecht das Gesetz ergänzt werden, so handelt es sich doch nicht um eine Ergänzung des positiven Rechts, – und dies ist entscheidend. Im übrigen sind auch die methodischen Vorgänge bei der „Auslegung“ des Gewohnheitsrechts59 von denen bei der Ergänzung des Gesetzes so verschieden, daß man beides methodologisch nicht demselben Bereich zurechnen sollte. [30] Das Bestehen von Gewohnheitsrecht schließt 55 Vgl. Hedemann, S. 61; Engisch. Die Idee der Konkretisierung, S. 211 ff.; Less, S. 25; Wieacker. Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242, S. 10; Westermann, S. 23 f. 56 Vgl. Hedemann, S. 58; Du Pasquier Lacunes, S. 47; Westermann, S. 23. 57 Daß Generalklauseln wie § 242 auch als Anknüpfungspunkt für neue Rechtsinstitute (wie die „culpa in contrahendo“ oder die „Verwirkung“) dienen können und insoweit Grundlage der Rechtsfortbildung praeter legem sind, soll nicht bestritten werden. Indessen handelt es sich dabei um eine gänzlich andere Frage, die teilweise in den Bereich der Rechtsfindung contra legem und teilweise in das Gebiet der Lückenfeststellung und -ausfüllung an Hand allgemeiner Rechtsprinzipien (vgl. dazu unten §§ 84 ff.) gehört. 58 Ebenso: Bierling, S. 383; Huber, S. 352; Weigelin, S. 6; Sauer, S. 281; Engisch, Rechtslücke, S. 88 und Einführung, S. 137; Du Pasquier, Modernisme, S. 220; Siorat, S. 23 und durchweg; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 252 (nicht folgerichtig, da Art. 1 ZGB das Gewohnheitsrecht den Mitteln der Lückenausfüllung zurechnet!); Bastian, S. 54; a. A.: Reichel, S. 98; Sax, Analogieverbot, S. 42, Fan. 4; Dahm, S. 52. 59 Vgl. dazu Larenz, ML, S. 269 ff.
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also die Annahme einer Lücke aus60, 61 Wenn im folgenden von einer Gesetzeslücke die Rede ist, so ist der Ausdruck daher stets vereinfachend im Sinne von Lücke im positiven Recht gebraucht62. § 19 Zusammenfassend ist daher als bisheriges Ergebnis festzuhalten: Eine Lücke ist eine planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts (d. h. des Gesetzes innerhalb der Grenzen seines möglichen Wortsinnes und des Gewohnheitsrechts). [31] Zweiter Abschnitt Die Planwidrigkeit: Abgrenzung gegenüber der Rechtsfindung contra legem § 20 Wie bereits eingangs hervorgehoben, enthält die Feststellung einer Lücke durch das Merkmal der Planwidrigkeit ein Werturteil63. Es erhebt sich daher die Frage, von welchem Standpunkt aus dieses Urteil zu fällen ist, was also als Bewertungsmaßstab dienen soll. Im Schrifttum werden die verschiedensten Antworten gegeben64. 60 Eine ganz andere Frage ist, ob es innerhalb des Gewohnheitsrechts Lücken geben kann. Dies ist zu bejahen; denn es ist durchaus denkbar, daß für eine bestimmte, im Rahmen einer gewohnheitsrechtlichen Regelung notwendigerweise zu beantwortende Rechtsfrage sich noch keine einheitliche Rechtsüberzeugung gebildet hat, oder daß dafür eine der anderen Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts fehlt; auch ist z. B. möglich, daß der Gleichheitssatz gebietet, einem gewohnheitsrechtlich geregelten Fall einen anderen, rechtsähnlichen im Wege der Analogie gleichzustellen. 61 Es ist daher durchaus möglich, daß ursprünglich das Gesetz eine Lücke enthielt, daß diese später aber weggefallen ist, weil die zu ihrer Ausfüllung entwickelte Lösung allmählich den Rang von Gewohnheitsrecht erhalten hat. Zu dem in diesem Zusammenhang auftauchenden Problem der Verbindlichkeit des Gerichtsgebrauches vgl. Larenz, ML, S. 271 f.; Germann, Präjudizielle Tragweite, S. 316 ff. und Präjudizien, S. 43 ff., 48 ff.; Spiro, Gerichtsgebrauch, S. 286 ff.; Meyer-Ladewig, S. 107 ff., insbesondere S. 112; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffern 248 ff. und 474 ff. 62 Ebenso Engisch, Rechtslücke, S. 102; ähnlich auch Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 253; anders Heck, Gesetzesauslegung, S. 162 f., der beim Fehlen einer gewohnheitsrechtlichen Regelung von „Rechtslücke“ – im Gegensatz zur bloßen „Gesetzeslücke“ – spricht. Dieser Terminus wird hier im Anschluß an Engisch (a.a.O.) den unausfüllbaren Lücken vorbehalten (vgl. dazu unten §§ 164 ff.). 63 Vgl. oben § 3. 64 Mitunter wird das Problem allerdings auch nur verschoben, ohne eine wirkliche Antwort zu finden. So wenn Ehrlich (Logik, S. 215) die Lücke als „Fehlen eines Rechtssatzes, wo er notwendig wäre“ definiert (ähnlich Bastian, S. 54), oder wenn Heck (Gesetzesauslegung, S. 162) und Lehmann (§ 8, III, 1) auf die Schutzwürdigkeit eines Interesses, Du Pasquier (Modernisme, S. 222, Lacunes, S. 31 und Introduction, S. 205) auf die Unerläßlichkeit einer Regelung abstellen. Es fragt sich eben gerade, woran zu messen ist, ob eine Regelung unerläßlich oder notwendig, ein Interesse schutzwürdig ist.
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Nach einer ersten, häufig vertretenen Ansicht soll es auf das Rechtsgefühl, das Rechtsgewissen, das Kulturbewußtsein u. ä. ankommen. Dabei wird teilweise auf das persönliche Rechtsempfinden des Rechtsanwendenden65, teilweise auf das Rechtsbewußtsein der „Allgemeinheit“66 abgestellt. Dieser psychologisch gerichteten Auffassung steht eine zweite, mehr soziologisch gegründete Ansicht gegenüber. Nach ihr ist entscheidend, ob irgendein sozialer Interessengegensatz ohne rechtliche Regelung geblieben ist67, oder ob ohne eine Ergänzung des Ge- [32] setzes „ein vom Standpunkt des Gemeinwohls aus günstiges Ergebnis“ nicht erreicht werden kann68. Nach einer dritten Ansicht schließlich wird die Lücke festgestellt am Maßstab des „richtigen Rechts“69. § 21 Im Gegensatz zu diesen Meinungen, die von einer außergesetzlichen Bewertungsgrundlage ausgehen, bestimmt sich nach der h. L.70, 71, 72 das Vorliegen einer Lücke vom Boden des geltenden Rechts selbst aus; danach kommt es darauf an, ob der „Geist der Rechtsordnung“70 oder die „immanente Teleologie des Gesetzes“71 eine Regelung fordert oder nicht72. 65 Isay, S. 224; ähnlich offenbar Jung, Rechtsregel, S. 111 f. (es sei denn, die gesetzliche Regelung stünde zweifelsfrei entgegen); unklar Du Pasquier, Lacunes, S. 19 („exigence de la conscience juridique“). 66 E. Fuchs, S. 15 („allgemeines Gerechtigkeits- und Billigkeitsgefühl“); Reichel, S. 94 („Kulturbewußtsein der Zeit“); Kornfeld, S. 123 („ideales Rechtsgefühl“); Hildebrandt, S. 76 („das in der Gemeinschaft gegenwärtig herrschende Richtigkeitsempfinden“); ähnlich Danz, S. 87 ff. 67 Ehrlich, S. 216 (Eine Lücke liege vor bei einem „Interessengegensatz, der in keinem Rechtssatze vorgesehen ist“) und S. 223; Schreier, S. 47 (Von einer Lücke könne man sprechen, „wenn irgendein sozialer Tatbestand nicht als Rechtstatbestand erscheint“. Auszunehmen seien nur die „absolut rechtsfremden Tatbestände“ wie Liebe und Freundschaft. Dabei verkennt Schreier, daß es in der Macht des positiven Rechts steht, die Grenzen des sogenannten „rechtsfreien Raumes“ festzulegen. Vgl. dazu unten § 34 a. E.). 68 Sauer, S. 283 f. (Maßstab der Lückenfeststellung sei „das Normale, der regelmäßige Verlauf der Ereignisse, der ein für die Rechtsgemeinschaft günstiges Ergebnis hervorbringen sollte“); Binder, S. 984 (Eine Lücke sei anzunehmen, „wenn eine durch unsere sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse objektiv begründete Forderung an das Recht in ihm keine Erfüllung findet“. Anders aber S. 977 – vgl. dazu unten Fußn. 70); Capitant, S. 113 (es komme auf „nécessité pratique“, insbesondere auf „utilité économique“ an); Du Pasquier, Lacunes, S. 19 (Entscheidend seien „les besoins de la vie sociale“). 69 Stammler, S. 641 ff.; Elze, S. 28 ff. Die Beweisführung Elzes krankt an einem offenkundigen Fehler: Er führt – zutreffend – aus, eine Lücke liege vor, wenn ein rechtserheblicher Tatbestand nicht geregelt sei (S. 16); rechtserheblich sei ein sozialer Tatbestand aber nur dann, wenn er mit einer Rechtsfolge verknüpft sei (S. 25). Hier übersieht Elze, daß ein Tatbestand auch dann rechtserheblich ist, wenn er nach dem Willen des Gesetzes mit einer Rechtsfolge versehen sein sollte. Er folgert daher weiter, da das Gesetz in den Lückenfällen eine Rechtsfolge eben nicht enthalte, könne sich die Rechtserheblichkeit nur nach außergesetzlichem Recht bestimmen und als solches komme nur das „richtige Recht“ in Frage. Dies führt ihn schließlich zu dem absonderlichen Ergebnis, die Analogie als Mittel der Lückenausfüllung schlechthin abzulehnen (S. 56 ff., insbesondere 63). Gegen Elze mit Recht auch Herrfahrdt, S. 13, Fußn. 4. 70 Binder, S. 977, anders aber S. 984 (vgl. oben Fußn. 68).
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz
Dem allgemeinen Sprachgebrauch nach sind gewiß alle diese Ansichten vertretbar; denn wie oben73 gezeigt, kann danach der Wertmaßstab für die Feststellung einer Lücke sowohl dem Bewertungsobjekt selbst entnommen wie von einem Standpunkt außerhalb desselben bestimmt werden. [33] Dem besonderen methodologischen Zweck des Lückenbegriffs aber, die Voraussetzungen der Ergänzung des Gesetzes festzulegen, wird nur die h. L. gerecht. Denn die Rechtsfindung praeter legem ist einerseits gekennzeichnet durch die Befugnis des Richters, über die Anordnungen des positiven Rechts hinauszugehen; sie ist andererseits beschränkt durch die Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) und findet daher ihre Grenze dort, wo gegen Anordnungen oder Wertungen des geltenden Rechts verstoßen, also „contra legem“ judiziert wird. Mag dies in Ausnahmefällen auch zulässig sein74, so gelten dafür doch jedenfalls andere und strengere Voraussetzungen als für den hier zu untersuchenden Bereich der Rechtsfortbildung. Soll der Lückenbegriff daher die ihm eingangs zugedachte Aufgabe erfüllen, so ist es erforderlich, ihn scharf von der Rechtsfindung contra legem, von der echten Korrektur des Gesetzes abzuheben75. Der Sache nach bedeutet dies wegen der Bindung des Richters an das Gesetz, daß die Feststellung einer Lücke nur vom Boden des geltendenden Rechts aus erfolgen kann. Terminologisch macht es erforderlich, der „Lücke“ den Begriff des „rechtspolitischen Fehlers“76, 77 gegenüber- [34] zustellen, wobei man als gemein71 Larenz, ML, S. 282 f.; ähnlich Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 253 („vom Standpunkt des positiven Rechts aus“) und Teichmann, S. 80. 72 Ähnlich schon Zitelmann, S. 9 („ ... innerhalb der Aufgabe, die es – sc.: das Gesetz – sich selbst gestellt hat“); Bierling, S. 383 („vom Standpunkte eines geltenden Rechts selbst“); ihm folgend Herrfahrdt, S. 12; Kiß, S. 466 („der ursprünglichen Intention des Gesetzes entgegen“); Huber, S. 404; Burckhardt, Lücken, S. 103 f. und Methode, S. 261; zweifelnd Engisch, Rechtslücke, S. 92 f. (die Bedenken von Engisch beruhen jedoch ersichtlich darauf, daß er die subjektive Auslegungstheorie zugrunde liegt). 73 Vgl. § 4. 74 Vgl. dazu Larenz, ML, S. 303 ff. 75 Auf die damit abgelehnten, oben erwähnten „freirechtlichen“ und „soziologischen“ Lehren näher einzugehen, ist im Rahmen dieser Arbeit weder möglich noch erforderlich (vgl. dazu z. B. Larenz, ML, S. 59 ff. und S. 62 ff.); die Bindung des Richters an Gesetz und Recht in dem hier zugrunde gelegten Sinne darf heute als feststehende Lehre und Rechtsprechung gelten. 76 Engisch, Rechtslücke, S. 93; Larenz, ML, S. 282; Dahm, S. 50 f.; Teichmann, S. 80. Auf diese Grenzziehung wird im schweizerischen und vor allem im französischen Schrifttum nicht genügend Gewicht gelegt. Ähnliches bezeichnet nur die Unterscheidung von Siorat, der den „lacunes“ die „carences du droit“ gegenüberstellt (S. 85 ff.); diese liegen vor, „lorsque les règles en vigueur prévoient pour le cas d’espèce une solution qui n’est pas jugée satisfaisante par les Etats parties au litige“ (S. 85), – allgemeiner und ohne Bezug auf die Besonderheiten des Völkerrechts, mit dem Siorat sich allein befaßt, gesprochen: wo eine Regelung nur aus der Sicht des Rechtssuchenden als fehlerhaft erscheint, liegt keine Lücke vor. – So bezeichnet es Siorat denn auch ausdrücklich als Charakteristikum der „carences“, daß eine Regelung hier de lege ferenda, und nicht de lege lata kritisiert wird (S. 87). Im übrigen weist seine Begriffsbildung allerdings Eigen-
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samen Oberbegriff den Ausdruck „Mangel“ wählen kann. Mag etwa die Nichtberücksichtigung von Geschwistern im Rahmen des Pflichtteilsrechts gegen das Rechtsgefühl einzelner oder der Allgemeinheit verstoßen oder als „sozial unbefriedigend“ betrachtet werden, so liegt doch nicht eine Lücke im obigen Sinne vor, sondern allenfalls ein rechtspolitischer Fehler, weil die kritisierte Regelung vom Gesetz in § 2303 BGB so und nicht anders gewollt ist. § 22 Steht somit das Abgrenzungskriterium auch grundsätzlich fest, so bedarf es doch noch einer Präzisierung. Zweifellos zu eng ist die Ansicht, das geltende Recht fordere eine Regelung nur dort, wo das Gesetz sich ohne eine Ergänzung nicht anwenden lasse78, 79. Zwar trifft dies nicht nur bei den sogenannten „Normlücken“ zu80, aber dennoch läßt diese Bestimmung des Lückenbegriffs eine Fülle von unzweifelhaft dem Bereich der Rechtsfindung praeter legem zugehörigen Fällen – wie etwa einen Teil der Analogiebeispiele und das Gebiet der teleologischen Reduktion81 – außer Betracht. § 23 Wesentlich weiter ist die Begriffsbestimmung von Larenz. Danach ist entscheidend, ob die immanente Teleologie des Gesetzes eine Regelung fordert oder
tümlichkeiten auf, die durch die besonderen Probleme des Völkerrechts bedingt sind und eine Übertragung der Begriffe – worauf Siorat selbst nachdrücklich hinweist – auf die übrigen Rechtsgebiete weitgehend ausschließt. So rechnet er zu den „carences“ z. B. auch die „nachträglichen Lücken“ auf Grund einer Veränderung der sozialen Gegebenheiten (vgl. z. B. S. 85 und S. 88) und stellt ihnen die „insuffisances sociales de la réglementation“ zur Seite (S. 157 ff.); darunter versteht er – was die Terminologie freilich eher verhüllt als klarstellt – jene Fälle, in denen der Richter zur Lösung einer Rechtsfrage keinen Anhalt in den Wertungen der geltenden Regelung findet und daher „ex aequo et bono“ entscheiden muß (S. 160 f.), also Fälle, die nach der hier vorgeschlagenen Terminologie dem Lückengebiet und zugleich dem Bereich der freien Rechtsfindung angehören (vgl. oben Fußn. 17). 77 Anders Somlo, Rechtsanwendung, S. 65; Ross, S. 343; Becker, S. 433. Sie verwenden den Lückenbegriff rechtspolitisch. Anschütz (S. 315) unterscheidet – sachlich zutreffend, aber terminologisch verwirrend – „Lücken de lege lata“ und „de lege ferenda“. 78 So Burckhardt, Methode, S. 260: „Als Lücke des Gesetzes bezeichnet man es, wenn das Gesetz auf eine Frage, die zur Anwendung des Gesetzes notwendig beantwortet werden muß, keine Antwort gibt.“ Ihm folgend Nawiasky, S. 142 f.; ähnlich Du Pasquier, Modernisme, S. 220 und, jedenfalls der Formulierung nach, Grabherr, S. 26; ähnlich auch von Tuhr, S. 41 („wirkliche Lücken“ lägen nur dort vor, „wo das Gesetz eine Vorschrift erläßt, ohne den Inhalt derselben genügend zu bestimmen“); ablehnend mit Recht Larenz, ML, S. 280. 79 Zu eng auch Brütt, S. 74 („Von einer ... Lücke kann nur dann die Rede sein, wenn das Recht keine Antwort auf die Frage gibt, ob und eventuell welche Rechtsfolge sich an einen bestimmten Tatbestand, Zustand oder Handlung anschließt“) und Ehrlich, S. 215 („Es möge nachdrücklichst hervorgehoben werden, daß es sich – sc.: bei den Lückenfällen – um das Fehlen eines, nicht etwa eines passenden Rechtssatzes handelt. Ist ein Rechtssatz vorhanden, dann muß er angewandt werden, er mag passen oder nicht“). Hier sind die „Ausnahmelücken“ in den Fällen der teleologischen Reduktion übersehen. (Vgl. dazu unten §§ 74 ff.) 80 Daß hierher auch eine Reihe von „Regelungslücken“ gehört, wird unten § 47 und §§ 50 ff. nachgewiesen werden. 81 Vgl. dazu unten §§ 74 ff.
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz
nicht82, – wobei darunter auch der – nicht aus dem Gesetz selbst, sondern aus der Rechtsidee abzuleitende – Gleichbehandlungsgrundsatz fällt83. [35] § 24 Es fragt sich indessen, ob es sich nicht empfiehlt, noch einen Schritt weiter zu gehen84. Wie Larenz nachgewiesen hat85, gibt es eine Reihe von Rechtsinstituten, die sich gewiß nicht contra legem entwickelt haben86, deren Bildung aber andererseits auch nicht durch die Teleologie des Gesetzes gefordert, sondern allenfalls – und auch das keineswegs immer – „angeregt“ wird. Hierher gehören z. B. Neubildungen wie die Lehre vom übergesetzlichen Notstand, die actio negatoria (jedenfalls soweit sie nicht auf ein absolutes Recht gestützt wird), die Treueund Fürsorgepflicht im Arbeitsverhältnis oder die Lehre vom Parteiwechsel im Zivilprozeß. In welchem Verhältnis stehen nun diese richterlichen Neuschöpfungen zum Lückenbereich? Zwei Antworten sind denkbar: entweder man erweitert den Lückenbegriff über die Anforderungen der immanenten Teleologie des Gesetzes hinaus, oder aber man spaltet den Bereich der Rechtsfindung praeter legem in zwei Teile: den Lückenbereich und die Gruppe der übrigen, oben gekennzeichneten Fälle. Welchen der beiden Wege man gehen will, ist eine Frage terminologischer Zweckmäßigkeit; entscheidend muß dabei sein, ob sich für beide Teilgebiete wesentlich verschiedene Regeln – sei es methodischer Art, sei es hinsichtlich der Stellung des Richters und seiner Befugnis zur Rechtsfortbildung – aufstellen lassen, oder ob die Gemeinsamkeiten die Unterschiede überwiegen. § 25 Methodisch gesehen liegt nun die wesentlichste Besonderheit der erwähnten Fälle in der Lösung von der immanenten Teleologie des Gesetzes. Dies kann indessen nicht als Abgrenzungskriterium gegenüber dem Lückenbereich im engeren Sinne dienen, da auch hier bei der Lückenausfüllung nicht selten ein Rückgriff auf die Wertung des Gesetzes unmöglich ist; es sei hier nur kurz an eine so „klassische“ Lücke wie das Fehlen des Obligationsstatuts im deutschen Internationalen [36]
ML, S. 282 f.; vgl. auch S. 303; ähnlich Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 253. ML, S. 283. 84 In dieselbe Richtung wie die folgenden Ausführungen zielt auch der Hinweis von Larenz (a.a.O.), unter der „Teleologie des Gesetzes seien auch „objektive Rechtszwecke und Grundsätze, denen das Gesetz im allgemeinen Rechnung trägt“, zu verstehen. Enger dagegen offenbar ML, S. 303, wo die Schaffung „neuer Rechtsinstitute, die das Gesetz nicht kennt“, aus dem Bereich der Lückenergänzung herausgenommen und der Fehlerberichtigung zugewiesen wird. Man wird jedoch die Ausführungen S. 303 ff. nur als beispielhafte Hervorhebung des wichtigsten Gebietes der Gesetzesberichtigung und nicht etwa in dem Sinne verstehen dürfen, daß Larenz nur die Bildung neuer Institute, diese aber auch ausnahmslos (man denke nur an die unzweifelhaft der Lückenergänzung zugehörige „positive Forderungsverletzung“, vgl. auch Larenz selbst, ML, S. 281) der Fehlerberichtigung zurechnen will. Immerhin könnten die Ausführungen insoweit zu Mißverständnissen Anlaß geben. 85 Wegweiser, S. 275 ff. 86 Dies wird von Larenz (a.a.O., S. 276) ausdrücklich klargestellt. 82 83
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Privatrecht erinnert87. – Auch in der Bildung neuer Rechtsinstitute kann – ganz abgesehen von der Verschwommenheit dieses Begriffs – nicht das besondere Charakteristikum dieser Gruppe gesehen werden. Denn dies ist auch mit den „klassischen“ Mitteln der Lückenfeststellung und -ausfüllung möglich; so beruht etwa die Lehre von der positiven Vertragsverletzung auf einer Gesamtanalogie, und Neuschöpfungen wie die Lehre von der faktischen Gesellschaft88, das Geschäft für den, den es angeht, die Abschlußpflicht der Monopolbetriebe, die Schadensliquidation im Drittinteresse oder die Wahlfeststellung im Strafrecht lassen sich methodisch mit den Mitteln der teleologischen Reduktion erklären89. – Besonderheiten ergeben sich freilich hinsichtlich der Art der Lückenfeststellung90. Auch dies spricht jedoch nicht entscheidend für eine Trennung der beiden Bereiche. Denn einmal sind die methodischen Vorgänge selbst in jenen Fällen, die unzweifelhaft zum Lückenbereich gehören, auch hinsichtlich der Feststellung einer Lücke durchaus nicht einheitlich91, zum anderen ergeben sich bedeutsame methodische Ähnlichkeiten zwischen einer Reihe von Beispielen, die sich bei der Lückenfeststellung noch auf die immanente Teleologie des Gesetzes stützen lassen, und den hier einzuordnenden Neubildungen92. § 26 Auch hinsichtlich der Befugnis des Richters zur Rechtsfortbildung lassen sich für diese Fallgruppe keine Regeln aufstellen, die ihre Trennung vom Lückengebiet rechtfertigen. Sie an besondere Voraussetzungen zu knüpfen, – etwa der Art, daß die Ergänzung des Gesetzes nur bei Vorliegen eines „unabweisbaren Bedürfnisses“ oder für den Fall, daß sonst die Rechtsidee Schaden nähme93, zulässig sei, – würde der dem Richter vom Grundgesetz eingeräumten verhältnismäßig freien Stellung bei der Rechtsfortbildung praeter legem widersprechen, die Grenze zur Rechtsfindung contra legem verwischen und im übrigen [37] auch den Gerichten bei einer ihrer fruchtbarsten Aufgaben unerwünschte Fesseln anlegen.
87 Vgl. dazu Zitelmann, S. 29 und unten § 52. – Im übrigen ist sogar bei der Rechtsfindung secundum legem ein Rückgriff auf die Teleologie des Gesetzes mitunter unmöglich: bei der Konkretisierung „ausfüllungsbedürftiger“ Rechtsbegriffe. Es sei hier daher noch einmal an den Vorschlag erinnert, alle Fälle des Fehlens gesetzlicher Wertungen als „freie Rechtsfindung“ zusammenzufassen (vgl. auch oben Fußn. 17). 88 Vgl. dazu in methodischer Hinsicht Larenz, ML, S. 298 f. 89 Vgl. unten §§ 147 ff. 90 Vgl. unten §§ 84 ff. 91 Vgl. unten § 118. 92 Die Feststellung der Lücke geschieht teilweise an Hand von außergesetzlichen, teilweise mit Hilfe von dem Gesetz immanenten „allgemeinen Rechtsprinzipien“; die methodischen Vorgänge bei dem entscheidenden Problem in diesem Zusammenhang, der „Konkretisierung“ dieser Prinzipien, sind in beiden Fällen die gleichen. Dazu unten §§ 84 ff. und 152 ff., insbesondere § 162. 93 So Larenz, ML, S. 319 ff. für die Rechtsfortbildung contra legem.
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz
§ 27 Andererseits ist der Lückenbegriff in diesem Zusammenhang keineswegs überflüssig, sondern erfüllt auch hier seine höchst bedeutsame Aufgabe: die Voraussetzungen festzulegen, unter denen der Richter zur Rechtsfortbildung praeter legem befugt ist. Denn dazu kann keineswegs die bloße negative Feststellung, daß das neue Institut mit den Anordnungen und Wertungen des Gesetzes nicht im Widerspruch steht, genügen. Vielmehr ist auch hier das positive Urteil erforderlich, daß das Gesetz eine planwidrige Unvollständigkeit enthält; die Vorstellung, der Richter sei ohne weiteres befugt, durch die Ausbildung von Richterrecht in den vom Gesetzgeber freigelassenen Raum vorzudringen, solange nur nicht dessen Entscheidung klar entgegenstehe, ist mit der verfassungsrechtlichen Trennung von Gesetzgebung und Rechtsprechung unvereinbar93a. Es ist also streng daran festzuhalten, daß der Richter wie stets im Bereich der Rechtsfindung praeter legem so auch hier einer Rechtfertigung für die Weiterbildung bedarf. § 28 Die besondere Eigenart der Fälle bringt es nun mit sich, daß er diese nicht aus der immanenten Teleologie des Gesetzes herleiten kann, daß also der Maßstab der Lückenfeststellung ein außer-gesetzlicher sein muß; andererseits darf es wegen der Bindung des Richters an Gesetz und Recht nach Art. 20 III GG aber kein außer-rechtlicher sein. Das geltende Recht gründet sich indessen – weit über die Teleologie des Gesetzes hinausgreifend – auf eine Fülle außergesetzlicher, aber darum doch nicht außerrechtlicher Bewertungsgrundlagen94; dies ist der Bereich der „allgemeinen Rechtsprinzipien“ und übergesetzlichen Werte. Auch an sie ist der Richter, den das Grundgesetz auf Gesetz und Recht verpflichtet95, gebunden, auch aus ihnen kann er daher seine Berechtigung zur Ergänzung des Gesetzes ableiten. [38] Siehe dazu näher Canaris, Gedächtnisschrift für Dietz, 1973, S. 204 f. Dies hat Esser in seinem Buch Grundsatz und Norm überzeugend nachgewiesen; vgl. ferner Wieacker, Gesetz und Richterkunst (vgl. den Untertitel der Schrift: „Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung“) und Larenz, Wegweiser, S. 275 ff. und ML, S. 128 ff. und 314 ff. 95 Die Bedeutung der Worte „Gesetz und Recht“ und ihr Verhältnis zueinander ist allerdings nicht ganz unstrittig (vgl. z. B. Maunz-Dürig, Art. 20, Rdziff. 72 und das dort, Fußn. 1, zitierte Schrifttum). – Richtigerweise wird man zwei Funktionen des „Rechtes“ gegenüber dem „Gesetz“ unterscheiden müssen: erstens die „kritische“ Funktion in dem Sinne, daß der Richter das Gesetz an dem überpositiven Recht zu messen und bei einem Widerspruch u. U. als „gesetzliches Unrecht“ zu verwerfen hat; zweitens die „komplementäre“ Funktion in dem Sinne, daß der Richter das geschriebene Gesetz aus dem ungeschriebenen Recht zu ergänzen und weiterzubilden hat. Mögen die Mitglieder des parlamentarischen Rates auf Grund der besonderen historischen Situation auch vornehmlich die erste Funktion im Auge gehabt haben, so kann doch nach Wortlaut und Sinn des Art. 20, III GG nicht zweifelhaft sein, daß auch die zweite mitumfaßt ist; denn der Gesetzgeber wollte die Stellung des Richters bei der Rechtsfortbildung nicht etwa gänzlich neu fassen, sondern der Rechtsprechung zweifellos nur jene Aufgaben und Befugnisse wieder zusprechen, die sie schon bis 1933 insoweit wahrgenommen hatte. Daß die Rechtsprechung sich aber auch damals an „außergesetzlichen Bewertungsgrundlagen“ orientiert hat (man denke etwa an die – gewiß zu billigenden – Urteile zum „übergesetzlichen Notstand“ oder zum 93a 94
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Es ist also die Rechtsordnung als Ganzes, die dem Richter als Bewertungsmaßstab für die Feststellung einer Lücke dient; zu entfalten, welcher ihrer Bestandteile dabei im einzelnen bedeutsam wird, ist dem folgenden Kapitel vorbehalten. Mit dieser Erweiterung des Lückenbegriffs über die Anforderungen der immanenten Teleologie des Gesetzes hinaus ist ein doppeltes erreicht: zum einen ist die sonst unvermeidliche Aufspaltung des Bereichs der Rechtsfindung praeter legem verhindert, und zum andern ist ein methodischer Ansatzpunkt gewonnen, um die Ergänzung des Rechts auch insoweit an einigermaßen feste Voraussetzungen zu binden96, als sie den Rahmen der Wertungen des Gesetzes überschreitet. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei dabei ausdrücklich betont, daß die Besonderheit der fraglichen Fälle keineswegs geleugnet werden soll; jedoch berechtigt diese nur, ihnen eine Sonderstellung innerhalb des [39] Lückenbereichs einzuräumen97, nicht, sie gänzlich aus diesem zu verweisen98. „Betriebsrisiko“!, vgl. dazu unten §§ 101 bzw. 112), steht außer Frage (vgl. auch das in der vorhergehenden Fußn. genannte Schrifttum); das GG, für dessen Geist das hohe Vertrauen in die „dritte Gewalt“ geradezu ein fundamentales Charakteristikum ist, wollte hier gewiß keinen Wandel schaffen. – Im übrigen geht es – mindestens soweit die in unserem Zusammenhang allein bedeutsame zweite Funktion in Frage steht – auch nicht an, als „Recht“ in diesem Sinne nur die im GG zum Ausdruck gekommenen Fundamentalwerte der Verfassung anzuerkennen (vgl. aber Maunz-Dürig, a.a.O.). Dies dürfte schon für das öffentliche Recht zu eng sein, da das System des Grundgesetzes wohl kaum einen abschließenden Katalog von Werten enthält und das GG selbst z. B. in seinem Bekenntnis zu den – historisch wandelbaren! – Formen des Rechtsstaates und des Sozialstaates generalklauselartige Ansatzpunkte für den Einbruch neuer Wertungen aufweist; es ist erst recht nicht zutreffend für das Privatrecht, das auf vom GG weitgehend unabhängigen und von ihm lediglich anerkannten bzw. vorausgesetzten Wertungen beruht. – Insgesamt ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß auch die Verfassung nur einen Teil der Gesamtrechtsordnung bildet und daher auch aus dieser heraus auszulegen ist (ebenso wie sie umgekehrt auf sie zurückwirkt, ein Vorgang, den man wohl nur als dialektischen Prozeß voll erfassen kann). Insbesondere ist bei der Auslegung des Wortes „Recht“ in Art. 20, III GG das „vorkonstitutionelle Gesamtbild“ maßgeblich zu berücksichtigen, zu dem gleichermaßen die traditionelle Stellung des Richters und die überkommenen Grundlagen unseres Privatrechts gehören. – Im übrigen soll aber keineswegs geleugnet werden, daß die Wertungen des GG von maßgeblicher Bedeutung als Schranke der richterlichen Rechtsfortbildung sein können (vgl. dazu neuestens Stein, NJW 64, 1745 ff.). 96 Dieser normative Aspekt wird stark vernachlässigt von Esser, a.a.O. Im Vordergrund steht er dagegen bei Larenz, Wegweiser, a.a.O., doch befaßt sich Larenz vorwiegend mit den zulässigen Mitteln der Lückenfüllung und weniger mit denen der Lückenfeststellung. 97 In der Literatur wird diese Fallgruppe regelmäßig ganz selbstverständlich dem Lückenbereich zugeordnet. So führt Engisch (Einführung, S. 138 f.) das Fehlen einer Regelung des übergesetzlichen Notstandes als Beispiel einer Lücke an; Nipperdey (§ 59, Fußn. 10), Lehmann (§ 8, III, 5) und Brändl (bei Staudinger Vorbem. vor § 1, Anm. 70) erwähnen in diesem Zusammenhang die Lehre vom Betriebsrisiko im Arbeitsrecht, Brändl (a.a.O.) auch die actio negatoria. 98 Endgültig läßt sich die Fruchtbarkeit der Anwendung des Lückenbegriffs auf diese Fälle erst zeigen, wenn die methodischen Vorgänge mit seiner Hilfe an einzelnen Beispielen befriedigend geklärt sind; vgl. dazu unten §§ 94 ff., 152 ff. und insbesondere die Zusammenfassung § 162.
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz
§ 29 Abschließend ergibt sich somit als Definition der Lücke: Eine Lücke ist eine planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts (d. h. des Gesetzes im Rahmen seines möglichen Wortsinnes und des Gewohnheitsrechts) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung. Oder: Eine Lücke liegt vor, wenn das Gesetz innerhalb der Grenzen seines möglichen Wortsinnes und das Gewohnheitsrecht eine Regelung99 nicht enthalten, obwohl die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit eine solche fordert100. Ist damit der Lückenbegriff auch im wesentlichen geklärt, so bleiben im Zusammenhang der Abgrenzung gegenüber der Rechtsfindung contra legem doch noch einige bedeutsame Einzelfragen offen. Wie oben dargelegt, ist Voraussetzung für die Annahme einer Lücke das Fehlen einer gesetzlichen Regelung. Nicht immer aber, wenn das positive Recht keine Bestimmung enthält, liegt darum auch schon eine Lücke vor. Das Schweigen des Gesetzes kann vielmehr auch „beredt“101 [40] – d. h. planmäßig – sein, und zwar in zweifachem Sinne: entweder es will dadurch zum Ausdruck bringen, daß in dem fraglichen Fall überhaupt keine rechtliche Regelung eintreten soll, – dann fällt die Frage in den sogenannten „rechtsfreien Raum“ –, oder aber es zeigt durch die Verknüpfung einer Rechtsfolge mit einem bestimmten Tatbestand, daß es für einen anderen, nicht ausdrücklich geregelten Fall diese Rechtsfolge nicht will, – dann ist ein „argumentum e contrario“ am Platze. Wann im einzelnen ein solches „qualifiziertes“ Schweigen anzunehmen ist und wie das Schweigen des Gesetzes in den übrigen Fällen zu beurteilen ist, soll nunmehr an Hand der oben herausgearbeiteten Kriterien näher untersucht werden.
99 „Regelung“ ist hier im weitesten Sinne zu verstehen: als Gruppe von Rechtssätzen, als einzelner Rechtssatz und als Teil eines solchen. Vgl. dazu näher unten § 129. 100 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß hier – wie die Formulierung zeigt – die „objektive Auslegungstheorie“ zugrunde gelegt wird (zur Literatur vgl. oben, Fußn. 53 f.). Entscheidend spricht für diese letztlich die Tatsache, daß das Recht dem Bereich des „objektiven Geistes“ angehört (dies wird von Larenz, ML, S. 240 f. in den Mittelpunkt der Argumentation gestellt). Die subjektive Theorie kommt für den Lückenbegriff nicht zu wesentlich anderen Ergebnissen (vgl. z. B. Engisch, Rechtslücke, S. 101 f. und Einführung, S. 137), doch ergeben sich für sie gewisse Schwierigkeiten bei den „bewußten“ Lücken (vgl. dazu unten § 124 f.) hinsichtlich des Merkmals der Planwidrigkeit (vgl. Herrfahrdt, S. 13 f.) sowie bei der Erklärung der nachträglichen Lücken (vgl. Engisch, Rechtslücke, S. 92 f. und Einführung, S. 141 f.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Schrift von Roth-Stielow, der ebenfalls die „subjektive“ Theorie zugrunde legt (vgl. S. 84 f. und durchweg) und sich dabei zu so absonderlichen Behauptungen versteigt wie der, die Feststellung einer Lücke sei „sicher nur (!) mit Hilfe der Materialien“ möglich (S. 88). 101 Binder, S. 977; Larenz, ML, S. 279; Dahm, S. 50. Von „qualifiziertem Schweigen“ sprechen Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 70 und Kommentar, Randziffer 255; Bender, Methode der Rechtsfindung, S. 600,
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I. Die Fälle „qualifizierten Schweigens“ des Gesetzes A. Lücke und „rechtsfreier Raum“ § 30 Beherrscht auch das Recht einen sehr großen Teil des sozialen Lebens, so gibt es doch andererseits auch viele Gebiete menschlichen Verhaltens, in denen es auf eine Regelung gänzlich oder teilweise verzichtet. Hierher gehören Bereiche wie Religion, Liebe, Freundschaft oder das gesellschaftliche Leben. So ist es rechtlich gesehen z. B. völlig gleichgültig, ob jemand die Verabredung zu einem gemeinsamen Theaterbesuch einhält oder nicht, ob ein neuer Hausbewohner sich bei seinen Nachbarn vorstellt, ob der Jüngere den Älteren auf der Straße zuerst zu grüßen hat oder umgekehrt, usw. Bei allen diesen Beispielen sagt man, die Frage falle in den „rechtsfreien Raum“102. § 31 Das gemeinsame Charakteristikum und das in diesem Zusammenhang entscheidende Merkmal liegt nun darin, daß diese Fälle rechtlich irrelevant sind103. Damit ist allerdings sogleich eine wesentliche, schon von Zitelmann104 betonte Schwäche des Begriffs berührt: er ist in zweifacher Hinsicht unscharf. Erstens bereitet es erhebliche Schwierigkeiten, das rechtlich Zulässige – und daher nicht ausdrücklich Geregelte – vom rechtlich Unerheblichen zu trennen105, und zwei[41] tens ist der Begriff der Irrelevanz – und damit der des rechtsfreien Raumes – relativ106: je nachdem, von welchem Standpunkt – innerhalb der Rechtsordnung – man eine Frage beurteilt, kann sie erheblich oder unerheblich sein; so ist es möglich, daß ein Verhalten unter §§ 823 ff. BGB fällt, während es strafrechtlich irrelevant ist, daß es eine Verpflichtung zu Schadenersatz aus Vertrag begründet, während es für das Deliktsrecht keine Bedeutung hat, usw. Letzten Endes erhält man auf diese Weise „so viele Räume als Rechtsfolgen“107. § 32 Damit wird aber der Begriff uferlos und wissenschaftlich unbrauchbar. Will man seine Zuflucht nun nicht zu einer bloßen Nominaldefinition nehmen, so bleibt als Ausweg auch hier wiederum nur, dem Begriff des rechtsfreien Raumes eine feste Aufgabe zuzuweisen und so zu einer klaren Abgrenzung zu kommen. Dementsprechend soll hier ein Vorschlag gemacht werden, der im Rahmen einer 102 Vgl. dazu vor allem Bergbohm, S. 377 ff.; Zitelmann, S. 43 f., Anm. 14; Bierling, S. 383 ff.; Engisch, „Der rechtsfreie Raum“, S. 385 ff. und Rechtslücke, S. 99 ff. 103 So bezeichnet Engisch („Der rechtsfreie Raum“, S. 415) den rechtsfreien Raum ausdrücklich als „ein Gebiet rechtlicher Indifferenz“. 104 S. 43. 105 Deshalb wird der Begriff des rechtsfreien Raumes überhaupt abgelehnt von Somlo, S. 402; Kaufmann, S. 50 f.; ähnlich offenbar W. Fuchs, S. 200 f. Dabei wird verkannt, daß sich Irrelevants und Zulässiges jedenfalls der Idee nach und in praxi wenigstens in den Kernbereichen sehr wohl scheiden lassen. Gegen Somlo daher mit Recht Weigelin, S. 2. 106 So Zitelmann, a.a.O.; Brütt, S. 75; Engisch, a.a.O., insbesondere S. 390 f. und S. 418 f. 107 Zitelmann, a.a.O.; ihm folgend Brütt, a.a.O.
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methodologischen Arbeit zwar nicht in den Einzelheiten ausgeführt werden kann, der im Grundsätzlichen aber doch viel für sich zu haben scheint: der „rechtsfreie Raum“ ist zur Grundlage einer (negativen) Prozeßvoraussetzung zu machen. Denn eine Möglichkeit, den Unterschied des rechtlich Unerheblichen und des rechtlich Gebilligten, – um den es hier geht, – zum Ausdruck zu bringen, besteht in unserer Rechtsordnung nur in prozessualer Hinsicht durch die Trennung zwischen der Abweisung als unzulässig und als unbegründet. Wenn jemand auf Grund eines Sachmangels von einem anderen den Ersatz des positiven Interesses verlangt, ohne daß die Voraussetzungen des § 463 BGB vorliegen, so wird er mit seiner Klage zwar im Ergebnis ebenso abgewiesen, wie wenn jemand einen anderen etwa auf Abstattung des von der Sitte geforderten Gegenbesuchs verklagt; dennoch ist es offensichtlich, daß die Abweisung in beiden Fällen etwas ganz Verschiedenes bedeutet: im ersten Fall wird durch das klagabweisende Urteil nicht nur – negativ – zum Ausdruck gebracht, daß dem Kläger der geltend gemachte Anspruch nicht zusteht, sondern auch – positiv –, daß der Beklagte die Zahlung zu Recht verweigert; sein Verhalten wird also insoweit rechtlich gebilligt. Im zweiten Fall dagegen bedeutet die Abweisung nur, daß sich die Rechtsordnung mit derartigen Fragen nicht befaßt; ein rechtliches Urteil über das Verhalten des Beklagten – Billigung oder Mißbilligung – soll gerade nicht gefällt werden. Diesen Verzicht auf eine Entscheidung zur Sache selbst – denn um nichts anderes handelt es sich – bringt man prozessual am sinnfälligsten zum Ausdruck, indem man die Klage nicht wie im ersten Fall als unbegründet, [42] sondern als unzulässig abweist: ein solcher Fall gehört, da rechtlich unerheblich, nicht vor die Gerichte108, 109.
108 Dogmatisch läßt sich die hier vertretene Ansicht ohne Schwierigkeiten in Anlehnung an die Prozeßvoraussetzung der „Klagbarkeit“ einordnen (vgl. dazu Stein-Jonas-Schönke-Pohle, Anm. II, 6 vor § 253; Baumbach-Lauterbach, Grundz. 4 vor § 253; Schönke-Schröder-Niese, § 43, III, 3 und § 45, III, 1; Rosenberg, § 85, II, 2a; anders Lent-Jauernig, § 33, IV, 3 a. E.). So ist etwa die Klage auf Eingehung der Ehe auf Grund des § 1297 BGB oder die Klage auf Zahlung einer „Branntweinschuld“ auf Grund des § 31 GastStG als unzulässig abzuweisen (so St.-J.-Sch.-P. und Rosenberg, a.a.O. mit weiteren Beispielen), da es an der Klagbarkeit fehlt. Wenn aber die Klage in einem solchen Fall, in dem das Gesetz teilweise auf ein Eingreifen verzichtet, unzulässig ist, so muß dies erst recht gelten, wenn das Recht eine Regelung überhaupt ablehnt. – Auf die nahe Verwandtschaft der hier in Frage stehenden „partiell-rechtsfolgefreien“ Tatbestände mit den Fällen, die gänzlich in den rechtsfreien Raum fallen, weist Engisch (a.a.O., S. 390 f.), wenn auch mit anderer Akzentsetzung, hin. 109 Die nähere Ausgestaltung dieser neuen Prozeßvoraussetzung muß Einzeluntersuchungen vorbehalten bleiben. Dabei werden sich gewisse Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber der „Abweisung als unbegründet“ nicht leugnen lassen. Auch ist nicht zu umgehen, daß Fragen, die typischerweise zur Prüfung der Begründetheit gehören, hier schon über die Frage der Zulässigkeit entscheiden; doch ist dies kein entscheidender Einwand, da diese Schwierigkeit bekanntlich auch bei anderen Prozeßvoraussetzungen – wie etwa der Zulässigkeit des Rechtsweges – auftritt.
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§ 33 Gibt man auf diese Weise dem Begriff des rechtsfreien Raumes eine feste praktische Bedeutung, so ist es nunmehr auch möglich, seine theoretischen Grenzen genau abzustecken: soll er als Grundlage einer besonderen – negativen – Prozeßvoraussetzung dienen, und soll seine Aufgabe dabei die Aussonderung der Fälle sein, in denen die Rechtsordnung eine Stellungnahme überhaupt ablehnt, so kann von einem „rechtsfreien Raum“ nur dort gesprochen werden, wo ein Lebenssachverhalt vom Standpunkte eines einer bestimmten Prozeßordnung zugewiesenen Rechtsgebietes aus unerheblich ist. Damit ist zwar anerkannt, daß ein Fall in den strafrechts- oder verwaltungsrechtsleeren Raum fallen kann, während er doch zivilrechtliche Folgen zu begründen vermag, – und umgekehrt; damit ist aber gleichzeitig einer darüber hinausgehenden Relativierung des Begriffes Einhalt geboten und eine feste Abgrenzung gefunden. Dabei soll keineswegs verkannt werden, daß auch diesem Kriterium noch ein gewisses Maß an Willkür anhaftet, und daß eine abweichende Terminologie keineswegs als „falsch“ verworfen werden kann; doch dürfte die hier vorgeschlagene Lösung den doppelten Vorzug haben, die wesentliche Problematik der in Frage stehenden Fälle auch äußerlich in Erscheinung treten zu lassen und dabei gleichzeitig dem Begriff – dogmatisch abgesichert durch die Anlehnung an die Prozeßvoraussetzung der Klagbarkeit110 – zu praktischer Brauchbarkeit zu verhelfen [43] und so zu einer klaren Abgrenzung zu gelangen. Im folgenden soll daher von einem „rechtsfreien Raum“ nur dann die Rede sein, wenn eine Frage für ein bestimmtes prozessual-selbständiges Gebiet wie das Zivilrecht, das Strafrecht, das Verwaltungsrecht usw. unter jedem Gesichtspunkt unerheblich ist. Die übrigen Fälle des Schweigens des Gesetzes sind, soweit sie nicht in den Lückenbereich fallen, dem argumentum e contrario oder dem – im folgenden noch näher zu erläuternden – argumentum e silentio zuzuordnen. § 34 Wann nun eine Frage in den rechtsfreien Raum fällt, wann das Gesetz durch sein Schweigen eine bestimmte Lösung mittelbar mißbilligt, also ein argumentum e contrario fordert, und wann schließlich eine Lücke vorliegt, ist eine Frage der Interpretation, die nur von Fall zu Fall geklärt werden kann und jeweils eine Wertung voraussetzt. Maßstab dieser Wertung kann nach dem oben Gesagten auch hier wiederum nur der Wille der gesamten Rechtsordnung sein; Abgrenzungskriterium ist dabei im einzelnen die rechtliche Irrelevanz für den rechtsfreien Raum, die planwidrige Unvollständigkeit für die Lücke und – wie noch zu zeigen sein wird – der negative Satz des Gleichheitsgebotes für das argumentum e contrario. Rechtsfreier Raum und Lückenbereich sind also nach der hier zugrunde gelegten Terminologie scharf zu trennen111: liegt eine Lücke vor, so fordert die Vgl. Fußn. 108. So auch die h. L.: Bergbohm, S. 379 f.; Bierling, S. 383; Reichel, S. 92; Weigelin, S. 2; Sauer, S. 281; Nipperdey, § 58, Fußn. 4; Dahm, S. 54; Bastian, S. 42 f.; Larenz, ML, S. 280; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 260; Engisch, Einführung, S. 138, ebenso grundsätzlich – wenn auch mit 110 111
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Rechtsordnung eine Regelung, während der rechtsfreie Raum gerade umgekehrt dadurch gekennzeichnet ist, daß eine Rechtsfolge nicht eintreten soll. Dabei ist hervorzuheben, daß die Grenze zwischen beiden Bereichen durch das positive Recht jeweils verschoben werden kann112, daß dieses also die Macht hat, das Gebiet des rechtlich Irrelevanten zu vergrößern oder zu verkleinern113. Dies ist indessen ausschließlich dem Gesetzgeber vorbehalten; wollte der Richter dort eine Lücke anneh- [44] men und zur Rechtsfortbildung schreiten, wo nach dem Willen des Gesetzes ein rechtsfreier Raum vorliegt, so würde es sich um ein unzulässiges Contra-legem-Judizieren handeln. Als Ergebnis ist demnach festzuhalten, daß einer der Grenzpunkte des Lückenbereichs durch den rechtsfreien Raum gekennzeichnet wird, und daß es dem Richter – trotz des Schweigens des Gesetzes – grundsätzlich nicht erlaubt ist, in diesem Gebiet zur Ergänzung des Rechts tätig zu werden. B. Lücke und „argumentum e contrario“ § 35 Praktisch wesentlich häufiger sind die Fälle, in denen das Fehlen einer Regelung nicht bedeutet, daß überhaupt keine Rechtsfolge eintreten soll, sondern wo das Gesetz dadurch anzeigt, daß es für einen Fall eine bestimmte Folge nicht will, wo das Schweigen also nicht die Verweigerung einer Antwort, sondern umgekehrt eine – mittelbare – negative Lösung darstellt. Wenn z. B. das BGB in § 165 bestimmt, daß ein beschränkt Geschäftsfähiger wirksam als Stellvertreter auftreten kann, so liegt es nahe, aus der Tatsache, daß dies nicht auch für einen Geschäftsunfähigen ausgesprochen ist, zu schließen, letzterer könne eben nicht Stellvertreter sein. Indessen ist bei einem derartigen „Umkehrschluß“ Vorsicht geboten; denn rein logisch gesehen wäre auch die analoge Anwendung des § 165 denkbar. Zwar ist es höchst unwahrscheinlich, daß der Gesetzgeber in § 165 versehentlich den Geschäftsunfähigen nicht mitgenannt hat, und es besteht daher in einem derartig klaren Fall eine gewisse praktische Vermutung zugunsten des argumentum e contrario. Zwingend ist ein solcher Schluß aus der bloßen Tatsagewissen Zweifeln für die Fälle der unausfüllbaren Lücken (dazu unten §§ 164 ff.) –Rechtslücke, S. 100 f.; anders Zitelmann, S. 42 f.; Du Pasquier, Modernisme, S. 220 und Introduction, S. 204 (unter irrtümlicher Berufung auf die deutsche h. L.). 112 Vgl. Bergbohm, S. 377; Zitelmann, S. 44; Engisch, Der rechtsfreie Raum, S. 397 f.; verkannt von Schreier, S. 47 (vgl. oben, Fußn. 67). – Ein praktisches Beispiel dafür bietet die Abschaffung der „gerichtsfreien Hoheitsakte“ durch Art. 19, IV GG (vgl. dazu unten § 54 zu Fußn. 20). 113 Ob es einen „absolut“ rechtsfreien Raum in dem Sinne gibt, daß in diesem Bereich eine rechtliche Regelung a priori ausgeschlossen ist, braucht im Zusammenhang dieser Arbeit nicht erörtert zu werden und würde ihren Rahmen sprengen. Vgl. dazu und zu der Frage, inwieweit die Lösung von dem jeweils zugrunde gelegten Begriff des Rechts abhängig ist: Engisch, „Der rechtsfreie Raum“, S. 402 ff.
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che, daß die Sachlage besonders einfach und überschaubar sei und man dem Gesetzgeber daher einen Irrtum nicht unterstellen dürfe, jedoch nie. So ist beispielsweise anerkannt, daß nach § 119 II BGB auch ein Irrtum über eine Eigenschaft eines Rechtes die Anfechtung zu begründen vermag114, obwohl nur von Sachen die Rede ist und man „an sich“ kaum annehmen kann, daß dem Gesetzgeber bei der Schaffung des § 119 ein so grundlegender Unterschied wie der zwischen Sachen und Rechten nicht gegenwärtig war (vgl. § 90 BGB). Noch krasser liegt etwa der Fall des § 720 BGB, wo ausdrücklich nur auf § 718 I verwiesen ist, wo die h. L. aber mit Recht für § 718 II doch nicht einen Umkehr-, sondern einen Analogieschluß zieht115. Es ist daher heute allgemein anerkannt, daß das argu- [45] mentum e contrario – ebenso wie die Analogie – sich nicht in einem formallogischen Schlußverfahren erschöpft, sondern in eine normativteleologische Beweisführung mündet116. So ist der Umkehrschluß aus § 165 BGB für den Geschäftsunfähigen letztlich nur deshalb berechtigt, weil das Gesetz ihn in den §§ 104 ff. BGB in entscheidenden Punkten anders als den beschränkt Geschäftsfähigen behandelt: während dieser nur vor Rechtsgeschäften, die ihm nachteilig sein könnten, geschützt werden soll (vgl. § 107 BGB), betrachtet das Gesetz jenen als zu jedem rechtsgeschäftlichen Verhalten überhaupt (vgl. § 105 BGB) unfähig; dieser Unterschied aber ist auch entscheidend für die Möglichkeit der Stellvertretung, und daher ist ein argumentum e contrario aus § 165 gerechtfertigt. § 36 Ein solcher Schluß von der Verschiedenheit der Voraussetzungen auf die Verschiedenheit der Rechtsfolgen rechtfertigt sich dabei letztlich aus dem Gebot der Gerechtigkeitsidee, Ungleiches ungleich zu behandeln117. So ist das argumentum e contrario auch in diesem Punkte das „Gegenstück“ der Analogie118, 119, die auf dem Gebot, Gleiches gleich zu behandeln beruht120; setzt die Vgl. z. B. RGZ 149, 235; Staudinger-Coing, § 119, 26; Hefermehl bei Soergel-Siebert, § 119, 29. Vgl. z. B. Palandt-Gramm, § 720, 1; Schultze v. Lasaulx bei Soergel-Siebert, § 720, 3; anders Staudinger-Keßler, § 720, 1. 116 Schmitt, S. 13; Moor, S. 195; Schönke-Schrade, S. 26; Pisko, Handelsgesetze, S. 14 f.; Engisch, Einführung, S. 145; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 71; Klug, S. 134; für das französische Recht vgl. Fabreguettes, S. 375 f. 117 Dies wird in der Literatur – soweit ersichtlich – nirgendwo hervorgehoben. 118 Als „Gegenanalogie“ oder „Unähnlichkeitsschluß“ wird es daher bezeichnet von Staudinger-Brändl, Anm. 71 vor § 1. 119 Daß auch das zweite „Gegenstück“ der Analogie, die teleologische Reduktion, auf dem negativen Gerechtigkeitssatz beruht, hat Larenz, ML, S. 296 nachgewiesen. In der Tat sind argumentum e contrario und teleologische Reduktion eng miteinander verwandt: sie unterscheiden sich nur durch die Fassung des Gesetzeswortlauts. Im ersten Fall deckt sich dieser mit dem Sinn des Gesetzes, im zweiten geht er über ihn hinaus; wäre er zutreffend, so wäre wegen der Verschiedenheit der Tatbestände nicht eine teleologische Reduktion, sondern statt dessen ein argumentum e contrario am Platze. 120 Vgl. dazu unten, Kap. II, Fußn. 47. 114 115
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Analogie stets einen Ähnlichkeitsschluß voraus, so liegt dem argumentum e contrario immer ein Unähnlichkeitsschluß zugrunde: die zu vergleichenden Tatbestände stimmen in den für die fragliche Rechtsfolge maßgebenden Punkten nicht überein und müssen daher verschieden behandelt werden. Eine Lücke liegt dabei solange nicht vor, als sich die Rechtsfolge ohne weiteres aus der bloßen Umkehrung des Rechtssatzes ergibt, der als Grundlage des argumentum e contrario dient. So wäre etwa in dem obigen Beispiel das Fehlen eines Hinweises, daß § 165 nicht auch für Geschäftsunfähige gilt, keine planwidrige Unvollständigkeit; denn das [46] Gesetz spricht selbstverständlich i. d. R. ausdrücklich nur das aus, was sein soll und stellt nicht noch zusätzlich klar, an welche Fälle eine bestimmte Rechtsfolge nicht geknüpft ist. § 37 Mitunter dient allerdings, wie Larenz121 nachgewiesen hat, das argumentum e contrario auch der Feststellung einer Lücke122. Dies ist dann der Fall, wenn zur Bestimmung der verschiedenen Rechtsfolgen nicht die bloße negative Umkehrung der verglichenen Norm genügt, sondern wenn zusätzlich ein positiver Rechtssatz gefunden werden muß. So läßt sich in dem von Larenz123 angeführten Beispiel aus § 306 BGB zwar schließen, daß bei anfänglichem Unvermögen der Vertrag nicht nichtig sein kann; welche Folgen nun aber positiv eintreten sollen – Ersatz des Vertrauens- oder des Erfüllungsinteresses usw. – ist daraus noch nicht ohne weiteres zu entnehmen. Der innere Grund für diese Schwierigkeit liegt dabei in der Unbestimmtheit des negativen Gleichheitssatzes: er ergibt zwar, daß die fraglichen Fälle verschieden zu entscheiden sind, sagt aber über das Wie dieser unterschiedlichen Behandlung oft nichts aus124. § 38 Scharf zu trennen von dem argumentum e contrario ist eine andere häufig damit vermischte Frage: die Problematik des sogenannten Analogieverbots125. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Nach § 6 Ziff. 3 BGB ist es möglich, einen Trunksüchtigen zu entmündigen, wenn er infolge seines Lasters „sich oder seine ML, S. 295 f. Als Mittel der Lückenausfüllung wird das argumentum e contrario bezeichnet von Becker, S. 436; Staudinger-Brändl, Anm. 66 vor § 1; MeierHayoz, Kommentar, Randziffer 257; Roth-Stielow, S. 84; unklar Keller, S. 74, nach dem das „argumentum e contrario“ sagt, „daß eine Lücke nicht durch Übernahme einer bestimmten Regelung des geformten Rechts auszufüllen ist“; in Wahrheit schließt es das Vorliegen einer Lücke aus. 123 a.a.O. 124 Auch hierin zeigt sich die Ähnlichkeit zwischen argumentum e contrario und teleologischer Reduktion, bei der ebenfalls teilweise eine bloße negative Ausnahmevorschrift genügt, teilweise aber zur Lückenfüllung auch ein positiver Rechtssatz erforderlich ist. Vgl. unten § 145 a. E., § 146. 125 In der Literatur werden beide Fälle regelmäßig nicht unterschieden. Vgl. z. B. Binder, S. 985; Baumgarten, Wissenschaft vom Recht, S. 301; Bartolomeyczik, S. 92; Bastian, S. 76; Dahm, S. 50; Nipperdey, § 58, Fußn. 29; Staudinger-Brändl, Anm. 71 vor § 1; Pisko, Handelsgesetze, S. 13 und Kommentar, S. 133; Friedrich, S. 462 ff.; anders aber Keller, S. 74 f. (wenigstens der Sache nach, wenn auch nicht in der Terminologie). 121 122
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Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt“. Wie aber, wenn diese Gefährdung nicht auf Trunksucht, sondern auf Rauschgiftsucht zurückzuführen ist? Die analoge Anwendung der Vorschrift bietet sich an, da in diesem Falle die Willenskraft des Süchtigen mindestens in gleichem Maße beeinträchtigt ist; auch ist die Rauschgiftsucht durch die Möglichkeiten der heutigen [47] Technik und der modernen Massengesellschaft zu einer ungleich größeren Gefahr geworden, als dies zur Zeit der Schaffung des BGB vorauszusehen war. Der Gesetzgeber würde daher heute ohne Zweifel eine Entmündigung auch wegen Rauschgiftsucht zulassen125a, und es liegt demnach eine – nachträgliche – Lücke vor. Dennoch wird die entsprechende Anwendung des § 6 Ziff. 3 überwiegend abgelehnt126, da § 6 durch die Verwendung des Enumerationsprinzips zeige, daß der Gesetzgeber eine Analogie habe ausschließen wollen127. Hier nun von einem argumentum e contrario zu sprechen, ist nach der oben gegebenen Charakterisierung unmöglich, obwohl sich aus der Tatsache, daß das Gesetz die Rauschgiftsucht nicht nennt, die Unzulässigkeit der Entmündigung ergibt. Denn es liegt gerade kein „Unähnlichkeits“-, sondern ein Ähnlichkeitsfall vor, und das Gerechtigkeitsgebot fordert die gleiche, nicht die verschiedene Behandlung beider Tatbestände; die Analogie wird hier vielmehr durch ein anderes – dem Gleichheitssatz korrigierend entgegenwirkendes – Element der Rechtsidee, das Gebot der Rechtssicherheit, ausgeschlossen. § 39 Auch hinsichtlich des Lückenproblems unterscheiden sich beide Fälle grundlegend: Schließt das argumentum e contrario regelmäßig die Annahme einer Lücke aus, so setzt ein Analogieverbot gerade umgekehrt eine solche voraus; denn ein Analogieschluß beruht notwendig auf dem Vorliegen einer Lücke, und ihn zu verbieten, wo schon seine Voraussetzungen nicht vorhanden sind, wäre sinnlos. Man könnte dagegen zwar einwenden, das Gesetz gebe durch das Analogieverbot doch eine Regelung des Falles, und von einer Lücke könne daher keine Rede sein. Eine solche Argumentation würde indessen die wirkliche Problematik verschleiern und wäre als zu formalistisch ebenso abzulehnen wie etwa die Ansicht, das Schweizer ZGB enthielte keine Lücken, da es ja in Art. 1 eine Vorschrift für ihre Ausfüllung biete; eine derartige Bestimmung ist aber nichts anderes als das positive Gegenstück eines Analogieverbotes. – Die eigentümliche Besonderheit der hier in Frage stehenden Fälle liegt vielmehr gerade darin, daß eine Lücke vorliegt, daß aber ihre Ausfüllung ausnahmsweise verboten ist. Das Analogieverbot ist demnach aus der Problematik des Lückenbegriffs und der Lückenfeststellung auszuscheiden und in das Gebiet der Grenzen der Lückenausfüllung zu verweisen128. [48] Er hat das inzwischen durch Gesetz v. 31.7.1974 getan. Vgl. Staudinger-Coing, § 6, Anm. 27 mit weiteren Nachweisen. 127 Inwieweit diese Begründung zutreffend ist, soll unten § 178 näher untersucht werden. 128 Dazu unten §§ 175 ff. 125a 126
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II. Die übrigen Fälle des Schweigens des Gesetzes § 40 Rechtsfreier Raum, argumentum e contrario und Lücke erschöpfen nun aber die Fälle des Schweigens des Gesetzes nicht. Insbesondere ist der Gegensatz zwischen argumentum e contrario und Analogie keineswegs ein ausschließlicher129; vielmehr schließt die Bejahung eines Umkehrschlusses eine Analogie zwar stets aus, doch führt seine Ablehnung andererseits keineswegs ohne weiteres zur Annahme der Analogie, sondern läßt die Frage ihrer Zulässigkeit lediglich offen. Daher gibt es eine Reihe von Beispielen, in denen weder das eine noch das andere berechtigt ist. Der Grund dafür besteht darin, daß ein argumentum e contrario nur dort zulässig ist, wo ein Rechtssatz ausschließenden Charakter besitzt, wo also eine bestimmte Rechtsfolge nur dann eintreten soll, wenn gerade diese tatbestandlichen Voraussetzungen gegeben sind130; anders gesprochen: die Voraussetzungen müssen notwendige und nicht nur hinreichende sein131. Da dies – von den nicht in diesen Zusammenhang gehörigen Fällen des Analogieverbotes abgesehen – sich nur selten mit genügender Sicherheit wird ermitteln lassen132, da aber andererseits der Analogieschluß noch die von der Frage der Ausschließlichkeit einer Norm gänzlich unabhängige Feststellung der Rechtsähnlichkeit erfordert, bleibt zwischen argumentum e contrario und Analogie ein verhältnismäßig breiter Raum offen. So ordnet Art. 103 I GG z. B. an, daß vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör habe. Wie aber steht es mit dem Gehör bei einem Verfahren vor den Verwaltungsbehörden? Mit Recht lehnt [49] die h. L.133 Umkehrschluß und Analogie zu Art. 103 I ab, da weder der ausschließliche Charakter
129 Dies sollte nach den grundlegenden Ausführungen von Klug, S. 134 ff. nicht mehr bestritten werden; ihm folgend Engisch, Einführung, S. 144, Anm. 168; Nipperdey, § 58, Fußn. 29 (mit gewissen Einschränkungen); ebenso schon Pisko, Kommentar, S. 133 und Handelsgesetze, S. 16; ihm folgend Keller, S. 75; anders: Rümelin, Werturteile, S. 16; von Tuhr, S. 43 f.; Brütt, S. 78; Schreier, S. 46; Robine, S. 191; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 248; mindestens mißverständlich: Manigk, S. 433; Nawiasky, S. 148; Bartholomeyczik, S. 79 ff.; Zimmermann, Analogie, S. 624 ff.; unrichtig neuerdings Heller, der behauptet, aus der Ablehnung des Analogieschlusses ergebe sich, „daß die Rechtsfolge der herangezogenen Norm auf den zu entscheidenden Fall keine Anwendung findet“ (S. 135); dabei verkennt er, daß es noch andere Mittel der Gesetzesergänzung als die Analogie gibt – z. B. allgemeine Rechtsprinzipien –, und daß diese zu derselben Rechtsfolge führen können wie die zunächst in Betracht gezogene, dann aber mangels Rechtsähnlichkeit nicht analog angewandte Norm (vgl. als Beispiel unten § 43 zu Fußn. 147). Auch schließt die Ablehnung einer Analogie keineswegs aus, daß mit Hilfe einer anderen Analogie dieselbe Rechtsfolge begründet werden kann. 130 Larenz, ML, S. 295; ebenso schon Regelsberger, Pandekten, S. 154 f. 131 Vgl. Klug, S. 133. 132 Wirklich überzeugende Beispiele eines argumentum e contrario lassen sich in der Tat nur schwer finden. 133 Vgl. Maunz-Dürig, Randziffer 92 zu Art. 103 GG mit weiteren Literaturnachweisen.
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der Vorschrift noch die Ähnlichkeit der beiden zu vergleichenden Tatbestände sich dartun läßt134. Wie ist dann aber das Schweigen des Gesetzes hier zu deuten? Diese im bisherigen Verlauf der Erörterungen nicht eingeordneten Fälle könnten nun möglicherweise erfaßt werden von einer – in ihrer Tragweite allerdings noch erheblich weitergehenden – Konstruktion Zitelmanns: dem „allgemeinen negativen Satz“. A. Der „allgemeine negative Satz“ § 41 Anknüpfend an eine Bemerkung von Brinz135 lehrt Zitelmann136, „im Hintergrund aller besonderen Rechtssätze, die eine Handlung mit Strafe oder Schadenersatzpflicht bedrohen oder ihr sonst eine rechtliche Folge geben“, stehe „immer als selbstverständlich und unausgesprochen der allgemeine negative Grundsatz, daß, von diesen besonderen Fällen abgesehen, alle Handlungen straffrei, ersatzfrei bleiben: jeder positive Satz, durch den eine Strafe, ein Schadenersatz angeordnet wird, ist in diesem Sinne eine Ausnahme von jenem allgemeinen negativen Grundsatz“137. § 42 Diese Lehre ist logisch und rechtlich unhaltbar138, 139. Sie ist logisch unhaltbar, weil sie unzulässigerweise negativ vom Grund auf die Folge schließt140 und dabei verkennt, daß die Rechtssätze regel- [50] mäßig keinen ausschließenden Charakter tragen141; wenn das Gesetz an den Tatbestand T1 die Rechtsfolge R knüpft, so ist damit keineswegs auch umgekehrt gesagt, daß aus dem Nichtvorliegen von T1 ohne weiteres der Nichteintritt von R gefolgert werden könne, daß also nicht auch der Tatbestand T2 dieselbe Rechtsfolge haben kann. – Die Lehre 134 Weitere Beispiele, in denen weder argumentum e contrario noch Analogie am Platze sind, vgl. unten § 66 (a. E.) und § 71 (a. E.). 135 Krit. Vierteljahresschrift, Bd. 15, S. 162. 136 S. 17 ff., insbesondere S. 19. 137 Daß damit das natürliche Verhältnis von Regel und Ausnahme verkehrt und der „normalen gesetzlichen Regel“ fälschlich ein Ausnahmecharakter zugesprochen wird, betonen mit Recht: Engisch, Rechtslücke, S. 96, Fußn. 42; Spiegel, S. 124, Fußn. 1; Larenz, ML, S. 285, Fußn. 2. 138 Gegen den allgemeinen negativen Satz haben sich ausgesprochen: Brütt, S. 77 ff.; Bierling, S. 388 ff.; Ehrlich, S. 215 f.; Heck, S. 204 f.; Riezler, S. 169, Fußn. 74; Redel, S. 27; Del Vecchio, Grundprinzipien, S. 31 ff., und Rechtsphilosophie, S. 392; Schreier, S. 48 f.; Hildebrandt, S. 77, Fußn. 2; Weigelin, S. 23 f.; Engisch, Rechtslücke, S. 95 ff.; Bastian, S. 61 f.; Larenz, ML, S. 285; Keller, S. 76; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 258; Teichmann, S. 79 f. 139 Der Lehre vom allgemeinen negativen Satz folgen: Windscheid-Kipp, S. 109, Fußn. 1 b; Herrfahrdt, S. 30 f. (mit gewissen Einschränkungen); Ross, S. 349 (der Sache, nicht der Terminologie nach); Rotondi, S. 420, Fußn. 31; Kelsen, Theorie der Interpretation, S. 14, und Reine Rechtslehre, S. 16 (allerdings ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Zitelmann). 140 Vgl. Brütt, S. 77; Schreier, S. 48 f.; Engisch, Rechtslücke, S. 96. 141 Vgl. Klug, S. 129 ff., und die Ausführungen zum argumentum e contrario oben § 40.
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ist auch rechtlich unhaltbar, weil dem Gesetz – von Ausnahmefällen wie dem strafrechtlichen Analogieverbot u. ä. abgesehen – ein allgemeiner Rechtssatz der Art, daß außer in den ausdrücklich erwähnten Fällen Schadenersatz usw. nicht gewährt werden soll, nicht zu entnehmen ist142. Sie verkennt, daß das Fehlen einer positiven Entscheidung nicht gleichbedeutend mit einer negativen Regelung ist, daß das Schweigen des Gesetzgebers also nicht notwendig bedeutet, daß er eine bestimmte Regelung nicht wollte, sondern auch darauf beruhen kann, daß er einen Fall übersehen hat, daß also gar keine Willensäußerung vorliegt143. Folgerichtig gelangt Zitelmann zu einer Verwischung der Grenze zwischen Rechtsfindung praeter und contra legem und verweist die von ihm so genannten „unechten Lücken“144 – also vor allem die Mehrzahl der Analogiefälle – zu Unrecht in den Bereich der Berichtigung statt in den der Ergänzung des Gesetzes145. Die Lehre vom allgemeinen negativen Satz ist daher nicht haltbar und kann heute als überholt bezeichnet werden. Ein genaueres Eingehen auf sie war dennoch erforderlich, zum einen, weil sie die Grundlage der auch heute noch häufig vertretenen Lückeneinteilung Zitelmanns146 bildet, zum anderen, weil hinter ihr möglicherweise doch ein richtiger Gedanke steht. Denn wie oben erwähnt, sind die zwischen Analogie und argumentum e contrario offen bleibenden Fälle gesetzlichen Schweigens in ihrer Beziehung zum Lückenbegriff in den bisherigen Erörterungen noch nicht befriedigend eingeordnet worden. B. Lücke und „argumentum e silentio (legis completae)“ § 43 Hier ist Zitelmann nun einzuräumen, daß ein Anspruch, eine Einwendung, ein Gestaltungsrecht usw., das in keiner Weise seine Grundlage im geltenden Recht findet, in der Tat nicht besteht. So wäre im obigen Beispiel ein subjektives öffentliches Recht auf Gehör [51] im Verwaltungsverfahren zu verneinen, wenn nicht ein anderes Mittel der Lückenfeststellung – ein allgemeiner Rechtsgrundsatz – eine positive Entscheidung forderte147.
142 Engisch bezeichnet den allgemeinen negativen Satz daher mit Recht als ein „Phantasieprodukt“ (Rechtslücke, S. 95); ähnlich: Ehrlich, S. 223; Hildebrandt, a.a.O.; Weigelin, a.a.O.; Larenz, a.a.O.; Meier-Hayoz, a.a.O. 143 Vgl. Brütt, S. 82; Schreier, S. 49; Meier-Hayoz, a.a.O. 144 Zu Zitelmanns Einteilung der Lücken vgl. unten §§ 122 f. 145 Vgl. Bierling, S. 385; Brütt, S. 82; Engisch, Rechtslücke, S. 95. 146 Vgl. dazu unten §§ 122 f. 147 Vgl. dazu Maunz-Dürig, a.a.O., mit weiteren Nachweisen, wo ein Anspruch auf Gehör aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird. – Dies ist ein gutes Beispiel für die Unrichtigkeit der oben (Fußn. 129 a. E.) kritisierten Auffassung Hellers über das Verhältnis von Analogie und Umkehrschluß.
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Dieser Schluß ist jedoch – und darin liegt der entscheidende Gegensatz zur Ansicht Zitelmanns – nicht schon vor, sondern erst nach der Anwendung aller Mittel der Lückenfeststellung148 zulässig. Dann allerdings ergibt sich aus dem Schweigen des Gesetzes, auch ohne daß ein argumentum e contrario möglich wäre, daß das geltendgemachte Recht usw. de lege lata nicht besteht, daß also sein Fehlen keine Lücke, sondern allenfalls ein rechtspolitischer Fehler ist. § 44 Dies bedeutet nichts anderes als die These, daß zur Feststellung einer Lücke nie der negative Schluß genügt, die gewünschte Regelung widerspreche dem geltenden Recht nicht, sondern stets die positive Begründung erforderlich ist, die Regelung werde von der Rechtsordnung gefordert. Wollte der Richter aus dem Fehlen einer klar entgegenstehenden Entscheidung des Gesetzgebers schon auf seine Befugnis zur Rechtsfortbildung schließen, so würde er seine Stellung als Diener des Gesetzes und die daraus folgende Notwendigkeit, jede Ergänzung des Rechts besonders zu rechtfertigen, verkennen. Schweigt das Gesetz, so bedarf es daher zur Annahme einer Lücke, auch wenn keiner der erwähnten Fälle eines „beredten“ oder „qualifizierten“ Schweigens vorliegt, doch noch eines besonderen Nachweises der Planwidrigkeit; mißlingt dieser, so liegt keine Lücke vor, und das geltendgemachte Recht usw. ist nicht gegeben. Eine derartige Begründung beruht dabei wohl nicht auf einem eigenständigen logischen Schlußverfahren wie etwa die Analogie oder der Umkehrschluß. Um den Gegensatz zum argumentum e contrario zu kennzeichnen, erscheint es aber dennoch vertretbar, einen eigenen Terminus einzuführen: während dort das Gesetz durch die Regelung eines Tatbestandes mittelbar auch eine – negative – Bestimmung über einen zweiten Fall trifft, das Schweigen des Gesetzes also „qualifiziert“ ist, fehlt hier jegliche, auch eine mittelbare Entscheidung; hier wird also nicht aus einer bestimmten Norm e contrario, sondern aus dem Fehlen jeglicher Rechtsgrundlage, – man kann daher sagen: e silentio geschlossen. Allerdings ist noch einmal nachdrücklich zu betonen, daß dieser Schluß nur nach Erschöpfung aller Lückenfeststellungsmittel, also nur auf Grund des als vollständig erkannten Gesetzes zulässig ist, so daß man genauer [52] von einem „argumentum e silentio149 legis completae“ sprechen muß. – Dieses dürfte praktisch wesentlich häufiger sein als das echte argumentum e contrario150. So stützt sich die große Mehrzahl der klagabweisenden Urteile – wenn auch regelmäßig unausgesprochen und unbewußt – im Grunde auf diesen Schluß. Wenn etwa das Gericht einen Schadensersatzanspruch versagt, weil weder die §§ 823 ff. BGB noch eine andere Anspruchsgrundlage eingriffen, so genügt Diese sollen im folgenden Kapitel im einzelnen dargestellt werden. Abweichend allerdings der Sprachgebrauch des Schrifttums: soweit der Ausdruck „argumentum e silentio“ überhaupt Verwendung findet, wird er gleichbedeutend mit „argumentem e contrario“ gebraucht, vgl. Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 70, und Kommentar, Randziffer 255; Klug, S. 129. 150 Vgl. oben § 40, insbesondere Fußn. 132. 148 149
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das allein an sich keineswegs zur Abweisung der Klage; denn aus dem Nichtvorliegen des Tatbestandes kann eben nicht negativ auf den Nichteintritt der Rechtsfolge geschlossen werden151. Vielmehr ist stillschweigend stets der Satz hinzugedacht, daß ein Anspruch, der auch nach der Anwendung aller Mittel der Lückenfeststellung keine Grundlage findet, nach geltendem Recht nicht besteht. – Letztlich folgt das „argumentum e silentio“ aus der Struktur der Rechtsordnung als einer Summe von Geltungsanordnungen: wo eine solche sich nicht ermitteln läßt, ist ein Recht eben nicht gegeben. [53] Anhang Lücke und ergänzende Vertragsauslegung (i. w. S.) § 45 Zum Abschluß sei noch kurz auf ein Problem eingegangen, das in der Rechtsprechung nicht selten verkannt wird: die Abgrenzung zwischen Ausfüllung von Gesetzeslücken und ergänzender Vertragsauslegung i. w. S.; häufig wird diese von den Gerichten als Ermächtigung zur Rechtsfortbildung mißbraucht152. Bekannte Beispiele sind etwa die „Schadensliquidation im Drittinteresse“153 die Bestimmung des Obligationsstatuts im IPR154 oder der „Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte“155. Allerdings ist zuzugeben, daß beide Gebiete eng miteinander verwandt sind156. Denn bei der ergänzenden Auslegung kommt es nicht allein auf den (hypothetischen) Willen der Parteien an, sondern auch auf den „erkennbaren objektiven Zweck, den Sinnzusammenhang, den Grundgedanken des Vertrags, gegebenenfalls unter Beachtung der Verkehrssitte und bei Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten“157. Gewiß ist dabei in erster Linie auf den bestimmten, gerade zur Entscheidung stehenden Fall abzustellen, doch wird dieser häufig in bezug auf das fragliche Problem keine Besonderheiten aufweisen, und dann bleibt nichts anderes übrig, als die Lösung aus der typischen Interessenlage zu finden, die Entscheidung also nicht für „diesen“, sondern für „einen solchen“ VerVgl. oben § 40. Kritisch dagegen schon Reichel, S. 107; ferner Siebert bei Soergel-Siebert, § 157 Anm. 92 und 93; Hefermehl bei Ermann, § 157 Anm. 7 b; Henckel, S. 122 f.; Mangold, NJW 61, 2284, Sp. 2; für das französische Recht Boulanger Etudes, S. 64 und 66. 153 Vgl. RGZ 170, 246; BGHZ 15, 224; kritisch dazu Siebert, a.a.O.; Larenz, SR I, § 14 IV 2. 154 Vgl. BGHZ 7, 231; 9, 221. 155 Vgl. z. B. BGH LM Nr. 6 zu § 328; ebenso Larenz, SR I, § 11 III; gegen die Konstruktion mit Hilfe der ergänzenden Vertragsauslegung jedoch überzeugend Gernhuber, S. 265 ff.; ihm folgend Blomeyer, Schuldrecht, § 62 IV 3. 156 Vgl. Oftinger, S. 198 ff.; Coing, Auslegungsmethoden, S. 21; Larenz, SR I, § 8 II. 157 Siebert, a.a.O., Anm. 95. 151 152
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trag zu geben158. Nimmt man schließlich hinzu, daß auch eine derartige Entscheidung ihre innere Rechtfertigung nur durch ihren Sinnbezug auf die Rechtsidee erhält, so liegt auf der Hand, daß [54] der Richter hier159 nicht anders vorgeht als der Gesetzgeber bei der Aufstellung dispositiver, ergänzender Normen. § 46 Dennoch kann nicht in allen derartigen Fällen von einer Lücke des Gesetzes gesprochen werden. Denn es ist keineswegs Wille der Rechtsordnung, für jeden Fall, der ein gewisses Maß an Typizität besitzt, eine ergänzende Vorschrift aufzustellen. Das veranschaulicht etwa das Beispiel des Rückkehrverbots beim Tausch einer Arztpraxis, das der BGH bekanntlich im Wege der ergänzenden Auslegung entwickelt hat160. Diese kann sich dabei in aller Regel nicht auf irgendwelche Besonderheiten des konkreten Vertrags oder des geregelten Einzelfalls stützen, sondern hat grundsätzlich für „den“ typischen Praxistausch zu gelten. Gleichwohl liegt keine Lücke des Gesetzes vor, da man von diesem nicht die Regelung eines so speziellen Problems wie des Rückkehrverbots bei der Veräußerung einer Praxis (oder eines Unternehmens usw.) erwarten kann und das Schweigen des Gesetzes daher nicht als „planwidrig“ zu bezeichnen ist. Es hat folglich seinen guten Sinn, in solchen Fällen mit einer ergänzenden Auslegung des Vertrages zu arbeiten. Man darf darüber jedoch nicht die enge funktionelle Verwandtschaft mit der Entwicklung ungeschriebener Normen des dispositiven Rechts vergessen. Diese dürfte z. B. dazu führen, daß hier § 6 II AGBG analog anzuwenden ist und unwirksame AGB-Klauseln demgemäß u. U. durch diejenige Regelung ersetzt werden, die nach den Grundsätzen der ergänzenden Auslegung für „einen solchen“ Vertrag gilt161 [55]
Flume, S. 197. Also nicht generell bei der ergänzenden Auslegung, sondern nur dort, wo diese sich mangels besonderer Umstände des Einzelfalles an der typischen Interessenlage orientiert. Diese Differenzierung verkennt Mayer-Maly in MünchKomm., 1978, § 157 Rdn. 30 und 41 mit Fn. 59 und 82. 160 Vgl. BGHZ 16, 71. 161 Vgl. auch Ulmer/Brandner/Hensen, Komm. zum AGBG, 4. Aufl. 1982, § 6 Rdn. 35. 158 159
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Zweites Kapitel Maßstäbe und Mittel der Lückenfeststellung Eine Lücke liegt vor – so lautete das Ergebnis des letzten Kapitels –, wenn im positiven Recht eine Regelung fehlt, obwohl die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit eine solche fordert. Diese Definition ist nun aber noch zu weit und zu unbestimmt, um im Einzelfall als brauchbares Kriterium für die Lückenfeststellung zu dienen. Aufgabe dieses Kapitels soll es daher sein zu untersuchen, welcher Bestandteil der Rechtsordnung dabei jeweils bedeutsam wird, und auf diese Weise praktikable Maßstäbe zur Feststellung einer Lücke herauszuarbeiten. § 47 Jede Rechtsordnung besteht in erster Linie aus Normen, d. h. aus den positiv-rechtlichen Anordnungen des Gesetzgebers. Nicht selten sind diese nun in sich so unvollständig, daß sie sich ohne eine Ergänzung nicht anwenden lassen, daß also zwar ein bestimmter Fall ausdrücklich für rechtserheblich erklärt ist, daß das Gesetz aber keine oder nur eine unzureichende Rechtsfolge enthält. Allgemeiner gesprochen: häufig nimmt das positive Recht einen Lebenssachverhalt aus dem rechtsfreien Raum heraus und schafft damit eine Rechtsfrage, ohne doch zugleich die erforderliche Antwort zu geben. Sieht sich der Richter vor einen solchen Fall gestellt, so hat er nur zwei Möglichkeiten: entweder er gibt die Antwort selbst, – dann muß er das unvollständige Gesetz ergänzen; oder aber er lehnt die Antwort ab, – dann begeht er Rechtsverweigerung. Diesen zweiten Weg zu wählen, ist ihm jedoch nach geltendem Recht durch das „Rechtsverweigerungsverbot“ verwehrt1. Dieses erzwingt in derartigen Fällen daher die Fortbildung des Gesetzes2. Das Rechtsverweigerungsverbot ist dabei [56] im Grunde nichts anderes als die prozessuale Kehrseite 1 Das deutsche Recht enthält zwar anders als das französische (vgl. Art. 4 c. c.) keine ausdrückliche Regelung des Rechtsverweigerungsverbotes, doch ist seine Geltung unbestritten. Vgl. z. B. Hellwig, S. 164; Nikisch, § 2 V; Schönke-Schröder-Niese, § 1 VI 1 a. E.; Rosenberg, § 90 IV 1 a; Lent-Jauernig, § 36 II 1; Blomeyer, § 9 III 2 b. 2 Auf diesen Zusammenhang hat vor allem Radbruch hingewiesen (Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, S. 355 ff., insbesondere S. 357 ff.; ebenso Rechtsphilosophie, S. 211. Vgl. auch schon Regelsberger, S. 156; Dernburg, I, S. 83; Jung, Dernburg-Festschrift, S. 145; Kohler, I, S. 82 ff.). Er ging jedoch irrtümlich davon aus, daß das Rechtsverweigerungsverbot für alle Lückenfälle bedeutsam sei (dazu kritisch unten § 48). Soweit die Frage im Schrifttum überhaupt erörtert wird, scheint es Radbruch darin ausnahmslos zu folgen und verzichtet daher insoweit auf jede Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen Lückenarten. Vgl. C. Schmitt, S. 8 f.; Hellwig, Lb II, S. 164; Somlo, S. 395 ff.; Oertmann, S. 26 f.; Del Vecchio, Rechtsphilosophie, S. 391; Saleilles, S. 93; Beudant, S. 178; Nawiasky, S. 143; Less, S. 70; Bender, Methode der Rechtsfindung, S. 599; Westermann, S. 31; Coing, Auslegungsmethoden, S. 24; Reinhardt, S. 8. Richtige Ansätze finden sich dagegen bei Siorat, S. 169 ff., der dem Rechtsverweigerungsverbot vor allem im Rahmen der „insuffisances sociales“ (zur Begriffsbildung Siorats vgl. oben Kap. I, Fußn. 76) Bedeutung beimißt (vgl. vor allem S. 187 ff.). Jeden Zusammenhang zwischen Lückenproblem und Rechtsverweigerungsverbot leugnet mit unzutreffender Begründung Redel, S. 41. (Dazu unten Fußn. 6.)
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des Geltungsanspruchs der Normen: trifft das Gesetz eine Anordnung, so will es auch deren Verwirklichung; schafft es einen rechtserheblichen Tatbestand, so befiehlt es damit auch den Eintritt einer Rechtsfolge, selbst wenn es eine solche nicht ausdrücklich enthält. Bei dieser Gruppe von Fällen, die selbst von den Vertretern des engsten Lückenbegriffs3 dem Lückenbereich zugerechnet werden, ist es also der Geltungsanspruch der Normen des positiven Rechts in Verbindung mit dem Rechtsverweigerungsverbot, der die Ergänzung des Gesetzes fordert und somit als Maßstab der Lückenfeststellung dient. § 48 Eine Rechtsordnung erschöpft sich indessen nicht in ihren Normen. Wie bereits oben4 erwähnt, sind vielmehr auch die dahinter stehenden Wertungen des Gesetzes ein wesentlicher Bestandteil des geltenden Rechts und von entscheidender Bedeutung für seine Auslegung und Fortbildung. Auch sie spielen daher für die Lückenfeststellung eine erhebliche Rolle, – und zwar vor allem in Verbindung mit dem Gleichheitssatz. Wenn das BGB in § 463 S. 2 bei arglistigem Verschweigen eines Sachmangels einen Anspruch auf das positive Interesse gewährt, eine entsprechende Regelung für die arglistige Vorspiegelung einer günstigen Eigenschaft jedoch vermissen läßt, so ist dies gewiß eine planwidrige Unvollständigkeit. Eine Lücke besteht hier jedoch nicht deshalb, weil das Gesetz sich ohne eine Ergänzung überhaupt nicht anwenden ließe und der Richter ohne sie Rechtsverweigerung begehen müßte; würde er eine entsprechende Klage abweisen, weil es an einer gesetzlichen Anspruchsgrundlage fehle, so wäre diese negative Entscheidung vielmehr durchaus eine rechtliche Antwort5, [57] wenn auch eine falsche. Von Rechtsverweigerung könnte keine Rede sein; denn diese liegt nicht schon vor, wenn der Richter eine Norm fälschlich für unanwendbar hält, sondern nur, wenn er überhaupt eine Entscheidung (oder aber die Anwendung einer als einschlägig erkannten Vorschrift) ablehnt6. Ein solches Urteil würde jedoch gegen das Gebot der Gerechtigkeit verstoßen, daß gleichartige Tatbestände gleich zu behandeln sind; denn die Vorspiegelung einer positiven Eigenschaft steht in dem für den Eintritt der Rechtsfolge des § 463 S. 2 maßgeblichen Punkt – nämlich der arglistigen Ausnutzung eines IrrVgl. oben Kap. I, Fußn. 78. § 7. 5 Dies hat offenbar schon Zitelmann bei seiner – im übrigen weder sachlich noch terminologisch zutreffenden – Unterscheidung von „echten“ und „unechten“ Lücken (vgl. unten §§ 122 f.) im Auge, wenn er für die „unechten“ Lücken lehrt: „Eine Lücke in dem Sinne, daß der Richter nach dem Gesetz eine Entscheidung nicht geben könne, ist nicht vorhanden: er kann ja erkennen, daß der Täter zum Schadensersatz nicht verpflichtet sei und bleibt damit bei dem Gesetz, das eine Schadensersatzpflicht eben nicht angeordnet hat“ (S. 17). Das obige Beispiel des § 463 BGB wäre von Zitelmann zweifellos den „unechten“ Lücken zugerechnet worden, wie die von ihm angeführten Fälle erkennen lassen. – Ähnlich bemerkt Engisch (Rechtslücke, S. 95), „daß der Richter in vielen Lückenfällen leicht in der Lage wäre, eine formal haltbare Entscheidung zu geben ...“. 6 Dies verkennt Redel (S. 41) bei seiner Kritik (vgl. oben Fußn. 2 a. E.). 3 4
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tums des Käufers über die Beschaffenheit der Sache – der Unterdrückung eines Sachmangels gleich7. Nicht die Anordnung des Gesetzes in Verbindung mit dem Rechtsverweigerungsverbot, sondern seine Wertung in Verbindung mit dem Gleichheitssatz dient hier zur Feststellung der Lücke. § 49 Mit der Heranziehung des Gleichheitssatzes ist bereits der Boden einer lediglich positiv-rechtlichen Argumentation verlassen und auf einen überpositiven Maßstab abgestellt; denn seine Geltung ergibt sich nicht aus einer gesetzlichen Vorschrift, sondern sie folgt aus der Rechtsidee8. Damit ist die Überleitung zu einer dritten Gruppe gegeben: wie oben dargelegt9, soll hier der Versuch unternommen werden, die Rechtsfortbildung praeter legem auf Grund allgemeiner Rechtsprinzipien, Werte usw. mit Hilfe des Lückenbegriffs zu erfassen. Diese Fälle heben sich von den soeben erwähnten Beispielen der Lückenfeststellung an Hand des Gleichheitssatzes – der ja ebenfalls den allgemeinen Rechtsprinzipien zuzurechnen ist – klar ab; denn dieser wird dabei wegen seines formalen Charakters nur in enger Verbindung mit der dem positiven Recht immanenten Teleologie verwandt, und die Lückenfeststellung ist in diesen Fällen daher durch ihre strenge Bindung an die Einzelwertungen des Gesetzes gekennzeichnet. Gerade darüber aber soll in den hier zu untersuchenden Beispielen hinausgegangen werden, und das wirft sowohl hinsichtlich der Feststellung [58] wie hinsichtlich der Ausfüllung der Lücken eine Reihe charakteristischer Probleme auf, die die Zusammenfassung der Fälle zu einer besonderen Gruppe rechtfertigen. Im folgenden sollen nun die umrissenen Möglichkeiten der Lückenfeststellung an Hand von Beispielen veranschaulicht und dabei zugleich näher bestimmt werden. [59] Erster Abschnitt Die Anordnungen des positiven Rechts in Verbindung mit dem Rechtsverweigerungsverbot A. (Offene) Normlücken § 50 Nach Art. 104 II 1 GG hat über die Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung der Richter zu entscheiden. Nähere Bestimmungen über Zuständigkeit und Verfahren enthält das GG indessen nicht. Nun sieht eine Reihe von Vgl. oben § 8, das dort (Fußn. 12) zitierte Schrifttum und vor allem Larenz, ML, S. 283. Vgl. z. B. Rümelin, Die Gerechtigkeit, S. 14 ff.; Del Vecchio, Die Gerechtigkeit, S. 87 ff.; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 124 ff.; Coing, Die obersten Grundsätze, S. 30 ff., und Rechtsphilosophie, S. 111 ff.; Henkel, S. 308 ff. 9 Vgl. §§ 24 ff. 7 8
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älteren Landesgesetzen, auf Grund deren eine Freiheitsentziehung zulässig ist, keinerlei Vorschriften über eine richterliche Kontrolle vor. Anzunehmen, sie seien daher durch den Erlaß des Grundgesetzes außer Kraft getreten, kann nicht der Wille des Gesetzgebers sein; denn regelmäßig ist ihre Anwendung im Interesse der Allgemeinheit wie des Betroffenen selbst – etwa bei der Einweisung eines gemeingefährlichen Geisteskranken in eine Anstalt – unerläßlich10. Wollten die Gerichte andererseits die Nachprüfung der Freiheitsentziehung ablehnen, so würden sie der einschlägigen11 Norm des Art. 104 II 1 den Gehorsam versagen und sich so der Rechtsverweigerung schuldig machen. Also bleibt nichts anderes übrig, als Art. 104 zu ergänzen und die erforderlichen Vorschriften über Zuständigkeit und Verfahren im Wege der Rechtsfindung praeter legem aufzustellen12. Dieselbe Problematik ergibt sich z. B., wenn das Gesetz einen Zinsanspruch gewährt, aber die Höhe der Zinsen offen läßt13, eine Frist setzt, aber ihre Länge nicht bestimmt, eine Wahl anordnet, aber das Verfahren nicht regelt13, einen Anspruch gibt, aber den Passiv-Legiti- [60] mierten nicht nennt14: stets ist die Anwendung der Vorschrift ohne ihre Ergänzung unmöglich, stets fordert also der Geltungsanspruch der Norm die Fortbildung des Gesetzes, stets sieht der Richter sich vor die Wahl zwischen Rechtsverweigerung und Lückenausfüllung gestellt. B. (Offene) Regelungslücken § 51 Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, daß ein Teil eines Rechtssatzes – und zwar der Rechtsfolgeseite – fehlt; es handelt sich also durchweg um (offene) „Normlücken“. Das ist jedoch entgegen dem ersten Anschein in diesem Zusammenhang nicht das entscheidende Charakteristikum; vielmehr gibt es eine Reihe
BGHZ 5, 46 ff. (50). Darüber, daß Art. 104 II 1 auch vor Erlaß der in Satz 4 vorgesehenen näheren gesetzlichen Regelung unmittelbar geltendes Recht ist, sind sich Rechtsprechung und Lehre im Wesentlichen einig (vgl. VGH Freiburg, DVBl. 51, 602; Bachof, JZ 51, 737; Wolff, DöV 51, 313, mit weiteren Nachweisen). – Das Problem ist durch den Erlaß des Freiheitsentziehungsgesetzes im Jahre 1956 keineswegs überholt, da dieses nur für Freiheitsentziehung auf Grund von Bundesrecht gilt. Vgl. Maunz-Dürig, Art. 104, Randziffer 24. 12 Zur Ausfüllung der Lücke vgl. Maunz-Dürig, Art. 104, Randziffer 30. 13 Beispiele von Zitelmann, S. 28 f. 14 Vgl. das Beispiel von Larenz, ML, S. 280: In § 904, Satz 2, ordnet das BGB zwar an, daß der durch einen Eingriff nach Satz 1 geschädigte Eigentümer Ersatz verlangen kann, läßt jedoch offen, wer der Anspruchsgegner ist: derjenige, der den Eingriff vorgenommen hat, oder derjenige, der durch ihn begünstigt ist, oder gar beide. (Zur Lösung der Frage vgl. z. B. Larenz, SR II, § 72, 1, einerseits und Westermann, § 28 III, 1 a. E., andererseits.) 10 11
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gleichliegender Fälle, in denen ein gesamter Rechtssatz zu vermissen ist („Regelungslücken“15). Ein anschauliches Beispiel dieser Art bietet eine Entscheidung des großen Strafsenats des BGH zu Art. 103 GG16. Nach dieser Bestimmung hat jeder, der durch eine gerichtliche Entscheidung in seinen Rechten betroffen wird, einen Anspruch auf rechtliches Gehör. Nach verschiedenen Vorschriften – so nach § 40 StGB oder § 28 WeinG – können nun bestimmte Gegenstände – die „producta et instrumenta sceleris“ – auch dann vom Gericht eingezogen werden, wenn sie im Eigentum eines Tatunbeteiligten stehen. Das Gesetz sieht jedoch keine Möglichkeit vor, diese Eigentümer am Verfahren zu beteiligen, obwohl sie als dinglich Berechtigte durch die Einziehung im Sinne des Art. 103 GG in ihren Rechten betroffen sind. Wollten die Gerichte ihnen indessen die Möglichkeit einer Stellungnahme versagen, so würden sie der unmittelbar geltenden Norm des Art. 103 GG den Gehorsam versagen und den von der Einziehung Betroffenen ihr Recht auf Gehör verweigern. Geltungsanspruch des Art. 103 GG und Rechtsverweigerungsverbot fordern daher gleichermaßen, hier die einschlägigen Verfahrensordnungen zu ergänzen und Rechtssätze aufzustellen, die auch Tatunbeteiligten die Wahrung ihrer Rechte ermöglichen17. [61] § 52 Ein anderes, oft erwähntes und bereits von Zitelmann18 angeführtes Beispiel, das in diesen Zusammenhang gehört, ist das Fehlen des Obligationsstatuts im deutschen internationalen Privatrecht. Ein Engländer und ein Franzose schließen in Rom einen Kaufvertrag und geraten über seine Wirksamkeit in Streit. Aus irgendeinem Grunde kommt der Prozeß vor ein deutsches Gericht. Nach welcher Rechtsordnung soll dieses entscheiden? Das EGBGB enthält keine einschlägige Bestimmung. Anzunehmen, die Anwendbarkeit des deutschen Rechts sei vom Gesetz als selbstverständlich vorausgesetzt, entbehrt bei einem zwischen Ausländern im Ausland geschlossenen Vertrag jeder inneren Berechtigung. Irgendeine Rechtsordnung aber muß das Gericht anwenden, will es den Streit entscheiden, – und dazu ist es, da es auf Grund der deutschen Prozeßgesetze zuständig ist, verpflichtet. Also bleibt nichts anderes übrig, als die Kollisionsnormen der EGBGB
15 Zu den Begriffen Norm- und Regelungslücke vgl. Larenz, ML, S. 280 f., sowie unten §§ 129 f. 16 JZ 64, 31 ff. 17 Die Ausfüllung der Lücke braucht keineswegs unbedingt durch die Beteiligung der Betroffenen an dem konkreten Verfahren zu erfolgen; Art. 103 GG ist vielmehr auch durch die Möglichkeit Genüge getan, die getroffene Entscheidung nachträglich vor demselben oder einem anderen Gericht nachprüfen zu lassen (vgl. BGH, a.a.O., S. 33, Sp. 2). Für § 28 WeinG hat der BGH jedoch a.a.O. eine unmittelbare Beteiligung am Einziehungsverfahren angenommen und dies mit einer Analogie zu § 24 OWiG begründet. 18 S. 29.
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zu ergänzen, – und wieder ist es letztlich das Rechtsverweigerungsverbot, das diese Lückenfüllung erforderlich macht19. § 53 In denselben Zusammenhang gehört weiter die Unvollständigkeit der Bestimmungen der ZPO über die Prozeßkosten: sind auf einer Seite mehrere Personen beteiligt, so trifft das Gesetz eine Bestimmung über die Kosten nur für den Fall, daß diese einheitlich obsiegen oder unterliegen (§§ 91, 100). Wie aber ist zu entscheiden, wenn die Klage z. B. gegen einige Streitgenossen – etwa auf Grund persönlicher Einwendungen – abgewiesen wird, gegen die übrigen aber Erfolg hat? Oder wenn gar auf beiden Seiten mehrere Parteien stehen und jeweils nur einige Kläger gegen einige Beklagte durchdringen? Die ZPO enthält keine einschlägige Vorschrift. Dennoch kann nach dem Gesamtzusammenhang des Gesetzes nicht zweifelhaft sein, daß auch hier eine Kostenentscheidung ergehen muß. Wieder steht dabei der Richter vor der Wahl zwischen Rechtsverweigerung und Ergänzung des Gesetzes. C. Fragen innerhalb eines rechtlichen Verfahrens § 54 Dieses Beispiel leitet über zu einer dritten Gruppe von Fällen. Sie sind dadurch charakterisiert, daß hier das positive Recht einen gesamten Lebensbereich aus dem rechtsfreien Raum herausgenommen und für rechtserheblich erklärt hat. Taucht innerhalb dieses Bereichs eine Frage auf, so handelt es sich stets und ohne weiteres auch um [62] eine Rechtsfrage; fehlt eine rechtliche Antwort, so liegt notwendig eine Lücke vor. Hierher gehören zunächst alle Prozeßrechtsverhältnisse: Was immer Parteien oder Gericht innerhalb eines Prozesses tun, es ist rechtserheblich, eben weil es im Prozeß geschieht. Ähnlich gibt es im öffentlichen Recht – jedenfalls im Bereich der Eingriffsverwaltung – auf Grund der ausdrücklichen Anordnung des Art. 19 IV GG keinen rechtsfreien Raum mehr20: jeder Akt der Staatsgewalt gegenüber dem einzelnen entfaltet Rechtswirkungen, die Annahme eines „gerichtsfreien Hoheitsaktes“ ist mit dem geltenden Recht unvereinbar21. Einige Beispiele mögen das Gesagte erläutern: Wie ist etwa zu entscheiden, wenn ein Nebenintervenient erklärt, er nehme die Nebenintervention zurück? Oder wenn der Kläger unter Widerspruch des Gegners beantragt, den Rechtsstreit für in der Hauptsache erledigt zu erklären (und dies Begehren sachlich gerechtfertigt ist)? Das Gesetz schweigt. Da es sich um einen Akt innerhalb eines 19 Zur Ausfüllung der Lücke vgl. Kegel bei Soergel-Siebert, Randziffern 167 ff. vor Art. 7 EGBGB mit Nachweisen. 20 Dies ist ein gutes Beispiel dafür, daß es dem Belieben des positiven Rechts unterliegt, die Grenzen des rechtsfreien Raumes zu verschieben. Vgl. oben § 34 zu Fußn. 112. 21 Vgl. Maunz-Dürig, Art. 19 IV, Randziffern 23 ff., mit Nachweisen.
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Verfahrens handelt, kann dies Schweigen nicht bedeuten, daß die Frage in den rechtsfreien Raum fällt; da es einen „allgemeinen negativen Satz“ nicht gibt, kann auch nicht angenommen werden, daß die betreffenden Handlungen ohne weiteres unzulässig sind22. Es liegt vielmehr eine Lücke vor, da unzweifelhaft eine Rechtsfrage gegeben ist, und der Richter daher eine Antwort nicht ablehnen darf. – Ebenso ist etwa das Fehlen jeder Regelung der prozeßrechtlichen Verträge zu beurteilen. Was ist z. B. die Folge eines vor Urteilserlaß erfolgten Rechtsmittelverzichts23? Ist er unwirksam? Wenn nein, ist dann das Rechtsmittel von Amts wegen oder nur auf Einrede zu verwerfen24? Oder wie sind vertragliche Vollstreckungsbeschränkungen zu behandeln25? [63] In allen diesen Fällen muß der Richter notwendig eine Antwort geben, weil es sich um eine Frage handelt, die zweifelsfrei nicht in den rechtsfreien Raum fällt; dabei muß er stets eine positive Entscheidung treffen – anders, als wenn er etwa nur einen Anspruch verneint, der keine Grundlage im Gesetz findet –, weil nach dem System der ZPO jeweils mehrere Rechtsfolgen in Betracht kommen und er daher zwischen ihnen wählen muß. Wollte er sich dieser Wahl – und damit der Ergänzung des Gesetzes – entziehen, so würde er sich der Rechtsverweigerung schuldig machen. D. Fehlen einer Sanktion im Falle einer „lex perfecta“ § 55 Verwandt mit diesen Beispielen ist eine weitere Gruppe von – allerdings weniger häufigen – Fällen, die dadurch gekennzeichnet ist, daß das positive Recht zwar eine Anordnung trifft, eine Sanktion für einen Verstoß gegen sie aber vermissen läßt. Die Regeln über die lex imperfecta und perfecta – die noch dem Gebiet der Auslegung zuzurechnen sind, – helfen dabei nämlich nicht immer weiter; vor allem klären sie nur, ob der Verstoß überhaupt eine rechtliche Folge hat, versagen dagegen, wenn das Gesetz grundsätzlich mehrere Arten der Sanktion kennt (z. B. Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit) und es zu entscheiden gilt, welche 22 Sie werden vielmehr unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen, vgl. für die Rücknahme der Nebenintervention z. B. Rosenberg, § 46 III 4 a (Analogie zu § 271 ZPO); für die Erledigungserklärung z. B. Rosenberg, § 79 III 4 und § 126 I 2 c; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, V zu § 91 a; Baumbach-Lauterbach, § 91 a, 2 (das Gericht hat festzustellen, daß die Hauptsache erledigt ist und über die Kosten analog § 91 a ZPO durch Beschluß zu entscheiden). 23 § 514 ZPO regelt nur den Rechtsmittelverzicht nach Urteilserlaß. 24 Nur auf Einrede! Rosenberg, § 134 II 3 b; Stein-Jonas-Schönke-Pohle I zu § 514; BaumbachLauterbach, § 514, 1. 25 Theoretisch sind mehrere Lösungen denkbar: sie sind unzulässig und unwirksam; sie führen zur analogen Anwendung von § 766 oder § 767 ZPO; sie geben dem Beklagten nur einen vertraglichen Unterlassungs- bzw. Schadensersatzanspruch. Zur Lösung vgl. Stein-Jonas-SchönkePohle, Vorbem. VI 6 vor § 704 und § 766 II 1 bei Fußn. 42 mit Nachweisen.
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dieser Rechtsfolgen im Einzelfall eingreift. Auch hier liegt eine Lücke vor, weil der Richter sich für eine der Möglichkeiten entscheiden und das Gesetz daher ergänzen muß, will er nicht der Ge- oder Verbotsnorm den Gehorsam versagen. Frage der Auslegung mag dabei sein, ob das Gesetz überhaupt die Sanktion eines Verstoßes fordert; Lückenfüllung dagegen bedeutet es, diese fehlende Sanktion in ihrer konkreten Gestalt festzulegen. § 56 Ein Beispiel dieser Art bietet § 50 GmbHG. Danach ist eine Gesellschafterversammlung nur dann einzuberufen, wenn die Geschäftsanteile der Antragsteller zusammen mindestens den 10. Teil des Stammkapitals ausmachen. Welche Rechtsfolge aber soll eintreten, wenn eine Versammlung einberufen wird, obwohl die Antragsteller nicht über das vorgeschriebene Mindestkapital verfügen? Anzunehmen, die gefaßten Beschlüsse seien dennoch voll wirksam, – sofern nur die übrigen Gesellschafter ordnungsgemäß geladen waren, – verstieße gegen den Sinn des § 50: er will nicht nur den Minderheitsschutz gewährleisten, sondern auch umgekehrt durch das Erfordernis des Mindestkapitals die Mehrheit davor bewahren, daß sie durch einzelne Querulanten ständig zur Abhaltung von Gesellschafterversammlungen gezwungen werden kann. Wären die Beschlüsse nun voll wirksam, so müßten die Mehrheitsgesellschafter entgegen dem Zweck des § 50 an der Versammlung teilnehmen, um ihre Rechte zu wahren. § 50 fordert also eine Sanktion. [64] Ohne weiteres Nichtigkeit des gefaßten Beschlusses anzunehmen (nach § 134 BGB), geht jedoch nicht an; denn das Gesellschaftsrecht kennt grundsätzlich zwei Grade der Fehlerhaftigkeit von Gesellschaftsbeschlüssen: Nichtigkeit und Anfechtbarkeit, und auch die bloße Anfechtbarkeit erscheint ausreichend zur Wahrung der Rechte der Mehrheit, da es denkbar ist, daß sie mit den gefaßten Beschlüssen einverstanden ist und sie gelten lassen will. Das GmbHG enthält nun aber keine einschlägige Vorschrift zur Lösung der Frage. Dennoch muß der Richter auch hier eine Antwort geben, will er nicht die Entscheidung schuldig bleiben26. § 57 Ein zweites besonders interessantes Beispiel mag in diesem Zusammenhang noch kurz erörtert werden: Nach § 5 IV GmbHG bedarf die Vereinbarung einer Sacheinlage der genauen satzungsmäßigen Festlegung hinsichtlich der Person des Gesellschafters, der Art und dem Wert der Einlage usw. Eine Regelung der Folgen eines Verstoßes gegen diese Vorschrift enthält das Gesetz jedoch nicht. Gleichwohl ist eine solche zwingend erforderlich, soll der Zweck der Norm, den Gesellschaftsgläubigern unter allen Umständen Klarheit über das Stammkapital und damit über die Kreditgrundlage der GmbH. zu verschaffen, nicht stark beeinträchtigt werden. Hier zeigt sich nun, daß die gewöhnlichen 26 Die Lücke ist in Analogie zu § 195 Ziff. 1 AktG zu schließen: Beschlüsse sind nichtig, doch muß diese Nichtigkeit binnen angemessener Frist geltend gemacht werden, wenn die Eintragung ins Handelsregister erfolgt ist. Vgl. BGHZ 11, 236; Baumbach-Hueck, § 50 GmbHG, Anm. 3 A a. E., und unten § 139.
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Regeln über die lex perfecta nicht immer zum Ziel führen: sie würden nach § 134 BGB zur Annahme der Nichtigkeit der Vereinbarung der Sacheinlage führen. Dies aber wäre dem Zweck des § 5 IV geradezu entgegengesetzt: zum Schutz der Gläubiger soll verhindert werden, daß der wahre Wert des Gesellschaftsvermögens durch zu hohe Berechnung der Sacheinlagen hinter dem Nennbetrag des Stammkapitals zurückbleibt; wäre nun die Vereinbarung schlechthin nichtig, so würde den Gläubigern darüber hinaus ein Haftungsobjekt sogar völlig entzogen (sofern die Einlage noch nicht geleistet oder auf Grund der Nichtigkeit zurückgewährt ist), die zu ihrem Schutz aufgestellte Norm würde sich also zu ihrem Nachteil verkehren. Die Annahme einfacher Nichtigkeit kann also nicht richtig sein. Da § 5 IV gleichwohl eine Sanktion fordert, das Gesetz eine solche aber nicht bereithält, liegt eine Lücke vor27. – [65] Auch hier also ist es der Geltungsanspruch des positiven Rechts, der die Ergänzung des Gesetzes notwendig macht, weil eine Norm sonst nicht die ihr zukommende Wirkung entfalten könnte. E. (Logische und teleologische) Kollisionslücken § 58 Ein letztes besonders merkwürdiges Beispiel, das in diesen Zusammenhang gehört, sind die sogenannten Kollisionslücken28. Davon spricht man dann, wenn zwei Normen einander widersprechen und sich nicht ermitteln läßt (durch Auslegung, vor allem mit Hilfe der Regeln über die lex specialis, die lex
27 Sie wird ausgefüllt durch Analogie zu § 20 II AktG: Der „Gesellschafter“ erwirbt aus der Vereinbarung keine Rechte der GmbH gegenüber (um einen mittelbaren Druck auf die Innehaltung des § 5 IV auszuüben), ist aber zur Einzahlung des als Stammeinlage festgesetzten Betrages in Geld verpflichtet (so daß der Zugriff der Gläubiger auf das Stammkapital in voller Höhe gewährleistet ist). Vgl. z. B. Baumbach-Hueck, GmbHG, § 5, Anm. 8 A. 28 Die Möglichkeit von Kollisionslücken wird im Schrifttum überwiegend bejaht. Vgl. Windscheid-Kipp, S. 109 f.; W. Jellinek, S. 167; Petraschek, S. 297; Somlo, Grundlehre, S. 383 und 410 ff.; Burckhardt, Lücken, S. 88 f.; Heck, Gesetzesauslegung, S. 179f., und Begriffsbildung, S. 88; Bastian, S. 70 ff.; Dahm, S. 50; Betti, Rechtsfortbildung, S. 397; Bender, Methode der Auslegung, S. 599; Engisch, Einheit, S. 50 und 84, Rechtslücke, S. 89, Fußn. 15, und Einführung, S. 159; Nipperdey, § 58 I 3; Roth-Stielow, S. 85 und 88; Wenzel, S. 714. Anders Sauer, S. 282 f.: es liege keine Lücke, sondern im Gegenteil ein „doppelt-besetzter Raum“ vor. Dabei verkennt er, daß die Lücke gerade deshalb gegeben ist, weil eine doppelte – und damit keine anwendbare – Regelung vorhanden ist. Gegen Sauer daher mit Recht Engisch, Rechtslücke, a.a.O.; Weigelin, S. 24 f., lehnt die Möglichkeit von Kollisionslücken ab mit der abwegigen Begründung, es „dürfte der heutigen Stellung des Richters, der doch nur ausnahmsweise rechtsschöpferisch tätig sein soll, mehr entsprechen, wenn er eine der beiden einander widersprechenden Bestimmungen für maßgebend erklärt, als wenn er beide unangewendet läßt ...!“ Da beide Vorschriften an sich einschlägig sind, einander aber gegenseitig ausschließen, müßte der Richter willkürlich handeln, wollte er einer den Vorrang einräumen. Gegen Weigelin auch Nipperdey, a.a.O.
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posterior usw.29), welche von ihnen den Vorrang hat. Sie heben sich dann gegenseitig auf30: da die Anwendung irgendeiner der Vorschriften willkürlich und die Anwendung beider widersinnig wäre, kann keine von beiden Geltung beanspruchen. Eine Lücke entsteht dabei deshalb, weil die vom Gesetz in den Normen gestellte Frage eine Rechtsfrage bleibt und der Fall nicht etwa in den rechtsfreien Raum zurückfällt. Denn nicht, daß er an zwei Stellen für rechtserheblich erklärt wurde, sondern daß an ihn zwei einander widersprechende Rechtsfolgen geknüpft sind, macht den Widerspruch aus. Anders gesprochen: nur die unvereinbaren Rechtsfolgen heben sich gegenseitig auf, die Tatbestände jedoch – und das heißt: die Erklärung der Frage zu einer Rechtsfrage – bleiben bestehen. Damit aber sieht [66] sich auch hier der Richter vor die Wahl zwischen Ergänzung des Gesetzes und Rechtsverweigerung gestellt: das positive Recht stellt eine Frage, gibt aber keine Antwort. § 59 Innerhalb eines geschlossenen und einigermaßen durchdachten Gesetzeswerkes mögen nun solche Fälle gewiß selten sein. Sehr häufig finden sie sich jedoch im IPR31. Dies nimmt nicht wunder angesichts der Tatsache, daß hier oft auf ein und denselben Lebenssachverhalt gleichzeitig verschiedene nationale Rechtsordnungen Anwendung finden. Da diese regelmäßig in keiner Weise aufeinander abgestimmt sind, kann es nicht ausbleiben, daß Widersprüche entstehen. Diese können dabei logischer Art sein in dem Sinne, daß die verschiedenen anwendbaren Rechtsordnungen zu Ergebnissen führen, die sich gegenseitig denknotwendig ausschließen; hier könnte man von „logischen Kollisionslücken“ sprechen. Der Widerspruch kann jedoch auch darin liegen, daß durch das Zusammenspiel der verschiedenen Rechte Ergebnisse herbeigeführt werden, die zwar logisch denkbar, aber wertungsmäßig unsinnig und mit den Zwecken eines oder aller beteiligten Rechte unvereinbar sind. Dementsprechend können auch innerhalb ein und derselben Rechtsordnung zwei Normen schon logisch unvereinbar sein, sie können sich aber auch lediglich teleologisch ausschließen, wie sogleich noch an Beispielen gezeigt werden soll. 29 Vgl. dazu vor allem Engisch, Einheit, S. 28 f. und 47 ff., und Einführung, S. 159; Larenz, ML, S. 173 ff. 30 Daß der vom Richter bei der Lückenausfüllung gefundene Rechtssatz der Sache nach doch u. U. mit einer der beiden Normen übereinstimmt, wird dadurch nicht ausgeschlossen. Nur bezieht er seinen Geltungsgrund dann nicht mehr aus der ausdrücklichen Anordnung des positiven Rechts. Ebenso i. E.: W. Jellinek, S. 167; Petrascheck, S. 297; Engisch, Einheit, S. 50. 31 Der aus dem allgemeinen methodischen Schrifttum stammende Terminus der „Kollisionslücke“ wird in der Literatur des IPR allerdings, soweit ersichtlich, nicht benutzt. Der Sache nach handelt es sich bei dem bekannten Problem der „Angleichung“ (vgl. dazu statt aller Raape, § 14 III, Kegel, § 8) jedoch um nichts anderes als die im Text beschriebene besondere Problematik der Kollisionslücken im IPR. Die Gegenüberstellung Kegels (a.a.O.) von „Seins- und Sollenswidersprüchen“ dürfte dabei genau der im Text herausgearbeiteten allgemeinen und nicht auf das IPR beschränkten Unterscheidung von logischen und teleologischen Kollisionslücken entsprechen.
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Mögen nun auch die logischen Widersprüche die „klassischen“ Fälle von Kollisionslücken bilden, so sollte man den Begriff doch nicht auf sie beschränken. Wie immer so müssen letztlich auch hier normativteleologische Kriterien entscheiden, und auch sie können daher zur Bejahung eines unlösbaren Widerspruchs und damit zur Annahme einer Kollisionslücke führen. Terminologisch könnte man diese Fälle als „teleologische Kollisionslücken“32 den logischen Widersprüchen gegenüberstellen. [67] § 60 Beispiele derartiger teleologischer Kollisionslücken enthält selbst ein so wohl durchdachtes Gesetz wie das BGB. – Das erste bietet die vielerörterte Problematik des Ausgleichsanspruchs zwischen mehreren dinglich Haftenden33. Zur Sicherung einer Forderung sind z. B. eine Hypothek und ein Sachpfand bestellt. Befriedigt nun der Grundstückseigentümer den Gläubiger, so geht nach § 1143 I 1 BGB die persönliche Forderung und damit gemäß §§ 412, 401 BGB das Pfandrecht auf ihn über; befriedigt dagegen der Verpfänder den Gläubiger, so erwirbt umgekehrt er nach §§ 1225, 1, 412, 401 BGB Forderung und Hypothek in voller Höhe. Im ersten Fall könnte also der Grundstückseigentümer, im zweiten der Verpfänder bei dem anderen voll Regreß nehmen; damit hätte letztlich stets der den gesamten Schaden zu tragen, der die Schuld nicht beglichen hat, was zu einem widersinnigen „Wettlauf“ der Haftenden um die Befriedigung des Gläubigers führen muß. Da beide gleiches Risiko tragen34, entbehrt dieses Ergebnis jeder inneren Rechtfertigung: eine solche Lösung wäre zwar logisch denkbar, ist jedoch teleologisch gesehen derart willkürlich, daß sie unmöglich der wahre Wille des Gesetzes sein kann. Die Anordnungen der §§ 1143, 412, 401 einerseits und der §§ 1125, 1, 412, 401 andererseits schließen sich daher gegenseitig aus. Widersinnig ist dabei jedoch nicht die Tatsache, daß überhaupt ein Ausgleich stattfinden soll, sondern nur die besondere Art dieses Ausgleichs. Somit bleibt die Rechtsfrage nach den Ansprüchen im Innenverhältnis bestehen, und da die Lösung des Gesetzes unanwendbar ist, liegt eine Lücke vor35. § 61 Schließlich sei noch ein letztes, praktisch etwas ausgefallenes, methodisch aber um so ergiebigeres Beispiel erörtert. Eine Frau lebt in Bigamie und gebiert ein Kind. Wer ist rechtlich Vater des Kindes? Nach § 1591 I Satz 1 HS 1 i. V. m. der Vermutung des Absatz II und § 1593 der erste Ehemann, nach § 1591 I Satz 1 HS 2 der zweite Ehemann. Solange die Unehelichkeit nicht für eine der 32 Zum Verhältnis zu den Wertungswidersprüchen vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 122 ff. 33 Vgl. z. B. Westermann, § 103 III 5, mit Nachweisen. 34 Anders, wenn ein Bürge beteiligt ist. Daher wird dieser Fall auch abweichend gelöst. Vgl. z. B. Larenz, SR II, § 58 III. 35 Die Ausfüllung der Lücke erfolgt in Analogie zu § 426. Das Verhältnis mehrerer dinglich Haftender untereinander ist dem mehrerer persönlich Schuldender rechtsähnlich. Es ergibt sich ein Ausgleichsanspruch zu gleichen Teilen nach § 426 I; die dinglichen Sicherheiten gehen gemäß §§ 426 II, 412, 401 in entsprechender Höhe über. (Vgl. dazu z. B. Westermann, a.a.O.)
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beiden Ehen nach § 1593 rechtskräftig festgestellt ist, ordnet das Gesetz also an, daß das Kind zwei Väter im Rechtssinne hat36. Dies ist nun zwar logisch ge- [68] sehen durchaus denkbar, teleologisch betrachtet aber ausgeschlossen: soll das Kind den Namen beider Väter erhalten (welchen als ersten?!), sollen beide das Recht der Personensorge, das Recht der Aufenthaltsbestimmung, den Anspruch auf Dienstleistung des Kindes in ihrem Haushalt nach § 1617 haben, sollen sie beide gegenüber dem Kind unterhalts-, erb- und pflichtteilsberechtigt sein? Ein offenbar unsinniges Ergebnis, das vom Gesetz nicht gewollt sein kann37. Die Anordnung, der erste Ehemann sei Vater (§ 1591 I 1 HS 1), und die Anordnung, der zweite sei Vater im Rechtssinne (§ 1591 I 1 HS 2), schließen sich daher gegenseitig aus. Teilweise läßt sich dieser Widerspruch allerdings ohne Annahme einer Kollisionslücke lösen. Es sind nämlich die Fälle zu unterscheiden, in denen die Mutter des Kindes nur mit einem Mann verkehrt hat38, oder in denen aus anderen Gründen der Beweis der offenbaren Unmöglichkeit nach § 1591 I 2 erbracht ist, – und die Fälle, in denen sich die biologische Vaterschaft nicht oder noch nicht klären läßt. Im ersten Fall gilt das Kind materiell-rechtlich nur als Kind eines Mannes; die Ehelichkeitsvermutung des § 1591 greift hinsichtlich des anderen Mannes nicht ein, und nur die Geltendmachung der „Unehelichkeit“ (hinsichtlich dieser Ehe) wird durch § 1593 ausgeschlossen. Diese Vorschrift aber bezweckt lediglich den Schutz des Kindes: sie will verhindern, daß es ohne gerichtliche Nachprüfung die ungünstige Stellung eines unehelichen Kindes erhält. Hier aber würde es nicht als unehelich, sondern nur als Kind eines Ehemannes statt als das zweier behandelt. Der Sinn des § 1593 trifft also nicht zu, seine Anwendung würde sich sogar zum Nachteil des Kindes verkehren. § 1593 ist daher auf Grund einer teleologischen Reduktion39 unanwendbar; es liegt demnach insoweit keine Kollisions-, sondern eine verdeckte Regelungslücke vor. [69]
36 Seit 1.1.1962 soll dies allerdings durch die Sondervorschrift des durch das FamRÄndG neugefaßten § 1600 ausgeschlossen sein. Die Erörterung dieses Beispiels erscheint aber dennoch gerechtfertigt, da die dadurch aufgeworfenen rechtstheoretischen Probleme unverändert bleiben, und da vor allem die Regelung des § 1600 für den Bigamiefall sachlich so verfehlt ist, daß die Vorschrift auf Grund einer teleologischen Reduktion als unanwendbar anzusehen ist (vgl. dazu ausführlich unten § 77); dann aber ergibt sich wieder die hier geschilderte Problematik. 37 Die Anfechtungsmöglichkeit des § 1594 hilft nicht entscheidend weiter, da es gerade um die Fälle geht, in denen beide Männer das Kind beanspruchen und daher von der Anfechtung absehen. Auch die Anfechtung durch das Kind nach § 1596 Ziff. 2, bietet keinen Ausweg: sie greift nur ein gegenüber dem Ehemann der bigamischen Ehe, der aber nicht selten der biologische Vater sein wird, und versagt völlig, wenn sich die biologische Vaterschaft nicht klären läßt. 38 Hier ist vor allem an die praktisch nicht seltenen Fälle zu denken, in denen eine Frau ihren im Kriege vermißten Mann fälschlich für tot gehalten hat und daher ein zweite Ehe eingegangen ist (ohne Todeserklärung des ersten Mannes). 39 Zu Begriff, Methodik und Rechtfertigung vgl. Larenz, ML, S. 296 ff. und unten §§ 74 ff.
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Anders ist es, wenn sich die biologische Vaterschaft nicht klären läßt. Dann greift für beide Männer die Ehelichkeitsvermutung des § 1591 ein. Da die beiden Anordnungen des Gesetzes, der erste bzw. der zweite sei Vater im Rechtssinne, sich – wie gezeigt – ausschließen, liegt hier ein unlösbarer Widerspruch vor; irgendeine Regelung der Vaterschaft aber muß der Richter finden40, soll nicht ein – besonders krasser – Fall der Rechtsverweigerung vorliegen. Es ist also eine Kollisionslücke gegeben. § 62 Damit sei die Erörterung dieser Gruppe von Lückenfällen – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – abgeschlossen. Allen Beispielen war – bei großer Verschiedenheit im einzelnen – gemeinsam, daß sich die Notwendigkeit der Ergänzung des Gesetzes aus dem Geltungsanspruch der Anordnungen des positiven Rechts ergab, sei es, daß einzelne Normen sich sonst nicht verwirklichen ließen, sei es auch, daß der Gesamtzusammenhang des Gesetzes eine zusätzliche Regelung erforderlich machte. Stets sah sich der Richter dabei – und darin liegt das augenfälligste gemeinsame Charakteristikum der erörterten Fälle – vor die Wahl zwischen Rechtsverweigerung und Lückenfüllung gestellt. Daß diese Beispiele noch weitere Besonderheiten gemeinsam haben – vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von Lückenfeststellung und -ausfüllung, der Funktion der Analogie und der Möglichkeit unausfüllbarer Lücken – werden die weiteren Darlegungen ergeben41. Im [70] übrigen wird die Eigenart dieser Fälle noch deutlicher hervortreten, wenn die Besonderheiten der im folgenden darzustellenden andersartigen Lückenbeispiele herausgearbeitet sind und zum Vergleich herangezogen werden können. [71]
40 Die Lösung ergab sich für das frühere Recht richtigerweise mit Hilfe der Heranziehung des Grundgedankens des § 1600 a. F. Dieser kann nur darin erblickt werden, daß das Kind in Konfliktfällen, wo es bei unmittelbarer Anwendung des Gesetzes als eheliches Kind zweier Väter zu gelten hätte, im Zweifel dem Manne zugesprochen werden soll, dessen Ehe mit der Mutter erhalten bleibt; nur so kann es vor schwerem Schaden geschützt werden (vgl. dazu eingehend unten Fußn. 94). Da hier die zweite – bigamische – Ehe keinen Bestand hat, ist das Kind – anders als bei wörtlicher Anwendung des § 1600 – dem ersten Ehemann zuzusprechen, – Der Stand der Meinungen in der Literatur (vor Änderung des § 1600) kann nur als verworren bezeichnet werden. Vor allem wird nirgendwo unterschieden, ob sich die biologische Vaterschaft feststellen läßt oder nicht. Nach Riezler (ArchBürgR, Bd. 38, S. 66 ff.) ist der Fall de lege lata überhaupt nicht sinnvoll lösbar (S. 72). Allerdings erkennt er zutreffend, daß § 1593 seinem Sinne nach nicht paßt (S. 70), glaubt jedoch, der Richter sei dennoch zu seiner Anwendung verpflichtet (S. 73). Maßfeller (StAZ 1956, S. 258 f.) will ausnahmslos § 1600 (analog) anwenden, und zwar in wörtlicher Übertragung mit der Folge, daß das Kind stets (offenbar auch, wenn es biologisch nachweislich vom ersten Manne stammt!) dem zweiten Ehemann zugesprochen wird. Allgemein gegen die Analogie zu § 1600 haben sich ausgesprochen: Soergel, § 1600, 2 (für Lösung aus dem „Grundsatz der Begünstigung der tatsächlichen familienrechtlichen Gemeinschaft“); Erman-Wagner, § 1600, 3; OLG Nürnberg, ZB1JR 53, 256; gegen „schematisierende Anwendung“ des § 1600 (aber ohne klaren Lösungsvorschlag) Beitzke, § 24 I 6 a. E. 41 Vgl. unten §§ 136 ff. und 163 ff.
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Zweiter Abschnitt Die Wertungen des positiven Rechts und der Gleichheitssatz § 63 Wie schon erwähnt, sind nicht nur die Anordnungen, sondern auch die hinter diesen stehenden Wertungen des Gesetzes zur Lückenfeststellung heranzuziehen. Allerdings ist es verhältnismäßig selten, daß die ratio legis unmittelbar die Ergänzung des Gesetzes fordert42; von größter Bedeutung für die Feststellung einer Lücke werden Sinn und Zweck der Normen jedoch in Verbindung mit dem Gleichheitssatz: dieser gebietet, daß gleichartige Tatbestände gleich und ungleiche verschieden zu behandeln sind; hat nun das Gesetz an den Tatbestand T1 die Rechtsfolge R geknüpft, läßt es sie aber für den gleichliegenden Tatbestand T2 vermissen, so stellt dies eine Lücke dar; denn der Gleichheitssatz fordert eine entsprechende Regelung, und da er als wesentliches Element der Rechtsidee einer jeden Rechtsordnung immanent ist43, ist er nach der oben gegebenen Definition der Lücke als Maßstab für die Feststellung der Unvollständigkeit des Gesetzes heranzuziehen. Dazu aber ist der Rückgriff auf die Wertungen des positiven Rechts unerläßlich; denn aus dem rein formalen Satz, daß Gleiches gleich zu behandeln ist, läßt sich noch nicht entnehmen, was gleich oder ungleich ist. Dies kann sich in diesem Zusammenhang vielmehr nur nach den Wertungen des Gesetzes beurteilen, da es hier um die Voraussetzungen der Rechtsfindung praeter legem geht und der Richter also an den Willen des geltenden Rechts gebunden ist. Der Gleichheitssatz kann dabei – in seinem positiven Teil – die Erweiterung des Gesetzes wie auch – in seinem negativen Teil – die Einschränkung einer Norm fordern, je nachdem, ob die – durch den möglichen Wortsinn begrenzten – Anordnungen des Gesetzes hinter seinen Wertungen zurückbleiben oder über sie hinausgehen. I. Der positive Gleichheitssatz A. Analogie als Mittel der Lückenfeststellung § 64 Aus dem soeben Ausgeführten folgt bereits ohne weiteres, daß die Analogie als logisch-teleologisches Schlußverfahren nicht nur ein [72] Mittel zur Ausfüllung von Gesetzeslücken darstellt, sondern auch bereits ihrer Feststellung dient44, 45. Denn Beispiele vgl. unten §§ 80 ff. Vgl. oben § 49. 44 In der Literatur wird die Analogie fast ausnahmslos lediglich als Mittel der Lückenausfüllung behandelt (wie überhaupt die Problematik der Lückenfeststellung sehr stark vernachlässigt wird). Vgl. z. B. Wächter, S. 123; Regelsberger, S. 156 ff.; Reichel, S. 114; von Tuhr, S. 41; Heck, Geset42 43
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wenn die Unvollständigkeit des positiven Rechts mit Hilfe des Gleichheitssatzes ermittelt wird und wenn für diesen Vergleich auf die Wertungen des Gesetzes, also die ratio legis, zurückzugreifen ist, so bedeutet dies doch nichts anderes, als daß schon für die Frage der Lückenhaftigkeit die Rechtsähnlichkeit eines gesetzlich geregelten und eines nicht geregelten Falles maßgeblich ist, daß die Lücke also im Wege eines Analogieschlusses festgestellt wird46, 47. [73] Diese Folgerung wird in der Tat durch eine Fülle praktischer Beispiele bestätigt. So erwähnt Larenz als Fall einer Lücke das Fehlen einer dem § 618 III BGB entsprechenden Regelung im Recht des Werkvertrages48. Dazu schreibt er: „Daß dies eine ,Lücke‘ und nicht etwa nur ein (rechtspolitischer) ,Fehler‘ des Gesetzes ist, ergibt sich daraus, daß das Gesetz selbst in § 618 eine bestimmte Wertung vorgenommen hat und daß in bezug auf die für diese Wertung maßgeblichen Umstände der nicht geregelte Fall dem im Gesetz geregelten gleich liegt. Der zesauslegung, S. 194 ff.; Bovensiepen, S. 134; Bastian, S. 75; Nawiasky, S. 146; Dahm, S. 52 ff.; Bartolomeyczyk, S. 81 ff.; Staudinger-Brändl, Einl. 66 vor § 1; Schönke-Schrade, S. 25; Boehmer, II 1, S. 167 ff.; Weinkauff, Richtertum, S. 3 und S. 12; Lehmann, § 8 III 3; Nipperdey, § 58 II; Engisch, Einführung, S. 142; Teichmann, S. 80 ff.; Grabherr, S. 34 ff.; Gény, Méthode I, S. 307; Siorat, S. 323 ff.; Tuor, S. 37; Hafter, S. 140 f.; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 73 f., 170 f., und Kommentar, Randziffern 346 ff.; Du Pasquier, Lacunes, S. 32 ff., und Introduction, S. 205 f. Beiläufige Hinweise darauf, daß das Analogieverfahren auch der Feststellung der Lücke dienen kann, finden sich bei Bierling (S. 404) und Herrfahrdt (S. 37); dies sei „meist“ bzw. „namentlich“ bei den unechten Lücken Zitelmanns der Fall. Ein Ansatz in dieser Richtung ist wohl auch bei Pisko, S. 138, zu sehen. Klar herausgestellt wird die Problematik dagegen bei Larenz (ML, S. 291), wenn er ausführt, daß „dieselben Erwägungen, die die Analogie rechtfertigen, auch die Annahme einer Gesetzeslücke begründen“. Zu weit geht er dabei allerdings, wenn er anzunehmen scheint, daß dies in allen Fällen der analogen Anwendung einer Vorschrift der Fall sei. Vgl. dazu eingehend unten § 138 f. 45 So ist z. B. die bekannte Frage „Analogie oder Umkehrschluß“ ein typisches Problem der Lückenfeststellung und nicht der Lückenausfüllung. 46 Zu der sich daraus ergebenden Einheit von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung vgl. unten § 140 f. 47 Daß die Analogie ihre Rechtfertigung im Gleichheitssatz findet, wird überwiegend betont. Vgl. Regelsberger, S. 156 f.; Binding, Handbuch I, S. 214; Wach, S. 273; Biermann, S. 10; Gény, Méthode II, S. 119; Capitant, S. 110; von Tuhr, S. 41; Germann, Analogieverbot, S. 136; Keller, S. 72; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 254, und Kommentar, Randziffer 348; Friedrich, S. 442; Sauer, S. 308; Coing, Rechtsphilosophie, S. 270; Larenz, ML, S. 283 und 288. – Eine positivistische Begründung für die Zulässigkeit der Analogie auf Grund eines „ungeschriebenen Satzes des geltenden Rechts“ oder von Gewohnheitsrecht geben dagegen Zitelmann, S. 26; Stammler, S. 644; Schack, S. 275 ff.; Nipperdey, § 58 II 3, insbesondere Fußn. 26. In ähnlicher Richtung liegt der Versuch Herrfahrdts (S. 40 ff.; ihm folgend Betti, Rechtsfortbildung, S. 394; ähnlich Nawiasky, S. 146), die Analogie daraus zu rechtfertigen, daß der Gesetzgeber den übersehenen Fall „vermutlich“ ebenso geregelt hätte. Soll diese Annahme mehr als eine bloße psychologische Hypothese und von rechtlicher Relevanz sein, so läßt sie sich nur halten, indem man dem Gesetzgeber den Willen zu einer dem Gleichheitssatz entsprechenden Regelung unterstellt (vgl. Larenz, ML, S. 288, Fußn. 1; gegen Herrfahrdt auch Nipperdey, § 58, Fußn. 16 a. E.). 48 ML, S. 291.
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Gerechtigkeitsgrundsatz verlangt daher eine entsprechende Regelung für den Werkvertrag.“ Damit ist der in diesem Zusammenhang wesentliche Punkt berührt: in der Tat läßt sich die entscheidende Frage, ob eine Lücke oder ein Fehler anzunehmen ist, ob also dem Richter die Fortbildung des Rechts erlaubt oder verboten ist, häufig nur durch die Heranziehung bestimmter gesetzlicher Vorschriften und den Nachweis, daß der ungeregelte Fall dem geregelten rechtsähnlich ist, – das aber heißt: durch einen Analogieschluß – klären. § 65 Dabei darf man sich freilich durch die psychologischen Vorgänge bei der Lückenfeststellung, die mit den methodologischen keineswegs immer übereinstimmen, nicht beirren lassen: der geschulte Jurist wird nicht selten das Fehlen einer nach seinem Rechtsgefühl zu erwartenden Regelung sofort als Lücke bezeichnen, und je vertrauter er mit dem geltenden Recht ist, je stärker also sein Rechtsempfinden durch dieses gebildet wurde, desto sicherer wird diese Behauptung zutreffen; erst anschließend sucht er dann im Gesetz nach einer Bestimmung, mit der er die von ihm „festgestellte“ Lücke ausfüllen kann. Methodologisch gesehen aber stellt sich der Vorgang durchaus anders dar: um die Lücke festzustellen, gilt es zu beweisen, daß das Fehlen einer (bestimmten) Regelung nicht nur vom Rechtssuchenden oder -anwendenden subjektiv als unbefriedigend empfunden wird, sondern vom Standpunkt der Gesamtrechtsordnung aus objektiv eine planwidrige Unvollständigkeit darstellt; denn deren Wille und nicht das Rechtsgefühl ist das maßgebliche Kriterium für die Abgrenzung von Fehler und Lücke. Da aber die Gesamtrechtsordnung als Ganzes ein zu unbestimmter Begriff ist, um für die Lückenfeststellung praktikabel zu sein, bleibt oft nichts anderes übrig, als auf bestimmte Normen und die in ihnen verkörperten Wertungen zurückzugreifen. Erst dadurch läßt sich klären, ob der empfundene Mangel eine Lücke oder lediglich ein rechtspolitischer Fehler ist. § 66 Diese Problematik, insbesondere auch die Unterschiede der methodischen und der psychologischen Vorgänge, soll nun an einigen Beispielen veranschaulicht werden. Als erstes sei ein interessanter Fall [74] aus dem Schadensersatzrecht erwähnt. Ein Autofahrer fährt unter Beachtung aller Verkehrsregeln eine Straße entlang, als plötzlich aus einem Torweg ein spielendes Kind (unter 7 Jahren) herausläuft. Um es nicht zu überfahren, reißt der Fahrer seinen Wagen scharf nach links und gerät dadurch auf einen Acker. Kann er nun von dem Kind oder dessen Eltern Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen, wenn die Eltern keine Verletzung der Aufsichtspflicht trifft und auch die Voraussetzungen des § 829 BGB nicht gegeben sind? Ansprüche aus unerlaubter Handlung scheiden aus. Auch ein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag, mit dessen Hilfe Literatur und Rechtsprechung teilweise den Fall zu lösen suchen49, dürfte
49
Vgl. BGHZ 38, 270, mit Nachweisen.
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abzulehnen sein50; denn man wird den Autofahrer – jedenfalls soweit ihm nur ein Sachschaden droht, was hier unterstellt sei – für verpflichtet erachten müssen, dem Kind auszuweichen und dabei auch die Beschädigung seines Wagens in Kauf zu nehmen. Das Ausweichmanöver stellt daher nicht ein objektiv fremdes, sondern ein eigenes Geschäft dar, und Ansprüche aus G. o. A. scheiden damit aus; eine unmittelbar einschlägige Anspruchsgrundlage ist demnach nicht gegeben. Soll dem Autofahrer, der in jeder Hinsicht untadelig und vorbildlich reagiert hat, also der Ersatzanspruch versagt bleiben? Das Rechtsgefühl mag sich gegen diese Lösung wehren, – ob es sich um eine Lücke oder nur um einen Fehler handelt, ist damit noch nicht entschieden. Hierzu gilt es vielmehr, die rechtlichen Besonderheiten des Falles zu erfassen und sie dann mit den Wertungen des Gesetzes in Beziehung zu setzen. Das Charakteristikum des Problems liegt nun darin, daß der Fahrer zwischen der Verletzung eines fremden höherwertigen und eines eigenen geringerwertigen Rechtsgutes zu wählen hat, und daß die Rechtsordnung ihn verpflichtet, sich für die zweite Möglichkeit zu entscheiden. Das aber ist der typische Fall einer Aufopferungslage: der Autofahrer mußte seinen Wagen opfern, um das Kind zu retten. Es fragt sich nun weiter, ob das geltende Zivilrecht einen Aufopferungsanspruch kennt. Die einzige Vorschrift, die hier in Betracht kommen könnte, ist § 904 Satz 2 BGB51. Sie ist zweifellos nicht unmittelbar einschlägig, doch bietet sich eine Analogie an: hier wie dort ist der Eigentümer rechtlich verpflichtet, einen Schaden hinzunehmen; hier wie dort geschieht dies zur Rettung eines höherrangigen Rechtsgutes; hier wie dort ist es daher naheliegend, zum Ausgleich für dieses Sonderopfer einen Ersatzanspruch zu gewähren. Ist also das Fehlen einer ausdrücklichen Anspruchsnorm eine Lücke? Bejaht man [75] die Analogie zu § 904 Satz 2, so ist dies in der Tat der Fall, da dann der Nachweis der Planwidrigkeit gelungen ist. Jedoch lassen sich auch beträchtliche Unterschiede zwischen § 904 Satz 2 und dem vorliegenden Fall nicht leugnen. Zunächst ließe sich einwenden, es fehle an der erforderlichen Rechtsähnlichkeit schon deshalb, weil hier der Eigentümer selbst und nicht ein Dritter den schädigenden Eingriff vornehme. Indessen verkennt dieser Einwand den Charakter des § 904 als eines Aufopferungsanspruchs: für den Eintritt der Rechtsfolge ist nicht wesentlich, daß ein Dritter das Eigentum verletzt hat – es handelt sich um Haftung für einen rechtmäßigen Eingriff! –, sondern daß ein Rechtsgut zugunsten eines anderen aufgeopfert werden muß. Jedenfalls soweit man nicht den Handelnden, sondern den Begünstigten für ersatzpflichtig ansieht52, wird man daher die Analogie nicht deswegen ablehnen können, weil der Eigentümer selbst den Schaden herbeigeführt hat. Gewichtiger ist dagegen ein zweiter Einwand: § 904 Satz 2 ist nur Vgl. dazu eingehend Canaris, JZ 63, 659 ff. Zum Charakter des § 904 als Aufopferungsanspruch vgl. Larenz, SR II, § 72, 1. 52 So überzeugend gegen die h. L. Larenz, SR II, § 72, 1; Horn, JZ 60, 350, mit Nachweisen in Fußn. 1. 50 51
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in Zusammenhang mit § 228 BGB verständlich, und daher setzt er voraus, daß in die Rechtsgüter eines Unbeteiligten eingegriffen wird und die Gefahr nicht gerade von der beschädigten Sache selbst ausgeht. Letzteres aber ist hier der Fall, und dies dürfte in der Tat entscheidend gegen die Analogie zu § 904 sprechen53. Wie man aber die Frage schließlich auch entscheidet, die methodischen Besonderheiten liegen klar auf der Hand; das psychologische Ungenügen, das man angesichts des Fehlens eines Ersatzanspruchs empfinden mag, besagt über das Vorliegen einer Lücke nichts. Darüber entscheidet vielmehr allein die objektive Rechtsordnung, und das heißt hier: der Analogieschluß zu § 904: bejaht man die Ähnlichkeit, so liegt eine Lücke vor; verneint man sie, so kann allenfalls ein rechtspolitischer Fehler gegeben sein. Der Ähnlichkeitsschluß entscheidet daher über die Abgrenzung zwischen Fehler und Lücke54, und das Analogieverfahren ist damit ein Mittel der Lückenfeststellung. § 67 Diese Beispiele lassen sich beliebig vermehren. So hatte der BGH folgenden Fall zu entscheiden55: Eine Frau gebiert in der Ehe ein außereheliches Kind; der Ehemann hält es für sein eigenes und kommt daher jahrelang für den Unterhalt auf. Hat er nach erfolgreicher Anfechtung der Ehelichkeit einen Anspruch auf Ersatz seiner Aufwen- [76] dungen gegen den Erzeuger? Geschäftsführung ohne Auftrag scheidet mangels eines entsprechenden Willens des Ehemannes aus. Ungerechtfertigte Bereicherung liegt nicht vor, da der Anspruch des Kindes gegen den Erzeuger durch die Unterhaltsgewährung nicht erloschen ist, letzterer also nichts erspart hat. Ansprüche aus §§ 823 ff. schließlich sind nach ständiger Rechtsprechung – deren Richtigkeit hier nicht weiter geprüft werden kann56 – ebenfalls ausgeschlossen. Dem Ehemann jede Regreßmöglichkeit zu versagen, erschiene nun allerdings unbillig. Liegt darin aber wirklich eine Lücke? Zwingend bejahen kann man dies nur, indem man die Vorschrift des § 1709 I BGB heranzieht. Danach geht der Anspruch des unehelichen Kindes gegen seinen Erzeuger auf die Mutter oder deren unterhaltspflichtige Verwandte über, wenn diese dem Kind Unterhalt gewähren. Mit Recht hat der BGH die Ähnlichkeit der beiden Fälle bejaht: Ebenso wie Mutter und Verwandte ist der Ehemann gesetzlich zur Unterhaltszahlung verpflichtet, da er bis zur Anfechtung als Vater gilt (§ 1593); und auch seine Haftung kann gegenüber der des Erzeugers nur subsidiär sein. Der einzige Unterschied liegt darin, daß im Falle des § 1709 ein Verwandtschaftsverhältnis wirklich besteht, während es hier vom Gesetz nur auf Grund des § 1593 unterstellt wird; dies aber ist für den Eintritt der Rechtsfolge Vgl. dazu eingehend Canaris a.a.O., S. 660 f. Es ist bezeichnend, daß alle Gesichtspunkte, die sich (vom Boden des geltenden Rechts aus) für oder gegen einen Anspruch des Kraftfahrers anführen lassen, in irgendeiner Form für den Ähnlichkeitsschluß von Bedeutung sind. 55 BGHZ 24, 9. 56 Vgl. dazu BGHZ 26, 217 (220 ff.) mit Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen. 53 54
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des § 1709 II unerheblich. Also fordert der Gleichheitssatz eine Gleichstellung beider Fälle, und wieder dient dabei das Analogieverfahren als Mittel, die Lücke festzustellen und die erforderliche Abgrenzung gegenüber einem rechtspolitischen Fehler vorzunehmen: Bestände § 1709 II nicht, so wäre keine Möglichkeit zu erblicken, dem Ehemann einen Anspruch zu gewähren, und es läge daher keine Lücke vor. § 68 Ähnlich anschaulich ist etwa die Frage, ob das Fehlen jeder Bestimmung im BGB über den gutgläubigen Erwerb einer Vormerkung eine Lücke darstellt oder nicht. Nach h. L. ist eine Vormerkung kein dingliches Recht57, und die §§ 892 ff. sind daher nicht unmittelbar anwendbar. Bedeutet dieses Schweigen des Gesetzes nun eine Lücke? Hier sind zwei verschiedene Fälle zu unterscheiden: der Ersterwerb der Vormerkung vom eingetragenen Scheineigentümer des Grundstücks und der Zweiterwerb vom eingetragenen Scheininhaber der Vormerkung. Im ersten Fall handelt es sich um den Schutz des guten Glaubens an das Eigentum am Grundstück. Dieser Fall ist den in §§ 892 f. geregelten Tatbeständen so ähnlich, daß der Gleichheitssatz die Gleichstellung erfordert: die Vormerkung ist zwar kein dingliches Recht am Grundstück, sie wirkt aber weitgehend wie ein solches; so besitzt sie Dritt- [77] wirkung (§ 883 II), hat rangwahrenden Charakter (§ 883 III) und steht im Konkurs einem dinglichen Recht gleich (§ 24 KO). Ihre Bewilligung kommt daher einer inhaltlichen Belastung des Eigentums am Grundstück so nahe, daß die Gleichstellung gerechtfertigt erscheint und § 893 analog anzuwenden ist58. Anders im zweiten Fall: hier geht es nicht um den Schutz des guten Glaubens an das Eigentum am Grundstück, sondern an das Bestehen der Vormerkung. Hierbei aber ist die Gleichstellung mit den dinglichen Rechten, – etwa dem Erwerb einer Hypothek vom eingetragenen Nichtberechtigten unbegründet, da die Unterschiede überwiegen: die Vormerkung wird nach § 401 ipso iure mit dem Übergang der Forderung erworben. Es handelt sich also um gesetzlichen Erwerb außerhalb des Grundbuchs. Eine Eintragung wirkt nur deklatorisch, und der Rechtsschein des Grundbuchs ist für den Erwerb rechtlich bedeutungslos, da es sich eben nicht um grundbuchmäßigen Erwerb handelt; die Übertragung erfolgt also nicht nach dem „Offenkundigkeits-“, sondern nach dem „Heimlichkeitsprinzip“. Darin kommt zum Ausdruck, daß die Vormerkung vom Gesetz nicht als Verkehrsrecht ausgestaltet ist. Der Fall liegt daher wesentlich anders als die Tatbestände der §§ 892 ff., und deshalb ist aus dem Schweigen des Gesetzes nicht auf eine Lücke zu schließen, sondern auf die Unmöglichkeit gutgläubigen Erwerbs59. – Bei beiden Alternativen entscheidet also wieder die Frage der Vgl. dazu z. B. Westermann, § 84 I; Baur, § 20 VI 1. Vgl. z. B. RGZ 118, 223; Soergel-Siebert, § 893, 5 L; Staudinger-Seufert, § 883, 56. 59 Die Frage ist sehr strittig. Zum Stand der Meinungen vgl. Baur, JZ 57, 629. Wenn Baur (a.a.O. sowie Lb, § 20 V 1b, und bei Soergel-Siebert, § 893, 7) den gutgläubigen Erwerb ablehnt mit der einzigen Begründung, es handele sich um gesetzlichen Erwerb, so ist dies freilich zu 57 58
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Rechtsähnlichkeit, d. h. im bejahenden Fall ein Analogieschluß schon über das Vorliegen einer Lücke. § 69 Diese Beispiele mögen hier genügen; eine Reihe weiterer Fälle soll unten (unter dem Gesichtspunkt der „notwendigen“ Analogie) erörtert werden60. – Abschließend sei als Ergebnis festgehalten: tritt der Rechtssuchende mit einer bestimmten Frage an das Gesetz heran [78] und findet er in diesem keine ausdrückliche Antwort, so kann man den Nachweis, daß dieses Schweigen eine Lücke und kein Fehler ist, häufig nur durch den Rückgriff auf einen ähnlichen gesetzlich geregelten Tatbestand führen. Der Gleichheitssatz dient dabei als Maßstab der Lückenfeststellung, da er die Ergänzung des Gesetzes fordert; die Analogie aber ist Mittel der Lückenfeststellung, da der Ähnlichkeitsschluß entscheidet, ob vom Boden des geltenden Rechts aus ein gleichartiger Fall vorliegt. B. Argumentum a fortiori als Mittel der Lückenfeststellung § 70 Die Lückenfeststellung mit Hilfe des Gleichheitssatzes erschöpft sich jedoch keineswegs in der Gruppe der Analogiebeispiele. Hierher gehören vielmehr weiterhin auch die meisten Fälle61 des „argumentum a fortiori“ und des „argumentum a maiore“62. Davon spricht man dann, wenn die Gründe einer Vorschrift in noch stärkerem Maße auf einen nicht geregelten Fall zutreffen als auf den von ihr unmittelbar erfaßten. Auch diese Argumente beruhen ebenso wie die Analogie63 nicht auf einem bloßen formal-logischen Schlußverfahren, sondern sind teleologischer Natur. Auch sie finden ihre Rechtfertigung letzten Endes in den Forderungen der Gerechtigkeit; denn diese verlangt eine gleiche Behandlung natürlich ebenfalls, wenn nicht nur gleichartige Voraussetzungen vorliegen, sondern wenn begriffsjuristisch gesehen. Denn der Grundsatz, daß Gutglaubensschutz bei gesetzlichem Erwerb ausgeschlossen ist, gilt nur, weil und soweit ein Verkehrsschutzinteresse nicht besteht. Dieser Gedanke dürfte aber auf § 401 kaum zutreffen, da es sich bei dieser – dispositiven schuldrechtlichen! – Vorschrift nur um eine Typisierung des Parteiwillens handelt, also gesetzlich typisierter rechtsgeschäftlicher Erwerb vorliegt (ähnlich wie in § 647 BGB!). Entscheidend ist vielmehr, daß es sich um Erwerb außerhalb des Grundbuchs handelt, und daß die Vormerkung kein Verkehrsgegenstand ist. – Für den gleichliegenden Fall des § 1250 I (Erwerb eines Pfandrechts ipso iure mit Abtretung der Forderung unabhängig von der Übergabe der Pfandsache) ist der Ausschluß des Gutglaubensschutzes übrigens ganz h. L. (vgl. z. B. Wolff-Raiser, § 170 II 1; Staudinger-Kober, § 1250, 1 c). 60 Vgl. §§ 140 f. 61 Aber nicht alle! Vgl. unten § 143 62 Vgl. dazu Nawiasky, S. 148; Pisko, Kommentar, S. 129 f.; Klug, S. 141 ff.; Larenz, ML, S. 294 f.; Fabreguettes, S. 376. 63 Als „Spezialfall“ der Analogie bezeichnet Nawiasky (a.a.O.) das argumentum a fortiori. Besser ist es, mit Larenz (a.a.O.) zu sagen, es sei der Analogie „verwandt“, – wobei diese Verwandtschaft in dem gemeinsamen Bezug auf den Gleichheitssatz und den Rückgriff auf die immanente Teleologie des Gesetzes beruht.
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die maßgebenden Erfordernisse in dem zu vergleichenden Fall sogar in verstärktem Maße erfüllt sind. Dabei macht auch hier der formale Charakter des Gleichheitssatzes einen Rückgriff auf die Wertungen des Gesetzes unerläßlich, und das führt dazu, daß auch das argumentum a fortiori bzw. a maiore nicht nur der Lückenausfüllung dient, sondern schon ein Mittel der Lückenfeststellung ist. § 71 Einige Beispiele mögen dies erläutern. Zunächst sei hier der Fall erwähnt, daß jemand in entschuldigendem Notstand einen anderen verletzt. Haftet er für den entstandenen Schaden? Die §§ 823 ff. greifen mangels Verschuldens nicht ein64. Jedoch wird man hier einen Ersatzanspruch auf Grund eines argumentum a fortiori aus § 904 Satz 2 [79] gewähren müssen65: wenn schon auf Grund eines rechtmäßigen Eingriffs gehaftet wird, so muß dies erst recht bei einem rechtswidrig schuldlosen gelten, soweit dadurch ein Rechtsgut auf Kosten eines anderen gerettet wird. Dabei dient das argumentum a fortiori aus § 904 Satz 2 bereits zur Feststellung der Lücke: enthielte das Gesetz diese Vorschrift nicht, so wäre keine Möglichkeit zu einer Ausnahme von dem Grundsatz gegeben, daß Schadensersatz im allgemeinen nur bei schuldhaften Eingriffen zu leisten ist, und das Fehlen eines Anspruchs im vorliegenden Fall würde sich daher allenfalls als Fehler, nicht aber als Lücke darstellen. Dabei ist zu beachten, daß auch das argumentum a fortiori auf dem Gleichheitssatz beruht und daher wie die Analogie eine genaue Prüfung der Rechtsähnlichkeit erfordert66; auch hier sind dabei normativ-teleologische Kriterien maßgeblich. Die Bedeutung des Ähnlichkeitsschlusses zeigt sich übrigens auch im gegebenen Fall: ist der Verletzte an der Herbeiführung der Notstandslage beteiligt, so greift das argumentum a fortiori aus § 904 nicht ein67. – Wie entschieden vor einem rein „formalen“ argumentum a fortiori zu warnen ist und wie sehr es auch hier auf die genaue Ermittlung der ratio legis ankommt, mag noch ein anderes Beispiel aus dem Zusammenhang des § 904 zeigen: Jemand nimmt auf Grund eines unvermeidlichen Irrtums das Vorliegen der Voraussetzungen des Aggressivnotstandes nach § 904 BGB an und verletzt daher das Eigentum eines anderen. Kann dieser Schadensersatz verlangen? § 823 scheidet mangels Verschuldens aus68; ein Anspruch auf Grund unmittelbarer Anwendung des § 904 Satz 2 ist auch nicht gegeben, weil dieser das Vorliegen der Voraussetzungen des Satz 1 erfordert. Nach allgemeiner Ansicht soll nun hier die Ersatzpflicht mit einem argumentum a fortiori aus § 904 Satz 2 begründet werVgl. Enn.-Nipperdey, § 213 IV und § 241 IV. Vgl. Canaris JZ 63, S. 658 f. mit Schrifttumsnachweisen in Fußn. 37. 66 Anders offenbar Pisko, Kommentar, S. 130, wonach das argumentum a maiori im Gegensatz zur Analogie gerade auf jenem Moment beruhen soll, durch das die zu vergleichenden Tatbestände sich unterscheiden. 67 Dazu eingehend Canaris, a.a.O. 68 Daß bei irrtümlicher Annahme eines Rechtfertigungsgrundes nicht wegen vorsätzlichen Eingriffs gehaftet wird, sondern allenfalls für Fahrlässigkeit, ist für das Zivilrecht durchaus h. L. (vgl. z. B. Larenz, SR I, § 19 II mit weiteren Zitaten). 64 65
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den69: wenn eine Haftung schon bei rechtmäßigem Handeln bestehe, müsse dies um so mehr bei rechtswidrig schuldlosen Eingriffen gelten. Ein formal dem ersten Anscheine nach bestechendes Argument! Und dennoch erweist es sich als unhaltbar, geht man auf die ratio des § 904 Satz 2 zurück: wie oben70 dargelegt, ist nicht der Eingriff als solcher, sondern der Gedanke der Aufopferung Grund der Haftung. Da [80] eine Aufopferungslage hier aber gar nicht bestand und niemand durch den Eingriff begünstigt ist, kann unter diesem Gesichtspunkt auch kein Anspruch gewährt werden71. In Wahrheit behandelt § 904 einen ganz anderen Fall: dort geht es um die gerechte Verteilung des Schadens zwischen Verletztem und Begünstigtem, hier dagegen um die gerechte Verteilung des Risikos für das Vorliegen der Notstandsvoraussetzungen zwischen Verletztem und Handelndem; im ersten Falle liegt Aufopferungshaftung vor, im zweiten dagegen können – soweit Verschulden nicht gegeben ist – allenfalls die Grundsätze der Gefährdungshaftung der Sachlage gerecht werden. Da das Gesetz eine allgemeine Ersatzpflicht dieser Art nicht kennt, bleibt nur die analoge Heranziehung von Einzeltatbeständen. Hier bietet sich § 231 BGB an, der – doch wohl unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung72 – einen Ersatzanspruch bei schuldloser irrtümlicher Selbsthilfe gewährt und dem vorliegenden Fall in den wesentlichen Punkten rechtsähnlich sein dürfte73. In methodischer Hinsicht ist wieder die Bedeutung des Ähnlichkeitsschlusses für die Lückenfeststellung auffallend: wäre die Ähnlichkeit zu § 904 zu bejahen, so hätte man damit entschieden, daß das Fehlen eines Anspruchs eine Lücke darstellt; durch die Ablehnung der Ähnlichkeit bleibt die Frage nach der Planwidrigkeit des Schweigens des Gesetzes offen, da auch kein Umkehrschluß möglich ist und daher weitere Mittel der Lückenfeststellung zu prüfen sind. Hierbei führt dann die Analogie zu § 231 zum Nachweis der Lücke (und zugleich zu ihrer Ausfüllung). § 72 Ein weiteres Beispiel der Lückenfeststellung mit Hilfe eines argumentum a fortiori sei noch kurz erwähnt: wenn durch die Ausführung eines Beschlusses der Mitgliederversammlung eines rechtsfähigen Vereins ohne Beteiligung eines 69 Vgl. Hueck, JherJb 68, S. 229 f.; Nipperdey, § 241 III 4b und Fußn. 18; Lehmann, A. T., § 18 III 3b; Lange, A. T., § 18 II 3. 70 Vgl. § 66 zu Fußn. 51. 71 Dies wird besonders augenfällig, wenn die vermeintliche Notstandshandlung zugunsten eines Dritten erfolgte. Soll dieser für einen Eingriff, durch den er gar nicht wahrhaft begünstigt ist, haften? Nach richtiger Ansicht trifft aber die Ersatzpflicht nicht den Handelnden, sondern den Begünstigten (vgl. oben, Fußn. 52). 72 Die Vorschrift dürfte unter die Fälle der „Gefährdungshaftung für Handlungen“ einzureihen sein. Vgl. dazu Larenz, VersR 63, S. 601, Sp. 2. 73 Für den im Wesentlichen gleichliegenden Fall der Putativnotwehr wird die Analogie zu § 231 allerdings von der h. L. abgelehnt, vgl. z. B. Soergel-Siebert, § 227, 19; Enn.-Nipperdey, § 240, Fußn. 23.
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der in § 31 BGB genannten Organe einem Dritten ein Schaden zugefügt wird, so haftet der Verein; denn was für den Vorstand gilt, muß erst recht für das höchste Organ, die Mitgliederversammlung, Anwendung finden74. Wäre § 31 jedoch nicht vorhanden oder das argumentum a fortiori nicht zutreffend, so würde das Fehlen des entsprechenden Anspruchs auch keine Lücke darstellen. [81] C. Normlücken und positiver Gleichheitssatz § 73 Abschließend sei noch eine Gruppe von Fällen erwähnt, in denen der Gleichheitssatz nicht wie in den bisherigen Beispielen zur Aufstellung eines gesamten Rechtssatzes führt, – in denen also „Regelungslücken“ vorliegen, – sondern wo er nur die Ergänzung einer in sich unvollständigen Norm fordert („Normlücken“). Nach § 992 BGB haftet der unrechtmäßige Besitzer dem Eigentümer nur dann nach den Vorschriften der §§ 823 ff., wenn er den Besitz der Sache durch eine strafbare Handlung oder durch verbotene Eigenmacht erlangt hat. Es ist nun ganz h. L.75, daß die Besitzerlangung durch verbotene Eigenmacht hier nur dann genügen kann, wenn sie schuldhaft erfolgte76. Dies ergibt sich nicht etwa schon aus der Verweisung auf § 823 oder aus dem Charakter des § 992 als Schadensersatzvorschrift, da es dafür genügen würde, daß der für den Schaden unmittelbar kausale Eingriff schuldhaft erfolgte, und nicht erforderlich ist, daß bereits die Besitzergreifung auf Verschulden beruht. Vielmehr kann die Einschränkung des § 992 nur aus der Gleichstellung mit der strafbaren Handlung gefolgert werden: da diese notwendigerweise Verschulden voraussetzt, fordert der Gleichheitssatz dasselbe auch für den vom Gesetz gleichgeordneten Fall der verbotenen Eigenmacht. – Ein ähnliches Beispiel bietet § 339 S. 2 BGB. Die Bestimmung behandelt den Fall, daß sich jemand zu einer bestimmten Unterlassung verpflichtet und daß dafür eine Vertragsstrafe vereinbart wird. Das Gesetz ordnet nun an, daß die Verwirkung der Strafe „mit der Zuwiderhandlung“ eintritt. Über den Wortlaut der Vorschrift hinausgehend ist indessen auch hier zu verlangen, daß der Schuld-
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II 3 c.
Vgl. Enn.-Nipperdey, § 110, Fußn. 3 mit weiteren Nachweisen. Vgl. Staudinger-Berg, § 992, 3; Soergel-Mühl, § 992, 3; Westermann, § 32 IV 2a; Baur, § 11 A
76 Diese Einschränkung überschreitet den Rahmen einer bloßen restriktiven Auslegung, da sie über die Grenzen des möglichen Wortsinnes hinausgeht. Denn durch die Legaldefinition des § 858 I ist der Begriff der verbotenen Eigenmacht eindeutig unabhängig von Verschulden bestimmt. Es hieße die Theorie von der „Relativität“ der Rechtsbegriffe überspannen, wollte man diesem rein juristischen Terminus in § 992 einen anderen Wortsinn zusprechen als in der Legaldefinition des § 858. – Weitere Beispiele solcher „verdeckter Normlücken“ s. unten §§ 79 ff.
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ner die Zuwiderhandlung zu vertreten hat77. Dies ergibt sich aus dem Vergleich mit Satz 1, wo für den Fall, daß ein positives Tun geschuldet ist, die Vertragsstrafe nur bei Verzug verfallen ist, wo es demnach gemäß § 285 ebenfalls darauf ankommt, ob der Schuldner die Leistungsstörung zu vertreten hat. Auch hier ist es also letztlich der Gleichheitssatz, der die Ergänzung des Gesetzes fordert. [82] II. Der negative Gleichheitssatz: teleologische Reduktion als Mittel der Lückenfeststellung § 74 Nicht nur der positive Gleichheitssatz, sondern auch das Gebot, Ungleichartiges verschieden zu behandeln, kann die Ergänzung des Gesetzes fordern und damit als Maßstab zur Feststellung einer Lücke dienen. Dies ist überall dort der Fall, wo das positive Recht die „wertungsmäßig gebotenen Differenzierungen“78 nicht vornimmt, wo also ein Tatbestand zu weit gefaßt ist und eine erforderliche Einschränkung79 vermissen läßt. So bestimmt z. B. § 165 BGB, daß ein beschränkt Geschäftsfähiger ohne weiteres wirksam als Stellvertreter auftreten kann. Soll dies indessen auch dann gelten, wenn er eine OHG vertritt, deren Mitglied er selbst ist? Der Grund für die Vorschrift des § 165 kann nur darin erblickt werden, daß der Stellvertreter aus den von ihm vorgenommenen Rechtsgeschäften nicht selbst verpflichtet wird, und daß er daher des Schutzes der §§ 106 ff. BGB nicht bedarf. Gerade dieser Gedanke trifft jedoch hier nicht zu, da nach § 128 HGB die Mitglieder einer OHG für die Schulden der Gesellschaft auch persönlich haften und der beschränkt Geschäftsfähige daher auf diese Weise durch sein Handeln mittelbar persönlich verpflichtet würde. Die Lage ist also in dem für den Eintritt der Rechtsfolge entscheidenden Punkt anders als in den gewöhnlich unter § 165 zu subsumierenden Fällen, und das Gebot, Ungleiches ungleich zu behandeln, fordert daher, hier einen Ausnahmetatbestand hinzuzufügen und § 165 nicht anzuwenden80. § 75 Hinsichtlich der Zuordnung derartiger Beispiele zum Lückenbereich bedarf es dabei der Abgrenzung in zweifacher Richtung: gegenüber der Rechtsfindung secundum legem und gegenüber der Rechtsfindung contra legem. – Um Rechtsfindung secundum legem handelt es sich deshalb nicht, weil die Grenzen des möglichen Wortsinnes überschritten sind. Bloße „restriktive Auslegung“ stellt z. B. die Unanwendbarkeit des § 120 BGB in den Fällen vorsätzlicher falscher Vgl. Larenz, SR I, § 23 II a mit weiteren Nachweisen. Larenz, ML, S. 296. 79 Häufig wird daher in den hier in Frage stehenden Fällen von „Ausnahmelücken“ u. ä. gesprochen. Vgl. Reichel, Gesetz und Richterspruch, S. 96 und Zur Rechtsquellenlehre, S. 80; Danz, S. 87; Germann, Grundfragen, S. 112; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 65; Noll, S. 2 ff.; Engisch, Rechtslücke, S. 93, Fußn. 32 und Einführung, S. 174; Larenz, ML, S. 284. 80 h. L., vgl. Hueck, OHG-Recht, S. 219 f. mit Nachweisen in Fußn. 85. 77 78
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Übermittlung81 dar, da man bei einschränkender Interpretation schon dem Wortsinne nach sagen kann, hier sei nicht „eine Willenserklärung unrichtig übermittelt“, sondern vielmehr eine neue Erklärung an die Stelle der alten gesetzt worden. Im obigen Beispiel des § 165 jedoch [83] ist eine solche restriktive Auslegung unmöglich: hier wird nicht die Geltung der Vorschrift auf den Kernbereich des Wortsinnes beschränkt, sondern es wird vielmehr aus dem Kernbereich selbst eine Gruppe von Fällen82 herausgenommen83, auf die die Norm keine Anwendung findet. Das aber überschreitet den Rahmen der Rechtsfindung secundum legem84. Andererseits aber handelt es sich auch nicht um Rechtsfindung contra legem. Denn wenn auch scheinbar die Gebote des Gesetzgebers berichtigt werden85, so erfolgt hier die Fortbildung des Rechts doch streng innerhalb der Wertungen des Gesetzes: die in ihrem Wortlaut zu weit gefaßte Norm wird auf den ihr nach der immanenten Teleologie des Gesetzes zukommenden Anwendungsbereich zurückgeführt; kennzeichnend spricht daher Larenz hier von „teleologischer Reduktion“86. Da das Gesetz scheinbar eine Regelung enthält, die Lücke also nicht „offen“ in Erscheinung tritt, handelt es sich in diesen Fällen87 um sogenannte „verdeckte Lücken“88, 89. § 76 Die Feststellung der Lücke erfolgt dabei durch den Nachweis, daß die ratio legis einer Norm auf einen bestimmten Ausnahmetatbestand nicht paßt90. Die Vgl. Staudinger-Coing, § 120, 5 mit weiteren Nachweisen. Es handelt sich also keineswegs um die Unanwendbarkeit einer Norm auf einen Einzelfall, sondern die generalisierende Natur des Rechts zwingt dazu, für eine Gruppe von Fällen einen Sondertatbestand zu schaffen. Vgl. Larenz, ML, S. 297 f. 83 Heck (Gesetzesauslegung, S. 208) spricht in derartigen Fällen daher anschaulich von „Kernberichtigung“ im Gegensatz zur bloßen „Randberichtigung“. Ähnlich unterscheidet Hildebrandt (S. 63) „Wortbeschränkung“ und „Gebotsbeschränkung“. 84 Nipperdey, § 58 II; Lehmann, § 8 III 5; Larenz, ML, S. 296; anders Noll, S. 2 ff. 85 Von „Gebotsberichtigung“ oder „abändernder Rechtsfindung“ sprechen daher Heck, Gesetzesauslegung, S. 201; Staudinger-Brändl, Anm. 54 vor § 1; Lehmann, § 8 III 5; Nipperdey, § 59. Es wird jedoch allseits anerkannt, daß es sich nur scheinbar um Contra-legem-Judizieren handelt. Vgl. Reichel, Zur Rechtsquellenlehre, S. 80; Heck, a.a.O., S. 224 und Begriffsbildung, S. 107; Wüstendörfer, S. 333; Hildebrandt, S. 63; Germann, Grundfragen, S. 112; Staudinger-Brändl, a.a.O.; Engisch, Einführung, S. 175; für das französische Recht vgl. Perreau I, S. 349 ff.; anders nur Weigelin, S. 27; sehr mißverständlich Bender, Methode der Auslegung, S. 599. 86 ML, S. 296 ff.; Nipperdey und Lehmann (a.a.O.) sprechen von „Restriktion“. 87 Aber nicht nur in diesen Fällen! Andere Beispiele verdeckter Lücken s. oben § 73 und unten § 80. 88 Den Terminus verwendet erstmalig Reichel, Zur Rechtsquellenlehre, S. 80. Ebenso Tuor, S. 36, Nr. 3; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 62; Larenz, ML, S. 284 und 296 ff.; Dahm, S. 50, Näheres vgl. unten § 128. 89 Diese Terminologie kennzeichnet besser als der Ausdruck „abändernde Rechtsfindung“ u. ä., daß es sich hier um Ergänzung des Gesetzes praeter legem, nicht um Berichtigung contra legem handelt. 90 Es handelt sich hier also um ein Gegenstück der Analogie: dort paßt die ratio legis auch auf einen vom Gesetzeswortlaut nicht gedeckten Fall, hier paßt sie nicht für einen vom Wort81 82
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telelologische Reduktion ist daher ein Mittel [84] der Lückenfeststellung91. Denn nur wenn die für den Eintritt der Rechtsfolge maßgeblichen Merkmale nicht zutreffen, ist der Schluß gerechtfertigt, daß es sich vom Standpunkt des geltenden Rechts aus um ungleichartige Fälle handelt, und nur dann fordert der – für sich allein rein formale und „leere“ – negative Gleichheitssatz eine verschiedene rechtliche Regelung. Ebenso wie die Analogie dient also die teleologische Reduktion dazu zu entscheiden, ob ein empfundener Mangel des Gesetzes ein Fehler oder eine Lücke ist. § 77 Das Gesagte wird durch die praktischen Beispiele bestätigt. Zunächst sei noch einmal auf den bereits erörterten Fall des Kindes aus einer bigamischen Ehe zurückgegriffen. § 1600 n. F. ordnet an, daß ein Kind einer Frau, ,,die eine zweite Ehe geschlossen hat“, als Kind des zweiten Mannes gilt, sofern es nach den §§ 1591, 1592 eheliches Kind sowohl des ersten als auch des zweiten Ehemannes wäre. Diese Regelung ist durchaus sinnvoll für den Normalfall des § 1600, daß eine Frau unmittelbar nach Nichtigerklärung, Auflösung oder Scheidung ihrer ersten Ehe wieder heiratet und nun ein Kind gebiert; denn hier hat die zweite Ehe Bestand, und die Regelung des § 1600 gewährleistet daher, daß das Kind in der fortbestehenden Ehe verbleibt. Anders dagegen im Falle der Bigamie: zwar trifft auch hier der Wortlaut des § 1600 zu92, da die Frau „eine zweite Ehe geschlossen hat“ und das Gesetz die Gültigkeit dieser Ehe nicht verlangt. Doch ist die Sachlage [85] im übrigen wesentlich anders als in den zuerst erwähnten Fällen: hier bleibt nicht die zweite, sondern die erste Ehe erhalten. Wollte man § 1600 dennoch anwenden und das Kind daher als eheliches Kind des zweiten Mannes ansehen, so würde es gerade nicht in der ehelichen Gemeinschaft bleiben, sondern – sinn an sich umfaßten Ausnahmetatbestand. Dahm, 1. Aufl., S. 62 spricht daher von „Gegenanalogie“. Vgl. ferner Larenz, ML, S. 296. 91 Zu der Frage, inwieweit sie gleichzeitig der Lückenausfüllung dient, vgl. unten §§ 145 ff. Larenz (ML, S. 296) erwähnt die teleologische Reduktion nur im Zusammenhang der Lückenausfüllung, weist jedoch (S. 298) zutreffend auf die Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung hin. Freilich liegt diese nicht ausnahmslos vor (vgl. dazu unten § 146). 92 § 1600 wurde ausdrücklich geändert, um die Bigamiefälle erfassen zu können. Vgl. die amtliche Begründung des Gesetzes (Verhandlungen des deutschen Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 530, S. 17 f.). In den Verhandlungen des Rechtsausschusses wurden die im Entwurf vorgesehenen Worte „von einer Frau, die sich wiederverheiratet hat“ durch „von einer Frau, die eine zweite Ehe geschlossen hat“ ersetzt; dies geschah, um klarzustellen, daß die zweite Ehe nicht gültig zu sein braucht, daß also auch der Fall der Bigamie von der Vorschrift erfaßt werden soll (vgl. S. 23 des stenographischen Protokolls der 2. Sitzung des Unterausschusses „Familienrechtsänderungsgesetz“ sowie S. 5, Sp. 1 des Schriftlichen Berichts des Rechtsausschusses zur Drucksache 2812). Nach der hier zugrunde gelegten „objektiven Auslegungstheorie“ (vgl. oben Kap. I, Fußn. 100) kann den Materialien jedoch keine bindende Kraft, sondern allenfalls die Bedeutung eines Indizes zugesprochen werden (vgl. dazu statt aller Larenz, ML, S. 247 ff.); läßt sich nachweisen, daß der historische Gesetzgeber die Problematik des Falles nicht voll übersehen hat, daß ihm also ein „Anschauungsfehler“ unterlaufen ist, so muß auch ein gänzlich eindeutiges Ergebnis der historischen Interpretation gegenüber der „vernünftigen“ Auslegung auf Grund objektiv-teleologischer Kriterien zurücktreten.
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als Kind aus einer nichtigen Ehe – gemäß § 1671 VI BGB nach Scheidungsregeln dem einen oder dem anderen Ehegatten zugesprochen; auch würde es auf jeden Fall einen anderen Namen als seine Mutter tragen, da diese ja den Namen des ersten Mannes behält. Der Fall der Bigamie weicht also in seinen Rechtsfolgen von den übrigen unter § 1600 zu subsumierenden Tatbeständen erheblich ab, und es liegt daher nahe, auf Grund des negativen Gleichheitssatzes eine verschiedene Behandlung zu fordern und somit eine Lücke anzunehmen. Indessen fragt sich, ob die Ungleichheit der beiden Fälle eine solche auch vom Standpunkt des geltenden Rechts ist, mit anderen Worten, was als ratio legis des § 1600 anzusehen ist. Dabei bietet sich zunächst der bereits angedeutete Gedanke an, Sinn der Vorschrift könne nur sein, das Kind grundsätzlich – d. h. für den Fall, daß die Ehelichkeit nicht wirksam angefochten wird, – in der fortbestehenden Ehe zu belassen und ihm das Schicksal der Kinder aus geschiedenen Ehen möglichst zu ersparen. Ist dies tatsächlich die ratio legis, so ist für den Fall der Bigamie eine teleologische Reduktion geboten, da hier die Anwendung des § 1600 dieses Ziel gerade vereiteln würde und daher wesentlich ungleiche Tatbestände vorlägen. In der Literatur wird jedoch eine andere Auslegung des § 1600 gegeben: er spreche das Kind dem zweiten Manne deshalb zu, weil es nach der allgemeinen Lebenserfahrung wahrscheinlicher sei, daß er der biologische Vater ist93. Sollte dies die ratio legis sein, so mag die Unterordnung der Bigamie unter § 1600 zwar rechtspolitisch höchst unerfreulich sein, zur Annahme einer verdeckten Lücke aber besteht dann keine Berechtigung mehr; denn hinsichtlich der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft liegt der Bigamiefall nicht wesentlich anders als die Fälle der Nichtigerklärung, Auflösung oder Scheidung einer Ehe, und vom Standpunkt des geltenden Rechts aus ist dann keine wesentliche Verschiedenheit mehr gegeben94. – Methodisch zeigt das Beispiel mit ein- [86] drucksvoller Klarheit, daß der Beweis der Verschiedenheit und damit die Feststellung der verdeckten Lücke die genaue 93 Palandt-Lauterbach, § 1600, 1; Beitzke, § 24 I 6 a. E.; Massfeller, StAZ 1956, S. 258; vgl. auch die amtliche Begründung des Entwurfs, a.a.O., S. 18. 94 Ob die ratio des § 1600 wirklich darin zu sehen ist, daß für die Vaterschaft des zweiten Ehemannes die höhere Wahrscheinlichkeit spricht, hängt davon ab, ob § 1600 auch die Fälle erfassen will, in denen die Frau in der einrechnungsfähigen Zeit nur mit einem Ehemanne verkehrt hat, in denen das Kind also nur wegen des Klageerfordernisses des § 1593, nicht aber nach §§ 1591 f. als ehelich gilt. Denn nach der allgemeinen Lebenserfahrung wird sie regelmäßig nur mit dem zweiten Manne verkehrt haben, und die entsprechende Auslegung ist dann zutreffend. Indessen dürfte § 1600 auf diese Fälle gar nicht anwendbar sein, da das Kind dann nicht nach §§ 1591, 1592 als Kind des ersten Mannes gilt, – was § 1600 ausdrücklich voraussetzt sondern nur nach § 1593, – den § 1600 gerade nicht erwähnt –; außerdem läßt sich dieser Fall ohne weiteres durch eine einfache teleologische Reduktion des § 1593 lösen (s. o. § 61 zu Fußn. 39), so daß es der Kollisionsvorschrift des § 1600 gar nicht bedarf. Meint § 1600 aber demnach nur die Fälle, in denen die Mutter in der einrechnungsfähigen Zeit mit beiden Männern verkehrt hat, so ist nicht einzusehen, warum die größere Wahrscheinlichkeit stets für die biologische Vaterschaft des zweiten Mannes sprechen soll. Dann aber kann § 1600 nur in dem oben erwähnten ersten Sinne zu deuten sein, und die teleologische Reduktion ist zulässig.
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Ermittlung der ratio legis voraussetzt; nur wo diese nicht zutrifft, kann von einer planwidrigen Unvollständigkeit die Rede sein: die teleologische Reduktion dient zur Feststellung der Lücke und zur Abgrenzung gegenüber bloßen rechtspolitischen Fehlern. Weitere Beispiele lassen sich leicht anfügen. Nur kurz sei hier auf einige Entscheidungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung verwiesen. Schon das RG hat in einer Reihe von Fällen mit dem Mittel der teleologischen Reduktion gearbeitet, wenn es in der Regel auch nur von restriktiver Auslegung sprach. So hat es schon verhältnismäßig früh § 67 IV HGB entgegen seinem klaren Wortlaut für unanwendbar erklärt, wenn die Kündigungsfrist zugunsten des Handlungsgehilfen verlängert wurde95; zur Begründung führte es aus, die Vorschrift des § 67 bezwecke nur den Schutz des sozial Schwächeren und greife daher nicht ein, wo ein solcher Schutz nicht erforderlich sei. Im gleichen Bande hat das RG entschieden, § 437 BGB sei nicht anwendbar, wenn das Bestehen des verkauften „Rechtes“ objektiv unmöglich ist96; denn in diesem Falle hätte der Käufer ebensogut wie der Verkäufer das Nichtbestehen des Rechtes erkennen können und sein Vertrauen in die Zusicherung des anderen Teils, auf die er hier nicht angewiesen ist, verdient daher – anders als im Normalfall des § 437, wo ein nur in concreto nicht bestehendes Recht verkauft ist – nicht den erhöhten Schutz des § 437. Ähnlich hat das RG in ständiger Rechtsprechung die Anwendung des § 892 BGB entgegen seinem Wortlaut auf die sogenannten „Verkehrsgeschäfte“ beschränkt, weil nur in diesen Fällen der Sinn der Vorschrift, den redlichen rechtsgeschäftlichen Verkehr zu schützen, erfüllt sei97. Daher hat es § 892 z. B. nicht angewandt, wenn eine juristische Person ein Grundstück an ihren einzigen Gesellschafter überträgt. – Schließlich sei noch an die Rechtsprechung des RG zum Fremdbesitzerexzess erinnert: entgegen § 993 I HS 2 hat es hier § 823 für [87] unmittelbar anwendbar erklärt98, weil der Fremdbesitzer bei einer Überschreitung seines Besitzrechtes nicht auf Grund einer vermeintlichen Befugnis handelt und daher die inneren Voraussetzungen des Schutzes der §§ 987 ff. nicht vorliegen. – In allen diesen Fällen geschieht dabei die Abgrenzung von Fehler und Lücke durch den Nachweis, daß die ratio legis der Vorschrift auf einen bestimmten Sondertatbestand nicht zutrifft. § 78 Abschließend muß darauf hingewiesen werden, daß sich mitunter nicht scharf trennen läßt, ob die Lückenfeststellung im Wege der Analogie oder der teleologischen Reduktion erfolgt99. Hierher gehören zunächst die Fälle, in denen bei einer Vorschrift ein nach der ratio legis erforderlicher Ausnahmetatbestand RGZ 68, 317 ff. RGZ 68, 292 ff.; 90, 240 ff. (244 f.). 97 RGZ 117, 257 (265 f.); 119, 126 (128 ff.); 126, 46 (48 ff.); 129, 119 (121); 136, 148 (150). 98 RGZ 101, 307 (310); 106, 149 (152); 157, 132 (135). 99 Vgl. auch Heck, Gesetzesauslegung, S. 211; Hildebrandt, S. 77; Larenz, ML, S. 284 f. 95 96
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fehlt, während er in einem anderen, gleichgelagerten Fall vom Gesetz vorgesehen ist. Als Beispiel sei § 111 BGB herangezogen. Danach ist ein von einem beschränkt Geschäftsfähigen vorgenommenes einseitiges Rechtsgeschäft unheilbar nichtig, wenn die erforderliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters fehlt. Soll dies aber auch dann gelten, wenn der andere Teil ausdrücklich mit dem Fehlen der Einwilligung einverstanden ist? Die Frage ist nach dem Sinn des § 111 zu verneinen, da die Vorschrift nur den Schutz des Erklärungsgegners bezweckt, – der sich gegen die einseitige Erklärung nicht wehren kann –, dieser aber hier eines solchen Schutzes nicht bedarf100. Es liegt also eine teleologische Reduktion vor. Das gleiche Ergebnis läßt sich aber auch durch die analoge Anwendung des § 180 Satz 2 erzielen der für den Fall der Vertretung ohne Vertretungsmacht in Satz 1 eine dem § 111 entsprechende Regelung enthält, in Satz 2 aber eine Ausnahme vorsieht, wenn der andere Teil mit dem Handeln ohne Vollmacht einverstanden war. – Weiterhin gehören in diesen Zusammenhang die Fälle, in denen die Einschränkung einer Vorschrift durch die ratio legis einer anderen Norm geboten ist. Auch sie will Larenz101 dem Gebiete der teleologischen Reduktion zurechnen. Ebenso könnte man aber auch die Norm, durch deren Sinn die Einschränkung geboten ist, analog oder im Wege der teleologischen Extension102 anwenden mit der Folge, daß der so gewonnene Rechtssatz dann der einzuschränkenden Vorschrift als lex specialis vorginge. So liegt es in dem von Larenz gegebenen Beispiel der Formbedürftigkeit gewisser Vorverträge besonders nahe, von Analogie zu den Vorschriften über die Hauptverträge und nicht von tele- [88] ologischer Reduktion des Grundsatzes der Formfreiheit zu sprechen. – Ein weiteres anschauliches Beispiel dieser Art bietet etwa die grundsätzliche Unanwendbarkeit des § 128 HGB auf Ansprüche der Gesellschafter gegen die OHG aus sogenannten „Sozialverpflichtungen“, weil sonst der Ausschluß einer Nachschußpflicht nach §§ 105 II HGB, 707 BGB umgangen würde103, 104 Mögen sich daher auch mancherlei Überschneidungen zwischen den beiden Mitteln der Lückenfeststellung ergeben, so ändert dies doch nichts daran, daß sie grundsätzlich zu trennen sind. Denn für die überwiegende Zahl der Fälle lassen sich die methodischen Vorgänge scharf voneinander unterscheiden.
Vgl. Staudinger-Coing, § 111, 4. ML, S. 296 ff. 102 Zum Begriff vgl. sogleich § 81. 103 Vgl. z. B. Hueck, OHG-Recht, S. 193 f. Hier dürfte es sich um eine „teleologische Extension“ handeln. 104 Weitere Beispiele s. bei Larenz. a.a.O. 100 101
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III. Die ratio legis unmittelbar § 79 Für die bisher beschriebenen Beispiele war charakteristisch, daß die Wertungen des Gesetzes immer nur in Verbindung mit dem Gleichheitssatz eine Rolle spielten: eine Vorschrift wurde wegen Rechtsähnlichkeit durch die Gleichstellung einer Fallgruppe ergänzt oder wegen ihrer rechtlichen Verschiedenheit durch die Ausklammerung eines Sondertatbestandes eingeschränkt. Indessen gibt es auch Fälle, in denen die ratio legis unmittelbar die Ergänzung einer Norm fordert, weil ihr Wortlaut gemessen an ihrem Zweck in sich zu weit oder zu eng ist und daher der Korrektur bedarf105. A. Teleologische Reduktion als Mittel der Lückenfeststellung § 80 Hierher gehört etwa folgender, mit den zuletzt erörterten Beispielen eng verwandter Fall: Nach § 817 Satz 1 BGB ist der Empfänger einer Leistung zur Herausgabe verpflichtet, wenn er „durch die Annahme gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten verstoßen hat“. Nach Satz 2 ist die Rückforderung jedoch ausgeschlossen, wenn „dem Leistenden gleichfalls ein solcher Verstoß zur Last fällt“. Der Sinn des Satz 2 ist nun darin zu erblicken, daß sich der Leistende außerhalb der Rechtsordnung gestellt hat und daher für seine Rückforderung nicht deren Schutz beanspruchen kann106. Dies aber führt zu der Folgerung, daß für den Ausschluß des Anspruchs gemäß Satz 2 [89] persönliche Vorwerfbarkeit des Handelns zu fordern ist, weil mir dann die Versagung des Rechtsschutzes gerechtfertigt erscheint107. § 817 Satz 2 bedarf also der Ergänzung durch die Worte „in vorwerfbarer Weise“. Damit aber ist der mögliche Wortsinn überschritten, da das Gesetz von „einem solchen Verstoß“ spricht und damit auf Satz 1 verweist, der richtiger Ansicht nach gerade kein Verschulden voraussetzt108. Es handelt sich also um eine Lücke. Mit den zuletzt erörterten Beispielen hat der Fall dabei gemeinsam, daß es sich um die Einschränkung einer Norm handelt: es liegt eine „verdeckte“ Lücke vor. Der charakteristische Unterschied aber ist darin zu sehen, daß hier nicht ein Ausnahmetatbestand hinzugefügt wird, – während die Vorschrift im übrigen unverändert bleibt, – sondern daß § 817 Satz 2 für seinen gesamten Anwendungsbereich eingeschränkt wird: die Norm ist in sich 105 Diese Fälle wurden – soweit ersichtlich – in ihrer Eigenart bisher in der Literatur nicht erkannt und dargestellt. 106 Vgl. von Caemmerer, SJZ 50, S. 649; Larenz, SR II, § 63 III b. 107 Vgl. Larenz, a.a.O. (S. 366). 108 Enneccerus-Lehmann, § 226, 2b; Esser, § 193, 3; Larenz, SR II, § 63 III a a. E. Der Grund dafür ist darin zu erblicken, daß § 817, Satz 1 schon eine objektiv vom Recht mißbilligte Vermögensverschiebung rückgängig machen will.
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unvollständig, es liegt eine „Normlücke“109 vor. Die Feststellung der Lücke erfolgt dabei ohne Heranziehung des Gleichheitssatzes, da nicht zwei verschiedene Fälle miteinander verglichen werden; vielmehr fordert hier die ratio legis unmittelbar die Einschränkung der Norm, weil deren Wortlaut gemessen an ihrem Zweck zu weit ist. Auch hier liegt also eine „teleologische Reduktion“ vor, d. h. eine Beschränkung des Gebotes auf den ihm nach dem Sinngehalt der Vorschrift zukommenden Anwendungsbereich. Wieder sind dabei die für die Feststellung der Lücke entscheidenden Erwägungen zugleich maßgeblich für ihre Ausfüllung, ja, beides ist ein und derselbe Vorgang. – Ähnliche Beispiele finden sich – hat man erst einmal die Eigenart dieser Fälle erkannt – nicht selten. So ist etwa § 25 II HGB durch die Hinzufügung des Merkmals „unverzüglich nach der Geschäftsübernahme“ zu ergänzen, da er sonst seinen Zweck, den redlichen Geschäftsverkehr zu schützen, nicht erfüllen könnte110. B. Teleologische Extension als Mittel der Lückenfeststellung § 81 Der Wortlaut einer Vorschrift kann jedoch auch zu eng gegenüber ihrem Sinn sein. Dann fordert die ratio legis die Erweiterung der Norm. Als Beispiel sei § 49 II HGB herangezogen: danach ist ein Prokurist zur „Veräußerung und Belastung von Grundstücken“ nicht ermächtigt. Unter Veräußerung ist nach dem Sprachgebrauch des [90] Gesetzes jedoch nur das dingliche Übertragungsgeschäft zu verstehen. Soll die Vorschrift ihren Zweck erfüllen, so bedarf es indessen ihrer Ausdehnung auch auf das obligatorische Verpflichtungsgeschäft111; denn anderenfalls könnte der Dritte aus diesem gegen den Geschäftsherrn klagen und so die Übertragung erzwingen. Hier fordert die ratio legis also die Erweiterung der Norm; man könnte daher – als Gegenbegriff zu dem von Larenz geprägten Terminus der teleologischen Reduktion – von „teleologischer Extension“ sprechen112, 113. Dabei bestehen klare Unterschiede zur Analogie: § 49 II wird ausgedehnt, nicht weil die Verpflichtung der Verfügung rechtsähnlich wäre, sondern weil die Vorschrift sonst ihren Zweck nicht erreichen könnte; nicht ein zweiter Fall wird gleichgestellt, sondern § 49 II wird für seinen unmittelbaren Anwendungsbereich Vgl. im übrigen dazu unten § 129. Vgl. z. B. Schlegelberger-Hildebrandt, § 25, 18; Baumbach-Duden, § 25, 3b; BGHZ 29, 2. 111 Vgl. z. B. Schlegelberger-Hildebrandt, § 49, 6. 112 Auch diese Fälle werden in der Literatur nirgends als besondere Gruppe von Lückenbeispielen herausgestellt. 113 Dieses Verfahren findet sich auch besonders häufig bei der Feststellung und Ausfüllung von Vertragslücken. Vgl. etwa das Beispiel von Larenz (NJW 63, S. 738 f.), bei dem zwei Ärzte eine Praxis tauschen und wo der BGH (BGHZ 16, S. 71) im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung ein Rückkehrverbot annahm: nur der Zweck des Vertrages – ohne jeden Rückgriff auf einen Analogieschluß – fordert diese Ausdehnung. 109 110
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ausgedehnt. Nicht der Gleichheitssatz, sondern allein die ratio legis fordert die Ergänzung des Gesetzes. Wollte man bei dieser Sachlage noch von Analogie, also einem Ähnlichkeitsschluß, sprechen, so würde man der Problematik des Falles nicht gerecht, oder aber man müßte den Begriff der Analogie sprengen. Im Interesse der Methodenehrlichkeit ist es daher vorzuziehen, klar herauszustellen, daß hier nicht mehr mit dem Kriterium der Rechtsähnlichkeit, sondern unmittelbar mit der ratio legis gearbeitet wird, und dementsprechend den methodischen Vorgang auch terminologisch deutlich von der Analogie abzugrenzen. § 82 Ein weiteres Beispiel dieser Art bietet ein Urteil des BGH zu § 844 II BGB. Nach dieser Vorschrift hat im Falle der Tötung der Schädiger der unterhaltsberechtigten Witwe während der mutmaßlichen Dauer des Lebens ihres Mannes eine Rente zu zahlen. Der BGH114 hat ihr diesen Anspruch nun auch für die Jahre nach dem mutmaßlichen Zeitpunkt des Todes gewährt, falls sie infolge des vorzeitigen Ablebens ihres Ehemannes keine Witwenrente aus der Rentenversicherung erhält. Der BGH war sich dabei bewußt, daß damit der mögliche Wortsinn des § 844 II eindeutig überschritten ist; denn die Witwe hat nach der gesetzlichen Regelung nicht die Möglichkeit, sich die Witwenrente durch eigene Fortzahlung der Beiträge zu sichern, und daher kommt nicht etwa lediglich eine Erhöhung ihres Anspruchs gegen den [91] Schädiger entsprechend den zu entrichtenden Beiträgen in Frage, sondern nur eine echte Verlängerung der Zahlungspflicht über den in § 844 II genannten Zeitpunkt hinaus. Damit ist der Bereich der bloßen Auslegung zweifellos überschritten; andererseits handelt es sich aber auch nicht um eine Analogie115, da nicht etwa eine „Ähnlichkeit“ der Zeit vor und nach dem mutmaßlichen Tode des Ehemannes vorliegt. Vielmehr fordert allein der Zweck des § 844 unabhängig von jeder Analogie die Ausdehnung der Ersatzpflicht: die Witwe soll unterhaltsmäßig so gestellt werden, wie sie ohne den vorzeitigen Tod ihres Mannes stünde; da dieser ihr bei längerer Lebensdauer durch die Fortzahlung der Beiträge eine Rente auch für die Zeit nach seinem mutmaßlichen Lebensende gesichert hätte, ist bei folgerichtiger Durchführung des Gesetzeszweckes der Schädiger auch zum Ausgleich dieses Schadens verpflichtet. Nur die ratio legis fordert also hier die Ergänzung des § 844 II, dessen Wortsinn gegenüber seinem Zweck zu eng ist, und dies bedeutet methodisch, daß einer der hier als teleologische Extension bezeichneten Fälle vorliegt. In diesen Zusammenhang dürfte schließlich ein Teil der Fälle gehören, in denen Vorschriften aus dem Vertragsrecht auf Ansprüche aus unerlaubter Handlung übertragen werden. So ist etwa die 6monatige Verjährungsfrist des § 558 BGB für Ersatzansprüche des Vermieters wegen Veränderungen oder VerBGHZ 32, S. 246. Dies wird interessanterweise von Larenz, Interpretation, S. 398 ff. (400) ausdrücklich hervorgehoben, ohne daß freilich der Fall terminologisch als Beispiel eines eigenständigen methodischen Vorganges gekennzeichnet wird. 114 115
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schlechterungen der Mietsache auch auf die Rechte aus den §§ 823 ff. auszudehnen116. Der Grund hierfür liegt nicht in einer – wohl kaum im einzelnen nachzuweisenden – Rechtsähnlichkeit zwischen Vertrag und Delikt, sondern darin, daß die ganz überwiegende Mehrzahl der von § 558 erfaßten Fälle zugleich Tatbestände der §§ 823 ff. darstellt und daß daher die kurze Frist des § 558 wegen der 3jährigen Frist des § 852 ihren Zweck nicht erreichen könnte und praktisch bedeutungslos würde. Nicht ein Ähnlichkeitsschluß in Verbindung mit dem Gleichheitssatz, sondern allein Sinn und Zweck des § 558 fordern also die Ergänzung des Gesetzes, – nicht Analogie, sondern teleologische Extension liegt daher methodisch gesehen vor. C. Teleologische Umbildung als Mittel der Lückenfeststellung § 83 Abschließend seien noch zwei eigentümliche Mischfälle erwähnt. Nach § 369 HGB besteht das kaufmännische Zurückbehaltungsrecht nur für Forderungen, die aus „zwischen“ den beiden Kaufleuten „geschlos- [92] senen beiderseitigen Handelsgeschäften“ stammen. Danach würde jeder Gläubiger- oder Schuldnerwechsel (z. B. durch Erbfall) das Recht zerstören. Dies kann indessen nicht der Wille des Gesetzes sein. Sinn der Einschränkung ist vielmehr nur, den Schuldner vor arglistigen Zessionen nicht gesicherter Gläubiger an solche, die im Besitze eines dem Zurückbehaltungsrecht unterliegenden Gegenstandes sind, zu schützen. Ein Schuldnerwechsel kann folglich den Bestand des Rechts nie berühren und ein Gläubigerwechsel jedenfalls dann nicht, wenn der Schuldner davon Kenntnis hat und dennoch dem neuen Gläubiger eine Sache überläßt117. Soll der Anwendungsbereich der Vorschrift daher ihrem Zweck entsprechen, so ist statt ,,aus den zwischen ihnen geschlossenen beiderseitigen Handelsgeschäften“ etwa zu lesen: „aus den beiderseitigen Handelsgeschäften, sofern nicht der Gläubiger die Forderung nach der Erlangung des Besitzes oder ohne Kenntnis des Schuldners vor derselben von einem Dritten erworben hat“. Der Wortlaut des Gesetzes bedarf hier also einer erheblichen Korrektur, und doch handelt es sich zweifelsfrei noch um Rechtsfindung praeter legem, da die Abänderung der Vorschrift sich streng im Rahmen der Wertungen des Gesetzes hält. Terminologisch wird man einen derartigen Vorgang am besten als „teleologische Umbildung“ bezeichnen. – In diesen Zusammenhang dürfte beispielsweise auch die Korrektur gehören, die ein Teil des Schrifttums an § 831 BGB vorgenommen hat. Entgegen dem Wortlaut der Vorschrift, doch ihrem Sinn entsprechend, ist danach objektive Widerrechtlichkeit allein dann ausreichend, wenn ein innerer Zusammenhang zwischen 116 117
Vgl. z. B. Larenz, SR II, § 44 VI f. und § 69 VI a. E. Vgl. Gierke, § 58 II 1 a; Schlegelberger-Hefermehl, § 369, Anm. 11 f.
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dem Auswahlverschulden des Geschäftsherrn und dem fehlenden Verschulden des Gehilfen besteht, nicht aber auch dann, wenn sich ein ordnungsgemäß ausgewählter Gehilfe in derselben Lage genauso verhalten hätte (ohne daß ihn ein Vorwurf träfe)118. [93] Dritter Abschnitt Allgemeine Rechtsprinzipien und Rechtswerte I. Allgemeine Rechtsprinzipien § 84 Daß den sogenannten allgemeinen Rechtsprinzipien, Rechtsgrundsätzen, Rechtssprichwörtern, Maximen usw. eine entscheidende Rolle bei der Fortbildung des Rechts zukommt, ist heute allgemein anerkannt119; nicht selten verweist sogar das Gesetz den Richter für die Ausfüllung von Lücken ausdrücklich auf sie120. Dabei werden aber auch sie ausnahmslos nur als Mittel der Ergänzung des positiven Rechts angesehen121; indessen dienen sie, wie bereits oben122 angedeutet wurde und wie nunmehr näher ausgeführt werden soll, in einer Reihe von als Lückenbeispielen anerkannten Fällen auch als Wertmaßstab für die Ermittlung der Ergänzungsbedürftigkeit des Gesetzes. Denn auch sie sind ein Bestandteil der Gesamtrechtsordnung, und diese ist oben als das entscheidende Kriterium für die Feststellung einer Lücke herausgearbeitet worden. Was schon für Analogie und teleologische Reduktion nachgewiesen wurde, gilt also – obgleich in etwas anderer Weise123 – auch für die allgemeinen Rechtsprinzipien: [94] sie sind nicht nur Mittel der Lückenausfüllung, sondern auch bereits Maßstab der Lückenfeststellung. Vgl. von Caemmerer, JT-Festschrift, S. 123; Stoll, JZ 58, S. 137 ff.; Wieacker, JZ 57, S. 535. Aus dem Schrifttum vgl. vor allem: Perreau I, S. 148 ff.; Fabreguettes, S. 194 ff.; Boulanger, Principes généraux, S. 51 ff. und Etudes sur le rôle du juge, S. 68 ff.; Ripert, Forces créatrices, S. 325 ff.; Du Pasquier, Lacunes, S. 36 ff.; Spiro, Gerichtsgebrauch, S. 137 ff. und ZSR 69 (NF), S. 121 ff.; Simonius, ZSR 71 (NF), S. 237 ff.; Esser, Grundsatz u. Norm; Larenz, Wegweiser, S. 299 ff. und ML, S. 314 ff.; H.-J. Wolff, Jellinek-Festschrift, S. 33 ff.; Wieacker, Gesetz und Richter; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffern 401 ff.; Gilliard, ZSR 81 (NF), S. 191 ff. 120 Vgl. z. B. § 7 österr. ABGB; Art. 12 ital. c. c. 121 Vgl. z. L. Egger, Anm. 39; Goldschmidt, S. 160; Schäle, S. 408; Schack, S. 275 ff. (vgl. den Titel: Analogie und Verwendung allgemeiner Rechtsgedanken bei der Ausfüllung von Lücken), insbesondere S. 284; Boulanger, Principes généraux, S. 64; Dahm, S. 53; Staudinger-Brändl, Anm. 72 vor § 1; Engisch, Rechtslücke, S. 88 und Einführung, S. 137 und 152; Nipperdey, § 58 II; Friedrich, S. 445; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 94 f., 110 f., 164, 201 und Kommentar, Randziffer 352. 122 § 28 und § 49. 123 Der Unterschied liegt vor allem in dem Verhältnis von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung. Während bei Analogie und teleologischer Reduktion mit der Feststellung der Lücke 118 119
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§ 85 Allerdings kommt hierfür keinesfalls die Fülle aller der Rechtsgedanken in Betracht, die man unter dem weiten und wenig genauen Begriff der allgemeinen Rechtsprinzipien zusammenzufassen pflegt. Vielmehr gilt es für die Problematik der Lückenfeststellung unter mehreren Gesichtspunkten Abgrenzungen vorzunehmen. Auszuscheiden sind zunächst jene allgemeinen Grundsätze, die als solche bereits rechts-satzmäßigen Charakter haben124 und unter die sich daher in der Regel unmittelbar subsumieren läßt. Allerdings sind die Übergänge zu den „vorpositiven“ Prinzipien125 fließend. Auch ist nicht auszuschließen, daß ein Grundsatz, dem der normative Charakter nicht abzusprechen ist, im positiven Recht nur eine unvollkommene Ausgestaltung gefunden hat und zu seiner vollen Verwirklichung der Ergänzung durch eine technische Einzelregelung bedarf126; in derartigen Fällen fordert dann der Grundsatz die Ergänzung des Gesetzes und dient damit als Mittel der Lückenfeststellung. Soweit jedoch die Möglichkeit unmittelbarer Subsumtion besteht, scheidet die Annahme einer Lücke aus; denn ein solcher normativer Grundsatz gehört, auch wenn er – wie im Regelfall – ungeschrieben ist, dem positiven Recht an, und daher kann von einer Unvollständigkeit im Sinne des Lückenbegriffs keine Rede sein. Als Beispiele dieser Art seien etwa erwähnt die Grundsätze „pacta sunt servanda“, „nulla poena sine lege“, die Formfreiheit schuldrechtlicher Verträge, die Testierfreiheit127 oder die Grundsätze der „Verhältnismäßigkeit“ und der „Angemessenheit“ im Verwaltungsrecht. § 86 Nach der Trennung von normativem Grundsatz und vorpositivem Prinzip ist in diesem Zusammenhang weiterhin zu erwägen die Unterscheidung innerhalb der Prinzipien zwischen solchen lediglich [95] rechtstechnischer Art128 und regelmäßig auch unmittelbar ihre Ausfüllung erfolgt, weisen die allgemeinen Rechtsprinzipien nur die Richtung für die Ausfüllung, enthalten aber keine unmittelbar anwendbare Lösung, sondern bedürfen noch der „Konkretisierung“. Vgl. dazu eingehend unten §§ 153 ff. 124 Der Unterschied von Norm und nicht-rechtssatzmäßigem Prinzip wird allgemein betont. Vgl. z. B. Boulanger, Principes généraux, S. 55 f. („règles juridiques“ und „principes généraux“); Simonius, S. 241; Esser, Grundsatz und Norm, insbesondere S. 50 f. und S. 131 ff.; Betti, Rechtsfortbildung, S. 394; Larenz, Wegweiser, S. 300 f. und ML, S. 131 („Grundsatz“ und „Prinzip“); anders Ripert, Recueil des Cours, S. 575 („Le principe est règle...“); wie die h. L. jedoch Forces créatrices, S. 330. 125 In der terminologischen Unterscheidung von Grundsatz und Prinzip wird hier Larenz, Wegweiser, a.a.O., gefolgt. – Zu den verschiedenen sprachlichen Verwendungsmöglichkeiten des Wortes „Prinzip“ vgl. Boulanger, Principes généraux, S. 52 ff. 126 Als Beispiele dieser Art kann man vor allem verfassungsrechtliche Grundsätze anführen, soweit diese zu ihrer vollen Verwirklichung einer Durchführungsregelung auf der Ebene des einfachen Gesetzes bedürfen und eine solche im geschriebenen Recht fehlt. 127 Vgl. die Beispiele von Larenz, a.a.O. 128 Die Eigenart der rechtstechnischen Prinzipien wird vor allem im französischen Schrifttum betont. Vgl. Gény, Science et technique III, S. 45 ff.; Boulanger, Principes généraux, S. 60 und Etudes, S. 70; Roubier, Théorie générale, S. 86 ff.; ferner: Simonius, S. 243 f.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 91 und öfter. Esser betont mit Recht die Relativität dieser Unterscheidung (a.a.O., S. 153 f.).
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solchen, die rechtsethischen Charakter haben. Indessen trifft es entgegen dem in der Erstauflage vertretenen Standpunkt nicht zu, daß die rechtstechnischen Prinzipien als Mittel der Lückenfeststellung von vornherein nicht in Betracht kommen. Auch sie verkörpern nämlich durchaus materiale Wertentscheidungen, mögen diese auch häufig mehr dem Ziel der Rechts- und Verkehrssicherheit als bestimmten inhaltlich erfüllten Gerechtigkeitspostulaten dienen. Man denke etwa an das Prinzip der Abstraktheit des dinglichen Erfüllungsgeschäfts, das Eintragungsprinzip im Liegenschaftsrecht oder das formelle Konsensprinzip im Grundbuchrecht. Es ist sehr wohl denkbar, daß derartige Prinzipien in dem einen oder anderen Punkte vom geschriebenen Recht nicht folgerichtig zu Ende geführt sind, und dann kann es ein Gebot der Konsequenz sein, dieses im Wege der Lückenergänzung entsprechend zu vervollständigen. Das gilt erst recht für Prinzipien wie das der Akzessorietät von Sicherungsrechten oder das der dinglichen Surrogation129, die ohnehin im Grenzbereich zu den rechtsethischen Prinzipien liegen. Insgesamt kommt den rechtstechnischen Prinzipien im Rahmen der Rechtsfortbildung somit allenfalls graduell, nicht aber prinzipiell eine Sonderstellung zu. § 87 Aus einem anderen Grunde können indessen keineswegs alle allgemeinen Rechtsprinzipien ausnahmslos zur Lückenfeststellung verwandt werden. Denn eine Lücke liegt nach der oben gegebenen Definition nur vor, wo das geltende Recht die Ergänzung des Gesetzes fordert. Es kann jedoch keine Rede davon sein, daß alle materialen Prinzipien Bestandteil unserer Rechtsordnung sind. Zunächst ist es denkbar, daß die Geltung eines Prinzips oder eines allgemeinen Rechtsgedankens durch die Wertungen des positiven Rechts ausgeschlossen wird. So mag zwar die Gefährdungshaftung auf dem Prinzip beruhen, daß derjenige, der den Vorteil aus einer Sache zieht, auch das Risiko für typischerweise mit ihr verbundene Gefahren zu tragen hat, und diesen Satz mag man wiederum auf die iustitia distributiva zurückführen130, – als Bestandteil des geltenden Rechts kann dieses Prin- [96] zip darum doch nicht betrachtet werden, und das Fehlen eines allgemeinen Tatbestandes der Gefährdungshaftung stellt daher allenfalls einen rechtspolitischen Fehler, aber gewiß keine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes dar; denn dieses zeigt durch einen fest abgegrenzten Katalog von Einzeltatbeständen, daß es eine allgemeine Regelung nicht will. – Andere Prinzipien, deren Geltung durch das positive Recht ausgeschlossen oder stark eingeschränkt ist, sind beispielsweise: error iuris nocet, nemo plus iuris in alienum transferre potest qualm ipse habet oder nulli res
129 Vgl. zu diesem Strauch, Mehrheitlicher Rechtsersatz, 1972, S. 190 ff. mit berechtigter Kritik an der Erstauflage. 130 So Esser, Gefährdungshaftung, S. 69 ff.; Coing, Die obersten Grundsätze, S. 107 und 148 f.; Henkel, S. 319, nimmt hier eine „Verzahnung“ von austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit an.
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sua servit131. Vor allem ist in diesem Zusammenhang auch zu beachten, daß sich die Prinzipien nicht selten untereinander widersprechen132, ja mitunter ihre eigentliche Bedeutung erst in ihrem Mit- und Gegeneinander entfalten. Stets ist also die Prüfung erforderlich, ob ein Prinzip nicht mit einem gleich- oder höherrangigen anderen in Widerspruch steht. § 88 Der bloße negative Schluß, daß ein Prinzip dem geltenden Recht nicht widerspreche, kann indessen noch nicht genügen, um es als Bestandteil desselben nachzuweisen. Denn es ist nicht anzuerkennen, daß die allgemeinen Rechtsprinzipien als solche den Rang von Rechtsquellen besitzen133; ihr Geltungsanspruch kann sich vielmehr nur auf hinter ihnen stehende Gründe stützen. Hinzukommen muß daher der positive Nachweis, daß ein allgemeines Rechtsprinzip aus einem besonderen Geltungsgrund Wirksamkeit beansprucht. Dazu bieten sich hauptsächlich134 drei Möglichkeiten: Der Schluß, daß ein Prinzip als Bewertungs- oder innerer Ordnungsgedanke dem positiven Recht immanent ist und in diesem nur unvollkommen Verwirklichung gefunden hat, die Rückführung eines Prinzips auf die Rechtsidee und schließlich seine Gewinnung aus der Natur der Sache. – Dabei sei von vorn[97] herein klargestellt, daß diese Unterscheidung nicht im Sinne eines eindeutigen Entweder-Oder gilt, daß die Grenzen zwischen den einzelnen Kriterien vielmehr fließend sind und ein Gesichtspunkt nicht selten der Unterstützung und Absicherung durch den anderen bedarf; wenn die nun folgenden Beispiele einer dieser Gruppen zugeordnet werden, so hat das daher nur die Bedeutung, daß dort das Schwergewicht der Begründung liegt.
131 Besondere Vorsicht ist auch bei der Anwendung von Parömien methodologischer Art geboten. Neben anerkannt richtigen Sätzen wie „ubi eadem ratio, ibi eadem lex esse debet“ finden sich hier so beschränkt gültige Maximen wie „cessante ratione legis cessat lex ipsa“ (vgl. dazu unten §§ 181 f.) und unzweifelhaft falsche wie „cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio“. Auch für die methodologischen Sprichwörter gilt, daß sie den Grund ihrer Anerkennung nicht in sich selbst tragen, sondern aus höher liegenden Prinzipien gewinnen; so ist die erstgenannte Regel – die zur Begründung der Analogie dient – nur die methodologische Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes. 132 Vgl. dazu Fabreguettes, S. 201; Boulanger, Principes généraux, S. 65 und Etudes, S. 70; Engisch, Einheit, S. 64 ff.; Larenz, Wegweiser, S. 301 ff.; Wilburg, S. 12 ff.; Viehweg, S. 75. 133 Anders offenbar H.-J. Wolff, S. 37 ff. 134 Es soll hier keineswegs unbedingt ausgeschlossen werden, daß sich u. U. noch andere Geltungskriterien finden lassen, doch dürften die im Text aufgeführten die einzigen sein, die auf nahezu allgemeine Anerkennung rechnen können. Die Frage bedürfte im übrigen eingehendster rechtsphilosophischer Prüfung, die den Rahmen der vorliegenden methodologischen Arbeit weit überschreiten würde.
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A. Gewinnung eines allgemeinen Prinzips aus dem positiven Recht § 89 Das positive Recht erschöpft sich nicht in seinen Anordnungen und Einzelwertungen; diese stehen vielmehr vor dem Hintergrunde tiefgreifender Ordnungsgesichtspunkte und Grundwertungen: hinter lex und ratio legis liegt die ratio iuris. Erst dieses „innere System“ gewährleistet die Einheit und Folgerichtigkeit einer Rechtsordnung, nur mit seiner Hilfe können auftauchende Widersprüche beseitigt werden, nur der Rückgriff auf diese Grundlagen ermöglicht schließlich in vielen Fällen die Anpassung des Gesetzes an neu auftauchende Probleme und Situationen. Soweit nun diese Grundwertungen im Einzelfall keine hinreichende rechtstechnische Ausgestaltung erfahren haben oder wo einzelne Normen ihnen für besondere Fälle nicht Rechnung tragen, fordern sie eine Ergänzung und Fortbildung des Gesetzes. § 90 Als Mittel der Auffindung solcher allgemeiner Prinzipien des positiven Rechts bietet sich dabei in erster Linie die Induktion. In diesem Zusammenhang ist insbesondere ein Verfahren zu erwähnen, das meist als „Rechtsanalogie“ bezeichnet wird135: dabei wird aus mehreren gesetzlichen Vorschriften ein gemeinsamer Grundgedanke ge- [98] wonnen, und diesem wird dann der Charakter eines allgemeinen Rechtsprinzips zugesprochen. Die Bezeichnung als Rechtsanalogie ist freilich wenig glücklich; insbesondere die Zuordnung zur Analogie136 verwischt die besondere methodische Problematik. Denn in Wahrheit handelt es sich nicht um einen Schluß vom Besonderen auf Besonderes, sondern vom Besonderen auf das Allgemeine, also nicht um Analogie, sondern um Induktion. Zwar läßt sich 135 Die auf das Schrifttum des gemeinen Rechts zurückgehende Unterscheidung von Gesetzes- und Rechtsanalogie hat sich weitgehend durchgesetzt. Vgl. Wächter I, S. 123 f.; WindscheidKipp, S. 104, Fußn. 5 und S. 107, Fußn. 1 a; Regelsberger I, S. 159; Dernburg, S. 83; Binding, Handbuch I S. 216 f.; Bierling, S. 411 f.; Heck, Gesetzesauslegung, S. 195; Schack, S. 278; Bovensiepen, S. 133; Pisko, Kommentar, S. 126; Böhmer II 1, S. 168; Schönke-Schrade, S. 26; Nawiasky, S. 146; Staudinger-Brändl, Anm. 67 vor § 1; Nipper-dey, § 58 II 1 b; Engisch, Einführung. S. 147; Littmann, S. 74; Roth-Stielow, S. 86 f. Auch das ausländische Schrifttum folgt regelmäßig diesem Sprachgebrauch, meist unter Übernahme des deutschen Wortes. Vgl. Saleilles, S. 92; Gény, Méthode I, S. 305 und 310 und II, S. 131; Capitant, S. 111 f.; Zoll, S. 445; Siorat, S. 325 f.; Egger, Anm. 39; Graven, S. 398; Keller, S. 71; Hafter, S. 138, Fußn. 1. – Dabei ist der Sprachgebrauch uneinheitlich: teilweise wird von Rechtsanalogie gesprochen, wenn mehreren oder auch nur einer Vorschrift ein allgemeines Prinzip entnommen wird, teilweise nur rein äußerlich darauf abgestellt, daß mehrere Vorschriften als Basis des Analogieschlusses dienen; im letzteren Fall sollte man besser mit Larenz (ML, S. 292) von „Gesamtanalogie“ im Gegensatz zur „Einzelanalogie“ sprechen. – Abweichend versteht Sauer (S. 312) unter Rechtsanalogie eine Analogie, die sich nicht auf eine gesetzliche Vorschrift, sondern auf eine Norm des Gewohnheits- oder des Gerichtsrechts stützt. 136 Daß die Bezeichnung als Rechtsanalogie im Gegensatz zur Gesetzesanalogie nicht treffend ist, weil auch letztere „die Anwendung einer Rechtsnorm zum Gegenstand hat“, betonen Dahin, S. 53 und Larenz, ML, S. 292. Ähnlich del Vecchio, Grundprinzipien, S. 15, Fußn. 18; Pisko, Kommentar, S. 126.
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theoretisch auch die Analogie als induktiver Schluß von einem Besonderen auf ein Allgemeines und anschließender Rückschluß auf ein zweites Besonderes konstruieren, da sie stets den Rückgriff auf die ratio legis erfordert und man diese als das übergeordnete „Allgemeine“ ansehen könnte137. Doch wird man mit dieser Betrachtungsweise ihrem Wesen nicht gerecht: in Wahrheit sollen nur zwei Tatbestände verglichen werden, und der Rückgriff auf die ratio legis ist lediglich Mittel zu diesem Zweck; bei der Induktion dagegen ist die Herausarbeitung des allgemeinen Gedankens selbst der Zweck der methodischen Operation. § 91 Entsprechend ergeben sich charakteristische Unterschiede138 zwischen Analogie und induktiver Gewinnung allgemeiner Rechtsgedanken: Während sich die Analogie auf die Gleichstellung eines zweiten, ganz bestimmten Tatbestandes beschränkt, beansprucht ein induktiv gewonnenes allgemeines Rechtsprinzip Geltung für eine – im Augenblick seiner Ermittlung noch nicht abschließend zu überblickende – unbestimmte Vielzahl von Fällen139. Wenn etwa in dem mehrfach [99] erwähnten Beispiel des § 463 S. 2 BGB die arglistige Vorspiegelung einer positiven Eigenschaft dem Verschweigen eines Mangels gleichgestellt wird, so ist die rechtliche Bedeutung dieser Analogie damit erschöpft; insbesondere kommt der Ermittlung der ratio legis – Sanktion für die arglistige Ausnutzung eines Irrtums des Käufers über die Beschaffenheit der Sache – keine eigenständige Bedeutung zu. Wird dagegen z. B. aus einer Reihe von Bestimmungen des geltenden Rechts das allgemeine Prinzip gewonnen, daß jedes Dauerschuldverhältnis aus wichtigem Grund beiderseitig lösbar ist, so hat dies eine über den Einzeltatbestand, anläßlich dessen es gewonnen wurde140, weit hinausgehende Tragweite: das Prinzip wirkt, einmal erkannt und formuliert, auch auf eine Fülle weiterer Fälle ein. Man könnte es daher – im Gegensatz zur Analogie – als „offen“ be-
137 Als Induktionsschluß wird die Analogie angesehen von: Rümelin, Werturteile, S. 39; Gmür, S. 64 f.; Ross, S. 347; Gény, Méthode I, S. 305 und II, S. 121 und 124; Fabreguettes, S. 492, Fußn. 4; Schönke-Schrade, S. 25; Pisko, Kommentar, S. 124; Bartholomeyczyk, S. 79 ff.; Hafter, S. 138; unentschieden Siorat, S. 324 f.; nach Heller (S. 17 ff.) sind Analogie und Induktion „weitgehend gegenseitig ersetzbar“ (S. 19). – Gegen die Gleichstellung: Del Vecchio, Grundprinzipien, S. 15 f. und Rechtsphilosophie, S. 391; Sauer, S. 306 und 309; Sax, Analogieverbot, S. 103 f. und 150 f.; grundlegend Dorolle, S. 229 ff.; den Unterschied von Analogie und Auffindung allgemeiner Prinzipien betonen auch Perreau I, S. 275, S. 280 ff., S. 293 ff.; Esser, Interpretation, S. 377; Du Pasquier, Lacunes, S. 37; Friedrich, S. 445; verwischt wird er dagegen von Boulanger (Principes généraux, S. 63 im Anschluß an Gény, Méthode II, 5. 121) und Capitant, S. 112; unklar Spassoïevitch, S. 82 und 118 ff. 138 Diese werden von Heller bei seiner Kritik der Unterscheidung zwischen Analogie und Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze (vgl. S. 125 ff.) weitgehend übersehen. 139 Dem entspricht es, daß nur die Analogie ihre Rechtfertigung im Gleichheitssatz findet, während zur Begründung der Allgemeinheit eines Prinzips auf andere Geltungskriterien zurückzugreifen ist (vgl. dazu sogleich im Text § 92). 140 Vgl. z. B. das Problem des Ausschlusses eines Gesellschafters aus einer GmbH (dazu unten § 95).
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zeichnen; diese Offenheit ist dabei die charakteristische Folge der Allgemeinheit des Prinzips. § 92 In engem Zusammenhang hiermit steht ein zweiter typischer Unterschied: während die methodischen Schwierigkeiten bei der Analogie sich im wesentlichen in der Ermittlung der ratio legis und ihrer „Anwendung“ auf den gleichzustellenden Fall erschöpfen, taucht bei der Induktion noch die zusätzliche Frage auf, ob es sich um ein allgemeines Rechtsprinzip handelt und nicht vielmehr um eine Reihe von Sondertatbeständen; hierin erst liegen regelmäßig die wirklichen Probleme. Warum ist z. B. aus den Vorschriften der §§ 407 II, 408, 1412 I HS 2 BGB, 27 EheG, 372 II HGB kein allgemeiner Grundsatz der Art abzuleiten, daß der gute Glaube an das Prozeßführungsrecht bei Vorliegen eines Scheintatbestandes geschützt wird141? Oder warum entnimmt man aus §§ 313 Satz 2, 518 II, 766 Satz 2 BGB nicht die allgemeine Regel, daß ein formnichtiger Vertrag durch die Erfüllung zu voller Wirksamkeit gelangt142? Offensichtlich ist also für die Frage der Allgemeinheit eines Rechtsgedankens noch eine zusätzliche Bewertung erforderlich143. Als Maßstab ist dabei auch hier in erster Linie wieder das geltende Recht heranzuziehen; wesentlich kann dabei insbesondere die positivrechtliche Ranghöhe eines Prinzips sein, wie sie sich vor allem aus der gesetzlichen Entscheidung eventueller Widersprüche mit anderen Prinzipien ablesen läßt. Von großer Bedeutung ist daneben die Absicherung durch den Rückgriff auf die beiden anderen Geltungskriterien: läßt [100] sich ein Prinzip auch aus der Natur der Sache ableiten oder auf die Rechtsidee zurückführen, so wird dies regelmäßig entscheidend dafür sprechen, in seiner „unvollkommenen“ Verwirklichung in einzelnen Normen den Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens zu sehen144. Dies ist einer der Punkte, an dem die oben erwähnte Überschneidung der einzelnen Kriterien besonders augenfällig wird145.
141 Vgl. Stein-Jonas-Schönke-Pohle, § 325 IV 2; Baumbach-Lauterbach, § 325, 3; Rosenberg, § 45 II 3; anders Hellwig, System I, S. 174. 142 Vgl. dazu Nipperdey, § 154, Fußn. 16. 143 Vgl. dazu Larenz, ML, S. 292 f.; dort auch ein weiteres anschauliches Beispiel für die erörterte Problematik. 144 Den Zusammenhang von „Rechtsanalogie“ und „Natur der Sache“ betonen schon Wächter I, S. 124 f. und Gény, Méthode I, S. 310. Vgl. auch Larenz, ML, S. 293. 145 Zu weit geht allerdings Esser (Grundsatz und Norm, S. 5, ähnlich S. 10 f., 164 f.), wenn er die Tendenz der Rechtsprechung, allgemeine Prinzipien soweit wie möglich aus dem Gesetz zu entnehmen, kritisiert und meint, dies geschehe nur „der Systematik halber“; in Wahrheit rechtfertigten sich die Prinzipien nicht „aus dem Gesetz“, sondern „aus der Natur der Sache oder der betreffenden Institution“. Dies ist zwar nicht selten der Fall (vgl. unten §§ 107 ff.), aber soweit ein Rückgriff auf das Gesetz möglich erscheint, ist der Richter dazu verpflichtet; allein diese Auffassung gewährleistet die innere Einheit einer Rechtsordnung, und allein sie entspricht der verfassungsmäßigen Stellung des Richters, für den die Berufung auf außergesetzliche Bewer-
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§ 93 Zusammenfassend ist zu sagen, daß die Gewinnung allgemeiner Rechtsgedanken aus einzelnen Normen des positiven Rechts am sachgemäßesten als Induktion und nicht als Analogie erklärt wird. Vor allem ist in diesem Zusammenhang auch noch darauf hinzuweisen, daß sich ein Rechtsprinzip mitunter schon aus einer einzelnen Norm – und nicht wie bei der Rechtsanalogie aus einer Mehrzahl von Bestimmungen – entnehmen läßt. Von Analogie kann in solchen Fällen auch bei weitester Fassung des Begriffs keine Rede mehr sein. Ein einprägsames Beispiel dieser Art gibt Larenz146: aus § 254 BGB ist der allgemeine Satz zu entnehmen, daß ein Schaden unter den Beteiligten in dem Verhältnis zu verteilen ist, wie er ihnen von der Rechtsordnung – gleichgültig, aus welchem Haftungsgrunde – zugerechnet wird. Das Gesagte soll nunmehr noch an einigen Beispielen veranschaulicht werden. § 94 Als erstes sei das Fehlen einer Regelung über die Eigentümergrunddienstbarkeit erwähnt. Das BGB fordert in § 873 für die Begründung eines dinglichen Rechtes an einem Grundstück außer der Eintragung die Einigung des Eigentümers mit dem Erwerber. Da eine solche Einigung bei der Bestellung eines Rechtes für den Eigentümer selbst begrifflich ausgeschlossen ist, sahen Rechtsprechung und Lehre lange Zeit die Eigentümergrunddienstbarkeit als mit dem BGB unvereinbar an147. Mit einer methodologisch sehr ergiebigen, ausführlichen [101] Begründung hat das RG148 diese Ansicht aufgegeben. Denn der deutschrechtliche Grundsatz der „Teilbarkeit des Eigentums dem Inhalt nach“ fordere die Zulassung beschränkter dinglicher Rechte am eigenen Grundstück149. Der Einigungsgrundsatz des § 873 werde seinem inneren Gehalt und Zweck nach nicht verletzt, da er nur verhindern wolle, daß jemand sich gegen seinen Willen ein Recht aufdrängen lassen müsse, diese Gefahr bei einer Bestellung des Eigentümers für sich selbst aber nicht bestehe150. Auch der gemeinrechtliche Grundsatz „nulli res sua servit“ könne nicht zu einer entgegengesetzten Entscheidung führen, da er nicht mehr geltendes Recht sei151. Vielmehr habe das BGB in den §§ 889, 1009 und tungsgrundsätze ultima ratio bleiben muß. Zudem weist Esser selbst mit Recht darauf hin, daß bei richtigem Verständnis das System geradezu ein „Prinzipienhort“ sein könne (S. 6). 146 ML, S. 294. 147 Nachweise s. RGZ 142, 231 (233, Fußn. 1 und 235 f.). 148 a.a.O.; das Schrifttum hat sich dem allgemein angeschlossen. Vgl. z. B. Westermann, § 122 III 3; Baur, § 33 III 1 a a. E.; jetzt auch BGHZ 41, 209. Anders neuerdings Roth-Stielow, S. 151 ff. Seine Begründung, die sich in einem engherzigen Festhalten an der Meinung der Motive erschöpft, ist jedoch methodologisch zu dürftig; im übrigen verkennt er, daß die Verfasser davon ausgingen, eine einseitige, rechtsgeschäftliche Begründung sei nicht möglich und dafür bestünde auch kein Verkehrsbedürfnis, – eine Ansicht, die im ersten Punkt gesetzgeberisch und methodisch überholt, im zweiten falsch ist. 149 S. 234 f. 150 S. 236 f. 151 S. 236 f.
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1196 klar zum Ausdruck gebracht, daß es von dem obenerwähnten deutschrechtlichen Prinzip ausgehe. Im übrigen kämen für die Grunddienstbarkeit noch „rechtliche und tatsächliche Besonderheiten“ hinzu; denn es handele sich „um die Regelung der rechtlichen Beziehungen zwischen den beiden Grundstücken, die gegenwärtig, gewissermaßen zufällig, in der Hand desselben Eigentümers sind“. Es gehe nicht an, daß „dieser zufällige Umstand einer zweckmäßig erscheinenden Regelung dieser Beziehungen hinderlich sein sollte“152. Diese Entscheidung ist ein besonders anschauliches Beispiel für die oben dargelegten methodologischen Vorgänge. Zunächst stellt das RG fest, daß das Prinzip der inhaltlichen Teilbarkeit des Eigentums die Zulässigkeit der Eigentümergrunddienstbarkeit fordert und daß dafür eine gesetzestechnische Regelung fehlt. Es verwendet damit – unausgesprochen – ein allgemeines Rechtsprinzip als Mittel der Lückenfeststellung. Darauf weist es nach, daß höherrangige Grundsätze nicht entgegenstehen, nimmt also die erforderliche negative Abgrenzung vor, und fügt sodann die positive Begründung hinzu, der erwähnte Grundsatz lasse sich aus einigen Vorschriften des Gesetzes als Inhalt des geltenden Rechts nachweisen. Schließlich sichert es seine Entscheidung noch ab durch den Rückgriff auf die „rechtlichen und tatsächlichen [102] Besonderheiten“ der Fallgestaltung, also doch wohl die „Natur der Sache“. § 95 Ein ähnliches Beispiel bietet die Rechtsprechung des BGH zum Ausschluß eines Gesellschafters aus einer GmbH153. Das Gesetz enthält darüber keine ausdrückliche Bestimmung. Dennoch ist aus seinem Schweigen nicht die Unzulässigkeit eines Ausschlusses zu folgern. Denn das unserer Rechtsordnung immanente Prinzip, daß Dauerschuldverhältnisse stets beiderseitig aus wichtigem Grund lösbar sind, – zumal wenn sie personenrechtlichen Charakter tragen, – fordert die Möglichkeit eines Ausschlusses. Es dient also dazu, nachzuweisen, daß das Fehlen einer entsprechenden Bestimmung im Gesetz eine planwidrige Unvollständigkeit unserer Rechtsordnung und nicht etwa nur ein rechtspolitischer Fehler ist. Der BGH lehnt dabei – was im Zusammenhang der Abgrenzung von allgemeinen Rechtsprinzipien und Analogie interessant ist – ausdrücklich eine Analogie etwa zu § 737 BGB oder § 140 HGB ab154 und stützt die Zulässigkeit des Ausschlusses lediglich auf das erwähnte allgemeine Rechtsprinzip. Dieses entnimmt er mit Recht nicht nur gesellschaftsrechtlichen Vorschriften, sondern auch einer Reihe von anderen Bestimmungen: außer auf § 737 BGB, 140, 161 HGB beruft er sich auf §§ 626, 712, 723 BGB, 70, 92 II, 117, 127, 133, 339 HGB, 75 III AktG, 38 II, 61 GmbHG, 68 GenG, 124a, 133b GewO. 152 S. 237 f.; bemerkenswert ist im übrigen, mit welcher Selbstverständlichkeit das RG sich hier über die entgegenstehende Ansicht der Motive hinwegsetzt. 153 BGHZ 9, 157 (mit Anmerkung von Hueck, DB 53, S. 776). Dieselbe Problematik ergibt sich übrigens für den rechtsfähigen Verein beim Ausschluß eines Mitglieds. 154 S. 161 und 164.
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Auch hier ist wieder darauf hinzuweisen, daß der Schluß, es handele sich um den Ausdruck eines allgemeinen Prinzips und nicht um eine abschließende Reihe von Sondertatbeständen, wesentlich unterstützt wird durch überpositive Gesichtspunkte (auf die der BGH allerdings nicht ausdrücklich Bezug nimmt155): es wäre mit dem sittlichen Wesen der Person und ihrer Freiheit unvereinbar, wollte man bei „stark in die Lebensbetätigung der Beteiligten eingreifenden Rechtsverhältnissen“156 eine Lösung der vertraglichen Bindung nicht zulassen, wenn die Grundlagen einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zerstört sind. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob es sich auch hier wiederum um eine Argumentation aus der Natur der „Sache“, d. h. hier dem Wesen des Menschen, handelt, oder ob im Hintergrund ein rechts-ethisches Prinzip steht. [103] § 96 Hätte man in den beiden bisher erwähnten Fällen notfalls auch noch mit dein Mittel der (Gesamt-) Analogie arbeiten können – wenn auch um den Preis einer Verkürzung des Problems und einer Verarmung der Argumentation –, so sollen nunmehr Beispiele angeführt werden, wo der Rahmen der Analogie auch bei weitester Grenzziehung gesprengt wird. Nach heute wohl allgemeiner Meinung ist die Geltendmachung von Willensmängeln bei der Zeichnung des Grundkapitals einer Aktiengesellschaft ausgeschlossen157. Nach richtiger Ansicht beruht dies auf dem das gesamte Aktienrecht beherrschenden Prinzip, daß das Grund-Kapital unter allen Umständen erhalten bleiben muß158. Eine Bestimmung, die die an sich einschlägigen Vorschriften der §§ 116 ff. BGB entsprechend einschränkte, enthält das Gesetz aber nicht. Daß dies eine Lücke und kein rechtspolitischer Fehler ist, läßt sich nur zeigen, indem man das oben erwähnte Prinzip als dem geltenden Recht immanent und gegenüber den §§ 116 ff. höherrangig nachweist. Dabei ist man im wesentlichen auf einen Induktionsschluß aus einer Reihe von Grundbestimmungen des AktG angewiesen; in diesen Zusammenhang gehören z. B. das Verbot der Unterpariemission (§ 9 AktG), die Bestimmung, daß zur Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister und damit zur Erlangung der Rechtsfähigkeit die Zeichnung aller Aktien erforderlich ist (§§ 31 I, 22 I), das Verbot des Erlasses und 155 Der BGH verweist nur einmal beiläufig auf die Natur der Sache, ohne dies irgendwie zur Grundlage seiner Argumentation zu machen (S. 159). 156 So die Formulierung des BGH, S. 161. 157 Vgl. Hueck, Gesellschaftsrecht, § 23 IV 2; Baumbach-Hueck, Vorbem. 1 B vor § 16 AktG; Würdinger, § 17 B IV 3 a; RGZ 88, 188; 142, 103, st. Rspr. 158 So Hueck, a.a.O.; anders Würdinger, a.a.O. und RGZ 142, 103, die den Ausschluß der Anfechtung auf die Erklärung an die Öffentlichkeit, das Grundkapital aufbringen zu wollen, stützen. Jedenfalls aber handelt es sich hier nicht um die Problematik der „Scheingesellschaft“, da der Ausschluß der Anfechtbarkeit auch gegenüber Bösgläubigen gilt; allerdings ist auch der Grundsatz, daß das Grundkapital unter allen Umständen erhalten bleiben muß, – ebenso wie das Rechtsscheinsprinzip – ein Ausfluß des Vertrauensgedankens. – Auch die Fragen der „faktischen Gesellschaft“ spielen in diesem Fall keine Rolle: dort handelt es sich darum, die ex-tuncWirkung der Anfechtung durch die sachgemäßere ex-nunc-Wirkung der Auflösung zu ersetzen, hier dagegen soll die Geltendmachung von Willensmängeln gänzlich ausgeschlossen werden.
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der Rückzahlung von Einlagen (§§ 52, 60), die Beschränkung der Zulässigkeit des Erwerbs eigener Aktien (§ 65), die Vorschrift, daß das Grundkapital stets unter die Passiva der Bilanz aufzunehmen ist (§§ 133 B I, 133, 7) u. a.159. Es leuchtet ein, daß diese Tatbestände zu verschieden voneinander und von den Fällen der Willensmängel bei der Zeichnung von Aktien sind, um hier noch mit dem Mittel der Analogie zu arbeiten; nichtsdestoweniger liegt ihnen allen dasselbe gestaltende Prinzip zugrunde, und dieses Prinzip fordert die Einschränkung der §§ 116 ff., [104] wenn es nicht einen großen Teil seiner Wirksamkeit einbüßen soll; damit aber dient es als Mittel der Lückenfeststellung. § 97 Ein weiteres Fundamentalprinzip unserer Rechtsordnung, das nicht selten die Einschränkung anderer Vorschriften erzwingt, ist der Schutz der nicht voll Geschäftsfähigen. Nach § 54 Satz 2 BGB haftet z. B. der – gesetzliche oder gewillkürte – Vertreter eines nicht-rechtsfähigen Vereins aus einem in dessen Namen vorgenommenen Rechtsgeschäft persönlich. Dies müßte nach dem Wortlaut des Gesetzes an sich auch dann gelten, wenn der Vertreter beschränkt geschäftsfähig ist160; denn die §§ 106 ff. BGB greifen nicht ein, da § 54 Satz 2 einen Fall gesetzlicher und nicht rechtsgeschäftlicher Haftung bildet161. Da aber die persönliche Verpflichtung als (gesetzliche) Folge eines rechtsgeschäftlichen Handelns eintritt und nicht etwa deliktischen Charakter hat, fordert das den §§ 106 ff. zugrunde liegende Prinzip des Schutzes der beschränkt Geschäftsfähigen auch hier Anerkennung. Entscheidend ist dabei, daß das Gesetz an vielen Stellen, insbesondere bei der Ausgestaltung des gutgläubigen Erwerbs, zeigt, daß es diesen Schutzgedanken über das dem § 54 Satz 2 zugrunde liegende Vertrauensprinzip stellt162. An diesem Beispiel wird die – oben erwähnte – Notwendigkeit der Abwägung des zur Lückenfeststellung verwandten Prinzips mit anderen, u. U. gleich- oder höherrangigen Prinzipien besonders deutlich. Zur Unterstützung – keinesfalls aber zur alleinigen Begründung – kann dabei noch die Analogie zu § 179 III S. 2 herangezogen werden. Nach dieser Bestimmung haftet ein falsus procurator nicht, wenn er beschränkt geschäftsfähig war. Auch hier handelt es sich um gesetzliche Haftung als Folge rechtsgeschäftlichen Handelns, und auch hier stellt das Gesetz den Schutz der beschränkt Geschäftsfähigen über den Vertrauensschutz. Auch gegenüber anderen Prinzipien beansprucht der Schutz mangelnder Zurechnungsfähigkeit den Vorrang. In diesen Zusammenhang gehört etwa die Einschränkung, die das RG und die h. L. an § 819 I BGB vorgenommen haben. Nach dieser Vorschrift haftet der Bereicherungsschuldner, der den Mangel des rechtlichen Grundes kennt, verschärft, d. h., ohne sich auf den Wegfall der BereiVgl. hierzu Hueck, Gesellschaftsrecht, § 22 I 3. Nach § 165 BGB steht dies der Wirksamkeit seines Handelns als Stellvertreter nicht entgegen. 161 Mindestens mißverständlich daher: Staudinger-Coing, § 54, 48; Soergel-Siebert, § 54, 31. 162 Eingehend Canaris, NJW 64, 1988. 159 160
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cherung nach § 818 III BGB berufen zu können. Soll dies auch dann gelten, wenn ein nicht voll Geschäftsfähiger nach §§ 812 ff. verpflichtet ist? Die Frage ist äußerst [105] strittig162a. Richtigerweise wird man zwischen Leistungs- und Eingriffskondiktion unterscheiden müssen162b: Weil und soweit es im ersteren Falle um die Rückabwicklung rechtsgeschäftlichen Erwerbes geht und damit die Haftung für rechtsgeschäftliches Handeln (im weiteren Sinne) in Frage steht, wird man den Schutzgedanken der §§ 104 ff. BGB heranziehen und ausschließlich auf die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters vom Mangel des rechtlichen Grundes abstellen müssen; soweit es sich dagegen um den Ausgleich eines Eingriffs nach Bereicherungsrecht handelt, dürfte den §§ 276 I 3, 827 f. der Vorzug zu geben sein162c. – Methodisch zeigt sich jedenfalls auch hier, daß das vorrangige Prinzip des Schutzes mangelnder Zurechnungsfähigkeit – sei es in der Form der §§ 104 ff., sei es in der der §§ 827 f. – die Einschränkung des § 819 I fordert und damit zur Feststellung der Unvollständigkeit dieser Regelung dient. § 98 Ein letztes berühmtes Beispiel, das in diesem Zusammenhang noch kurz erwähnt werden soll, ist die Lehre vom Verbotsirrtum im Strafrecht. Daß er bereits de lege lata Berücksichtigung verdient, daß das Fehlen einer entsprechenden Regelung im StGB also nicht als rechtspolitischer Fehler, sondern als Lücke anzusehen ist, kann nur [106] daraus gefolgert werden, daß man sonst u. U. zu einer Strafe ohne Verschulden käme. So stützt der BGH seine Entscheidung auf die Begründung: „Der ... Satz, der Irrtum über das Strafgesetz schließe die Strafbar162a Für die entsprechende Anwendung des Schutzgedankens der §§ 104 ff. haben sich ausgesprochen: RG JW 1917, S. 465; Enn.-Lehmann, § 227 V lb; RGR-Komm., § 819, 3; PalandtGramm, § 819, 2 c; Erman-Seiler, § 819, 1a a. E. Dagegen wollen andere die §§ 827 ff. entsprechend anwenden (über § 276 I 3?), vgl. v. Tuhr, A. T. II 1, § 59 X 5 a. E.; Enn.-Nipperdey, § 151, Fußn. 7; Soergel-Mühl, § 819, Randziffer 6; G. Boehmer, MDR 59, S. 706, Sp. 2. – Daß diese zweite Ansicht die Schutzzwecke des BGB nur unvollständig zu erfüllen vermag, wird ohne weiteres klar, wenn man sich den Fall der Entmündigung wegen Verschwendungssucht vor Augen hält: die §§ 827 ff. gewähren hier überhaupt keinen Schutz, da § 828 nur für Minderjährige gilt und der Entmündigte regelmäßig wissen wird, daß seine Rechtsgeschäfte unwirksam sind, also bei einer „Parallelwertung in der Laiensphäre“ Kenntnis vom Fehlen des rechtlichen Grundes hat. Wollte man deswegen aber § 819 I anwenden und ihm die Berufung auf den Wegfall der Bereicherung versagen, so würde der Schutzzweck der Entmündigung fast immer vereitelt: der Verschwendungssüchtige wird regelmäßig das Erlangte bereits wieder „verschwendet“ haben, und daher ist er nur durch die Anwendung des § 818 III ausreichend zu schützen. Jedenfalls im Bereich der Leistungskondiktion ist daher der erstgenannten Ansicht der Vorzug zu geben. 162b Diese differenzierende Lösung, die erstmals hier vorgeschlagen wurde, ist inzwischen zur h. L. geworden, entspricht aber meiner eigenen Ansicht nicht mehr, vgl. JZ 71, 562 f. 162c Bei der Eingriffskondiktion ist auch die – den im Vergleich zu den §§ 104 ff. geringeren Schutzbereich der § 827 f rechtfertigende – „Warnfunktion“ des Eingriffs gegeben. Vgl. dazu Canaris, NJW 64, 1990 f., insbesondere zu Fußn. 34. Hat der gesetzliche Vertreter in dem – maßgeblichen – Augenblick des Wegfalls der Bereicherung Kenntnis vom Fehlen des rechtlichen Grundes, so muß der nicht voll Geschäftsfähige sich diese hier entsprechend § 278, S. 1 BGB zurechnen lassen; denn seit der Erlangung der Bereicherung besteht bereits das Schuldverhältnis der §§ 812 ff.
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keit nicht aus, führt demnach bei unverschuldetem Verbotsirrtum ... zur Verletzung des unantastbaren Grundsatzes allen Strafens, daß Strafe Schuld voraussetzt163.“ Das Verschuldensprinzip erfordert demnach die Ergänzung des Gesetzes. Daß der BGH dabei zur Rechtfertigung dieses Prinzips auf das Wesen des Menschen164 zurückgegriffen hat165, war wohl kaum nötig, da seine ausnahmslose Gültigkeit für das geltende Recht – soweit es sich um die Bestrafung des Täters und nicht um Maßnahmen der Sicherung und Besserung handelt – keinen ernsten Zweifeln unterliegen kann. Auch hier ist aber wieder zu sagen, daß die drei oben angeführten Geltungskriterien häufig zusammenwirken. Wie dargelegt166, hat sich der Richter jedoch in erster Linie an die Begründung aus dem positiven Recht zu halten. B. Rückführung eines allgemeinen Prinzips auf die Rechtsidee § 99 Als zweite Möglichkeit, die Geltung allgemeiner Prinzipien für das positive Recht zu begründen, wurde ihre Rückführung auf die Rechtsidee genannt. Diese ist zwar zu allgemein und zu unbestimmt, um einen Fall einfach unter sie zu subsumieren; sie ist aber darum doch nicht „leer“167, – wie nicht selten behauptet wird168, – sondern hat einen zwar nie voll zu erkennenden oder auszuschöpfenden, aber mitunter doch im Hinblick auf bestimmte typische Situationen erstaunlich klar zu konkretisierenden169 Inhalt. Methodisch vollzieht sich dies regelmäßig nicht im Wege der Deduktion, sondern meist mit den Mit- [107] teln topischen Denkens170: eine Problemlösung wird an einem bestimmten Fall „ent-
BGHSt 2, 194 (202). S. 200 f. Der BGH legt dabei allerdings ein ganz bestimmtes, entscheidend durch die abendländische Philosophie und das Christentum geprägtes Menschenbild zugrunde. 165 Aus der „sachlogischen Struktur der Schuld“ will Welzel (Naturrecht, 3. Aufl., S. 197 f.; ihm folgend Stratenwerth, S. 8 und 10 ff.) die Beachtlichkeit des Verbotsirrtums herleiten; kritisch dazu Engisch, Schmidt-Festschrift, S. 105 ff. 166 Vgl. oben, Fußn. 145. 167 Vgl. z. B. Coing, Die obersten Grundsätze; Larenz, Wegweiser, S. 304 f.; Henkel, S. 299 ff. 168 Besonders kraß neuerlich Ripert, Forces créatrices, S. 414: „La justice est un mot abstrait ...“ 169 Zum Begriff der „Konkretisierung“ vgl. Engisch, Die Idee der Konkretisierung. Soweit der Ausdruck hier und im folgenden verwandt wird, handelt es sich regelmäßig um eine ,,Mischform“ (vgl. Engisch, S. 75 ff.): das Konkrete ist zu verstehen als das „Spezifische“, aber unter gleichzeitiger „Hinwendung zum Typus“ (vgl. S. 146 ff. und 237 ff.). 170 Vgl. dazu vor allem Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht; Viehweg, Topik und Jurisprudenz; Esser, Grundsatz und Norm, S. 44 ff. und 218 ff.; Siebert, Gesetzesauslegung, S. 16 f.; Reinhardt-König, S. 17 ff.; Engisch, Einführung, S. 190 f.; Zippelius, S. 79 ff.; Bäumlin, S. 26 ff.; Arndt, S. 1277 ff. 163 164
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deckt“171, als Rechtsgedanke formuliert, sodann an einer Reihe von Beispielen in ihrer Typizität erkannt und zum Prinzip verfestigt. Damit sind indessen noch keineswegs alle Schwierigkeiten überwunden, da es nunmehr gilt, die positivrechtliche Verbindlichkeit des erarbeiteten Lösungsvorschlags darzutun172. Fragt man 171 Vgl. dazu den Vortrag von Dölle vor dem 42. Deutschen Juristentag. Dabei, wie u. U. auch bei der Entwicklung „allgemeiner Rechtsprinzipien“, kann die Rechtsvergleichung von höchstem Wert sein (vgl. dazu auch Lorenz, JZ 62, S. 269 ff.). 172 Dies wird von den Anhängern des sogenannten „Problemdenkens“ (im Gegensatz zum „Systemdenken“) i. d. R. nicht genügend in den Vordergrund gestellt. Der allgemeine Hinweis, daß jeder topos auf die Gerechtigkeitsfrage bezogen sei (vgl. Viehweg, S. 65 und öfter), kann dazu nicht genügen. – Vgl. auch die Besprechung des Buches von Viehweg durch Engisch (ZStrW 69, 596 ff.). Er fordert mit Recht, daß die „Topik sich über die Prämissen, die sie zugrunde legt, auf eine erkenntnistheoretisch zu verantwortende Weise Rechenschaft ablegen muß“. Die Topik könne „nur das vorletzte, nicht das letzte Wort sein“ (S. 601). Vgl. andererseits aber die entschiedene Zustimmung von Coing (ARSP 54/55, 436), der die Erkenntnisse Viehwegs als „grundlegend für eine ganze wissenschaftliche Disziplin“ bezeichnet. Der in neuerer Zeit so häufig betonte Gegensatz von „Systemdenken“ und „Problemdenken“ dürfte in Wahrheit allenfalls dialektischer Natur sein: beide Denkweisen bedingen sich gegenseitig; wie die mit Hilfe der Systematik entwickelte Theorie sich am Problem zu bewähren hat und erst dadurch ihre letzte Rechtfertigung erhält, so kann umgekehrt der am Problem gewonnene Entscheidungsvorschlag seine Verbindlichkeit nur durch die Einordnung in das System und die Grundwertungen des geltenden Rechts bzw. durch die Rückführung auf tiefer liegende Kriterien wie die Rechtsidee und die Natur der Sache erweisen; und wie die „systemgerechte“ Entscheidung regelmäßig wesentlichen Aufschluß über die – de lege lata – maßgeblichen Gerechtigkeitsgesichtspunkte gibt, so wirkt umgekehrt die „sachgerechte“ Lösung als „Natur der Sache“ oder „sachlogische Struktur“ – in Form eines dialektischen Wechselprozesses – auf die Schaffung und Fortbildung des Systems zurück. Die Vertreter des topischen Denkens anerkennen denn auch das Bestehen allgemeiner innerer Sachzusammenhänge, und in der Tat dürften verbindliche Topoi-Kataloge – ohne die topisches Denken nichts anderes als ein Appell an die Einfallskraft und damit wissenschaftlich unbrauchbar wäre – sich nur mit Hilfe des „inneren Systems“ einer Rechtsordnung gewinnen lassen. Andererseits dürften auch die Anhänger des Systemdenkens heute nicht mehr von einem „geschlossenen“ System in dem Sinne ausgehen, daß sich jede Rechtsfrage im Wege der Deduktion aus den gegebenen Grundbegriffen und -wertungen vollständig entscheiden ließe, sondern vielmehr anerkennen, daß es „offen“, d. h. dem Einbruch neuer Prinzipien zugänglich, ist. Der Gegensatz reduziert sich daher im wesentlichen wohl auf die Frage, ob das System „beweglich“ ist (vgl. den Titel der Schrift Wilburgs „Von der Entwicklung eines beweglichen Systems ...“, die Viehweg (S. 72 ff.) als eines der Hauptbeispiele topischen Denkens anführt), ob also von Problem zu Problem einmal dieser Lösungsgesichtspunkt und ein andermal jener den Vorrang beanspruchen kann, oder ob zwischen den Prinzipien und Wertungen nicht vielmehr eine starre Hierarchie besteht (dies bezeichnet Coing, a.a.O., S. 443, ausdrücklich als Charakteristikum des Systemdenkens). Im Grunde dürfte im Hintergrund der tiefe Gegensatz zwischen verallgemeinernder abstrakter Gerechtigkeit und Rechtssicherheit einerseits und individueller Billigkeit des Einzelfalles andererseits stehen. Die Argumente, die für den grundsätzlichen Vorrang der beiden erstgenannten Werte sprechen, sind so oft vorgebracht worden, daß sie hier nicht wiederholt zu werden brauchen. Im übrigen ist kaum zu bezweifeln, daß das geltende Recht von einem „hierarchischen“ und nicht von einem „beweglichen“ System bestimmt wird. Andererseits ist aber auch anzuerkennen, daß es Teilgebiete gibt, auf denen das topische Denken auch de lege lata unbedingten Vorrang zu beanspruchen hat: so etwa bei der Konkretisierung „wertausfüllungsbedürftiger“ Begriffe – die bezeichnenderweise Einbruchstel-
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dabei nach den [108] inneren Gründen der Überzeugungskraft eines solchen Prinzips, so gelangt man nicht selten stufenweise bis zu den „obersten Grundsätzen des Rechts“173 und zur Rechtsidee selbst174, – weshalb hier der Ausdruck „Rückführung auf die Rechtsidee“ – und nicht z. B. „Ableitung“ aus ihr – gewählt wurde. – Allerdings muß auch hier noch einmal nachdrücklich an die Notwendigkeit der Abstimmung mit dem positiven Recht erinnert werden: dieses hat die Macht, eine die Rechtsidee mißachtende Regelung zu treffen, und die Korrektur einer solchen Bestimmung fällt dann nicht mehr in das Gebiet der Rechtsfindung praeter legem, sondern ist unter den ganz anderen Voraussetzungen des Contralegem-Judizierens zu beurteilen. § 100 Einige Beispiele sollen dies nunmehr erläutern. Zunächst ist hier das Fehlen einer Bestimmung über die Zulässigkeit der nichtkonnexen Widerklage in der ZPO zu erwähnen. Daß dies ein Mangel ist, der bereits de lege lata Behebung erfordert, daß also eine Lücke vorliegt, begründet der Kommentar von SteinJonas-Schönke-Pohle damit, daß „der Kläger die gleichzeitige Verhandlung auch nicht zusammenhängender Ansprüche nach § 260 ZPO ohne weiteres herbeiführen kann, die Gegenansicht also den Beklagten ohne inneren Grund schlechter stellt, wenn er seinerseits zu solcher Verbindung die Initiative ergrei- [109] fen will“175. Es ist also das Prinzip der Waffengleichheit der Parteien im Prozeß, das hier die Zulässigkeit der Widerklage fordert und damit als Mittel der Lückenfeststellung dient176. Dieses Prinzip stellt dabei nichts anderes dar als die besondere prozeßlen der individuellen Billigkeit darstellen! (vgl. oben § 17 zu Fußn. 55) –, aber auch in weiten Teilen des IPR – etwa bei der Bestimmung des Obligationsstatuts –, wo es an einem ableitungsfähigen System noch fehlt. 173 Vgl. das unter diesem Titel erschienene Buch von Coing. 174 Hinweise auf den Zusammenhang zwischen den allgemeinen Rechtsprinzipien und der Rechtsidee, finden sich häufig. Vgl. z. B. Coing, a.a.O., insbesondere S. 37 ff. und 70 ff.; Egger, Anm. 39; Roubier, La méthode, S. 51 (die Prinzipien seien „vrais dans tous les temps et tous les lieux“); H. J. Wolff, S. 36 f.; Simonius, S. 256 ff.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 5 (vorsichtig einschränkend auf das „Gleichmaß historisch geformter Gerechtigkeitsvorstellungen“); Larenz, Wegweiser, S. 304 („Das System der dem positiven, lebendigen Recht immanenten Rechtsprinzipien ist aber nichts anderes als die geschichtlich konkretisierte Rechtsidee, wenn man so will, das ,relative‘ Naturrecht der Geschichtsepoche“); Spiro, ZSR 69, 140 („induktives Naturrecht“). 175 I 33 II 1; ebenso Nikisch, § 44 III 2, und der Sache nach Blomeyer, Zivilprozeßrecht, § 61 II 2 b. 176 Das Prinzip der Waffengleichheit (grundlegend Bötticher, S. 9 ff.; eingehend auch Blomeyer, Zivilprozeßrecht, § 15) ist auch sonst für die Entscheidung einzelner prozessualer Probleme von großer Bedeutung. So folgt daraus z. B., daß der als solcher verklagte nichtrechtsfähige Verein trotz des Fehlens der aktiven Parteifähigkeit das Recht zur Erhebung einer Widerklage haben muß (vgl. dazu RGZ 74, 371 (375); Stein-Jonas-Schönke-Pohle, § 50 IV 2 a; Nikisch, § 29 II 4), – was sich allerdings noch im Rahmen des möglichen Wortsinnes des § 50 II HS 2 ZPO hält und daher dem Gebiet der Auslegung zuzurechnen ist. – Ähnlich sind die Besonderheiten der unselbständigen Anschlußberufung nur als Ausfluß des Prinzips der Waffengleichheit zu verstehen, so z. B. die Tatsache, daß eine Beschwer nicht erforderlich ist und die Anschlußberufung lediglich zum Zwecke der Klagerweiterung oder der Erhebung einer Widerklage eingelegt werden
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rechtliche Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes, – wie auch die Formulierung „ohne inneren Grund (also willkürlich!) schlechterstellt“ deutlich werden läßt. Das Gleichbehandlungsgebot aber ist allgemein als wesentlichster Bestandteil der Gerechtigkeit anerkannt177. Der Rechtsgedanke, der eine Bestimmung über die Zulässigkeit der Widerklage erfordert, läßt sich also über mehrere Stufen bis auf die Rechtsidee zurückführen. § 101 Als nächstes sei die Lehre vom „übergesetzlichen Notstand“ erwähnt. Das Fehlen seiner Regelung im StGB und im BGB ist nur deshalb kein rechtspolitischer Fehler, sondern eine Lücke, weil das „Güterabwägungsprinzip“ eine entsprechende Bestimmung fordert178, 179 [110] und dieses Bestandteil des geltenden Rechts ist. So beruft sich das RG ausdrücklich auf „das Ganze der Rechtsordnung“ und einen „ungeschriebenen Rechtssatz“180, der die richterliche Ausbildung eines „übergesetzlichen“ Rechtfertigungsgrundes notwendig mache. Aus dem positiven Recht läßt sich die allgemeine181 Gültigkeit des Güterabwägungsprinzips allerdings nicht ableiten; vielmehr scheint auch hier allein eine Rückführung auf die Rechtsidee der Problematik angemessen. Denn es folgt aus dem Wesen und den Aufgaben des Rechts, daß es bestimmte Güter schützt; es folgt aus der Natur der Sache, daß diese Güter miteinander kollidieren können. Für diese Fälle – und für die Differenzierung in der Behandlung der einzelnen Güter – muß die Rechtsordnung notwendig eine Rangfolge aufstellen und ein Gut auf Kosten des anderen höherwerten. Wenn nun ein Konflikt zweier Güter nicht kann (vgl. RGZ 29, 357; 59, 130; 156, 141 st. Rspr.; BGHZ 4, 229; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, § 521, I 1); dies läßt sich letztlich nur damit rechtfertigen, daß die Waffengleichheit beider Parteien in der 2. Instanz erhalten werden soll. – Ausdrücklich hervorgehoben wird dies nur von Walsmann (S. 121): auch die andere Partei müsse „die gleichen Rechte wie der Berufungskläger haben“. Interessant ist dabei sein Hinweis (a.a.O.), daß sich die Anschlußberufung in ihrer heutigen Ausgestaltung der Sache nach seit der Justinianischen Gesetzgebung „die ganzen Jahrhunderte hindurch behauptet“ habe. Wenn Walsmann dies freilich als eine „logische Notwendigkeit“ bezeichnet, so ist diese Erklärung schief; der wahre Grund liegt vielmehr in der im Text herausgearbeiteten engen Beziehung zum Gleichheitssatz und damit zur Gerechtigkeit. 177 Vgl. oben § 49; zu den Auswirkungen des Gleichheitssatzes im Privatrecht vgl. Götz Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, München und Berlin 1958. 178 RGSt 61, 242 (254), mit Literaturnachweisen. 179 Wenig dürfte mit der „Zwecktheorie“ gewonnen sein, die statt mit dem Güterabwägungsprinzip mit dem allgemeinen Rechtsprinzip des „angemessenen (richtigen) Mittels zum berechtigten Zweck“ arbeiten will (vgl. z. B. Dohna, S. 30 ff.; Welzel, StrR, § 14 IV). Denn es fragt sich eben, welches Mittel angemessen und welcher Zweck berechtigt ist, und das läßt sich letztlich doch nur mit Hilfe des Güterabwägungsprinzips entscheiden. 180 S. 247. 181 Die §§ 228 und 904 BGB sind für die Gewinnung eines allgemeinen Prinzips ein allzu dürftiger Ansatzpunkt; im übrigen wird wohl niemand behaupten wollen, daß, fehlten diese Bestimmungen, die medizinisch indizierte Schwangerschaftsunterbrechung de lege lata eben rechtswidrig und damit strafbar wäre, – daß also das Güterabwägungsprinzip ohne seine Positivierung in den §§ 228, 904 BGB nicht Bestandteil der geltenden Rechtsordnung wäre.
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ausdrücklich berücksichtigt ist, so muß der Rechtsunterworfene – da eine Lösung im Kollisionsfalle unumgänglich ist – die Entscheidung in concreto selbst treffen. Hält er sich dabei an die aus dem positiven Recht zu entnehmende Rangordnung der Güter, so kann ihm dieses aus seiner Entscheidung schlechterdings keinen Vorwurf machen, da die Verletzung eines Rechtsguts unausweichlich war und der Handelnde im übrigen nur die Wertungen der Rechtsordnung verwirklicht hat. Es müßte als schwerer Verstoß gegen die Gerechtigkeit empfunden werden, wenn dies rechtlich mißbilligt oder gar bestraft würde. Die Rechtsordnung würde dann mit sich selbst in Widerspruch geraten182, die Forderung nach ihrer inneren Übereinstimmung aber darf als Element der Rechtsidee angesehen werden183. Diese Rückführung auf die Rechtsidee kommt auch in den Begründungen der Literatur mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck. So [111] schreibt etwa Binding184: „Der Gesetzgeber kann sich aber der Pflicht gar nicht entziehen, zu den Handlungen behufs Lösung des Notstandes Stellung zu nehmen, und sobald er den Notstand richtig erkennt, sieht er, daß dieser ein Fall aus tausend ähnlichen ist, für deren Regelung sich mit der richtigen Erkenntnis des Übels auch die des einzigen Auskunftsmittels ergibt. Überall, wo der Staat vor zwei Übeln steht, von denen eines sicher kommt, meidet er das größere, wählt er das kleinere, nimmt er von zwei gleich großen Übeln das eintretende hin185.“ Ähnlich lautet die Begründung von Schönke-Schröder186: „Dieser ... Rechtfertigungsgrund beruht auf der Erwägung, daß es in Konfliktfällen den einer jeden Rechtsordung immanenten Zielen entspricht, ein an sich geschütztes Rechtsgut zu opfern, falls dies das einzige Mittel ist, um ein anderes höherwertiges Rechtsgut zu erhalten. Da die Rechtsordnung eine Rangfolge der Rechtsgüter durch verschieden hohe Strafdrohungen anerkennt, muß sie in derartigen Situationen auch mit der Verletzung eines geringwertigen Gutes einverstanden sein“185. Und auch Maurach leitet seine Untersuchungen über den übergesetzlichen Notstand damit ein, daß er sich „bei Erfassung seines Wesens zunächst gänzlich vom geltenden Recht“ löst und eine 182 Selbstverständlich handelt es sich nicht um einen logischen, sondern um einen normativen Widerspruch. 183 So ausdrücklich Larenz, Wegweiser, S. 304. – Freilich kann nicht jeder Wertungswiderspruch innerhalb der Rechtsordnung als Verstoß gegen die Rechtsidee angesehen werden. Es müssen vielmehr besondere Umstände hinzukommen, die ihn als untragbar erscheinen lassen. Diese sind hier in der Zwangslage zu erblicken, die dadurch begründet wird, daß ein Rechtsgut notwendig verletzt werden muß. – An dieser Stelle werden im übrigen die außergewöhnlichen methodischen Schwierigkeiten deutlich, die die Rechtfertigung einer konkreten Lösung aus der Rechtsidee mit sich bringt: wann ist ein Widerspruch untragbar?! Solche Ungewißheiten begegnen bei der Rechtsfindung aber allenthalben und können die grundsätzliche Richtigkeit des Ausgangspunktes nicht in Frage stellen. – Zu der in diesem Zusammenhang bedeutsamen Problematik der „Einheit der Rechtsordnung“ grundlegend die gleichnamige Schrift von Engisch. 184 Handbuch I, S. 760. 185 Hervorhebungen hinzugefügt. 186 Vorbem. III Anm. 10 vor § 51.
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„in allen Sachgebieten des Rechts verwendbare und sämtlichen Erscheinungsformen dieser Rechtsfigur gerecht werdende Begriffsbestimmung“ gibt187. Es handelt sich also ganz offenbar um ein in seinen Grundzügen188 dem positiven Recht vorgegebenes Institut. Enthält dieses keine entsprechende Regelung, so bedeutet das daher immer dann – aber auch nur dann – das Vorliegen einer Lücke, wenn die Anordnungen oder Wertungen des Gesetzes nicht entgegenstehen. § 102 Weiter sind in diesem Zusammenhang die Rechtsinstitute der „actio negatoria“ und des „Beseitigungsanspruchs“ zu erwähnen. Ihre Verbindlichkeit für das geltende Recht kann nur z. T. – nämlich nur, soweit die Klage auf ein absolutes Recht gestützt wird – aus dem Gesetz abgeleitet werden189 (aus einer Gesamtanalogie zu §§ 12, 862, 1004, 1017, 1027, 1029, 1065, 1090 II, 1134 I, 1227 BGB, 11 ErbbVO). Daß sie aber auch darüber hinaus de lege lata Berücksichtigung ver[112] dienen, daß das Fehlen ihrer gesetzlichen Regelung also eine Lücke darstellt, läßt sich auch hier wieder nur mit Hilfe allgemeiner Rechtsprinzipien beweisen. So findet die actio negatoria für alle Fälle, in denen ein drohender Eingriff bei seiner Verwirklichung einen der Tatbestände der §§ 823 ff. BGB verwirklichen würde, ihre Rechtfertigung darin, daß es besser ist, Schaden zu verhüten, als Schaden auszugleichen190. Auf diesem unmittelbar einsichtigen, d. h. in seiner Richtigkeit evidenten Satz beruht die Vereinbarkeit der Unterlassungsklage mit dem geltenden Recht: das Fehlen einer allgemeinen Regelung ist planwidrig, weil dieses Prinzip ohne eine Ergänzung des Gesetzes nicht voll zu verwirklichen ist. Auch hier wird man dabei die Gültigkeit des allgemeinen Prinzips auf die Rechtsidee zurückführen können. Dafür spricht nicht nur die Evidenz des Satzes, sondern auch wieder das Erfordernis der inneren Übereinstimmung der Rechtsordnung: das Recht würde sich mit sich selbst in Widerspruch setzen, wenn es zunächst bewußt einen Schaden eintreten ließe, – obwohl er noch zu verhindern ist, – und dann seinen Ersatz anordnet. Das RG hat daher im Ergebnis zu Recht die actio negatoria aus der „Gerechtigkeit“ abgeleitet191; freilich hätte dazu nicht ein lapidarer Hinweis genügt, sondern es wäre eine nähere Konkretisierung in einem allgemeinen Rechtsprinzip unter Berücksichtigung der Typizität des zu entscheidenden Problems erforderlich gewesen. § 103 Ähnlich steht es mit dem Beseitigungsanspruch. Daß er de lege lata auch über die rechtswidrige Verletzung absoluter Güter hinaus Geltung besitzt, beruht auf dem Prinzip, daß niemand ein von ihm – sei es auch schuldlos – begangenes A. T., § 27 I. Keineswegs aber in der technischen Ausgestaltung im einzelnen. Vgl. dazu unten §§ 153 ff. 189 Vgl. Larenz, SR II, § 70, I; Esser, § 211, 1. 190 So ausdrücklich Enneccerus-Lehmann, § 252 I 1. 191 RGZ 60, 6; ebenso schon RG JW 1899, Nr. 26 (S. 750). 187 188
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Unrecht aufrechterhalten darf192. Dieser Satz dient dabei der Lückenfeststellung, da allein er es ist, der eine entsprechende Ergänzung des Gesetzes fordert. Worauf er seinen Gültigkeitsanspruch stützt, ist freilich nicht ganz einfach zu begründen. Man könnte in diesem „einfachen Gedanken“193 ein evidentes rechtsethisches Prinzip sehen. Man kann aber auch hier wieder – wenn man den Blickwinkel verschiebt und die Frage nicht vom Handelnden, sondern von der Rechtsordnung her betrachtet – auf den Gesichtspunkt der inneren Übereinstimmung des Rechts zurückgreifen: es wäre widersprüchlich, wenn die Rechtsordnung untätig die Fortdauer einer von ihr mißbilligten – denn d. h. rechtswidrigen – Beeinträchtigung dulden würde. [113] § 104 Abschließend sei noch kurz das Institut der Einwilligung des Verletzten als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund erwähnt. Anschaulich schreibt Zitelmann194: „Indes unser Gesetzbuch schweigt über die Einwilligung vollständig; will man trotzdem ihre Wirksamkeit behaupten“ – d. h. doch wohl: das Schweigen des Gesetzes als Lücke nachweisen – „so muß man sie aus irgendeinem allgemeineren positivrechtlichen Grundsatz herleiten ...“. Dazu greift Zitelmann anschließend auf das Prinzip der Privatautonomie zurück. Mag diese Erklärung aus einem positiv-rechtlichen Prinzip für das Zivilrecht auch genügen, zu einer vollständigen Begründung des Instituts der Einwilligung reicht es nicht aus, da diese auch im Strafrecht als Rechtfertigungsgrund bedeutsam ist. Hier könnte man den Satz „volenti non fit iniuria heranziehen195. Das beiden übergeordnete und sie rechtfertigende Prinzip aber ist die Anerkennung der Selbstbestimmung der Person, und diese wiederum dürfte unmittelbar aus der Rechtsidee – in ihrer historisch konkretisierten Gestalt – folgen196. § 105 Abschließend sollen noch einmal die Gemeinsamkeiten der erörterten Beispiele zusammengefaßt und die dargelegten methodischen Möglichkeiten durch einige Einschränkungen und Warnungen ergänzt werden: In allen Fällen ist das Fehlen einer gesetzlichen Regelung nur deshalb als vom Standpunkt der Gesamtrechtsordnung aus „planwidrig“ anzusehen, weil ein allgemeines Rechtsprinzip Verwirklichung fordert und zu einer bestimmten Lösung drängt. Auf das positive Recht läßt sich die Gültigkeit des Prinzips dabei nicht stützen, doch steht dieses seiner Verwirklichung auch nicht entgegen (negative Abgrenzung). Seine innere Überzeugungskraft gewinnt es vielmehr durch seine 192 Larenz, SR II, § 70 II. Das RG spricht auch bei der Beseitigungsklage – i. E. wiederum zu Recht – von einem „Gebot der Gerechtigkeit“. Vgl. RGZ 148, 114 (123); 163, 210 (214); ebenso OGH 1, 182 (190). 193 Larenz, a.a.O. 194 AcP 99, S. 48. 195 Vgl. z. B. H. A. Fischer, Die Rechtswidrigkeit, S. 271; Schönke-Schröder, Vorbem. II, Anm. 7, vor § 51 StGB. 196 Die Rückführung auf die Rechtsidee schließt nicht aus, daß das Prinzip immanente Grenzen hat, – die im Beispielsfalle etwa in den §§ 138 BGB, 226 a StGB zutage treten.
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Rückführung auf die Rechtsidee (positive Begründung). Diese ist dabei aber stets in enger Verbindung mit dem positiven Recht zu sehen. Denn wie die Beispiele zeigen, werden die Kriterien, je weiter sie sich vom Problem entfernen und je näher sie der Rechtsidee kommen, desto allgemeiner und formaler. Prinzipien wie der Gleichheitssatz, der Gedanke, daß die Rechtsordnung sich nicht mit sich selbst in Widerspruch setzen darf, oder die Selbstbestimmung der Person, sind nicht schon für sich allein anwendbar, sondern können nur in engem Zusammenwirken mit dem positiven Recht konkretisiert werden; denn was gleich ist, was [114] ein innerer Widerspruch ist, oder wie weit die Selbstbestimmung der Person reicht, bestimmt sich in erster Linie aus den Anordnungen und Wertungen des Gesetzes. Schon um die Prinzipien zu füllen, bedarf es daher des Rückgriffs auf das positive Recht197. Im übrigen gewinnen sie ihren eigentlichen Inhalt erst durch den Bezug auf bestimmte typische Situationen und Problemlagen. So läßt sich beispielsweise die Rechtsidee über den Wert der Gerechtigkeit, das Gebot der Gleichbehandlung und das Prinzip der Waffengleichheit der Prozeßparteien bis zu einem so speziellen Satz wie „audiatur et altera pars“ konkretisieren. § 106 Andererseits ist aber auch darauf hinzuweisen, daß mit dem Abnehmen des vorwiegend formalen Charakters auch die Überzeugungskraft des Prinzips allmählich schwächer wird; besondere Vorsicht ist vor allem dort geboten, wo es nicht aus den allgemeinen Ordnungsaufgaben des Rechts gewonnen wird, sondern wo die Gültigkeit bestimmter rechtsethischer Maximen aus der Rechtsidee abgeleitet werden soll. Keinesfalls geht es etwa an, ohne weiteres allgemeine ethische Grundsätze auch als rechtsverbindlich zu postulieren; hier bedarf es vielmehr eines besonders genauen Nachweises der rechtlichen Relevanz des Prinzips. Ein krasses Fehlurteil ist in dieser Hinsicht die viel diskutierte Entscheidung des Großen Strafsenats des BGH, in der der Geschlechtsverkehr zwischen Verlobten – von einer ganz eng umgrenzten Ausnahme abgesehen – als „Unzucht“ im Sinne der Kuppeleitatbestände qualifiziert wird198. Zur Begründung hat sich der BGH auf die 197 Erst recht gilt dies für die Verfestigung der Prinzipien zu Rechtsinstituten, also für die Ausfüllung der mit ihrer Hilfe festgestellten Lücken. Vgl. dazu unten §§ 152 ff. 198 BGHSt 6, 46 ff.; vgl. dazu die Kritik von Bockelmann, JR 54, 361; Sax, JZ 54, 474; Jeschek, MDR 54, 645. Auch sonst beruft der BGH sich nicht selten auf ethische Werte, vgl. die bei Weinkauff, Naturrechtsgedanke; Engisch, Einführung, S. 125 ff., und Weischedel, S. 3, Fußn. 4, zitierten Entscheidungen und dazu die Kritik von Engisch, a.a.O., Weischedel, a.a.O., und Wieacker, Gesetz und Richter, S. 9 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch H. J. Wolff, S. 36. – Interessante Ausführungen über die möglichen soziologischen Hintergründe von BGHSt 6, 46 finden sich bei Kübler, S. 123 f.; er glaubt, die Wurzeln in den Moralanschauungen des Elternhauses des gegenwärtigen Richterstandes, der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Beamtenfamilie der Jahrhundertwende, aufdecken zu können. – Außerordentlich scharf ist auch die Kritik von Arndt, der die Entscheidung unumwunden als Symptom einer „Krise der Rechtsprechung“ bezeichnet (NJW 63, S. 1281, Sp. 1), und von Stein, der dem BGH vorwirft, der Entscheidung lägen „persönliche moralische Werturteile, nicht aber allgemeine, Gesetz gewordene Ordnungsprinzipen“ zugrunde (NJW 64, 1749).
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Gebote des „Sittengesetzes“ und die „vorgegebene und hinzunehmende Ordnung der Werte“ berufen. Diese setzten „dem Menschen die Einehe und die [115] Familie als verbindliche Lebensform“ und forderten, „daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich nur in der Ehe vollziehen soll“. – Gerade wenn man wie der BGH der Auffassung ist, daß es solche absoluten Normen gibt und daß sie auch für die Rechtsfindung fruchtbar gemacht werden können und sollen, hätte es schon der Rang und der Ernst des vom BGH in Anspruch genommenen Sittengesetzes gefordert, die Problematik mit einer denkbar subtilen Begründung statt mit bloßen Postulaten anzugehen. Dabei wären methodisch mehrere Schritte erforderlich gewesen. Bevor der Inhalt des Sittengesetzes überhaupt für die zu entscheidende Frage herangezogen werden durfte, hätte es zunächst des Nachweises bedurft, daß die Rechtsordnung es hier für relevant erklärt. Dies könnte zwar zweifellos durch einen wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriff wie den der „Unzucht“ geschehen, ist jedoch keinesfalls ohne weiteres zu bejahen; denn in aller Regel sind dabei wenn schon nicht rechtliche198a, so doch nur soziale Wertungen, also solche der bloßen Sitte und der gesellschaftlichen Konvention und nicht des Sittengesetzes, in Bezug genommen. In dem Urteil des BGH sucht man indessen vergeblich auch nur nach einem geringen Anhaltspunkt für die Entscheidung dieser – methodisch hoch interessanten und positiv-rechtlich ausschlaggebenden – Frage. Vielmehr stellt der BGH nur die (wandelbaren) Sozialnormen und die (unveränderlichen) Gebote des Sittengesetzes gegenüber und fährt dann ohne jede Begründung fort, es könne „nicht zweifelhaft sein, daß die Gebote, die das Zusammenleben der Geschlechter ... festlegen und verbürgen, Normen des Sittengesetzes sind ...“. – Daß sie dies auch sind, wird man dem BGH ohne weiteres zugestehen; daß sie es aber nicht nur sind und daß daneben vielmehr auch noch Sozialnormen über die sexuellen Beziehungen bestehen, kann man andererseits angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit ebenfalls nicht bestreiten. Wenn daher der BGH aus der bloßen Existenz von Normen des Sittengesetzes über die geschlechtlichen Beziehungen ohne weiteres folgert, daß diese auch für die Ausfüllung des Begriffs der Unzucht maßgeblich sein sollen, so ist dies ein logischer Fehlschluß seltenen Grades: die Wahl zwischen der Bezugnahme auf Normen des Sittengesetzes und auf solche der sozialen Übereinkunft steht dem Gesetzgeber zweifellos frei, und aus der Existenz eines ethischen Gebotes für sich allein folgt daher für seine rechtliche Relevanz noch überhaupt nichts. Vielmehr hat der Richter durch sorgfältige Auslegung zu ermitteln, ob nicht statt sittlicher Postulate Sozialnormen oder spezifisch rechtliche Werte heranzuziehen sind. [116]
198a Für eine Ausfüllung des Begriffs der Unzucht mit ausschließlich rechtlichen Wertungen tritt Bockelmann a.a.O. mit guten Gründen ein.
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Bei dieser Auslegung dürfte eine zweite methodische Schwierigkeit, – über die sich der BGH ebenfalls mit erstaunlicher Gleichgültigkeit hinweggesetzt hat –, von maßgeblicher Bedeutung sein: die Frage, ob und wie die Normen des Sittengesetzes mit solcher Sicherheit erkannt und formuliert werden können, daß sie einer rechtlichen Transformation überhaupt zugänglich werden. Auch wer von der Existenz absoluter Werte i. S. d. BGH überzeugt ist, kann doch nicht umhin zuzugestehen, daß ihre Erkennbarkeit auch für einen nicht „wertblinden“ Menschen mindestens zweifelhaft und daß ihre Verbindlichkeit allenfalls subjektiv erfahrbar, niemals aber rational beweisbar ist. Die methodischen Schwierigkeiten, das Sittengesetz im Hinblick auf einen konkreten Einzelfall zu einer verbindlichen juristischen Aussage zu konkretisieren, sind daher kaum zu überwinden; auch dem BGH „gelingt“ dies nur mit Hilfe offensichtlicher Verkehrungen der Wirklichkeit, wie etwa der unhaltbaren Behauptung, nur in der Ehe nähmen „sich die Geschlechtspartner so ernst, wie sie es sich schulden“; und auch der BGH sieht sich gezwungen, von den Geboten des Sittengesetzes, deren ausnahmslose Gültigkeit er noch soeben selbst feierlich beschworen hat, Ausnahmen zuzulassen, die an die praktischen Schwierigkeiten menschlichen Daseins angepaßt sind, daher gegenüber dem Rigorismus des absoluten Sittengesetzes nur als willkürlich erscheinen können und so den Ausgangspunkt des BGH geradezu widerlegen. – Die Konkretisierung rechtlicher Normen aus dem Sittengesetz ist daher mit ungewöhnlich großen Unsicherheitsfaktoren belastet, und schon diese Tatsache allein sollte genügen, um im Zweifel eine Verweisung des positiven Rechts auf das Sittengesetz zu verneinen; dies gilt um so mehr im Strafrecht, wo die rechtsstaatliche Garantie festumrissener Tatbestandsmerkmale den Rückgriff auf das Sittengesetz in einem besonders fragwürdigen Licht erscheinen läßt, wirkt er doch im Ergebnis wie eine Art Über-Generalklausel. Verbieten somit schon die Schwierigkeiten der Erkenntnis des Sittengesetzes und seine daraus folgende mangelnde rechtliche Konkretisierbarkeit regelmäßig, sittliche Normen bei der Rechtsfindung heranzuziehen, so spricht entscheidend auch noch eine zweite Erwägung gegen ein „Judizieren aus dem Sittengesetz“: dieses ist des Schutzes durch die Rechtsordnung weder bedürftig noch auch nur fähig. Von diesem Satz darf man als gesicherter Erkenntnis der Rechtsphilosophie ausgehen, ohne daß der Gegensatz von Recht und Sittlichkeit hier vertieft zu werden braucht. Mit dem Menschen als sozialem, und nicht als sittlichem Wesen hat es das Recht zu tun. Nicht „Unzucht“ zu hindern, sondern eine ganz bestimmte Form ihrer Förderung, nämlich Kuppelei zu strafen, ist dementsprechend der Zweck der §§ 180 f. StGB, nicht die allgemeine Moral oder gar das Sittengesetz zu hüten, sondern das [117] elterliche Autoritäts- und Fürsorgeverhältnis – als rechtlich-soziales, nicht als sittliches Institut – „rein“ zu halten, ist daher Aufgabe des Auslegenden. Völlig verkannt ist dies in einer neueren BGH-Ent-
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scheidung198b, die für einen ungewöhnlichen Sonderfall den Beschluß des Großen Senats besonders engherzig zu Ende führt. Liest man die Entscheidung, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als seien in Wahrheit die – nach dem Gesetz straffreien! – Verlobten angeklagt. Wenn der BGH dort ohne jede gesetzliche Grundlage behauptet, die Rechtsordnung (!) verlange, daß der Verlobte „sich der vorzeitigen Aufnahme geschlechtlicher Beziehungen mit seiner Partnerin aus Verantwortung gegenüber dem Ernst der Ehe und dem möglichen Nachwuchs enthalte“, so ist dies nicht nur eine unerträgliche Bevormundung des einzelnen, sondern es zeigt auch, mit welcher Selbstverständlichkeit hier Rechts- und Sittenordnung identifiziert werden; wenn der BGH schließlich die Gegenansicht mit der Begründung verwirft, ihre praktischen Folgerungen wären „sittlich“ und „rechtspolitisch“ untragbar (nicht etwa, weil die Kuppelei dadurch gefördert, sondern weil der außereheliche Verkehr in vielen Fällen sanktioniert würde!), so gebärdet er sich hier nicht mehr nur als Interpret des Sittengesetzes, sondern er wirft sich zu seinem Hüter auf, – ein Mißgriff, dem man nicht scharf genug entgegentreten kann. Denn nicht um die „limitierende“ Funktion des Sittengesetzes (oder richtiger: des Naturrechts) geht es hier, also um jene Ausnahmesituation, in der das gesetzte Recht an überpositiven Werten kritisch gemessen werden soll und das Sittengesetz bzw. das Naturrecht nur negativ sagt, was nicht Recht ist, sondern um seine „konkretisierende“ Funktion, also um die juristische Alltagsarbeit, bei der es positiv – als eines unter mehreren in Betracht kommenden Auslegungsoder Ergänzungsmitteln – bestimmen soll, was Recht ist; gerade um den überpositiven Werten im ersten Fall ihre Autorität als letzte und schärfste Waffe zu erhalten, sollte man sie nicht im zweiten unnötig bemühen und so ihre Glaubwürdigkeit belasten. Ist damit die Heranziehung des Sittengesetzes als solchen, – wenn überhaupt – nur in ganz seltenen Ausnahmefällen und nur mit äußerster Sorgfalt hinsichtlich der juristischen Transformation möglich, so bleibt andererseits doch festzuhalten, daß die Rechtsidee sich in bestimmten Fällen zu festen Einzellösungen konkretisieren läßt, – wobei freilich die auch damit noch immer verbundenen methodischen Unsicherheiten und Gefahren nicht geleugnet werden sollen. Vor allem wird hier häufig das wertende Element, das jeder Rechtsfindung innewohnt, einen besonders starken subjektiven Einschlag aufweisen; dieses [118] jedoch zugunsten einer rationalen Aufhellung soweit wie möglich zurückzudrängen, ist Aufgabe einer um methodische Klarheit und Verbindlichkeit bemühten Wissenschaft und einer nach Rechtssicherheit und Überzeugungskraft strebenden Rechtsprechung.
198b
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C. Rückführung eines allgemeinen Rechtsprinzips auf die„Natur der Sache“ § 107 „Auch aus der Natur der Sache haben wir das Rechtssystem zu ergänzen. Die Lebensverhältnisse tragen, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung in sich. Diese den Lebensverhältnissen und ihren Zwecken angemessene, den Lebensverhältnissen innewohnende Ordnung nennt man Natur der Sache.“ So lautet die klassische Definition Dernburgs199, auf die auch heute noch immer wieder zurückgegriffen wird200. Hinter dieser einfachen Formulierung verbirgt sich eine Reihe schwieriger philosophischer und rechtstheoretischer Probleme. So erhebt sich zunächst die Frage, ob dem Sein überhaupt eine Ordnung innewohnt, und weiter, ob sich daraus Normen gewinnen lassen, oder ob nicht vielmehr die Kluft zwischen Sein und Sollen unüberbrückbar ist; sodann fragt sich, ob dieser Sinn dem Menschen – wenigstens bruchstückhaft – zugänglich ist und ob die daraus abgeleiteten Sollenssätze mit einer für ihre wissenschaftliche Verwendung hinreichenden Sicherheit erkennbar sind; schließlich gilt es zu klären, ob, warum und inwieweit diese – objektiv vorhandenen und erkennbaren – Gebote rechtlich relevant sind. Es liegt auf der Hand, daß es den Rahmen dieser Arbeit sprengen und ihre beschränkte Fragestellung weit überschreiten würde, sollte hier der Versuch unternommen werden, diese – Jahrtausende alten201 – Probleme auch nur in ihren Grundzügen zu erörtern. Insoweit muß vielmehr auf das – in neuerer Zeit wieder stark angewachsene – Schrifttum Bezug genommen werden202. Nur ein Aspekt sei hier hervorgehoben: das Recht hat es vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, mit dem Menschen als einem sozialen Wesen und den von ihm geschaffenen sozialen Beziehungen und Institutionen zu tun. Da der Mensch auf Sinn- und Wertverwirklichung angelegt ist, hat er diesen von ihm gestalteten Bereich des Seins auch mit normativen Elementen erfüllt. Was etwa [119] das Wesen der Ehe oder des Arbeitsverhältnisses ist, bestimmt sich daher nicht zuletzt aus den sozialen Anschauungen und Wertungen203. Da diese wandelbar sind, erhält die Natur der Sache damit freilich – wenigstens in diesem Be-
Pandekten I, § 38, 2. Radbruch, Launfestschrift, S. 159; Fechner, S. 147; Larenz, Wegweiser, S. 281; Ballweg, S. 64; Henkel, S. 289. 201 Eine historische Übersicht gibt Radbruch, a.a.O., S. 155 ff. 202 Außer den Fußn. 200 Genannten vgl. noch die Arbeiten von Gutzwiler; Stratenwerth; Bobbio, ARSP 44, 305 ff.; Maihofer, ARSP 44, 145 ff.; Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 115 ff., und Festschrift für Eberhard Schmidt, S. 90 ff.; Ballweg; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffern 397 ff.; Welzel, Naturrecht, S. 240 ff.; Rinck, JZ 63, 521 ff. 203 Die Argumentation aus der Natur der Sache kann geradezu als Einbruchstelle sozialer Normen in das Recht bezeichnet werden, und es ist daher kein Zufall, daß sie gerade im Arbeits- und Familienrecht eine besondere Rolle spielt. 199 200
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reich204 – einen stark relativen Charakter205. Doch dürfte hier in der Tat ihr hauptsächliches Anwendungsfeld liegen. Faßt man diese Bezogenheit des Begriffs auf die sozialen Wertungen ins Auge, so verlieren der Schluß vom Sein auf das Sollen und die Frage der Erkennbarkeit eines im Sein angelegten Sinnes für diesen Teilaspekt viel von ihren Schwierigkeiten und Unklarheiten. § 108 Nicht geklärt ist damit freilich die rechtliche Relevanz der Natur der Sache. Dabei geht es hier nicht um die allgemein anerkannte Tatsache, daß das Recht an bestimmte naturgesetzliche Gegebenheiten gebunden ist; so könnte eine Norm, die allen Frauen befehlen würde, nur noch männliche Kinder zur Welt zu bringen, gewiß keine Gültigkeit beanspruchen. Diese Gebundenheit an die Realfaktoren des Seins scheidet man zweckmäßigerweise aus dem Begriff der Natur der Sache aus206, da es dabei um die rein negative Begrenzung des Rechts durch die von ihm zu gestaltende Faktizität und nicht um seine positive Sinnerfüllung durch ein im Faktischen enthaltenes Normativum geht. Was nun die Verbindlichkeit dieser im Rechtsstoff angelegten Ordnung für den Gesetzgeber und den Richter angeht, so wird man von zwei Grundsätzen auszugehen haben: Erstens: Die Natur der Sache „ist selbst noch nicht ,Recht‘“207, und der Gesetzgeber hat daher grundsätz- [120] lich die Freiheit, ob er sie beachten will oder nicht. Verfehlt er sie, so ist die von ihm gesetzte Norm nicht ohne weiteres ungültig208, sondern es taucht jetzt vielmehr allenfalls die Frage des „inhaltlich unrichtigen Rechts“ auf; der Richter sieht sich hier also vor die Problema-
204 Ob sie bei anderen Bezugspunkten die Gewinnung absoluter Normen ermöglicht, mag hier dahingestellt bleiben. Zu denken wäre dabei vor allem an eine Argumentation aus der Natur des Menschen. Wieweit sich daraus das Recht bindende Regeln gewinnen lassen, ist indessen recht zweifelhaft. Vgl. zu dieser Problematik (unter Beschränkung auf Fragen der neueren Strafrechtsdogmatik) Engisch, Schmidt-Festschrift, S. 90 ff. – Jedenfalls sind „Natur der Sache“ und Naturrecht scharf voneinander zu trennen. Vgl. dazu Larenz, Wegweiser, S. 287; Radbruch, a.a.O., S. 158; Fechner, S. 147, Fußn. 15. 205 So schreibt Radbruch (a.a.O., S. 158) „... aus der Natur der Sache aber ergibt sich die Mannigfaltigkeit historischer und nationaler Rechtsbildungen“. Vgl. auch Fechner, S. 149. 206 So Fechner, S. 146 f.; Larenz, a.a.O., S. 287 f.; anders Radbruch, a.a.O., S. 163; Maihofer, S. 158; neuestens Henkel, S. 295, der ähnlich wie hier in diesem Zusammenhang von „negativer Determinierung“ spricht, diese aber ebenso wie die „positiven Determinierungen“ der Natur der Sache zurechnet, unter der er alle Realfaktoren des Rechts (nicht des Seins) zusammenfaßt (vgl. S. 294). 207 Larenz, a.a.O., S. 287; ähnlich Radbruch, a.a.O., S. 162; vgl. jetzt ferner Henkel, S. 292 f., der die Natur der Sache nur als „Rechtsentstehungs-“ und nicht als „Rechtsgestaltungsquelle“ anerkennt. Im Text wird sie als (subsidiäre) Rechtsgeltungsquelle angesehen (vgl. zu Fan. 211), die ihre Verbindlichkeit jedoch nicht aus sich selbst, sondern aus ihrem Bezug auf die Rechtsidee gewinnt. 208 Anders offenbar Maihofer, S. 172 f., der die Natur der Sache als vorrangige Rechtsquelle ansieht, während sie hier nur als (gegenüber dem positiven Recht) subsidäre anerkannt wird. Gegen Maihofer jetzt sehr klar Henkel, S. 292 f.
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tik des Contra-legem-Judizierens gestellt209. Daher scheiden die Fälle, in denen der Gesetzgeber eine der Natur der Sache widersprechende Regelung getroffen hat, im Zusammenhang dieser Arbeit aus. § 109 Als zweite Maxime aber wird man den Satz aufstellen können, daß die Rechtsordnung im Zweifel eine der Natur der Sache entsprechende Regelung treffen will. Denn alles Recht ist seinem Wesen nach auf eine möglichst sinnvolle, zweckmäßige und der in den Dingen angelegten Ordnung entsprechende Regelung gerichtet. Treffend sagt Larenz, „die Forderung ... nach der Beachtung der von der Natur der Sache gebotenen Unterscheidungen“ sei ein Bestandteil der Rechtsidee210. Mag die Natur der Sache als solche auch als soziologischer Entstehungsgrund von Normen anzusehen sein, den Rang eines juristischen Geltungsgrundes erhält sie erst durch ihre Beziehung auf die Rechtsidee211. Insoweit aber ist sie auch von Bedeutung für die Auslegung212 und Fortbildung des Rechts213. Dabei bedarf sie freilich, da als solche ein außerrechtlicher Maßstab, der Umsetzung in spezifisch rechtliche Formeln. Auch diese werden regelmäßig am Problem entdeckt214, zunächst als allgemeine Rechtgedanken formuliert und dann in den Rang von Prinzipien erhoben215. Ihre Verbindlichkeit für das geltende Recht erlangen sie durch den Nachweis, daß dieses keine eindeutig entgegenstehende Anordnung oder Wertung getroffen hat; dann greift ohne weiteres der oben erwähnte Grundsatz ein, daß die Rechts- [121] ordnung im Zweifel eine der Natur der Sache entsprechende Regelung will. Nach den bisherigen Darlegungen nimmt es dabei nicht mehr wunder, daß auch die aus der Natur der Sache gewonnenen Prinzipien nicht nur als Mittel der Ausfüllung vorhandener Lücken dienen, sondern bereits als Maßstab für deren Feststellung verwandt werden. Charakteristischerweise zeigen dabei die folgenden Beispiele, daß auf diese Weise ebenso wie mit Hilfe des negativen Gleichheitssatzes meist „verdeckte“ oder „Ausnahme“-Lücken festgestellt werden; darin kommt die enge Beziehung zwischen einer Argumentation aus der Natur der Sache und dem negativen Gleichheitssatz zum Ausdruck: dieser gebietet, die „wertungsmäßigen Differenzierungen vorzuneh-
209 Zu den Fragen, die sich bei einer Umbildung des Gesetzes auf Grund der Natur der Sache ergeben, vgl. Larenz, ML, S. 309 ff. 210 a.a.O., S. 304. 211 Nach Radbruch (a.a.O., S. 162) ist die Natur der Sache der „auf eine Rechtsidee bezogene Sinn eines Lebensverhältnisses“. Vgl. auch Coing, Die obersten Grundsätze, S. 18, Fußn. 1; Larenz, a.a.O., S. 304; Bobbio, S. 314 f. 212 Soweit der Wortsinn mehreren Deutungen Raum läßt, wird man im Zweifel diejenige Auslegung zu wählen haben, die der Natur der Sache am meisten entspricht. 213 Vgl. auch Radbruch, a.a.O., S. 162. 214 Vgl. Ballweg, S. 68 f. 215 Hinweise auf den Zusammenhang von Natur der Sache und allgemeinen Rechtsprinzipien finden sich bei Esser, Grundsatz und Norm (S. 5, S. 104 und durchgehend); H. J. Wolff, S. 46.
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men“216 und ist damit im Grunde nichts anderes als jener Bestandteil der Rechtsidee, von dem Larenz sagt, er fordere „die Beachtung der von der Natur der Sache gebotenen Unterscheidungen“; nur daß der Wertmaßstab für die Feststellung, was ungleich ist, hier nicht den Einzelwertungen des Gesetzes, sondern eben der Natur der Sache entnommen wird. § 110 Als erstes Beispiel in diesem Zusammenhang sei das Prinzip der Höchstpersönlichkeit des Abschlusses von Verlöbnis und Ehe genannt. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß dieses Prinzip sich unmittelbar aus dem Wesen der Ehe als der engsten – persönlichen, sittlichen und wirtschaftlichen – Gemeinschaft zweier Menschen, also aus der Natur der Sache ergibt. Zur Lückenfeststellung dient es etwa, wenn aus ihm auf die Vertretungsfeindlichkeit der Verlobung geschlossen und damit der aus der Privatautonomie folgende Rechtssatz, daß grundsätzlich alle Rechtsgeschäfte217 vertretungsfreundlich sind, durch eine Ausnahmeregelung eingeschränkt wird. Daß deren Fehlen im Gesetz „planwidrig“ ist und eine entsprechende Ergänzung nicht contra legem erfolgt, ergibt sich eben aus der Annahme, der höchstpersönliche Charakter des Verlöbnisses sei von unserer Rechtsordnung anerkannt; dies aber folgt nur daraus, daß das Recht grundsätzlich der Natur der Sache Rechnung trägt. § 111 Von großer Bedeutung ist die Natur der Sache im Arbeitsrecht218. Dort hat sich aus ihr z. B. die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers entwickelt219. Diese hat dann zu einer Einschränkung der §§ 823 ff. [122] BGB in den Fällen der sogenannten „gefahrengeneigten Arbeit“ geführt. So schreibt Hueck220: „... entscheidend ist, daß es mit dem das Arbeitsverhältnis beherrschenden Treue- und Fürsorgegedanken nicht vereinbar ist, den Arbeitnehmer in derartigen Fällen mit dem ganzen Schaden zu belasten.“ Allein diese Begründung trage den „Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses“ Rechnung. Wieder wird also aus der Natur der Sache ein Prinzip gewonnen, und dieses fordert dann, für bestimmte Fälle eine Norm des positiven Rechts durch eine Ausnahmeregelung einzuschränken. § 112 Interessant ist schließlich auch die Einschränkung der Vorschriften des BGB über die Unmöglichkeit221 aus dem Gesichtspunkt des Betriebsrisikos. In einer berühmt gewordenen Entscheidung222 hatte das RG über die Frage zu befinden, Larenz, ML, S. 296. Der rechtsgeschäftliche Charakter des Verlöbnisses ist freilich bestritten. Vgl. dazu RGZ 61, 270; 80, 89; Lehmann, Familienrecht, § 6 I; Beitzke, § 5 I. 218 Vgl. dazu auch Radbruch, a.a.O., S. 174. 219 Vgl. die ausführliche Darstellung von Larenz (Wegweiser, S. 284), der im Anschluß an Hueck (Der Treugedanke, S. 15) nachweist, daß die Treupflicht ihre Rechtfertigung nicht schon aus dem positiven Recht, sondern nur aus der Natur der Sache gewinnt. 220 Arbeitsrecht I, § 35 II 4 (S. 233 f.). Vgl. aber unten Kap. V, Fußn. 37. 221 oder den Gläubigerverzug. Vgl. zu dieser – früher sehr strittigen – Frage Hueck, Arbeitsrecht I, § 44 IV 2 a. 222 RGZ 106, 272. 216 217
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ob ein Arbeitnehmer Fortzahlung des Lohnes beanspruchen kann, wenn der Betrieb vorübergehend durch den Streik eines Teiles der Arbeiter stillgelegt wird und auch die Arbeitswilligen daher an der Arbeit gehindert sind. Das RG führte aus, man dürfe „überhaupt nicht von den Vorschriften des bürgerlichen Gesetzbuches ausgehen“, sondern müsse „vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen, wie sie sich seitdem entwickelt und in der Gesetzgebung der neuesten Zeit ausdrückliche Anerkennung gefunden haben“. Dabei sieht das RG als wesentliche Besonderheit des Arbeitsverhältnisses zweierlei an: einmal die Tatsache, daß sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht scharf getrennt mit ausschließlich widerstreitenden Interessen gegenüberstehen, sondern durch das Band der „Betriebsgemeinschaft“ – die ihnen beiden gleichermaßen Arbeit und Einkommen gewährleistet – verbunden sind; zum zweiten die Tatsache, daß sie sich nicht als einzelne, sondern als Vertreter zweier „Gruppen der Gesellschaft“ gegenüberstehen. Aus dem ersten Gedanken folgt, daß es unangemessen ist, das Risiko für Störungen des Betriebes ausnahmslos der einen oder der anderen Seite aufzubürden, daß es vielmehr zwischen beiden Seiten zu verteilen ist; aus der zweiten Überlegung ergibt sich, daß einem Arbeitnehmer bei dieser Verteilung eine durch seine Kollegen verursachte Stillegung auch dann zuzurechnen ist, wenn er selbst an ihr nicht beteiligt war. Diese Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses stellt das RG nun der Regelung des BGB gegenüber. Entsprechend seiner individualistischen Grundauffassung sehe das BGB in seinen – an sich einschlägigen – Normen des Dienstvertragsrechts beide Teile nur als einzelne und in einem scharfen [123] Interessengegensatz223; dies aber treffe gerade für das Arbeitsverhältnis nicht zu. Hier wird die Nähe der Argumentation aus der Natur der Sache zur teleologischen Reduktion besonders augenfällig: die Vorschriften des BGB „passen nicht“, eben weil die Natur der Sache hier Differenzierungen gebietet. Gleichzeitig wird auch die Bedeutung der Lehre vom Typus224 sichtbar: die Regeln des BGB über Unmöglichkeit und Gläubigerverzug sind am „Typus“ der vermögensrechtlichen Austauschverträge entwickelt und auf diesen zugeschnitten; sie lassen sich daher nicht ohne weiteres auf das personenrechtlich strukturierte Arbeitsverhältnis übertragen. – Hier wirken die Argumentation aus der „Natur der Sache“, die Lehre vom Typus und die teleologische Reduktion also in höchst charakteristischer und häufig zu beobachtender Weise zusammen: die Erkenntnis der Natur der Sache öffnet den Blick für die Besonderheiten der fraglichen Lebens- und Rechtserscheinung, die Lehre vom Typus ermöglicht die rechtliche Einordnung und Unterscheidung der verschiedenartigen Phänomene, und diese führt dann schließlich zur Einschränkung, d. h. teleologi223 Nur diese Auffassung dürfte es letzten Endes rechtfertigen, die Gefahr stets dem einen oder dem anderen Teil ganz aufzubürden. 224 Vgl. Larenz, ML, S. 333 ff., mit Nachweisen; vgl. auch die in der folgenden Fußnote zitierte Begründung von Boehmer. – Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung des Typus für die Rechtsfortbildung findet sich unten § 146 zu Fußn. 37.
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schen Reduktion jener Normen oder sogar Normkomplexe, die auf einen anderen Typus ausgerichtet sind. – Man wird daher die umstrittene Entscheidung des RG letztlich tatsächlich dem Bereich der Rechtsfindung praeter legem zuzuordnen haben225. II. Rechtswerte § 113 Ganz ähnliche Probleme wie bei der Verwendung allgemeiner Rechtsprinzipien zur Lückenfeststellung ergeben sich bei der Berufung auf Rechtswerte. Auch hier ist entscheidend der Nachweis, daß ein Wert Bestandteil des geltenden Rechts ist; auch hier sind dafür die drei Möglichkeiten gegeben, ihn aus dem positiven Recht zu ermitteln, auf die Rechtsidee zurückzuführen oder aus der Natur der Sache zu gewin- [124] nen. Der Unterschied zwischen Wert und allgemeinem Rechtsprinzip ist dabei nicht immer leicht zu fassen; im wesentlichen dürfte er darin zu erblicken sein, daß das Prinzip schon eine Stufe stärker konkretisiert ist und bereits eine Anleitung für die Entscheidung des Richters für bestimmte typische Fallgestaltungen enthält, in der Formulierung also bereits die – für einen Rechtssatz charakteristische – Zweiteilung in tatbestandliche Voraussetzung und Rechtsfolge aufweist. Häufig stellen auch Prinzipien eine Ableitung aus Werten dar; so folgt etwa aus dem Wert der Gerechtigkeit das Gleichbehandlungsgebot. Da sich gegenüber dem im vorigen Abschnitt Ausgeführten hier keine wesentlichen Besonderheiten ergeben, sollen im folgenden nur noch kurz einige Beispiele für die Lückenfeststellung mit Hilfe rechtlicher Werte angeführt werden. A. Gewinnung aus dem positiven Recht § 114 Wie dem positiven Recht eine Reihe allgemeiner Prinzipien immanent sind, so enthält es auch eine Fülle von Werten. Auch diese sind Bestandteil des „inneren Systems“ und können, wenn sie keine hinreichende rechtstechnische Ausgestaltung gefunden haben, die Ergänzung des Gesetzes fordern. Eine Vorstufe positiv-rechtlicher Werte sind dabei die gesetzlich geschützten Interessen226. Ein 225 So Hueck, a.a.O., der ausdrücklich das Vorliegen einer Lücke bejaht (S. 350 unten). Anders Boehmer, Grundlagen II 2, S. 186 ff., der die Lehre vom Betriebsrisiko als Beispiel für die Rechtsschöpfung contra legem erwähnt. Dies ist jedoch nicht folgerichtig, da Boehmer selbst feststellt, „daß die auf ein ganz anderes Lebensphänomen zugeschnittenen Vorschriften des BGB ... nicht mehr passen“, damit der Sache nach also auch von einer (nachträglichen) Lücke ausgeht. 226 Daß das Interesse als solches oder die Interessenlage als bloße Fakten weder zur Lückenfeststellung noch zur Lückenausfüllung herangezogen werden können, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Entscheidend kann nur der gesetzliche Schutz des Interesses bzw. die gesetz-
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Beispiel, in dem ein solches Interesse die Ergänzung des Gesetzes fordert, bietet die Lage im Recht des ehelichen Kindes, nachdem das Bundesverfassungsgericht § 1628 für nichtig erklärt hat; nach dieser Vorschrift hatte der Vater für die Fälle, in denen sich die Eltern über eine Maßnahme der elterlichen Gewalt nicht einigen konnten, das Entscheidungsrecht. Man kann nun weder sagen, daß das Problem ohne weiteres in den rechtsfreien Raum zurückfällt, noch, daß ohne weiteres eine Lücke angenommen werden darf. Vielmehr gelten auch im Falle der Nichtigkeit einer gesetzlichen Vorschrift die allgemeinen Regeln über die Lückenfeststellung. Wollte die Rechtsordnung nun de lege lata auf ein Eingreifen verzichten, falls sich die Eltern nicht einigen können, so könnte dadurch das Wohl des Kindes227 bei wichtigen228 Entscheidungen erheb- [125] lich gefährdet werden; dies zuzulassen aber würde mit der sonstigen gesetzlichen Ausgestaltung des Schutzes des Kindes in Widerspruch stehen. Das gesetzlich geschützte Interesse des Kindes fordert daher einen Rechtssatz, kraft dessen die Entscheidung des Konfliktes der Eltern möglich ist229. § 115 Auch nachträglich kann durch Wandlungen der Grundentscheidungen einer Rechtsordnung ein Wert Bestandteil des positiven Rechts werden. Hierher dürfte z. B. die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts230 im Zivilrecht gehören. Man wird in der Tat sagen müssen, daß durch den hohen Rang, den das Grundgesetz als die Fundamentalnorm unserer Rechtsordnung der Persönlichkeit zugesprochen hat, und durch die darin zum Ausdruck gekommene Wandlung des allgemeinen Rechtsbewußtseins auch die Grundwertungen unserer Zivilrechtsordnung – unabhängig von der Frage der „Drittwirkung von Grundrechten“ – verändert worden sind, und daß daher bereits de lege lata ein Ausbau des zivilrechtlichen Schutzes der Persönlichkeit geboten, das BGB also insoweit lückenhaft geworden war231.
liche Bewertung der Interessenlage sein. Vgl. dazu Westermann, S. 16 ff. Im übrigen kann die Untersuchung der Interessenlage auch Ausgangspunkt für eine Argumentation aus der „Natur der Sache“ sein. 227 Dies ist der übergeordnete Wert. 228 Vgl. LG Stuttgart, NJW 1961, S. 273: „Da die Frage des Aufenthaltes ehelicher Kinder wegen ihrer Wichtigkeit (!) nicht unentschieden bleiben darf, muß ... die Möglichkeit bestehen, ... das Vormundschaftsgericht anzurufen.“ Auch Lange (NJW 61, 1889 ff.) weist darauf hin, daß das Kindeswohl eine Entscheidung fordern müsse und daß die Frage daher nicht von nur geringer Bedeutung sein dürfe (S. 1891). 229 Diese Möglichkeit bietet die Anrufung des Vormundschaftsgerichts analog, §§ 1630 II, 1666, 1671 f., 1727, 1750 I f., 1797 BGB, 3 EheG, 2 III RelKindErzG (vgl. BVfG NJW 59, 1483 ff., 1486; differenzierend Lange, a.a.O., S. 1891). 230 Larenz, Wegweiser, S. 301, rechnet das allgemeine Persönlichkeitsrecht dagegen den „Prinzipien“ zu. 231 Ob der BGH bei der Lückenausfüllung freilich den richtigen Weg gewählt hat, ist eine andere Frage. Vgl. dazu unten Kap. IV, Fußn. 66.
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B. Rückführung auf die Rechtsidee § 116 Ein der Rechtsidee immanenter Wert ist die Rechtssicherheit232. Diese fordert z. B. die Aufstellung eines Rechtssatzes mit dem Inhalt, daß Prozeßhandlungen, die unmittelbare Rechtswirkungen herbeiführen, bedingungsfeindlich sind233; denn wollte man beispielsweise eine bedingte Klageerhebung oder -rücknahme zulassen, so würde damit das Verfahren mit einer „unerträglichen“ Unsicherheit belastet. Freilich sind bei der Lückenfeststellung mit Hilfe eines so allgemeinen und abstrakten Wertes wie der Rechtssicherheit besondere Anforderungen zu stellen. So muß es sich um einen Fall handeln, in dem der Rechts[126] sicherheit – auf Grund der sonstigen gesetzlichen Ausgestaltung oder der Natur der Sache – besondere Bedeutung zukommt; mit Recht hat sich das RG daher zusätzlich auf die „Erfordernisse eines geordneten staatlichen Verfahrens“ berufen, wo Rechtsunsicherheit nicht geduldet werden könne. Außerdem kann selbstverständlich nicht jede leichte Ungewißheit genügen, sondern die Unsicherheit muß ein ungewöhnliches Maß erreichen. Diese stark „ausfüllungsbedürftigen“ Begriffe machen klar, daß hier die äußerste Grenze erreicht ist, wo noch die für die Lückenfeststellung erforderliche Objektivität der Bewertung gewährleistet ist. C. Rückführung auf die „Natur der Sache“ § 117 Als letztes Beispiel sei noch das Fehlen einer Regelung über den Parteiwechsel und -beitritt in der ZPO erwähnt. Will man nicht der – heute als überholt anzusehenden234 – „Klageänderungstheorie“ folgen, so muß man hier eine Lücke annehmen. Warum aber folgert man aus dem Schweigen des Gesetzes nicht, daß ein Parteiwechsel eben nicht statthaft sei, wie dies etwa die Ansicht der Vertreter der „Klagerücknahmetheorie“ war235. Die Antwort kann nur lauten, daß die Zulassung des Parteiwechsels wegen der damit verbundenen Möglichkeit, den Prozeß in seiner bisherigen Lage fortzuführen und so Arbeit und Kosten zu sparen, in hohem Maße zweckmäßig ist und daß die ZPO im allgemeinen derartigen Zweckmäßigkeitserwägungen Raum gibt236. Hier fordert also der – jeder Prozeß232 Vgl. z. B. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 168 ff.; Coing, Die obersten Grundsätze, S. 121 ff.; Henkel, S. 333 ff. 233 RGZ 144, 72; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, V 9b vor § 128; Rosenberg, § 61 IV 1. 234 Zur Problematik des Parteiwechsel vgl. vor allem de Boor, Zur Lehre vom Parteiwechsel; Nikisch, § 116; Rosenberg, § 41 III 2; Blomeyer, § 115 V; Bötticher, MDR 58, S. 330; Lent, JZ 56, S. 762; Henckel, DRiZ 62, 226; BGHZ 21, 285. 235 Vgl. Kisch, Parteiänderung im Zivilprozeß. 236 Auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte beruft sich ausdrücklich de Boor, S. 26 und S. 100. Als unmaßgeblich werden sie abgelehnt von Kisch, S. 41 f. – Es versteht sich, daß nicht die
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ordnung immanente und daher letztlich in der Natur der Sache begründete – Wert der Prozeßökonomie die Ergänzung des Gesetzes. [127] Zusammenfassung § 118 Damit dürfte der Kreis der Maßstäbe der Lückenfeststellung im wesentlichen abgeschritten sein. Er führte von den Anordnungen des Gesetzes über seine Einzelwertungen zu den Grundentscheidungen und den tragenden Ordnungsgedanken des positiven Rechts und endete bei überpositiven, aber nicht außerrechtlichen Kriterien wie den allgemeinen Rechtsprinzipien und Werten, die ihre Rechtfertigung durch die Rückführung auf die Rechtsidee oder die Natur der Sache gewinnen. Es ergab sich eine gleitende Skala mit fließenden Übergängen, wobei sich jedoch drei Stufen charakteristisch voneinander abhoben: I. Die geringsten Schwierigkeiten bot die Feststellung einer Lücke, wo sie sich aus den Anordnungen des Gesetzes – sei es aus einer einzelnen Norm, sei es aus dem Zusammenwirken mehrerer Vorschriften – ergab. Hier bedurfte es lediglich des regelmäßig unproblematischen Nachweises, daß das positive Recht einen Fall aus dem rechtsfreien Raum herausgenommen hat, ohne auf die so entstandene Rechtsfrage eine unmittelbare Antwort zu geben. Das wertende Element bei der Lückenfeststellung war hier daher sehr gering und die methodischen Vorgänge waren meist verhältnismäßig einfach. Als gemeinsames Charakteristikum wurde herausgearbeitet, daß der Richter sich stets vor die Wahl zwischen Rechtsverweigerung und Ergänzung des Gesetzes gestellt sah. II. Die zweite Stufe wurde gebildet durch die Lückenfeststellung an Hand der Einzelwertungen des Gesetzes, wobei insbesondere der Gleichheitssatz in seinem positiven wie in seinem negativen Teil als Maßstab für die Feststellung der Unvollständigkeit herangezogen wurde. Dabei zeigte sich, daß die Schlußverfahren der Analogie, des argumentum a fortiori, der teleologischen Reduktion und der – neu eingeführten – teleologischen Extension, die gewöhnlich nur im Rahmen der Lückenausfüllung behandelt werden, als Mittel der Lückenfeststellung dienen und insbesondere für die Abgrenzung gegenüber bloßen rechtspolitischen Fehlern unentbehrlich sind. Das wertende Element war hier bereits wesentlich stärker als bei der ersten Gruppe und trat vor allem bei der Ermittlung der ratio legis und der Prüfung der Rechtsähnlichkeit bzw. -unähnlichkeit in Erscheinung. III. Am freiesten und daher zugleich am schwierigsten waren die methodischen Vorgänge schließlich auf der dritten Stufe. Soweit die [128] zur Lückenfeststellung verwandten allgemeinen Rechtsprinzipien und Werte dem positiven Recht – im Wege der Induktion – entnommen wurden, war die Verwandtschaft mit der vorZweckmäßigkeit als solche zur Lückenfeststellung dienen kann, sondern daß es sich vielmehr um einen ausgesprochenen Rechtszweck handeln muß; dies ist bei der Prozeßökonomie der Fall.
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angegangenen Gruppe noch sehr deutlich; doch wurde hier durch die Frage nach der Allgemeinheit des Prinzips schon eine zusätzliche Wertung erforderlich, die sich nicht selten nur durch den Rückgriff auf die Rechtsidee oder die Natur der Sache vollziehen ließ. Dadurch ergab sich der Übergang zu den beiden weiteren Hauptkriterien für die positivrechtliche Verbindlichkeit allgemeiner Rechtsprinzipien und Werte: die Rückführung auf die Rechtsidee und die Ableitung aus der Natur der Sache, – wobei hier umgekehrt die Abstimmung mit den Wertungen des Gesetzes zur Sicherung oder Korrektur hinzutreten mußte. Somit lassen sich bei der Lückenfeststellung deutlich drei Stufen erkennen, auf denen verschiedene, aber jeweils in sich einheitliche methodologische Probleme auftreten. Es erscheint daher gerechtfertigt, demgemäß die Arten der Lücken entsprechend dem Maßstabe ihrer Feststellung abzugrenzen und die so gewonnene Neueinteilung den bisher bekannten Unterscheidungen an die Seite zu stellen. Dem ist das folgende Kapitel gewidmet. Anschließend soll dann gezeigt werden, daß diese Neueinteilung auch noch für andere Fragen wie das Verhältnis von Lückenfeststellung und -ausfüllung, die Funktion der Analogie bei der Lückenausfüllung und die Grenzen der Rechtsfortbildung praeter legem fruchtbar ist. [129]
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Drittes Kapitel Die Arten der Lücken § 119 Die Versuche der Literatur, die Lücken unter den verschiedensten Gesichtspunkten einzuteilen, sind mannigfach. Dabei ist im Laufe der Zeit eine Reihe von Unterscheidungen und Gruppen herausgearbeitet worden. Mögen diese auch nicht immer von praktischer Bedeutung sein, so sind sie doch keineswegs wertlos, sondern finden ihre Rechtfertigung darin, daß sie – wie jede „Grundlagenforschung“ – dem besseren Verständnis des zu untersuchenden Gegenstandes und damit – mittelbar – der Klarheit und Sicherheit der Rechtsfindung dienen. Im folgenden werden daher – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit1 – einige der bekanntesten Lückenarten in ihrer Besonderheit dargestellt; im Anschluß daran soll der Versuch gemacht werden, den bisherigen Einteilungen eine neue hinzuzufügen. Erster Abschnitt Unzutreffende Einteilungen Zunächst sind in diesem Zusammenhang einige Arten von „Lücken“ auszuscheiden, weil sie entweder geeignet sind, die saubere Abgrenzung des Lückenbegriffs aufzulösen, oder weil sie auf unzutreffenden Unterscheidungskriterien beruhen. Dabei kann im wesentlichen auf die Ausführungen des 1. Kapitels zurückgegriffen werden. [130] A. Verwischung der Grenze zur Rechtsfindung secundum legem: Lücken „intra und praeter legem“; „formelle und materielle“ Lücken; „Gebots- und Wertungslücken“ § 120 Unvereinbar mit der hier zugrunde gelegten Terminologie ist die Einteilung in Lücken „intra“ und „extra“ (bzw. „praeter“) legem2, in „materielle“ und „for-
1 Übersichten finden sich u. a. bei Somlo, S. 403 ff.; Heck, Gesetzesauslegung, S. 168 f.; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 60 ff. u. Kommentar, Randziffern 262 ff.; Keller, S. 61 ff. 2 Vgl. das oben, Kap. I, Fußn. 46, zitierte Schrifttum. Vgl. dort im übrigen auch zur Kritik dieser Terminologie.
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melle“3 Lücken u. ä. Damit soll der Gegensatz zwischen den Fällen, in denen trotz Vorliegens einer gesetzlichen Anordnung eine hinreichend konkretisierte Wertung fehlt, und jenen, in denen auch oder nur eine Anordnnung zu vermissen ist, gekennzeichnet werden; ähnliches bezeichnet Hecks Unterscheidung von „Gebotsund Wertungslücken“4. In dieser Arbeit ist jedoch als Abgrenzungskriterium für die Annahme einer Lücke nicht das Fehlen einer Wertung, sondern allein das Fehlen einer Anordnung des Gesetzes gewählt worden5, und dementsprechend geht es bei den erwähnten Einteilungen nach der vorgeschlagenen Terminologie nicht um eine Unterscheidung innerhalb des Lückenbereichs, sondern teilweise um den Gegensatz zwischen dem Lückengebiet als ganzem und bestimmten Fällen der Rechtsfindung secundum legem, teilweise um den Unterschied zwischen Lückenergänzung und freier Rechtsfindung. Dabei sei um der terminologischen Klarheit willen an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, daß oben der Vorschlag gemacht wurde, alle Fälle des Fehlens gesetzlicher Wertungen – secundum und praeter legem – unter dem Begriff „freie Rechtsfindung“ zusammenzufassen und sie so sachlich und begrifflich von dem Lückengebiet, dem sie nur teilweise angehören, zu unterscheiden6. B. Verwischung der Grenze zur Rechtsfindung contra legem: „Anwendbarkeitslücken“ und „kritische Lücken“; „immanente und transzendente“ Lücken; „logische und ethische“ Lücken; „eigentliche und uneigentliche“ Lücken § 121 Ist die Verwendung des Lückenbegriffs in den erwähnten Fällen abzulehnen, weil sie die Grenzen zur Rechtsfindung secundum legem verwischt, so bringen andere Einteilungen die Gefahr mit sich, daß der Unterschied zur Rechtsfindung contra legem verdunkelt wird. [131] Hier sind vor allem die Unterscheidungen von Somlo in „Anwendbarkeitslücken“ einerseits und „rechtspolitische“, „kritische“ oder „Richtigkeitslücken“ andererseits7, von Schreier in „immanente“ und „transzendente“8 und Burckhardt in „logische“ und „ethische“ oder „eigentliche“ und „uneigentliche“ Lücken9 zu erwähnen. So bezeichnet Somlo als Charakteristikum einer „kri3 Vgl. das oben, Kap. I, Fußn. 8, zitierte Schrifttum. In diesen Zusammenhang gehören ferner die sogenannten „Deutlichkeits-“ oder „Delegationslücken“ (vgl. dazu oben, Kap. I, Fußn. 47). 4 Gesetzesauslegung, S. 169. 5 Vgl. oben §§ 6 ff. 6 Vgl. oben, Kap. I, Fußn. 17. 7 S. 404 f. 8 S. 49. 9 Lücken, S. 55 ff. und S. 103 ff.
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tischen“ Lücke, daß gegen die Bestimmungen des Gesetzes „auf Grund irgendeines (!) Maßstabs die Forderung erhoben wird, daß das Recht auch noch irgendeine fehlende Bestimmung enthalten sollte“10. Hier von einer Lücke zu sprechen, ist nach den oben11 aufgestellten Kriterien unmöglich; denn daß das geltende Recht von irgendeinem Standpunkt aus unvollständig ist, genügt – wie gezeigt – gerade nicht. Mag es sich dabei auch nicht um einen Unterschied in der Sache handeln – Somlo weist seine kritischen Lücken zutreffend dem Bereich der Gesetzesberichtigung zu –, so ist diese Terminologie doch in hohem Maße geeignet, die klare Abgrenzung zwischen Lücke und Fehler aufzulösen und so die Rechtsprechung zu einem – regelmäßig unzulässigen – Contra-legem-Judizieren auf Grund eines mißverstandenen Lückenbegriffs zu verleiten. Mit Engisch und Larenz12 ist daher scharf an der terminologischen Trennung von Lücke und Fehler festzuhalten. C. Zitelmanns Unterscheidung „echter und unechter“ Lücken § 122 Eine besondere Auseinandersetzung erfordert schließlich noch eine der ältesten und häufigsten Unterscheidungen: die auf Zitelmann zurückgehende Einteilung in „echte“ und „unechte“ Lücken13. Hierauf soll näher eingegangen werden, zum einen, da diese Abgrenzung besonders viele Anhänger gefunden hat14, 15, zum anderen, da in ihr [132] ein richtiger Kern steckt und Zitelmann nur die Abgrenzungskriterien falsch gewählt hat, – während die Gruppierung der Beispiele – wie noch zu zeigen sein wird – zutreffend ist. Nach Zitelmann liegt eine echte Lücke vor, wenn „das Gesetz eine Antwort überhaupt schuldig bleibt, eine Entscheidung gar nicht ermöglicht, während eine Entscheidung doch getroffen werden muß“16. Eine „unechte“ Lücke dagegen ist dadurch gekennzeichnet, daß S. 404. §§ 21 ff. 12 Rechtslücke, S. 93 bzw. ML, S. 282. 13 S. 27 ff. 14 Vgl. Jung, Positives Recht, S. 33 ff. und Rechtsregel, S. 103; Windscheid-Kipp, S. 109, Fußn. 1 b; Rumpf, S. 151 ff.; Herrfahrdt, S. 9 ff.; Kraus, S. 625 f.; Hellwig, S. 165; von Tuhr, S. 42 f.; Spiegel, S. 123 ff.; Riezler, S. 169, Fußn. 74; Pisko, Kommentar, S. 135 f.; Bender, JZ 57, 599 f.; der Sache nach auch Stammler, S. 641; in neuerer Zeit – wenn auch in der Sache z. T. abweichend – vor allem Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 64 ff. und Kommentar, Randziffern 271 ff.; Keller, S. 61 ff. 15 Teilweise verbinden sich mit Zitelmanns Terminologie auch abweichende sachliche Vorstellungen. So verwendet E. Fuchs (S. 16) die Unterscheidung von echten und unechten Lücken zur Kennzeichnung des Gegensatzes von bewußten und unbewußten, Anschütz (S. 318 ff. unter ausdrücklicher Berufung auf Zitelmann) zur Abgrenzung von unausfüllbaren und ausfüllbaren Lücken; Egger (Rechtsprechung, S. 11) und Oertmann (Gesetzeszwang, S. 29) sprechen von echten Lücken dort, wo eine gesetzliche Wertung fehlt. 16 S. 27. 10 11
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„für besondere Tatbestände eine besondere, von der allgemeinen Regel abweichende rechtliche Behandlung im Gesetz vermißt wird“. Lückenausfüllung bedeutet, daß „der Richter jene allgemeine Regel für diese besonderen Tatbestände durchbricht und für sie einen neuen Rechtssatz ... findet“17. Unter der „allgemeinen Regel“ versteht Zitelmann dabei seinen ,,allgemeinen negativen Satz“18. Als Beispiel einer unechten Lücke erwähnt er etwa das Fehlen einer Regelung, die der Haftung der Gastwirte für eingebrachte Sachen nach § 701 BGB bei Schlafwagengesellschaften entspricht. Hier gebiete, so meint er, der allgemeine negative Satz, jeden Anspruch zu verneinen, und eine Analogie zu § 701 sei nur möglich, indem man ihn abändere. § 123 Diese Unterscheidung Zitelmanns ist terminologisch und sachlich unhaltbar19. Sie ist terminologisch unhaltbar, weil Zitelmanns „unechte“ Lücken in Wahrheit nicht weniger „echt“ sind als seine „echten“; wenn sich etwa im obigen Beispiel die Rechtsähnlichkeit der beiden Fälle nachweisen läßt, so wird man sicher allgemein das Fehlen eines entsprechenden Anspruchs gegen die Schlafwagengesellschaft als „typische“ Lücke empfinden20. Die Unterscheidung ist auch sachlich unhaltbar, weil sie auf dem unzutreffenden allgemeinen negativen Satz beruht: es geht im Beispielsfall nicht darum, eine Ausnahme von einer bestehenden gesetzlichen Regel zu finden, sondern es fehlt vielmehr – ebenso wie bei Zitelmanns „echten“ Lücken! – jede Vorschrift, und [133] es gilt daher, an Hand aller Mittel der Lückenfeststellung zu prüfen, ob dieses Schweigen eine Lücke darstellt oder zu einem argumentum e silentio Anlaß gibt21. Wieder wird an dieser Stelle sichtbar, zu welch unhaltbaren Folgerungen der allgemeine negative Satz führt: Zitelmann sieht sich gezwungen, in den – unzweifelhaft der Rechtsfindung praeter legem zugehörigen – Fällen seiner „unechten“ Lücken von „Korrektur des Rechts“ zu sprechen und zu behaupten, hier werde „die nach dem Gesetz zu treffende Entscheidung sachlich beanstandet“22. Die Formulierungen zeigen, in wie gefährlicher Weise auch hier die Unterschiede zwischen erlaubter Lücken-
S. 24 f. Vgl. dazu oben §§ 41 f. 19 Sie wird daher ausdrücklich abgelehnt von: Bierling, S. 384 ff.; Somlo, Anwendung des Rechts, S. 62 f. (allerdings mit unzutreffender Kritik); Brütt, S. 77 ff.; Ehrlich, S. 215; Oertmann, S. 29; Elze, S. 42; Redel, S. 26; Weigelin, S. 23 f.; kritisch auch: Reichel, S. 95 f., Fußn. 2; Stoll, Rechtsstaatsidee, S. 175, Fußn. 3; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 65 f.; Bastian, S. 60 ff. 20 Allerdings taucht hier das Problem der Abgrenzung von Lückenergänzung und ergänzender Vertragsauslegung auf. Vgl. dazu oben §§ 45 f. 21 Hier zeigt sich deutlich, daß das argumentum e silentio eine ähnliche Funktion erfüllt wie Zitelmanns „allgemeiner negativer Satz“. 22 S. 24. 17 18
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ergänzung und verbotener Rechtsfindung contra legem verwischt werden23. Vollends abzulehnen ist schließlich die praktische Folgerung, die Zitelmann zieht: da bei den unechten Lücken der Richter geltendes Recht ändern müsse, sei er hier zur Lückenergänzung nicht verpflichtet, sondern nur berechtigt. Dies ist gänzlich unhaltbar, da zu den unechten Lücken die meisten Analogiefälle gehören, der Richter dabei aber wegen seiner Bindung an den Gleichheitssatz – bei Fehlen eines Analogieverbotes – unbedingt zur Rechtsfortbildung verpflichtet ist. Man sollte daher die in jeder Hinsicht verwirrende und unzutreffende Unterscheidung von „echten“ und „unechten“ Lücken endgültig aufgeben. [134] Zweiter Abschnitt Die wichtigsten herkömmlichen Einteilungen A. Unterscheidung nach der Stellungnahme des historischen Gesetzgebers „bewußte und unbewußte“ Lücken § 124 Je nachdem, ob der historische Gesetzgeber die Unvollständigkeit der von ihm geschaffenen Regelung erkannt hat oder nicht, spricht man von bewußten oder unbewußten Lücken24. Gewiß ist es verhältnismäßig selten, daß die Verfasser eines Gesetzes eine Rechtsfrage absichtlich offen lassen; vielmehr werden sie regelmäßig wenigstens eine u. U. sehr allgemein gehaltene, konkretisierungsbedürftige Regelung geben. Doch hat der historische Gesetzgeber mitunter sogar auf die Entscheidung höchst bedeutsamer Probleme verzichtet, weil er sich dazu noch nicht für fähig hielt und ihre Lösung Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen wollte. Hierher gehören etwa die Frage der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs25, das Problem der Zulässigkeit der Wahlfeststellung im Strafrecht26, die zivilrechtliche Bedeutung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund27 oder die Haftung des Auftraggebers für Schäden, die der Beauftragte bei der Durchführung des Auftrags erleidet28. Freilich genügt in derartigen Fällen zur Annahme 23 Vgl. das oben § 42 a. E. zum „allgemeinen negativen Satz“ Gesagte und das dort, Fußn. 145, zitierte Schrifttum. Vgl. auch Pisko, Kommentar, S. 136 f. und 146, der die unechten Lücken ausdrücklich der Rechtsfindung contra legem zuordnet und daher folgerichtig auch von „rechtspolitischen Lücken“ spricht. 24 Vgl. z. B. Heck, Gesetzesauslegung, S. 162; Reichel, S. 94; Weigelin, S. 5 ff.; Sauer, S. 285 f.; Engisch, Rechtslücke, S. 89; Nipperdey, § 58 I 2; Larenz, ML, S. 286; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 68 und Kommentar, Randziffer 283; Dahm, S. 49. 25 Vgl. Mot. zum StGB für den Norddeutschen Bund I, S. 87. 26 Vgl. Mot. zur StPO I, S. 223. 27 Vgl. Prot. zum BGB II, S. 578. 28 Vgl. Prot. zum BGB II, S. 369 und Mot. zum BGB II, S. 541.
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einer Lücke – das ist gegenüber manchen oberflächlichen Begründungen in Literatur und Rechtsprechung29 hervorzuheben – die bloße Tatsache, daß der Gesetzgeber die Frage bewußt offen gelassen hat, nie; auch hier muß vielmehr vom Standpunkt der Gesamtrechtsordnung eine Planwidrigkeit vorliegen30, und auch hier gel- [135] ten daher die – im vorangegangenen Kapitel näher beschriebenen – allgemeinen Mittel der Lückenfeststellung. § 125 Die unbewußten Lücken kann man weiter nach ihrem Entstehungsgrund einteilen; die häufigsten und wichtigsten Beispiele in diesem Zusammenhang sind die Fälle, in denen die Verfasser der Gesetze die geregelte Problematik nicht vollständig überblickt haben, die sogenannten „Anschauungslücken“31. Eine weitere, freilich nicht sonderlich sinnvolle Unterscheidung beruht auf dem Kriterium, ob der Gesetzgeber die Unvollständigkeit „aus mangelnder Sorgfalt übersehen hat“ („Fahrlässigkeitslücken“ oder „unentschuldbare“ Lücken) oder ob er „die Lücken nicht bemerken konnte“ („entschuldbare“ Lücken)32. B. Unterscheidung nach dem Entstehungszeitpunkt der Lücke: „anfängliche und nachträgliche“ Lücken § 126 Weiter unterscheidet man nach dem Zeitpunkt der Entstehung die anfänglichen und die nachträglichen Lücken33. Die anfänglichen waren schon bei Erlaß des Gesetzes vorhanden, während die nachträglichen erst später auf Grund einer Änderung der tatsächlichen Gegebenheiten oder auch der der Rechtsordnung immanenten Wertungen entstanden sind. Da diese wegen der Notwendigkeit des Nachweises, daß die ursprünglichen Wertungen des Gesetzgebers nicht mehr zutreffen, besondere methodische Schwierigkeiten aufwerfen, sei die entstehende Problematik kurz an einem Beispiel veranschaulicht. § 127 In § 1592 II läßt das BGB für die Vaterschaftsvermutung bei ehelichen Kindern den Beweis zu, daß das Kind zu einer vor der gesetzlichen Empfängniszeit des Absatz I liegenden Zeit erzeugt worden ist; gelingt der Beweis, so erstreckt sich die Vaterschaftsvermutung zugunsten des Kindes auf diesen Zeitraum. Für das Recht des unehelichen Kindes fehlt in § 1717 eine entsprechende 29 Vgl. z. B. die Entscheidung des RG über die Zulässigkeit der Wahlfeststellung, RGSt 68, 257 (259). Dazu näher unten § 148. 30 Hier hat die subjektive Auslegungstheorie freilich gewisse Schwierigkeiten. Vgl. dazu oben, Kap. I, Fußn. 100. 31 Heck, Gesetzesauslegung, S. 173; Stoll, Methode, S. 100. 32 Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 68 und Kommentar, Randziffer 284; vgl. auch Sauer, S. 284 f. 33 Vgl. z. B. Jung, Rechtsregel, S. 109 f.; Heck, Gesetzesauslegung, S. 168 f.; Engisch, Rechtslücke, S. 90; Larenz, ML, S. 286; Dahm, S. 54 f.; Desserteaux, S. 426 ff. – Zur Problematik des „Wandels der Normsituation“ vgl. im übrigen auch unten §§ 181 ff.
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Vorschrift. Es liegt nahe, dies als Lücke zu bezeichnen und § 1592 II entsprechend anzuwenden. Indessen zeigen die Motive34, daß die Regelung klar durchdacht ist: Bei Erlaß des BGB im Jahre 1900 waren die physiologischen Vorgänge der Schwangerschaft wissenschaftlich noch so wenig erforscht, [136] daß nur durch die Aufstellung starrer Fristen für die Empfängniszeit eine erhebliche, mit den Interessen aller Beteiligten unvereinbare Beweisunsicherheit vermieden werden konnte. Die Billigkeit im Einzelfall mußte daher zugunsten der Rechtssicherheit zurücktreten. Davon glaubte der Gesetzgeber zum Schutze der ehelichen Kinder eine Ausnahme machen und den Beweis einer weiter zurückliegenden Empfängnis zulassen zu können. Denn zum einen fallen wegen der vergleichsweise geringen Zahl der Prozesse auf Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes die Erfordernisse der Rechtssicherheit hier nicht so stark ins Gewicht, während für die unverhältnismäßig häufigeren Klagen des unehelichen Kindes auf Unterhaltszahlung eine derartige Ausnahme nicht gerechtfertigt schien; zum anderen galt nach den Wertungen der Jahrhundertwende das uneheliche Kind als weniger schutzwürdig. Alles in allem lag also eine wohl überlegte Regelung vor, die – auch vom Standpunkt der objektiven Auslegungstheorie – im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes die Annahme einer Lücke ausschloß. Inzwischen haben sich nun aber die bei der Schaffung des BGB maßgeblichen Gesichtspunkte entscheidend gewandelt: auf Grund der neueren medizinischen Erkenntnisse ist die Feststellung des Zeitpunktes der Empfängnis mit hoher Gewißheit möglich35, und eine Gefährdung der Rechtssicherheit droht daher nicht mehr; außerdem ist heute (weder nach der sozialen Anschauung noch) nach den unserer Rechtsordnung immanenten Wertungen (Art. 6 V GG!) das uneheliche Kind wesentlich weniger schutzwürdig als das eheliche. Vom Boden des jetzt geltenden Rechts aus gebietet daher der Gleichheitssatz die entsprechende Anwendung des § 1592 II auf das uneheliche Kind, so daß die Regelung des Gesetzes nachträglich unvollständig geworden ist36. C. Unterscheidung nach dem Verhältnis zum Wortlaut des Gesetzes: „offene und verdeckte“ Lücken § 128 Mit den beiden bisher genannten Einteilungen überschneidet sich eine dritte: je nachdem, ob der Wortlaut des Gesetzes zu eng oder zu weit ist, spricht man
Vgl. Bd. IV, S. 648 f. und 890 f. Vgl. LG Göttingen, MDR 51, 614. 36 Die Frage ist stark umstritten. Zum Stand der Meinungen vgl. Erman-Hefermehl, § 1717, 2 b; Palandt-Lauterbach, § 1717, 1. 34 35
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von offenen oder verdeckten Lücken37. [137] So ist etwa die eben erwähnte Unvollständigkeit der Regelung des § 1717 oder das Fehlen einer dem § 463 Satz 2 entsprechenden Bestimmung bei arglistiger Vorspiegelung einer günstigen Eigenschaft eine offene Lücke; doch gehören hierher nicht nur die Analogiebeispiele, sondern auch Fälle wie das Fehlen des Obligationsstatuts im deutschen IPR oder einer Zuständigkeitsbestimmung in Art.104 GG: die Unvollständigkeit liegt unmittelbar zu Tage, die Lücke ist „offen“. – Die verdeckten Lücken sind die Fälle der teleologischen Reduktion: § 165 BGB gilt scheinbar auch für beschränkt Geschäftsfähige, die eine OHG als deren Mitglieder vertreten38, und § 1700 beansprucht seinem Wortsinn nach Geltung auch für die Fälle der Bigamie39. Das Gesetz enthält hier also scheinbar eine Regelung, die Lücke ist daher „verdeckt“. D. Unterscheidung nach der Art der Unvollständigkeit: „Norm-, Regelungs- und Gebietslücken“ § 129 Schließlich sei noch eine vierte wesentliche Unterscheidung erwähnt, die vor allem von Larenz herausgearbeitet worden ist: ist eine Norm in sich unvollständig, so kann man von einer Normlücke sprechen, ist dagegen eine Regelung als Ganzes lückenhaft, so liegt eine Regelungslücke vor40; im ersten Fall fehlt nur ein Bestandteil einer Vorschrift, im zweiten ein gesamter Rechtssatz. Dem kann man noch die Fälle zur Seite stellen, in denen ein ganzes – mehr oder weniger geschlossenes – innerlich zusammenhängendes Gebiet ungeregelt geblieben ist, in denen also ein Komplex von Normen fehlt; hier könnte man von Gebietslücken sprechen. Als Beispiel sei etwa an die Lage im ehelichen Güterrecht nach Außerkrafttreten des alten Familienrechts und vor Erlaß des Gleichberechtigungsgesetzes oder auch an das Fehlen eines allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts erinnert. 37 Vgl. z. B. Reichel, Zur Rechtsquellenlehre, S. 80; Dahm, S. 49 f. (wobei allerdings fälschlich die offenen Lücken in Gegensatz zu den „bewußten“ und in Zusammenhang mit den „nachträglichen“ gebracht werden); Tuor, 5. Aufl., S. 36 N5; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 62; Bastian, S. 62 ff.; Larenz, ML. S. 283 ff.: Der Sache nach schon Danz, S. 88 und Reichel, Gesetz und Richterspruch, S. 96; eine abweichende Terminologie verwenden: Keller, S. 62 f. (der Gegensatz sei im wesentlichen gleichbedeutend mit Zitelmanns Unterscheidung von echten und unechten Lücken); Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffern 262 und 270 (gleichbedeutend mit Lücken intra und praeter legem); Schack, S. 275 (offene Lücken seien bewußte oder unbewußte anfängliche Lücken, unter fälschlicher Berufung auf Zitelmann). 38 Vgl. oben § 74. 39 Vgl. oben § 77. 40 ML, S. 280 f.; ähnliches bezeichnet die Unterscheidung von Lücken im Recht und Lücken im Rechtssatz (Burckhardt, Lücken, S. 46 ff.; Keller, S. 65; Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 280) oder von „Teil“- und „Gesamtlücken“ (Dahm, S. 49); abweichend der Sprachgebrauch von Bartholomeyczik, S. 93, der unter Normlücke (auch: „eigentliche Gesetzeslücke“) eine „echte Lücke“ i. S. Zitelmanns versteht.
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§ 130 Auch diese Einteilung überschneidet sich wieder mit den vorhergehenden. Insbesondere gibt es offene und verdeckte Regelungs- und auch offene und verdeckte Normlücken. Eine offene Normlücke [138] bildet z. B. das Fehlen einer Bestimmung über den Passivlegitimierten in § 904 Satz 2 BGB41 oder die Gewährung eines Zinsanspruchs ohne Bestimmung der Höhe. Beispiele für verdeckte Normlücken – die bisher, soweit ersichtlich, in ihrer Eigenart noch nicht erkannt und herausgestellt wurden – sind oben im Zusammenhang der teleologischen Reduktion gegeben worden: hierher gehören das Fehlen der Worte „in zurechenbarer Weise“ in § 339 Satz 2 und § 817 Satz 242. Als charakteristischer Unterschied gegenüber den verdeckten Regelungslücken war dabei herausgearbeitet worden, daß hier nicht für einen Sonderfall ein Ausnahmetatbestand hinzugefügt, sondern die Norm vielmehr für ihren gesamten Anwendungsbereich eingeschränkt wird43 – weshalb der häufig verwandte Terminus „Ausnahmelücke“44 keineswegs auf alle Fälle der teleologischen Reduktion paßt. [139] Dritter Abschnitt Der eigene Einteilungsvorschlag Unterscheidung nach dem Maßstab der Lückenfeststellung: „Anordnungs- oder Rechtsverweigerungslücken“, „teleologische“ Lücken und „Prinzip- und Wertlücken“ § 131 Zitelmanns Unterscheidung von „echten“ und „unechten“ Lücken hat trotz der offensichtlichen Unhaltbarkeit seiner Abgrenzungskriterien in der Literatur so viel Zustimmung gefunden, daß sich der Gedanke aufdrängt, in dieser Einteilung müsse ein richtiger Kern stecken. Vergleicht man nun seine Beispiele, so läßt sich in der Tat nicht leugnen, daß zwischen den beiden Gruppen deutliche Unterschiede bestehen. Als Fälle echter Lücken nennt Zitelmann etwa die Anordnung einer Wahl ohne Regelung des Verfahrens, die Gewährung eines Zinsanspruchs ohne Bestimmung seiner Höhe oder das Fehlen des Obligationsstatuts im EGBGB; Beispiele für unechte Lücken sind die Frage, ob nach Aufkommen des Telefons auf ein fernmündliches Vertragsangebot die Regeln über Anwesende oder Abwesende anzuwenden sind, das Fehlen einer dem § 310 StGB entsprechenden Regelung für den Teilnehmer, einer dem § 701 BGB entsprechenden Bestimmung für die Schlafwagengesellschaft oder die – angebliche – Beispiel von Larenz, ML, S. 280; weitere Beispiele vgl. oben § 50 a. E. Vgl. oben § 73 bzw. § 80. 43 Vgl. oben § 80. 44 Vgl. das oben, Kap. II, Fußn. 79, zitierte Schrifttum. 41 42
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Unanwendbarkeit des § 447 BGB auf Versendungskäufe innerhalb derselben Ortschaft. So treffend nun die Gegenüberstellung dieser verschiedenen Fälle ist, so unrichtig sind – wie oben dargelegt – die von Zitelmann herausgearbeiteten Unterscheidungsmerkmale. Worin aber liegen dann die – offensichtlichen – Gemeinsamkeiten der jeweiligen Beispiele und worin die charakteristischen Unterschiede der beiden Gruppen? § 132 Mit Hilfe der herkömmlichen Lückeneinteilungen läßt sich diese Frage nicht beantworten; so finden sich auf beiden Seiten Norm- und Regelungslücken45, und auch der Unterschied von offenen und verdeckten Lücken kann Zitelmanns Beispielsfälle nicht erfassen, da zwar die echten Lücken nie verdeckt sind, andererseits aber die offenen [140] Lücken auch bei den unechten vorkommen46. Ohne Schwierigkeit gelingt die Einordnung dagegen, wenn man nach dem Maßstab der Lückenfeststellung47 fragt: bei den „echten“ Lücken fordern die Anordnungen des positiven Rechts – als einzelne oder in ihrem Zusammenwirken – die Ergänzung des Gesetzes, und der Richter sieht sich daher vor die Wahl zwischen Lückenausfüllung und Rechtsverweigerung gestellt48, 49. So waren etwa die von Zitelmann erwähnten Beispiele des Fehlens des Obligationsstatuts oder der mangelnden Bestimmung eines Zinssatzes oben50 als charakteristische Fälle für diese Art der Lückenfeststellung genannt worden. Die „unechten“ Lücken dagegen sind durchweg Beispiele, die in den Rahmen des zweiten Abschnittes des zweiten Kapitels dieser Arbeit gehören: hier fordern die Einzelwertungen des Gesetzes i. V. m. dem Gleichheitssatz die Ergänzung des positiven Rechts; es handelt sich ausnahmslos um Fälle, in denen die Lücke – bei einer methodisch wirklich sauberen Die verdeckten Normlücken hätte Zitelmann zweifellos den „unechten“ zugerechnet. Anders allerdings, wenn man Zitelmanns „allgemeinen negativen Satz“ zugrunde legt: die unechten Lücken sind dann stets verdeckt. 47 Ein – allerdings nicht näher ausgeführter - Hinweis darauf findet sich neuerdings bei Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffer 273 (unter Bezugnahme auf Keller; vgl. dazu sogleich Fußn. 49). 48 Darauf scheint auch die Formulierung Zitelmanns hinzudeuten, daß bei den „echten“ Lücken das Gesetz „eine Entscheidung gar nicht ermöglicht, während eine Entscheidung doch getroffen werden muß“. 49 Ähnliches scheinen u. a. Somlo (S. 404 f.) mit seinen „Anwendbarkeitslücken“, Schreier (S. 49) mit den „immanenten“ Lücken, Burckhardt (Lücken, S. 55 ff.) und Bartholomeyczik (S. 93 f.) mit den „eigentlichen Lücken“ und vor allem Keller mit der Gegenüberstellung von „systematischen“ und „politischen“ Lücken (S. 60 ff.) im Auge zu haben, doch werden die Abgrenzungskriterien regelmäßig nicht zutreffend herausgearbeitet. Insbesondere findet sich immer wieder in verschiedenen Spielarten die schon von Zitelmann zur Unterscheidung von echten und unechten Lücken verwendete Kennzeichnung, im einen Falle fehle ein Rechtssatz überhaupt, im anderen sei zwar eine Regelung vorhanden, sie sei aber „unpassend“ oder „unbefriedigend“. In Wahrheit liegt in allen Fällen einer Lücke keine – auch keine unpassende – Regelung vor, denn das macht ja gerade den Begriff der Lücke aus; offensichtlich wirkt hier Zitelmanns allgemeiner negativer Satz noch fort. 50 Vgl. §§ 50 f. 45 46
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Untersuchung – nur mit Hilfe von Analogie oder teleologischer Reduktion festgestellt werden kann. § 133 Demnach erscheint es berechtigt, den bisherigen Einteilungsarten – wie bereits am Ende des letzten Kapitels angedeutet – eine weitere an die Seite zu stellen und die Lücken nach dem Maßstab ihrer Feststellung zu unterscheiden. Entsprechend den oben herausgearbeiteten drei Stufen der Lückenfeststellung51 ergeben sich dabei drei Gruppen: 1. die Fälle, in denen die Anordnungen des Gesetzes in Verbindung [141] mit dem Rechtsverweigerungsverbot die Ergänzung erzwingen; hier könnte man von „Anordnungs-“ oder – kennzeichnender, wenn auch sprachlich nicht sehr schön – von „Rechtsverweigerungslücken“ sprechen; treffend wäre auch der Terminus „Funktionslücken“, da es sich hier um eine „Funktionsstörung“ der Rechtsordnung handelt52, – 2. die Fälle, in denen die Teleologie des Gesetzes die Rechtsfortbildung fordert, wo also Analogie, argumentum a fortiori, teleologische Reduktion und Extension zur Lückenfeststellung dienen; hier liegt die Bezeichnung „teleologische Lücken“ nahe, – und 3. die Fälle, in denen die Lückenfeststellung mit Hilfe allgemeiner Rechtsprinzipien und -werte erfolgt, und die man daher als „Prinzip-“ und „Wertlücken“ bezeichnen kann. § 134 Gewiß sind bei dieser Einteilung – wie übrigens auch bei den herkömmlichen Lückenarten – die Grenzen fließend, und es mag daher sein, daß sich Beispiele finden lassen, deren Zuordnung zu einer der Gruppen Schwierigkeiten bereitet. Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Berechtigung der vorgeschlagenen Unterscheidung, da die Fälle sich in den Kernbereichen deutlich voneinander abheben, und sich im übrigen für diese einzelnen Lückenarten sogar unterschiedliche methodische Regeln aufstellen lassen. Als charakteristische Beispiele aus dem geltenden Recht sei hier für die Rechtsverweigerungslücken an das Fehlen einer Bestimmung über den Passivlegitimierten in § 904 Satz 2 BGB oder über das Obligationsstatut im EGBGB erinnert, für die teleologischen Lücken an das Fehlen eines Anspruchs auf Ersatz des positiven Interesses bei Vorspiegelung einer günstigen Eigenschaft in § 463 BGB und an das Fehlen einer Ausnahmebestimmung für OHG-Mitglieder in § 165 BGB, für die Prinzip- und Wertlücken schließlich an den Mangel einer allgemeinen Regelung des übergesetzlichen Notstands im Straf- und Zivilrecht oder einer Bestimmung über den Parteiwechsel im Zivilprozeß. Im übrigen muß auf die große Zahl von Beispielen verwiesen werden, die in den jeweiligen Abschnitten des vorigen Kapitels gegeben wurde. Mit den bisher bekannten Einteilungen überschneiden sich die hier unterschiedenen Lückenarten: sie können grundsätzlich anfängliche und nachträgliche, bewußte und unbewußte, offene und verdeckte, Norm- und Regelungslücken sein. Besonderheiten gelten insoweit allerdings bei den RechtsverweigerungslüVgl. § 118. Diese Bezeichnung hat den Vorzug, daß sie sich ohne weiteres auch auf Vertragslücken anwenden läßt, wo der Sache nach dieselben Lückenarten zu finden sind. 51 52
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cken: sie können nur offene Lücken sein; denn bei den verdeckten Lücken läßt sich dem Gesetz eine formal haltbare, da auf den Wortlaut gestützte Entscheidung stets ent- [142] nehmen, und von Rechtsverweigerung kann daher hier nie die Rede sein. Im übrigen aber sind beliebige Kombinationen denkbar. So ist das Fehlen des Obligationsstatuts eine bewußte, anfängliche, offene Regelungs- und Rechtsverweigerungslücke, die Unvollständigkeit des § 463 Satz 2 BGB eine unbewußte, anfängliche, offene teleologische Regelungslücke, die mangelhafte Fassung des § 904 Satz 2 eine offene Norm- und Rechtsverweigerungslücke, die Unvollständigkeit des § 817 eine verdeckte teleologische Normlücke, die ungenügende Regelung des Notstands eine offene Regelungs- und Prinziplücke, das Fehlen einer Einschränkung für Minderjährige in § 54 Satz 2 BGB53 eine verdeckte Prinziplücke usw. § 135 Die Charakteristika von Rechtsverweigerungslücken, teleologischen Lücken und Wert- und Prinziplücken werden durch das Unterscheidungskriterium bestimmt: den verschiedenen Maßstab der Lückenfeststellung. Die sich daraus ergebenden methodischen Unterschiede bei der Lückenfeststellung sind oben bereits ausführlich dargestellt worden54: bei den Rechtsverweigerungslücken ergibt sich die Lücke regelmäßig ohne Schwierigkeiten daraus, daß das positive Recht eine Rechtsfrage aufwirft, die Antwort aber schuldig bleibt; bei den teleologischen Lücken erfolgt die Lückenfeststellung mit Hilfe von Analogie, argumentum a fortiori, teleologischer Extension und Reduktion; bei den Prinzip- und Wertlücken schließlich ist hier der Nachweis erforderlich, daß ein Rechtsprinzip oder -wert Bestandteil der geltenden Rechtsordnung ist und im positiven Recht keine zureichende Ausgestaltung erfahren hat. Daraus ergeben sich weitere charakteristische Unterschiede, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Lückenfeststellung und -ausfüllung und der Funktion der Analogie; diese sollen im nächsten Kapitel näher dargelegt und hier nur kurz angedeutet werden, um bereits an dieser Stelle auch insoweit die Fruchtbarkeit der vorgeschlagenen Neueinteilung zu erhärten. Bei den Rechtsverweigerungslücken ist nur irgendeine Regelung erforderlich (man denke wieder an das Obligationsstatut oder den § 904 Satz 2!); denn jede beliebige Regelung würde dem Rechtsverweigerungsverbot Genüge tun. Bei den teleologischen Lücken dagegen fehlt eine ganz bestimmte Vorschrift: wir vermissen in § 463 Satz 2 die Gewährung eines Anspruchs auf das positive Interesse, in § 165 ein Vertretungsverbot für OHG-Mitglieder. Bei den Prinzip- und Wertlücken schließlich ist unsere Erwartung bei der Lückenfeststellung nur im Grundsätzlichen bestimmt, im einzelnen dagegen noch offen. Anders gesprochen: bei den Rechtsverweigerungslücken sind Lückenfeststellung und -ausfüllung zwei gänzlich ver- [143] schieden Vorgänge, bei den teleologischen Lücken sind sie ein und 53 54
Vgl. oben § 97. Vgl. insbesondere die Zusammenfassung § 118.
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derselbe Prozeß und bei den Prinzip- und Wertlücken sind sie äußerlich getrennt, stehen jedoch in einem engen inneren Zusammenhang. Dies wird im folgenden näher dargelegt werden. Auch das Gewicht der methodischen Schwierigkeiten ist dementsprechend ganz verschieden verteilt: bei den Rechtsverweigerungslücken liegt es vorwiegend bei der Lückenausfüllung, – weswegen hier z. B. das Problem der unausfüllbaren Lücken auftaucht; bei den teleologischen Lücken dagegen liegt es bei der Lückenfeststellung, weswegen hier z. B. die Frage „Analogie oder Umkehrschluß“ bedeutsam wird. – Im letzten Kapitel soll dann schließlich noch die Fruchtbarkeit der Neueinteilung für die Frage nach den Grenzen der Lückenausfüllung, insbesondere auch für die Problematik des Analogieverbotes aufgezeigt werden. [144]
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Viertes Kapitel Das Verhältnis von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung (insbesondere: drei verschiedene Funktionen der Analogie) § 136 Der Zusammenhang von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung ist in der Literatur bisher nicht näher untersucht worden. Im allgemeinen scheint die Ansicht vorzuherrschen, daß es sich dabei um zwei streng getrennte Vorgänge handelt1; abweichende Äußerungen finden sich – soweit ersichtlich – nur bei Larenz2. Nachdem nun aber oben nachgewiesen wurde, daß die herkömmlicherweise ausschließlich der Lückenausfüllung zugerechneten Schlußverfahren wie Analogie, argumentum a fortiori und teleologische Reduktion häufig in Wahrheit bereits der Lückenfeststellung dienen, ist es nicht verwunderlich, daß auch in diesem Punkte die h. L. einer Berichtigung bedarf. Dabei wird sich die praktische Brauchbarkeit der soeben erarbeiteten Lückeneinteilung erweisen. Erster Abschnitt Das Verhältnis von Feststellung und Ausfüllung bei den Rechtsverweigerungslücken (insbesondere: die Fälle der „möglichen“ Analogie) § 137 Für die Rechtsverweigerungslücken – und, wie gleich zu zeigen sein wird, nur für sie – trifft die Ansicht der h. L. zu: die Feststellung und die Ausfüllung der Lücke sind zwei völlig verschiedene Vorgänger3. [145] Theoretisch erklärt sich das daraus, daß hier irgendeine Lösung gefordert wird und dem Rechtsverweigerungsverbot durch jede Ausfüllung Rechnung getragen ist. Die Rechtsverweigerungslücke ist eben dadurch charakterisiert, daß das Vorliegen einer Rechtsfrage feststeht und nur die rechtliche Antwort offen ist. Mag daher auch nicht selten im Einzelfall eine bestimmte Lösung besonders nahe liegen, für das Vorhandensein der Lücke sind die Mittel und Möglichkeiten ihrer Ausfüllung hier bedeutungslos. Die praktischen Beispiele bestätigen dies: im Falle des § 904 Satz 2 BGB wird zunächst nur festgestellt, daß die Bestimmung über den Passivlegitimierten fehlt Vgl. das oben, Kap. II, Fußn. 44, zitierte Schrifttum. ML, S. 291 und S. 298. 3 Ein – beiläufiger und nicht klar herausgearbeiteter – Hinweis in dieser Richtung – allerdings mit Bezug auf Zitelmanns „echte“ Lücken – findet sich bei Pisko, Kommentar, S. 137 f. 1 2
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und daß daher das Gesetz ohne Ergänzung nicht anwendbar ist; die Frage, wen nun die Ersatzpflicht trifft, ist ein zweites, von der Feststellung der Unvollständigkeit methodisch losgelöstes Problem. Ebenso im Beispiel des Obligationsstatuts: hier ermittelt der Richter als erstes nur, daß er zur Entscheidung des Rechtsstreits nach den Vorschriften unseres Prozeßrechts zuständig ist und daß ihm das Gesetz zu einer Lösung keine unmittelbare Möglichkeit bietet; sodann erst tritt er in die Prüfung ein, wie die festgestellte Lücke ausgefüllt werden kann. Dasselbe gilt in den übrigen im 1. Abschnitt des 2. Kapitels erwähnten Fällen: bei den Akten innerhalb eines rechtlichen Verfahrens4 ergibt sich zuerst lediglich, daß eine vom Gesetz nicht beantwortete Rechtsfrage vorhanden ist; beim Fehlen einer Sanktion gegen einen Gesetzesverstoß5 wird zunächst nur die Notwendigkeit einer Ahndung festgestellt und erst anschließend die Art und Weise der Sanktion untersucht; bei den Kollisionslücken6 schließlich ermittelt man als erstes allein die Unvereinbarkeit und damit die Unanwendbarkeit der Rechtsfolgen, erst dann wird die Frage nach der statt dessen heranzuziehenden Regelung beantwortet. Überall sind also Feststellung und Ausfüllung der Lücke zwei verschiedene Vorgänge. § 138 Dies führt zu einer interessanten, bisher noch nirgendwo herausgearbeiteten Unterscheidung bei der Analogie: Da bei der Feststellung der Lücke die Frage nach ihrer Ausfüllung noch gänzlich offen ist, liegt hier in der Analogie nur eine unter mehreren in Betracht kommenden Ausfüllungsmöglichkeiten. Daß das keineswegs selbstverständlich ist, ja geradezu als atypischer Fall der Analogie empfunden werden kann, wird sofort klar, wenn man sich die Gegenbeispiele vergegenwärtigt. Greifen wir wieder auf den Fall des § 463 Satz 2 BGB zurück: hier liegt überhaupt nur deshalb eine Lücke vor, weil die Vorspiegelung einer günstigen Eigenschaft dem Verschweigen eines Mangels [146] rechtsähnlich ist und weil das Gesetz im zweiten Fall den Anspruch auf das positive Interesse gewährt7. Die Lücke kann hier nur in Analogie zu § 463 Satz 2 ausgefüllt werden, die Analogie ist „notwendig“. Terminologisch könnte man daher die beiden Formen als „mögliche“ und als „notwendige“ Analogie unterscheiden. Die erste tritt vorwiegend8 bei den Rechtsverweigerungslücken auf und ist nur ein Mittel der Lückenausfüllung, die zweite findet sich bei den teleologischen Lücken und dient zugleich der Lückenfeststellung und der Lückenausfüllung9. Vgl. oben § 54. Vgl. oben §§ 55 ff. 6 Vgl. oben §§ 58 ff. 7 Vgl. oben § 48. 8 Aber nicht ausschließlich. Vgl. die Beispiele unten, Fußn. 38 und 88. 9 Die häufig erörterte Frage des Rangverhältnisses der Lückenausfüllungsmittel stellt sich daher bei der notwendigen Analogie gar nicht. – In den übrigen Fällen wird man zwar sagen können, daß die Analogie am naheliegendsten ist, da sie auf dem Gleichheitssatz, also einem fundamentalen Bestandteil der Rechtsidee beruht und außerdem am besten die Übereinstimmung mit den Wertungen des Gesetzes gewährleistet; ein unbedingter Vorrang der Analogie ist jedoch nicht 4 5
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§ 139 Beispiele einer möglichen Analogie bieten alle Fälle des 1. Abschnitts des 2. Kapitels, in denen die Lücke mit Hilfe der Analogie ausgefüllt wird. So sind etwa die §§ 91, 100 ZPO analog anzuwenden, wenn eine Klage gegen einige Streitgenossen Erfolg hat, gegen die übrigen aber abgewiesen wird10. Eine Lücke wäre hier auch dann vorhanden, wenn die §§ 91, 100 mangels Rechtsähnlichkeit nicht paßten, da auch in diesem Falle eine Kostenentscheidung unter allen Umständen zu treffen wäre; dann müßte eben ein anderer Weg gefunden werden, das Gesetz zu ergänzen. Die Analogie ist daher hier nur eine Möglichkeit der Lückenausfüllung. – Ähnlich im Falle der Rücknahme der Nebenintervention11: eine Rechtsfrage ist vorhanden, eine einschlägige Vorschrift fehlt; die entsprechende Anwendung des § 271 ist nur ein Weg, das Gesetz zu ergänzen. – Weitere Beispiele bieten die Analogie zu § 195 Ziff. 1 AktG im Falle des § 50 GmbHG und zu § 20 II AktG bei § 5 IV GmbHG12: eine Sanktion wird durch das – ausgelegte – Gesetz bei fehlerhafter Einberufung der Gesellschafterver- [147] sammlung sowie bei unrichtiger oder ungenauer Festsetzung einer Sacheinlage gefordert, – unabhängig davon, ob und welche Vorschriften zur Ausfüllung der Lücke herangezogen werden können. – Ebenso ist es schließlich bei den Kollisionslücken13: die Analogie zu § 426 II BGB ist nur einer unter mehreren – theoretisch denkbaren – Wegen, einen Ausgleich zwischen dinglich Haftenden und Bürgen herbeizuführen, und wenn § 1700 a. F. im Bigamiefall nicht die Möglichkeit einer Entscheidung böte, müßte auf andere Weise festgestellt werden, wer als Vater des Kindes im Rechtssinne gilt. – In allen diesen Fällen könnte die Lücke – theoretisch – auch anders ausgefüllt werden als gerade durch diese Analogie; die Analogie ist also nur eine „mögliche“, keine „notwendige“. [148]
anzuerkennen, da der Richter in gleichem Maße den anderen Ausfüllungsmitteln wie etwa den allgemeinen Rechtsprinzipien verpflichtet ist. Vor allem ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß die „mögliche“ Analogie stets ein Element von Zufälligkeit in sich trägt: eine Lücke ist jedenfalls vorhanden, und es ist Zufall, wenn das Gesetz eine für ihre Ausfüllung analog passende Vorschrift enthält; es läßt sich daher nicht ausschließen, daß eine Lösung etwa mit Hilfe eines rechtsethischen Prinzips oder aus der Natur der Sache dem Gesamtwillen der Rechtsordnung und den Forderungen der Rechtsidee, in denen alle Lückenausfüllungsmittel letztlich gleichermaßen ihre Rechtfertigung finden, besser entspricht. 10 Vgl. oben § 53. 11 Vgl. oben § 54. 12 Vgl. oben §§ 56 f. 13 Vgl. oben §§ 60 f.
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Zweiter Abschnitt Das Verhältnis von Feststellung und Ausfüllung bei den teleologischen Lücken (insbesondere: die Fälle der „notwendigen“ Analogie) Ganz anders stellt sich das Verhältnis von Feststellung und Ausfüllung bei den teleologischen Lücken dar: hier handelt es sich regelmäßig um ein und denselben Vorgang14. A. Die Fälle der „notwendigen“ Analogie § 140 Dies gilt zunächst für die bereits erwähnten Fälle der „notwendigen“ Analogie. Wie mehrfach dargelegt, ist das Fehlen eines Anspruchs auf das positive Interesse bei Vorspiegelung einer günstigen Eigenschaft nur deshalb eine Lücke, weil das Gesetz in § 463 Satz 2 eine entsprechende Regelung für das Verschweigen eines Mangels trifft; enthielte das BGB diese Vorschrift nicht, wäre auch keine Lücke vorhanden. So jedoch fordert der Gleichheitssatz die Gleichstellung der beiden Fälle. Da aber der Ähnlichkeitsschluß schon über das Vorhandensein der Lücke entscheidet15 und der Gleichheitssatz eine ganz bestimmte Lösung – nämlich die Gleichstellung mit dem rechtsähnlichen Tatbestand – fordert, steht mit der Feststellung der Lücke in diesen Fällen auch bereits ihre Ausfüllung fest: die fehlende Regelung bei Vorspiegelung einer günstigen Eigenschaft kann nur analog § 463 Satz 2 ergänzt werden. Im Grunde handelt es sich bei dieser Folgerung lediglich um einen anderen Aspekt der oben gewonnenen Erkenntnis, daß in bestimmten Fällen die Analogie ein Mittel der Lückenfeststellung ist. § 141 Diese Beispiele lassen sich leicht vermehren; die „notwendige“ Analogie ist praktisch wesentlich häufiger als die „mögliche“ und kann geradezu als der Regelfall bezeichnet werden. So gehört hierher etwa das bekannte Beispiel der entsprechenden Anwendung des § 618 III im [149] Werkvertragsrecht16: enthielte das Gesetz nicht diese Ausnahme von dem sonst im Vertragsrecht geltenden Grundsatz, daß Dritte aus einem Vertrag keine Rechte herleiten können, so hätten auch die Angehörigen eines bei seiner Tätigkeit tödlich verunglückten Werkunternehmers keine vertraglichen Ersatzansprüche. So aber liegt eine Lücke vor, da im Werkvertragsrecht rechtsähnliche Fälle auftreten können, – und diese Lü14 Daß psychologisch häufig zwei getrennte Vorgänge gegeben sind, ändert an dem methologischen Befund nichts. Vgl. dazu oben § 65. 15 Vgl. oben §§ 64 ff. 16 Vgl. BGHZ 5, 62; dazu vor allem Larenz, ML, S. 289 ff.
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cke kann nur in Analogie zu § 618 III geschlossen werden. – Ebenso liegt es weiter in den oben gegebenen Beispielen der Frage des Ersatzanspruchs des Ehemannes gegen den Erzeuger eines außerehelichen Kindes oder der Problematik des gutgläubigen Erwerbs einer Vormerkung17: die Lücke wird mit Hilfe der Analogie zu § 1709 II bzw. zu § 893 BGB festgestellt und ist damit gleichzeitig ausgefüllt. – Das gleiche trifft z. B. auch für die entsprechende Anwendung des § 829 BGB im Rahmen des § 25418 oder für die bekannte Analogie zu § 5 AbzG im Falle der Zwangsversteigerung einer unter Eigentumsvorbehalt verkauften Sache auf Betreiben des Verkäufers19 zu: enthielte das BGB den § 829 nicht, so wäre auch bei § 254 eine Billigkeitsabwägung ausgeschlossen und das Fehlen einer solchen Möglichkeit keine Lücke, sondern allenfalls ein Fehler; § 829 dient damit der Feststellung und gleichzeitig der Ausfüllung der Lücke. Bestimmte das AbzG nicht, daß die Rücknahme der Sache als Ausübung des Rücktrittsrechts gilt, dann könnte man dies auch nicht im Falle der Zwangsversteigerung bejahen; wieder entscheidet die Analogie gleichzeitig über Vorliegen und Ausfüllung der Lücke. § 142 Freilich können in – praktisch verhältnismäßig seltenen – Ausnahmefällen Lückenfeststellung und -ausfüllung auch hier teilweise auseinanderfallen, und zwar dann, wenn die Rechtsähnlichkeit sich nicht auf alle regelungsbedürftigen Punkte erstreckt, insbesondere, wenn sie z. B. nur hinsichtlich des Grundes eines Anspruchs, nicht aber hinsichtlich aller Einzelheiten der Rechtsfolge vorliegt20. Dabei ist freilich stets genau zu prüfen, ob die Rechtsfolge „teilbar“ ist und ob nicht die „teilweise“ Unähnlichkeit in Wahrheit eine vollständige ist und so die gesamte Analogie ausschließt. Ein Beispiel für diese Problematik bietet die Rechtsprechung des BGH zur „Selbstaufopferung“ im Straßenverkehr: der BGH bejaht die Analogie zu § 670 zwar dem Grunde [150] nach, ergänzt jedoch für die Rechtsfolge das Wörtchen „angemessen“21, 22. Terminologisch könnte man hier von „Teilanalogie“ oder „beschränkter Analogie“ sprechen. Im einzelnen ergeben sich hier bei der Lückenausfüllung ähnliche Vorgänge wie bei den „Prinziplücken“23. – Ein Sonderfall einer Teilanalogie dürfte in vielen Fällen der „Verweisungsanalogie“24 vorliegen: soweit diese lediglich eine Rechtsfolgenverweisung Vgl. oben § 67 und § 68. h. L. vgl. z. B. Soergel-Siebert, § 254, 11; Enn.-Lehmann, § 16 I 3a; Larenz, SR I, § 15 I a a. E.; anders RGZ 59, 221 (222 f.), da § 829 eine analogiefeindliche Ausnahmevorschrift sei. 19 Vgl. BGHZ 15, 171 und 241. 20 Ein Hinweis in dieser Richtung findet sich bei Nipperdey, § 58 II 3; dort auch ein weiteres Beispiel. 21 BGHZ 38, 270 (277 ff.); zur Problematik in methodischer Hinsicht vgl. Canaris, JZ 63, 661 f. 22 Ein weiteres, überzeugendes Beispiel findet sich unten § 160: § 140 HGB wird auf die GmbH. nur teilweise analog angewandt. Vgl. ferner auch Canaris, NJW 64, 1991 zu Fußn. 36. 23 Vgl. dazu unten §§ 152 ff. 24 Vgl. oben § 11. 17 18
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enthält, ist eine Analogie nicht hinsichtlich der gesamten Norm, sondern nur hinsichtlich der Rechtsfolgeseite zu ziehen. B. Die Fälle des „notwendigen“ argumentum a fortiori § 143 Da auch das argumentum a fortiori bereits der Feststellung von Lücken dient25, ergibt sich auch hier die Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung. Ebenso läßt sich auch hier die Unterscheidung von „möglichem“ und „notwendigem“ argumentum a fortiori durchführen; denn es ist denkbar, wenn auch praktisch sehr selten, daß eine Rechtsverweigerungslücke mit einem argumentum a fortiori ausgefüllt wird, und da dieses dann für die Lückenfeststellung bedeutungslos war, bietet es auch nur eine unter mehreren theoretisch denkbaren Möglichkeiten der Ausfüllung, stellt also ein „mögliches“ argumentum a fortiori dar. Der Regelfall aber ist auch hier das „notwendige“ argumentum a fortiori, also die Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung. Es sei nur kurz an zwei der oben26 gegebenen Beispiele erinnert: enthielte das Gesetz nicht Schadenersatzansprüche in den Fällen des rechtfertigenden Notstandes, so bestünde auch keine Ersatzpflicht bei entschuldigendem Notstand; mit Hilfe des argumentum a fortiori zu § 904 Satz 2 wird also die Lücke festgestellt und gleichzeitig ausgefüllt. Ebenso liegt es bei der Haftung des rechtsfähigen Vereins für Delikte, die aus der Ausführung rechtswidriger Beschlüsse der Mitgliederversammlung entstehen: das argumentum a fortiori aus § 31 BGB bedeutet gleichzeitig Feststellung und Ausfüllung der Lücke. C. Die Fälle teleologischer Normlücken § 144 Dasselbe gilt weiter für die im zweiten Kapitel aufgeführten Beispiele teleologischer Normlücken, – gleichgültig, ob bei ihnen der [151] positive Gleichheitssatz die Ergänzung der Vorschrift fordert27 (offene teleologische Normlücken), oder ob es sich um Fälle teleologischer Reduktion handelt28 (verdeckte teleologische Normlücken): Stellt man die Lückenhaftigkeit der §§ 339 Satz 2, 992 bzw. 817 Satz 2 BGB, 25 II HGB fest, so ergibt sich damit bereits ohne weiteres, daß sie nur in ganz bestimmter Weise – durch die Hinzufügung der Worte „in zurechenbarer Weise“, „schuldhaft“, „unverzüglich“ – ausgefüllt werden können. Der Gleichheitssatz bzw. die ratio legis fordern auch hier eine ganz bestimVgl. oben §§ 70 ff. Vgl. § 71 a. A. und § 72. 27 Vgl. oben § 73. 28 Vgl. oben § 80. 25 26
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mte Ergänzung des Gesetzes und führen damit wieder zur Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung. D. Die Fälle der teleologischen Reduktion § 145 Damit bleiben im Rahmen der teleologischen Lücken nur noch die verdeckten Regelungslücken zu untersuchen, also jene Fälle, in denen der negative Gleichheitssatz die Einschränkung einer Vorschrift durch einen Ausnahmetatbestand fordert. Auch hier erweist sich wieder, daß – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – Feststellung und Ausfüllung der Lücke derselbe gedankliche Prozeß sind29. Dies gilt für alle oben gegebenen Beispiele: indem man feststellt, § 165 BGB passe seinem Sinn nach nicht für OHG-Mitglieder30, ist gleichzeitig die Lücke ausgefüllt: diese sind insoweit nicht vertretungsberechtigt. Ebenso bei § 1700: ist nicht der Ehemann der zweiten Ehe Vater im Rechtssinne, kann es nur der der ersten sein31. Wenn § 437 BGB nicht für ein Recht gilt, dessen Bestehen objektiv unmöglich ist32, besteht insoweit keine Garantiehaftung des Verkäufers; oder wenn die Anwendung des § 892 sinngemäß auf Verkehrsgeschäfte zu beschränken ist33, dann bedeutet dies für die übrigen Fälle den Ausschluß der Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs. Der Grund für die Einheit des Vorgangs liegt hier darin, daß jeweils nur zwei Rechtsfolgen in Betracht kommen: ein Minderjähriger kann nur vertretungsberechtigt sein oder nicht, der erste oder der zweite Ehemann muß rechtlich als Vater gelten, ein Anspruch kann nur gegeben sein oder nicht, gutgläubiger Erwerb nur zulässig oder ausgeschlossen sein. Fügt man daher der gesetzlichen Vorschrift einen Ausnahmetatbestand hinzu, so ergibt sich damit ohne weiteres eine bestimmte [152] Rechtsfolge: das Gegenteil der gesetzlichen Anordnung. Dies ist allerdings – nach dem bekannten logischen Satz, daß nicht negativ vom Grund auf die Folge geschlossen werden kann – nur dann zutreffend, wenn die Rechtsfolge allein34 aus dieser – im fraglichen Falle nicht zutreffenden – ratio legis fließen kann, – oder wenn ein Ausnahmetatbestand eingeschränkt wird, so daß auf
Vgl. Larenz, ML, S. 298. Vgl. oben § 74. 31 Vgl. oben § 77. 32 Vgl. oben § 77 a. E. 33 Vgl. oben § 77 a. E. 34 Darin zeigt sich wieder die Verwandtschaft zwischen teleologischer Reduktion und argumentum e contrario, vgl. dazu auch oben § 37, insbesondere Fußn. 124. 29 30
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Grund der teleologischen Reduktion ohne weiteres wieder die allgemeine Regel eingreift35. § 146 Jedoch ist diese Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung nicht denknotwendig, da ja mehr als nur zwei Rechtsfolgen in Betracht kommen können und dann die bloße negative Bestimmung, daß die Vorschrift des Gesetzes auf den Sondertatbestand keine Anwendung finden soll, nicht genügt, sondern vielmehr eine positive Regelung darüber fehlt, welche der verschiedenen denkbaren Rechtsfolgen eintreten soll. Als Beispiele seien die Beschränkung des § 119 II BGB auf die Fälle des einseitigen Motivirrtums und die Unanwendbarkeit der §§ 812 ff. auf die fehlerhafte Gesellschaft genannt. Beides sind Beispiele teleologischer Reduktion: § 119 II wird bei beiderseitigem Irrtum nicht angewandt, da hier nach § 122 der zuerst Anfechtende außer seinem eigenen Schaden noch das Vertrauensinteresse des Gegners zu tragen hätte und dieses Ergebnis in Anbetracht der Tatsache, daß beide geirrt haben und daher anfechten können, willkürlich wäre; die Regelung über die Irrtumsanfechtung ist also offensichtlich nur auf einseitige Willensmängel zugeschnitten, und im Fall des beiderseitigen Irrtums daher sinngemäß unanwendbar36. Damit ist aber die verdeckte Lücke nur festgestellt; denn zur Ausfüllung bedarf es nunmehr auf Grund eines zweiten, methodisch getrennten Schrittes erst noch des Rückgriffs auf die Regeln über das Fehlen der Geschäftsgrundlage. Ebenso im Falle der fehlerhaften Gesellschaft: die §§ 812 ff. passen ihrer Struktur nach nicht auf lang andauernde Gemeinschaftsverhältnisse und sind daher auf Grund einer teleologischen Reduktion hier unanwendbar37. Zur Ausfüllung der Lücke aber sind nunmehr erst noch die Vorschriften [153] über die Liquidation entsprechend heranzuziehen38. Mit der teleologischen Reduktion allein ist in diesen Fällen daher nicht auszukommen. Der Grund dafür liegt darin, daß die Einschränkung der gesetzlichen Vorschriften hier sinngemäß zu begrenzen ist: im Falle des § 119 II ist nicht die Geltendmachung des Willensmangels überhaupt, sondern nur in dieser konkreten Form – d. h.: nach Anfechtungsregeln – unangemessen, und bei der faktischen Gesellschaft geht es nicht darum, jede Auflösung des gemeinschaftlichen Vermögens zu unterbinden,
35 Ein Beispiel dieser Art bietet etwa die Einschränkung des Zessionsverbotes nach § 400 BGB (vgl. dazu BGHZ 4, 153 und Larenz, ML, S. 298): hier greift durch die teleologische Reduktion ohne weiteres wieder § 398 BGB ein, wonach Abtretungen grundsätzlich zulässig sind. 36 Vgl. Enn.-Nipperdey, § 177 VI; Lehmann, A. T., § 34 III 1 f.; anders Soergel-Siebert, § 242, Rdziff. 241. 37 Vgl. dazu Larenz, SR II, § 56 VII a. E. und ML, S. 298 f. Hier wird wieder die oben § 112 a. E. erwähnte Verwandtschaft von Argumentation aus der Natur der Sache, Lehre vom Typus und teleologischer Reduktion sichtbar. 38 Es handelt sich um ein Beispiel einer „möglichen“ Analogie, da das Vorliegen einer Lücke auch ohne die Heranziehung der Liquidationsvorschriften feststeht.
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sondern nur die Abwicklung nach Bereicherungsrecht auszuschließen39. Der letzte Grund dafür, daß die teleologische Reduktion allein nicht ausreicht, ist dabei in der bereits mehrfach erwähnten Unbestimmtheit des negativen Gleichheitssatzes zu suchen: er sagt nur, daß zwei Fälle verschieden zu behandeln sind, aber nicht immer gleichzeitig, wie diese abweichende Regelung positiv auszusehen hat. Auch bei den verdeckten Regelungslücken sind daher Feststellung und Ausfüllung der Lücke mitunter zwei – jedenfalls teilweise – getrennte Vorgänge. Während die Analogie immer Mittel der Lückenausfüllung und meist, aber nicht notwendig, auch der Feststellung ist, dient also die teleologische Reduktion umgekehrt stets der Lückenfeststellung und regelmäßig, aber nicht ausnahmslos gleichzeitig der Ausfüllung. § 147 Zum Abschluß sei noch ein besonders interessanter Vorgang bei der Lückenausfüllung im Wege der teleologischen Reduktion behandelt: die Bildung neuer Rechtsinstitute. Das in diesen Zusammenhang gehörige Beispiel der faktischen Gesellschaft wurde bereits erwähnt. Während dabei jedoch auch der Analogie noch eine bedeutsame Funktion zukommt, gibt es andere Fälle, in denen das neue Institut ausschließlich mit Hilfe der teleologischen Reduktion gewonnen wird. Hier ist zunächst das „Geschäft für den, den es angeht“ zu nennen. Dabei handelt es sich um eine Konstruktion, die bezweckt, im Falle der Stellvertretung die Rechtswirkungen auch dann unmittelbar in der Person des Vertretenen eintreten zu lassen, wenn der Wille des Vertreters, für einen anderen zu handeln, nicht erkennbar in Erscheinung tritt. Über die dogmatische Rechtfertigung dieser Rechtsfigur, die ursprünglich vor allem zum Zwecke einer sachgerechten Behandlung der Bargeschäfte des täglichen Lebens entwickelt worden war, herrschte in der älteren Literatur viel Unklarheit; heute dagegen besteht, wie die Begründungen des Schrifttums erkennen lassen40, – jedenfalls der [154] Sache nach – Einigkeit darüber, daß es sich um einen Fall der teleologischen Reduktion handelt: das Offenkundigkeitsprinzip des § 164 BGB dient ausschließlich dem Schutz des Erklärungsgegners, und auf eine Offenlegung der Stellvertretung kann daher verzichtet werden, wenn und soweit jener nicht schutzbedürftig ist40a. Dies gilt vorwiegend bei Bargeschäften des täglichen Lebens, doch ist die mitunter vertretene41 Beschränkung des „Geschäfts für den, den es angeht“ auf diese Fälle eine methodisch unzulässige Typisierung der Interessenlage. Wieder zeigt sich hier die Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung: § 164 ist nur insoweit lückenhaft, als seine ratio legis nicht zutrifft; untersucht man genau, inwieweit dies der Fall ist, 39 Die Ähnlichkeit mit der oben § 142 beschriebenen Erscheinungen einer nur teilweisen Analogie liegt auf der Hand. 40 Vgl. z. B. Soergel-Siebert, 12 vor § 164; Staudinger-Coing, 49 vor § 164 („teleologische Auslegung des § 164“); Westermann, § 42 IV 3 („Diese Abweichung von § 164 rechtfertigt sich aus ... dem Zwecke des § 164 zugrunde liegenden Prinzips“). 40a Anders inzwischen Canaris, Festschr. für Flume, 1978, S. 424 f. 41 So das OLG Stuttgart, NJW 51, 445.
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ergeben sich die Regeln über das „Geschäft für den, den es angeht“, d. h. die teleologische Reduktion, die Beschränkung des § 164 auf den ihm nach seinem Sinn zukommenden Anwendungsbereich, führt unmittelbar zur Herausbildung des neuen Instituts. § 148 Ein weiteres interessantes Beispiel ist die Problematik der Zulässigkeit der Wahlfeststellung im Strafrecht. Nach § 267 I StPO „müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden“. Diese Vorschrift wird allgemein als grundsätzliches Verbot der Wahlfeststellung verstanden. Ihr Sinn liegt darin, zu gewährleisten, daß dem „personalen Unrechtskern“ Rechnung getragen wird und daß das Strafmaß schuldangemessen ist42: es ist rechtlich und psychologisch ein erheblicher Unterschied, ob jemand z. B. wegen Beihilfe zu versuchter Abtreibung oder wegen Betruges bestraft wird43. Daraus folgt, daß § 267 seiner ratio legis nach nur dann eine Einschränkung zuläßt44, wenn die beiden in Frage stehenden Taten „rechtsethisch und psychologisch vergleichbar“ sind; damit aber ergeben sich durch diese teleologische Reduktion des § 267 bereits unmittelbar die Voraussetzungen, unter denen nach h. L.45 allein eine Bestrafung auf Grund wahlweiser Feststellung zulässig ist: Lückenfeststellung und -ausfüllung sind untrennbar. Demgegenüber zeigt die grundlegende Entscheidung des RG46, zu welch schwerwiegenden Folgen es führen [155] kann, wenn diese methodische Besonderheit übersehen wird. Das RG stellt zunächst fest, daß der Gesetzgeber nach Auskunft der Motive die Frage erkannt und ihre Lösung bewußt Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen habe. Daraus schließt es dann – unzulässigerweise47 – ohne weiteres auf das Vorliegen einer Lücke. Nunmehr wendet es sich in einem neuen und selbständigen Gedankengang deren Ausfüllung zu. Dabei geht es dann – mit Recht – davon aus, der Richter habe bei der Rechtsfortbildung „wie der Gesetzgeber“ vorzugehen. Daraus folgert es – grundsätzlich wieder zu Recht –, daß auch allgemeine Billigkeitsrücksichten und sogar Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte mit heranzuziehen seien. Der BGH schließlich schiebt dann – in folgerichtiger Fortsetzung dieser Linie – die Argumentation aus Sinn und Zweck des § 267, die das RG immerhin noch als einen unter mehreren Gesichtspunkten berücksichtigt Vgl. BGHSt 1, 275 (278). Vgl. das bekannte Beispiel, wo ein Apotheker einer Schwangeren ein untaugliches Abtreibungsmittel verkauft und sich nun nicht mehr feststellen läßt, ob er von der Untauglichkeit des Mittels wußte oder nicht. 44 Allerdings handelt es sich hier um eine Reduktion „in malam partem“. Dennoch dürfte das „Reduktionsverbot“ (vgl. unten § 185) nicht eingreifen, da seine Anwendung ebenso wie nach h. L. die des Analogieverbotes auf die Tatbestände des Besonderen Teils des StGB zu beschränken sein wird. 45 Vgl. Schönke-Schröder, § 2b II 3 a. E. mit Nachweisen. 46 RGSt 68, 257. 47 Vgl. oben § 124 a. E. 42 43
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hatte, fast völlig beiseite, gründet seine Entscheidung nur auf Billigkeit und Zweckmäßigkeit und kommt so zu einer viel zu weiten und im Schrifttum in dieser Form mit Recht kritisierten Anwendung der Wahlfeststellung48. Erkennt man dagegen an, daß das Gesetz in § 267 eine dem Wortsinne nach einschlägige Regelung enthält und daß es sich daher nur um die Frage handeln kann, inwieweit diese durch einen Ausnahmetatbestand eingeschränkt werden darf, und berücksichtigt man weiter, daß diese Einschränkung hier nur im Wege einer teleologischen Reduktion denkbar ist, so kommt man folgerichtig zu dem Ergebnis der h. L.; denn dann entscheiden allein Sinn und Zweck des § 267 über das Vorliegen und damit zwingend zugleich über die Ausfüllung der Lücke, so daß für einen Rückgriff auf allgemeine Billigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen methodisch überhaupt kein Raum bleibt. § 149 Noch einen Schritt weiter führt schließlich die Erkenntnis, daß die Methode der teleologischen Reduktion nicht nur bei den Einzelbestimmungen des Gesetzes, sondern auch bei den – geschriebenen oder ungeschriebenen – normativen Grundsätzen49 der Rechtsordnung anwendbar ist. Als Beispiel sei hier zunächst der Kontrahierungszwang der Monopolbetriebe genannt. Methodisch gesehen ist dieses Rechtsinstitut nichts anderes als eine teleologische Reduktion des Grundsatzes der Vertragsfreiheit. So sieht Larenz50 die Rechtfertigung und den inneren Sinn der Vertragsfreiheit darin, „daß im Vertrage der Wille beider Kontrahenten gleichermaßen zum Ausdruck kommt“, und daß dadurch „schon eine gewisse Gewähr dafür gegeben [156] ist, daß das, was die Vertragsparteien für sich verbindlich festgesetzt haben, nicht bare Willkür ... ist, anders ausgedrückt, daß keiner durch den Vertrag lediglich der Willkür des anderen ausgeliefert ist“. Eben diese Gewähr aber besteht dort nicht, wo ein Monopolunternehmen lebenswichtige Güter anbietet: der Kontrahent hat keine Möglichkeit, auf den Vertragsabschluß überhaupt zu verzichten, da es sich um lebenswichtige Güter handelt; er kann auch nicht das Geschäft mit einem anderen Partner tätigen, weil ein Monopol vorliegt. Die sinngemäße Voraussetzung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit, daß beide Teile die Bedingungen frei aushandeln können und daß darin eine gewisse „Gerechtigkeitskontrolle“ liegt, entfällt daher hier51, und folglich ist seine Einschränkung geboten. So entsteht durch die Beschränkung der Vertragsfreiheit auf den ihr nach ihrem Sinngehalt zukommenden Anwendungsbereich, also durch eine teleologische Reduktion, das Institut des Abschlußzwanges der Monopolbe48 Vgl. BGHSt 4, 340, wo die Wahlfeststellung zwischen Meineid und fahrlässigem Falscheid zugelassen wird. 49 Zum Begriff vgl. oben, Kap. II, Fußn. 125. 50 SR I, § 5 vor I; sehr klar auch Blomeyer, SR, § 18, II vor 1. 51 So führt Larenz zur Begründung des Kontrahierungszwanges u. a. an, daß „das Prinzip der Vertragsfreiheit hier nach seinem eigenen Sinne gar nicht sinnvoll durchgeführt werden kann“ (SR I, § 5 Ia).
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triebe52. Diese methodische Einsicht ist nicht ohne praktische Bedeutung: so folgt aus ihr z. B., daß der Abschlußzwang nicht bei allen Monopolen, sondern nur bei solchen, die lebenswichtige Güter anbieten53, gerechtfertigt ist; denn anderenfalls hat der Kontrahent durch die Möglichkeit, auf den Vertragsabschluß zu verzichten, ein Mittel, seine Freiheit zu wahren. § 150 Ähnliches dürfte in methodischer Hinsicht für das vieldiskutierte Institut der Schadensliquidation im Drittinteresse gelten. Seine dogmatische Rechtfertigung erscheint bis heute nicht überzeugend gelungen, und daher wird die Zulässigkeit der Drittschadensliquidation z. B. von einem so bedeutenden Kommentar wie dem von Staudinger immer noch verneint54, mit der Begründung, es handele sich nicht nur um „ein zu Ende Denken der Absichten des Gesetzgebers“, sondern um eine mit dem geltenden Recht unvereinbare Rechtsfortbildung. Auch hier dürfte eine klare methodische Begründung jedoch möglich und – jedenfalls für das Deliktsrecht – in Gedankengängen zu suchen sein, die mindestens teilweise in den Bereich der teleologischen Reduktion gehören. Man hat heute zutreffend erkannt, daß die besondere Eigenart der in Frage stehenden Fälle in dem Merkmal der „Schadensverlagerung“ [157] liegt55: während in den gewöhnlichen Beispielen eines mittelbaren Schadens neben dem unmittelbar Betroffenen noch zusätzlich ein anderer geschädigt ist, der Schaden also erweitert wird, trifft er hier statt des unmittelbar Verletzten einen Dritten, wird also nur verlagert. Aus dieser Erkenntnis der besonderen Interessenlage folgt indessen – und das wird in der Literatur nicht genügend betont – noch nicht ohne weiteres auch die dogmatische Rechtfertigung der Drittschadensliquidation; diese kann sich vielmehr nur aus der Beziehung auf die gesetzliche Interessenbewertung ergeben. Dabei ist zunächst entscheidend der Zweck, den der Gesetzgeber bei dem grundsätzlichen Ausschluß des Ersatzes mittelbarer Schäden im Rahmen der §§ 823 ff.56 verfolgte: er wollte die – die Initiativfreudigkeit und Kalkulationssi52 Dazu ist allerdings nach dem oben Gesagten (vgl. § 145 a. E.) noch der Nachweis erforderlich, daß die Rechtsordnung die Vertragsfreiheit nur aus dem angegebenen Grunde gewährleistet. Dieser dürfte sich – ganz unabhängig von rechtsethischen Überlegungen – für das geltende Recht aus dem „Sozialstaatsprinzip“ ergeben (auf das sich Larenz, a.a.O., denn auch zur Begründung des Kontrahierungszwanges beruft). 53 Mit Recht tritt daher Larenz (a.a.O., a. E.) für diese Beschränkung ein. 54 Staudinger-Werner, 88 vor § 249. 55 Vgl. Tägert, S. 35 ff.; Larenz, SR I, § 14 IV 2; Esser, § 50, 7. 56 Soweit lediglich vertragliche Ansprüche in Betracht kommen, liegt die Problematik insofern anders, als hier der Ausschluß des Ersatzes mittelbarer Schäden auch darin begründet ist, daß der Geschädigte nicht Partei des Vertrages ist und daher aus diesem grundsätzlich keine Ansprüche herleiten kann. Hier treffen die Überlegungen des Textes daher nicht zu. – Soweit es sich um die Verletzung von Schutzpflichten handelt, wird man vielmehr mit Hilfe des „Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte“ dem Geschädigten einen (unmittelbaren!) Anspruch gewähren müssen, wenn dieser in das besondere schuldrechtliche Vertrauensverhältnis einbezogen
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cherheit beeinträchtigende und auch sonst höchst bedenkliche – Möglichkeit einer uferlosen Ausweitung der Ersatzpflicht ausschalten. Gerade dieser tragende Grund aber trifft in den Fällen der Drittschadensliquidation nicht zu, da der Umfang des Ersatzanspruchs nur in den Fällen der Schadenserweiterung, nicht aber bei einer bloßen Schadensverlagerung wächst. So gesehen könnte man daran denken, die Rechtfertigung der Drittschadensliquidation in einer teleologischen Reduktion des Verbots des Ersatzes mittelbarer Schäden zu sehen. Der Ausschluß mittelbarer Schäden läßt sich indessen noch unter einem anderen Gesichtspunkt erklären: es handelt sich hier ausnahmslos um allgemeine Vermögensschäden, und diese werden grundsätzlich nicht ersetzt. Jedoch trifft auch der vom Gesetzgeber mit dieser Entscheidung verfolgte Zweck hier nicht zu: die Beschränkung der Ersatzpflicht auf die übersichtlichen, klar erkennbaren Einzeltatbestände der §§ 823 ff. ist bei der Drittschadensliquidation nicht gefährdet, da ja die Erfüllung eines der Tatbestände der §§ 823 ff. – nur eben nicht in der Person des Geschädigten – Voraussetzung ist. Weder die Versagung eines Ersatzanspruchs bei mittelbaren Schäden noch der grundsätzliche Ausschluß der Ersatzpflicht für allgemeine Vermögensschäden sind daher in ihrem inneren Sinngehalt verletzt, [158] und die Drittschadensliquidation steht demnach – mindestens im Bereich des Deliktsrechts – in der Tat mit den erkennbaren Zwecken und Wertungen des Gesetzgebers nicht in Widerspruch. Dieser rein negative Nachweis genügt indessen, wie oft genug betont57, noch nicht, um die Befugnis zur Fortbildung des Rechts zu bejahen; hinzukommen muß für die Annahme einer Lücke vielmehr, daß die Rechtsordnung die Ergänzung des Gesetzes fordert. Diese „Forderung“ kann man nun aus dem allgemeinen Gebot ableiten, daß jedermann einem anderen den Schaden ersetzen muß, den er ihm in zurechenbarer Weise zugefügt hat. In der Tat wird man diesen fundamentalen rechtsethischen Satz als Bestandteil der Rechtsidee – mindestens in ihrer historisch konkretisierten Form, wie sie in unserer Zivilrechtsordnung Ausdruck gefunden hat – und damit als dem geltenden Recht immanent ansehen müssen. Was zurechenbar ist, bestimmt dabei freilich das positive Recht, doch sind insoweit in den Fällen der Drittschadensliquidation die Voraussetzungen – objektives Unrecht und Verschulden – erfüllt. Nur liegt das Unrecht nicht gerade gegenüber den Geschädigten vor, doch ist dies kein entscheidender Einwand: die iustitia commutativa fordert einen Ausgleich nicht, weil ein bestimmtes, gesetzlich näher umschriebenes und ausgestaltetes Recht verletzt, sondern weil schuldhaft ein Schaden zugefügt worden ist. So gesehen erscheint also letztlich die Entstehung des Schadens als innerer Grund des Anspruchs und die Notwendigkeit der Verwar, – soweit es sich um die Verletzung von Leistungspflichten handelt, wird man allenfalls ausnahmsweise im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung helfen können. Dabei dürfte das Kriterium der Schadensverlagerung hier übrigens unbrauchbar sein. 57 Vgl. insbesondere §§ 44 und 88.
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letzung eines subjektiven Rechts demgegenüber als lediglich positiv-rechtliche Einschränkung der Zurechnung zum Schutze des Schädigers vor einer „ruinösen Schadenszurechnung“, – einer Gefahr, die im Sonderfall der Schadensverlagerung, wie gezeigt, gerade nicht gegeben ist. § 151 In methodischer Hinsicht werden hier nicht nur die äußersten Möglichkeiten, sondern auch die Schwierigkeiten und Grenzen der teleologischen Reduktion – insbesondere bei der Bildung neuer Rechtsinstitute und der Einschränkung ungeschriebener Grundsätze – sichtbar: der Nachweis der Lücke war nicht mehr allein durch die Restriktion der gesetzlichen Regel – Ausschluß des Ersatzes mittelbarer Schäden bzw. bloßer Vermögensschäden – möglich, sondern es bedurfte zusätzlich des Rückgriffs auf das überpositive Prinzip der iustitia commutativa. Erst dieses erlaubte den Schluß, daß die Wertungen des Gesetzes der Anerkennung der „Drittschadensliquidation“ nicht nur [159] nicht entgegenstehen, sondern daß die Rechtsordnung als Ganzes die Bildung dieses Instituts „fordert“. [160] 58
Dritter Abschnitt Das Verhältnis von Feststellung und Ausfüllung bei den Prinzip- und Wertlücken (insbesondere: die „konkretisierende Funktion“ der Analogie) § 152 Besonders interessante Fragen wirft das Verhältnis von Feststellung und Ausfüllung der Lücke dort auf, wo diese auf der mangelhaften Verwirklichung eines allgemeinen Rechtsprinzips oder eines Wertes beruht. In sehr einfach gelagerten Fällen – vor allem bei verdeckten Lücken – ist auch hier mitunter eine völlige Einheit des methodischen Vorganges gegeben. So liegt es etwa im Falle des § 54 Satz 2 BGB: das Prinzip des Schutzes der beschränkt Geschäftsfähigen fordert die Einschränkung der Vorschrift59, und damit steht auch schon die Rechtsfolge fest: eine Haftung ist abzulehnen. Ähnliches gilt für den Ausschluß der Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen bei der Gründung von Aktiengesellschaften auf Grund des Prinzips der Erhaltung des Grundkapitals60. Doch ist hier die Problematik schon schwieriger: obwohl das Prinzip grundsätzlich die Unbeachtlichkeit aller Mängel fordert, muß doch eine Ausnahme gemacht werden auf Grund des höherrangigen Prinzips des Schutzes der nicht voll Geschäftsfähi-
58 59 60
Vgl. oben § 97. Vgl. oben § 96.
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gen: mangelnde Geschäftsfähigkeit kann uneingeschränkt geltend gemacht werden61. Damit ist bereits eine erste wesentliche Regel für die Ausfüllung der Prinzipund Wertlücken gefunden: wie bei der Lückenfeststellung ist auch hier eine Abstimmung mit höherrangigen Prinzipien erforderlich62 Ging es dort jedoch um das Problem, ob ein Prinzip als Ganzes durch höherrangige Entscheidungen des positiven Rechts ausgeschlossen – mithin gar nicht Bestandteil der Rechtsordnung und daher zur Lückenfeststellung untauglich – ist, so handelt es sich hier um die [161] Frage, ob ein grundsätzlich Geltung beanspruchendes Prinzip bei seiner Verwirklichung für bestimmte Sonderfälle einer Einschränkung bedarf, – also nicht mehr um die Lückenfeststellung, sondern um ein Einzelproblem bei der Ausfüllung der Lücke. § 153 Immerhin ermöglichte auch in diesem zweiten Fall das zur Feststellung verwandte Prinzip grundsätzlich noch unmittelbar die Lösung der durch die Unvollständigkeit des Gesetzes auftauchenden Fragen: das Prinzip läßt sich bei der Lückenausfüllung ohne weiteres anwenden. Dies ist nun jedoch im allgemeinen nicht der Fall. Da die Prinzipien wesensgemäß dadurch bestimmt sind, daß sie keinen rechtssatzmäßigen Charakter haben63, läßt sich regelmäßig nicht unmittelbar unter sie subsumieren. Dementsprechend bietet das zur Lückenfeststellung verwandte Prinzip meistens keine ohne weiteres anwendbare Regelung, sondern weist nur die Richtung, in der die Lösung zu suchen ist; es bedarf daher noch eines besonderen Prozesses, durch den das Prinzip in Rechtssätze verwandelt wird. Dieser hoch interessante Vorgang der „Konkretisierung“, der den Mittelpunkt der Problematik der allgemeinen Rechtsprinzipien bildet, soll nunmehr an Hand von Beispielen in einigen Einzelheiten näher untersucht werden64. § 154 Als erstes sei hier wieder auf den Fall des „übergesetzlichen Notstandes“ zurückgegriffen. Hier fordert das Güterabwägungsprinzip die Fortbildung des
61 Vgl. z. B. Hueck, Gesellschaftsrecht, § 23 IV 3; Baumbach-Hueck, Vorbem. 1, B. a. E. vor § 16 AktG; Würdinger, § 17 B IV 3a. 62 Ein Beispiel aus dem Bereich der Rechtsfindung contra legem gibt Larenz, ML, S. 314 oben. 63 Vgl. oben § 85. 64 Dabei geht es hier ausschließlich um die normativ-methodologische Problematik, nicht um den faktisch-soziologischen Aspekt, mit dem sich Esser in seinem Buch „Grundsatz und Norm ...“ vorwiegend befaßt. Daß insoweit erhebliche Unterschiede bestehen und daß insbesondere die methodisch richtige Lösung nicht immer gleich zu Beginn der Entwicklung eines neuen Instituts gefunden wird, bedarf wohl keiner besonderen Hervorhebung. Nicht nur das Gesetz ist oft „klüger“ als seine Verfasser, sondern auch das Urteil kann klüger sein als das Gericht: hinter offensichtlichen Scheinbegründungen verbirgt sich nicht selten ein unabweisbares Postulat der Gerechtigkeit, für das sich, hat man es als solches in seiner Besonderheit erst einmal erkannt und anerkannt, regelmäßig dann auch die zutreffende dogmatische Einordnung in das – offene! (vgl. oben, Kap. II, Fußn. 172) – System des geltenden Rechts erarbeiten läßt.
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Rechts, da es im Gesetz keine ausreichende Berücksichtigung gefunden hat65. Doch ist mit dieser Erkenntnis noch nicht viel gewonnen; denn aus dem Güterabwägungsprinzip läßt sich zunächst nur entnehmen, daß die Verletzung des geringerwertigen Rechtsgutes zur Rettung des höherrangigen von der Rechtsordnung nicht mißbilligt, insbesondere nicht bestraft werden kann. Wie dieses Ziel aber nun positiv-rechtlich zu erreichen ist, und was im einzelnen die konkreten Voraussetzungen und Folgen sind, darüber sagt es nichts aus; an dieser Stelle wird vielmehr der Rückgriff auf das System des gesetzten Rechts erforderlich. [162] § 155 Dabei steht an erster Stelle die dogmatische Einordnung des mit Hilfe des Prinzips zu entwickelnden neuen Instituts in das geltende System. Das ist keineswegs nur ein rein theoretisches Anliegen, sondern allein auf diese Weise lassen sich die bei der Lückenfüllung gewonnenen neuen Vorschriften bruchlos einfügen, und nur so kann daher die innere Einheit und Folgerichtigkeit – und damit letzten Endes auch die Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit – der Rechtsordnung gewahrt werden66. Zudem ist dies, wie die Beispiele im folgenden anschaulich zeigen werden, auch unerläßlich, um Klarheit über die praktischen Einzelfragen zu gewinnen. Beim übergesetzlichen Notstand vollzieht sich diese „Dogmatisierung“ bekanntlich durch seine Einordnung in die Reihe der Rechtfertigungsgründe. Dabei zeigt sich anschaulich das Zusammenwirken von Prinzip und System bei der Lückenausfüllung: das System bietet nur ganz bestimmte Ansatzpunkte – nämlich Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld –, die den Ausschluß der Strafe ermöglichen, und das Prinzip entscheidet, welcher davon zu wählen ist: da der Täter bei der Rettung des höherrangigen Gutes gemäß den Wertungen der Rechtsordnung handelt, muß schon das objektive Unwerturteil über sein Verhalten – also die Rechtswidrigkeit – und nicht nur der subjektive Vorwurf – also die Schuld – entfallen. Sofort ergeben sich aus dieser dogmatischen Einordnung nun prakVgl. oben § 101. Ein Beispiel, wo diese „Dogmatisierung“ mißlungen ist, bildet die Rechtsprechung des BGH zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht: der Wert der Persönlichkeit fordert hier zwar grundsätzlich die Rechtsfortbildung (vgl. oben § 115), doch entspricht dem nach Einzeltatbeständen gegliederten System der §§ 823 ff. nicht die Anerkennung eines generalklauselartigen allgemeinen Persönlichkeitsrechts, sondern nur die Herausarbeitung von einzelnen, fest umrissenen Persönlichkeitsrechten, vgl. Larenz, ML, S. 317 f. mit weiteren Nachweisen. – Vollends mit dem System des BGB unvereinbar ist es, wenn der BGH neuerdings dazu übergeht, die Gewährung eines Anspruchs auf Ersatz immateriellen Schadens analog § 847 vom Vorliegen einer „schweren“ Beeinträchtigung und einer „schweren“ Schuld abhängig zu machen (BGHZ 35, 368 f.). Diese Gesichtspunkte können nach geltendem Recht allenfalls für die Bemessung der Höhe des Anspruchs, nicht aber für seinen Grund von Bedeutung sein. – Letztlich wird hier deutlich, daß die Mißachtung des Systems, die in der analogen Anwendung des § 847 liegt (vgl. dazu unten, Kap. V, Fußn. 57), zu untragbaren praktischen Folgerungen führt – nämlich zur kommerziellen Ausschlachtung geringfügigster Persönlichkeitsverletzungen –, die sich dann ihrerseits wieder nur durch neue Systembrüche ausgleichen lassen. 65 66
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tische Folgen: da die Tat rechtmäßig ist, kann gegen sie z. B. keine Notwehr geübt werden; daher ist ferner ein zivilrechtlicher Anspruch auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung ohne weiteres ausgeschlossen, – jedenfalls wenn man mit der nach wie vor ganz h. L. von der Einheit des Rechtswidrigkeitsbegriffs in allen Rechtsgebieten ausgeht. Schließlich ergibt sich so auch eine Präzisierung der Voraussetzungen: wie bei den übrigen Rechtferti- [163] gungsgründen sind „subjektive Rechtfertigungselemente“ notwendig, – was hier zu dem Erfordernis des „Handelns in Rettungsabsicht“ und der „Fähigkeit zur Beurteilung der Sachlage und zur Rettung“ führt67. § 156 Ist die dogmatische Einordnung auch der wichtigste Schritt bei der Konkretisierung und Institutionalisierung allgemeiner Rechtsprinzipien, so löst er doch noch nicht alle Schwierigkeiten. Vielmehr bedarf es zur Klärung von Einzelfragen noch einer weiteren Abstimmung mit dem positiven Recht. Dabei können zunächst – wie bereits erwähnt – höherrangige Grundentscheidungen und Wertungen eine Einschränkung des neuen Prinzips für bestimmte Sondertatbestände fordern. Vor allem aber ergeben sich nicht selten auch Einzelprobleme, für deren Lösung das zu konkretisierende Prinzip überhaupt keine Richtlinie bietet. Dabei dient das Gesetz dann zugleich als Wegweiser und Schranke: es gibt entweder unter mehreren denkbaren Lösungen den Ausschlag zugunsten einer bestimmten – hier könnte man von einer „konkretisierenden“ Funktion des positiven Rechts sprechen – oder aber es schließt eine – vom Prinzip her an sich mögliche – Entscheidung aus, – was man als „limitierende“ Funktion bezeichnen kann. – So läßt sich – um beim Beispiel zu bleiben – aus dem Güterabwägungsprinzip etwa keinerlei Anhalt dafür gewinnen, ob eine derartige Notstandshandlung zivilrechtlich eine besondere68 Schadensersatzpflicht nach sich zieht oder nicht. Hier darf nun der Richter seine Zuflucht nicht ohne weiteres zu einer bloßen Billigkeitsrechtsprechung nehmen69; vielmehr entfalten hier die Wertungen des Gesetzes ihre „Fernwirkung“70: mit Hilfe der gesetzlich geregelten Notstandsfälle ist in Analogie zu den §§ 228 Satz 2 und 904 Satz 2 BGB71 eine – differenzierende – Lösung der Frage des Schadensersatzanspruches möglich72. – Ein Beispiel für die „limitierende“ Funk67 68
aus.
Vgl. RGSt 62, 138; BGHSt 2, 114 und 244; Maurach, A. T., § 27 IV 2 b. Ansprüche aus unerlaubter Handlung scheiden mangels Rechtswidrigkeit ohne weiteres
69 Unrichtig ist daher die Ansicht des OLG Freiburg (JZ 51, 223; zustimmend StaudingerCoing, § 228, 25; RGR-Komm.-Johannsen, § 228, 10), ein Ersatzanspruch sei gegeben, „wenn dies nach Lage des Einzelfalles der Billigkeit entspricht“. Vgl. auch Canaris, JZ 63, 658, Ziffer 3 a. 70 Vgl. Heck, Gesetzesauslegung, S. 230; Stoll, Methode, S. 96 und 100. 71 Es handelt sich um einen Fall notwendiger Analogie: enthielte das Gesetz die §§ 228 und 904 nicht, so wäre keine Grundlage gegeben, von der grundsätzlichen Beschränkung der Schadensersatzpflicht auf die Folgen rechtswidrig-schuldhaften Handelns eine Ausnahme zu machen. 72 Vgl. dazu Canaris, a.a.O.
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tion des positiven Rechts bietet in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Notstand unverschuldet sein muß, um rechtfertigend zu wirken. Mit Recht hat das RG gesagt, eine derartige Einschränkung werde durch das Güterabwägungsprinzip nicht unbedingt ausgeschlossen, sie sei jedoch mit [164] dem positiven Recht unvereinbar: wo das Gesetz den rechtfertigenden Notstand berücksichtige, stelle es für den Ausschluß der Rechtswidrigkeit nicht auf ein Verschulden des Handelnden bei der Herbeiführung der Gefahr ab73. § 157 So stellt sich alles in allem das Verhältnis von Feststellung und Ausfüllung bei den Prinziplücken als ein sehr komplexer Vorgang dar, bei dem das zur Lückenfeststellung verwandte Prinzip regelmäßig für die Ausfüllung nur die Richtung weist, während die Einzelgestaltung durch die Einordnung in das dogmatische System und die Wertungen des Gesetzes erfolgt. Um zu zeigen, daß die herausgearbeiteten Regeln nicht das Ergebnis eines zufälligen Beispiels sind, sondern sich durchweg bestätigen, sei die Problematik in Kürze noch an einigen anderen Prinziplücken – die auch schon oben im Rahmen der Fragen der Lückenfeststellung herangezogen wurden – untersucht. § 158 Als erstes ist noch einmal auf die Lehre vom Verbotsirrtum zurückzugreifen. Wie oben74 dargelegt, fordert hier das Verschuldensprinzip eine Ergänzung des Gesetzes. Für die Ausfüllung der Lücke aber gibt es nicht ohne weiteres eine Einzelregelung, sondern es weist nur die Richtung: der unvermeidbare Verbotsirrtum schließt die Vorwerfbarkeit und damit die Strafe, bzw. im Zivilrecht die Verschuldenshaftung aus. Auch hier wird also durch das der Lückenfeststellung dienende Prinzip der Ansatzpunkt für die dogmatische Einordnung gewiesen; die genaue Bestimmung dagegen – hier also insbesondere die Frage, ob durch den Verbotsirrtum der Vorsatz entfalle oder ob die Möglichkeit des Unrechtsbewußtseins ein eigenständiges Schuldelement ist75 – bleibt dem positiven Recht vorbehalten. Dabei können sich für die einzelnen Rechtsgebiete auf Grund ihrer verschiedenen Aufgaben und Strukturen durchaus Unterschiede ergeben. So ist im Strafrecht die Schuldtheorie herrschend, während im Zivilrecht vorwiegend die Vorsatztheorie vertreten wird76. Der innere Grund dafür liegt vor allem in der verschiedenen Ausgestaltung der beiden Rechtsgebiete: im Strafrecht, wo regelmäßig nur vorsätzliche Taten geahndet werden, würde die Vorsatztheorie zu unerträglichen und mit dem Willen des Gesetzes zweifellos unvereinbaren Strafbarkeitslücken führen, – sofern man nicht bei „Rechtsblindheit“ zu einer Verschuldensfiktion [165] oder gar zur Aufstellung eines Sondertatbestandes greift, – RGSt 61, 242 (255). § 98. 75 Zum Streit zwischen „Vorsatz-“ und „Schuldtheorie“ vgl. z. B. BGHSt 2, 194 (204 ff.); Schönke-Schröder, § 59 V; Maurach, A. T., § 37 I mit weiteren Nachweisen. 76 Vgl. Baumann, AcP 155, 495 ff.; Schmidt, NJW 58, 488; Larenz, SR I, § 19 II; R. Schmidt bei Soergel-Siebert, § 276, 6 ff. mit weiteren Nachweisen; anders Enn.-Nipperdey, § 210 I 2. 73 74
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ein Ausweg, der dem Richter verschlossen und allein dem Gesetzgeber vorbehalten ist77. Im Zivilrecht dagegen haben die für die Schuldtheorie angeführten Gründe wesentlich geringeres Gewicht, da hier regelmäßig für Vorsatz und Fahrlässigkeit in gleicher Weise gehaftet wird; hier sprechen vielmehr im Gegenteil andere Gründe – wie vor allem die Ausgestaltung der §§ 276 und 231 BGB78 – für die Vorsatztheorie. Auch die „limitierende“ bzw. „konkretisierende“ Funktion des positiven Rechts läßt sich hier wieder belegen. So hat der BGH79 entschieden, es sei mit dem geltenden Recht unvereinbar, bei vermeidbarem, aber dennoch das Maß der Vorwerfbarkeit minderndem Verbotsirrtum die Strafe nach freiem Ermessen des Richters herabzusetzen; vielmehr fordere das das StGB beherrschende System der „relativ bestimmten Strafdrohungen“ – zwischen Höchst- und Mindeststrafe – die Ermäßigung nach einem festen Schlüssel. Eine rechtstechnische Möglichkeit dazu biete allein die Anwendung der Vorschriften über die Milderung der Strafe beim Versuch. Zu demselben Ergebnis gelangt Welzel80, indem er den – ebenfalls auf § 44 StGB verweisenden – § 51 II analog heranzieht, da die „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ und das Handeln in Verbotsirrtum durch die in beiden Fällen u. U. gegebene Herabsetzung der „Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen“, rechtsähnlich sind. § 159 Weitere interessante Aufschlüsse gibt in diesem Rahmen die Gegenüberstellung der Institute der Unterlassungsklage und des Beseitigungsanspruchs. Im ersten Fall fordert – wie gezeigt – das Prinzip, daß Schaden zu verhüten besser ist als Schaden auszugleichen, die Rechtsfortbildung, im zweiten der Gedanke, daß niemand ein von ihm begangenes Unrecht aufrechterhalten darf81. Bei beiden Beispielen weist das Prinzip wieder nur die Richtung für die Lückenausfüllung: es fordert lediglich, daß Rechtsbehelfe zur Verhinderung bzw. zur Beendigung der Beeinträchtigung zur Verfügung gestellt werden; welcher Art diese sind, insbesondere ob es sich um prozessuale oder materiell-rechtliche Institute handelt, bleibt durchaus offen. Bei der Dogmatisierung der beiden Prinzipien ist die Wissenschaft nun zwei verschiedene Wege gegangen: die Unterlassungsklage wird von der jetzt wohl schon h. L. als ein ausschließlich – oder doch vorwiegend – [166] prozessuales Institut angesehen82, während der Beseitigungsanspruch materiell-rechtlicher Natur, also ein echter „Anspruch“ ist und dogmatisch der Haf-
So mit Recht der BGH, a.a.O. (S. 207 und 208). Vgl. Larenz, a.a.O., bzw. Oertmann, § 276, 1a und RGZ 72, 4 (6). 79 a.a.O. (S. 210 f.). 80 Strafrecht § 22 II 3 vor a (= S. 150). 81 Vgl. oben §§ 102 f. 82 Vgl. de Boor, Gerichtsschutz, S. 53 ff.; Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 149; Larenz, SR II, § 70 II; Esser, Schuldrecht, § 211, 4; anders z. B. Enn.-Lehmann, § 252 I 3 d. 77 78
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tung aus unerlaubter Handlung zur Seite gestellt wird83. Diese verschiedene theoretische Einordnung zieht nun wieder praktische Folgen nach sich: während für die Unterlassungsklage eine – auch nur analoge – Anwendung des § 254 BGB ausgeschlossen ist84, erscheint sie für den Beseitigungsanspruch dogmatisch durchaus gerechtfertigt85; denn im ersten Fall geht es allein um prozessualen Rechtsschutz, und der systematisch richtige Ansatzpunkt zur Berücksichtigung einer eventuellen „Provokation“ durch den Kläger ist daher das Rechtsschutzbedürfnis, – wohingegen im zweiten Fall die Zurechnung der Folgen menschlichen Handelns86 in Frage steht, also ein unter § 254 fallendes Problem. Daß diese sich aus der verschiedenen dogmatischen Einordnung ergebenden Schlüsse zutreffend sind, bestätigen praktische Überlegungen: Wie sollte eine Unterlassungsklage nach § 254 „teilweise“ Erfolg haben können? Die teilweise Beseitigung einer Beeinträchtigung bzw. die Teilung der dazu erforderlichen Kosten dagegen ist sehr wohl denkbar. – Ähnliches gilt für die – in der Literatur recht unklar behandelte87 – Frage der Verjährung: der Beseitigungsanspruch verjährt wegen seines deliktischen Charakters analog § 852 in 3 Jahren, während bei dem Unterlassungs „anspruch“ als einem rein prozessualen Institut eine Verjährung überhaupt ausgeschlossen ist. Wieder bewährt sich dabei die Dogmatik im praktischen Ergebnis: eine Verjährung wäre bei der Unterlassungsklage in der Tat sinnwidrig; denn entweder besteht trotz des langen Zeitablaufs seit Entstehen der Drohung die Gefahr fort, – dann wäre es unsinnig und mit dem – auf Herstellung von Rechtsfrieden gerichteten – Zweck der Verjährungsvorschriften ebenso wie mit dem „Scha- [167] densverhütungsprinzip“ der Unterlassungsklage unvereinbar, auf ein präventives Eingreifen zu verzichten und statt dessen anschließend zu Schadensersatz zu verurteilen; oder aber die Gefahr dauert nicht mehr an, dann ist das Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses – und nicht erst die als letztes zu prüfende und nur bei ausdrücklicher Berufung des Beklagten zu berücksichtigende Einrede der Verjährung – der praktisch wie dogmatisch gleichermaßen zutreffende Ansatzpunkt für eine Abweisung der Klage. Larenz, a.a.O. (S. 421 f.); Esser, § 211, 4. Vgl. die Anmerkung von Larenz zu dem Urteil des LG Frankenthal, NJW 55, 263 sowie SR II, § 70 II a. E. 85 Eine grundsätzliche Stellungnahme zu dieser Frage findet sich, soweit ersichtlich, nicht, doch ist die analoge Anwendung des § 254 z. B. im Rahmen des § 1004 anerkannt (vgl. RGZ 138, 327 (329 f.); 154, 161 (167); BGHZ, NJW 55, 340; Westermann, § 36 III 1 a. E.; Staudinger-Berg, § 1004, 49. 86 Anders allerdings in den Fällen der sogenannten „Zustandshaftung“, vgl. dazu vor allem Baur, Sachenrecht, § 12 III 2 und AcP 160, 465 (insbesondere S. 472 ff.). 87 Es wird hier durchweg nicht klar zwischen Beseitigungs- und Unterlassungsklage unterschieden, vgl. z. B. Enn.-Lehmann, § 252 III; RGR-Komm.Kreft, § 852, 3; Mühl bei Soergel-Siebert, § 1004, 73 (wo die analoge Anwendung des § 852 auf die quasi-negatorische Unterlassungsklage bejaht wird, obwohl diese in Randziffer 54 a. E. ausdrücklich als rein prozessuales Rechtsinstitut bezeichnet wird [!]). 83 84
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Wieder bestätigt sich also der oben beschriebene komplexe Vorgang von Lückenfeststellung und -ausfüllung: das zur Feststellung der Lücke verwandte allgemeine Rechtsprinzip bedarf der Konkretisierung durch dogmatische Einordnung und Abstimmung mit einzelnen Vorschriften des positiven Rechts – hier den §§ 254 und 852 BGB. § 160 Ein letztes Beispiel mag zeigen, welche außergewöhnlichen rechtstechnischen Schwierigkeiten mitunter selbst in scheinbar einfachen Fällen bei der Konkretisierung eines Prinzips entstehen können. Wieder sei auf einen bereits im zweiten Kapitel verwandten Fall zurückgegriffen: die Regel, daß Dauerschuldverhältnisse mit starker persönlicher Bindung aus wichtigem Grund stets beiderseits lösbar sind, fordert die – vom Gesetz nicht vorgesehene – Möglichkeit des Ausschlusses eines GmbH-Gesellschafters. Damit steht die Rechtsfolge im Ergebnis fest. Wie aber vollzieht sich der Ausschluß konkret? Hier wäre zunächst an einen Beschluß der übrigen Gesellschafter zu denken; dafür spräche die Analogie zu § 737 BGB. Indessen kennt unser Gesellschaftsrecht auch den Ausschluß durch Gestaltungsurteil, und mit Recht hat der BGH sich in Analogie zu § 140 HGB88 für diesen zweiten Weg entschieden89: ebenso wie bei der OHG sprechen auch bei der GmbH die Erfordernisse der Rechtssicherheit entscheidend für die Notwendigkeit einer allseits bindenden gerichtlichen Entscheidung der Frage, ob ein wichtiger Grund vorliegt und der Ausschluß daher wirksam ist oder nicht. Damit aber ergibt sich sofort eine neue Schwierigkeit: wer soll zur Erhebung der Klage befugt sein? Die Regelung des § 140 HGB, nach der alle übrigen Gesellschafter den Antrag stellen müssen, paßt nicht, da hier anders als bei der OHG durch den Ausschluß eines Gesellschafters sich die Haftung der übrigen nicht erhöht90. Andererseits handelt es sich zweifellos auch nicht um eine [168] bloße Geschäftsführungsmaßnahme, da in die Grundlagen des Gesellschaftsverhältnisses eingegriffen werden soll. Der BGH verlangt daher analog § 60 I Ziff. 2 GmbHG grundsätzlich eine Dreiviertel-Mehrheit; denn der Ausschluß eines Gesellschafters stehe einem Auflösungsbeschluß nahe91. – Soweit ermöglicht das positive Recht also eine sachgemäße Konkretisierung des Prinzips. Ungewöhnliche konstruktive Schwierigkeiten aber entstehen, wenn man das rechtliche Schicksal des Geschäftsanteils des ausgeschlossenen Gesellschafters untersucht. Die Möglichkeit, 88 Es handelt sich um einen Fall einer „möglichen“ Analogie, da eine Lösung der technischen Durchführung des Ausschlusses jedenfalls erforderlicht ist, – unabhängig davon, ob das Gesetz eine analog anzuwendende Vorschrift zur Verfügung stellt oder nicht. 89 BGHZ 9, 157 (164 ff., mit Nachweisen). 90 BGH, a.a.O. (S. 177). Es liegt hier also nur eine teilweise Analogie zu § 140 HGB vor. Vgl. dazu auch oben § 142. 91 Kritisch dazu Hueck, DB 53, 777: nur für den Ausscheidenden, nicht aber für die Verbleibenden – auf die es in diesem Zusammenhang allein ankommen könne – liege eine Ähnlichkeit mit einem Auflösungsbeschluß vor; Hueck tritt statt dessen dafür ein, gemäß § 47 I GmbHG grundsätzlich die einfache Mehrheit genügen zu lassen.
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daß dieser den übrigen Mitgliedern zuwächst bei gleichzeitigem Entstehen eines obligatorischen Ausgleichsan-spruchs, scheidet hier aus, da das Anwachsungsprinzip wesensgemäß nur für das Recht der Gesamthandsgemeinschaften gilt. Es bleiben daher nur zwei Wege: die Einziehung durch die GmbH und der freihändige Verkauf. Im ersten Fall gilt es wieder, ein anderes Prinzip zu berücksichtigen: das der Erhaltung des Stammkapitals, insbesondere das Rückzahlungsverbot der §§ 30 f. GmbHG; daher ist u. U. eine Herabsetzung des Kapitals der GmbH unumgänglich. In beiden Fällen fordert das berechtigte und gesetzlich geschützte Interesse eines jeden Gesellschafters, daß der Ausgeschlossene seinen Anteil nicht ohne Erstattung des vollen Gegenwertes verliert. Dem glaubte der BGH allein durch die – unserem Recht an sich nicht geläufige – Konstruktion eines bedingten Gestaltungsurteils Rechnung tragen zu können: der Ausgeschlossene verliert seinen Geschäftsanteil erst in dem Augenblick, wo er den vollen – im Ausschließungsurteil festzusetzenden – Gegenwert erhält. Mit einer derartigen Weiterbildung der Urteilsformen des geltenden Rechts ist gewiß die äußerste Grenze dessen erreicht, was dem Richter bei der Rechtsfortbildung praeter legem noch erlaubt sein mag92. Damit aber ist bereits ein Problem angesprochen, das im folgenden Kapitel näher untersucht werden soll: die Frage nach den Grenzen der Lückenausfüllung. [169] Zusammenfassung § 161 Zusammenfassend ist zum Abschluß zu bemerken: Lückenfeststellung und -ausfüllung sind entgegen der bisher h. L. durchaus nicht immer zwei völlig getrennte Vorgänge. Vielmehr ist entsprechend der im 3. Kapitel erarbeiteten Einteilung der Lücken zu unterscheiden: I. Bei den Rechtsverweigerungslücken trifft die Ansicht der h. L. zu: Feststellung und Ausfüllung der Lücke sind verschiedene gedankliche Prozesse. Dies erklärt sich daraus, daß dem Rechtsverweigerungsverbot mit irgendeiner Regelung Rechnung getragen ist. Soweit die Analogie dabei Verwendung findet, dient sie ausschließlich der Lückenausfüllung und ist, da sie hier nur eines unter mehreren theoretisch denkbaren Ausfüllungsmitteln darstellt, terminologisch als „mögliche“ Analogie zu kennzeichnen. II. Bei den teleologischen Lücken besteht dagegen regelmäßig eine völlige Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung. Dies findet seine Begründung darin, daß der hier zur Lückenfeststellung verwandte Gleichheitssatz bzw. die ratio legis 92 Weniger bedenklich dürfte daher die Konstruktion von Hueck (a.a.O.) sein: danach nimmt das Urteil dem Ausgeschlossenen mit gestaltender Wirkung nur seine mitgliedschaftlichen Befugnisse, während er hinsichtlich seines vermögensrechtlichen Anteils lediglich obligatorisch zur Übertragung (an die GmbH oder an einen von dieser benannten Dritten) Zug um Zug gegen Zahlung des vollen Wertes verpflichtet ist.
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einer Vorschrift im allgemeinen eine ganz bestimmte Regelung fordern. Anders gesprochen: die Lückenfeststellungsmittel Analogie, argumentum a fortiori, teleologische Reduktion und Extension dienen hier zugleich der Lückenausfüllung; soweit die Analogie zum Zuge kommt, ist sie daher das einzige in Betracht kommende Ausfüllungsmittel, d. h. es liegt eine „notwendige“ Analogie vor. Denknotwendig ist diese völlige Einheit von Feststellung und Ausfüllung der Lücke jedoch nicht; vielmehr ist es möglich, wenn auch praktisch selten, daß die Rechtsähnlichkeit zweier Tatbestände sich nicht auf alle regelungsbedürftigen Punkte erstreckt oder daß die ratio legis nur eine in den Umrissen, nicht aber in den Einzelheiten bestimmte Regelung fordert. Dann ergeben sich ähnliche Vorgänge wie bei den Prinzip- und Wertlücken. Vor allem bei den verdeckten Regelungslücken sind Feststellung und Ausfüllung der Lücke mitunter verschiedene Prozesse, wobei auch Fälle „möglicher“ Analogie auftreten können. § 162 III. Eine Mittelstellung nehmen die Prinzip- und Wertlücken ein: Feststellung und Ausfüllung der Lücke sind hier – von besonders einfach gelagerten Einzelfällen abgesehen – zwar verschiedene Vorgänge, doch stehen sie insofern in einem inneren Zusammenhang, als [170] das zur Lückenfeststellung verwandte Prinzip auch für die Ausfüllung die Richtung weist; eine Einzelregelung, unter die sich unmittelbar subsumieren ließe, bietet es jedoch regelmäßig nicht. Dies erklärt sich daraus, daß das Prinzip als solches noch keinen rechtssatzmäßigen Charakter trägt, sondern der „Konkretisierung“ bedarf. Dieser Vorgang läßt sich – in den wesentlichen Grundzügen, jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit in den Einzelheiten – folgendermaßen zusammenfassen: A. Als erstes erfolgt die Feststellung der Lücke durch den Nachweis, daß ein als Teil der bestehenden Rechtsordnung anzusehendes Prinzip keine ausreichende gesetzestechnische Durchführung erfahren hat. Dazu sind im einzelnen erforderlich: 1. Der (positive) Nachweis, daß das Prinzip Bestandteil des geltenden Rechts ist. Dieser kann hauptsächlich geführt werden durch die Ableitung des Prinzips aus dem Gesetz (regelmäßig im Wege der Induktion, fälschlich auch „Rechtsanalogie“ genannt), seine Rückführung auf die Rechtsidee oder seine Gewinnung aus der Natur der Sache (regelmäßig mit den Mitteln topischen Denkens). 2. Der (negative) Nachweis, daß das Prinzip nicht als ganzes (anders B 2 a) durch höherrangige Wertungen und Grundentscheidungen des positiven Rechts ausgeschlossen wird. B. Daran schließt sich die Lückenausfüllung an. Hierfür weist das Prinzip zwar die Richtung, bedarf jedoch noch einer Umformung in feste Normen, unter die subsumiert werden kann. Diese erfolgt im wesentlichen durch 1. die dogmatische Einordnung des Prinzips, die allein die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung sowie die Sicherheit in der Festlegung der praktischen Folgen im Einzelfall gewährleistet. Hierbei wirken Prinzip und System zusammen: dieses bietet eine beschränkte Zahl von Einordnungsmöglichkeiten,
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jenes entscheidet regelmäßig, welcher davon der Vorzug zu geben ist. Dabei sind u. a. auch die verschiedenen Strukturen und Aufgaben der einzelnen Rechtsgebiete zu berücksichtigen. 2. die Abstimmung mit den Wertungen und Einzelbestimmungen des positiven Rechts, das zugleich Wegweiser und Schranke bei der Normativierung des Prinzips ist. Im einzelnen sind vor allem erforderlich: a) die Berücksichtigung höherrangiger Prinzipien und Werte, die u. U. Einschränkungen der neuen Regelung für bestimmte Sondertatbestände (anders A 2) fordern; b) der Schutz rechtlich anerkannter Interessen, soweit das Prinzip nicht gerade ihre Zurücksetzung fordert; [171] c) die Aufstellung von (z. T. technischen) Einzelnormen, wo das Prinzip mehreren Durchführungsmöglichkeiten Raum läßt; hier sind durch das positive Recht u. U. einzelne Wege ausgeschlossen (limitierende Funktion) oder andere – vor allem auf Grund einer (möglichen oder notwendigen) Analogie – geboten (konkretisierende Funktion). [172]
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Fünftes Kapitel Die Grenzen der Lückenausfüllung § 163 Nicht in allen Fällen, in denen eine Lücke festgestellt ist, wird sie darum auch ausgefüllt. Dies kann zum einen darauf beruhen, daß eine Ausfüllung nicht möglich ist, zum anderen darin begründet sein, daß sie nicht zulässig ist. Im ersten Fall stehen wir vor der Problematik der sogenannten „unausfüllbaren Lücken“, im zweiten hauptsächlich vor der des Analogieverbotes. Indessen sind beide Fragen nicht für alle Arten von Lücken in gleicher Weise von Bedeutung, sondern auch hier wird sich wieder die Fruchtbarkeit der oben vorgeschlagenen Neueinteilung erweisen. Erster Abschnitt Die Grenzen der Lückenausfüllung bei den Rechtsverweigerungslücken A. Die Möglichkeit unausfüllbarer Lücken § 164 Die Frage, ob eine jede Rechtsordnung notwendigerweise lückenlos ist, oder ob nicht nur das Gesetz, sondern auch das Recht als Ganzes Lücken aufweisen kann, war lange Zeit Gegenstand heftiger Diskussionen. Den Ausgangspunkt bildete die – vor allem von Bergbohm1 vertretene – Lehre von der „logischen Geschlossenheit des Rechts“, nach der auf Grund der „logischen Expansionskraft“ der Normen Lücken im Recht unmöglich sein sollten. Schon bald setzte sich freilich die Erkenntnis durch, daß mit den Mitteln der Logik die Lücken des Gesetzes nicht zu schließen sind, daß die Logik vielmehr nur Vorhandenes zu ordnen, nicht aber Neues schöpferisch hervorzubringen in der Lage ist2. Damit war nun zwar die Lehre von der logischen [173] Geschlossenheit des Rechts widerlegt, nicht aber das Dogma der Lückenlosigkeit überwunden. Vielmehr wurde – und wird
1 Rechtsphilosophie I, S. 372 ff.; dort S. 373, Fußn. 6 sowie bei Redel, S. 10, Fußn. 4 auch Angaben über das ältere Schrifttum. 2 Vgl. z. B. Radbruch, Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, S. 363; ähnlich auch Jung, Logische Geschlossenheit, S. 141, 144 und öfter.
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heute noch – auch weiterhin immer wieder behauptet, daß zwar das Gesetz3, niemals aber das Recht als Ganzes Lücken haben könne4. § 165 Dies läßt sich nun gewiß nicht damit begründen, daß das Gesetz für jede Lücke wenigstens mittelbar eine Antwort enthalte, daß also seine Wertungen stets zur Füllung ausreichten. Denn die Erfahrung zeigt, daß der Richter – in den oben5 als „freie Rechtsfindung“ gekennzeichneten Fällen – nur allzu häufig für seine Entscheidung keinerlei Anhalt im gesetzten Recht mehr findet und auf seine „Eigenwertung“ angewiesen ist: ebensowenig wie eine logische Geschlossenheit gibt es eine „teleologische Geschlossenheit“ des Rechts. So wählen denn die Vertreter des Lückenlosigkeitsdogmas – soweit sie sich überhaupt um eine Untermauerung ihres Standpunktes bemühen – auch andere Begründungen. Diese laufen im Wesentlichen auf ein und denselben Gedankengang hinaus: weil (und soweit) der Richter zur Entscheidung eines Falles ermächtigt und – durch das Rechtsverweigerungsverbot – auch verpflichtet sei, werde stets eine Antwort auf die ungeregelte Frage gegeben und damit die Lücke notwendigerweise ausgefüllt6; auch ständen dem Richter mindestens gewohnheitsrechtliche Regeln für die Methode der Lückenergänzung zur Verfügung, und diese gewährleisteten daher immer eine rechtliche Entscheidung7. – Diese Argumentation ist unschwer zu widerlegen. Denn die Möglichkeit von unausfüllbaren Lücken – oder wie im folgenden statt dessen im Anschluß an Engisch8 auch gesagt werden soll: Rechtslücken – ist unabhängig davon, ob im Einzelfall ein Richter vorhanden [174] ist oder nicht9, – und zwar in doppelter Hinsicht: das Fehlen einer Entscheidungsinstanz berechtigt für sich allein ebensowenig zur Annahme einer unausfüllbaren Lücke wie umgekehrt die Zuständigkeit eines Richters die Möglichkeit einer Rechtslücke ohne weiteres ausschließt. Das Fehlen eines Richters ist deshalb für die Frage der unausfüllbaren 3 Daß das Lückenlosigkeitsdogma nicht mit dem Nachweis zu widerlegen ist, daß es Lücken im Gesetz gibt, verkennen offenbar: Lobe, S. 697; Düringer, S. 9; Du Pasquier, Introduction, S. 205. Daß es auf die Lücken im Recht, also auf den Standpunkt nach Erschöpfung aller Mittel der Lückenausfüllung ankommt, wird ganz klar bei Bergbohm, S. 388, Fußn. 11 und S. 389. 4 Vgl. außer Bergbohm, Regelsberger Pandekten, S. 156; Stammler, S. 641 ff.; W. Jellinek, S. 177; Spiegel, S. 119 f. und S. 123; Hellwig, S. 173; Herrfahrdt, S. 47 ff.; Huber, S. 352; Reichel, Gesetz und Richterspruch, S. 108; Kelsen, S. 251 ff.; Jerusalem, S. 57; Riezler, S. 169, Fußn. 74; Redel, S. 15 und durchweg; Beudant, S. 178; Sauer, S. 281; Dahm, S. 54; Coing, Auslegungsmethoden, S. 52. 5 Vgl. Kap. I, Fußn. 17. 6 Vgl. Regelsberger, Pandekten, S. 156; Spiegel, S. 119; Somlo, Grundlehre, S. 414 und Anwendung des Rechts, S. 61 ff.; Redel, S. 15 und durchweg; ähnlich G. Jellinek, S. 356 f.; sonderbar Anschütz, S. 323 ff., der die Möglichkeit unausfüllbarer Lücken nur für das Verfassungsrecht anerkennen will, da in allen anderen Gebieten der allgemeine negative Satz stets eine Entscheidung ermögliche. 7 So vor allem Somlo, Anwendung des Rechts, S. 63 f. 8 Rechtslücke, S. 102. 9 So mit Recht schon Anschütz, S. 335.
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Lücken bedeutungslos, weil das Recht sich nicht nur an ihn, sondern ebenso an alle übrigen Rechtsunterworfenen richtet und die Problematik der Lückenausfüllung daher auch dort auftritt, wo z. B. nur zwei Parteien – ohne jede Entscheidungsinstanz – darüber streiten, was in einem bestimmten, nicht ausdrücklich geregelten Falle zwischen ihnen rechtens sei. Die Frage stellt sich also generell und stets in derselben Weise immer dort, wo nicht Recht gesetzt, sondern angewandt werden soll. – Andererseits steht auch die Zuständigkeit eines Richters der Möglichkeit einer Rechtslücke keineswegs entgegen: auch wenn im konkreten Fall eine Entscheidung getroffen wird, heißt das noch nicht, daß es sich um eine Rechtsentscheidung handelt; anders gesprochen: nicht jedes rechtlich ermächtigte Urteil ist darum auch schon ohne weiteres rechtlich begründet10. Vollends verfehlt ist schließlich die Berufung auf das Rechtsverweigerungsverbot: erstens gilt dieses nicht a priori und nicht ausnahmslos11, und zweitens ist es logisch unzulässig, von der Verpflichtung zu einer Entscheidung auf die Möglichkeit einer solchen zu schließen. – Die Frage der unausfüllbaren Lücken ist daher in Wahrheit gänzlich unabhängig von der Zuständigkeit eines Richters. § 166 Das Problem stellt sich demnach ganz allgemein dahin, ob Fälle denkbar sind, in denen zwar eine Rechtsfrage vorliegt, eine rechtliche Antwort aber nicht möglich ist. Diese Problematik führt nun über eine rein methodologische Fragestellung hinaus in rechtsphilosophische Bereiche, – kommt es doch darauf an, was eine „rechtliche“ Antwort ist. Dies braucht jedoch in diesem Zusammenhang nicht positiv geklärt zu werden, sondern hier genügt die negative Feststellung, wann jedenfalls keine rechtliche Antwort mehr gegeben ist. Es besteht nun Einigkeit darüber, daß dem Recht wesensgemäß ein gewisses Maß an Allgemeinverbindlichkeit eignet. Dieses erhält es im allgemeinen durch die autoritative Anordnung des Gesetzgebers. Wo diese – wie in den hier in Frage stehenden Lückenfällen – fehlt, muß eine rechtliche Entscheidung ihre Verbindlichkeit auf andere Gründe stützen: sie findet allgemeine Anerkennung nur durch ihre innere Überzeugungskraft. [175] Diese kann zunächst begründet liegen in der Übereinstimmung mit den Wertungen des Gesetzes; fehlen solche, so kann sie sich stützen auf die „Vernünftigkeit“ allgemeiner Rechtsprinzipien, auf die „Natur der Sache“, auch auf allgemein anerkannte Rechtsanschauungen oder soziale und kulturelle Wertungen usw. Wo es aber auch daran mangelt, wo also unter Gerechtigkeitsaspekten jede beliebige Bestimmung gleichermaßen begründet erscheint, dort ist eine „rechtliche“ Regelung nur durch die autoritative Setzung des Gesetzgebers, nicht aber für den, der das Recht lediglich anzuwenden (im weitesten Sinne) hat, möglich; denn hier könnte eine Entscheidung keine Allgemeinverbindlichkeit mehr beanspruchen, sie wäre vielmehr willkürlich. Derartige Fälle können nun in der Tat So mit Recht Engisch, Rechtslücke, S. 98 f. Vgl. Engisch, a.a.O. und Einführung, S. 155; auch Binder, S. 982 f.; es gilt z. B. nicht im Völkerrecht; vgl. dazu Berber, S. 121 ff.; Siorat, S. 169 ff. 10 11
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auftreten, und zwar dort, wo eine rein technische Regelung zu vermissen ist12. Freilich wird man auch solche Bestimmungen nicht selten im Wege der (möglichen) Analogie oder auch durch die Einfügung konkretisierungsbedürftiger, nur im Hinblick auf den jeweils zu entscheidenden Fall genau festzulegender Rechtsbegriffe ergänzen können. Fehlt etwa die erforderliche Regelung einer Frist, so wird man eine „angemessene“ Frist festzusetzen haben13; fehlt die Bestimmung eines Zinssatzes, so ist der „übliche“ Satz zuzusprechen; fehlt eine erforderliche Zuständigkeitsregelung, so ist das „sachnächste“ Organ entscheidungsbefugt14. Damit ist aber auch schon die äußerste Grenze erreicht: häufig wird sich nicht feststellen lassen, welches Organ das „sachnächste“ ist, und vor allem werden vielfach die unerläßlichen Verfahrensvorschriften fehlen. So bildet Larenz15 etwa das Beispiel, daß ein Gesetz die Gültigkeit des Verkaufs von Warenlagern an die Eintragung in ein Register knüpft, aber jegliche Vorschriften über Zuständigkeit und Verfahren für die Einrichtung und Führung der Bücher vermissen läßt. Ähnlich liegt der von Zitelmann16 erwähnte Fall, in dem zwar eine Wahl angeordnet, aber das Wahlverfahren nicht geregelt ist. – Wie soll in diesen Beispielen das Gesetz angewandt werden, ohne daß die Entscheidung willkürlich wäre? Aus dem geltenden Recht sei an die Bestimmung des § 28b StGB erinnert17, wonach eine unein- [176] bringliche Geldstrafe durch freie Arbeit getilgt werden kann. Die in Absatz II vorgesehenen näheren Ausführungsbestimmungen fehlen jedoch bis heute, und es besteht daher Einigkeit darüber, daß die Vorschrift einstweilen unanwendbar ist18. § 167 Allerdings wird in der Literatur vereinzelt der Versuch gemacht, auch in derartigen Fällen die Annahme einer Lücke zu vermeiden, und zwar, indem man die unvollständige und daher unanwendbare Norm wegen Unbestimmtheit für nichtig erklärt19. Dies ist in der Tat zutreffend, soweit es sich um Vorschriften handelt, die zu hoheitlichen Eingriffen in die private Rechtssphäre ermächtigen; denn sie sind mit dem rechtsstaatlichen Vorhersehbarkeits- und BestimmtheitsVgl. Larenz, ML, S. 302 f. Vgl. z. B. BGHZ 11, 270, wo für die gerichtliche Geltendmachung der Nichtigkeit eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung eine „angemessene“ Frist gefordert wird. 14 Als Beispiel vgl. die oben (§ 50) näher dargelegte Unvollständigkeit des Art. 104 GG. Hier ist allerdings sehr strittig, ob die Verwaltungsgerichte „sachnäher“ sind, weil die nachzuprüfende Freiheitsentziehung sicherheitsrechtlichen Charakter trägt, oder ob die Zivilgerichte nach dem FGG-Verfahren „sachnäher“ sind, weil es sich um eine fürsorgerische Maßnahme handelt. Vgl. dazu Maunz-Dürig, Art. 104 GG, Randziffer 30 mit Nachweisen. 15 a.a.O. 16 S. 28 f. 17 Engisch (Einführung, S. 181 f.) erwähnt die Vorschrift im Rahmen der „teleologischen Widersprüche“, räumt jedoch ein, daß man sie auch der Problematik der unausfüllbaren Lücken zurechnen könne. 18 Vgl. Engisch, a.a.O. 19 In dieser Richtung Burckhardt, Lücken, S. 60. 12 13
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grundsatz unvereinbar. Im übrigen aber wird auf diese Weise das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben, da es sich eben gerade fragt, ob und warum die unvollständige Norm unanwendbar ist und nicht ergänzt werden darf. Außerdem gibt es Fälle, wo selbst diese Nichtigkeitserklärung nicht mehr weiter hilft. So bildet G. Jellinek20 das Beispiel, daß die französische Nationalversammlung sich weigerte, einen neuen Präsidenten der Republik zu wählen in einem Zeitpunkt, wo das Kabinett wirksam zurückgetreten ist; oder daß der russische Zar starb, ohne die nach einem Ukas Peters des Großen erforderliche Ernennung seines Nachfolgers vorgenommen zu haben. Zweifellos forderte hier die Verfassung der französischen Republik, daß ein Präsident vorhanden sein muß, und ebenso gebot die Verfassungsordnung der russischen Monarchie, einen Nachfolger zu finden. Irgendeine Bestimmung für nichtig zu erklären, bietet dabei keinen Ausweg. Vielmehr liegt, da eine rechtliche Lösung der Nachfolge nach der Gestaltung des Falles unmöglich ist, eine unausfüllbare Lücke vor. Man kann daher nicht umhin, mit Larenz und Engisch21 die Möglichkeit von Rechtslücken anzuerkennen22. [177] § 168 Allerdings ist hier noch eine Einschränkung zu machen: Überschaut man die angeführten Beispiele, so fällt auf, daß es sich durchweg um Fälle von Rechtsverweigerungslücken handelt, (und zwar sowohl um Norm- als auch um Regelungslücken). Dies ist nun kein Zufall; denn oben wurde als Charakteristikum der Rechtsverweigerungslücken herausgearbeitet, daß allein bei ihnen irgendeine Regelung vermißt wird, während in allen anderen Fällen schon bei der Feststellung der Lücke die erwartete Regelung wenigstens in den Umrissen festliegt. Auch die unausfüllbaren Lücken aber sind dadurch gekennzeichnet, daß eine beliebige Bestimmung fehlt. Das Problem der Rechtslücke wird daher typischerweise bei den Rechtsverweigerungslücken bedeutsam, während die Frage bei den teleologischen Lücken wegen der Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung nicht auftreten kann23. Der Richter sieht sich daher hier ausnahmsweise gezwungen, gegen das Rechtsverweigerungsverbot zu verstoßen. Denn auch dieses ist nicht unabdingbar gültig, sondern S. 357 f. a.a.O. 22 Überwiegend wird das Lückenlosigkeitsdogma abgelehnt, ohne daß jedoch die Begründungen immer in die Tiefe dringen. Vgl. Windscheid-Kipp, S. 108, Fußn. 1b; Jung, Logische Geschlossenheit, S. 133 und durchweg, Positives Recht, S. 41 ff. und Rechtsregel, S. 112; Zitelmann, S. 39; Kantorowicz, S. 16; Lobe, S. 697; Stoll, Juristische Methode, S. 90 und Rechtsstaaatsidee, S. 175, Fußn. 3; Somlo, Grundlehre, S. 415 (soweit kein Richter zur Streitentscheidung zuständig ist); Sternberg, S. 135; Düringer, S. 9; Goldschmidt, S. 159 f.; Binder, S. 986 f.; Kornfeld, S. 123 ff.; Nawiasky, S. 149; Boehmer, II 1, S. 166; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, S. 6 und S. 17; Gény, Méthode II, S. 130; Du Pasquier, Introduction, S. 205; Betti, Auslegungslehre, S. 130 („ein nie voll erreichbares ideales Ziel des Auslegungsprozesses“), mißverständlich allerdings Rechtsfortbildung, S. 387 („ein nur durch stetigen Einsatz der Juristen zu erreichendes [!] Ziel“); Meier-Hayoz, Kommentar, Randziffern 216 ff. 23 Vgl. dazu sogleich unten § 171. 20 21
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erhält seine Berechtigung und seinen Sinn nur aus dem übergeordneten Wert der Rechtssicherheit; gerade dieser aber würde hier nicht mehr gedient, da die willkürliche Entscheidung, zu der der Richter sich genötigt sähe, keinerlei Garantie allgemeiner Anerkennung in sich trüge und daher die Rechtssicherheit eher erschüttern als fördern würde. Da zudem der Richter auch noch gegen das Willkürverbot verstoßen müßte, hat das Rechtsverweigerungsverbot zurückzutreten, und man wird es daher hier in der Tat für zulässig erachten müssen, die Rechtsfrage ausnahmsweise mit einem „non liquet“ zu beantworten. B. Die Problematik des Analogieverbotes § 169 Ist die Problematik der unausfüllbaren Lücken geradezu charakteristisch für die Rechtsverweigerungslücken, so besitzt umgekehrt die zweite Schranke der Rechtsfortbildung praeter legem, das Analogieverbot, hier keine Gültigkeit. Diese auf den ersten Blick überraschende Behauptung wird sofort einleuchtend, wenn man sich noch einmal die Besonderheiten der Rechtsverweigerungslücken und die Rolle, die die Analogie bei ihrer Ausfüllung spielt, vor Augen führt: in diesen Fällen steht unabhängig von jedem Analogieschluß fest, daß eine Lücke vorhanden ist; der Richter sieht sich vor die Wahl zwischen Rechtsverweigerung und Ergänzung des Gesetzes gestellt, und es erhebt sich nunmehr die in einem neuen Gedankengang zu klärende [178] Frage nach der Möglichkeit der Lückenausfüllung; die Analogie bildet dabei – als „mögliche“ Analogie – nur eines unter mehreren theoretisch denkbaren Ausfüllungsmitteln. Vergegenwärtigt man sich nun den Sinn eines jeden Analogieverbotes, so wird klar, daß es nicht der Wille des Gesetzes sein kann, dem Richter in dem Dilemma zwischen Rechtsverweigerung und Gesetzesergänzung den Rückgriff auf eine – im übrigen zutreffende – Analogie zu untersagen. Sein Zweck ist vielmehr allein der, unter nur zwei möglichen Entscheidungen zu einer bestimmten zu zwingen: ein Anspruch wird nicht gewährt, eine Strafe nicht verhängt, eine Anfechtung nicht zugelassen usw.; hier steht der Richter gar nicht vor der Wahl zwischen Fortbildung des Gesetzes und Rechtsverweigerung, sondern nur vor der zwischen einer bestimmten (positiven) und einer anderen bestimmten (negativen) Entscheidung24 Stehen ihm dagegen theoretisch mehrere (positive) Möglichkeiten zur Verfügung und kann er sich nicht einfach mit der Abweisung der Klage als unbegründet begnügen, liegt also eine Rechtsverweigerungslücke vor, dann greift das Analogieverbot seinem Sinn und Zweck nach nicht ein: da feststeht, daß das Gesetz irgendwie ergänzt werden muß, ist nicht einzusehen, warum dazu nicht auch die – immerhin noch am meisten Sicherheit bietende und am besten mit den Absichten des Gesetzgebers übereinstimmende 24
Vgl. z. B. § 48.
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– Analogie herangezogen werden soll. Sonst müßte man zu dem unsinnigen Ergebnis kommen, daß das Analogieverbot hier entweder die Rechtsverweigerung gebietet, – was seinem eigenen Zweck, Rechtssicherheit zu gewährleisten25, kraß zuwiderliefe; – oder aber daß es zu einem Rückgriff auf Ausfüllung durch allgemeine Rechtsprinzipien oder gar die „Eigenwertung“ des Richters zwingt, – was ebenso unhaltbar wäre, da diese Art der Gesetzesergänzung mit noch stärkeren Unsicherheitsfaktoren belastet ist als die Analogie und daher durch deren Verbot erst recht ausgeschlossen sein muß. § 170 Den Zwecken des Analogieverbotes trägt hier vielmehr ein anderer Gesichtspunkt Rechnung: die unvollständige Norm kann u. U. nach dem rechtsstaatlichen Vorhersehbarkeits- und Bestimmtheitsgrundsatz mangels ausreichender Bestimmtheit nichtig sein. So dürfte zweifellos eine Strafnorm, die über die Höhe der Strafe nichts aussagt, nicht in Analogie zu einem anderen, rechtsähnlichen Tatbestand ergänzt werden; die Lücke dürfte aber auch nicht auf andere Weise geschlossen werden, sondern diese Vorschrift wäre wegen ihrer Unbestimmtheit nichtig. – Steht aber fest, daß überhaupt eine Ausfüllung der Lücke stattfinden soll, so dürfen nach dem oben Gesagten dazu ausnahms[179] weise auch Vorschriften herangezogen werden, die ansonsten einem Analogieverbot unterliegen. Anders gesprochen: jedes Analogieverbot bezieht sich sinngemäß nur auf die Fälle der notwendigen, nicht auch auf die der möglichen Analogie. Zur Veranschaulichung sei zum Abschluß noch einmal kurz auf ein bereits oben26 erwähntes Beispiel zurückgegriffen: aus § 50 GmbH ergibt sich, daß eine Gesellschafterversammlung nur einberufen werden darf, wenn die den Zusammentritt fordernden Gesellschafter über mindestens 10% des Stammkapitals verfügen. Eine Bestimmung darüber, welche Sanktion bei einem Verstoß gegen diese Vorschrift eintreten soll, ob also ein auf einer unzulässigerweise einberufenen Gesellschafterversammlung gefaßter Beschluß anfechtbar oder nichtig ist, enthält das Gesetz jedoch nicht, obwohl der Geltungsanspruch der Norm eine solche fordert27. Der BGH hat nun diese Lücke im Wege der – möglichen28 – Analogie zu § 195 Ziff. 1 AktG ausgefüllt29 (mit der Folge, daß Nichtigkeit des Beschlusses anzunehmen ist) und sich dabei mit Recht nicht davon beirren lassen, daß § 195 AktG ein Analogieverbot enthält. Denn dieses beansprucht insoweit gar keine Gültigkeit, was sich ohne weiteres aus seinem Sinn ergibt30, und – wie oben theo-
Vgl. unten § 175 a. E. Vgl. § 56. 27 Vgl. oben § 56. 28 Vgl. oben § 139. 29 BGHZ 11, 240. 30 § 195 will nur die Bildung im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnter Nichtigkeitsgründe verhindern. 25 26
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retisch hergeleitet – entsprechend auch bei allen anderen Analogieverboten nachzuweisen sein müßte. [180] Zweiter Abschnitt Die Grenzen der Lückenausfüllung bei den teleologischen Lücken A. Die Möglichkeit unausfüllbarer Lücken § 171 Bereits oben wurde angedeutet, daß bei den teleologischen Lücken die Möglichkeit unausfüllbarer Lücken nicht besteht. Dies bedarf hier keiner näheren Begründung mehr, sondern ergibt sich ohne weiteres aus der im 4. Kapitel für diese Fälle herausgearbeiteten Einheit des gedanklichen Vorganges von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung31: da die Feststellung der Lücke gar nicht möglich ist, ohne daß zugleich auch schon ihre Ausfüllung feststeht, kann es unausfüllbare Lücken nicht geben. Dies gilt dabei auch, soweit nur eine teilweise Einheit vorliegt wie in den Fällen der „Teilanalogie“ und bei manchen Beispielen der teleologischen Reduktion32, da auch dann nicht zwei gänzlich getrennte Vorgänge gegeben sind, sondern wenigstens die Richtung, in der die Ausfüllung der Lücke zu suchen ist, schon bei ihrer Feststellung bestimmt ist. Man kann daher sagen: teleologische Lücken sind immer ausfüllbar. B. Die Problematik von Analogie-, Induktionsund Reduktionsverbot § 172 Wirft hier somit die Möglichkeit der Lückenausfüllung keine besonderen Probleme auf, so gilt das genaue Gegenteil für die Frage nach ihrer Zulässigkeit: die teleologischen Lücken bilden den Bereich, in dem das Problem des Verbotes von Analogie und teleologischer Reduktion seine Bedeutung entfaltet. 1. Die Unzulässigkeit der Analogie Was zunächst die Analogie angeht, so ist hier hauptsächlich zweierlei zu klären: die Frage, ob bestimmte Vorschriften ihrer Natur nach analogiefeindlich 31 32
Vgl. oben §§ 140 ff. Vgl. oben § 142 bzw. § 146.
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sind, zum einen, – und das Problem, wann ein Analogieverbot anzunehmen ist, zum anderen. [181] § 173 Kaum eine verfehlte Regel hat soviel Unheil gestiftet wie die Behauptung, Ausnahmevorschriften seien ihrem Wesen nach einer Analogie unzugänglich; immer wieder hat sich die Rechtsprechung darauf berufen und sich auf diese Weise die Mühe einer genaueren Begründung erspart33. Heute darf dieser Satz als überholt gelten34, und man hat statt dessen den hinter ihm stehenden richtigen Gedanken erkannt: auch eine Ausnahmevorschrift35 ist insoweit der Analogie zugänglich, als das ihr zugrundeliegende – engere – Prinzip seinem Sinne nach Anwendung auf einen nicht ausdrücklich geregelten Fall finden kann; verboten ist dabei nur, dieses Prinzip zu einem allgemeinen zu erheben und so die Ausnahme zur Regel zu verkehren, nicht aber, einem Sondertatbestand einen zweiten rechtsähnlichen Sondertatbestand gleichzustellen. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Das RG hat die §§ 844, 845 BGB auf einen Schadensersatzanspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag (wegen bewußter Übernahme eines Risikos) analog angewandt36. Zur Begründung hat es ausgeführt, wenn schon für einen bloßen Körperschaden gehaftet werde, so müsse die Ersatzpflicht erst recht im Falle des Todes eintreten. Diese Begründung ist indessen methodisch verfehlt, da sie für alle Schuldverhältnisse in gleicher Weise zutrifft und daher den Grundsatz unserer Rechtsordnung, daß Ansprüche aus einem Schuldverhältnis regelmäßig nur den daran Beteiligten zustehen, allgemein außer Kraft setzt; die vom RG vorgenommene Analogie ist daher unzulässig, da sie die Ausnahmevorschrift der §§ 844, 845 zur Regel erheben würde37. – Anders steht es dagegen mit [182] der Vgl. z. B. die bei Nipperdey, § 48, Fußn. 9, zitierten Entscheidungen. Vgl. schon Regelsberger, Ius singulare, S. 54 ff. (vgl. dort sowie bei Robine, S. 20 ff. auch zur Geschichte des Satzes „singularia non sunt extendenda“); ferner z. B. Bovensiepen, S. 135; Nipperdey, § 48 I 2a; Engisch, Einführung, S. 147 f.; Larenz, ML, S. 260 f.; grundsätzlich auch die Rechtsprechung des RG und des BGH, vgl. die bei Nipperdey, § 48, Fußn. 9, zitierten Entscheidungen; ebenso das französische Schrifttum: vgl. Gény, Méthode II, S. 124 f.; Robine, S. 190 ff.; anders Perreau I, S. 304 ff. – Besonders eingehend (im Hinblick auf § 580 ZPO) Gaul, S. 37 ff. mit weiteren Nachweisen in Fußn. 6. 35 Ausnahme ist hier selbstverständlich weder im statistischen noch im gesetzestechnischen, sondern im normativen Sinn gemeint: es handelt sich um Vorschriften, die allgemeine Grundentscheidungen einer Rechtsordnung ausnahmsweise durchbrechen. 36 RGZ 167, 85. Das Schrifttum ist dem ausnahmslos gefolgt. Vgl. die Nachweise bei Canaris, JZ 63, S. 661, Fußn. 62. 37 Vgl. dazu im übrigen Canaris, a.a.O., S. 661, Ziffer 3a. – Die Anwendung der §§ 844 f. ließe sich allerdings halten, wenn man in der analogen Anwendung des § 670 auf Schäden nicht einen Fall der „Vertragshaftung“, sondern eine Ausprägung eines allgemeinen Instituts der Gefährdungs- oder besser „Risikohaftung bei Tätigkeit in fremdem Interesse“ sähe; denn bei der Gefährdungshaftung ist die „Drittberechtigung“ durchaus systemgerecht (vgl. z. B. §§ 10 StVG, 35 LuftVG, 3 HaftpflG). In der Tat dürfte eine derartige dogmatische Einordnung zutreffen: Es geht nicht um den Ausgleich von Unrechtsschäden, sondern um die Verteilung von Unglück (iustitia distibutiva); dieses dem Geschäftsherrn aufzubürden, entspricht den bei der Gefähr33 34
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Anwendung der §§ 844, 845 im Werkvertragsrecht auf Grund der Analogie zu § 618 III: die ratio legis des § 618 III – nämlich, daß der Dienstverpflichtete bzw. der Unternehmer vertraglich verpflichtet sind, ihr Leben und ihre Gesundheit dem Vertragspartner bei der Arbeit in dessen Räumen anzuvertrauen, und daß sie dies gerade deshalb tun, um für ihre Angehörigen den Unterhalt zu verdienen38 – kann zwar auf Werkverträge in gleicher Weise zutreffen wie auf Dienstverträge, gilt aber nicht allgemein für alle Schuldverhältnisse38a. In diesem Falle ist daher die Analogie zu der Ausnahmevorschrift der §§ 618 III, 844, 845 zulässig, da nur ein zweiter Sondertatbestand gleichgestellt, nicht aber die Ausnahme zum allgemeinen Grundsatz erklärt wird. § 174 Noch eine zweite Frage ist in diesem Zusammenhang zu erörtern. Mitunter findet sich die Behauptung, rechtstechnische Vorschriften des ius strictum seien ihrer Natur nach analogiefeindlich39. Daß dieser Satz für die Fälle der „möglichen“ Analogie keinesfalls Geltung beanspruchen kann, ergibt sich ohne weiteres aus den Ausführungen des 1. Abschnittes: vielfach wird die Analogie zu rechtstechnischen Bestimmungen die einzige Möglichkeit sein, um die Annahme einer unausfüllbaren Lücke zu vermeiden. Aber auch für die „notwendige“ Analogie ist diese Behauptung unzutreffend, da auch den Frist-, Form- und Zuständigkeitsvorschriften usw. eine klar erfaßbare ratio legis zugrunde liegt und da auch hier daher der Gleichheitssatz die Gleichstellung rechtsähnlicher Fälle fordern kann. So ist etwa die Verjährungsvorschrift des § 852 BGB analog anwendbar auf den Be- [183] seitigungsanspruch40 oder die Formvorschrift des § 313 BGB anadungshaftung anerkannten Grundsätzen der Risikoverteilung: Der Geschäftsherr veranlaßt den Beauftragten zu einer gefährlichen Tätigkeit (Gefahrsetzungsgedanke, vgl. Esser Gefährdungshaftung S. 102 und Schuldrecht § 59, 2 vor a und § 212, 1) und hat außerdem den Vorteil aus dieser Tätigkeit (Gedanke der Vorteilsziehung, vgl. Esser, Gefährdungshaftung, S. 69 ff.). Die Begründung der h. L., die freiwillige Gefahrübernahme sei der Aufwendung gleichzustellen, kann diesen Anspruch wohl kaum in das System unseres Schadenersatzrechts einordnen; sie müßte den Ersatzanspruch auch davon abhängig machen, ob der Geschäftsführer die Gefahr (mehr oder weniger zufällig) richtig vorhergesehen hat und bleibt daher nicht folgerichtig, wenn sie auf einen „verständigen Beobachter“ abstellt (vgl. Larenz SR II § 52 III). Weitere Fälle dieses einheitlichen Instituts der Risikohaftung bei Tätigkeit im fremden Interesse wären der Freistellungsanspruch des Arbeitnehmers und der Haftungsausschluß bei gefahrgeneigter Arbeit (hier wären im Rahmen des § 254 BGB Risikozurechnung und Verschulden abzuwägen, wodurch der Ausschluß der Haftung bei culpa levissima seine Systemwidrigkeit verlöre). Folgerungen aus der Anerkennung eines solchen Instituts wären z. B. die Gewährung eines Ersatzanspruchs des Arbeitsnehmers gegen den Arbeitgeber bei arbeitsadäquaten Schäden und die Anerkennung der gefahrgeneigten Tätigkeit als Haftungsausschließungsgrund auch außerhalb von Arbeitsverhältnissen. 38 Larenz, ML, S. 290 f. 38a Anders Canaris. 2. Festschr. für Larenz, 1983, unter IV 3 d. 39 Vgl. z. B. Pisko, Kommentar, S. 145; Roth-Stielow, S. 86. 40 Vgl. oben § 159 zu Fußn. 87. – Bei Fristen ist jedoch besondere Vorsicht geboten, zum einen, da sie wegen ihrer Begrenzung auf eine bestimmte Zahl von Tagen, Wochen usw. stets ein gewisses Maß an Willkür enthalten und der Analogieschluß, daß gerade diese Zahl von
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log auf die Einräumung eines obligatorischen Vorkaufsrechts an einem Grundstück41. Zusammenfassend ist daher zu sagen, daß es Vorschriften, die ihrer Natur nach jeder Analogie unzugänglich sind, nicht gibt. § 175 Besondere Schwierigkeiten für das Zivilrecht42 wirft nicht selten die Frage auf, ob in einem bestimmten Fall ein Analogieverbot anzunehmen ist oder nicht. Hat man dieses Problem zu lösen, so muß man sich stets vor Augen halten, was ein Analogieverbot eigentlich bedeutet: der Gesetzgeber befiehlt hier dem Richter, rechtsähnliche Fälle verschieden zu behandeln, zwingt ihn also zu einem Verstoß gegen das oberste Gebot der Rechtsidee, das Gleichbehandlungsgebot. Jedes Analogieverbot hat daher prima facie etwas „Anstößiges“ und bedarf besonderer Rechtfertigung. Auch verfassungsrechtlich ist es höchst bedenklich, da das Gleichbehandlungsgebot, wo nicht unmittelbar aus Art. 3 GG zu entnehmen, so doch zweifellos Bestandteil des Rechtsstaatsgedankens und damit unserer Verfassung ist. Deshalb bedeutet nun freilich nicht jedes Analogieverbot einen Verstoß gegen die Rechtsidee oder gegen das Grundgesetz. Denn die Rechtsidee enthält noch ein anderes Element, das dem Gleichheitssatz hier korrigierend ent- [184] gegenwirkt: das Gebot der Rechtssicherheit. Dieses, aber auch nur dieses kann ein Analogieverbot rechtfertigen. § 176 Als methodische Auslegungsregel läßt sich daraus entnehmen: im Zweifel ist die Annahme eines Analogieverbotes abzulehnen; dieses setzt vor allem stets voraus, daß ein erhebliches Bedürfnis nach Rechtssicherheit für die Bejahung einer abschließenden Aufzählung spricht; insbesondere ist nicht jede Regelung nach Tagen usw. durch den Gleichheitssatz gefordert werde, sich daher regelmäßig kaum führen lassen wird; zum anderen, weil der Betroffene durch eine ungeschriebene (!) Fristbestimmung in seinen Rechten besonders schwer beeinträchtigt werden kann und das rechtsstaatliche Vorhersehbarkeitsprinzip daher hier äußerste Zurückhaltung gebietet. Aus diesen Gründen wird die Auslegung daher häufig zu dem Ergebnis führen, daß ein Rechtsbehelf usw. unbefristet besteht, daß das Fehlen einer Fristbestimmung also gar keine Lücke darstellt (als Beispiel vgl. BVerfGE 4, 36 f., das seine im gegebenen Fall richtige Entscheidung allerdings unzulässig verallgemeinert); scheint nach dem Willen des Gesetzes eine – fehlende – Fristbestimmung jedoch unumgänglich, so wird der Richter statt einer – auf eine Analogie gegründeten – starren Frist regelmäßig besser eine „angemessene“ Frist wählen (als Beispiel vgl. BGHZ 11, 236, wo zwar der Nichtigkeitsgrund des § 195, Ziffer 1 AktG auf den Fall des § 50 GmbHG analog übertragen wird, – vgl. dazu auch oben § 56 –, die starre dreijährige Frist des § 196 II 1 AktG für die GmbH jedoch mit Recht durch eine „angemessene“ Frist ersetzt wird). 41 Vgl. RGZ 148, 105 (108). 42 Im Strafrecht ist das Verbot der Analogie in malam partem überwiegend anerkannt, vgl. Schönke-Schröder, § 2 StGB mit Nachweisen. Anders Sax, Analogieverbot auf Grund seiner Auffassung, die Analogie sei der Auslegung zuzurechnen; indessen ist der Umfang des strafrechtlichen „Analogieverbotes“ keine methodische, sondern eine positiv-rechtliche, insbesondere eine verfassungsrechtliche Frage, und es gälte daher, den Nachweis zu führen, daß Art. 103 II GG nicht auch diese – erweiterte – Art der „Auslegung“ verbietet. Ähnlich wie Sax Germann (Analogieverbot, S. 136) auf Grund seiner oben, Kap. I, Fußn. 35 kritisierten Unterscheidung der Analogie als Mittel der Auslegung und als Mittel freier Rechtsfindung.
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dem Enumerationsprinzip unbedingt als Analogieverbot anzusehen43, sondern sie kann auch – wie sogleich an Beispielen näher dargelegt werden soll – lediglich bedeuten, daß der Gesetzgeber die Tatbestände kasuistisch aufzählen wollte, statt eine Generalklausel zu geben; in einem solchen Falle ist nicht die Gesetzesanalogie, sondern lediglich die induktive Ermittlung eines allgemeinen Prinzips („Rechtsanalogie“) untersagt. – Dabei soll, um Mißverständnissen vorzubeugen, ausdrücklich hervorgehoben werden, daß dem Gesetzgeber selbstverständlich die Macht zusteht, bei jeder beliebigen Regelung mit einem Analogieverbot zu arbeiten. Nur soweit er nicht eine klare und eindeutige Entscheidung getroffen hat, gilt die dargelegte einschränkende Auffassung. § 177 Dies sei nunmehr an einigen Beispielen verdeutlicht. Klare Fälle eines Analogieverbotes bilden etwa die Bestimmungen der §§ 16 EheG und 195 AktG, wo das Gesetz eindeutig sagt, „nur“ bei den ausdrücklich genannten Tatbeständen sei eine Ehe bzw. ein Beschluß der Hauptversammlung einer AG nichtig. In der Tat werden diese Analogieverbote durch ein nicht zu leugnendes Bedürfnis nach unbedingter Rechtssicherheit gerechtfertigt. – Ein anschauliches Gegenbeispiel, wo das Enumerationsprinzip nicht ein Analogieverbot im Gefolge hat, sondern nur die Entwicklung eines „allgemeinen“ Rechtsgedankens verbietet, also – wie im folgenden abkürzend gesagt werden soll – ein „Induktionsverbot“ darstellt, bildet § 1822 BGB. Danach bedürfen bestimmte, enumerativ genannte Geschäfte des Vormunds für den Mündel der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht. Zweifellos wäre es nun methodisch unzulässig, aus diesem Katalog einen allgemeinen Rechtssatz der Art zu entnehmen, daß alle besonders gefährlichen Geschäfte genehmigungsbedürftig seien; denn dann hätte das Gesetz sie nicht einzeln aufzuzählen brauchen. Anderseits ist aber auch anerkannt, daß hier kein Analogieverbot anzunehmen ist. So wird etwa die Bestellung eines Nießbrauchs an einem Erwerbsgeschäft oder seine Verpfändung der Veräußerung nach Ziffer 3 im Wege der (notwendigen!) Analogie gleichgestellt44. Für eine derartige Analogie ist dabei [185] nach dem Gesagten nicht ausreichend, daß der nicht ausdrücklich genannte Fall generell gefährlich ist, sondern es muß gefordert werden, daß die Gefährlichkeit nach Art und Maß dem im Gesetz geregelten Tatbestand gleichkommt. Läßt sich dieser Nachweis führen, dann ist die Analogie trotz des Enumerationsprinzips zulässig; es handelt sich also um eine ganz ähnliche Problematik wie bei der Analogie zu Ausnahmevorschriften: die Durchbrechung des Katalogs mit Hilfe einer Generalklausel ist unzulässig, die Gleichstellung eines rechtsähnlichen Sondertatbestandes dagegen erlaubt. § 178 Mit Hilfe dieser Regeln soll nun abschließend versucht werden, einige bekannte Streitfragen darauf zu untersuchen, ob es bei ihnen um ein Analogie43 44
a. A. z. B. von Tuhr, S. 43, Fußn. 160; ihm folgend Bovensiepen, S. 136; richtig Gaul, S. 37 ff. Vgl. Palandt-Lauterbach, § 1822, 4; Erman-Hefermehl, § 1822, 3.
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verbot oder nur um ein Induktionsverbot geht. Zunächst sei noch einmal auf die bereits oben45 kurz erwähnte Frage zurückgegriffen, ob § 6 BGB für die Entmündigungsgründe ein Analogieverbot enthält oder ob z. B. eine Entmündigung wegen Rauschgiftsucht in entsprechender Anwendung der Ziffer 3 zulässig ist. Die Rauschgiftsucht führt mindestens in demselben Maße wie die Trunksucht zu einer Lähmung der Willenskraft und zu einer Zerrüttung der gesamten Persönlichkeit des Süchtigen; auch stellt sie durch die Möglichkeiten der modernen Wissenschaft und Technik, insbesondere der Arzneimittelindustrie, und durch die Lebensbedingungen in der heutigen „Massengesellschaft“ eine ebenso große Gefahr dar wie die Trunksucht, so daß der Gesetzgeber heute – bei Erlaß des BGB im Jahre 1900 waren diese Gefahren gewiß noch nicht in diesem Ausmaße vorhanden oder zu übersehen – die Rauschgiftsucht zweifellos unter die Entmündigungsgründe aufnehmen würde46. Daher ist eine Lücke gegeben, da der Gleichheitssatz die Gleichstellung fordert47, und es kann sich nur fragen, ob § 6 auf Grund eines Analogieverbotes die Ausfüllung verbietet. Der Wortlaut der Vorschrift gibt zu dieser Annahme keinen Anlaß, da das Gesetz nicht sagt, „nur“ in diesen Fällen sei eine Entmündigung zulässig. Daß die Vorschrift nach dem Enumerationsprinzip aufgebaut ist, schließt, wie gezeigt, für sich allein die Analogie nicht ohne weiteres aus. Entscheidend muß demnach die Frage sein, ob die Rechtssicherheit die Beschränkung auf die ausdrücklich genannten Fälle fordert. Dies aber wird man verneinen müssen; zwar stellt eine Entmündigung einen sehr schweren staatlichen Eingriff in die [186] Freiheitsrechte des einzelnen dar – und das spricht in der Tat für die Annahme eines Analogieverbotes –, doch steht dem gegenüber, daß es sich hier nicht um eine Strafmaßnahme oder einen anderen Akt, bei dem die Interessen des Staates und des Bürgers einander widersprechen, sondern um eine Schutzmaßnahme gerade zugunsten des Betroffenen handelt. Das Analogieverbot, das nur den Schutz des einzelnen bezwecken kann, würde sich hier also geradezu zu dessen Nachteil verkehren: regelmäßig wird die Entmündigung die einzige Möglichkeit darstellen, um den Süchtigen vor der völligen Zerrüttung zu retten. Daher wird man in der Tat das Gebot der Rechtssicherheit nicht für vordringlich erachten können und die Analogie zulassen müssen48. § 179 Ein weiteres Analogieverbot im Zivilrecht enthält angeblich § 2339 BGB für die Erbunwürdigkeitsgründe49. Soll daher zwar nach Ziff. 3 erbunwürdig sein, wer den Erblasser durch arglistige Täuschung oder durch Drohung, nicht
Vgl. § 38. Das ist inzwischen durch Gesetz vom 31. 7. 1974 geschehen. 47 Es handelt sich hier wieder um ein schönes Beispiel dafür, daß die Lücke mit Hilfe eines Ähnlichkeitsschlusses, also auf Grund der Analogie festgestellt wird. 48 Die Frage ist äußerst umstritten. Vgl. die Schrifttumsangaben bei Staudinger-Coing, § 6, 27. 49 Vgl. statt aller Staudinger-Ferid, § 2339, 4. 45 46
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aber wer ihn durch Gewalt oder Hypnose50 zur Errichtung einer letztwilligen Verfügung veranlaßt hat? Auch hier gibt der Wortlaut des Gesetzes keinen zwingenden Anlaß für die Annahme eines Analogieverbotes. Auch hier hat daher die Auslegung zu entscheiden, ob das Enumerationsprinzip des § 2339 nicht nur ein Induktionsverbot zur Folge hat. Für ein Analogieverbot wird vor allem der angebliche „Strafcharakter“ der Vorschrift ins Feld geführt. Diese Argumentation läßt sich indessen nicht halten; denn der Sanktionsgedanke mag zwar mitunter auch im Zivilrecht nicht gänzlich ohne Bedeutung sein, daß er aber tragender Grund einer Vorschrift sein soll, ist ein mit den Grundprinzipien unserer Privatrechtsordnung unvereinbarer Gedanke51. Vielmehr dürfte § 2339 dem allgemeinen sittlichen Empfinden Rechnung tragen, für das es bei einem besonders schweren Verstoß des Erben gegen den Erblasser „unerträglich“ wäre, wenn dieser dennoch in den Genuß der Erbschaft käme. So gesehen aber kann kein zwingendes Rechtssicherheitsinteresse für ein Analogieverbot anerkannt werden. Die Gedanken, die sonst ein Analogieverbot tragen, passen hier nicht: weder ist ein besonderer Schutz vor richterlicher Willkür erforderlich, da der Richter hier nicht als Wahrer staatlicher Ordnungs- und Hoheitsgewalt, sondern als Schlichter eines privaten Streites auftritt; – noch greift der zweite Gesichtspunkt, das [187] Vorhersehbarkeitsprinzip, ein, da man nicht anerkennen kann, daß jemand, der sich gegen den Erblasser vergeht, besonderen Schutzes wegen der möglichen Folgen seines Handelns bedarf. § 2339 enthält daher nur ein Induktionsverbot und untersagt demnach lediglich, der Ziff. 3 etwa einen allgemeinen Satz dahingehend zu entnehmen, daß die „unlautere Einflußnahme“ auf die Errichtung einer Verfügung von Todes wegen zur Erbunwürdigkeit führt; vielmehr bestimmt das Gesetz selbst, welche Arten und Grade der Unlauterkeit es für ausreichend erachtet. Wenn aber ein insoweit rechtsähnlicher Fall – wie hier Gewalt und Hypnose – übersehen ist, darf er im Wege der Analogie gleichgestellt werden. § 180 Ein letztes, in jüngster Zeit im Anschluß an die Entscheidung des BGH über die analoge Anwendung des § 847 BGB auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht52 heiß umstrittenes Beispiel mag diese Problematik abschließen: die Frage, ob § 253 BGB ein Analogieverbot enthält53. Nach dieser Vorschrift kann „wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, Entschädigung in Geld nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden“. Diese Formulierung legt nun zwar den Gedanken an ein Analogieverbot nahe, unbedingt zwin50 Für Gewalt bejahend Staudinger-Ferid, Randziffer 35, Planck-Greiff, Anm. 2 c (nicht folgerichtig, da ein Analogieverbot auch ein eventuelles argumentum a fortiori ausschließen muß), für Hypnose dagegen verneinend. 51 So mit Recht Bartholomeyczik, NJW 55, 795; Staudinger-Ferid, a.a.O., Randziffer 4. 52 Seit BGHZ 26, 349 st. Rspr. 53 So z. B. Larenz, NJW 58, 827; Hartmann, NJW 62, 14; Löffler, NJW 62, 225; Bötticher, AcP 158, 400 f.
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gend ist der Wortlaut jedoch nicht: das Gesetz spricht nicht von den ausdrücklich bestimmten Fällen, und da auch der durch Analogie gewonnene Rechtssatz unzweifelhaft mittelbar im Gesetz enthalten ist54, kann man rein sprachlich auch einen im Wege der Analogie gleichgestellten Fall als – mittelbar – durch das Gesetz bestimmt ansehen. Zwingt somit der Wortlaut nicht unbedingt zur Annahme eines Analogieverbotes, so spricht anderseits das oben herausgearbeitete Auslegungskriterium entscheidend dagegen: es ist kein Grund ersichtlich, warum der Gesetzgeber um der Rechtssicherheit willen hier dem Richter einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz gebieten sollte. Und so ist denn auch in den Materialien mit keinem Wort von einem Analogieverbot die Rede55. Die Vorschrift des § 253 ist darum jedoch keineswegs gegenstandslos – wie man vielleicht einwenden könnte –, sondern sie erklärt sich zwanglos als Induktionsverbot: der Gesetzgeber wollte nur verhindern, daß die Rechtsprechung aus den im Gesetz enthaltenen Fällen, wie so oft einen „allgemeinen“ Grundsatz entnimmt, nach dem stets Schadensersatz auch für immaterielle Schäden gewährt [188] würde, – nicht aber, daß den geregelten Ausnahmetatbeständen ein rechtsähnlicher Sonderfall gleichgestellt wird. Dies lassen auch die Materialien56 klar erkennen, wo die Vertragsverletzungen und die deliktischen Eingriffe gegenübergestellt werden und das Hauptgewicht darauf gelegt ist, daß bei den ersteren der Ersatz des Affektionsinteresses ausgeschlossen sein soll. Dahin führt schließlich bei unvoreingenommener Lektüre auch die systematische Auslegung: das Gesetz enthält zunächst den – positiven – Grundsatz, daß regelmäßig Naturalrestitution zu leisten ist; es erweitert diesen sodann durch einen zweiten – ebenfalls positiven – Grundsatz, daß ein Anspruch auf Geldersatz zu gewähren ist, wo Naturalersatz nicht möglich oder nicht genügend ist, und schränkt dies dann wieder in § 253 durch einen dritten – negativen – Grundsatz für die Fälle des immateriellen Schadens ein; ein solcher negativer Grundsatz aber läßt seinem Wesen nach Ausnahmen für Sondertatbestände zu und verbietet nur die Durchbrechung durch eine Generalklausel. Letztlich ist entscheidend, daß der Gesetzgeber hier eine materiale Wertentscheidung – nämlich den grundsätzlichen Ausschluß des Affektionsinteresses, vor allem im Vertragsrecht, sowie die Ablehnung der „Kommerzialisierung“ der Ehre –, nicht aber eine formale Ordnungsentscheidung – nämlich die Berücksichtigung eines besonderen Bedürfnisses nach Rechtssicherheit hat treffen wollen; nur bei Ordnungsentscheidungen aber treten typischerweise Gerechtigkeitsgesichtspunkte hinter dem Wert der Rechtssicherheit zurück, und nur bei ihnen ist daher in Zweifelsfällen die Annahme eines Analogieverbotes gerechtfertigt57. Dies folgt aus der Verbindung mit den Wertungen des Gesetzes, vgl. oben § 63. Vgl. Mot. zum BGB, Bd. 2, S. 22; Prot. zum BGB, Bd. 1, S. 298. 56 Vgl. vor allem die Motive, a.a.O. 57 Das bedeutet aber keineswegs, daß darum die analoge Anwendung des § 847 auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht Zustimmung verdient. Denn der erforderliche Rechtsähnlichkeits54 55
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Gleichgültig, wie man sich letzten Endes zur Lösung der drei Streitfragen stellen mag, so ist jedenfalls als methodische Erkenntnis festzuhalten: Es ist scharf zwischen Analogieverbot (Verbot der „Gesetzesanalogie“) und bloßem „Induktionsverbot“ (Verbot der „Rechtsanalogie“) zu unterscheiden; da im ersten Fall dem Richter ein Abgehen von dem fundamentalen Gleichheitssatz befohlen wird, ist im Zweifel jeweils genau zu ermitteln, ob die Bedürfnisse der Rechtssicherheit wirklich ein Analogieverbot fordern, – anderenfalls nur ein Induktionsverbot anzunehmen ist. [189] 2. Die Unzulässigkeit der teleologischen Reduktion § 181 Wenig Aufmerksamkeit wurde bisher in der Literatur der Frage geschenkt, ob und wann die teleologische Reduktion unzulässig ist. Auch hier sind wieder mehrere Probleme voneinander zu trennen. Zunächst muß noch einmal an Wesen und Rechtfertigung der teleologischen Reduktion erinnert werden: Sie kann entweder zur Einschränkung einer Norm für ihren gesamten Anwendungsbereich führen, – dann wird sie durch die ratio legis der Vorschrift selbst gefordert, oder sie kann zur Ergänzung einer Vorschrift durch einen Ausnahmetatbestand führen, – dann findet sie ihre Rechtfertigung in dem Gebot des negativen Gleichheitssatzes58. Keinesfalls jedoch – und das muß sehr nachdrücklich festgehalten werden – kann etwa der Satz „cessante ratione legis cessat lex ipsa“ zu ihrer Begründung herangezogen werden. Denn dieser besitzt keine allgemeine Gültigkeit59, da sich mit seiner Hilfe nicht nur die Ergänzung einer Norm durch einen (entgegengesetzten) Ausnahmetatbestand, sondern auch ihre gänzliche Derogierung rechtfertigen ließe. Dies aber ist nicht Aufgabe des Richters, sondern muß dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. So ist es etwa unzulässig, Wirtschaftsgesetze, die in Notzeiten erlassen wurden, nach einer Normalisierung der Verhältnisse wegen Wegfalls ihrer ratio einfach nicht mehr anzuwenden; das müßte schwerste Erschütterungen der Rechtssicherheit zur Folge haben. Es ist bei der teleologischen Reduktion also stets Bedacht darauf zu nehmen, daß eine Norm wirklich nur durch einen Ausnahmetatbestand eingeschränkt und nicht in Wahrheit in verkappter Form gänzlich außer Kraft gesetzt wird; keinesschluß ist dem BGH nicht gelungen; insbesondere unterscheidet sich das allgemeine Persönlichkeitsrecht maßgeblich von den in § 847 genannten Rechten dadurch, daß hier die Gefahr der „Kommerzialisierung der Ehre“ besteht, einer Tendenz, der der Gesetzgeber gerade entgegenwirken wollte. Überzeugend gegen die Rechtsähnlichkeit zu § 847 Larenz, a.a.O. 58 Vgl. oben §§ 79 ff. bzw. § 74. 59 Vgl. schon Vangerow, S. 56 f. (mit einer Unterscheidung, die der Sache nach auf die im Text herausgearbeitete Abgrenzung zwischen – unzulässiger – Derogierung und – zulässiger – Reduktion hinausläuft; kritisch dazu mit Unrecht Windscheid-Kipp, S. 104, Fußn. 6); ferner: Nipperdey, § 56, Fußn. 10; Ramm, S. 360 f.; der Sache nach auch Larenz, ML, S. 264 f.; weitergehend, aber auch nicht ohne Einschränkung Becker, S. 437 f.
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wegs gehört es zu den Aufgaben und Befugnissen des Richters, das Gesetz an jeden „Wandel der Normsituation“60 anzupassen. § 182 Die Problematik mag an zwei Beispielen veranschaulicht werden. Als erstes sei die Entscheidung des BAG zu § 1 HATG von NRW genannt61. Nach dieser Vorschrift hat eine Frau mit eigenem Hausstand, die wöchentlich mindestens 40 Stunden arbeitet, Anspruch auf einen arbeitsfreien Wochentag („Hausarbeitstag“) in jedem Monat. Das [190] BAG hat nun entschieden, diese Vorschrift sei auf Grund einer teleologischen Reduktion auf solche Arbeitnehmerinnen nicht anwendbar, die in Betrieben mit 5-Tage-Woche arbeiten. Das BAG hat dies auf zwei verschiedene Gedankengänge gestützt, die es freilich nicht genau trennt. Zunächst führt es aus, heute sei für die arbeitenden Frauen ein grundlegender Wandel der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der Entstehung des Gesetzes vor der Währungsreform eingetreten; ihre gesundheitliche und wirtschaftliche Lage habe durch das Ende der Notzeiten eine entscheidende Besserung erfahren. – Nach dem oben Gesagten liegt es auf der Hand, daß diese Begründung methodisch unhaltbar ist; denn mit ihr läßt sich nicht eine Einschränkung, sondern allein die – dem Richter verschlossene – Derogierung des § 1 HATG rechtfertigen. Das zweite Argument, auf das das BAG seine Entscheidung stützt, ist, daß die Frauen nach Einführung der 5-Tage-Woche genügend Zeit für ihre Hausarbeit hätten. Dieser Begründung kann nun in der Tat die Berechtigung nicht ohne weiteres abgesprochen werden, da hier für eine Sondergruppe – die Betriebe mit 5-Tage-Woche – die Vorschrift eingeschränkt wird. Doch erheben sich auch dagegen sogleich Bedenken: wenn sich die 5-Tage-Woche, wie zu erwarten, allgemein durchgesetzt hat, wird damit § 1 HATG durch die Rechtsprechung des BAG gänzlich außer Kraft gesetzt sein; hätte das BAG dann zu entscheiden, würde das, was heute noch Ergänzung des Gesetzes genannt werden kann, zweifellos Derogierung darstellen. Soll es aber wirklich auf den Zeitpunkt ankommen, zu dem die Entscheidung ergeht? Oder ist nicht eher zu sagen, daß die teleologische Reduktion dort unzulässig ist, wo sie klar vorhersehbar in nicht allzu ferner Zeit zur völligen Außerkraftsetzung einer Vorschrift führen wird? Jedenfalls ist hier ganz sicher die äußerste Grenze erreicht, bis zu der eine teleologische Reduktion allenfalls noch vertretbar erscheint62.
60 Vgl. aber auch die Ausführungen zur Problematik der „nachträglichen“ Lücken oben §§ 126 f. 61 BAG 13, 1. 62 Die Entscheidung ist auch im übrigen nicht unbedenklich. Vgl. dazu Ramm, a.a.O. In methodischer Hinsicht scheint Ramm freilich zu verkennen, daß die teleologische Reduktion keineswegs dem Bereich der Gesetzesberichtigung angehört, sondern ein legales Mittel richterlicher Gesetzesergänzung darstellt.
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§ 183 Dem sei ein anderes Beispiel aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung gegenübergestellt, wo der „Wandel der Normsituation“ mit vollem Recht Anlaß zur Einschränkung einer Vorschrift gegeben hat. Nach § 15 II LitUrhG ist die „Vervielfältigung“ eines Kunstwerks „zum persönlichen Gebrauch“ ohne Einwilligung seines Schöpfers zulässig, soweit sie nicht den Zweck hat, aus dem Werk eine Einnahme zu erzielen. Der BGH hatte nun die Frage zu entscheiden, ob dies auch für private Tonbandaufnahmen gelte oder ob für diese nicht dem [191] Autor bzw. dem Komponisten ein Entgelt zu entrichten sei63. Dazu stellte er zunächst fest, unter „Vervielfältigung“ i. S. d. Gesetzes sei grundsätzlich auch die Aufnahme auf einen technischen Tonträger zu verstehen; denn dem Gesetzgeber sei bei Erlaß des LitUrhG die Möglichkeit einer Schallplattenaufnahme schon bekannt gewesen. Dennoch lehnte der BGH die Anwendung des § 15 II LitUrhG auf private Tonbandaufnahmen ab. Zur Begründung führte er auf Grund einer eingehenden Untersuchung der Entstehungsgeschichte und der Gesetzesmaterialien aus, der Gesetzgeber habe mit dieser Bestimmung keineswegs einen allgemeinen Vorrang der „persönlichen Sphäre“ vor dem urheberrechtlich geschützten Interessenbereich festlegen, sondern vielmehr einen klar umrissenen kleinen Kreis von Musik- und Literaturliebhabern begünstigen wollen: § 15 II solle private Abschriften von Texten und Partituren für Zwecke der Hausmusik und ähnliche private Aufführungen erleichtern. Das Gesetz wolle also sozial Schwache, die sich den Kauf mehrerer Textbücher usw. nicht leisten könnten, begünstigen; diese Zweckvorstellung treffe auf die Inhaber der vergleichsweise sehr teuren Tonbandgeräte gerade nicht zu. Auch gehe aus diesem Grundgedanken hervor, daß der kleine Kreis der Kunstausübenden, nicht aber, wie bei der Benutzung von Tonbändern, auch die unübersehbare Zahl der bloßen Kunstkonsumenten in den Genuß des Privilegs kommen solle. Schließlich würde die Anwendung des § 15 II auf die Besitzer von Tonbändern auch viel einschneidender in die Interessen des Autors bzw. Komponisten eingreifen: der Gesetzgeber habe geglaubt, dem Urheber entgingen wegen der großen Unbequemlichkeiten bloßer Abschriften und den seinerzeit für einen Privatmann kaum zu überwindenden technischen Schwierigkeiten einer Schallplattenaufnahme nur verhältnismäßig wenig Tantiemen; wegen der Mühelosigkeit, mit der eine Tonbandaufnahme zu machen sei, wäre bei einer Anwendung des § 15 II auf diese dagegen ein erheblicher Einnahmeverlust zu befürchten. Aus alledem wird deutlich, daß das Gesetz von einer völlig anderen „Normsituation“ ausgeht, als sie bei Tonbandaufnahmen besteht. Wollte man § 15 II dennoch anwenden, so würden zwei Fälle gleichgestellt, die in den wesentlichen, d. h. die ratio legis tragenden Punkten voneinander abweichen und deren verschiedene Behandlung daher durch den negativen Gleichheitssatz geboten ist. 63
BGHZ 17, 266 (vgl. insbes. S. 286 ff.).
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Dabei bleibt im Unterschied zu dem zuerst erörterten Fall des HATG der ursprüngliche Anwendungsbereich des § 15 II völlig unberührt – die Abschrift einer Partitur kann nicht durch eine Tonbandaufnahme ersetzt werden! –, und es wird nur ein inzwischen durch die Wandlungen der Technik neu ent- [192] standener Sondertatbestand ausgenommen. Nicht Derogierung, sondern lediglich Beschränkung des § 15 II auf seinen „eigentlichen“ Sinnbereich ist daher das Ergebnis der – hier demnach zulässigen – Rechtsfortbildung. § 184 Ein zweites, in diesen Zusammenhang gehöriges Problem ist die Frage, ob bestimmte Vorschriften ihrer Natur nach einer teleologischen Reduktion unzugänglich sind. Als Beispiele werden hier meistens die „strikten Ordnungsvorschriften“ genannt64. In der Tat ist bei Frist- und Formvorschriften und ähnlichen rechtstechnischen Bestimmungen in bestimmter Richtung eine teleologische Reduktion ausgeschlossen. So würde gewiß niemand auf den Gedanken kommen, die §§ 106 ff. BGB deshalb nicht anzuwenden, weil ein 20jähriger „ausnahmsweise“ schon die Reife eines Volljährigen besitzt. Zwar geht der Gesetzgeber davon aus, daß dies regelmäßig erst nach Erreichung des 21. Lebensjahres der Fall sein wird, doch liegt in der Erlangung der notwendigen Reife nicht allein die ratio legis des § 106; vielmehr verfolgt das Gesetz nicht nur ein bestimmtes Ziel, sondern es schreibt auch den Weg vor, auf dem dieses Ziel allein zu erreichen ist. Und dies geschieht im Interesse der Rechtssicherheit, die in bestimmten Fällen die Aufstellung starrer Vorschriften – auch unter Zurücksetzung der Billigkeit im Einzelfall – fordert. Die ratio derartiger Bestimmungen ist daher auch die Wahrung der Rechtssicherheit, und daher kann keine Rede davon sein, daß sie entfalle, wenn das vom Gesetz erstrebte Ziel im übrigen auch ohne Einhaltung der Vorschrift erreicht ist. Hier fehlen daher insoweit die Voraussetzungen der teleologischen Reduktion, – während diese ansonsten – d. h. soweit nicht gerade die starre zeitliche Grenze, das Formerfordernis usw. in Fage stehen – auch bei Normen des ius strictum zulässig ist. – Die Frage kann im übrigen mitunter von höchster praktischer Bedeutung werden und war z. B. für die erbrechtlichen Formvorschriften früher heiß umstritten65. Eines näheren Eingehens darauf bedarf es jedoch nicht, da insoweit von Heck, von Hippel und Boehmer66 alles Wesentliche gesagt ist. Nur auf einen Gesichtspunkt sei abschließend noch kurz hingewiesen: das Problem liegt durchaus verschieden, soweit es sich um die Einschränkung
64 Vgl. dazu vor allem Heck, Gesetzesauslegung, S. 182 ff.; Boehmer, II 2, S. 72 ff.; von Hippel, Formalismus durchweg und Rechtstheorie, S. 91 ff.; Pisko, Kommentar, S. 145; Germann, Grundfragen, S. 55; Du Pasquier, Modernisme, S. 209 ff. (er unterscheidet „jurisprudence stricte“ und „jurisprudence large“); Roubier, S. 90 ff. und S. 107 ff.; De Page, II, S. 247 ff.; Merz, S. 314 ff. 65 Vgl. die Nachweise bei von Hippel und Boehmer, a.a.O.; vgl. auch die eindrucksvollen Ausführungen von Heck (a.a.O.) über die „Triebsandgefahr“. 66 a.a.O.
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strikter Ordnungsvorschriften auf Grund rechtsethischer Prinzipien [193] handelt67; denn dabei geht es gerade nicht um den Wegfall der ratio legis, sondern um ihre Zurückdrängung zugunsten höherrangiger Gesichtspunkte. § 185 Als letztes ist schließlich die Frage zu untersuchen, ob es in bestimmten Fällen ebenso wie ein Analogieverbot auch ein gesetzliches Verbot der teleologischen Reduktion geben könne. Das Problem ist in der Literatur bisher, soweit ersichtlich, nicht erörtert, doch drängt sich die Bejahung der Frage auf. So wird man z. B. dem Art. 103 II GG für das Strafrecht auch das Verbot einer Reduktion in malam partem zu entnehmen haben. Denn für den Angeklagten ergeben sich dieselben Gefahren, wenn z. B. eine Privilegierung durch die Hinzufügung eines ungeschriebenen Ausnahmetatbestandes eingeschränkt wird wie wenn eine Qualifizierung im Wege der Analogie ausgedehnt wird. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Nach § 217 StGB wird eine Mutter, welche ihr uneheliches Kind in oder gleich nach der Geburt tötet, erheblich milder bestraft als nach den allgemeinen Totschlagsvorschriften. Der Sinn dieser Privilegierung ist darin zu erblicken, daß der Gesetzgeber dem besonderen, physiologisch bedingten Erregungszustand der Frau während und unmittelbar nach der Geburt Rechnung tragen will. Nun kommt es immer wieder vor, daß eine Mutter die Tötung ihres Kindes schon lange vorher genau plant und vorbereitet. In diesen Fällen ist die Anwendung der Privilegierung des § 217 seiner ratio nach gewiß nicht gerechtfertigt, und dennoch besteht mit Recht Einigkeit darüber, daß die Vorschrift auch hier der Täterin zugute kommt68. Eine überzeugende Begründung dafür wird allerdings nicht gegeben; sie kann nur darin zu suchen sein, daß es sich hier um eine Reduktion in malam partem handeln würde und daß diese ebenso wie die Analogie unzulässig sein muß. Es ist also für das geltende Strafrecht ein „Reduktions-“ oder „Restriktionsverbot“ anzuerkennen. [194] Dritter Abschnitt Die Grenzen der Lückenausfüllung bei den Prinzip- und Wertlücken § 186 Wie für das Verhältnis von Lückenfeststellung und -ausfüllung, so nehmen die Prinzip- und Wertlücken auch hinsichtlich der Frage der Grenzen der Rechtsfindung praeter legem eine Mittelstellung ein: hier ist sowohl die Problema-
67 Vgl. dazu Larenz, ML, S. 299 f.; Merz, S. 322 ff. Mit Recht weist Merz auf die Gefahr hin, die in der generalklauselartigen Wirkung derartiger Einschränkungen häufig – insbesondere beim Rückgriff auf § 242 BGB – liegt, und fordert daher die Bildung fester Regeln. 68 Vgl. z. B. Schönke-Schröder, § 217 IV 3; RGSt 77, 245 (247); OGHSt 3, 115 (117).
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tik der unausfüllbaren Lücken als auch die Frage des Analogie-verbotes von Bedeutung. A. Die Möglichkeit unausfüllbarer Lücken Unausfüllbare Lücken können hier dann auftreten, wenn ein Prinzip oder ein Wert sich nicht verwirklichen läßt, ohne daß das Gesetz durch bestimmte technische Vorschriften ergänzt wird. Dies wird zwar sehr selten der Fall sein, da bei der Lückenfeststellung wenigstens die Richtung der Lückenausfüllung bereits feststeht69; jedoch läßt sich diese Möglichkeit theoretisch nicht ausschließen, und oben70 wurde ein Beispiel gegeben, das erkennen ließ, welche Schwierigkeiten die Aufstellung solcher rechtstechnischer Bestimmungen bei der Konkretisierung eines Prinzips mitunter bereiten kann. Allerdings wird, wenn solche Vorschriften nicht zu schaffen sind, der Nachweis, daß das fragliche Prinzip überhaupt Bestandteil des geltenden Rechts ist, besonders schwer zu führen sein. B. Die Problematik von Analogie- und Induktionsverbot § 187 Auch ein Analogieverbot ist hier zu beachten: wo die Analogie verboten ist, da ist selbstverständlich erst recht die Rechtsfortbildung auf Grund allgemeiner Rechtsprinzipien untersagt. Denn dieser wohnt ein noch stärkeres Unsicherheitselement inne als der Analogie, – zum einen, da für den Richter die methodischen Vorgänge wegen des – über einen bloßen Ähnlichkeitsschluß weit hinausgehenden – Nachweises der „Allgemeinheit“ eines Prinzips71 ungleich schwieriger sind, [195] zum anderen, da für den Rechtsunterworfenen aus demselben Grunde die „Vorhersehbarkeit“ noch weniger gewährleistet ist als bei der Analogie. In der Tat liegt es auf der Hand, daß die Argumentation mit Hilfe allgemeiner Rechtsprinzipien z. B. im Strafrecht ohne weiteres zur Einbruchstelle einer baren Willkürjustiz werden könnte. § 188 Gleichwohl ist die Gültigkeit des Analogieverbotes des Art. 103 II GG für die Rechtsfortbildung auf Grund allgemeiner Rechtsprinzipien keineswegs unbestritten. Sie wird z. B. bedeutsam für die Frage, ob entgegen dem Wortlaut des § 259 StGB auch der gesetzliche Vertreter einer juristischen oder natürlichen Person wegen Hehlerei bestraft werden kann, wenn er nicht zu seinem eigenen, sondern zum Vorteil des Vertretenen gehandelt hat; oder ob er entgegen dem Wortlaut des § 243 KO wegen Stimmenverkaufs bestraft werden kann, wenn Vgl. oben §§ 152 ff. Vgl. § 160. 71 Vgl. § 92. 69 70
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nicht er selbst, sondern der Vertretene Konkursgläubiger ist. Hier wird die Strafbarkeit teilweise mit Hilfe eines „allgemeinen“ Grundsatzes bejaht, der aus den §§ 244 KO, 83 GmbHG, 39 DepotG, 144 VAG, 536 RVO abgeleitet wird: wenn der gesetzliche Vertreter als solcher und im Interesse des Vertretenen einen Straftatbestand verwirkliche, sei er auch dann strafbar, wenn zwar nicht in seiner Person, wohl aber in der des – nicht oder nicht voll deliktsfähigen – Vertretenen die erforderliche täterschaftliche Qualifikation bzw. das erforderliche Interesse gegeben sei72. Ob eine solche Argumentation mit Art. 103 II GG vereinbar ist, erscheint indessen mehr als fraglich. Zweifellos läßt sie sich nach dem oben Gesagten nicht damit rechtfertigen, daß keine Analogie im eigentlichen Sinne, sondern Rechtsfortbildung auf Grund eines allgemeinen Prinzips vorliege73. Allenfalls könnte man anführen, es werde hier nicht ein bestimmter Tatbestand des Besonderen Teils des StGB ausgedehnt, sondern eine fehlende Regel des Allgemeinen Teils – über die Strafbarkeit des gesetzlichen Vertreters – hinzugefügt, nur innerhalb des Besonderen Teils aber gelte das Analogieverbot. Abgesehen davon, daß eine solche Beschränkung des strafrechtlichen Analogieverbotes auf den Besonderen Teil sich aus dem Wortlaut des Art. 103 II GG nicht entnehmen läßt und auch sonst unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten Bedenken erweckt, kann sie hier doch jedenfalls nicht anerkannt werden: sie führt im Ergebnis im Gewande einer Regel des Allgemeinen Teils zur Ausdehnung einiger weniger, ganz bestimmter74 Strafbestimmungen [196] des Besonderen Teils über ihren Wortlaut hinaus und ist daher mit Sinn und Zweck des Art. 103 II GG keinesfalls zu vereinen. Besonders deutlich wird die Fragwürdigkeit der Argumentation mit Hilfe des erwähnten allgemeinen Satzes im Falle des § 243 KO: § 244 KO, der mit zur Entwicklung des allgemeinen Prinzips dienen soll, legt die Strafbarkeit des gesetzlichen Vertreters ausdrücklich nur für die §§ 239-241 fest und läßt § 243 unerwähnt; soll es wirklich mit dem strafrechtlichen Analogieverbot vereinbar sein, § 244 im Ergebnis nun doch auf den gerade nicht genannten § 243 anzuwenden? Insgesamt ist jedenfalls daran festzuhalten, daß dort, wo die Analogie verboten ist, erst recht die Rechtsfortbildung auf Grund allgemeiner Prinzipien unzulässig sein muß. Daß diese auch darüber hinaus trotz Zulässigkeit der Analogie nicht selten vom Gesetz ausgeschlossen ist, und daß dies insbesondere bei Bestimmungen, die nach dem Enumerationsprinzip aufgebaut sind, gilt, wurde oben
72 Vgl. Schönke-Schröder, Vorb. VI 2 vor § 47 mit Nachweisen aus Schrifttum und Rechtsprechung. 73 So aber offenbar Schönke-Schröder, a.a.O. 74 Anders steht es z. B. bei der der Wahlfeststellung zugrunde liegenden „Reduktion“ (vgl. oben Kap. IV, Fußn. 44), da diese für alle Tatbestände des Besonderen Teils gilt und nicht nur einige bestimmte ausdehnt.
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im Rahmen der Erörterung des „Induktionsverbotes“ oder Verbotes der „Rechtsanalogie“ bereits dargelegt75. [197] Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse I. Der Begriff der Gesetzeslücke wird bestimmt durch den allgemeinen Sprachgebrauch zum einen und die besondere juristische Aufgabe des Lückenbegriffs zum anderen. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist die Lücke als „planwidrige Unvollständigkeit“ zu kennzeichnen; die besondere Aufgabe des Begriffs liegt in der Abgrenzung des Bereichs der „Rechtsfindung praeter legem“. Eine nähere Bestimmung war daher in zwei Richtungen erforderlich: zum einen war das Merkmal der Unvollständigkeit zu klären und dabei die Grenze zur Rechtsfindung secundum legem zu ziehen; zum anderen galt es zu untersuchen, von welchem Standpunkt aus das Werturteil der Planwidrigkeit zu fällen ist und wo daher die Trennungslinie zur Rechtsfindung contra legem verläuft. 1. Das Kriterium für die Abgrenzung von Lückenbereich und Rechtsfindung secundum legem („Auslegung“ i. e. S.) bilden die – durch den „möglichen Wortsinn“ begrenzten – Anordnungen des Gesetzes. Wo dagegen – auch oder nur – gesetzliche Wertungen fehlen, soll von „freier Rechtsfindung“ gesprochen werden; das Lückengebiet und der Bereich der freien Rechtsfindung überschneiden sich dabei wechselseitig. – Im einzelnen ergibt sich daraus, daß die Analogie regelmäßig das Vorliegen einer Lücke voraussetzt, während andererseits die Konkretisierung ausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe nicht dem Lückenbereich zuzurechnen ist. Auch soweit eine gewohnheitsrechtliche Regelung besteht, ist die Annahme einer Lücke abzulehnen. 2. Das Kriterium für die Feststellung der Planwidrigkeit und damit für die Abgrenzung gegenüber der Rechtsfindung contra legem kann entsprechend der Stellung des Richters bei der Lückenergänzung nur der Wille des geltenden Rechts sein; dabei ist über die dem Gesetz immanente Teleologie hinausgehend auf die Gesamtrechtsordnung – einschließlich der z. T. übergesetzlichen allgemeinen Rechtsprinzipien und Werte – abzustellen, um die vollständige Erfassung des Bereichs der Rechtsfindung praeter legem mit Hilfe des Lückenbegriffs zu ermöglichen. Wo das geltende Recht eine Regelung nicht fordert, liegt keine Lücke, sondern allenfalls ein rechtspolitischer Fehler vor. – Im einzelnen ist in dem Schweigen des Gesetzes insbesondere dann keine [198] Lücke zu sehen, wenn eine Frage in den „rechtsfreien Raum“ fällt oder wenn ein „argumentum e contrario“ eingreift. 75
Vgl. §§ 176 ff.
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Im übrigen setzt die Annahme einer Lücke stets den positiven Nachweis der Planwidrigkeit voraus; mißlingt dieser, so ist der Richter zur Rechtsfortbildung nicht befugt. Terminologisch kann man hier – zur Kennzeichnung des Gegensatzes zu den beiden erwähnten Fällen „qualifizierten“ Schweigens des Gesetzes – von einem „argumentum e silentio“ sprechen. – Als Charakteristikum des rechtsfreien Raumes ist dabei die rechtliche Irrelevanz eines Sachverhaltes für ein bestimmtes, prozessual selbständiges Rechtsgebiet anzusehen, – wobei vorgeschlagen wurde, den rechtsfreien Raum zur Grundlage einer negativen Prozeßvoraussetzung zu machen. Das argumentum e contrario ist dadurch gekennzeichnet, daß der negative Gleichheitssatz hier für einen nicht geregelten Fall eine einem bestimmten gesetzlichen Tatbestand entgegengesetzte Rechtsfolge fordert („Unähnlichkeitsschluß“); es ist zu trennen von den Fällen des Analogieverbotes, in denen gerade umgekehrt eine Lücke an sich zu bejahen ist, nur ihre Ausfüllung vom Gesetz aus Gründen der Rechtssicherheit untersagt wird. Das argumentum e silentio schließlich greift ein, wenn die Rechtsordnung nach Erschöpfung aller Mittel der Lückenfeststellung auf eine Frage keine positive Antwort gibt. Zusammenfassend ergibt sich als Definition der Lücke: Eine Lücke ist eine planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts (d. h. des Gesetzes im Rahmen seines möglichen Wortsinnes und des Gewohnheitsrechts) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung. II. Diese Definition ist zu allgemein, um im Einzelfall brauchbar für die Feststellung einer Lücke zu sein. Daher war herauszuarbeiten, welcher Bestandteil der Rechtsordnung dabei jeweils bedeutsam wird, um auf diese Weise praktikable Maßstäbe für die Lückenfeststellung zu gewinnen. Es zeigte sich, daß alle Elemente einer Rechtsordnunng zur Lückenfeststellung dienen können, daß sich aber drei Stufen voneinander abheben: 1. Am einfachsten ist die Feststellung einer Lücke, wo sie sich aus den Anordnungen des positiven Rechts – sei es aus einer einzelnen Norm, sei es aus dem Zusammenspiel mehrerer Vorschriften – ergibt. Hierher gehören vor allem die „offenen Normlücken“, bei denen sich eine gesetzliche Bestimmung ohne ihre Ergänzung überhaupt nicht anwenden läßt, – aber auch eine Reihe von „Regelungslücken“, ins- [199] besondere das Fehlen von Vorschriften innerhalb eines rechtlichen Verfahrens, das Fehlen einer Sanktion bei einer lex perfecta oder die – logischen und teleologischen – „Kollisionslücken“. Als gemeinsames Charakteristikum wurde dabei herausgearbeitet, daß der Richter sich hier stets vor die Wahl zwischen Rechtsverweigerung und Ergänzung des Gesetzes gestellt sieht; letztlich ist es also das Rechtsverweigerungsverbot, das in diesen Fällen zur Rechtsfortbildung zwingt. Entgegen der allgemeinen Ansicht ist ein Zusammenhang zwischen
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Rechtsverweigerungsverbot und Lückenergänzung jedoch nicht allgemein gegeben, sondern bildet vielmehr das spezifische Charakteristikum dieser Fallgruppe. 2. Auch die hinter den Anordnungen stehenden Einzelwertungen des Gesetzes sind zur Lückenfeststellung heranzuziehen. Sie sind insbesondere in Verbindung mit dem – positiven und dem negativen – Gleichheitssatz von Bedeutung. Dabei zeigte sich, daß sich die Abgrenzung von Lücke und Fehler häufig nur mit Hilfe eines Analogieschlusses oder eines argumentum a fortiori vollziehen läßt und daß diese – in Literatur und Rechtsprechung nur im Rahmen der Lückenausfüllung erwähnten – Verfahren daher auch als Mittel der Lückenfeststellung anzusehen sind. Dasselbe gilt für die teleologische Reduktion, die sowohl die Ergänzung einer Norm für bestimmte Sonderfälle durch die Hinzufügung einer Ausnahmevorschrift (verdeckte Regelungslücken) als auch die Einschränkung einer Vorschrift für ihren gesamten Anwendungsbereich (verdeckte Normlücken) zur Folge haben kann. Im ersten Fall fordert der negative Gleichheitssatz die Fortbildung des Rechts, im zweiten gebietet die ratio legis einer Vorschrift unmittelbar deren Einschränkung, weil ihr Wortlaut gegenüber ihrem Sinn zu weit gefaßt ist. Soweit der Wortlaut einer Vorschrift dagegen für ihren gesamten Anwendungsbereich – und nicht nur für eine rechtsähnliche Fallgruppe – zu eng ist, gebietet die ratio legis ihre Ausdehnung; hier kann man von „teleologischer Extension“ sprechen. Auch sie ist als Mittel der Lückenfeststellung anzuerkennen. 3. Auch die allgemeinen Rechtsprinzipien und Rechtswerte, denen gemeinhin ebenfalls nur im Rahmen der Lückenausfüllung Beachtung geschenkt wird, können Maßstab der Lückenfeststellung sein. Hier sind jedoch genaue und im einzelnen oft sehr schwierige Untersuchungen erforderlich, da keineswegs die Fülle aller der unter dieser Kategorie zusammengefaßten Rechtsgedanken für die Lückenfeststellung in Betracht kommt. Auszuscheiden sind zunächst die „Grundsätze“, die als solche Rechtssatzcharakter haben, unter die daher regelmäßig unmittelbar subsumiert werden kann und die – auch soweit sie ungeschrieben sind – einen Bestandteil des positiven Rechts bilden. Auch die da- [200] nach allein verbleibenden „allgemeinen Prinzipien“ sind jedoch keineswegs ausnahmslos und ohne weiteres für die Lückenfeststellung verwertbar; vielmehr ist hier stets der Nachweis erforderlich, daß sie einen Bestandteil der geltenden Rechtsordnung bilden. Dies erfordert zwei Überlegungen: erstens die – negative – Prüfung, ob das fragliche Prinzip nicht durch die Anordnungen und Wertungen des positiven Rechts ausgeschlossen wird; zweitens den – positiven – Nachweis, daß ein Prinzip aus einem besonderen Grund Geltung für unsere Rechtsordnung beansprucht. Dieser ist hauptsächlich auf drei Arten möglich: die Gewinnung eines Prinzips aus dem positiven Recht (regelmäßig im Wege der Induktion, fälschlich auch „Rechtsanalogie“ genannt), seine Rückführung auf die Rechtsidee und seine Ableitung aus der Natur der Sache (beides regelmäßig im Wege topischen Denkens). – Das gleiche gilt für die Lückenfeststellung mit Hilfe rechtlicher Werte und den – eng verwandten – gesetzlich
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geschützten Interessen. Diese unterscheiden sich von den allgemeinen Prinzipien nur dadurch, daß sie eine Stufe weniger „konkretisiert“ sind, daher keine unmittelbare Anweisung für richterliches Handeln enthalten und noch nicht die charakteristische Zweiteilung in Tatbestand und Rechtsfolge aufweisen. III. Die Arten der Lücken lassen sich unter den verschiedensten Gesichtspunkten einteilen. 1. Abzulehnen sind alle die Vorschläge, die die Grenzen zur Rechtsfindung secundum oder contra legem verwischen. Hierher gehören die Unterscheidungen von Lücken „intra und praeter legem“, von „formellen und materiellen“ Lücken und von „Anordnungs- und Wertungslücken“ einerseits, – und die Einteilung in „Anwendbarkeits- und kritische Lücken“, „immanente und transzendente“, „logische und ethische“, „eigentliche und uneigentliche“ Lücken andererseits. Abzulehnen ist auch die Unterscheidung Zitelmanns von „echten und unechten Lücken“, da sie falsche Abgrenzungskriterien verwendet und auf dem unzutreffenden „allgemeinen negativen Satz“ beruht. 2. Mit der h. L. sind als wichtigste herkömmliche Einteilungsmöglichkeiten anzuerkennen: je nachdem, ob der historische Gesetzgeber ein Problem erkannt hat oder nicht, spricht man von „bewußten und unbewußten“ Lücken; je nachdem, ob eine Lücke schon bei Erlaß des Gesetzes vorlag oder erst nachträglich – durch eine Veränderung der sozialen Gegebenheiten oder der der Rechtsordnung immanenten Wertungen – entstanden ist, liegt eine „anfängliche“ oder eine „nachträg[201] liche“ Lücke vor; je nachdem, ob der Wortlaut des Gesetzes zu eng oder zu weit ist, ist eine „offene“ oder eine „verdeckte“ Lücke gegeben; je nachdem, ob nur ein Teil eines Rechtssatzes, ein gesamter Rechtssatz oder ein Komplex von Rechtssätzen fehlt, kann man schließlich von „Norm-, Regelungs- oder Gebiets-lücken“ sprechen. 3. Dem wurde als eigener Einteilungsvorschlag die Unterscheidung nach dem Maßstab der Lückenfeststellung zur Seite gestellt. Danach ergeben sich „Anordnungsoder Rechtsverweigerungslücken“, soweit die gesetzlichen Anordnungen die Fortbildung des Rechts fordern und daher das Rechtsverweigerungsverbot zur Ergänzung des Gesetzes zwingt; „teleologische“ Lücken, soweit die Lückenfeststellung auf den Einzelwertungen des Gesetzes beruht und daher Analogie, argumentum a fortiori, teleologische Extension und Reduktion als Mittel der Lückenfeststellung dienen; „Prinzip- und Wertlücken“, soweit allgemeine Rechts-prinzipien und Werte den Maßstab der Lückenfeststellung bilden. Diese Unterscheidung überschneidet sich mit den herkömmlichen. Die einzelnen Lückenarten weisen jeweils – entsprechend dem gewählten Abgrenzungskriterium – besondere Charakteristika hinsichtlich der Lückenfeststellung auf, die bereits im 2. Kapitel im einzelnen
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dargelegt wurden. Sie zeigen aber auch noch andere typische Unterschiede, die in den beiden folgenden Kapiteln näher ausgeführt werden. IV. Dies trifft insbesondere auf das Verhältnis von Lückenfeststellung und Lückenausfüllung zu. Entgegen der nahezu allgemeinen Ansicht sind dies nicht durchweg zwei getrennte Vorgänge, sondern es ist vielmehr entsprechend der getroffenen Neueinteilung der Lücken zu unterscheiden. 1. Bei den Rechtsverweigerungslücken ist die h. L. zutreffend: Feststellung und Ausfüllung der Lücke sind zwei gedanklich völlig verschiedene Vorgänge. Soweit hier die Analogie zum Zuge kommt, dient sie lediglich der Lückenausfüllung und ist, da sie nur eines unter mehreren theoretisch möglichen Ausfüllungsmitteln darstellt, terminologisch als „mögliche Analogie“ zu kennzeichnen. 2. Bei den teleologischen Lücken sind Feststellung und Ausfüllung regelmäßig ein und derselbe Vorgang. Soweit hier die Analogie zum Zuge kommt, ist sie das einzige denkbare Ausfüllungsmittel und daher als „notwendige Analogie“ zu bezeichnen. In – praktisch sehr seltenen – Ausnahmefällen sind allerdings auch hier Feststellung und Ausfüllung gedanklich teilweise getrennt; dies gilt vor allem für die Beispiele der „Teilanalogie“ und für einige Fälle der teleologischen Reduk[202] tion. Ansonsten aber ist auch bei der teleologischen Reduktion – ebenso wie bei der Extension – die Lückenergänzung ein einheitlicher gedanklicher Vorgang, bei dem es im übrigen sogar zur Herausbildung neuer Rechtsinstitute kommen kann; in diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, daß die teleologische Reduktion als methodisches Verfahren auf die – teilweise ungeschriebenen – allgemeinen Grundsätze einer Rechtsordnung Anwendung finden kann. 3. Bei den Prinzip- und Wertlücken sind Feststellung und Ausfüllung der Lücke zwar zwei getrennte Vorgänge, stehen jedoch in einem engen inneren Zusammenhang: das zur Lückenfeststellung verwandte Prinzip weist auch für die Ausfüllung die Richtung, bedarf jedoch noch der „Konkretisierung“. Diese erfolgt durch dogmatische Einordnung in das System des geltenden Rechts und durch Abstimmung mit den Anordnungen und Einzelwertungen des Gesetzes. Soweit dabei die Analogie Anwendung findet, erfüllt sie eine „konkretisierende Funktion“: sie gibt unter mehreren vom Prinzip her möglichen Lösungen häufig den Ausschlag zugunsten einer bestimmten.
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V. Die Grenzen der Rechtsfindung praeter legem können sich daraus ergeben, daß die Lückenausfüllung entweder nicht möglich oder nicht zulässig ist. Im ersten Fall stehen wir vor der Problematik der unausfüllbaren Lücken, im zweiten hauptsächlich vor der des Analogieverbotes. 1. Entgegen dem Dogma von der Lückenlosigkeit des Rechts ist die Möglichkeit unausfüllbarer Lücken – hauptsächlich beim Fehlen rechtstechnischer Vorschriften – zu bejahen. Die Frage ist jedoch nicht für alle Arten von Lücken von Bedeutung, sondern charakteristisch für die Rechtsverweigerungslücken. Dagegen beansprucht die zweite Schranke der richterlichen Rechtsfortbildung, das Analogieverbot, hier keine Geltung, da es seinem Sinne nach nur die „notwendige“, nicht aber die „mögliche“ Analogie verbietet. 2. Bei den teleologischen Lücken sind wegen der Einheit von Lückenfeststellung und -ausfüllung unausfüllbare Lücken nicht denkbar. Dagegen hat hier das Analogieverbot sein eigentliches Wirkungsfeld; dieses ist in Zweifelsfällen jedoch scharf von einem bloßen „Induktionsverbot“ (Verbot der „Rechtsanalogie“) zu trennen, das lediglich die Gewinnung allgemeiner Rechtsprinzipien (im Wege der Induktion aus dem positiven Recht) untersagt und regelmäßig dann anzunehmen ist, wenn der Gesetzgeber nicht eine formale Ordnungsentscheidung aus Gründen der Rechtssicherheit – deren Gebote allein einen Ver- [203] stoß gegen den Gleichheitssatz rechtfertigen können –, sondern eine materiale Wert-entscheidung treffen wollte. – Die Grenzen der teleologischen Reduktion ergeben sich zunächst daraus, daß sie nur zur Hinzufügung eines Ausnahmetatbestandes, nicht aber zur völligen Derogierung einer Vorschrift führen darf. Im übrigen ist dem Analogieverbot ein „Reduktionsverbot“ („Restriktionsverbot“) zur Seite zu stellen und beispielsweise für das geltende Strafrecht anzuerkennen. 3. Bei den Prinzip- und Wertlücken können theoretisch unausfüllbare Lücken auftreten, wenn sich die für die Konkretisierung erforderlichen rechtstechnischen Bestimmungen nicht finden lassen. Auch das Analogieverbot ist hier von Bedeutung, da es die Rechtsfortbildung an Hand allgemeiner Rechtsprinzipien usw. erst recht verbietet. [215]
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15. Bearbeitung, von Heinrich Lehmann; Tübingen 1958 – Sachenrecht, 10. Bearbeitung, von Ludwig Raiser; Tübingen 1957. Erman, Handkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Aufl.; Münster 1962. Esser, Josef, Schuldrecht, 2. Aufl.; Karlsruhe 1960. – Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung; München und Berlin 1941. Fischer, Hans Albrecht, Die Rechtswidrigkeit mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts; München 1911. Flume, Werner, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages, I, S. 135 ff.; Karlsruhe 1960. Gernhuber, Joachim, Drittwirkungen im Schuldverhältnis kraft Leistungsnähe, in: Festschrift für Nikisch, S. 249 ff.; Tübingen 1958. Gierke, Julius von, Handels- und Schiffahrtsrecht, 8. Aufl.; Berlin 1958. Hellwig, Konrad, System des Deutschen Zivilprozeßrechts I; Leipzig 1912. Hueck, Alfred, Das Recht der offenen Handelsgesellschaft, 3. Aufl.; Berlin 1964. – Gesellschaftsrecht, 11. Aufl.; München 1963. – Lehrbuch des Arbeitsrechts, 1. Bd., 7. Aufl.; Berlin und Frankfurt 1963. [214] Kegel, Gerhard, Internationales Privatrecht, 2. Aufl.; München und Berlin 1964. Kisch, Wilhelm, Parteiänderung im Zivilprozeß; München 1912. Lange, Heinrich, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 5. Aufl.; München und Berlin 1961. Larenz, Karl Lehrbuch des Schuldrechts, I. und II. Bd., 6. Aufl.; München und Berlin 1963. Lehmann, Heinrich, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 12. Aufl.; Berlin 1960 – Deutsches Familienrecht, 3. Aufl.; Berlin 1960. Lent-Jauernig, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl.; München und Berlin 1963. Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz; München und Berlin 1964. Maurach, Reinhart, Deutsches Strafrecht, A. T., 2. Aufl.; Karlsruhe 1958. Nikisch, Arthur, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl.; Tübingen 1952. Oertmann, Paul, Bürgerliches Gesetzbuch, Allgemeiner Teil und Recht der Schuldverhältnisse, 3. und 5. Aufl.; Berlin 1927. Palandt, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 23. Aufl.; München und Berlin 1964. Planck, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl.; Berlin und Leipzig 1913–1930. Raape, Leo, Internationales Privatrecht, 5. Aufl.; Berlin und Frankfurt 1961. Reichsgerichtsräte, Kommentar der Reichsgerichtsräte zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 11. Aufl.; Berlin 1959–1961. Rosenberg, Leo, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl.; München und Berlin, 1961.
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz
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Analogieverbot 38 f., 169, 172, 175 ff. Anordnung 6 ff., 47, 50 ff., 118, 132 ff. Argumentum a fortiori (a maiore) 70 ff., 133, 143, 161 Argumentum e contrario 29, 35 ff. – und Analogie 40, II Fn. 45 – und Analogieverbot 38 – und teleologische Reduktion I Fn. 119 und Fn. 124, IV Fn. 34 Argumentum e silentio 43 f., 123, III Fn. 21 Ausfüllung (von Lücken) 136 ff. Rangverhältnis der Ausfüllungsmittel IV Fn. 9
Schriften zur Rechtstheorie, Heft 3, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 5–13, 15–219
Auslegung 6 ff., I Fn. 17, 15, 55, 75 ausdehnende und einschränkende – 10, 15, 75, 78 Ausnahmevorschrift 173 Cessante ratione legis ... 181 Derogierung 181 f. Dispositives Recht 45 Einschränkung (einer Norm) s. Reduktion Enumerationsprinzip 176 Ethik (und Recht) 106 Extension, teleologische 79, 81 f., 133, 161 Fehler, rechtspolitischer 21, 64 f., 66 a. E., 76 a. E., 77 a. E., 121 a. E. Feststellung von Lücken 47 ff. (Zusammenfassung) 118 Freie Rechtsfindung 7 (zu Fn. 7), I Fn. 17, I Fn. 87, 120, 165 Fristvorschrift – und Analogie 174, V Fn. 40 – und tel. Reduktion 184 Gebotsberichtigung II Fn. 85. u. s. Reduktion Geschlossenheit 164 f. logische – 164 teleologische – 165 Gesetz (und Recht i. S. v. Art. 20 GG) 28, I Fn. 95 Gewohnheitsrecht 18 Gleichheitssatz 8, 48, 63 ff., 70, 100, 109 a. E., 118, 132 ff., 146, 175 Induktion 90 f. –sverbot 176 ff. Institut s. Rechtsinstitut Interesse, geschütztes 114, II Fn. 226 Kollisionslücke 58 ff., 137
187
Konkretisierung (allgemeiner Rechtsprinzipien) 153 ff. (Zusammenfassung) 162 Konkretisierungsbedürftige Rechtsbegriffe 16 Lücke anfängliche – 126 Anordnungs– 131 ff. Anwendbarkeits– 121 bewußte – 124 f. Delegations– 16 Deutlichkeits– 16 echte – 122 f. eigentliche – 121 ethische – 121 formelle – 7, 120 Gebiets– 129 Gebots– 7, 120 immanente – 121 – intra legem 16, I Fn. 46, 120 Kollisions– 58 ff., 137 kritische – 121 logische – 121 materielle – 7, 16, 120 nachträgliche – 126 f.; s. auch Wandel der Normsituation Norm– 22, 51, 73, 80, 129 f., 144 offene – 128 – praeter legem 16, I Fn. 46, 120 Prinzip– 131 ff., 152 ff., 186 ff. Rechts– I Fn. 62, 164 ff. rechtspolitische – 121 Rechtsverweigerungs– 131 ff., 137 ff., 164 ff. Regelungs– 51, 129, 145 Richtigkeits– 121 teleologische – 131 ff., 140 ff., 171 ff. transzendente – 121
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz
unausfüllbare – 164 ff. unechte – 122 f. uneigentliche – 121 verdeckte – 75 a. E., 80, 128, 145 Wert– 131 ff., 152 ff., 186 ff. Wertungs– 7 Lückenlosigkeit, Dogma der 164 Natur der Sache 92 a. E., 94 a. E., 95 a. E., 107 ff., 116, 117 a. E., 118, II Fn. 226 Normlücke 22, 51, 73, 80, 129 f., 144 Ordnungsvorschriften 184; s. auch rechtstechnische Vorschriften Planwidrigkeit 3 f., 20 ff. Prinzipien s. Rechtsprinzipien Prinziplücke 131 ff., 152 ff., 186 ff. Problemdenken s. Topik Recht (i. S. v. Art. 20 GG) 28, I Fn. 95 Rechtsanalogie 90 f. Verbot der – 176 ff. Rechtsfreier Raum 29, 30 ff., 54, 58, 114 – als negative Prozeßvoraussetzung 32 Rechtsidee 49, 63, 92 a. E., 99 ff., 109, 116, 118 Rechtsinstitut Bildung von – 25, 84 ff., 147 ff., 152 ff., 162 Rechtsprinzipien, allgemeine 28, 49, 84 ff., 118, 152 ff. rechtstechnische – 86 Rechtssicherheit 116, 175 ff., 184 Rechtstechnische Prinzipien 86 Rechtstechnische Vorschriften 160, 166, 174, 184, 186
Rechtsverweigerungslücke 131 ff., 137 ff., 164 ff. Rechtsverweigerungsverbot 47, 50 ff., 118, 132 ff., 165 Reduktion, teleologische 74 ff., 79 f., 133, 144, 161 Unzulässigkeit der – 181 ff. –sverbot IV Fn. 44, 185 Regelungslücke 51, 129, 145 Restriktion s. Reduktion Sittengesetz 106 System, juristisches 89, II Fn. 172, 114, 155 Teilanalogie 142 Teleologische – Extension s. dort – Lücke s. dort – Reduktion s. dort – Umbildung s. dort Topik 99, II Fn. 172 Typus 112 a. E., IV Fn. 37 Umbildung, teleologische 83 Umkehrschluß s. argumentum e contrario Unvollständigkeit 3, 6 ff. Vertragsauslegung, ergänzende 45 f., II Fn. 113, III Fn. 52 Verweisungsanalogie 11 Wandel der Normsituation 181 ff.; s. auch nachträgliche Lücke Werte 28, 49, 113 ff., 118 Wertung des Gesetzes 7, 8 a. E., 48, 49, 63 ff., 75 a. E., 79 ff., 87, 118, 132, 165 Wortsinn 6 ff. möglicher – 10 [218]
Schriften zur Rechtstheorie, Heft 3, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 5–13, 15–219
189
Stichwortverzeichnis zu den wichtigsten Beispielen Die arabischen Zahlen verweisen auf die Paragraphen des Textes, die römischen Zahlen mit nachfolgenden arabischen auf die Kapitel u. Fußnoten Abschlußpflicht 25, 149 Actio negatoria 24, 102, 159 Angleichung (und Kollisionslücken) 59, II Fn. 31 Arglistige Vorspiegelung (§ 463 BGB) 8, 48, 91, 128, 138, 140 Aufopferungsanspruch (im Privatrecht) 66 Ausschluß eines GmbH-Gesellschafters 95, 160 Bedingung (bei Prozeßhandlungen) 116 Bereicherung (und Minderjährigenschutz) 97 a. E. Beseitigungsanspruch 103, 159 Betriebsrisiko 112 Bigamie 61, 77, 128, 145 Dauerschuldverhältnis 91, 95, 160 Dienstbarkeit 94 Drittschadensliquidation 25, 45, 150 Eigentümergrunddienstbarkeit 94 Einwilligung (als Rechtferti gungsgrund) 104, 124 Entmündigung (bei Rauschgifsucht) 38, 178 Erbunwürdigkeit 179 Faktische Gesellschaft 25, 96, 146 Fürsorgepflicht 24, 111 Gefährdungshaftung 71 (zu Fn. 72), 87 Gefahrgeneigte Arbeit 111, V Fn. 37 Gehilfenhaftung 83 a. E. Gehör, rechtliches 40 a. E., 51
Geschäft „für den, den es angeht“ 25, 147 Geschäftsfähigkeit (Schutz mangelnder) 74, 97, 128, 152 Hausarbeitstag 182 Kindstötung 185 Kontrahierungszwang 25, 149 Kündigung (aus wichtigem Grund) 91, 95 Kuppelei 106 Nichtigkeit (von Beschlüssen bei der GmbH) 56, V Fn. 40 Notstand, entschuldigender – 71 rechtfertigender – 24, 101, 154 ff. – im Zivilrecht 71, 156 Obligationsstatut 25, 45, 52, 128, 131 f., 137 Parteiwechsel im Zivilprozeß 24, 117 Persönlichkeitsrecht 115, IV Fn. 66, 180, V Fn. 57 Prokura 82 Prozeßökonomie 117 Rauschgiftsucht 38, 178 Schadenliquidation im Drittinteresse 25, 45, 150 [219] Schuldstatut s. Obligiationsstatut Selbstaufopferung (im Straßenverkehr) 66, 142 Tonbandaufnahme 183 Treuepflicht 24, 111 Uneheliches Kind 21 a. E., 67, 127, 141
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz
Unterlassungsklage 24, 102, 159 Unzucht (zwischen Verlobten) 106 Verbotsirrtum 98, 158 Vertreter, Strafbarkeit des gesetzlichen 188 Vormerkung (gutgläubiger Erwerb) 68, 141 Vorspiegelung (§ 463 BGB) 8, 48, 91, 128, 138, 140 Waffengleichheit im Zivilprozeß 100
Wahlfeststellung 25, 124, 148 Werkvertrag (§ 618 III) 64, 141, 173 Widerklage 100 Willensmängel (bei der Gründung einer AG) 96, 152 Witwenrente 82 Zurückbehaltungsrecht, hadelsrechtliches 83
Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts SCHRIFTEN ZUR RECHTSTHEORIE, HEFT 14, 2. AUFL., BERLIN 1983, S. 3−169 Inhaltsverzeichnis* Vorwort zur 2. Auflage .................................................................................................... 3 Vorwort zur 1. Auflage .................................................................................................... 4 Inhaltsverzeichnis ............................................................................................................. 5 § 1 Die Funktion des Systemgedankens in der Jurisprudenz ....................................11 I. Die Merkmale der Ordnung und Einheit als Charakteristika des allgemeinen Systembegriffs ........................................................................11 II. Die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung als Grundlage des juristischen Systems ...............................13 1. Folgerichtigkeit und Einheit als wissenschaftstheoretische und hermeneutische Prämissen..................................................................13 2. Folgerichtigkeit und Einheit als Emanationen und Postulate der Rechtsidee .............................................................................................16 § 2 Der Begriff des Systems...........................................................................................19 I. Systembegriffe, die sich nicht aus dem Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit der Rechtsordnung rechtfertigen lassen ............................................................................................19 1. Das „äußere“ System ...................................................................................19 2. Das System „reiner Grundbegriffe“ ..........................................................19 3. Das formal-logische System .......................................................................19 a) Das logische System der Begriffsjurisprudenz ..................................19 b) Das axiomatisch-deduktive System i. S. der Logistik .......................25 4. Das System als Problemzusammenhang ..................................................29 a) Der Systembegriff Max Salomons.......................................................29 b) Die Konzeption Fritz von Hippels .....................................................32 5. Das System der Lebensverhältnisse ..........................................................34 * Anm. d. Hrsg.: Das Inhaltsverzeichnis wurde aus dem Original übernommen, die Seitenzahlen beziehen sich folglich auf das Original.
192
Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz
6. Das „System von Konfliktsentscheidungen“ i. S. Hecks und der Interessenjurisprudenz .........................................................................35 a) Die Stellung der Interessenjurisprudenz zum Gedanken der Einheit des Rechts .................................................................................35 b) Die Schwächen des Systembegriffs der Interessenjurisprudenz .....39 II. Die Entwicklung des Systembegriffs aus dem Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit der Rechtsordnung ...40 1. Das System als axiologische oder teleologische Ordnung .....................41 2. Das System als Ordnung „allgemeiner Rechtsprinzipien“ .....................46 a) Die Vorzüge der „allgemeinen Rechtsprinzipien“ bei der Systembildung gegenüber Normen, Begriffen, Rechtsinstituten und Werten .............................................................................................48 [6] b) Die Funktionsweise der „allgemeinen Rechtsprinzipien“ bei der Systembildung ...........................................................................52 c) Die Unterschiede der „allgemeinen Rechtsprinzipien“ gegenüber den Axiomen .......................................................................58 § 3 Die Offenheit des Systems ......................................................................................61 I. Die Offenheit des „wissenschaftlichen Systems“ als Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis ..........................................62 II. Die Offenheit des „objektiven Systems“ als Wandelbarkeit der Grundwertungen der Rechtsordnung .............................................................63 III. Die Bedeutung der Offenheit des Systems für die Möglichkeiten von Systemdenken und Systembildung in der Jurisprudenz ........................64 IV. Die Voraussetzungen von Systemwandlungen und das Verhältnis zwischen Wandlungen des „objektiven“ und Wandlungen des „wissenschaftlichen“ Systems ...........................................................................65 1. Wandlungen des „objektiven“ Systems ....................................................67 2. Wandlungen des „wissenschaftlichen“ Systems ......................................72 § 4 Die Beweglichkeit des Systems ...............................................................................74 I. Die Merkmale des „beweglichen Systems“ i. S. Wilburgs ............................74 II. Bewegliches System und allgemeiner Systembegriff .....................................76 III. Bewegliches System und geltendes Recht .......................................................78 1. Der grundsätzliche Vorrang unbeweglicher Systemteile ........................78 2. Die Existenz beweglicher Systemteile .......................................................78 IV. Die legislatorische und methodologische Bedeutung des beweglichen Systems ................................................................................................................80 1. Das bewegliche System und die Forderung nach stärkerer Differenzierung ............................................................................................80 2. Bewegliches System und Generalklausel ..................................................81
Schriften zur Rechtstheorie, Heft 14, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 3−169
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3. Die Zwischenstellung des beweglichen Systems zwischen Generalklausel und festem Tatbestand und die Notwendigkeit einer Verbindung dieser drei Gestaltungsmöglichkeiten ........................82 § 5 System und Rechtsgewinnung ................................................................................86 I. Systematische Einordnung und Aufdeckung des teleologischen Gehalts .................................................................................................................88 1. Die „systematische Auslegung“ .................................................................90 2. Die Ausfüllung von Lücken aus dem System ..........................................95 II. Die Bedeutung des Systems für die Wahrung der wertungsmäßigen Einheit und Folgerichtigkeit bei der Rechtsfortbildung ...............................97 1. Die Vermeidung von Wertungswidersprüchen .......................................98 2. Die Feststellung von Lücken......................................................................99 III. Der Wertungsgehalt gesetzlicher Konstruktionen...................................... 100 IV. Die Schranken der Rechtsgewinnung aus dem System.............................. 104 [7] 1. Die Notwendigkeit teleologischer Kontrolle ........................................ 105 2. Die Möglichkeit einer Fortbildung des Systems ................................... 106 3. Systemrichtigkeit und materiale Gerechtigkeit...................................... 106 4. Die Grenzen der Systembildung als Grenzen der Rechtsgewinnung aus dem System ..................................................................... 110 § 6 Die Grenzen der Systembildung.......................................................................... 112 I. Systembrüche ................................................................................................... 112 1. Systembrüche als Wertungs- und Prinzipienwidersprüche ................. 112 2. Abgrenzung der Wertungs- und Prinzipienwidersprüche ................... 113 a) gegenüber den Wertungsdifferenzierungen .................................... 113 b) gegenüber den immanenten Schranken eines Prinzips ................. 113 c) gegenüber der Prinzipienkombination ............................................ 114 d) gegenüber den Prinzipiengegensätzen ............................................. 115 3. Die Möglichkeiten zur Vermeidung von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen im Wege der Rechtsfortbildung ......................... 116 a) Die Möglichkeiten der systematischen Auslegung ......................... 116 b) Die Möglichkeiten der systematischen Lückenergänzung ............ 118 c) Die Grenzen der Beseitigung von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen im Wege der Rechtsfortbildung ........... 119 4. Die Problematik der Verbindlichkeit systemwidriger Normen und der Bindung des Gesetzgebers an den Systemgedanken ............ 121 a) Die Lösung mit Hilfe der Annahme einer „Kollisionslücke“ ...... 121 b) Die Lösung mit Hilfe des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes ................................................................................ 125 5. Die Bedeutung der verbleibenden Systembrüche für die Möglichkeiten von Systemdenken und Systembildung in der Jurisprudenz ...................................................................................................... 130
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Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz
II. Systemfremde Normen .................................................................................. 131 1. Systemfremde Normen als Verstoß gegen den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung ............................................................... 131 2. Auslegung und Gültigkeit systemfremder Normen ............................. 132 III. Systemlücken ................................................................................................... 133 1. Systemlücken als Wertungslücken .......................................................... 133 2. Systemlücken als Einbruchstellen nicht-systemorientierter Denkweisen ............................................................................................... 134 § 7 Systemdenken und Topik ..................................................................................... 135 I. Zur Charakterisierung der Topik .................................................................. 136 1. Topik und Problemdenken...................................................................... 136 2. Topik und Prämissenlegitimation durch „ἔνδoξα“ oder „common sense“....................................................................................... 139 [8] II. Die Bedeutung der Topik für die Jurisprudenz........................................... 141 1. Grundsätzliche Kritik der Topik ............................................................ 141 a) Die Unbrauchbarkeit des „rhetorischen“ Zweiges der Topik...... 141 b) Das Versagen der Topik gegenüber dem juristischen Geltungs- und Verbindlichkeitsproblem ......................................... 142 c) Die Topik als Lehre vom richtigen Handeln und die Jurisprudenz als Wissenschaft vom richtigen Verstehen .............. 145 2. Verbleibende Möglichkeiten für die Topik ........................................... 149 a) Die Topik als Notbehelf bei Fehlen hinreichender gesetzlicher Wertungen, insbesondere in Lückenfällen................. 150 b) Die Topik als funktionsgerechtes Verfahren bei gesetzlicher Bezugnahme auf den „common sense“ und bei Billigkeitsentscheidungen ................................................................................... 150 3. Die wechselseitige Ergänzung und Durchdringung systematischen und topischen Denkens .............................................................. 151 § 8 Thesen ..................................................................................................................... 155 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 161 Sachregister ................................................................................................................... 167 [3] Vorwort zur 2. Auflage Die vorliegende Schrift, die auf meinen Habilitationsvortrag aus dem Jahre 1967 zurückgeht, ist seit vielen Jahren vergriffen. Gleichwohl bin ich dem Wunsch des Verlages nach einer Neuauflage nur zögernd nachgekommen, da größere Änderungen aus drucktechnischen Gründen ausgeschlossen waren. Indessen entsprechen die wesentlichen Gedanken, wie sie insbesondere in den
Schriften zur Rechtstheorie, Heft 14, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 3−169
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Thesen am Ende des Buches ihren Niederschlag gefunden haben, auch heute noch meiner Überzeugung. Daß ich in Einzelheiten manches anders sagen würde, tritt demgegenüber zurück. Der Text stimmt also, von einigen wenigen Veränderungen abgesehen, mit der Erstauflage überein. Das gilt auch für die Nachweise, die ich auf dem damaligen Stande gelassen habe; sie zu aktualisieren oder gar die seitherige Diskussion einzuarbeiten, hätte zwangsläufig dazu geführt, das Buch in Teilen neu zu schreiben – und das war, wie gesagt, nicht das Ziel dieser Neuauflage. Übersetzungen ins Japanische und ins Portugiesische sind in Vorbereitung. München, im Dezember 1982
Claus-Wilhelm Canaris [4]
Vorwort zur 1. Auflage Die vorliegende Schrift ist aus dem Vortrag hervorgegangen, den ich am 20. Juli 1967 im Rahmen meines Habilitationsverfahrens vor der juristischen Fakultät der Universität München gehalten habe. Die Ausarbeitung wurde im August 1968 abgeschlossen; später erschienenes Schrifttum konnte nur noch vereinzelt in den Fußnoten berücksichtigt werden. Die Arbeit ist meinem hochverehrten Lehrer Karl Larenz gewidmet als bescheidenes Zeichen des Dankes für die reiche Förderung, die ich von ihm in wissenschaftlicher wie in persönlicher Hinsicht erfahren habe. Darüber hinaus habe ich auch den übrigen Mitgliedern der Münchner Fakultät für das Wohlwollen und die Unterstützung zu danken, die sie mir in meiner Assistenten- und Dozentenzeit stets haben zuteil werden lassen. Graz, im Dezember 1968
Claus-Wilhelm Canaris [9]
Die Frage nach der Bedeutung des Systemgedankens für die Jurisprudenz gehört zu den umstrittensten Problemen der juristischen Methodenlehre. In kaum einer Streitfrage stehen sich die Meinungen auch heute noch so schroff gegenüber wie hier. Während z. B. Sauer emphatisch ausruft: „Nur das System verbürgt Erkenntnis, verbürgt Kultur. Nur im System ist möglich wahres Wissen, wahres Wirken“1 und H. J. Wolff sagt: „Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist nicht“2, meint Emge mit skeptischer Zurückhaltung: „Ein System ist stets ein
1 2
Juristische Methodenlehre, 1940, S. 171. Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Stud. Gen. 1952, S. 195 ff. (205).
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Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz
inhaltlich zu weit gehendes Unterfangen der ,Vernunft‘“3, – ein Satz, von dem aus es nur noch ein kleiner Schritt ist zu dem berühmten Wort Nietzsches, der den Willen zum System bekanntlich als einen „Mangel an Rechtschaffenheit“, eine „Charakterkrankheit“ bezeichnet hat4. Was das Privatrecht im besonderen angeht, so war die wichtigste methodologische Auseinandersetzung dieses Jahrhunderts – die zwischen „Begriffsjurisprudenz“ und „Interessenjurisprudenz“ – nicht zuletzt eine Kontroverse über Sinn, Art und Grenzen juristischer Systembildung. In neuerer Zeit hat schließlich Theodor Viehweg durch seine Schrift über „Topik und Jurisprudenz“5 die Diskussion neu belebt und bei seiner Systemkritik ebenso nachdrückliche Zustimmung wie entschiedene Ablehnung gefunden. Diese Hartnäckigkeit und Schärfe der Auseinandersetzung ist nun keineswegs verwunderlich, stehen doch im Hintergrund zentrale Fragen der Methodenlehre und der Rechtsphilosophie. Wie vor allem die Diskussion um die Thesen Viehwegs erneut deutlich gemacht hat, geht es nämlich letzten Endes um die Grundlagen unseres Faches überhaupt, insbesondere um das Selbstverständnis der Jurisprudenz als einer Wissenschaft und um die Spezifika juristischen Denkens und Argumen- [10] tierens. Ja, mehr noch: wie die Methodenlehre allenthalben in engstem Zusammenhang mit der allgemeinen Rechtsphilosophie steht, so sieht man sich auch hier sehr bald vor die Problematik der „obersten Rechtswerte“ und ihres Verhältnisses zueinander gestellt6. Die bisherige Diskussion krankte indessen häufig daran, daß über ihren Gegenstand, also den Begriff des Systems, weder in terminologischer noch in sachlicher Hinsicht Klarheit geschaffen wurde. So mußte sich z. B. Viehweg von Diederichsen entgegenhalten lassen, er habe einen „Kampf gegen Windmühlenflügel“ und ein „Scheingefecht“ geführt, weil das von ihm angegriffene axiomatischlogische System seit langem von niemand mehr verteidigt werde7, – und in der Tat liegt hier eine wesentliche Schwäche der Arbeit Viehwegs8. Doch auch sonst findet man in der Literatur meist bestenfalls Teilantworten auf die Frage nach dem jeweils vorausgesetzten Systembegriff. Ohne dessen umfassende Klärung fehlt aber der Systemdiskussion das unerläßliche Fundament, und daher soll im folgenden versucht werden, hierüber etwas mehr Klarheit zu gewinnen. [11]
Einführung in die Rechtsphilosophie, 1955, S. 378. Gesammelte Werke, 1895–1912, Bd. VIII, S. 64 bzw. Bd. XIV, S. 354. Geradezu in den Rang eines methodologischen Prinzips der Geisteswissenschaften erhebt Bollnow das Mißtrauen gegen das System, vgl. Die Objektivität der Geisteswissenschaften und die Frage nach dem Wesen der Wahrheit, Zeitschr. f. Philosophische Forschung 16 (1962), S. 3 ff. (15 f.). 5 1. Aufl. 1953, inzwischen in 3. Aufl. 1965. 6 Vgl. näher unten §§ 1 II 2, 4 IV 3, 5 II, 6 I 4 b, 7 II. 7 Topisches und systematisches Denken in der Jurisprudenz, NJW 1966, S. 697 ff. (700). 8 Vgl. näher unten § 7 bei und mit Fn. 64. 3 4
Schriften zur Rechtstheorie, Heft 14, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 3−169
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§ 1 Die Funktion des Systemgedankens in der Jurisprudenz Nähere Aussagen über den juristischen Systembegriff zu machen, setzt voraus, daß man sich zunächst Klarheit über zweierlei verschafft: erstens über den allgemeinen, d. h. hier den philosophischen Begriff des Systems und zweitens über die besondere Aufgabe, die dieser in der Jurisprudenz sinnvollerweise erfüllen kann1. I. Die Merkmale der Ordnung und Einheit als Charakteristika des allgemeinen Systembegriffs Über den allgemeinen Begriff des Systems dürfte – bei mancherlei Verschiedenheiten im einzelnen – im Grundsatz weitgehend Einigkeit herrschen2: maßgeblich ist noch immer die klassische Definition Kants, der das System als „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“3 oder auch als „ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“4 bezeichnet hat. Ähnlich heißt es z. B. im „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“ von Eisler5, ein System sei „1. objektiv: Ein ganzheitlicher Zusammenhang von Dingen, Vorgängen, Teilen, wobei die Bedeutung jedes Teiles vom übergeordneten, übersummativen Ganzen her bestimmt ist (...) 2. logisch: eine einheitliche, nach einem Prinzip durchgeführte Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen zu einem Wissensganzen, zu einem in sich gegliederten, innerlich-logisch verbundenen Lehrgebäude, als möglichst getreues Korrelat zum realen System der Dinge, d. h. zu dem Ganzen von Beziehungen der Dinge untereinander, das wir annähernd im wissenschaftlichen Fortgange zu ,rekonstruieren‘ suchen“. Dem entsprechen weitgehend auch die Definitionen, die sich in der juristischen Literatur finden. So ist [12] z. B. nach Savigny das System der „innere Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft“6, nach Stammler „eine erschöp-
1 Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens bei der Begriffsbildung vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, S. 15 f., wo derselbe Weg bei der Bestimmung des Lückenbegriffs eingeschlagen wurde. 2 Einen guten historischen Überblick über die Entwicklung des Terminus „System“ gibt Ritschl, System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie, 1906. 3 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, 1. Aufl. 1781, S. 832 bzw. 2. Aufl. 1787, S. 860. 4 Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1. Aufl. 1786, Vorrede, S. IV. 5 Aufl. 1930, Bd. III, Stichwort „System“. 6 Vgl. System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 214 (ähnlich S. XXXVI und S. 262).
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Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz
fend gegliederte Einheit“7, nach Binder „ein nach einheitlichen Gesichtspunkten geordnetes Ganzes von Rechtsbegriffen“8, nach Hegler „die Darstellung eines Wissensgebietes in einem Sinngefüge, das sich als einheitliche, zusammenhängende Ordnung desselben darstellt“9, nach Stoll ein „einheitlich geordnetes Ganzes“10 und nach Coing eine „Ordnung von Erkenntnissen nach einem einheitlichen Gesichtspunkt“11. Zwei Merkmale sind es, die in allen Definitionen auftauchen12: das der Ordnung und das der Einheit; diese stehen zueinander in engster Wechselbeziehung, sind aber grundsätzlich doch zu trennen13. Was zunächst die Ordnung betrifft, so ist mit dieser hier – wenn man vorläufig einmal sehr allgemein formuliert, um jede vorschnelle Verengung zu vermeiden – eine rational erfaßbare „innere“, d. h. von der Sache her begründete Folgerichtigkeit gemeint. Was sodann die Einheit angeht, so modifiziert dieses Element das der Ordnung dahingehend, daß jene nicht in eine Fülle unzusammenhängender Einzel- [13] heiten zerfallen darf14, sondern sich auf wenige tragende Grundprinzipien zurückführen lassen muß. Dabei sind stets zwei Arten oder besser zwei Seiten des Systems zu unterscheiden: das Sys7 Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1923, S. 221; ebenso Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928; zustimmend z. B. Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, 1915, S. 158 f. und Philosophie des Rechts, 1925, S. 922; Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Stud. Gen. 10 (1957), S. 173 ff. (186). 8 Philosophie des Rechts, a.a.O.; ähnlich schon Rechtsbegriff und Rechtsidee, a.a.O., und später ZHR 100, S. 34 f. und 78. 9 Zum Aufbau der Systematik des Zivilprozeβrechts, in: Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, 1931, S. 216. 10 Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz, Festgabe für Heck usw. (vgl. vorige Fn.), S. 77. 11 Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, Frankfurter Universitätsreden Heft 17, zitiert nach Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, S. 9; vgl. auch Coing, Bemerkungen zum überkommenen Zivilrechtssystem, in: Festschrift für Dölle, 1963, S. 25. 12 Mitunter wird auch noch das Merkmal der Vollständigkeit genannt, vgl. vor allem Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, a.a.O., S. 221 f., im Anschluß an Kant: „Das Ganze ... kann zwar innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, wie ein tierischer Körper, dessen Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion, ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht“ (Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 833 bzw. S. 861). Dieses Merkmal kann das juristische System keinesfalls erfüllen, da es wegen der „Offenheit“ des „objektiven Systems“ (vgl. dazu eingehend unten § 3 II) stets auch „per appositionem“ wachsen kann. Das Element der „Vollständigkeit“ dürfte jedoch dem allgemeinen Systembegriff nicht wesentlich sein, sondern bereits auf einer bestimmten Verengung desselben beruhen. – Zum Erfordernis der „Vollständigkeit“ bei einem axiomatischen System i. S. d. Logistik vgl. unten S. 26 und 27 f. 13 Richtig Stammler, a.a.O., S. 222. 14 Von „Ordnung“ könnte auch dann wohl noch gesprochen werden, da insbesondere auch die Gleichordnung eine Form der Ordnung darstellt, doch trägt zweifellos jede Ordnung als solche schon die Tendenz zur Einheit in sich (vgl. auch bei Fn. 13).
Schriften zur Rechtstheorie, Heft 14, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 3−169
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tem der Erkenntnisse einerseits, das Eisler in der zitierten Definition das „logische“ nennt und das im folgenden etwas allgemeiner als das „wissenschaftliche“ bezeichnet werden soll, und das System der Gegenstände der Erkenntnis andererseits, hinsichtlich dessen Eisler treffend von dem „objektiven“ oder „realen“ spricht. Beide stehen insofern in engstem Zusammenhang, als das erstere das „möglichst getreue Korrelat“15 des letzteren sein muß, wenn anders die wissenschaftliche Bearbeitung eines Gegenstandes diesem nicht Gewalt antun und damit ihr Ziel verfehlen soll. Für die juristische Systembildung folgt daraus unmittelbar, daß sie nur dann sinnvoll möglich ist, wenn ihr Objekt, d. h. das Recht, ein derartiges „objektives“ System überhaupt aufweist. Jede nähere Erörterung über die Bedeutung des „Systemgedankens“ in der Jurisprudenz und über deren Systembegriff setzt daher die Klärung der Frage voraus, ob und inwieweit das Recht jene Ordnung und Einheit besitzt, die als Grundlage des Systems unerläßlich ist. II. Die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung als Grundlage des juristischen Systems Wie steht es also mit der inneren Ordnung und Sinneinheit des Rechts? 1. Folgerichtigkeit und Einheit als wissenschaftstheoretische und hermeneutische Prämissen In methodischer Hinsicht setzt man sie regelmäßig als selbstverständlich voraus. Man tut dies schon allein dadurch, daß man Jurisprudenz als Wissenschaft betreibt16; denn, wie Coing sagt: „Letzten Endes ist das Rechtssystem der Versuch, das Ganze der Gerechtigkeit im Hinblick auf eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Lebens in einer Summe rationaler Prinzipien zu erfassen. Daß aber eine vernünftige, dem Denken erfaßbare Struktur die geistige und die mate- [14] rielle Welt beherrsche, ist die unaufgebbare Grundhypothese aller Wissenschaft17.“ Dementsprechend geht auch die juristische Methodenlehre in ihren Postulaten ohne weiteres vom grundsätzlichen Bestehen der Einheit des Rechts aus. Sie tut dies etwa mit dem Gebot „systematischer Auslegung“18 oder bei der Vgl. Eisler, a.a.O. Den untrennbaren Zusammenhang zwischen dem Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz und dem Gedanken des Systems hat vor allem Binder immer wieder nachdrücklich betont, vgl. z. B. Philosophie des Rechts, S. 838 f., 852 und schon Der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, Kantstudien XXV (1921), S. 321 ff. (356). 17 Zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 28. 18 Vgl. dazu näher unten § 5 I 1 m. Nachw. in Fn. 21. 15 16
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Ermittlung „allgemeiner Rechtsprinzipien“ im Wege der sogenannten Rechtsanalogie, und sie befindet sich dabei in Einklang mit den Lehren der allgemeinen Hermeneutik; denn für diese gehört der sogenannte „Kanon der Einheit“ oder „Ganzheit“, nach dem der Interpret seinen Gegenstand als ein in sich sinnvolles Ganzes zu verstehen und vorauszusetzen hat, zum gesicherten Bestand19. Indessen liefe es auf eine petitio principii hinaus, aus dem Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz oder aus dem methodologischen Postulat einheitlichen Sinnesverständnisses ohne weiteres auf das Bestehen der Einheit des Rechts zu schließen. Denn ob die Jurisprudenz eine Wissenschaft ist, stellt logisch die Vorfrage dar, und es könnte sich daher durchaus erweisen, daß die Annahme ihres Wissenschaftscharakters ein Irrtum, weil ihrem Gegenstand unangemessen ist; so haben die Gegner des Systemdenkens denn in der Tat der Jurisprudenz teilweise in folgerichtiger Durchführung ihres Grundansatzes den Wissenschaftscharakter abgesprochen20 und ihr lediglich den Rang einer Art „technischer Kunstlehre“ zuerkannt. Und ähnlich ist das Gebot „systematischer Auslegung“, der Ermittlung allgemeiner Rechtsprinzipien und eines einheitlichen Sinnverständnisses wie alle methodologischen Maximen zunächst bloßes Postulat, das unerfüllbar bleiben muß, wenn es nicht in seinem Gegenstand, d. h. in der Rechtsordnung eine Entsprechung findet. Immerhin ist der Hinweis auf die methodischen Grundhypothesen, die der Jurist herkömmlicherweise macht, in diesem Zusammenhang doch nicht gänzlich ohne Wert. Zumindest sollte er den Kritikern des Systemgedankens vor Augen führen, daß sie mehr preisgeben, als es auf den ersten Blick vielleicht scheint; ob etwa Viehweg den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz leugnen will und ob ihm gar alle seine Anhänger in dieser Konsequenz folgen möchten, ist doch wohl [15] recht zweifelhaft21. Darüber hinaus und vor allem aber lassen die Hypothese 19 Vgl. dazu zuletzt eingehend Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 219 ff. mit umfassenden Nachweisen. 20 Mit besonderer Konsequenz Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 1 ff., 198 und öfter; zu Ehrlichs Ablehnung des Gedankens der Einheit der Rechtsordnung und zu seiner Systemkritik vgl. Die juristische Logik, 2. Aufl. 1925, S. 121 ff. (insbesondere S. 137) bzw. S. 258 ff. 21 Viehweg bezeichnet die Topik als die „Technik des Problemdenkens“, vgl. a.a.O. (S. 15), und es liegt nahe, den Ausdruck „Technik“ als Gegensatz zu „Wissenschaft“ aufzufassen (auf einen Gegensatz von Topik und Wissenschaft deuten auch die Ausführungen S. 25 unter VII hin!). In der Tat sollte man meinen, daß ein Verfahren, das lediglich „Winke geben will“ (S. 15), das „bindungsscheu“ ist (S. 23), das die Legitimierung seiner Prämissen nur auf „die Annahme des Gesprächspartners“ stützt (S. 24) usw. usw., nicht ernstlich den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erheben kann. Indessen scheint Viehweg neben den logisch-deduktiv arbeitenden Wissenschaften einen zweiten Typus der Wissenschaft anzuerkennen (worin ihm zuzustimmen wäre) und diesem die Jurisprudenz auch bei Bejahung ihrer topischen Grundstruktur zuorden zu wollen (vgl. z. B. S. 1 f., S. 53 f., S. 63 f.) (was zumindest mit dem herkömmlichen Wissenschaftsbegriff wohl kaum zu vereinbaren wäre).
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des Wissenschaftscharakters und die methodologischen Maximen Rückschlüsse auf das Selbstverständnis des Juristen zu22, und dieses wiederum bildet zumindest ein gewisses Indiz23 für die Struktur des Gegenstandes der Jurisprudenz, der Rechtsordnung24; denn würde diese in krassem Gegensatz zu den Voraussetzungen und Postulaten der Methodenlehre stehen, so müßte der Jurist in seiner praktischen Arbeit beständig Schiffbruch erleiden oder aber die Forderungen der Methodologie nicht oder nur zum Schein beachten, – was indessen beides von der heutigen Jurisprudenz nicht gesagt werden kann. Gleichwohl: dieses „Indiz“ bleibt unsicher genug, von einer zwingenden Verifizierung der Hypothese kann nicht die Rede sein. Der Gedanke der inneren Ordnung und Einheit bedarf daher einer Bestätigung, die in der Struktur seines Gegenstandes selbst, also im Wesen des Rechts begründet sein muß. [16] 2. Folgerichtigkeit und Einheit als Emanationen und Postulate der Rechtsidee Diese ist nun in der Tat unschwer aufzuweisen. Die innere Ordnung und Einheit des Rechts sind nämlich weit mehr als nur die Voraussetzung des Wissenschaftscharakters der Jurisprudenz und Postulate der Methodenlehre; sie gehören vielmehr zu den fundamentalsten rechtsethischen Forderungen und wurzeln letztlich in der Rechtsidee selbst. So ergibt sich das Erfordernis der „Ordnung“ ohne weiteres aus dem anerkannten Gerechtigkeitspostulat, Gleiches gleich und Ungleiches nach dem Maße seiner Verschiedenheit ungleich zu behandeln: der Gesetzgeber wie der Richter sind gehalten, einmal getroffene Wertungen „konsequent“ wieder aufzunehmen, sie bis in alle Einzelfolgerungen „zu Ende zu denken“ und sie nur sinnvoll, d. h. aus sachlichem Anlaß zu durchbrechen, – mit 22 Es besteht daher eine enge Verbindung zwischen der Methodenlehre eines Faches und einer Phänomenologie des Verstehens (zu letzterer vgl. vor allem Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965): die Phänomenologie kann aus der Methodologie wesentliche Rückschlüsse auf die Art des Verstehens in dieser Disziplin gewinnen (sofern die Maximen der Methodenlehre nicht bloße Postulate sind, sondern tatsächlich beachtet werden), und umgekehrt muß jede Methodenlehre die von der Phänomenologie herausgearbeiteten Wesensgesetzlichkeiten menschlichen Verstehens beachten, will sie nicht unerfüllbare Forderungen aufstellen. 23 Diese Behauptung wird man aufstellen können, auch ohne sich auf die erkenntnistheoretische Problematik des Verhältnisses von Subjekt und Objekt einzulassen. 24 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Diederichsen, NJW 1966, S. 699 bei Fn. 29, der gegen die Thesen Viehwegs u. a. einwendet, „im konkreten Werterlebnis“ erscheine „dem Juristen sein Fach als sinnvolles Ganzes und nicht als Gemenge unzusammenhängender Fragen“. Zwingende Beweiskraft kommt natürlich auch dieser Behauptung – die übrigens in ihrer Allgemeinheit zudem nicht unanfechtbar ist – nicht zu; denn das „Einheitserlebnis“ des Juristen besagt als lediglich psychologisches Faktum nichts Endgültiges über die Struktur der Rechtsordnung, ja, im Gegensatz zur Methodenlehre, nicht einmal etwas über die Art richtigen juristischen Denkens.
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anderen Worten: folgerichtig zu verfahren. Rationale Folgerichtigkeit aber ist, wie gesagt, das Merkmal der „Ordnung“ i. S. des Systembegriffs, und deshalb bildet das aus dem Gleichheitssatz folgende Gebot wertungsmäßiger Folgerichtigkeit den ersten entscheidenden Ansatz für die Verwendung des Systemgedankens in der Jurisprudenz, – was z. B. Flume25 im Anschluß an Savigny26 treffend zum Ausdruck bringt, indem er das System als „die vorausgesetzte innere Konsequenz des Rechts“ bezeichnet27. Ähnlich findet auch das Merkmal der Einheit seine Entsprechung auf seiten des Rechts, gehört doch der Gedanke der „Einheit der Rechtsordnung“ zum gesicherten Bestand rechtsphilosophischer Einsichten28. Auch diese ist keineswegs nur ein „rechtslogisches Postulat“29, sondern geht ebenfalls auf das Gerechtigkeitsgebot zurück. Sie bildet nämlich einerseits – in ihrer sozusagen negativen Komponente – wieder lediglich eine Ausprägung des Gleichheitssatzes, indem sie die Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung zu gewährleisten sucht (insoweit [17] ist sie bereits durch den Gedanken der Folgerichtigkeit erfaßt30), und sie stellt andererseits – in ihrer „positiven“ Komponente31 – nichts anderes dar als die Verwirklichung der „generalisierenden Tendenz“ der Gerechtigkeit32, die den Aufstieg von der Fülle der im konkreten Fall möglicherweise relevanten Aspekte zu wenigen
Allg. Teil des Bürgerl. Rechts, Bd. 2, 1965, S. 295 und 296. a.a.O., S. 292. Die Bemerkung Savignys bezieht sich allerdings nicht, wie man nach den Ausführungen Flumes annehmen könnte, unmittelbar auf das System, sondern auf die Analogie; zum Systemsbegriff Savignys vgl. das Zitat oben bei Fn. 6. 27 z. T. ähnlich auch die unten Fn. 35 Zitierten. 28 Grundlegend die gleichnamige Schrift von Engisch aus dem Jahre 1935. Zu diesem leider verhältnismäßig wenig erörterten Problem vgl. ferner ders., Einführung in das juristische Denken, 3. Aufl. 1964, S. 156 ff.; Ehrlich, Die juristische Logik, S. 121 ff. mit ausführlichem historischem Überblick; Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 209 ff., 211 ff.; Wengler, Betrachtungen über den Zusammenhang der Rechtsnormen in der Rechtsordnung und die Verschiedenheit der Rechtsordnungen, in: Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 719 ff.; Larenz, Methodenlehre, a.a.O., S. 135 f., 353 f.; Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 104 ff. 29 Zu eng daher Hanack, a.a.O., S. 107 (vgl. auch S. 104); es geht in Wahrheit in erster Linie um ein axiologisches Postulat! 30 Darin wird wieder der enge Zusammenhang zwischen dem Merkmal der Einheit und dem der Ordnung deutlich. 31 Diese wurde bisher im Schrifttum gegenüber dem anderen Element, dem der Widerspruchslosigkeit, zu Unrecht stark vernachlässigt. 32 Zu dieser (und zu ihrem Gegenstück, der individualisierenden Tendenz) vgl. vor allem Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 16 f., 44 f. und öfter und Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 345 f.; vgl. ferner z. B. Salomon, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, S. 147 ff.; Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1956, S. 170; Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 114 f.; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, S. 199 ff. mit weiteren Nachw.; Emge, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1955, S. 174 f. 25 26
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abstrakten und generellen Prinzipien fordert33. Durch letzteres aber ist gewährleistet, daß die „Ordnung“ des Rechts nicht in eine Vielzahl unzusammenhängender Einzelwertungen zerfällt, sondern sich auf verhältnismäßig wenige allgemeine Kriterien zurückführen läßt34, und damit ist zugleich die Erfüllbarkeit auch des zweiten Merkmals des Systembegriffs, der Einheit, dargetan35. Weit entfernt, eine Verirrung zu sein, wie die Kritiker des Systemdenkens behaupten, läßt sich der Gedanke des juristischen Systems somit aus einem der obersten Rechtswerte, nämlich aus dem Gerechtigkeitsgebot und seinen Konkretisierungen im Gleichheitssatz und in der Tendenz zur Generalisierung33 rechtfertigen. Es kommt hinzu, daß auch ein anderer oberster Wert, die Rechtssicherheit in dieselbe Richtung weist. Denn auch sie drängt in nahezu allen ihren Spielarten – ob als Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit des Rechts, als Stabilität und Kontinuität von Gesetzgebung und Rechtsprechung oder schlicht als Praktikabilität der Rechtsanwendung – zur Ausbildung eines Systems, da alle diese Postulate weit eher durch ein folgerichtig ge- [18] ordnetes, von wenigen überschaubaren Prinzipien beherrschtes, also „systemorientiertes“ Recht erfüllt werden können als durch eine unübersehbare Vielzahl von unzusammenhängenden und allzu leicht miteinander in Widerspruch geratenden Einzelnormen. So wurzelt der Systemgedanke in der Tat mittelbar in der Rechtsidee (als dem Inbegriff der obersten Rechtswerte). Er ist dementsprechend jedem positiven Recht immanent, weil und sofern dieses deren Konkretisierung (in einer bestimmten historischen Form) darstellt, und bleibt daher nicht bloßes Postulat, sondern ist immer auch schon
33 Diese steht übrigens nicht etwa dem Gleichheitssatz selbständig gegenüber, sondern ist im Gegenteil dessen Folge; denn das schlechthin Individuelle ist in seiner wesensmäßigen Einmaligkeit immer „unvergleichlich“, und die Anwendung des Gleichheitssatzes setzt daher notwendig stets eine gewisse Abstraktion und Generalisierung voraus, die eine „Vergleichung“ erst möglich macht, so daß die „generalisierende Tendenz“ der Gerechtigkeit in der Tat ihren Ursprung im Gleichheitssatz hat. 34 Natürlich wirkt dem die „individualisierende Tendenz“ entgegen, doch macht diese die Systembildung nicht unmöglich, sondern setzt ihr nur Schranken; vgl. dazu näher unten § 6 III und § 7 II 2 b. 35 Der Zusammenhang zwischen dem Gedanken der Folgerichtigkeit und vor allem dem der Einheit des Rechts und dem System wird oft hervorgehoben, wenn auch nicht selten mehr beiläufig; außer den oben Fn. 6 bis Fn. 11 Zitierten vgl. z. B. Kretschmar, Über die Methode der Privatrechtswissenschaft, 1914, S. 40 und 42 und JherJb. 67, S. 264 f.; Baumgarten, Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode, 1920, Bd. I, S. 298 und S. 344; Sauer, Methodenlehre, a.a.O., S. 172; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Aufl. 1948, S. 16 und 264; Coing, Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 276 ff. und JZ 1951, S. 485; Esser, Grundsatz und Norm, a.a.O., S. 227 und öfter; Larenz, Festschrift für Nikisch, 1958, S. 299 f. und Methodenlehre, a.a.O., S. 133 f.; P. Schneider, VVdDStRL 20, S. 38; Raiser, NJW 64, S. 1204; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 532; Betti, Allg. Auslegungslehre, a.a.O., S. 223 f.; Zippelius, NJW 1967, S. 2230; Mayer-Maly, The Irish Jurist, vol. II, part 2, 1967, p. 375 (vgl. auch schon Festschrift für Nipperdey, 1965, Bd. I, S. 522).
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Voraussetzung allen Rechts und allen juristischen Denkens36 – so bruchstückhaft Folgerichtigkeit und Einheit auch oft verwirklicht sein mögen37. Damit ist das zu Beginn dieses Paragraphen aufgestellte Ziel erreicht: es ist ein rechtliches Phänomen gefunden, das einen Anknüpfungspunkt für ein System i. S. des philosophischen Sprachgebrauchs bildet, und es ist dementsprechend dem spezifisch juristischen Systembegriff nunmehr eine Aufgabe zugewiesen, an Hand deren seine nähere Bestimmung möglich ist. Diese kann dann ihrerseits die Grundlage für genauere Aussagen über Sinn und Grenzen des Systemdenkens in der Jurisprudenz bilden und wird damit zugleich erlauben, das soeben Gesagte im Fortgang der Untersuchung nach und nach zu überprüfen und zu präzisieren38. Jene Aufgabe des Systembegriffs aber ist, um es noch einmal zu sagen, die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen39. [19]
36 So sprach auch Savigny in dem erwähnten Zitat von der „vorausgesetzten Konsequenz des Rechts“. 37 Diese Bruchstückhaftigkeit besagt nichts gegen die grundsätzliche Möglichkeit des Systems, sondern macht nur deutlich, daß dessen vollständiger Ausbildung ersichtlich gewisse Grenzen gesetzt sind (zu diesen vgl. näher unten § 6). 38 Die vorstehenden Ausführungen sind also nicht mehr als ein erster Aufriß des Systemproblems, der im folgenden noch mancherlei Modifikationen erfahren wird. 39 Auch zu verwirklichen; denn die Einheit und Folgerichtigkeit sind nicht nur vorgegeben, sondern immer auch erst aufgegeben, also nicht nur Voraussetzung, sondern auch Postulat (vgl. soeben bei Fn. 36 und näher unten § 5 IV 2).
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§ 2 Der Begriff des Systems Weist man dem juristischen Systembegriff die soeben gekennzeichnete Aufgabe zu, so scheiden damit aus der Fülle der bisher entwickelten Begriffe1 von vornherein alle diejenigen aus, die nicht zur Herausarbeitung der inneren Folgerichtigkeit und Einheit einer Rechtsordnung geeignet sind. Das heißt nicht notwendig, daß sie ohne Ausnahme verfehlt oder für die Aufgaben der Jurisprudenz in jeder Hinsicht unbrauchbar sein müßten; immerhin schließt diese Unterscheidung aber doch auch eine gewisse Wertung ein, weil die Berechtigung eines Systembegriffs, der sich nicht auf die im vorigen Paragraphen vorgetragenen Überlegungen stützen läßt, von vornherein beschränkt und häufig auch dem Bedenken ausgesetzt ist, er könne das Wesen des Rechts verfehlen. I. Systembegriffe, die sich nicht aus dem Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit der Rechtsordnung rechtfertigen lassen 1. Das „äußere“ System Nicht in Betracht kommt in diesem Zusammenhang zunächst das sogenannte äußere System im Sinne der bekannten Terminologie Hecks2, das im wesentlichen auf den Ordnungsbegriffen des Gesetzes beruht; denn dieses dient nicht oder doch nicht primär dazu, die innere Sinneinheit des Rechts aufzudecken, sondern wird in seinem Aufbau durch das Bestreben nach einer möglichst klaren und übersichtlichen Darstellung und Gliederung des Stoffes bestimmt. Freilich ist ein derartiges System darum nicht wertlos; im Gegenteil: für die Übersichtlichkeit des Rechts und damit für die Praktikabilität seiner Anwendung und mittelbar auch für die Rechtssicherheit im Sinne der Vorhersehbarkeit der Entscheidung ist es von großer Bedeutung. Nur ist es eben nicht das „System des Rechts“ i. S. einer innerlich zusammenhängenden Ordnung, mag es diese auch häufig zumindest teilweise spiegeln. [20]
1 Ein Überblick findet sich z. B. bei Radbruch, Zur Systematik der Verbrechenslehre, in: Frank-Festgabe I, 1930, S. 158 ff.; Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 177 ff. 2 Vgl. Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 139 ff. (142 f.).
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2. Die Systeme „reiner“ Grundbegriffe Ungeeignet, die innere Einheit und Folgerichtigkeit einer Rechtsordnung wiederzugeben, sind auch alle Systeme „reiner“ Grundbegriffe, wie sie etwa Stammler3, Kelsen4 oder Nawiasky5 entworfen haben. Denn dabei geht es um rein formale Kategorien, die jeder denkbaren Rechtsordnung zugrunde liegen, während die wertungsmäßige Einheit stets materialer Art ist und sich nur in einer bestimmten historischen Rechtsordnung verwirklichen kann; über diese aber wollen und können die Systeme reiner Grundbegriffe ihrer eigenen Aufgabenstellung nach nichts aussagen. Daß es trotzdem von hohem Wert ist, das Instrumentarium der Rechtswissenschaft durch eine Besinnung auf die ihr immer schon vorgegebenen, a-priorischen Grundbegriffe zu verfeinern, bedarf keiner Hervorhebung, doch machen andererseits der rein formale Charakter und die Allgemeinheit dieser Begriffe oder Kategorien auch die Grenzen ihres Wertes für die wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts, das es immer nur als eine bestimmte historische Individualität gibt, deutlich genug. So stellen sich denn auch nicht zufällig die Fragen, die man als typisch für die Problematik juristischer Systembildung ansieht – insbesondere die nach der Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung, nach der Bindung des Gesetzgebers an den Systemgedanken oder nach der Behandlung der Systembrüche –, immer nur im Hinblick auf eine bestimmte Rechtsordnung6; auch wenn man von „Systemdenken“ – etwa im Gegensatz zum Problemdenken oder zur Topik – spricht, hat man dabei üblicherweise nicht ein System reiner Grundbegriffe, sondern das des positiven Rechts im Auge. 3. Das formal-logische System a) Das logische System der Begriffsjurisprudenz Ungeeignet, die innere Einheit und Folgerichtigkeit einer bestimmten positiven Rechtsordnung zu erfassen, ist weiterhin ein formal-logisches7 System. Gleich-
3 Vgl. vor allem Theorie der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1911, 2. Aufl. 1923 und Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928. 4 Vgl. vor allem Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960. 5 Vgl. Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Aufl. 1948. 6 Vgl. auch Engisch, a.a.O., S. 182 vor VI. 7 Zur Bestimmung des Begriffs „formale Logik“, über den weitgehende Einigkeit herrschen dürfte, vgl. etwa Scholz, Abriß der Geschichte der Logik, 2. Aufl. 1959, S. 15. Danach ist darunter derjenige Teil der Wissenschaftslehre zu verstehen, der „die zum Aufbau irgendeiner Wissenschaft erforderlichen Schlußregeln formuliert und zugleich alles das liefert, was für eine exakte Formulierung dieser Regeln erforderlich ist“. Über andere Arten der Logik und über die
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wohl hat dieses Ideal lange Zeit die deutsche Rechts- [21] wissenschaft beherrscht, hatten sich doch die Anhänger der sogenannten „Begriffsjurisprudenz“ die Ausarbeitung eines derartigen Systems zum Ziel gesetzt8. Ihren Systembegriff kennzeichnet Max Weber in seiner Rechtssoziologie treffend folgendermaßen: „Nach unserer heutigen Denkgewohnheit bedeutet sie (sc.: die Systematisierung): die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Tatbestände unter eine seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der wesentlichen Garantie entbehrt9.“ Ersichtlich steht im Hintergrund dieser Konzeption der positivistische Wissenschaftsbegriff10, der am Ideal der Mathematik und der Naturwissenschaften ausgerichtet ist. So konnte etwa der Philosoph Wundt sagen, auf Grund ihres begriffsjuristischen Verfahrens sei die Jurisprudenz „eine in eminentem Sinne systematische Wissenschaft“ und durch ihren „streng logischen Charakter“ sei sie „in einer gewissen Hinsicht der Mathematik vergleichbar“11. Diese Auffassung von Wesen und Zielen der Rechtswissenschaft darf man heute ohne Einschränkung als überholt bezeichnen. In der Tat ist der Versuch, das System einer bestimmten Rechtsordnung12 als formal-logisches oder axiomatisch-deduktives zu konzipieren, von vornherein zum Scheitern verurteilt13. Denn die innere Sinneinheit des [22] Rechts, die es im System zu erfassen gilt, ist entsprechend ihrer Ableitung aus dem Gerechtigkeitsgedanken nicht logischer, sondern wertungsmäßiger, also axiologischer Art. Wer wollte denn auch im Ernst behaupten, das Frage, ob von einer nicht-formalen Logik überhaupt sinnvoll gesprochen werden kann, vgl. Scholz, a.a.O., S. 1 ff. bzw. S. 5. 8 Vgl. statt aller die Darstellung bei Larenz, a.a.O., S. 17 ff. 9 Vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl. (besorgt von Johannes Winckelmann) 1956, 2. HBd., S. 396 (Hervorhebungen hinzugefügt). Max Weber stand dieser Art von Jurisprudenz übrigens durchaus kritisch gegenüber, vgl. vor allem S. 493 und S. 506 f. 10 Zu dessen Einfluß auf die Jurisprudenz vgl. allgemein Larenz, Methodenlehre, S. 34 ff. 11 Vgl. Logik, Bd. III, 4. Aufl. 1921, S. 617 (vgl. aber auch S. 595 f.); wesentlich realistischer hinsichtlich der Brauchbarkeit eines logisch-deduktiven Systems für die Jurisprudenz dagegen schon Sigwart, Logik, 2. Bd., 2. Aufl. 1893, S. 736 ff. 12 Die Systeme der „reinen Grundbegriffe“ dürften dagegen wegen ihres rein formalen Charakters durchaus den Anforderungen eines formal-logischen oder axiomatisch-deduktiven Systems genügen. 13 Ebenso i. E. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 276 und Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens, S. 27; Viehweg, a.a.O., S. 53 ff.; Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 173 ff. und 12 (1959), S. 86; Esser, Grundsatz und Norm, 2. Aufl. 1964, S. 221; Larenz, a.a.O., S. 134 f.; Simitis, Ratio 3 (1960), S. 76 ff.; Emge, Philosophie der Rechtswissenschaft, 1961, S. 289 f.; Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 27; Perelman, Justice et raison, 1963, p. 206 sqq; Raiser, NJW 1964, S. 1203 f.; Flume, Allg. Teil des Bürgl. Rechts, Bd. 2, 1965. S. 295 f.; Diederichsen, NJW 1966, S. 699 f.; Zippelius, NJW 1967, S. 2230: vgl. auch schon Sigwart, a.a.O., S. 736 ff.
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Gebot, Gleiches gleich und Ungleiches nach dem Maße seiner Verschiedenheit ungleich zu bewerten, ließe sich mit den Mitteln der Logik erfüllen? Wertungen liegen vielmehr unzweifelhaft außerhalb des Bereichs der formalen Logik, und dementsprechend läßt sich auch die Folgerichtigkeit verschiedener Wertungen untereinander und der innere Zusammenhang der Wertungen nicht logisch, sondern nur axiologisch oder teleologisch14 erfassen. Dabei mag die schwierige Frage, inwieweit das Recht an die Gesetze der Logik gebunden ist und inwieweit die logische Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung daher als Minimaltatbestand in ihrer wertungsmäßigen Einheit inbegriffen ist15, auf sich beruhen; selbst wenn man sie bejaht, so ist doch unzweifelhaft, daß eine eventuelle formal-logische Folgerichtigkeit der einzelnen Rechtsnormen die spezifisch rechtliche Sinneinheit einer Rechtsordnung nicht ausmacht. Diesem axiologischen und teleologischen Charakter der Rechtsordnung entspricht es, daß auch für das juristische Denken und die Methodenlehre der Rechtswissenschaft formal-logische Kriterien von vergleichsweise sehr geringer Bedeutung sind16. Zwar ist die Jurisprudenz, sofern sie den Anspruch der Wissenschaftlichkeit oder überhaupt nur der rationalen Folgerichtigkeit ihres Argumentierens erhebt, selbstverständlich an die Gesetze der Logik gebunden17, doch ist deren Einhaltung nur notwendige, nicht hinreichende Bedingung korrekten juristischen Denkens18; ja, mehr noch: die eigentlich entscheidenden [23] juristischen Denkakte vollziehen sich außerhalb des Bereichs der formalen Logik19. Denn wie Im weiteren Sinne des Wortes, vgl. unten S. 41. Vgl. dazu auch unten S. 122 f. 16 Es versteht sich, daß im Rahmen des hier erörterten Themas nur eine Kennzeichnung des eigenen Standpunkts möglich ist und auf eine Auseinandersetzung mit fremden Meinungen weitgehend verzichtet werden muß. Zur Bedeutung der Logik für die Jurisprudenz vgl. z. B. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1943 (3. Aufl. 1963), S. 3 ff. (insbesondere S. 5 f. und S. 13) und Aufgaben einer Logik und Methodik des juristischen Denkens, Stud. Gen. 12 (1959), S. 76 ff.; Klug, Juristische Logik, 3. Aufl. 1966, S. 1 ff., 9 ff., 172 ff.; Brusiin, Über das juristische Denken, 1951, S. 100 ff. (insoweit auch abgedruckt ARSP 39, S. 324 ff.); Simitis, Zum Problem einer juristischen Logik, Ratio 3 (1960), S. 52 ff. mit ausf. weiteren Nachw.; Dieter Horn, Studien zur Rolle der Logik bei der Anwendung des Gesetzes, Diss. Berlin 1962, insbesondere S. 142 ff.; Fiedler, Juristische Logik in mathematischer Sicht, ARSP 52 (1966), S. 93 ff. 17 Das ist scharf von der Bindung des Rechts oder des Gesetzgebers an die logischen Gesetze zu trennen: die Problematik entsteht hier daraus, daß es sich um Sollens- oder Geltungssätze handelt, die als solche nicht wahr oder falsch, sondern nur geltend oder nicht-geltend sein können; demgegenüber macht der Jurist Aussagen (über das Recht), die ohne weiteres dem Kriterium von wahr und falsch oder richtig und unrichtig unterliegen. 18 Das betont Klug, a.a.O. mit Recht immer wieder, vgl. z. B. Vorwort zur 1. Aufl., S. 2, 173. 19 Die Frage nach dem Gewicht des logischen Elementes innerhalb des juristischen Denkens ist keineswegs rein psychologischer Natur und damit systematisch uninteressant (vgl. aber Klug, a.a.O., S. 12 zum Problem der ,,Überbewertung“ von Begriffen und Konstruktionen), sondern hat eminente wissenschaftstheoretische Bedeutung, hängen von ihrer Beantwortung doch weitgehend die Besonderheiten der juristischen Methodenlehre sowie die spezifische Stellung der Jurisprudenz im Kreise der Wissenschaften ab. 14 15
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es das Wesen des Rechts ist, Wertentscheidungen zu treffen, so ist es die Aufgabe des Juristen, Wertungen verstehend nachzuvollziehen, zu Ende zu denken und schließlich, auf einer letzten Stufe, selbst vorzunehmen. Für diese Aufgaben aber kommt der Logik nur die Bedeutung eines „Rahmens“ zu20, während das „Verstehen“ oder die „Wertung“ von ihr wesensgemäß nicht geleistet werden können – sowenig wie das „Verstehen“ eines anderen geistigen Sinngebildes, etwa eines literarischen Kunstwerks oder eines theologischen Textes. Die Hermeneutik als Lehre vom richtigen Verstehen und die Kriterien für die Objektivierbarkeit von Wertungen spielen daher statt dessen die maßgebende Rolle innerhalb des juristischen Denkens21. Dies erweist sich ohne Ausnahme bei allen juristischen Schlußweisen. So ist etwa bei der sogenannten Subsumtion die Findung der Prämissen nahezu allein entscheidend: wenn „Obersatz“ und „Untersatz“ genügend konkretisiert und aufeinander abgestimmt sind – wofür die formale Logik unwesentlich ist –, dann ist die eigentliche Aufgabe des Juristen erfüllt; die Schlußfolgerung vollzieht sich jetzt sozusagen automatisch22, und selbst dieser letzte Akt, die „Subsumtion“23, ist keineswegs allein formal-logischer Art, sondern besteht in einem wesentlichen, wenn auch häufig nicht explizit gemachten Teil in einer wertungsmäßigen Zuordnung24. Dementsprechend kommen kompliziertere logische Kettenableitungen in der Jurisprudenz praktisch nicht vor24a. Und dementsprechend lassen sich alle angeblich zwingenden logischen Schlüsse sehr leicht als Scheinlogik entlarven, weil der [24] Fehler in den Prämissen liegt und die Logik sich diesen gegenüber neutral verhält. So ist es, um zwei bekannte Beispiele anzuführen, keineswegs „logisch“, daß ein nichtiger Vertrag nicht angefochten werden kann, oder daß beim Rückerwerb des Nichtberechtigten vom gutgläubigen Erwerber der (ehemals) Nichtberechtigte und nicht der (ehemals) wahre Berechtigte das Recht erwerben müsse; alles kommt hier vielmehr auf die Bildung des Obersatzes an, und darüber entscheiden allein teleologische Gesichtspunkte.
20 So der anschauliche Ausdruck von Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 176, Sp. 1; zustimmend auch Simitis, a.a.O., S. 78, Fn. 134; vgl. aber auch Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 1951, S. 214 ff., 260 ff. 21 Vgl. dazu auch unten § 2 II 1 und § 7 II 1. 22 Nicht nur psychologisch, sondern auch methodologisch gesehen; vgl. im übrigen auch oben Fn.19. 23 Zur Frage, ob der hier gebrauchte weitere Begriff von Subsumtion oder der engere, der auf ein rein formal-logisches Verfahren beschränkt ist, vorzuziehen ist, vgl. einerseits Engisch, Einführung in das juristische Denken, 3. Aufl. 1964, S. 199, Anm. 47 mit weiteren Zitaten, andererseits Larenz, a.a.O., S. 210, Anm. 1. 24 Zur Problematik der Subsumtion vgl. statt aller Engisch, a.a.O., S. 54 ff. mit Nachweisen; Larenz, a.a.O., S. 210 ff.; vgl. auch schon Sigwart, a.a.O., S. 737 f. 24a Richtig Viehweg, a.a.O., S. 71 und öfter.
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Dasselbe gilt in noch stärkerem Maße für die übrigen juristischen „Schlußverfahren“ wie Analogie, teleologische Reduktion, argumentum e contrario, argumentum a fortiori und argumentum ad adsurdum. Zwar hat Klug diese Argumentationsverfahren mit den Mitteln der modernen Logik dargestellt25, doch ist zu bezweifeln, daß damit für die juristische Arbeit Wesentliches gewonnen werden kann. Denn das entscheidende Element aller dieser Verfahren ist ausnahmslos nicht logischer, sondern teleologischer und axiologischer Natur, wie sich ihre methodische Rechtfertigung denn auch nicht mit den Mitteln der Logik, sondern allein durch ihre Rückführung auf den Wert der Gerechtigkeit und den in diesem enthaltenen (positiven oder negativen) Gleichheitssatz dartun läßt26. Wenn Klugs Untersuchung über die logische Struktur der Analogie mit der – unbestreitbaren – Feststellung endet, die Antwort auf die „in der Praxis so wesentliche“ (man darf wohl sagen: in der Praxis allein wesentliche) Frage nach der jeweiligen Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer bestimmten Analogie lasse sich nicht mit den Mitteln der Logik geben, sondern hänge von der Definition des jeweiligen „Ähnlichkeitskreises“, die nur nach teleologischen Kriterien erfolgen könne, ab27, so erhellt [25] daraus sehr deutlich, wie wenig die formale Logik (in ihrer „klassischen“ oder in ihrer „modernen“ Form) der Jurisprudenz zu geben vermag. Denn sobald der „Ähnlichkeitskreis“ bestimmt ist, ist – ganz ähnlich wie bei der sogenannten Subsumtion – das Wesentliche erledigt28; der Rest geht wieder sozusagen automatisch vor sich. Oder welches Problem wäre wohl methodologisch noch zu bewältigen, wenn man z. B. herausgearbeitet hat, daß die ratio legis des § 463 S. 2 BGB in der arglistigen Ausnutzung eines Irrtums des Käufers über die Beschaffenheit der Sache liegt und daß diese ratio nicht nur auf das Verschweigen eines Mangels, sondern „genauso“ auf das Vorspiegeln einer günstigen Eigenschaft „paßt“? Und 25 Vgl. a.a.O., S. 97 ff., 124 ff., 132 f.; vgl. auch Schreiber, Logik des Rechts, 1962, S. 47 ff., der die erwähnten Verfahren durchweg für unzulässige Schlußregeln erklärt, sowie zur Analogie im besonderen Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961, S. 10 ff., 24 ff., 44 ff. 26 Für die Analogie vgl. z. B. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 270; Larenz, a.a.O., S. 283, 288 und 296 sowie die bei Canaris, Die Feststellung von Lücken, a.a.O., S. 72, Anm. 47 Zitierten; für die teleologische Reduktion Larenz, a.a.O., S. 296; für das argumentum a fortiori und das argumentum e contrario Canaris, a.a.O., S. 78 bzw. S. 45; für das argumentum ad absurdum gilt nichts anderes: sinnvollerweise kann damit nur gemeint sein, daß eine bestimmte Ansicht auf „bare Willkür“ hinausliefe oder zu einem mit anderen Wertungen des Gesetzes in krassem Widerspruch stehenden, d. h. mit dem Gleichheitssatz unvereinbaren Ergebnis führen würde, bzw. bei der nicht rein negativen (lediglich widerlegenden), sondern positiven (ein bestimmtes Ergebnis begründenden) Verwendung des Arguments: daß jedes andere als das vorgeschlagene Ergebnis auf „bare Willkür“ oder auf einen krassen Wertungswiderspruch hinausliefe; auch hier wird die Überzeugungskraft also letztlich nicht am Wert der Wahrheit, sondern an dem der Gerechtigkeit gemessen. 27 Vgl. a.a.O., S. 123; für das argumentum a fortiori vgl. S. 137, für das argumentum ad absurdum vgl. S. 138. 28 Vgl. auch die Kritik an den Ausführungen von Klug bei Simitis, a.a.O., S. 66 ff.
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entsprechendes läßt sich für alle anderen angeführten „Schlüsse“ dartun: wenn festgestellt ist, was die ratio einer Vorschrift ist und warum sie auf einen bestimmten Ausnahmetatbestand nicht „paßt“, warum eine Wertung „erst recht“ auf einen nicht ausdrücklich geregelten Fall „zutrifft“ oder warum ein Tatbestand von einem anderen wertungsmäßig so verschieden ist, daß die Rechtsfolge nicht dieselbe sein darf29, ist schon entschieden, daß eine teleologische Reduktion bzw. ein argumentum a fortiori bzw. ein Umkehrschluß am Platze ist. Allenthalben also dasselbe Ergebnis: die Findung und Präzisierung der Prämissen ist die entscheidende juristische Aufgabe, die Vornahme formal-logischer Schlüsse demgegenüber von verschwindend geringer Bedeutung, – wobei die „dritte Stufe“ juristischen Argumentierens, die Rechtsfindung mit Hilfe allgemeiner Rechtsprinzipien, aus der Natur der Sache usw., wo das Gesagte naturgemäß in noch weit stärkerem Maße gilt, nicht einmal in die Betrachtung einbezogen wurde. Demgemäß sollte man heute nicht mehr ernsthaft bezweifeln, daß ein formal-logisches System weder dem Wesen des Rechts noch den spezifischen Aufgaben des Juristen in irgendeiner Weise gerecht werden kann. b) Das axiomatisch-deduktive System i. S. der Logistik Die Ablehnung eines formal-logischen Systems führt folgerichtig auch zur Ablehnung eines axiomatisch-deduktiven Systems30. Denn [26] dieses setzt voraus, daß alle innerhalb eines bestimmten Sachgebietes geltenden Sätze sich aus den Axiomen im Wege einer rein formal-logischen Deduktion ableiten lassen31. Da dies, wie soeben gezeigt, mit dem Wesen der Jurisprudenz unvereinbar ist, scheidet die axiomatisch-deduktive Methode entgegen der Ansicht Klugs32 schon allein deshalb 29 Zur Beschränkung des argumentum e contrario auf diesen Fall und zu seiner Trennung vom Analogieverbot vgl. Canaris, a.a.O., S. 44 ff. (46 f.). 30 Zum axiomatisch-deduktiven System vgl. vor allem Hilbert-Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, 3. Aufl. 1949, S. 31 ff. und 74 ff.; Fraenkel, Einführung in die Mengenlehre, 3. Aufl. 1928, S. 268 ff. und vor allem S. 334 ff.; Carnap, Abriß der Logistik, 1929, S. 70 f. und Einführung in die symbolische Logik, 1954, S. 146 ff.; eine kurze und leicht zugängliche Schilderung findet sich bei Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, 1954, S. 81 f. und bei Popper, Logik der Forschung, 1966, S. 41. 31 Vgl. Fraenkel, a.a.O., S. 334 und S. 347; Carnap, Symbolische Logik, a.a.O., S. 147; vgl. ferner z. B. Härlen, ARSP 39 (1951), S. 478 f.; Viehweg, a.a.O., S. 55; Engisch, Stud. Gen., 10 (1957), S. 174, Sp. 1 und 12 (1959), S. 86, Sp. 2; Klug, a.a.O., S. 181; Bulygin, ARSP 53 (1967), S. 329 f. 32 Dieser fordert die Axiomatisierung des Rechts, vgl. a.a.O., S. 172 ff. (vgl. auch Kraft, a.a.O., S. 263; Härlen, a.a.O., S. 477 ff.). Darin könnte man insofern einen Widerspruch erblicken, als Klug die Grenzen der Logik in der Jurisprudenz sehr wohl sieht und die Bedeutung des teleologischen Elements nachdrücklich betont (vgl. z. B. S. 123, 137, 138, 176 ff.); ein solcher liegt jedoch in Wahrheit nicht vor, da Klug das teleologische Element ersichtlich aus den
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für unser Fach aus33. Aber auch aus anderen Gründen erscheint die Schaffung eines axiomatisch-deduktiven Systems des Rechts ausgeschlossen. Es muß nämlich bezweifelt werden, daß eine sinnvolle Bildung der Axiome in der Jurisprudenz überhaupt möglich ist. Denn an diese sind anerkanntermaßen zumindest zwei34 Forderungen zu stellen: die der Widerspruchsfreiheit35 und die der Vollständigkeit36, und schon die Erfüllbarkeit der ersten ist außerordentlich problematisch, die der zweiten aber einwandfrei zu verneinen. Was zunächst die Widerspruchsfreiheit anlangt, so ist diese allerdings jedenfalls insoweit gewährleistet, als allgemein anerkannt ist, daß ein Widerspruch zwischen zwei Normen unter allen Umständen beseitigt werden muß, und die juristische Methodenlehre auch ein Instru- [27] mentarium entwickelt hat, das dies (äußerstenfalls durch Annahme einer „Kollisionslücke“37) ermöglicht38. Indessen gilt dies nur für echte Normwidersprüche, während Wertungs- und Prinzipienwidersprüche sich nicht ausnahmslos vermeiden lassen39, und dementsprechend ist das Postulat der Widerspruchsfreiheit auch nur in einem System von Normen, nicht jedoch auch in einem solchen von Werten oder Prinzipien zu erfüllen. Darin aber liegt ein nicht leicht zu nehmendes Bedenken, weil das System ja die die einzelnen Normen verbindende Einheit zum Ausdruck bringen soll und daher wohl kaum seinerseits aus Normen bestehen kann, sondern sich auf die hinter diesen stehenden oder in ihnen enthaltenen Wertungen stützen muß40. Außerdem ließe sich auch bei einem Normensystem die Widerspruchsfreiheit nur dadurch erreichen, daß man außer den grundlegenden Normen auch alle die Ausnahmen, die diese einschränken, in den Rang von Axiomen erhöbe, und diese können so Schlußverfahren in die – logisch nicht erfaßbare – Bildung der Prämissen verbannen will (daher trifft der Einwand von Diederichsen, NJW 66, S. 700, Anm. 40 gegen Raisers Verständnis der Absichten Klugs m. E. nicht zu), – worin ihm jedoch wegen des in jedem juristischen „Schluß“ enthaltenen Elements einer wertungsmäßigen Zuordnung nicht zu folgen ist. 33 Das entspricht der ganzen h. L., vgl. die Nachweise oben Fn. 13. 34 Außerdem wird häufig noch die „Unabhängigkeit“, d. h. die Unableitbarkeit der Axiome auseinander gefordert (vgl. z. B. Hilbert-Ackermann, a.a.O., S. 33 f.; Fraenkel, a.a.O., S. 340 ff.). Dieses Postulat kann jedoch im vorliegenden Zusammenhang vernachlässigt werden, da es lediglich denkökonomischer oder vielleicht auch ästhetischer Art ist und jedenfalls auch in der Jurisprudenz zu erfüllen wäre, falls eine Axiomatisierung im übrigen gelänge. 35 Vgl. Hilbert-Ackermann, a.a.O., S. 31 f., 74 ff.; Fraenkel, a.a.O., S. 356 ff.; Carnap, Abriß, a.a.O, S. 70 f. und Symbolische Logik, S. 148 f.; Leinfellner, Struktur und Aufbau wissenschaftlicher Theorien, 1965, S. 208; Härlen, a.a.O., S. 477 f.; Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 174; Klug, a.a.O., S. 176; Bulygin, a.a.O., S. 330. 36 Vgl. Hilbert-Ackermann, a.a.O., S. 31, 33 ff. (35); Fraenkel, a.a.O., S. 347 ff; Carnap, Abriß, a.a.O., S. 70 f. und Symbolische Logik, a.a.O., S. 149 (vgl. auch S. 147); Härlen, a.a.O., S. 477 f.; Engisch, a.a.O., S. 174; Klug, a.a.O., S. 176; Bulygin, a.a.O., S. 330. 37 Vgl. dazu näher unten § 6 I 4 a. 38 Vgl. dazu statt aller Engisch, Einheit, a.a.O., S. 46 ff. und Einführung, a.a.O., S. 158 f 39 Vgl. dazu eingehend unten § 6 I, insbesondere S. 119 ff., 126 ff. und 130 f. 40 Vgl. näher unten S. 48 f.
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zahlreich sein, daß man sich fragen muß, ob es sich nicht in Wahrheit um eine Scheinaxiomatisierung handeln würde; es ist doch mehr als fraglich, ob Sätze wie „Rechtsgeschäfte sind formfrei, es sei denn, daß das Gesetz eine Formvorschrift enthält“ oder „Verträge müssen gehalten werden, es sei denn, daß das Gesetz eine Einwendung oder Einrede gewährt“ sinnvoll als Axiom bezeichnet werden können41. Nimmt man hinzu, daß die Ausnahmen nicht selten „ungeschrieben“ sind und u. U. erst im Wege der „Rechtsfortbildung“ geschaffen werden, so wird vollends deutlich, welche Schwierigkeiten schon das Postulat der Widerspruchsfreiheit aufwirft. Gänzlich unmöglich jedoch ist die Erfüllung des zweiten Merkmals, der „Vollständigkeit“42. Darunter ist nach Hilbert-Ackermann (mindestens43) zu verstehen, „daß sich aus dem Axiomensystem alle richtigen Formeln eines gewissen, inhaltlich zu charakterisierenden Gebiets gewinnen lassen“44. Nimmt man hinzu, daß außerhalb der Axiome keine Sätze mit selbständigem materialem Gehalt eingeführt werden dürfen, sich vielmehr alle „Theoreme“ aus rein formallogischen Opera- [28] tionen ergeben müssen45, so würde das Postulat der Vollständigkeit dementsprechend erfordern, daß nicht nur die grundlegenden Normen eines Gesetzes samt ihren Ausnahmen, sondern nahezu alle (geschriebenen und ungeschriebenen!) Vorschriften in den Rang von Axiomen erhoben werden müßten. Denn fast jede gesetzliche Bestimmung enthält einen selbständigen materialen Gehalt und modifiziert oder konkretisiert die rechtlichen Grundentscheidungen in der einen oder anderen Richtung; anderenfalls wäre sie ja überflüssig, was sich indessen selbst bei schlecht ausgearbeiteten Gesetzen nur von wenigen Normen sagen läßt. Nun kann man zwar hinsichtlich der Zahl der Axiome, die ein axiomatisches System aufweisen darf, keine festen Regeln aufstellen, doch ist diese andererseits wohl auch nicht ganz gleichgültig46; sie sollte sinnvollerweise jedenfalls wesentlich geringer sein als die Zahl der daraus abzuleitenden „Theoreme“. Durch die Kombination einzelner Rechtssätze miteinander lassen sich jedoch nur verhältnismäßig wenig neue Rechtssätze formulieren, selbst wenn man die jeweils zur Entscheidung eines bestimmten Einzelfalles gebildeten konkreten „Obersätze“ mit in die Betrachtung einbezieht47. Vgl. auch Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 176. Bei diesem Merkmal hat bisher die Kritik an der Möglichkeit eines juristischen axiomatisch-deduktiven Systems m. E. nicht genügend angesetzt. 43 Noch enger sprechen Hilbert-Ackermann dann von Vollständigkeit der Axiome, „wenn durch die Hinzufügung einer bisher nicht ableitbaren Formel zu dem System der Grundformeln stets ein Widerspruch entsteht“ (vgl. a.a.O., S. 35). 44 Vgl. a.a.O., S. 35. 45 Vgl. oben bei und mit Fn. 31. 46 Vgl. auch Engisch, Stud. Gen. 12 (1959), S. 86 und das dort mitgeteilte Gespräch mit Klug. 47 Daß mit Hilfe dieser Sätze eine unendliche Vielzahl von „Lebensfällen“ entschieden werden kann, ist jedenfalls eine andere Frage. 41 42
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Mag man diesen Einwand vielleicht noch als Frage der Terminologie abtun, so ist doch ein zweiter jedenfalls zwingend. Sollen sich alle Sätze einer Rechtsordnung, wie gefordert, aus den Axiomen ableiten lassen, so müßten nämlich auch die Rechtssätze zur Ausfüllung von Lücken in diesen enthalten sein. Das aber würde voraussetzen, daß jene dem geltenden Recht – aus dem ja die Axiome entwickelt sind! – ausnahmslos immanent wären, und dies wiederum wäre reiner Zufall, ja, es ist praktisch so gut wie ausgeschlossen. Denn es gibt einen bestimmten Typus von Lücken, bei dem sich die Unvollständigkeit des Gesetzes zwar unzweifelhaft vom Boden des geltenden Rechts selbst aus ergibt, bei dem jedoch mit der Feststellung der Lücke über die Möglichkeiten einer Ausfüllung nicht das geringste auszumachen ist48 und bei dem daher u. U. die gesamte übrige Rechtsordnung keinen Hinweis für die Schließung der Lücke enthält; das klassische Beispiel ist das Fehlen einer Vorschrift über das Obligationsstatut im deutschen internationalen Privatrecht. Da die Axiomatisierung des Rechts somit voraussetzen würde, daß für sämtliche Lückenfälle eine ausfüllende Wertung in der Rechtsordnung vorhanden ist, liefe sie auf das Postulat [29] einer teleologischen Geschlossenheit des Rechts hinaus; nicht nur die Theorie der logischen Geschlossenheit ist aber einwandfrei widerlegt, auch eine teleologische Geschlossenheit ist bare Utopie49. – Eng mit diesem Einwand in Zusammenhang steht schließlich, daß das Gesetz eine Fülle „wertausfüllungsbedürftiger“ Generalklauseln, wie Treu und Glauben, gute Sitten, Zumutbarkeit, verkehrserforderliche Sorgfalt usw. enthält. Bei diesen kann die Konkretisierung der Wertung und die Rechtssatzbildung immer nur im Hinblick auf den konkreten Fall oder doch auf bestimmte, im Laufe der Rechtsentwicklung als typisch hervortretende Fallgruppen erfolgen, und derartige Normen sind daher einer Axiomatisierung von vornherein unzugänglich. Nun ist aber der Übergang von solchen wertausfüllungsbedürftigen Klauseln zu den übrigen Vorschriften durchaus fließend, und letztlich kann man sagen, daß nahezu alle Gesetzesbestimmungen in der einen oder anderen Richtung der wertungsvollziehenden Konkretisierung bedürfen. Diese Sinnkomplexität und -variabilität steht daher letztlich stets der Axiomatisierung im Wege. Die Errichtung eines axiomatisch-deduktiven Systems ist daher nicht möglich50 und widerspricht dem Wesen des Rechts. Ein derartiger Versuch liefe vielmehr, wie vor allem die Ausführungen zum Erfordernis der „Vollständigkeit“ der Axiome deutlich gemacht haben, auf die Utopie hinaus, daß sich alle innerhalb einer Rechtsordnung erforderlichen Wertentscheidungen abschließend formulie-
48 Vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken, a.a.O., S. 144 ff., wo der entsprechende Lückentyp als „Anordnungs-“ oder „Rechtsverweigerungslücke“ bezeichnet wird. 49 Vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 173. 50 Ebenso i. E. die oben Fn. 13 Zitierten.
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ren lassen, – also auf ein typisch positivistisches Vorurteil51, das heute wohl als endgültig widerlegt gelten darf. 4. Das System als Problemzusammenhang a) Der Systembegriff Max Salomons Gleichsam von der entgegengesetzten Seite kommt der Versuch, das System als Problemzusammenhang zu entwerfen. Dies hat Max Salomon unternommen52, und da eine derartige Konzeption heute zweifellos wieder besondere Aktualität besitzt, soll in folgendem näher auf sie eingegangen werden. Salomons Ausgangspunkt war das Ziel, den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz zu begründen. Wissenschaft aber kann seiner Meinung nach nur ein Unternehmen genannt werden, [30] das auf einen unvergänglichen Gegenstand gerichtet ist53. Daran fehle es indessen der Jurisprudenz, soweit diese sich mit einer bestimmten historischen Rechtsordnung befaßt, – womit Salomon unverkennbar im Banne des berühmten Vortrags von Kirchmanns über „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ steht, an dessen nahezu sprichwörtlichen Satz: „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur“54 er denn auch ausdrücklich anknüpft55. Als Ausweg sieht Salomon nur die Beschäftigung mit den (unvergänglichen) Problemen, nicht dagegen die mit deren (vergänglichen) Lösungen. Freilich scheidet dann das, was man herkömmlich Rechtswissenschaft nennt, nämlich die methodische Bearbeitung einer bestimmten positiven Rechtsordnung, ohne weiteres aus dem Kreis der Wissenschaften aus56, und es bleibt als Gegenstand echter Rechtswissenschaft nur noch die Bildung des „Systems der Probleme möglicher Gesetzgebung“57. Es ist auf den ersten Blick deutlich, daß ein solches System der Probleme und ihrer Zusammenhänge ungeeignet ist, die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung darzustellen. Denn das Recht ist nicht eine Summe von Problemen, sondern eine Summe58 von Problemlösungen, und so kann seine Sinneinheit 51 Insofern trifft also der Vorwurf des Positivismus, gegen den Klug sich a.a.O., S. 173 f. verwahrt, durchaus zu. 52 Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, insbesondere S. 26 ff. und 54 ff.; zustimmend Burckhardt, Methode und System des Rechts, 1936, S. 131 mit Fn. 24. 53 Vgl. a.a.O., S. 11 ff., 18 ff. (21). 54 Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, S. 17. 55 Vgl. a.a.O., S. 13 und S. 21. 56 Das ist denn auch die Meinung Salomons, vgl. z. B. S. 24, 54 ff., 63 und öfter. 57 Vgl. S. 54 ff., 67. 58 Summe freilich nicht lediglich additiv, sondern als Sinnzusammenhang verstanden.
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auch nur in den diese tragenden Gesichtspunkten, nicht schon in den isolierten Fragen gefunden werden. Der Systembegriff Salomons ist daher jedenfalls nicht tauglich, etwas zur Klärung des in der vorliegenden Untersuchung gestellten Themas beizutragen. Darüber hinaus muß aber auch bestritten werden, daß die Entwicklung eines Systems von Problemen überhaupt möglich ist59; ein solches „System“ ist vielmehr ein Widerspruch in sich. Denn es fehlt ihm notwendig die für den Systembegriff unerläßliche Einheit, der innere Zusammenhang60. Probleme als solche sind nämlich nichts als isolierte Fragen, die man willkürlich auswählen kann, und sie bedürfen daher, um in eine systematische Beziehung gebracht werden zu können, eines sinn- und einheitsstiftenden Elements, das nur außerhalb ihrer selbst [31] liegen kann. So erfordert schon das erste denkbare Problem, die Frage nach den Aufgaben einer Rechtsordnung, daß man in gewisser Weise weiß oder voraussetzt, was Recht ist; völlig voraussetzungsloses Fragen ist unmöglich, weil schon die Fragestellung stets einen bestimmten „Blickpunkt“ in sich schließt. Das läßt sich über alle Stufen eines Fragenzusammenhanges hinweg verfolgen. So ergibt sich etwa die Problematik der Privatautonomie und des Rechtsgeschäfts nur, wenn die Vorfrage nach der Ordnung der menschlichen Beziehungen in einer bestimmten Weise, nämlich zugunsten der Schaffung eines Privatrechts61, beantwortet worden ist; erst diese Antwort wirft dann wieder neue Fragen auf wie etwa die nach der Formbedürftigkeit privatautonomer Akte, nach der Behandlung von Störungen wie z. B. Irrtümern oder nach den Grenzen der Privatautonomie; nur aus den Antworten hierauf entstehen dann wieder neue Unterprobleme, wie z. B. aus der grundsätzlichen Verneinung des Formzwanges das Problem eventueller Ausnahmen und ihrer sinnvollen Differenzierung, daraus wieder das der Art der zu erfüllenden Form und deren Differenzierung, – aus der grundsätzlichen Bejahung der Beachtlichkeit von Irrtümern das Problem der Bestimmung der relevanten Irrtümer, der Geltendmachung des Irrtums und des Ersatzes des Vertrauensschadens des Gegners, – aus der grundsätzlichen Bejahung von Schranken der Privatautonomie das Problem ihrer Festlegung, etwa im Wege starrer Normen wie in § 134 BGB oder im Wege flexibler Regeln wie in § 138 BGB, daraus wieder das ihrer Formulierung im einzelnen, etwa der positiven oder der (in § 138 mit Recht gewählten) negativen Fassung62 usw. usw. Alles in allem ist nicht zu bestreiten, daß ein System bloßer Probleme unmöglich ist. Möglich ist nur, einen Zusammenhang von Frage und Antwort, (dadurch entstandener) neuer Frage und 59 Vgl. zum folgenden auch die ausgezeichnete Kritik von Binder, Kantstudien 25 (1921), S. 321 ff. 60 Die gegenteilige Ansicht Salomons, a.a.O., S. 58 ff. bleibt bloße Behauptung. 61 Vgl. dazu F. v. Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, 1936. 62 Es muß also nicht festgestellt werden, daß das Rechtsgeschäft den guten Sitten entspricht, sondern daß es ihnen nicht widerspricht.
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neuer Antwort usw., zu entwerfen. Ziel einer Wissenschaft, die sich nicht auf ein bestimmtes positives Recht festlegen lassen will, müßte daher die Herausarbeitung der jeweils möglichen Problemlösungen, deren Zahl durchaus beschränkt ist, sein und der sich dann jeweils ergebenden Unterfragen und möglichen Unterantworten sowie der durch die Beantwortung der Vorfragen stets erfolgenden Beschränkung in der Auswahlmöglichkeit hinsichtlich der Unterantworten; gegen den Wissenschaftscharakter eines solchen Unternehmens ließen sich die Bedenken Salomons gewiß nicht vorbringen63. [32] b) Die Konzeption Fritz von Hippels Mit den Gedanken Salomons verwandt ist die viel diskutierte64 Untersuchung Fritz von Hippels zur juristischen Systembildung65. Dieser hat sich bemüht, den mit der Anerkennung der Privatautonomie notwendigerweise gegebenen „immanenten Problemzusammenhang“ aufzudecken und an diesem Beispiel allgemeine Gedanken über die Systembildung entwickelt. Im Mittelpunkt seiner Konzeption steht dabei die Bedeutung eben jenes „immanenten Problemzusammenhanges“; er sagt: „Kennen wir ihn, so kennen wir die privatrechtliche Systematik66.“ Das ist nun freilich nicht unmißverständlich, legt es doch den Gedanken nahe, v. Hippel sehe das System ebenso wie Salomon ausschließlich in den Problemzusammenhängen. So hat in der Tat Viehweg seine Ausführungen verstanden und sie in dem Satz zusammengefaßt: „Daher macht dieser immanente Problemzusammenhang die gesuchte privatrechtliche Systematik aus“; deren Besonderheit liegt dann darin,
63 Sie treffen im übrigen auch nicht gegenüber einer Jurisprudenz zu, die sich mit einer bestimmten Rechtsordnung befaßt, sofern man das gesetzte Recht als eine der möglichen Lösungen des „ewigen“ Problems der Gerechtigkeit unter den Anforderungen einer konkreten historischen Situation sieht. Daher ist auch der Satz v. Kirchmanns über die wissenschaftlichen Bibliotheken, die Makulatur werden, unzutreffend; die gesamte Geschichte des Privatrechts und insbesondere die Entstehung des BGB, das ohne die Vorarbeiten der Wissenschaft undenkbar wäre, ist die beste Widerlegung. Die von der Rechtswissenschaft entwickelten Gedanken werden nämlich keineswegs „durch einen Federstrich des Gesetzgebers“ wertlos, sondern sind entweder in der Fortentwicklung des Rechts (im Hegelschen Sinne) „aufgehoben“ oder bereichern, gleichsam im Wartestande, den „ewigen“ Vorrat möglicher Problemlösungen. Daß die Werke, in denen diese Gedanken vorgetragen wurden, veralten, teilen sie mit allen wissenschaftlichen Arbeiten, und anderenfalls wäre ja auch jeder wissenschaftliche Fortschritt undenkbar. 64 Vgl. z. B. Viehweg, a.a.O., S. 66 ff.; Esser, Grundsatz und Norm, a.a.O., S. 5 f.; Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 179; Diederichsen, NJW 1966, S. 699. 65 Vgl. Zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, 1930; zitiert nach F. v. Hippel, Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, 1964, S. 13 ff. 66 Vgl. a.a.O., S. 19.
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daß sie nicht mehr „auf der Seite des positiven Rechts“ gesucht wird, sondern ein „Gegenstück“ zu diesem bildet, „welches sich als Fragengefüge erweist“67. Ein solches „System“ wäre allen Einwänden ausgesetzt, die oben gegen Salomon vorgebracht wurden, und könnte daher den Namen eines Systems in Wahrheit nicht beanspruchen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob Viehweg v. Hippel wirklich richtig verstanden hat68. Denn dieser [33] läßt die Antwortseite keineswegs außer Betracht, sondern fährt an der zitierten Stelle fort69: „Wir können hinfort die Masse privatrechtlichen Einzelwissens als historische Antworten auf bestimmte Dauerfragen eines bestimmten Problemzusammenhangs ordnen, begreifen, ...“ Auch hat v. Hippel klar genug betont, daß sich dieser Problemzusammenhang keineswegs a priori, sondern erst auf der Grundlage einer bestimmten Antwort, nämlich der Entscheidung zugunsten der Privatautonomie, überhaupt ergibt. Der untrennbare Zusammenhang von Antwort und Problem, neuer Antwort und neuem Problem ist v. Hippel im Gegensatz zu Salomon also durchaus bewußt. Er hat denn auch nicht gesagt, daß der Problemzusammenhang die Systematik „ausmacht“, mit dieser also identisch ist, wie Viehweg ihm unterstellt, sondern nur, daß wir die Systematik „kennen“, weil wir die verschiedenen Lösungen nunmehr einordnen können. Immerhin bleibt insoweit ein gewisser zwiespältiger Eindruck zurück, selbst wenn man berücksichtigt, daß v. Hippel die Problemseite als das eigentlich Neue seiner Untersuchung naturgemäß überbetonen mußte. Zwar sagt er völlig zu Recht: indem der Gesetzgeber „diese Fragen beantwortet, schafft er ein bürgerliches Gesetzbuch“70, doch muß man hinzufügen: „erst indem er sie beantwortet, schafft er auch ein System.“ Was diesen Antworten aber die einende Sinnmitte gibt, nach welchen übergeordneten Wertgesichtspunkten der Gesetzgeber also die Probleme löst, das sagt von Hippel nicht71, und daher gibt er auch nicht eigentlich a.a.O., S. 67. Das bestreitet Diederichsen, a.a.O. Freilich genügt dazu nicht der bloße Hinweis auf die Absicht v. Hippels, ein System zu entwerfen, da diese ja auf einem Mißverständnis des Gedankensystems beruhen könnte, doch hätte andererseits die Selbstverständlichkeit, mit der v. Hippel den Systemgedanken zugrunde legt, Viehweg in der Tat an der Richtigkeit seiner Interpretation zweifeln lassen sollen; wie Viehweg und gegen Diederichsen aber jetzt Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 597, Fn. 48. 69 Es verdient Hervorhebung, daß die beiden Sätze durch einen Doppelpunkt verbunden sind, was ihre enge innere Verknüpfung besonders deutlich macht. 70 a.a.O., S. 22. 71 Es liegt ganz in der Linie dieses Einwands, daß die Kritik, die v. Hippel am System der Aufklärung übt, nicht in jeder Hinsicht überzeugt. In diesem Systementwurf war immerhin die Einsicht lebendig, daß die Sinneinheit, auf die alles Recht wesensmäßig angelegt ist, nur auf der Basis einiger weniger fundamentaler rechtsethischer Prinzipien gewonnen werden kann, – und das macht seine unbezweifelbare Großartigkeit aus. Daß diese Prinzipien einseitig überbewertet wurden oder daß uns das zumindest heute so scheint und daß sie daher der Ergänzung durch die Aufnahme anderer Grundprinzipien in unser System bedürfen (vgl. dazu vor allem Coing, 67 68
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einen eigenen Systementwurf72. Er macht [34] vielmehr, völlig dem Titel seiner Arbeit entsprechend, lediglich Ausführungen „zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung“, indem er den mit einer bestimmten Grundentscheidung – d. h. schon: Problemlösung – notwendigerweise verbundenen immanenten Problemzusammenhang herausarbeitet. Daß dieser besteht, ist unzweifelhaft, und die Gedanken von Hippels verdienen daher insoweit durchaus Zustimmung; eine bestimmte Konkretisierung des Systembegriffs – um den es in diesem Paragraphen ja geht – hat er dagegen nicht gegeben73. 5. Das System der Lebensverhältnisse So wenig die Problemzusammenhänge als solche zur Systembildung ausreichen, so wenig genügen die Lebensverhältnisse und ihre immanente Ordnung74. Denn sie sind lediglich Objekt des Rechts und werden von diesem in dessen spezifischer Weise gestaltet; sie können daher nicht selbst die innere Sinneinheit des Rechts bilden oder auch nur allein in sich tragen. Das heißt natürlich nicht, daß sie nicht ihrerseits als „Natur der Sache“ auf das Recht und damit u. U. auch auf dessen System einwirken könnten, aber dieses ist damit noch nicht in den Festschrift für Dölle, 1963, Bd. I, S. 25 ff., insbesondere S. 29 ff.), bedeutet nur, daß die Ordnungswahl (in historisch übrigens durchaus verständlicher Weise) einseitig getroffen wurde, nicht dagegen, daß die „Gesetzmäßigkeiten juristischer Systembildung“ verkannt wurden; denn als Antwort auf das Grundproblem der Gerechtigkeit läßt sich dieser Entwurf durchaus verstehen, – im Gegensatz etwa zu der von v. Hippel so genannten „Theorie der juristischen Tatsache“, die in der Tat das Wesen juristischer Systembildung mißachtet (allerdings nicht pauschal mit der „Systematik des 19. Jahrhunderts“ gleichgesetzt werden darf, vgl. aber v. Hippel, a.a.O., S. 36). 72 Ob er das wollte, ist zweifelhaft, vgl. den Titel seiner Arbeit und dazu sogleich im Text. Für die Bejahung dieser Frage spricht immerhin, daß er seine eigene Konzeption offenbar begrifflich auf eine Stufe mit den Systemen der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts stellt, vgl. S. 23 und S. 36. 73 Man könnte in Anknüpfung an seine Ausführungen allenfalls die Definition geben, das System sei die Lösung eines bestimmten Problemzusammenhangs; indessen bleibt zum einen doch wohl zweifelhaft, ob v. Hippel wirklich die „Antwortseite“ in den Systembegriff aufnehmen wollte, und zum anderen wäre das auch keine zureichende Definition, da in ihm die wesentlichen Begriffselemente der Einheit und Ordnung nicht enthalten sind. 74 Die Auffassung, das innere System sei „in den Lebenszusammenhängen bereits gegeben“, schreibt Larenz, a.a.O., Heck zu (vgl. S. 57 und S. 362). Zwar finden sich in der Tat Ansätze in dieser Richtung (vgl. z. B. Heck, a.a.O., S. 149 f. und S. 158), doch tritt diese Seite von Hecks Systemverständnis hinter dem Gedanken eines „Systems von Konfliktsentscheidungen“ (vgl. dazu sogleich im Text unter 6.) durchaus zurück. Freilich wäre allein sie die folgerichtige Durchführung des soziologischen Ansatzes der „genetischen Interessentheorie“ (vgl. auch unten Fn. 100) doch zeigt sich auch hier, daß die Interessenjurisprudenz diesen nicht durchhält, sondern die Bedeutung der – nicht kausal determinierten – gesetzgeberischen Wertung berücksichtigt.
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Lebensverhältnissen vollständig angelegt. Auch soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, daß die Ordnung der Lebensverhältnisse einen wesentlichen Einfluß auf das „äußere“ System des Rechts hat, – man denke nur an die Anlehnung von Rechtsgebieten wie dem Familien- und Erbrecht, dem Handels-, Arbeits- und Urheberrecht oder den einzelnen Typen des Besonderen Schuldrechts an die entsprechenden Lebensphänomene75! Nur vor einer Identifizierung dieser Ordnung mit dem [35] spezifischen Zusammenhang der Rechtsnormen muß entschieden gewarnt werden, da darin ein den Rechtswert mißachtender Soziologismus läge76. 6. Das „System von Konfliktsentscheidungen“ i. S. Hecks und der Interessenjurisprudenz Es bleibt ein letzter Systembegriff zu untersuchen: der Hecks und der Interessenjurisprudenz. Von Heck stammt bekanntlich die wertvolle Unterscheidung zwischen dem „äußeren“ und dem „inneren“ System77. Zur Aufdeckung der Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung kommt nun von vornherein nur das innere System in Frage; denn dessen Aufgabe soll nach den Worten Hecks in der Erfassung eines „sachlichen Zusammenhangs“, einer „immanenten Ordnung“ liegen78. Wie sieht also dieses „innere“ System nach der Ansicht Hecks aus? a) Die Stellung der Interessenjurisprudenz zum Gedanken der Einheit des Rechts Heck weist den – an sich naheliegenden79 – Gedanken, die Elemente der immanenten Ordnung seien in den einzelnen Interessen zu sehen, ausdrücklich zurück80 und bezeichnet das System als „System von Konfliktsentscheidungen“81. Die Frage, inwieweit nun dieses die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung verwirklicht, führt unmittelbar zu der Vorfrage, wie denn die Interessen75 Auch hierin tritt übrigens eine, durch die Natur der Sache vermittelte, enge Beziehung zwischen „äußerem“ und „innerem“ System in Erscheinung. 76 Ein Beispiel für diesen ist die Position Ehrlichs, der die „Einheit des Rechts in seinen Rechtssätzen“ leugnet (vgl. Die juristische Logik, 2. Aufl. 1925, S. 137) und sie nur als „Einheit im Zusammenhange der Gesellschaft“ anerkennen will (vgl. S. 146). Ehrlich müßte folgerichtig zu dem im Text zurückgewiesenen Systembegriff gelangen; vgl. auch unten Fn. 100. 77 Vgl. Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 139 ff. (142 f.). 78 Vgl. a.a.O., S. 143. 79 Vgl. oben Fn. 74. 80 Vgl. a.a.O., S. 150. 81 Vgl. a.a.O., S. 149 ff.
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jurisprudenz überhaupt zum Gedanken der Einheit des Rechts steht, – und damit zu einem der kritischsten Punkte in den rechtsphilosophischen Grundlagen dieser Lehre. Denn hier bietet die Interessenjurisprudenz ihren Gegnern in der Tat wesentliche Angriffsflächen, und so ist ihr Verhältnis zum Gedanken der Einheit des Rechts denn auch immer wieder Gegenstand der Kritik gewesen. Bereits im Jahre 1914 hat Kretschmar in seiner vorzüglichen, Schwächen und Stärken sowohl der Begriffs- wie der Interessenjurisprudenz souverän abwägenden Rektoratsrede dieser die Vernachlässigung des Einheitsgedankens vorgeworfen82. [36] Ähnlich hat Hegler später beklagt, die Interessenjurisprudenz betone nur die in den einzelnen Normen zum Ausdruck kommenden Werturteile sowie die obersten Rechtswerte wie Gerechtigkeit, Billigkeit usw., vernachlässige aber „das Dazwischenliegende, die grundlegenden spezifischen Zwecke des betreffenden Rechtsteils“83, wir würden heute sagen: die allgemeinen Rechtsprinzipien; und bezeichnenderweise hat er damit den Vorwurf mangelnder Systembildung verbunden. Und auch Oertmann hat mit beredten Worten Klage darüber geführt, er habe trotz aller „trefflichen und vielfach überzeugenden Einzelbetrachtungen“ in den Arbeiten der Interessenjurisprudenz „kein Ganzes finden“ und „nie und nimmer ein einheitliches Gesamtbild“ gewinnen können, so daß er sich „eines gewissen Gefühls wissenschaftlicher Verzweiflung“ nicht habe erwehren können84. Coing schließlich hat diese Einwände gegen die Interessenjurisprudenz in die Worte zusammengefaßt: „Das Recht ist indessen für die Interessenjurisprudenz ebensowenig moralisch wie logisch eine einheitliche Ordnung. Es hat überhaupt keine Einheit“85. Was aber sagen die Anhänger der Interessenjurisprudenz selbst zu dieser Frage? Die Stellungnahmen sind spärlich, enthalten aber klare Bekenntnisse zum Gedanken der Einheit des Rechts86. Es kann sich also nur fragen, was sie darunter verstehen. Zwei Äußerungen Hecks kommen in diesem Zusammenhang in Be82 Über die Methode der Privatrechtswissenschaft, 1914, insbesondere S. 39 ff.; vgl auch Kretschmar, Grundfragen der Privatrechtsmethodik, Jher. Jb. 67 (1917), S. 233 ff., insbesondere S. 271 ff., 285 f., 291 ff. 83 Zum Gedächtnis von Max Rümelin, Kanzlerrede 1931, S. 19. 84 Vgl. Interesse und Begriff in der Rechtswissenschaft, 1931, S.40; vgl. dazu die Erwiderung von Heck, a.a.O., S. 207 ff., 212 ff. Hinsichtlich der Interpretation des Studentenbriefes mag Heck in gewisser Hinsicht recht haben (vgl. S. 216 f.), im übrigen aber geht seine Entgegnung in höchst charakteristischer Weise an dem Anliegen Oertmanns vorbei; so bestätigt seine Reduzierung der Frage nach der inneren Einheit auf die der „Übersicht“ S. 207 ff. ebenso wie die Erklärung der allgemeinen Zusammenhänge der Rechtsordnung lediglich aus den „Lebensbedürfnissen“ (S. 214) die im Text vertretene Ansicht, Heck habe dem Gedanken der Sinneinheit des Rechts letzten Endes verständnislos gegenübergestanden. 85 Vgl. System, Geschichte und Interesse in der Privatrechtswissenschaft, JZ 1951, S. 481 ff. (484); zustimmend Larenz, Methodenlehre, S. 133; wesentlich positiver insoweit das Urteil Binders, ZHR 100, S. 63 f. 86 Vgl. vor allem Stoll, Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, 1931, S.96; Heck, a.a.O., S. 87 f. und S. 149 f.
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tracht. Die erste geht dahin, daß er die Einheit des Rechts mit seiner Widerspruchslosigkeit gleichsetzt87; das ist sicher ein wesentliches Element, stellt jedoch nur die sozusagen negative Seite des Einheitsgedankens dar und läßt in keiner Weise erkennen, worin denn positiv gewendet die Sinneinheit des Rechts liegt88. Die zweite Bemerkung bezieht sich auf den inneren Zusammen- [37] hang der Rechtsordnung und sucht diesen in der Beziehung der Normen auf „Teile des Lebens, die durch die mannigfachsten Zusammenhänge und Übereinstimmungen miteinander verbunden sind“89; daß das nicht genügt, wurde oben90 schon eingehend dargelegt. – Darüber hinaus ist aber auch das Mittel unfruchtbar, mit dessen Hilfe Heck die Einheit des Rechts erfassen will. Als allein geeignet zu diesem Zweck sieht er nämlich die Bildung klassifikatorischer „Gruppenbegriffe von immer wachsender Allgemeinheit“ an91. Abstrakte Allgemeinbegriffe sind nun aber durchaus untauglich zur Erfassung der stets konkreten Sinneinheit des Rechts92, und vollends unbrauchbar zu diesem Zwecke sind sie, wenn man ihnen nur die rudimentäre Funktion beläßt, die Heck seinen „Gruppenbegriffen“ zuweist. Diese sollen nämlich nur zwei „Bedürfnissen“ dienen: sie sollen zum einen die „Auffassung“ des Mannigfaltigen „erleichtern“, weil „der menschliche Geist nur eine beschränkte Zahl von Einzelvorstellungen zugleich erfassen“ kann, und sie sollen zum anderen „die Erinnerung erleichtern“93. Es liegt auf der Hand, daß bei einer solchen „Subjektivierung“, um nicht zu sagen „Psychologisierung“ der Bedeutung der Begriffe, die diese zu einem bloßen Hilfsvehikel für die Unzulänglichkeiten menschlicher Auffassungs- und Erinnerungskraft herabsetzt, die objektive Sinneinheit und -folgerichtigkeit des Rechts überhaupt nicht in den Blick kommen kann. So bleibt nur ein letzter Ansatzpunkt: Hecks Hinweis auf die „Fernwirkung“ der gesetzgeberischen Werturteile94, von der es an sich nur noch ein Schritt zur „vorausgesetzten inneren Konsequenz des Rechts“95 wäre. Es steht außer jeder Diskussion, daß in der Herausarbeitung dieses Moments eine der wesentlichen methodologischen Leistungen der Interessenjurisprudenz liegt. Nur erhebt sich die Frage, worin sie denn diese Werturteile erblickt: allein in den Einzelwertungen des Gesetzgebers oder auch in tieferliegenden Schichten des Rechts? Vermutlich a.a.O., S. 87 f. Vgl. in diesem Zusammenhang oben § 1 II 2 bei und mit Fn. 31. 89 a.a.O., S. 149 f.; vgl. auch die Abstellung auf die „Lebenskonflikte“ (statt auf die für ihre Lösung maßgeblichen Kriterien) S. 158. 90 Vgl. Ziff. 5. 91 a.a.O., S. 150. 92 Vgl. näher unten S. 49. 93 Vgl. a.a.O., S. 82 f. 94 Vgl. a.a.O., S. 150; zur „Fernwirkung“ grundlegend Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, S. 230 ff. 95 Vgl. § 1 bei Fn. 27. 87 88
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würde Heck im zweiten Sinne antworten96, und doch trifft der Vorwurf Heglers, die Interessenjurisprudenz vernachlässige „das [38] Dazwischenliegende“, im Grunde zu. Das wird an ihrem methodologischen Rüstzeug wie an ihren praktischen Arbeiten gleichermaßen deutlich. In methodischer Hinsicht kennt die Interessenjurisprudenz im wesentlichen nur die beiden ersten „Stufen“ der Rechtsgewinnung, die der Auslegung und die von Analogie und Restriktion; danach folgt ohne Übergang bereits die richterliche „Eigenwertung“. Der dritten „Stufe“ dagegen, dem Arbeiten mit den „grundlegenden spezifischen Zwecken“97, also den tragenden Grundgedanken eines Rechtsgebietes und den „allgemeinen Rechtsprinzipien“ erkennt sie kaum eine wesentliche Funktion zu; hinter lex und ratio legis stehen für sie unvermittelt die obersten Rechtswerte wie Gerechtigkeit, Billigkeit und Rechtssicherheit. Und was die dogmatisch-praktische Arbeit der Vertreter der älteren Interessenjurisprudenz betrifft, – wer könnte nicht über weite Strecken98 Oertmanns84 Unbehagen darüber nachfühlen, daß sich bei allen „trefflichen und vielfach überzeugenden Einzelbetrachtungen“ kein „einheitliches Gesamtbild“ ergibt? Kein Zweifel: die Stärke der Interessenjurisprudenz lag in der Erörterung des Einzelproblems, nicht in der Herausarbeitung der „großen Zusammenhänge“99, – was übrigens methodengeschichtlich als antithetische Gegenbewegung gegen die Übertreibungen der vorhergehenden Epoche durchaus verständlich ist. So wird man das schroffe Urteil Coings85 alles in allem wohl bestätigen müssen, zumal es allein dem soziologischen Grundansatz der „genetischen Interessentheorie“ entspricht100. [39] 96 So verweist er Gesetzesauslegung, a.a.O., S. 231 f. z. B. auf die Fernwirkung des Prinzips der Gleichheit im bürgerlichen Recht; doch ist es wohl kein Zufall, daß Heck hier zwar keine Einzelwertung, dafür aber mit dem Gleichheitssatz einen der obersten Rechtswerte und nicht ein „dazwischenliegendes” Prinzip gewählt hat, vgl. dazu sogleich im Text. 97 Vgl. Hegler, a.a.O. (wie Fn. 83). 98 Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Man denke nur an die noch heute methodisch wie inhaltlich in weiten Teilen vorbildlichen Arbeiten von Müller-Erzbach über die Gefährdungshaftung oder von Stoll über die Leistungsstörungen. 99 Heck verweist zwar gegenüber den Angriffen von Oertmann und Hegler u. a. darauf, daß er in seinem Sachenrechtslehrbuch einen Allgemeinen Teil vorangestellt habe, doch wird gerade in diesem Allgemeinen Teil m. E. sehr wenig von der „inneren Sinneinheit“ unseres Sachenrechts und den dieses tragenden Grundprinzipien deutlich. Man könnte Heck im Gegenteil erwidern, es sei kein Zufall, sondern hänge eng mit dem Einheits- und Systemverständnis der Interessenjurisprudenz zusammen, daß die großen Lehrbücher des Allgemeinen Teils des bürgerlichen Rechts durchweg nicht von typischen Interessenjuristen stammen, sondern seit v. Tuhr über Nipperdey bis Flume und Larenz von Wissenschaftlern, deren Denken weit über die – alles in allem doch verhältnismäßig engen – methodologischen Grenzen der Interessenjurisprudenz hinausgeht; in der Tat dürften sich diese Grenzen nirgends so deutlich zeigen wie gegenüber den Anforderungen des „Allgemeinen Teils“. 100 Vgl. in diesem Zusammenhang auch oben Fn. 74. Folgerichtig übrigens Ehrlich, Logik, a.a.O., wenn er von seiner soziologischen Ausgangsposition her zu dem Ergebnis kommt, eine Einheit des Rechts als Einheit seiner Normen gäbe es nicht und fortfährt: „Für die einzige
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b) Die Schwächen des Systembegriffs der Interessenjurisprudenz Mit diesen Ausführungen über den Gedanken der Einheit in der Interessenjurisprudenz ist die Voraussetzung geschaffen, um auch ein Urteil über ihren Systembegriff zu fällen: er ist sehr wenig geeignet, die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung zu erfassen. Ein „System von Konfliktsentscheidungen“ sagt nämlich über die Sinneinheit des Rechts so gut wie nichts aus, mag Heck auch die Notwendigkeit betonen, „die Übereinstimmungen und die Verschiedenheiten bei den Konfliktsentscheidungen“ herauszuarbeiten101. Denn die tragenden Grundgedanken z. B. unseres Privatrechts, die sein System bilden, wie die Prinzipien der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung, des Vertrauensschutzes usw.102, sind nicht mit den Konfliktsentscheidungen identisch, sondern liegen diesen zugrunde, geben ihnen die „Sinnmitte“ und würden im übrigen in ihrer Substanz mißverstanden, wenn man sie auf bloße „Konfliktsentscheidungen“ reduzieren wollte103: sie würden ihres rechtsethischen Gehalts beraubt. – So zeigt sich denn auch an den Stellungnahmen Hecks zu einzelnen praktischen Systemproblemen, wie fremd ihm im Grunde der Zusammenhang zwischen dem System und dem Gedanken der Sinneinheit des Rechts war. Nur ein Beispiel sei an dieser Stelle104 herausgegriffen, das der „Wertpapiertheorien“, das Heck selbst stets als besonders typisch für sein Systemverständnis bezeichnet hat. Heck sieht als entscheidend an, daß die geltenden Rechtssätze aus den Lebensbedürfnissen hervorgegangen sind, und will daher den ganzen Theorienstreit auf eine bloße „Formulierungsfrage“ reduzieren105 mit der Folge, daß sich „in großem Umfang die Möglichkeit verschieden lautender, aber gleichberechtigter Formulierungen, eine „Äquivalenz wissenschaftlicher Konstruktionen“ ergibt106. Kaum irgendwo ist das ein größeres Mißverständnis als hier. In Wahrheit geht es um nicht weniger als um die Wahrung der Sinneinheit unseres Privatrechts, nämlich um die Frage, ob für ein wesent- [40] liches Teilgebiet das sonst allgemein herrschende Vertragsprinzip wissenschaftliche, die historische Auslegung“ – das entspricht genau der Ansicht Hecks! – „ist jeder Rechtssatz eine Individualität, ein selbständiges Wesen, das sein eigenes Leben lebt und seine eigene Geschichte hat“ (S. 137). Von dieser Grundlage aus kann das Recht eine Einheit in der Tat „nur im Zusammenhange der Gesellschaft, in der sie (sc.: die Rechtssätze) wirken“ haben (vgl. a.a.O., S. 146). 101 Vgl. a.a.O., S. 150. 102 Vgl. näher unten S. 47 f. und 53 ff. 103 was Heck auch nicht tut; er übergeht sie vielmehr so gut wie ganz. 104 Vgl. ferner unten § 5 III. 105 Vgl. Grundriß des Schuldrechts, 1929, § 137. 106 Vgl. a.a.O., S. 473, Anm. 2 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf § 137. Dagegen mit Recht Stoll, a.a.O., S. 117 mit Fn. 2 (vgl. auch S. 110) dessen Anliegen Heck in seiner Erwiderung (Begriffsbildung, a.a.O., S. 211) nicht gerecht wird, weil er ganz in dem Grundfehler seiner kausalen Betrachtungsweise befangen bleibt; ebenso unbefriedigend ist, was Heck, a.a.O., S. 100 ff. gegen die völlig berechtigten Angriffe Lehmanns vorbringt, vgl. dazu auch unten S. 96 f.
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zugunsten der Möglichkeit einseitiger Verpflichtungen einheitsgefährdend durchbrochen werden soll, oder ob statt dessen einheitswahrend das Vertragsprinzip anerkannt und lediglich durch das auch sonst weite Gebiete durchdringende Rechtsscheinprinzip in seiner Verbindung mit dem ebenfalls zu den Grundlagen zählenden Prinzip der Selbstverantwortung ergänzt werden soll. In engem Zusammenhang damit steht das Unverständnis Hecks dafür, daß Systementscheidungen Wertungen in sich schließen, worauf noch eingehend zurückzukommen sein wird107. So vermag der Systembegriff der Interessenjurisprudenz alles in allem nicht völlig zu befriedigen, doch ist andererseits zuzugeben, daß es die Kritik wegen mancher Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten in den Stellungnahmen ihrer Anhänger nicht leicht hat und daß auch die vorstehenden Ausführungen nicht den Anspruch auf eine vollständige Klärung dieser methodengeschichtlich hoch interessanten Frage108 erheben können. Darüber hinaus aber ist zu betonen, daß die Interessenjurisprudenz in jedem Falle wertvolle Vorarbeit auch auf dem Gebiet der Systemproblematik geleistet109 und vor allem mit dem Gedanken des „inneren“ Systems und dem Hinweis auf dessen teleologischen Charakter110 wesentliche Ansatzpunkte geschaffen hat, die es aufzunehmen und weiterzuführen gilt111. II. Die Entwicklung des Systembegriffs aus dem Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit der Rechtsordnung Die bisherigen kritischen Ausführungen haben zugleich auch weitgehend die Grundlagen für die Entwicklung eines Systembegriffs ge- [41] legt, der geeignet ist, die innere Folgerichtigkeit und Einheit der Rechtsordnung zu erfassen.
Vgl. unten § 5 III. Völlig unbefriedigend ist in dieser Hinsicht leider die unlängst erschienene Schrift von Edelmann, Die Entwicklung der Interessenjurisprudenz, 1967; allenfalls kann man die Ausführungen S. 102 f. heranziehen, an denen jedoch höchstens das Kuriosum bemerkenswert ist, daß Edelmann ausgerechnet die Kommentierung des § 242 BGB durch Weber bei Staudinger unter Berufung auf ihren ungewöhnlichen Umfang (!) als Beleg für die Bemühungen der Rechtswissenschaft um „systematische Konstruktion“ anführt (oder soll das Ironie sein?). 109 Dem heute vorherrschenden und auch in dieser Arbeit vertretenen Systemverständnis dürfte übrigens Stoll wesentlich näher stehen als Heck (vgl. Stoll, a.a.O., S. 77 f., 96, 110), wie denn überhaupt Stolls Gedanken in mancher Hinsicht zukunftsweisender waren als die Hecks und wie es auch wohl nicht zufällig Stoll war, der den Ausdruck „Wertungsjurisprudenz“ geprägt (vgl. a.a.O., S. 67, Fn. 1 und S. 75 Fn. 5) und damit der heutigen Zivilrechtsdogmatik das methodologische Stichwort gegeben hat. 110 Vgl. Heck, a.a.O., S. 147, 155, 160 und öfter (unter Bezugnahme auf Hegler). 111 Zum teleologischen System vgl. sogleich im Text unter II 1. 107 108
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1. Das System als axiologische oder teleologische Ordnung Da diese entsprechend ihrer Ableitung aus dem Gerechtigkeitsgebot112 wertungsmäßiger Natur ist, so kann auch das ihr entsprechende System nur eine axiologische oder teleologische Ordnung sein, – wobei hier teleologisch nicht in dem engeren Sinn der bloßen Mittel-Zweckverknüpfung113, sondern im weitesten Sinne jeder Zweck- und Wertverwirklichung gemeint ist, also etwa in dem Sinne, in dem man die „Wertungsjurisprudenz“ auch mit „teleologischer“ Jurisprudenz gleichsetzt. Daß ein solches teleologisches System überhaupt möglich ist, versteht sich nun allerdings nicht von selbst. So dürfte im Gegenteil z. B. die Begriffsjurisprudenz davon ausgegangen sein, daß es nur entweder ein logisches oder überhaupt kein System geben könne. Und Stammlers Beschränkung auf die „reinen” Grundbegriffe und sein resignierender Verzicht gegenüber einer Systematisierung einer bestimmten positiven Rechtsordnung hatte wohl nicht zuletzt in diesem Verständnis des Systembegriffs seinen Grund114. Auch Walther Burckhardt unterschied noch 1936 scharf zwischen der „logischen“ und der „ethischen Richtigkeit“ des Rechts und beschränkte das System darauf, die erstere zu erfassen115. Schließlich sei aus jüngster Zeit Ulrich Klug erwähnt, der die Bedeutung des Systemgedankens als wesentlichen Beweis für das Gewicht formal-logischen Denkens in der Jurisprudenz ansieht; denn schon „der Begriff des Systems selbst ist ein spezifisch logischer Terminus“ und „nur die Logik vermag zu bestimmen, wo überhaupt ein echtes System vorliegt“116. [42] Diese Beschränkung des Systembegriffs auf das formal-logische System entbehrt indessen nicht einer gewissen Willkür117. Soweit es sich lediglich um Fragen Vgl. oben § 1 II 2. Auch in diesem Sinn wird der Ausdruck nicht selten gebraucht; vgl. z. B. Binder, ZHR 100, S. 62 f.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 161 f. und Stud. Gen. 10 (1957) S. 178 f. 114 Stammler sieht sein System als ein formal-logisches an, das aus abstrakten Allgemeinbegriffen gebildet ist; die Möglichkeit, ein „inhaltlich gefülltes“ System einer bestimmten Rechtsordnung zu entwerfen, lehnt er ausdrücklich ab. Vgl. Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1923, S. 222 ff. und Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928, S. 278 ff. 115 Vgl. Methode und System des Rechts, 1936, S. 121 ff. und 241 ff. 116 Vgl. a.a.O., S. 5; vgl. ferner z. B. Sigwart, a.a.O., S. 695: „Die Systematik hat die Aufgabe, die Totalität der in irgendeinem Zeitpunkt erreichten Erkenntnisse als ein Ganzes darzustellen, dessen Teile durchgängig in logischen Verhältnissen verknüpft sind“ (Hervorhebungen im Original), – wobei allerdings die Beschränkung auf das System der Erkenntnisse (im Gegensatz zum objektiven System) zu beachten ist. – Für eine Gleichsetzung von axiomatischem System und System überhaupt Arndt, NJW 63, S. 1277 f. 117 In der Tat wird denn auch des öfteren die Möglichkeit eines teleologischen Systems ausdrücklich anerkannt, ohne daß freilich dessen wissenschafts-theoretische Problematik immer gesehen würde. Vgl. z. B. Radbruch, Zur Systematik der Verbrechenslehre, Frank-Festgabe I, 1930, S. 159; Hegler, a.a.O., S. 216 ff.; Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 178 ff.; der Sache nach auch Heck, der in dieser Hinsicht mehrfach ,seine Übereinstimmung mit Hegler ausdrücklich 112 113
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der Terminologie handelt, kann man sich selbstverständlich über die Berechtigung einer derartigen Einengung streiten; als Ausweg böte sich an, mit Coing118 einen engeren und einen weiteren Systembegriff zu unterscheiden, wobei der engere mit dem formal-logischen System identisch wäre, während sich innerhalb des weiteren auch für ein teleologisches System Raum fände. Soweit es dagegen um die Sachproblematik geht, ist die Beschränkung des Systembegriffs auf das formallogische System eine durch nichts erhärtete Hypothese, um nicht zu sagen eine petitio principii. Denn ein System bedeutet ja nichts anderes als den Versuch, die Einheit und Ordnung eines bestimmten Sachgebietes mit rationalen Mitteln zu erfassen und darzustellen, und die Absage an die Möglichkeit eines nicht formallogischen Systems kommt damit der Behauptung gleich, die formale Logik stelle das einzige denkbare Mittel zu diesem Zwecke dar. Eine solche Einengung des Bereichs, innerhalb dessen rational geleitetes Denken und Argumentieren möglich ist119, muß aber gerade [43] der Jurist120 als unerträglich zurückweisen; denn da die eigentlichen Schwierigkeiten juristischen Denkens sich nicht mit den Mitteln der formalen Logik bewältigen lassen121, läge darin ein Todesurteil nicht nur über die Jurisprudenz als Wissenschaft, sondern ganz allgemein über jeden Versuch, die Rechtsanwendung als ein rational geleitetes Verfahren zu verstehen. Die Urteile betont, vgl. a.a.O., S. 147, 155, 160 und öfter. Dabei wird allerdings der Ausdruck „teleologisch“ z. T. auch in dem oben bei Fn. 113 gekennzeichneten engeren Sinn gebraucht. Auch im nichtjuristischen Schrifttum wird nicht selten von „Wertsystemen“ und dgl. gesprochen, vgl. z. B. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 1951, S. 21 ff., m. Nachw.; Stark, Die Wissenssoziologie, 1960, S. 59 ff., 92 ff., 144 ff., 252 ff. und öfter (vgl. Register unter „Wertsystem“), wo verschiedentlich auch der Terminus „axiologisches System“ verwandt wird, vgl. z. B. S. 93, 146, 252; vgl. in diesem Zusammenhang ferner, wenn auch ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Systemproblematik, Leinfellner, Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, 1965, S. 178 ff. 118 Vgl. Zur Geschichte des Privatrechtssystems S. 9. 119 Ob eine solche Einengung tatsächlich der Konzeption der Anhänger eines formallogischen oder axiomatisch-deduktiven Systems entspricht, ist nicht immer klar ersichtlich. Immerhin verdient es Hervorhebung, daß Klug, a.a.O., der logischen Analyse juristischer Probleme nur die Intuition gegenüberstellt (vgl. Vorwort von 1950). Damit wird die Frage nach der Bedeutung der formalen Logik für die Jurisprudenz nicht beantwortet. Denn die Intuition ist in allen Wissenschaften unerläßlich – sonst könnte es keine wissenschaftlichen Genies geben, und der wissenschaftliche Fortschritt wäre vollständig „fabrizierbar” –, und selbstverständlich kommt daher auch der Jurist nicht ohne „wissenschaftliche Phantasie“ aus; die Frage zielt daher nicht auf die Alternative von formaler Logik und Intuition, sondern auf jenen „Zwischenbereich“, also auf die Möglichkeit und das Gewicht einer nicht formal-logischen, darum aber doch rationalen spezifisch juristischen Methodik, nach dem im Text Gesagten also wohl einer „formalen Teleologik“. An anderen Stellen betont jedoch auch Klug die Notwendigkeit einer teleologischen Ergänzung der formalen Logik nachdrücklich, vgl. die Nachweise oben Fn. 27. 120 Aber auch jeder andere Geisteswissenschaftler und der Philosoph. Die Vielzahl der Versuche, eine wie immer geartete materiale Logik zu schaffen, zeigt deutlich genug, wie stark das Bedürfnis nach einer Ergänzung der formalen Logik durch eine andere Art rationalen Denkens ist. 121 Vgl. eingehend oben S. 22 ff.
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des Juristen wären dann, wie in der Tat nicht selten behauptet wird, im wesentlichen nur am Maßstab irgendeines „Rechtsgefühls“ zu messen, das als solches stets irrational ist und über dessen „Aussagen“ es daher, zumindest gegenwärtig, eine Verständigung, die Anspruch auf ein gewisses Maß an Allgemeinverbindlichkeit erheben könnte, nicht gibt. Anders gesprochen: Wer die Möglichkeit eines teleologischen Systems verneint, leugnet damit zugleich ganz allgemein die Möglichkeit, die Folgerichtigkeit teleologischen Denkens rational zu erfassen122, und damit auch die Möglichkeit, Jurisprudenz in ihrem entscheidenden Bereich überhaupt rational zu betreiben; denn das System im hier verstandenen Sinn ist (soweit es an dieser Stelle zur Diskussion steht123) eben ex definitione nichts anderes als die rationale Erfassung der Folgerichtigkeit rechtlicher Wertungszusammenhänge. Daher muß man, wenn man nicht dem herkömmlichen Verständnis der Jurisprudenz als einem methodisch geleiteten, auf rationaler Argumentation beruhendem Unternehmen eine radikale Absage erteilen will, die Möglichkeit eines axiologischen oder teleologischen Systems zumindest als Hypothese bejahen. Insoweit gilt für den Systemgedanken im besonderen, was Binder für den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz im allgemeinen gesagt hat: so wie Kant nicht gefragt habe, ob es eine Wissenschaft von der Natur gebe, sondern dies vorausgesetzt und es zu begreifen gesucht habe, so müsse man auch zunächst einmal davon ausgehen, „daß es eine Rechtswissenschaft gibt, und nun fragen, was ihr Sinn ist und was ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit begründet”124. In der Tat wäre für die moderne Methodendiskus- [44] sion in der Jurisprudenz (und ganz allgemein in den Geisteswissenschaften) viel gewonnen, wenn man sich diesen – leider zu wenig beachteten – Ausgangspunkt Binders zu eigen machte und, statt beständig die Wissenschaftlichkeit spezifisch geisteswissenschaftlicher Arbeitsweisen, insbesondere hermeneutischen und teleologischen Denkens, in Zweifel zu ziehen, die Besonderheiten dieser Methoden zu begreifen suchte und erst anschließend die Frage des Wissenschaftscharakters stellte125. Die Diskussion 122 Er müßte also z. B. eine rationale Begründung eines jeden Analogieschlusses, die über die bloße Aufhellung seiner formal-logischen Struktur hinausgeht und in den entscheidenden Kern, die Frage nach dem „Passen“ der ratio legis eindringt, für unmöglich erklären. 123 d. h. hinsichtlich des Merkmals der Ordnung, nicht der Einheit. 124 Vgl. Philosophie des Rechts, 1925, S. 836 ff. (837) und Der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, Kantstudien 25 (1921), S. 321 ff., insbesondere S. 352 ff.; eine bemerkenswerte Parallele findet sich (mit Bezug auf die allgemeine, also nicht spezifisch juristische, wissenschaftliche Erfassung von Wertungen) bei Leinfellner, Einführung, a.a.O., S. 180 f. 125 Wobei dann freilich nicht das Wissenschaftsideal des Positivismus zugrunde gelegt werden darf, das hermeneutischem Denken und jeder Art von Teleologik – entsprechend dem ganz anderen Modell, an dem es orientiert ist (nämlich dem der Mathematik und der Naturwissenschaften) – von vornherein nicht gerecht werden kann. Mit Recht ist daher z. B. einer der zentralen Gedanken der Methodenlehre von Larenz die Polemik gegen die alleinige Verbindlichkeit dieses Wissenschaftsbegriffs.
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würde dann alsbald von den beiden Extremen, zwischen denen sie heute meist pendelt, zu jener Mittellage zurückkehren, die allein den spezifischen Aufgaben der Jurisprudenz angemessen ist: von der Unfruchtbarkeit bloßer logischer und logistischer Untersuchungen einerseits126 und der Unverbindlichkeit reiner Topik andererseits127 zu einer Teleologik und Hermeneutik, die mit rationalen Mitteln rational nachprüfbare und daher verbindliche Ergebnisse liefert, – mag auch nicht jener Grad der Stringenz erreicht werden, der für die Naturwissenschaften oder die Mathematik charakteristisch ist. Und steht es denn um die Verifizierbarkeit der fraglichen Hypothese so schlecht? Wohl kaum! So hat z. B. die Literaturwissenschaft – wenn dies Urteil einem Dilettanten (im doppelten Sinne des Wortes) gestattet ist – geradezu verblüffende Fortschritte gemacht und Ergebnisse von höchster Evidenz erreicht, seit sie sich nicht mehr ausschließlich oder auch nur vorwiegend als historische Wissenschaft versteht128, sondern das Kunstwerk selbst in seiner spezifischen Eigengesetzlichkeit, etwa unter dem Stichwort der „werkimmanenten Interpretation“ oder der „Strukturanalyse“, zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht hat und in diesem Sinne eine hermeneutische Wissenschaft geworden ist. Und ähnlich kann die moderne teleologische Jurisprudenz unbestreitbare Erfolge für sich in Anspruch nehmen; man darf den Blick schließlich nicht beständig auf die Generalklauseln gerichtet [45] halten129, sondern muß auch jene Partien einbeziehen, in denen wie z. B. in den „konstruktiven“ Gebieten Sachenrecht, Erbrecht oder Wertpapierrecht in einer Unzahl von Fällen einfach nur das Urteil „falsch“ oder „richtig“ über ein Ergebnis möglich ist und von „vertretbar“ usw. nicht die Rede sein kann. Ähnlich muß man sich die Fülle „zwingender“ Auslegungen, „zwingender“ Analogien, „zwingender“ Restriktionen vor Augen halten und darf nicht allein die Probleme „freier“ (d. h. nicht mehr an gesetzesimmanenten Wertungen orientierter) Rechtsfortbildung zum Kriterium der Verläßlichkeit juristischer Methoden machen. Schließlich kann es doch kein Zufall sein, daß sowohl dem Laien als auch häufig dem Juristen selbst juristisches Denken geradezu als ein Musterfall „logischen“ Denkens erscheint; vergegenwärtigt man sich, daß in Wahrheit nicht formal-logisches, sondern nur teleologisches Denken den spezifischen Problemen der Jurisprudenz gerecht wird und allein ihre Argumentation zu tragen vermag, so wird deutlich, was hinter diesem Urteil eigentlich steht: das Vgl. auch oben S. 22 ff. Vgl. auch unten § 7 II 1 b. 128 Auch hier hat der positivistische Wissenschaftsbegriff schweren Schaden angerichtet. Denn weil außer Naturwissenschaften und Mathematik nur die auf „positive Tatsachen“ gerichtete Geschichtsschreibung als Wissenschaft anerkannt wurde, glaubte man, Literaturwissenschaft sei nur als historische Wissenschaft möglich, und verbannte daher gerade das Spezifische, das ein Kunstwerk ausmacht, aus dem Bereich wissenschaftlicher Untersuchung. 129 Und auch deren Konkretisierung hat z. T. erstaunliche Fortschritte gemacht, – man denke nur z. B. an die Arbeiten Sieberts und Wieackers zu § 242 BGB. 126 127
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Erlebnis einer besonderen Evidenz der Folgerichtigkeit und rationalen Überzeugungskraft axiologischen und teleologischen Denkens. Mag dessen Struktur auch noch wenig aufgehellt sein, so wird man alles in allem doch sagen dürfen: die Hypothese, daß die Folgerichtigkeit juristisch-axiologischen oder teleologischen Denkens rationaler Art und daher rational begründbar ist und daß sie sich somit in einem entsprechenden System erfassen läßt, ist hinreichend erhärtet, um als wissenschaftliche Prämisse brauchbar zu sein. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit juristischen Denkens überhaupt und insbesondere die Voraussetzung einer rational geleiteten und rational überprüfbaren Erfüllung des Gerechtigkeitsgebotes, Gleiches gleich und Ungleiches nach dem Maße seiner Verschiedenheit ungleich zu behandeln. Dabei bedarf abschließend allerdings eine Besonderheit noch ausdrücklicher Hervorhebung: wenn hier beständig von der Folgerichtigkeit des Wertens die Rede ist, so ist das so wörtlich gemeint, wie es gesagt ist. Es geht also nicht um die materiale „Richtigkeit“, sondern allein um die formale „Folgerichtigkeit“ einer Wertung, – wobei „formal“ hier selbstverständlich nicht i. S. v. „formal-logisch“ zu verstehen ist, sondern in dem Sinne, in dem man auch von dem „formalen“ Charakter des Gleichheitssatzes spricht. Anders gesprochen: Aufgabe des teleologischen Denkens ist, soweit es in diesem Zusammenhang in Betracht kommt, nicht, eine irgendwie a priori inhaltlich „richtige“ Regelung zu finden – etwa i. S. des Naturrechts oder i. S. der Lehre vom „richtigen [46] Recht“ –, sondern allein, eine einmal gesetzte (primäre) Wertung in allen ihren Konsequenzen zu Ende zu denken, sie auf vergleichbare Fälle zu übertragen, Widersprüche mit anderen, schon gesetzten Wertungen zu beseitigen und Widersprüche bei der Setzung neuer Wertungen130 zu verhüten. Und dies formale Folgerichtigkeit zu gewährleisten, ist dementsprechend auch die Aufgabe des „teleologischen“ Systems131, ganz im Einklang mit seiner Rechtfertigung aus dem „formalen“ Gleichheitssatz. 2. Das System als Ordnung „allgemeiner Rechtsprinzipien“ Mit der Charakterisierung des Systems als teleologischer Ordnung ist indessen die zweite wesentliche Frage noch nicht beantwortet: die nach den tragenden Elementen, in denen die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung sichtbar wird. Geklärt ist allerdings auch insoweit schon, daß es sich dabei um Wertungen handeln muß, doch kann dies noch nicht die abschließende Antwort sein, weil sich sogleich die weitere Frage erhebt, welche Wertungen gemeint sind: alle oder nur bestimmte? Wollte man im ersteren Sinne entscheiden, so würde das Sei es im Wege der Gesetzgebung, sei es im Wege der Rechtsfortbildung. Zur Frage, inwieweit damit zugleich die materiale Gerechtigkeit verwirklicht wird, vgl. unten § 5 IV 3. 130 131
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zu einem Systembegriff führen, der Hecks „System der Konfliktsentscheidungen“ sehr ähnlich wäre und dem gegenüber daher auch dieselben Bedenken bestünden: er könnte die Einheit gerade nicht sichtbar machen. Denn es geht ja darum, Elemente zu finden, die die inneren Zusammenhänge in der Fülle der Einzelwertungen deutlich machen und die daher unmöglich mit deren bloßer Summe identisch sein können. Vielmehr muß man sich an dieser Stelle noch einmal das eingangs132 herausgearbeitete Hauptcharakteristikum des Einheitsgedankens in Erinnerung rufen: die Rückführung der Mannigfaltigkeit des einzelnen auf einige wenige tragende Grundgedanken. Das aber bedeutet, daß man bei der Aufdeckung des teleologischen Systems nicht bei den „Konfliktsentscheidungen“ und den Einzelwertungen stehen bleiben darf, sondern zu den tiefer liegenden Grundwertungen, also zu den allgemeinen Prinzipien einer Rechtsordnung vordringen muß; es gilt also, hinter lex und ratio legis die übergreifende ratio iuris aufzuspüren. Denn nur so können die einzelnen Wertungen aus ihrer scheinbaren Isoliertheit befreit und in den gesuchten „organischen“ Zusammenhang gebracht werden, nur so wird jene Stufe der Allgemeinheit erreicht, auf der die innere Einheit der Rechtsordnung im eingangs132 [47] gekennzeichneten Sinn erst sichtbar wird. Das System läßt sich daher als eine axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien definieren133, Vgl. § 1 I. Zur systembildenden Funktion der Prinzipien vgl. vor allem Esser, Grundsatz und Norm, a.a.O., S. 227 f. und 323 ff. Im übrigen dürfte dem hier vertretenen Systembegriff der von Coing und der von Larenz am nächsten stehen (wichtige Ansätze aber schon bei Stoll, a.a.O., S. 77 f. und 96), vgl. vor allem Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 275 ff., JZ 1951, S. 481 ff. (484 f.), Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens, S. 9 ff. und DölleFestschrift, S. 25 ff.; Larenz, Festschrift für Nikisch, 1958, S. 299 ff. und Methodenlehre, S. 133 ff. und 367 ff. Allerdings sehen beide das System nicht ausschließlich in dem Zusammenhang der allgemeinen Rechtsprinzipien, sondern z. T. auch in Lebenszusammenhängen, Werten, Instituten usw. (vgl. Coing, JZ, a.a.O., S. 485, Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 278; Larenz, a.a.O., S. 136 f. und S. 367) Darin dürfte jedoch nur ein verhältnismäßig geringfügiger Gegensatz zu der im Text vertretenen Auffassung liegen. Was zunächst die Bedeutung der Lebenszusammenhänge angeht, so ist scharf zwischen dem äußeren und dem inneren System zu trennen: für den Aufbau des äußeren sind sie von großer unmittelbarer Bedeutung, für den Aufbau des inneren dagegen können sie nur mittelbar über die „Natur der Sache“ und die aus dieser vom Recht übernommenen, also in eine spezifisch rechtliche Form umgesetzten Ordnungs- und Wertungsgesichtspunkte, d. h. aber eben doch über die Rechtsprinzipien relevant werden. Ähnliches gilt für die „sachlogischen Strukturunterschiede“, etwa den zwischen Schuld- und Sachenrecht; auch hier kommt es darauf an, zwischen äußerem und innerem System zu trennen und für das letztere nur jene Elemente heranzuziehen, hinter denen sich materiale Wertungen verbergen. Zu den übrigen Elementen, wie Begriffen, Rechtsinstituten oder Werten, vgl. sogleich im Text unter a). – Ein System, in dem alle oder mehrere dieser Elemente gleichrangig enthalten sind, in dem also z. B. Begriffe, Institute, Werte, Lebenszusammenhänge usw. auf derselben Stufe neben den Prinzipien stehen, scheint mir allerdings wenig sinnvoll (vgl. aber Coing und Larenz, a.a.O.). Soweit dabei nicht schon das äußere und das innere System unzulässig vermengt werden, würde es sich jedenfalls um die Gleichstellung von Elementen handeln, die auf verschiedenen Ebenen 132 133
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wobei in dem Merkmal der teleologischen Ordnung mehr134 das Element der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit, in dem Merkmal der allgemeinen Prinzipien mehr134 das der inneren Einheit angesprochen ist. Wann ein Prinzip als „allgemein“ zu gelten hat, läßt sich dabei nicht von vornherein festlegen; auch handelt es sich hier um ein durchaus relatives Kriterium. Für unsere gesamte Rechtsordnung wird man z. B. nicht alle die Prinzipien als „einheitsstiftend“ und damit system- [48] tragend ansehen können, denen diese Funktion für das Privatrecht zukommt, für dieses wiederum sind nicht alle die Prinzipien systemtragend, die es etwa für das Schuldrecht, das Sachenrecht, das Erbrecht usw. sind, und innerhalb dieser Gebiete lassen sich weiter kleinere Untersysteme mit eigenständigen „allgemeinen“ Prinzipien bilden, etwa das System der unerlaubten Handlungen, der ungerechtfertigten Bereicherung, der Leistungsstörungen oder der Vertrauenshaftung. Jeweils geht allenfalls ein Teil der das engere System tragenden Prinzipien als „allgemein“ in das weitere ein, und umgekehrt läßt sich regelmäßig das engere System nur z. T. aus den Prinzipien des weiteren aufbauen135. So ändert sich die „Allgemeinheit“ eines Prinzips mit der Höhe des Blickpunktes; letztlich entscheidend ist immer die Frage, welche Rechtsgedanken für die innere Sinneinheit des gerade in Frage stehenden Teilgebietes als konstitutiv anzusehen sind, so daß dessen Ordnung durch eine Änderung eines dieser Prinzipien in ihrem „Wesensgehalt“ verändert würde. Für das geltende Zivilrecht wären wohl – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – beispielsweise die Prinzipien der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung, des Verkehrs- und Vertrauensschutzes, der Achtung der Persönlichkeits- und Freiheitssphäre des anderen und der Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung als systemtragend anzuerkennen136. Die Bedeutung der allgemeinen Rechtsprinzipien für die Systembildung bedarf indessen in einigen Punkten noch der näheren Erläuterung.
liegen. Man mag zwar u. U. auch das innere System aus Werten, Begriffen, Instituten usw. aufbauen können (vgl. dazu sogleich im Text unter a)), aber man sollte es dann jeweils nur auf eines dieser Elemente gründen und nicht beständig die Ebene wechseln. Man könnte auf diese Weise u. U. mehrere in verschiedenen Schichten hintereinander oder in Stufen übereinander liegende Systeme entwickeln, die sich weitgehend ineinander umformulieren ließen, aber es blieben eben verschiedene („wissenschaftliche“) Systeme, d. h. verschiedene Arten, das („objektive“) System der Rechtsordnung zu sehen und zu erfassen (zum Verhältnis zwischen dem „objektiven“ System und seiner Formulierung im „wissenschaftlichen“ System vgl. oben S. 13). 134 Vgl. oben § 1 I bei und mit Fn. 13 und 14. 135 Die Prinzipien sind i. d. R. nicht sachhaltig genug, um auch für das engere Ordnungsgebiet alle maßgeblichen Wertgesichtspunkte zu enthalten, vgl. eingehend unten S. 57 f. 136 Eine Darstellung des Inhalts des Systems des heutigen Privatrechts ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung (vgl. dazu vor allem Coing, Dölle-Festschrift, a.a.O.); hier geht es vielmehr nur um die methodologische Seite der Problematik, und die im Text angeführten Prinzipien dienen daher nur der beispielhaften Veranschaulichung.
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a) Die Vorzüge der „allgemeinen Rechtsprinzipien“ bei der Systembildung gegenüber Normen, Begriffen, Rechtsinstituten und Werten Zunächst ist es nicht ohne weiteres selbstverständlich, daß das System gerade aus Prinzipien zusammengesetzt sein muß. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob es nicht auch auf anderen „allgemeinen“ Elementen, z. B. auf Normen, Begriffen, Rechtsinstituten oder Werten beruhen könne. Die Antwort hierauf ist nicht einfach und dürfte nicht zuletzt durch Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit und des Blickwinkels bestimmt sein. Was zunächst ein System von Normen angeht, so ist dies insofern wenig sinnvoll, als ja gerade der die Normen verbindende Zusam- [49] menhang gesucht werden soll und dieser wohl kaum seinerseits ebenfalls in einer Norm bestehen kann; in der Tat lassen sich die sinn- und einheitsstiftenden Rechtsgedanken denn auch allenfalls zu geringem Teil in der Form von Normen, die ja nach Voraussetzungen und Folgen tatbestandlich einigermaßen fest abgegrenzt sein müßten, formulieren und drängen vielmehr nach der flexibleren Fassung des Prinzips. Was sodann ein System von allgemeinen Rechtsbegriffen betrifft, so ist dies gewiß nicht nur als rein formales System allgemeiner Grundbegriffe denkbar137, sondern wohl auch als teleologisch „gefülltes“ System einer bestimmten Rechtsordnung. Allerdings müßten die Begriffe dann teleologische Begriffe oder „Wertbegriffe“138 sein; auch dürften für die Systembildung wohl kaum die abstrakten Allgemeinbegriffe in Betracht kommen139, sondern nur die konkreten Allgemeinbegriffe i. S. Hegels140, da allein letztere geeignet erscheinen, die die innere Einheit ausmachende Sinnfülle in sich aufzunehmen141. Wie dem [50] aber auch sei, – daß ein SysVgl. dazu oben § 2 I 2. Den Terminus verwendet Coing, Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 272. 139 Vgl. Larenz, a.a.O., S. 139 f. 140 Zur Bedeutung des konkret-allgemeinen Begriffs für die Jurisprudenz grundlegend Larenz, a.a.O., S. 353 ff. 141 Ein System konkret-allgemeiner Begriffe hat Binder in seiner nachgelassenen „Wissenschaftslehre“ gefordert, vgl. S. 351 ff. (355) des im Besitz des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik der Universität Köln befindlichen Manuskripts. In seiner „Philosophie des Rechts“ von 1925 spricht Binder von einem System „empirischer Allgemeinbegriffe“, vgl. S. 921 ff. (924), die er den „reinen“ Rechtsbegriffen gegenüberstellt; „empirisch“ sind diese Begriffe dabei insofern, als sie aus „dem Inhalt der einzelnen geschichtlich gegebenen Rechtsordnungen“ entwickelt werden müssen. Das Verhältnis zwischen diesen „empirischen Allgemeinbegriffen“ und den „historischen Individualbegriffen“ (i. S. Rickerts), die Binder sonst als maßgeblich für die Rechtswissenschaft ansieht (vgl. insbesondere a.a.O., S. 841 ff. und 888 ff.), wird dabei freilich nicht recht klar (zu den Schwierigkeiten der Begriffsbildung Binders vgl. auch Larenz, a.a.O., S. 106 f.). Die Lösung dürfte Binder schließlich in Hegels konkret-allgemeinem Begriff gesehen haben, an den er auch in der „Philosophie des Rechts“ in diesem Zusammenhang schon gelegentlich angeknüpft hatte (S. 842, vgl. auch S. 888). – Darauf, daß die Begriffe teleologischer Art sein müssen, hat Binder wie kaum ein anderer unermüdlich hingewiesen, vgl. z. B. a.a.O., S. 886, 890, 897 ff. 137 138
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tem von Rechtsbegriffen möglich ist, heißt noch nicht, daß es auch zweckmäßig ist. Und dies ist für die hier gestellte Aufgabe in der Tat zu bezweifeln. Denn das System soll ja die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und die innere Einheit des Rechts deutlich machen, und dazu sind Begriffe sehr schlecht geeignet. Sie enthalten nämlich auch dann, wenn sie richtig gebildet sind, die Wertung lediglich mittelbar, sozusagen verschlüsselt, während das Prinzip sie klar offenlegt; so wird die Wertung z. B. im Prinzip der Selbstbestimmung wesentlich unmittelbarer sichtbar als im (zugeordneten) Begriff des Rechtsgeschäfts, und welche Wertung gar der Begriff des subjektiven Rechts in sich schließt, ist nur durch verhältnismäßig schwierige Überlegungen festzustellen. Man kann also sagen: Im (richtig gebildeten) Begriff ist die Wertung impliziert, das Prinzip dagegen macht sie explizit, und darum ist dieses besser geeignet, die Wertungseinheit des Rechts wiederzugeben. Außerdem sollte man auch nicht vergessen, daß keineswegs zu allen Grundwertungen unserer Rechtsordnung bereits die entsprechenden Begriffe herausgearbeitet sind und daß dies auch wesentlich schwieriger sein wird als die Formulierung allgemeiner Rechtsprinzipien. – Im übrigen bedarf es wohl kaum der Hervorhebung, daß deshalb die Begriffsbildung nicht überflüssig ist. Sie ist im Gegenteil zur Vorbereitung der Subsumtion unerläßlich, und daher sollte den Prinzipien ein korrespondierendes System von Rechtsbegriffen zugeordnet werden. Nur darf man nie vergessen, daß diese teleologischer Natur sind und daß daher im Zweifelsfall immer der Rückgriff auf die in ihnen enthaltene Wertung und das heißt auf das entsprechende Prinzip erforderlich ist; ist z. B. unklar, ob ein bestimmter Akt als Rechtsgeschäft oder eine geschützte Rechtsposition als subjektives Recht zu qualifizieren ist, so muß stets gefragt werden, ob im fraglichen Falle die Regelung kraft privatautonomer Selbstbestimmung eintritt bzw. ob die bei anerkannten subjektiven Rechten geltenden Wertungen auch hier zutreffen. Ähnliches gilt auch gegenüber einem System von Rechtsinstituten142. Auch diese machen nämlich die einheitsstiftende Wertung keineswegs unmittelbar sichtbar. Vor allem aber beruhen sie regelmäßig nicht auf einer einzigen Wertung, sondern Larenz meint, das System des konkret-allgemeinen Begriffs sei das der Rechtsphilosophie, nicht das der Rechtsdogmatik (vgl. S. 367), d. h. also nicht das einer bestimmten Rechtsordnung. Ob das zutrifft und ob es auch nur folgerichtig in Larenz’ sonstige Konzeption paßt, erscheint mir zweifelhaft. Die Begründung, die Wissenschaft vom geltenden Recht bedürfe zur Erfüllung ihrer Aufgaben der abstrakt-allgemeinen Begriffe wegen ihrer Subsumtionsfähigkeit, ist jedenfalls wohl kaum zwingend. Denn das ist zwar richtig, doch ist es nicht Aufgabe gerade des Systems, die Möglichkeit unmittelbarer Subsumtion zu bieten; auch Prinzipien, Rechtsinstiute oder gar Lebenszusammenhänge sind ja durchaus nicht subsumtionsfähig. Im Gegenteil: subsumtionsfähig sind Normen, das System aber soll die „hinter“ oder „in“ diesen bestehenden Sinnzusammenhänge aufdecken und kann daher wohl seinerseits gar nicht subsumtionsfähig sein. 142 Dieses entspricht vor allem dem Systembegriff Savignys, vgl. System des heutigen römischen Rechts, 1840, § 5 (S. 10 f.); zum „Institut“ als systembildenden Faktor vgl. im übrigen Esser, Grundsatz und Norm, a.a.O., S. 324 ff. und Larenz, Methodenlehre, a.a.O., S. 137 ff.
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auf der Verbindung mehrerer verschiedener Rechtsgedanken: so ist der Regelungskomplex der Privatautonomie, den man wohl als „Institut“ unseres Privatrechts ansehen darf, nur aus dem Zusammenwirken der Prinzipien der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung und des Verkehrs- und Vertrauens- [51] schutzes zu verstehen143, und eine ähnliche „Verschlingung“ verschiedener Grundgedanken läßt sich wohl nahezu bei allen „Rechtsinstituten“ nachweisen. Dann aber kann ein aus ihnen gebildetes System die Einheit der Rechtsordnung höchstens bruchstückhaft zum Ausdruck bringen, weil der auch zwischen den Instituten noch bestehende tiefere Zusammenhang so nicht sichtbar wird; im Gegenteil: daß für die verschiedenen Institute z. T. dieselben Prinzipien – etwa das der Selbstverantwortung oder des Schutzes der Freiheitssphäre – konstitutiv sind144, zeigt, daß man bei der Suche nach der Einheit des Rechts letztlich doch immer wieder auf die allgemeinen Rechtsprinzipien zurückverwiesen wird, – wobei das System sich freilich nicht aus deren bloßer zusammenhangloser Aufzählung ergibt, sondern durch ihr Zusammenspiel und ihre innere Rangordnung mitkonstituiert wird145 und insoweit eine den Instituten verhältnismäßig ähnliche Komponente erhält. – Derselbe Einwand wie gegenüber einem System von Instituten gilt übrigens auch gegenüber einem solchen aus Begriffen, da auch diese meist mehrere Wertungsaspekte in sich schließen; so trifft, was oben zum Institut der Privatautonomie gesagt wurde, ganz ähnlich auf den Begriff des Rechtsgeschäfts zu, und auch im Begriff der unerlaubten Handlung und seinen einzelnen Elementen (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld) verbergen sich mehrere voneinander verschiedene Wertungen oder Prinzipien. Am nächsten käme dem hier gemachten Vorschlag wohl der Versuch, das System als Ordnung von Werten zu verstehen146. Auch das wäre selbstverständlich grundsätzlich möglich; denn letzten Endes beruht jede Rechtsordnung auf einigen obersten Werten, deren Schutz sie dient. Gleichwohl sprechen auch hiergegen gute Gründe. Zwar ist der Übergang vom Wert zum Prinzip außerordentlich fließend, doch wird man, wenn man überhaupt eine einigermaßen praktikable Unterscheidung einführen will, sagen können, daß das Prinzip bereits eine Stufe weiter konkretisiert ist als der Wert: anders als dieser enthält es schon die für den Rechtssatz charakteristische Zweiteilung in Tatbestand und Rechtsfolge147. So steht etwa hinter Vgl. näher unten S. 55 f. Vgl. auch Larenz, a.a.O., S.139: „... die durch die einzelnen Institute hindurchgreifenden, den Sinnzusammenhang eines umfassenden Normen-komplexes begründenden rechtsethischen Prinzipien ...” 145 Vgl. näher unten S. 53 und 55 f. 146 Vgl. dazu vor allem Coing, a.a.O. (wie Fn. 133). 147 Vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 123 f. Das bedeutet freilich nicht, daß es auch im übrigen schon die Form eines Rechtssatzes aufwiese; von diesem unterscheidet es sich vielmehr dadurch, daß es regelmäßig noch nicht hinreichend konkretisiert ist, um eine Subsumtion zu erlauben, und daher der „Normativierung“ bedarf, vgl. eingehend a.a.O., S. 160 ff. Dies ändert 143 144
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dem Prinzip der rechts- [52] geschäftlichen Selbstbestimmung der Wert der Freiheit; während aber dieser allein noch keinen Hinweis auf die daraus abzuleitenden Rechtsfolgen enthält, sagt jenes darüber bereits etwas verhältnismäßig Konkretes aus, nämlich daß der Schutz der Freiheit insoweit durch die Legitimation des einzelnen zur privatautonomen Regelung seiner Beziehungen zu anderen gewährleistet wird. Das Prinzip hält also gegenüber dem Wert einerseits und dem Begriff andererseits gerade die richtige Mitte: jenem hat es voraus, daß es schon verfestigt genug ist, um bereits eine Aussage über die Rechtsfolge zu enthalten und damit eine spezifisch rechtliche Einkleidung zu besitzen, diesem hat es voraus, daß es noch nicht verfestigt genug ist, um die Wertung zu verdecken. Alles in allem handelt es sich freilich, das sei zur Vermeidung von Mißverständnissen noch einmal wiederholt, vorwiegend um eine Frage der Zweckmäßigkeit und des Blickwinkels; ein System teleologischer Begriffe, rechtlicher Institute oder oberster Werte müßte einem System von Prinzipien jedenfalls sehr stark ähneln, eines müßte sich weitgehend, wenn auch nicht vollständig, in das andere umformulieren lassen. b) Die Funktionsweise der „allgemeinen Rechtsprinzipien“ bei der Systembildung Erweist sich die Entscheidung, als einheitstragende Elemente die allgemeinen Rechtsprinzipien zu wählen, somit als gut begründbar, so ergibt sich als weitere Aufgabe, nähere Aussagen über die Art und Weise zu machen, in der diese ihre systemtragende Funktion erfüllen. Dabei lassen sich vier Charakteristika herausstellen: die Prinzipien gelten nicht ohne Ausnahmen und können zueinander in Gegensatz [53] oder Widerspruch148 treten; sie erheben nicht den Anspruch der Ausschließlichjedoch entgegen der Ansicht Bydlinskis (öJBl. 1968, S. 223) nichts an der Richtigkeit der vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Prinzip und Wert; denn das Prinzip weist anders als der Wert doch immerhin schon wenigstens die Richtung für die Rechtsfolge (vgl. a.a.O., S. 161 ff.), mag es deren Einzelheiten auch noch offenlassen. Was insbesondere das von Bydlinski erwähnte Beispiel des Prinzips, daß die Erhaltung des Grundkapitals einer AG gesichert bleiben muß, angeht, so ist bei diesem die Zweiteilung in Tatbestand („Das Grundkapital“) und Rechtsfolge („muß erhalten bleiben“) durchaus bereits im Ansatz erkennbar; auch scheint es gerade in diesem Fall besonders wenig sinnvoll, von einem „Wert“ zu sprechen, weil die Erhaltung des Grundkapitals doch nicht um seiner selbst willen, sondern eben zum Schutz „dahinter stehender“ und also davon verschiedener „Werte“ erforderlich ist. Im übrigen ist natürlich ohne weiteres zuzugeben, daß sich rechtliche Werte verhältnismäßig leicht in die entsprechenden Prinzipien umformulieren lassen und daß daher die Übergänge fließend sind, – handelt es sich doch nur um verschiedene Stufen eines in sich kontinuierlichen Konkretisierungsvorganges (der sich in seiner nächsten Phase vom Prinzip zur Norm fortsetzt und dort wieder ähnlich fließende Übergänge aufweist). – Was Bydlinski zum Unterschied von Analogie und allgemeinem Rechtsprinzip, a.a.O., sagt, ist dagegen überzeugend und stellt einen wichtigen Fortschritt in dieser Frage dar. 148 Zum Unterschied von Gegensatz und Widerspruch vgl. unten § 6 I 2 d.
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keit; sie entfalten ihren eigentlichen Sinngehalt erst in einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung; und sie bedürfen zu ihrer Verwirklichung der Konkretisierung durch Unterprinzipien und Einzelwertungen mit selbständigem Sachgehalt. Die Prinzipien gelten nicht ohne Ausnahmen und können zueinander in Gegensatz oder Widerspruch treten. Dieses Charakteristikum bedarf kaum der Erläuterung; denn daß Grundentscheidungen der Rechtsordnung vielfachen Ausnahmen unterliegen und daß einzelne Prinzipien nicht selten zu entgegengesetzten Entscheidungen drängen, ist für den Juristen eine vertraute Erscheinung. Man denke nur an die Ausnahmen, die etwa das Prinzip der Formfreiheit der Schuldverträge, der Formlosigkeit der Vollmacht, der Vertretungsfreundlichkeit der Rechtsgeschäfte, der Bedingungsfreundlichkeit der Rechtsgeschäfte, der Genehmigungsfreiheit der Geschäfte des gesetzlichen Vertreters usw. erfährt. Oder man denke an die vielfältigen Einschränkungen des Prinzips der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung, die sich aus der Berücksichtigung entgegenwirkender Prinzipien und der dadurch entstehenden Gegensätze ergeben, z. B. die Einschränkung der Abschlußfreiheit durch die verschiedenen Tatbestände des Kontrahierungszwanges, der schuldvertraglichen Inhaltsfreiheit durch das Kündigungsschutzrecht im sozialen Mietrecht und im Arbeitsrecht, der Testierfreiheit durch das Pflichtteilsrecht usw. usw. Dabei besteht zwischen einer bloßen Ausnahme und einem Prinzipiengegensatz naturgemäß ein fließender Übergang; man wird darauf abzustellen haben, ob die Wertung, die die Einschränkung fordert, eine hinreichende Allgemeinheit und Ranghöhe besitzt, um auch ihrerseits als systemtragendes Prinzip zu gelten. Das trifft bei den obigen Beispielen sicher nicht zu hinsichtlich der Rechtsgedanken, die hinter den verschiedenen Formvorschriften stehen, also dem Schutz vor Übereilung oder der Klarstellung der Beweislage; das BGB räumt diesen Wertungen keine solche Bedeutung ein, daß man hier von einem systemtragenden Prinzip des bürgerlichen Rechts oder auch nur des Schuldrechts sprechen könnte, und es liegen daher bloße Ausnahmen vom Grundsatz der Formfreiheit vor. Demgegenüber haben der Gedanke des Arbeitnehmerschutzes und des Schutzes der Familie, die hinter dem Kündigungsschutzrecht bzw. dem Pflichtteilsrecht stehen, zweifellos systemtragende Funktion für unser Arbeits- bzw. Erbrecht, darüber hinaus aber auch für das gesamte Privatrecht; es liegen also Prinzipiengegensätze vor. Die Prinzipien erheben nicht den Anspruch auf Ausschließlichkeit. Das bedeutet, daß dieselbe Rechtsfolge, die für ein bestimmtes Prinzip [54] charakteristisch ist, auch an ein anderes Prinzip geknüpft sein kann. Man sollte meinen, daß dies selbstverständlich sei. Es ist jedoch, zumindest hinsichtlich einzelner Prinzipien häufig verkannt worden, und dieses Mißverständnis hat sich z. T. als schweres Hemmnis für die Fortbildung unseres Privatrechts erwiesen. So war es z. B. keineswegs immer allgemein anerkannt, daß Schadensersatzansprüche nicht nur aus schuldhafter Rechtsverletzung entstehen können; heute freilich ist nicht mehr streitig,
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daß es daneben eine Reihe anderer, ebenfalls systemtragender Zurechnungsprinzipien gibt, wie das Risiko-, das Vertrauens- oder das Aufopferungsprinzip, und daß die auf ihnen beruhenden Vorschriften, wie die Tatbestände der Gefährdungshaftung bzw. die §§ 122, 179, 307 BGB bzw. § 904 S. 2 BGB, keineswegs „systemwidrige“ Ausnahmetatbestände, sondern im Gegenteil (z. T. unvollkommene) Ausprägungen allgemeiner Prinzipien sind. Gewiß kommt dem Prinzip der Einstandspflicht für verschuldetes Unrecht noch immer eine gewisse Vorrangstellung zu, die z. T. in seiner historischen Bedeutung, vor allem aber in seiner besonderen rechtsethischen Evidenz, begründet ist; das rechtfertigt aber in keiner Weise, ihm einen Ausschließlichkeitsanspruch zuzuerkennen, sondern führt allenfalls dazu, bei der Anerkennung anderer Zurechnungsgründe die Frage ihrer inneren Überzeugungskraft besonders sorgfältig zu prüfen. Es versteht sich von selbst, daß diese gewandelte Blickweise von höchster Bedeutung für die Auslegung und die Rechtsfortbildung ist149. Eine ganz ähnliche Problematik wie hinsichtlich des Verschuldensprinzips ergibt sich auch hinsichtlich des Prinzips der Privatautonomie, und diese besitzt noch heute große Aktualität. Es scheint nämlich nicht selten das Mißverständnis vorzuherrschen, Ansprüche „wie aus einem Rechtsgeschäft“, also insbesondere Erfüllungsansprüche, könnten grundsätzlich nur aus Rechtsgeschäften hervorgehen150. Das würde z. B. der Anerkennung der Vertrauenshaftung als eines gleichrangigen systemtragenden Prinzips entgegenstehen, soweit aus dieser nicht nur Schadensersatzansprüche, sondern, wie etwa bei der Rechtsscheinhaftung, Erfüllungsansprüche erwachsen. In Wahrheit läßt sich ein derartiger Ausschließlichkeitsanspruch des Prinzips der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung nicht begründen151, so daß dieses der Anerkennung von Erfüllungsansprüchen [55] aus Vertrauenshaftung oder aus anderen Tatbeständen „objektiver Zurechnung“152 nicht entgegensteht. Ganz allgemein ist daher zu sagen: Prinzipien dürfen grundsätzlich nicht in eine Ausschließlichkeitsfassung gebracht werden; sie dürfen also nicht nach dem Schema „nur wenn ..., dann ...“ formuliert werden.
Vgl. auch unten S. 71 f. und 99 f. Dies dürfte vor allem die Meinung Flumes sein, weshalb er die einschlägigen Erscheinungen entweder als nicht weiter erklärungsfähige Sondertatbestände abtut wie z. B. die Lehre vom kaufmännischen Bestätigungsschreiben (vgl. Allg. Teil II, 1965, § 36) oder als mit dem geltenden Recht und insbesondere mit der Rechtsgeschäftslehre unvereinbar ablehnt wie z. B. die „Anscheinsvollmacht“ (vgl. a.a.O., § 49, 4, vgl. vor allem S. 834: „... so daß (!) auch die Regeln über Rechtsgeschäfte nicht eingreifen.“). 151 Vgl. dazu näher Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 431 ff. 152 Vgl. dazu vor allem Hübner, Zurechnung statt Fiktion einer Willenserklärung, in Nipperdey-Festschrift, 1965, S. 373 ff. 149 150
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Die Prinzipien entfalten ihren eigentlichen Sinngehalt erst in einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung153. Auch hierfür finden sich allenthalben Beispiele. So wird etwa die Rechtsgeschäftslehre und insbesondere die Irrtumsregelung des BGB nur aus der Verbindung der drei Prinzipien der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung und des Verkehrs- und Vertrauensschutzes verständlich. Selbstbestimmung ist nur in Selbstverantwortung möglich154, so wie echte Freiheit ganz allgemein stets die ethische Bindung in sich schließt. Dementsprechend muß der Verantwortungsfähige für die gesetzte Regelung u. U. auch dann einstehen, wenn seine Selbstbestimmung fehlerhaft ist; hier tritt die Selbstverantwortung als ergänzendes Prinzip hinzu. Diese aber ist wiederum eng verbunden mit dem Gedanken des Vertrauensschutzes, weil im allgemeinen nur dem gutgläubigen Dritten gegenüber Anlaß besteht, das Rechtsgeschäft trotz der Fehlerhaftigkeit der Selbstbestimmung unter Berufung auf das Prinzip der Selbstverantwortung aufrecht zu erhalten. Beispielsweise tritt im Grundsatz der objektiven Auslegung das Prinzip der Selbstverantwortung hervor, soweit es darum geht, daß der Erklärende sich die objektive Bedeutung (zumindest vorläufig) zurechnen lassen muß, und das Vertrauensprinzip, insofern es darauf ankommt, wie der andere Teil die Erklärung vernünftigerweise verstehen durfte. Ähnlich liegt eine Verbindung aller drei Prinzipien z. B. § 123 II BGB zugrunde, während die ausnahmslose Beachtlichkeit einer Drohung nach § 123 I auf einer Zurücksetzung des Vertrauensschutzprinzips gegenüber dem der Selbstbestimmung beruht, das hier wegen der besonderen Schwere des Mangels – nach der Wertung des BGB – nicht durch den Gedanken der Selbstverantwortung modifiziert wird. Selbstverantwortung und Verkehrsschutz (nicht Vertrauensschutz) stehen auch hinter dem Grundsatz der vorläufigen Gültigkeit eines – unter an sich beachtlichem Irrtum vorgenommenen – Rechtsgeschäfts, Selbstverantwortung und Vertrauensschutz geben § 122 BGB seinen Sinn. Der Verkehrsschutzgedanke spielt weiter bei der Regelung der Geschäfts- [56] fähigkeit eine bedeutsame Rolle, wo er, zusammen mit dem eng verwandten Gedanken der Rechtsklarheit, zur Aufstellung starrer Altersgrenzen geführt hat; er modifiziert so sowohl das Prinzip der Selbstbestimmung wie das der Selbstverantwortung: das Rechtsgeschäft eines 20jährigen ist unwirksam, auch wenn es in voller Urteilsfähigkeit vorgenommen war, also eine in fehlerloser selbstverantwortlicher Selbstbestimmung gesetze Regelung darstellt, und umgekehrt ist die Regelung eines geistig Zurückgebliebenen 21jährigen auch dann wirksam, wenn von einer selbstverantwortlichen Selbstbestimmung eigentlich noch nicht die Rede sein kann.
Grundlegend die Arbeiten von Wilburg, vgl. dazu eingehend unten § 4. Vgl. dazu statt aller Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, 1930: Flume, a.a.O., § 4, 8 und 21, 1. 153 154
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Neben einer solchen Ergänzung steht die wechselseitige Beschränkung. Dies ist schon oben bei der Erörterung des ersten Kriteriums angedeutet worden. So läßt sich die Bedeutung des Prinzips der Selbstbestimmung in unserer Rechtsordnung erst dann voll beurteilen, wenn man die entgegenwirkenden und einschränkenden Prinzipien und den ihnen jeweils zugewiesenen Anwendungsbereich in die Betrachtung einbezieht, also z. B. die Tatbestände des Kontrahierungszwangs, den Kündigungsschutz oder das Pflichtteilsrecht als systemtragende Elemente für das Verständnis der Privatautonomie fruchtbar macht. Anders gesprochen: das Verständnis eines Prinzips ist stets zugleich das seiner Schranken155. Das wechselseitige Zusammenspiel der Prinzipien führt allerdings zu gewissen Schwierigkeiten bei der Formulierung des Systems. Es kommen nämlich unterschiedliche Aspekte in den Blick je nachdem, ob man beschreibt, wo ein Rechtsprinzip an verschiedenen Stellen der Rechtsordnung Bedeutung hat, oder ob man herausarbeitet, wie es an einer bestimmten Stelle wirkt. Daß z. B. die Prinzipien der Risikozurechnung und des Verkehrsschutzes nicht nur im Rahmen der Rechtsgeschäftslehre, sondern etwa auch im Bereicherungs- und Schadensersatzrecht eine Rolle spielen, ist gewiß ein systemprägendes Charakteristikum des geltenden Rechts. Ebenso systemprägend ist aber auch, daß sie im rechtsgeschäftlichen Bereich zum Grundsatz der objektiven Auslegung, im Bereicherungsrecht zu den bekannten Durchgriffsverboten bei Dreiecksverhältnissen und im Schadensersatzrecht zur Objektivierung des Fahrlässigkeitsmaßstabs geführt haben. Erst beide Aspekte zusammen bringen das System einigermaßen vollständig zur Darstellung, ohne daß man sie doch stets beide gleichzeitig reflektieren oder gar formulieren kann. Sie verhalten sich also komplementär zueinander, um einen Terminus aufzugreifen, der auch im Bereich naturwissenschaftlicher Theoriebildung verwendet wird156. [57] Die Prinzipien bedürfen schließlich zu ihrer Verwirklichung der Konkretisierung durch Unterprinzipien und Einzelwertungen mit selbständigem Sachgehalt. Sie sind nämlich keine Normen und daher der unmittelbaren Anwendung nicht fähig157, sondern müssen dazu erst noch tatbestandlich verfestigt, „normativiert“ werden. Dabei ist die Einschaltung neuer selbständiger Wertungen unerläßlich. Das sei wieder an Beispielen veranschaulicht. Wenn man etwa weiß, daß die Auferlegung einer bestimmten Verpflichtung auf dem Prinzip der Selbstverantwortung beruht, so ist man von einer subsumtionsfähigen Norm noch weit entfernt. Denn Selbstverantwortung bedeutet nicht mehr als Zurechnung, Zurechnung aber setzt ein 155 Und zwar seiner immanenten wie seiner „externen“, d. h. durch den Gegensatz zu anderen Prinzipien bedingten. 156 Vgl. dazu etwa Weisskopf in Rückblick in die Zukunft, 1981, S. 203 f. (im Anschluß an Niels Bohr). 157 Grundlegend zum Unterschied von Prinzip und Norm Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl. 1964.
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bestimmtes Zurechnungsprinzip voraus. Als solches kennt das geltende Zivilrecht nun das Verschuldensprinzip, das Risikoprinzip und – jedenfalls nach einer verbreiteten, allerdings unrichtigen158 Ansicht – das Veranlassungsprinzip, und es gilt daher zunächst, unter diesen eine Auswahl zu treffen. Auch damit ist der Konkretisierungsprozeß jedoch noch nicht beendet. Fällt nämlich z. B. die Entscheidung zugunsten des Verschuldensprinzips, so ergibt sich die weitere Frage nach den Verschuldensformen; sind diese als Vorsatz und Fahrlässigkeit näher bestimmt, so ist zu klären, was darunter zu verstehen ist, und wieder sind dabei selbständige Wertungen erforderlich, z. B. hinsichtlich der Behandlung von Verbotsirrtümern, hinsichtlich der Frage, ob der Fahrlässigkeitsbegriff objektiv oder subjektiv zu verstehen ist und hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung dessen, was die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ in einer bestimmten Lage ist; auch treten neue Wertungen bei der Festlegung des Haftungsmaßstabes hinzu, also bei der Frage, für welchen Grad des Verschuldens gehaftet werden soll: nur für Vorsatz, nur bis zur Grenze der groben Fahrlässigkeit oder nur für diligentia quam in suis usw. Ähnliches gilt, wenn die Frage nach dem Zurechnungsprinzip zugunsten des Risikoprinzips entschieden ist. Auch hier stellen sich eigenständige Wertungsprobleme, wenn es darum geht, welches Risiko zugerechnet werden soll und bis zu welcher Grenze die Einstandspflicht reicht; man denke nur an die Skala der Möglichkeiten von einer Haftung unter Einschluß der höheren Gewalt über verschiedene Zwischenformen bis hin zur Haftungsbefreiung bei Vorliegen eines „unabwendbaren Ereignisses“ i. S. d. § 7 II StVG! Das Gleiche läßt sich auch am Beispiel der Vertrauenshaftung zeigen. So erhebt sich bei einer grundsätzlichen Bejahung eines Vertrauensschutzes sofort die Frage, in welcher Form dieser erfolgen soll: durch die Ge- [58] währung eines Schadens- und Aufwendungsersatzanspruchs wie z. B. in den §§ 122, 179 II, 307 BGB oder durch die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs wie z. B. in den Fällen der Rechtsscheinhaftung? Das ist aus dem Vertrauensgedanken allein ersichtlich nicht mehr zu lösen, so daß wiederum neue materiale Gesichtspunkte gefunden werden müssen, nach deren Heranziehung sich dann u. U. weitere ähnliche Unterprobleme ergeben können. Nimmt man hinzu, daß die Vertrauenshaftung regelmäßig auf einer Verbindung zwischen den Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Selbstverantwortung beruht und daß das letztere seinerseits, wie eben gezeigt, eine ganze Skala verschiedener Konkretisierungsmöglichkeiten aufweist, so wird deutlich, welche Vielfalt tatbestandlicher Ausformungen durch die Kombination der einzelnen Varianten und Untervarianten denkbar ist, – was die Betrachtung des geltenden Rechts mit seiner großen Zahl verschiedener Typen der Vertrauenshaftung in der Tat bestätigt.
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Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung, a.a.O., S. 474 ff.
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So zeigt sich allenthalben, daß sich aus der bloßen Kombination der verschiedenen systemtragenden Prinzipien fast nie unmittelbar die Rechtsfolge ermitteln läßt, sondern daß auf den einzelnen Stufen der Konkretisierung immer wieder neue eigenständige Wertungsgesichtspunkte hinzutreten. Diesen selbst den Rang systemtragender Elemente zuzuerkennen, geht wegen ihrer geringen Allgemeinheit und ihres meist verhältnismäßig schwachen rechtsethischen Gewichts i. d. R. nicht an: sie sind nicht konstitutiv für die Sinneinheit des betreffenden Rechtsgebiets, bei den erwähnten Beispielen also des Privatrechts159. c) Die Unterschiede der „allgemeinen Rechtsprinzipien“ gegenüber den Axiomen Kommt man nun abschließend noch einmal auf die Problematik des axiomatisch-deduktiven Systems zurück160, so ist nach dem soeben Ausgeführten ohne weiteres klar, daß allgemeine Rechtsprinzipien als Grundlage eines solchen jedenfalls ungeeignet sind. Allerdings passen das zweite und, mindestens teilweise, das dritte der herausgearbeiteten Charakteristika auch auf Axiome. Denn auch diese müssen nicht wesensgemäß nach der Formel „Nur wenn ..., dann ...“ aufgebaut sein, sondern lassen die Möglichkeit offen, daß dasselbe Ergebnis auch [59] aus einem anderen Axiom abgeleitet werden kann161; mag einem axiomatischen System auch eine gewisse Tendenz zur Reduzierung auf verhältnismäßig wenige Prämissen innewohnen – eine Tendenz, die übrigens wegen des Elements der Einheit jedes System aufweist und die auch bei einem System allgemeiner Rechtsprinzipien unverkennbar ist –, so erhebt ein Axiom deswegen doch keineswegs notwendig den Anspruch der Ausschließlichkeit. Und auch was das dritte Charakteristikum betrifft, die wechselseitige Ergänzung der Prinzipien, so ergibt sich eine Parallele zu den Axiomen; denn auch diese entfalten ihre eigentliche Bedeutung erst, wenn man sie miteinander verbindet, um aus mehreren axiomatischen Obersätzen die Vielzahl der „Theoreme“ zu gewinnen. Schon bei dem Element wechselseitiger Beschränkung und erst recht bei dem Charakteristikum der Durchbrechung durch Ausnahmen und der Prinzipienwi159 Sie können aber natürlich konstitutiv für die Sinneinheit eines – oft nahezu beliebig kleinen – Teilgebietes sein. So mag man z. B. einen Rechtsgedanken für ein „System der Vertrauenshaftung“ durchaus als konstitutiv ansehen, der für das System des Schuldrechts oder gar des Privatrechts diesen Rang nicht besitzt. Ein Prinzip als „systemtragend“ zu bezeichnen, ist daher eine relative Aussage, vgl. näher oben S. 47 f. 160 Zu diesem vgl. im übrigen eingehend oben § 2 I 3 b. 161 Eine durchaus andere Frage ist, ob ein Axiom aus einem anderen oder aus der Verbindung mehrerer anderer ableitbar sein darf; das ist zu verneinen, weil das Axiom dann überflüssig wäre. Eine Prämisse ist aber keineswegs deshalb überflüssig, weil sich aus ihr dieselben Ergebnisse herleiten lassen wie aus einer anderen, inhaltlich verschiedenen Prämisse.
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dersprüche hört die Übereinstimmung jedoch auf. Denn Axiome fordern ausnahmslose Geltung, und alle in Betracht kommenden Ausnahmen mit in die Formulierung des Axioms aufzunehmen, wäre eine Scheinaxiomatisierung162. Während Prinzipien also das für den Juristen so charakteristische Wörtchen „grundsätzlich“ in ihrer Fassung enthalten, müssen Axiome nach dem Schema „immer wenn ..., dann ...“ formuliert werden können. Dies ist auch durchaus kein Zufall, sondern im Gegenteil für die Besonderheiten des teleologischen Denkens gegenüber dem formal-logischen Denken charakteristisch; denn, wie Esser sagt163, „Prinzipien können nur dann funktionieren, wenn man sie sachgerecht durchbrechen darf“. Vollends unvereinbar mit einem axiomatischen System ist die Möglichkeit der Prinzipienwidersprüche. Daß es solche geben kann, ist allgemein anerkannt164 und in der Tat nicht zu leugnen165. Sie lassen sich auch keineswegs immer beseitigen165, so daß ein System allgemeiner Rechtsprinzipien dem Postulat völliger Widerspruchsfreiheit nicht genügen kann. Deshalb sind die Prinzipien als Grundlage eines axiomatisch-logischen Systems unbrauchbar, da die Widerspruchslosigkeit der Axiome unverzichtbar ist166. Der Ausbildung eines teleologischen [60] Systems steht die Möglichkeit von Prinzipienwidersprüchen dagegen keineswegs entgegen; sie hindert allenfalls eine völlig befriedigende Durchformung dieses Systems167. Schließlich unterscheidet auch das vierte Charakteristikum die allgemeinen Rechtsprinzipien von Axiomen; denn aus diesen müssen sich die „Theoreme“ unter ausschließlicher Verwendung der Gesetze der formalen Logik und ohne Einschaltung neuer materialer Gesichtspunkte ableiten lassen168, während bei der Konkretisierung und Normativierung allgemeiner Rechtsprinzipien, wie gezeigt, auf den einzelnen Stufen immer wieder selbständige Teilwertungen notwendig werden.[61]
Vgl. auch oben S. 27 f. Vgl. Grundsatz und Norm, S. 7. 164 Vgl. statt aller Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 162 ff. mit ausführlichen Nachweisen in Fn. 206 a. 165 Vgl. eingehend unten § 6 I 3–5. 166 Vgl. oben bei und mit Fn. 35. 167 Vgl. näher unten § 6 I 5. 168 Vgl. die Zitate oben Fn. 31. 162 163
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§ 3 Die Offenheit des Systems Mit der Definition des Systems als einer teleologischen Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien ist der Systembegriff zwar in seinen wichtigsten Merkmalen festgelegt, doch bedarf er gleichwohl noch in einigen Punkten der Präzisierung. In der modernen juristischen Systemdiskussion spielen nämlich in zunehmendem Maße zwei Eigenschaften des Systems eine Rolle, die im bisherigen Verlauf der Erörterungen noch nicht berührt worden sind und die es daher im folgenden näher zu untersuchen gilt: die „Offenheit“ und die „Beweglichkeit“ des Systems. Was ist damit gemeint? Was zunächst die „Offenheit“ betrifft, so finden sich im Schrifttum zwei verschiedene Arten des Sprachgebrauchs. Zum einen wird der Gegensatz von offenem und geschlossenem System mit dem Unterschied zwischen einer kasuistisch gebildeten, auf dem Richterrecht aufbauenden und einer vom Kodifikationsgedanken beherrschten Rechtsordnung identifiziert1; in diesem Sinne ist das System des heutigen deutschen Rechts seiner Grundstruktur nach2 zweifellos als geschlossenes anzusehen. Zum anderen wird unter Offenheit die Unabgeschlossenheit, die Entwicklungsfähigkeit, die Modifizierbarkeit des Systems verstanden3, und in diesem Sinne kann in der Tat auch das System unserer derzeitigen Rechtsordnung als offen bezeichnet werden. Denn es ist eine allgemein bekannte und anerkannte Tatsache, daß dieses in einer ständigen Veränderung begriffen ist und daß beispielsweise unser Privatrechtssystem heute wesentlich anders aussieht als unmittelbar nach Erlaß der BGB oder auch noch vor 30 Jahren. [62] Diese Wandlung, in deren Verlauf eine Reihe „neuer“ Prinzipien Anerkennung gefunden hat, ist oft beschrieben worden4 und braucht hier nur angedeutet zu werden. So hat sich in der Gefährdungshaftung das Risikoprinzip, in der Rechtsscheinhaf1 Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 44, 218 f. und öfter im Anschluß an Fritz Schulz, History of Roman Legal Science, 1946, S. 69, dessen Sprachgebrauch jedoch nicht eindeutig in diesem Sinne festgelegt ist; vgl. ferner Lerche, DVBl. 1961, S. 692. 2 Daß der Gegensatz kein ausschließender, sondern lediglich ein typologischer ist, daß also beide Systemarten konvergieren, dürfte nach den Ausführungen von Esser, a.a.O. passim, heute allgemein anerkannt sein; vgl. auch Zajtay, AcP 165, S. 97 ff. (106). 3 Vgl. Sauer, Juristische Methodenlehre, 1940, S. 172; Engisch, Stud. Gen. Bd. 10 (1957), S. 187 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 134 und S. 367; Emge, Philosophie der Rechtswissenschaft, 1961, S. 290; Raiser, NJW 1964, S. 1204; Flume, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, 1965, S. 295 f.; Mayer-Maly, The Irish Jurist, vol. II part 2, 1967, p. 375; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 122, 145, 150. Dieser Sprachgebrauch stimmt mit dem allgemeinwissenschaftstheoretischen überein, vgl. die Zitate unten Fn. 8. 4 Vgl. dazu statt aller Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953, Das Bürgerliche Recht im Wandel der Gesellschaftsordnungen, JT-Festschrift Bd. 2, 1960, S. 1 ff. und Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 514 ff., 543 ff.; F v. Hippel, Zum Aufbau und Sinnwandel unseres Privatrechts, 1957.
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tung und in der Lehre von der culpa in contrahendo das Vertrauensprinzip, im Institut der Geschäftsgrundlage das materielle Äquivalenzprinzip als systemtragender oder -modifizierender Faktor durchgesetzt, und ähnlich hat das Prinzip von Treu und Glauben in der Arglisteinrede, in der Lehre von der Verwirkung oder in der Fülle der aus ihm entwickelten Verhaltenspflichten eine ungeahnte systemverändernde Kraft entfaltet. Worin haben nun diese Systemwandlungen ihren Grund, in welcher Hinsicht ist also das System offen? Die Antwort läßt sich nur geben, wenn man die beiden Seiten des Systembegriffs, d. h. das wissenschaftliche und das objektive Systems5, klar auseinanderhält. I. Die Offenheit des „wissenschaftlichen Systems“ als Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis Was zunächst das erstere, also das System der Lehrsätze der Jurisprudenz betrifft, so bedeutet Offenheit des Systems hier die Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis. In der Tat muß der Jurist wie jeder Wissenschaftler stets bereit sein, das bisher erarbeitete System in Frage zu stellen und auf Grund besserer Einsicht zu erweitern oder zu verändern. Jedes wissenschaftliche System ist somit immer nur ein Systementwurf5a, der lediglich den derzeitigen Stand des Wissens zum Ausdruck bringt und daher notwendig so lange nicht endgültig und „geschlossen“ ist, als in dem betreffenden Gebiet überhaupt noch eine sinnvolle wissenschaftliche Weiterarbeit und ein Fortschritt möglich ist. Aufgabe des Systems kann es dementsprechend nie sein, die Wissenschaft oder gar die Rechtsentwicklung auf einem bestimmten Stand zu fixieren, sondern immer nur, den Gesamtzusammenhang aller derzeitigen Erkenntnisse offenzulegen, ihre Abstimmung aufeinander zu gewährleisten und so insbesondere die Feststellung zu erleichtern, welche Rückwirkungen eine Veränderung (der Erkenntnis oder des Gegenstandes) in einem bestimmten Punkt auf Grund des Gebots der inneren Konsequenz an anderen Stellen hat. [63] Indessen wird wohl niemand behaupten wollen, das Phänomen der „Offenheit“ des Systems sei in der Jurisprudenz allein aus der Vorläufigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis zu erklären. Anzunehmen, daß die erwähnten Wandlungen des Systems ausschließlich auf Fortschritten in der wissenschaftlichen Durchdringung des Rechtsstoffes beruhten, wäre vielmehr bare Utopie. Das aber führt folgerichtig zu dem Schluß, daß auch das objektive System, d. h. die Sinnein-
5
Vgl. zu diesem Unterschied oben S. 13. Vgl. auch Popper, Logik der Forschung, S. 223 ff.
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heit der Rechtsordnung selbst, Wandlungen unterliegen und demnach „offen“ sein muß. II. Die Offenheit des „objektiven Systems“ als Wandelbarkeit der Grundwertungen der Rechtsordnung Dies ist nun in der Tat nicht zu bestreiten und ergibt sich ohne weiteres daraus, daß das positive Recht auch in einer auf dem Kodifikationsgedanken aufbauenden Rechtsordnung anerkanntermaßen in verschiedener Hinsicht fortbildungsfähig ist. Davon aber können auch die tragenden Grundwertungen grundsätzlich keine Ausnahme machen, und so muß sich naturgemäß zugleich das System, das deren Einheit und Folgerichtigkeit verkörpert, wandeln. Es können also heute neue und andere Prinzipien Geltung haben und systemtragend sein als noch vor wenigen Jahrzehnten. Letztlich folgt dies daraus, daß das System als die Sinneinheit einer konkreten Rechtsordnung an deren Seinsweise teilhat, d. h., daß es ebenso wie diese nicht statisch, sondern dynamisch ist, also die Struktur der Geschichtlichkeit aufweist6. Man sollte diese Tatsache nicht dadurch verschleiern, daß man statt von einem sich wandelnden und daher offenen System von einer Aufeinanderfolge verschiedener statischer und daher geschlossener Systeme ausgeht. Zwar könnte man theoretisch immer dann, wenn ein neues systemtragendes Prinzip Geltung erlangt, auch die Entstehung eines neuen Systems, das das bisherige ablöst, annehmen, doch würde man damit dem hier in Frage stehenden Phänomen nicht gerecht. Denn diese Veränderung des Rechts vollzieht sich nicht in scharfen Einschnitten, sondern erfolgt in einer allmählichen und kontinuierlichen Entwicklung, und das gilt selbst dann, wenn sie nicht auf einer richterlichen Rechtsfortbildung, sondern auf dem Eingreifen des Gesetzgebers beruht: dadurch, daß dieser beispielsweise immer mehr Tatbestände der Gefährdungshaftung geschaffen und so ein neues Rechtsprinzip in den Rang eines systemtragenden Elementes erhoben hat, ist die [64] Identität unseres Privatrechtssystems nicht aufgehoben worden, sondern dieses hat sich lediglich gewandelt, – nicht anders, als auch sonst durch Veränderungen in der Zeit die Identität einer Individualität, wenn dieser Vergleich gestattet ist7, nicht beseitigt wird. Daß der Gesetzgeber mitunter allerdings auch ein gänzlich neues System an die Stelle des alten setzen kann, soll damit selbstverständlich nicht bestritten werden, doch ist das nicht das Problem, um das es hier geht. 6 Zur Geschichtlichkeit des Rechts vgl. z. B. G. Husserl, Recht und Zeit, 1955; Arthur Kaufmann, Naturrecht und Geschichtlichkeit, 1957, und Das Schuldprinzip, 1961, S. 86 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 189 ff.; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 36 ff. 7 Vgl. dazu z. B. Henkel, a.a.O., S. 40, der der Rechtsordnung ausdrücklich „eigene Individualität“ zuspricht.
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III. Die Bedeutung der Offenheit des Systems für die Möglichkeiten von Systemdenken und Systembildung in der Jurisprudenz Zu der Offenheit als Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis kommt somit die Offenheit als Wandlungsfähigkeit der Rechtsordnung selbst. Beide Formen der Offenheit sind dem juristischen System wesenseigentümlich, und nichts wäre verfehlter, als etwa die Offenheit des Systems als Einwand gegen die Bedeutung der Systembildung in der Jurisprudenz anzuführen oder gar ein offenes System als einen Widerspruch in sich zu bezeichnen. Die Offenheit des wissenschaftlichen Systems folgt vielmehr aus den Grundbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens überhaupt, das stets nur vorläufige Entwürfe hervorbringen kann, solange in dem fraglichen Bereich noch ein Fortschritt möglich, also wissenschaftliche Arbeit sinnvoll ist, und diese Offenheit teilt das juristische System daher mit den Systemen aller anderen Disziplinen8. Die Offenheit des objektiven Systems aber ergibt sich aus dem Wesen des Gegenstandes der Jurisprudenz, nämlich aus dem Wesen des positiven Rechts als einer im Prozeß der Geschichte stehenden und sich daher wandelnden Erscheinung. Diese Form der Offenheit braucht nicht unbedingt auch auf alle anderen Wissenschaften zuzutreffen9, da deren Gegenstand möglicherweise unveränderlich ist, ja, es mag hierin sogar geradezu ein Spezifikum der Jurisprudenz liegen; doch rechtfertigt das in keiner [65] Weise, die Tragfähigkeit des Systemgedankens für die Rechtswissenschaft in Zweifel zu ziehen: den Besonderheiten unseres Gegenstandes müssen die Besonderheiten unseres Systembegriffs entsprechen, und ein in ständiger Veränderung befindliches System (im objektiven Sinne) ist ebenso denkmöglich wie eine sich dauernd wandelnde Sinneinheit10. Allerdings ergibt sich daraus, daß die juristische Systembildung – möglicherweise im Gegensatz zu der anderer Wissenschaften – niemals an ein Ende gelangen kann, sondern wesensmäßig ein nicht zu vollendender Prozeß
8 Der Gedanke der Offenheit des System ist der neueren Wissenschaftstheorie denn auch durchaus geläufig, vgl. z. B. Rickert, System der Philosophie I, 1921, S. 350; Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität, in: Versuche zu einer Soziologie des Wissens, herausgegeben von Max Scheler, 1924, S. 407 ff. (413); Jaspers (und Rossmann), Die Idee der Universität, für die gegenwärtige Situation entworfen, 1961, S. 44; Freyer, Die Wissenschaften des 20. Jahrhunderts und die Idee des Humanismus, Merkur 156 (1961), S. 101 ff. (113); Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, 1963, S. 287 f. 9 Vgl. z. B. hinsichtlich der Physik in diesem Zusammenhang C. F. von Weizsäcker, Abschluß und Vollendung der Physik, abgedruckt in: Süddeutsche Zeitung vom 25.10.1966, Nr. 255. 10 Die Frage findet im übrigen ihre Parallele in der Auseinandersetzung um den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz, insofern dieser mit der Begründung geleugnet wird, der Jurist befasse sich mit einem „vergänglichen“ Gegenstand. Letztlich dürfte es sich insoweit in beiden Fällen um eine wenig bedeutsame Definitionsfrage handeln.
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ist11, und darin liegt auch eine gewisse praktische Bedeutung der Einsicht, daß das juristische System offen ist. Alles in allem aber stellt diese eher eine Selbstverständlichkeit dar, der keineswegs so grundlegende Bedeutung zukommt, wie es in der modernen Systemdiskussion mitunter den Anschein hat; insbesondere ist die Offenheit des Systems ohne jede Bedeutung für die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung: diese ist nicht zulässig, weil jenes offen ist, sondern jenes ist offen, weil diese – aus außerhalb der Systemproblematik liegenden Gründen – zulässig ist. IV. Die Voraussetzungen von Systemwandlungen und das Verhältnis zwischen Wandlungen des objektiven und Wandlungen des wissenschaftlichen Systems Nun ist freilich der Fragenkreis der Offenheit des Systems mit der bloßen Nebeneinanderstellung der Unabgeschlossenheit des wissenschaftlichen und der Wandlungsfähigkeit des objektiven Systems durchaus nicht erschöpft, so richtig diese Trennung im Grundsatz auch ist. Vielmehr ist das praktisch höchst bedeutsame Problem, unter welchen Voraussetzungen Veränderungen in einem der beiden Systeme [66] zulässig sind, bisher ebenso ungeklärt geblieben wie die eng damit zusammenhängende Frage, in welchem Verhältnis eigentlich die beiden Systeme (bzw. die beiden Seiten des Systems) zueinander stehen und welchen Einfluß dementsprechend Veränderungen innerhalb des einen auf das andere haben. Auf den ersten Blick mag es nun allerdings scheinen, als sei die Antwort nicht schwer zu geben: das wissenschaftliche System ist zu verändern, wenn entweder neue und richtigere Erkenntnisse des geltenden Rechts gewonnen worden sind, oder wenn sich das objektive System, dem das wissenschaftliche ja zu entsprechen hat, gewandelt hat; das objektive System aber ändert sich, wenn die das geltende Recht tragenden Grundwertungen sich wandeln. Dementsprechend steht das wissenschaftliche System zu dem objektiven im Verhältnis strenger Abhängigkeit und ist stets mit diesem zu ändern, während das objektive System seinerseits durch Wandlungen innerhalb des wissenschaftlichen nicht beeinflußt wird. 11 Solange eine Rechtsordnung in Geltung ist, wandelt sie sich, und sobald sie außer Kraft getreten ist, ist sie nicht mehr Gegenstand der Rechtsdogmatik als der Wissenschaft vom geltenden Recht, sondern Gegenstand der Rechtsgeschichte. Die Arbeitsweise des Historikers aber ist entgegen der Ansicht Gadamers (Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 307 ff.) nicht dieselbe wie die des Dogmatikers, da ihm gerade nicht die für den Dogmatiker so wesentliche Anwendung des Rechts auf einen aktuellen Fall und schon gar nicht seine Fortbildung obliegt; daß Gadamer dies verkennt, beruht vor allem auf der Mehrdeutigkeit seines Begriffs der „Applikation“, vgl. Wagner, AcP 165, S. 535 f., der Gadamer mit Recht in diesem Zusammenhang eine Begriffsvertauschung vorwirft; gegen Gadamer ferner überzeugend Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 1962, S. 44 ff. und Wieacker, Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik, 1962, S. 21 (vgl. auch S. 8 ff., 19 f.).
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Indessen erweist sich bei näherer Prüfung, daß die Problematik nicht ganz so einfach ist, führt sie doch unmittelbar in zwei höchst komplexe Vorfragen: in das Geltungs- und Rechtsquellenproblem12 sowie, damit in einem gewissen Zusammenhang, in das Problem des Verhältnisses zwischen dem „objektiv“ geltenden Recht und seiner Erkenntnis und Anwendung; denn die Frage nach den Voraussetzungen und Faktoren einer Veränderung des objektiven Systems ist identisch mit der nach der Zulässigkeit einer Änderung des geltenden Rechts überhaupt, also mit dem Rechtsquellenproblem, und die Frage nach dem Verhältnis von objektivem und wissenschaftlichem System ist nur ein Unterproblem der allgemeinen Frage nach dem Verhältnis von „objektiv“ geltendem Recht und seiner Erkenntnis. Da beides somit keine spezifischen Fragen der Systemproblematik sind, versteht es sich von selbst, daß sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht umfassend diskutiert werden können; vielmehr soll im folgenden nur kurz der eigene Standpunkt skizziert werden13, soweit das erforderlich ist, um die Problematik der Offenheit des Systems in vollem Umfang sichtbar zu machen. [67] 1. Wandlungen des „objektiven“ Systems Wenden wir uns zunächst den Wandlungen des objektiven Systems zu. In Übereinstimmung mit der traditionellen Rechtsquellenlehre ist hier davon auszugehen, daß in erster Linie der Gesetzgeber zu einer Änderung berufen ist. Als Beispiel sei noch einmal an die allmähliche Erweiterung der Gefährdungshaftung und die dadurch bewirkte Veränderung unseres Privatrechtssystems erinnert. Es braucht jedoch durchaus nicht immer ein solch unmittelbarer Eingriff vorzuliegen. Vielmehr können sich Systemveränderungen auch aus gesetzgeberischen Akten ergeben, die primär ganz andere Rechtsteile betreffen, und hier macht sich das Postulat der Wertungseinheit und damit die Kraft des Systemgedankens sogar in ganz besonderem Maße bemerkbar. Eines der anschaulichsten Beispiele, das in diesen Zusammenhang gehört, ist die Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte, die nur vor dem Hintergrund des Gedankens der Einheit der Rechtsordnung voll verständlich wird und die, ob nun in der Form der unmittelbaren 12 Geltung und Rechtsquelle sind hier selbstverständlich im normativen und nicht im faktischen Sinne zu verstehen, d. h. als Aussage darüber, welche Rechtssätze richtigerweise angewandt werden sollten, und nicht als Feststellung dessen, welche Rechtssätze üblicherweise de facto angewandt werden. Diese Unterscheidung ist – der Sache nach, die Terminologie wechselt – m. E. grundlegend für die Rechtsquellen- und Geltungslehre und sollte trotz immer wieder aufkommender Kritik nicht aufgegeben oder auch nur verwischt werden (vgl. aber auch unten Fn. 36). – Zu den verschiedenen Arten des Geltungsbegriffes vgl. statt aller Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 438 ff. m. Nachw. 13 Der Verzicht auf eine eingehende Auseinandersetzung mit abweichenden Ansichten wird dabei bewußt ebenso in Kauf genommen wie gewisse unvermeidliche Problemverkürzungen.
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oder der mittelbaren Drittwirkung, unser Privatrechtssystem wesentlich verändert hat; das Stichwort des allgemeinen Persönlichkeitsrechts macht das hinreichend deutlich. – Weiterhin kommt zweifellos dem Gewohnheitsrecht systemverändernde Kraft zu. So ist das System unseres Sachenrechts durch die Anerkennung der Sicherungsübereignung, die trotz aller Rechtfertigungsversuche wohl doch als Rechtsfortbildung contra legem angesehen werden muß und daher nur auf die derogierende Kraft des Gewohnheitsrechts gestützt werden kann, geändert worden. Sind Gesetzgebung und Gewohnheitsrecht nun aber die einzigen Faktoren, die für die Wandlungen des objektiven Systems von Bedeutung sind? Die traditionelle Rechtsquellenlehre müßte das folgerichtig bejahen, und es erhebt sich daher die Frage, wie dann alle jene Systemwandlungen zu erklären sind, die auf richterliche Rechtsfortbildung zurückgehen. Wie steht es also in dieser Hinsicht z. B. mit der culpa in contrahendo und der Rechtsscheinhaftung, der positiven Forderungsverletzung und dem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte, der Arglisteinrede und der Verwirkung, dem Kontrahierungszwang und der Lehre von der Geschäftsgrundlage, der Entwicklung der Fürsorge- und der Treuepflicht im Arbeits- und Gesellschaftsrecht oder der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft und vom fehlerhaften Arbeitsverhältnis? Diese Institute sind durchweg unabhängig von einem Eingreifen des Gesetzgebers entstanden, und ihre Geltung nur auf das Gewohnheitsrecht zu stützen, ist schon allein deshalb sehr unbefriedigend, weil dessen Voraussetzungen – mögen sie heute auch vorliegen – im Zeitpunkt ihrer erstmaligen Anerkennung keinesfalls [68] schon gegeben waren, so daß man sie als ursprünglich nicht „geltend“ und erst nachträglich durch derogierendes Gewohnheitsrecht legitimiert ansehen müßte. Es bliebe daher nur ein Ausweg: man müßte in diesen Fällen jede Änderung des objektiven Systems leugnen und behaupten, die Entwicklung der genannten Institute habe lediglich zu einer Wandlung des wissenschaftlichen Systems geführt. Da das objektive System nach der hier vertretenen Ansicht aus Grundwertungen oder allgemeinen Rechtsprinzipien besteht, würde das voraussetzen, daß jene neuen Rechtsfiguren auf Wertungen beruhen, die unserem Privatrecht von vornherein immanent waren, und so mündet die Problematik in die Frage nach dem Geltungsgrund allgemeiner Rechtsprinzipien14. Als solcher ist zunächst das gesetzte Recht zu nennen, aus dem sich häufig allgemeine Rechtsprinzipien im Wege der „Rechtsanalogie“, richtiger der Induktion, gewinnen lassen. So sind denn in der Tat einige der genannten Neubildungen ohne weiteres aus den Wertungen des Gesetzes herzuleiten. Das trifft z. B.
14 Diese ist verhältnismäßig wenig geklärt; einen Versuch, in dieser Richtung etwas weiterzukommen, habe ich a.a.O., S. 95 ff. (97 ff., 106 ff., 118 ff.) gemacht, worauf die folgenden Ausführungen aufbauen.
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auf die Rechtsscheinhaftung zu, da deren weitverzweigtes Gebäude sich nahezu15 vollständig aus den verhältnismäßig geringfügigen Ansatzpunkten der §§ 171, 172, 405, 794 BGB auf Grund von Einzel- und Gesamtanalogien entwickeln läßt16; es gilt weiterhin ohne Einschränkung für die positive Forderungsverletzung und wohl auch für die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft17. In derartigen Fällen bedeutet die Anerkennung eines neuen Instituts folgerichtig in der Tat keine Änderung des objektiven, sondern nur eine Änderung des wissenschaftlichen Systems, eben weil die maßgeblichen Wertungen ja von vornherein im Gesetz enthalten waren und lediglich nicht in ihrer vollen Tragweite bzw. überhaupt nicht erkannt wurden. [69] Nicht alle genannten Institute lassen sich indessen in dieser Weise auf die Wertungen des Gesetzes stützen; manche von ihnen werden vielmehr durch die immanente Teleologie des Gesetzes nicht „verlangt“, sondern allenfalls „angeregt“18, und bei anderen kann man nicht einmal das sagen. Es gibt daher, wie Wieacker es treffend formuliert hat, eine „außergesetzliche Rechtsordnung“19, und auch von dieser können Systemwandlungen ausgehen. Beispiele hierfür bilden die meisten der oben erwähnten Neubildungen, für die sich i. d. R. allenfalls ein positiv-rechtlicher „Aufhänger“ finden (etwa für die culpa in contrahendo § 307 BGB und verwandte Vorschriften oder für die Arglisteinrede und die Verwirkung § 242 BGB), nicht aber eine wirkliche Legitimation aus dem Gesetz geben läßt. Kann man nun auch in solchen Fällen sagen, die zugrunde liegenden Wertungen seien unserer Rechtsordnung an sich schon immanent und würden lediglich „aufgefunden“, handelt es sich also auch hier nur um Änderungen des wissenschaftlichen, nicht aber des objektiven Systems? Die Antwort läßt sich nur geben, wenn man fragt, warum denn jene Wertungen, obwohl nicht im Gesetz enthalten, doch Bestandteil des Rechts sein sollen, wenn man also wieder die Frage nach ihrem Gel15 Eine Ausnahme gilt wohl nur für die sogenannte „Anscheinsvollmacht“, die denn aber auch wegen des Wertungswiderspruchs zur gesetzlichen Regelung des Fehlens des Erklärungsbewußtseins höchst problematisch ist; vgl. näher unten S. 98. 16 Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 106 f., 107 ff. und 133 ff. 17 Hinsichtlich der positiven Forderungsverletzung folgt das ohne weiteres aus der Analogie zu den gesetzlich geregelten Fällen der Leistungsstörungen. Hinsichtlich der fehlerhaften Gesellschaft ergibt es sich für das Außenverhältnis aus dem unserer Rechtsordnung immanenten (vgl. soeben im Text) Rechtsscheinprinzip und für das Innenverhältnis aus der Tatsache, daß die §§ 812 ff. BGB typologisch nicht auf die Gesellschaft passen, daher auf Grund einer teleologischen Reduktion außer Anwendung bleiben und durch die analoge Anwendung der Liquidationsvorschriften als sachgerechterer Ausgleichsregelung zu ersetzen sind; zu diesem Verständnis der Problematik der fehlerhaften Gesellschaft vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 298 f. und Schuldrecht, B.T. § 56 VII. 18 So die treffende Formulierung von Larenz, Nikisch-Festschrift, S. 276. 19 Vgl. den Untertitel seiner Schrift Gesetz und Richterkunst, 1958: „Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung“.
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tungsgrund stellt. Da als solcher Gesetz und Gewohnheitsrecht entsprechend der Besonderheit der Problemstellung von vornherein ausscheiden, ergibt sich hier zwangsläufig die Notwendigkeit einer Weiterbildung der traditionellen Rechtsquellenlehre20, und diese kann im wesentlichen nur in zwei Richtungen erfolgen: entweder man entschließt sich, das Richterrecht in den Rang einer eigenständigen Rechtsquelle21 neben Gesetz und Gewohnheitsrecht zu erheben, oder man muß „außerpositive“ Geltungskriterien anerkennen, als welche sich vor allem die „Rechtsidee“ und die „Natur der Sache“ anbieten. Die erste Lösung ist nun aber mit der Stellung des Richters in unserer Rechtsordnung unvereinbar: der von einem Gericht einer Entscheidung zugrunde gelegte Rechtssatz gilt nicht deshalb, weil er vom Richter ausgesprochen wird, sondern deshalb, weil er überzeugend begründet, d. h. aus außerhalb des Richterspruches liegenden Geltungskriterien hinreichend abgeleitet ist. Diese Ansicht entspricht nicht nur [70] der durchaus h. L.22, sondern deckt sich auch mit dem Selbstverständnis der Rechtsprechung wie der Lehre: erstere geht bei ihren Entscheidungen auch dann, wenn sie bewußt das Recht „fortbildet“, durchweg davon aus, daß die zugrunde gelegten Rechtssätze nicht erst durch den Richterspruch Geltung21 erlangen, sondern diese bereits vorher besitzen und also lediglich „aufgefunden“ werden; und letztere tritt, wenn sie ein neues, systemveränderndes Rechtsinstitut propagiert, ohne weiteres mit dem Anspruch auf, die von ihr vertretene Lösung sei geltendes Recht und stelle nicht lediglich einen unverbindlichen Vorschlag an die Rechtsprechung dar, deren Übernahme durch diese eine Frage bloßer Zweckmäßigkeit oder gar freien Beliebens wäre. Es bleibt daher in der Tat nur der zweite Weg, und dieser dürfte durchaus gangbar sein, mag die Problematik einstweilen auch noch wenig durchdacht sein: allgemeine Rechtsprinzipien können ihren Geltungsgrund außer im Gesetz auch noch in der Rechtsidee, deren historische Konkretisierungen sie weitgehend darstellen, sowie in der Natur der Sache haben23, und diese beiden Kriterien sind daher als – gegenüber Gesetz und Gewohnheitsrecht subsidiäre24 – Rechtsquellen anzuer20 Diese Folgerung zieht auch Wieacker, a.a.O., ausdrücklich aus der Entdeckung der „außergesetzlichen Rechtsordnung“, vgl. S. 15 f. 21 Im normativen Sinne; daß der Richterspruch „Quelle“ des faktisch geltenden, d. h. tatsächlich in Anwendung befindlichen Rechts ist, ist nicht zu bestreiten (zur Unterscheidung vgl. oben Fn. 12). 22 Aus dem Schrifttum zum Richterrecht vgl. aus jüngerer Zeit vor allem Hirsch, JR 1966, S. 334 ff. mit eingehenden Nachw.; Esser, Festschrift für F. v. Hippel, 1967, S. 95 ff.; H. P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969. 23 Es sei noch einmal betont, daß hier nur eine Skizzierung des eigenen Standpunktes, der an anderer Stelle (vgl. die Verweisungen in Fn. 14 und 25) näher dargelegt und begründet worden ist, beabsichtigt ist und daß daher auf eine eingehende Diskussion bewußt verzichtet wird. 24 Das bedeutet, daß die aus ihnen entwickelten Rechtsgedanken nur insoweit Geltung beanspruchen können, als ihnen nicht die Wertungen des Gesetzes und des Gewohnheitsrechts entgegenstehen, vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 95 f.
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kennen; aus ihnen lassen sich in einem freilich sehr komplizierten Prozeß der Konkretisierung durchaus materiale, inhaltlich klar umrissene Rechtssätze von hoher Überzeugungskraft entwickeln25. Was bedeutet das nun für die eingangs gestellte Frage? Es bedeutet zunächst, daß außer Gesetz und Gewohnheitsrecht auch jene allgemeinen Rechtsprinzipien, die sich als Ausflüsse der Rechtsidee und der Natur der Sache darstellen26, zu Wandlungen des objektiven [71] Systems führen können. Denn man darf sich diese Kriterien nicht ahistorisch und gleichsam statisch vorstellen27; vielmehr gewinnen die auf die Rechtsidee rückführbaren Prinzipien ihre konkrete Gestalt in aller Regel nur durch den Bezug auf eine bestimmte historische Situation und in der Vermittlung durch das jeweilige „allgemeine Rechtsbewußtsein“28, und für die „Natur der Sache“ gilt nichts anderes29. Durch die Wandelbarkeit dieser „Bezugspunkte“ aber erhalten folgerichtig auch jene Kriterien einen relativen und das heißt veränderlichen Charakter. So mag man etwa das „Vertrauensprinzip“, das wohl keine Rechtsordnung gänzlich unberücksichtigt lassen kann30, als Emanation der Rechtsidee ansehen, und doch ist gerade dieses Prinzip ein Musterbeispiel inhaltlicher Wandlungsfähigkeit: zu klaren Lösungen rechtlicher Probleme läßt es sich nicht a priori verfestigen, sondern immer nur im Hinblick auf eine bestimmte geschichtliche Situation, die außer durch das gesetzte Recht wesentlich durch den Stand des „allgemeinen Rechtsbewußtseins“ bestimmt wird, – und so wird man z. B. durchaus sagen können, daß etwa die Lehre von der culpa in contrahendo oder von der Verwirkung nicht zu jeder Zeit aus dem Vertrauensprinzip zu begründen waren, also nicht notwendig von Anfang an „galten“, sondern erst nach einer bestimmten Wandlung des allgemeinen Rechtsbewußtseins, die zu 25 Hinsichtlich der Einzelheiten, insbesondere auch hinsichtlich der Beispiele muß ich mich wieder auf eine Verweisung auf meine Ausführungen, a.a.O., S. 93 ff. und S. 160 ff. (vgl. auch die Zusammenfassung S. 170 f.) beschränken. 26 Die dem Gesetz immanenten Prinzipien sind zwar, wie oben dargelegt, grundsätzlich keine Einbruchstellen für Wandlungen des objektiven Systems, doch gibt es natürlich Übergänge; vor allem ist mitunter die Allgemeinheit eines im Gesetz enthaltenen Prinzips nur durch den zusätzlichen Rückgriff auf Kriterien wie die Rechtsidee oder die Natur der Sache überzeugend zu begründen, und mindestens in diesen Fällen unterliegen auch sie einem gewissen Wandel; vgl. im übrigen auch unten Fn. 38. 27 Vgl. dazu vor allem Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, passim; Larenz, Nikisch-Festschrift, S. 299 ff., insbesondere S. 301 und 305 sowie Methodenlehre, S. 314 ff. 28 Der Begriff wird hier im Sinne von Larenz, Methodenlehre, S. 192 f. verstanden. 29 Diese ist von Radbruch geradezu als Grund für die „Mannigfaltigkeit historischer und nationaler Rechtsbildungen“ bezeichnet worden, vgl. Festschrift für R. Laun, 1948, S. 158. – Aus dem umfangreichen Schrifttum zur Natur der Sache vgl. aus den letzten Jahren vor allem Schambeck, Der Begriff der Natur der Sache, 1964, mit ausführlichen Nachw.; Arthur Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 1965; Dreier, Zum Begriff der Natur der Sache, 1965. 30 Jedenfalls, nachdem es einmal ins Bewußtsein getreten ist.
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einer stärkeren Betonung rechtsethischer Werte führte, Anerkennung als legitime Rechtsfortbildungen beanspruchen konnten. – Ähnliches läßt sich für Beispiele einer Argumentation aus der Natur der Sache dartun. So sind z. B. die Auffassungen über die „Natur“ des Arbeitsverhältnisses starken Veränderungen unterworfen, und dementsprechend dürften etwa die aus jener abzuleitende31 Fürsorgepflicht und vollends viele heute aus dieser gezogene Einzelfolgerungen nicht notwendig von Anfang an (objektiv und nur noch unerkannt) Bestandteil unseres Privatrechts gewesen sein, sondern erst in einem allmählichen Prozeß Geltung erlangt haben32. – Dasselbe trifft schließlich im wesentlichen auch [72] für die „wertausfüllungsbedürftigen“ Generalklauseln wie die Verweisungen auf die guten Sitten oder auf Treu und Glauben zu, in denen das Gesetz selbst dem Einbruch außergesetzlicher und notwendigerweise wandelbarer Wertungen Raum gibt: auch darin liegt ein Ansatzpunkt für eine Änderung des objektiven Systems, die hier ganz ähnlich verläuft wie bei der Konkretisierung allgemeiner Rechtsprinzipien (auf die die Generalklauseln ja häufig geradezu verweisen). 2. Wandlungen des „wissenschaftlichen“ Systems Wird der Wechsel des Inhalts derartiger nicht aus dem Gesetz zu entnehmender Rechtsprinzipien somit stark durch die Wandlungen des „allgemeinen Rechtsbewußtseins“ bestimmt, so schließt das andererseits doch nicht aus, daß sie grundsätzlich nicht „gesetzt“ oder „postuliert“, sondern „entdeckt“ oder „gefunden“ werden33. Das aber bedeutet für das Verhältnis von objektivem und wissenschaftlichem System, daß auch hier die Wandlung des ersteren der Änderung des letzteren vorauszugehen hat34; denn auch in derartigen Fällen sprechen Rechtsprechung und Lehre, jedenfalls der Idee nach, nur aus, was „an sich“ schon gilt. Freilich wird hier in ganz besonderem Maße deutlich, daß man das Verhältnis zwischen dem objektiven Recht und seiner Erkenntnis und Anwendung – zumindest dort, wo es um wertungsmäßige Konkretisierung und nicht um bloße Subsumtion geht – nur als dialektisches verstehen kann35: zwar ist bei der Argumentation aus einem allgemeinen Rechtsprinzip dessen Geltung stets bereits vorSo mit Recht Larenz, Nikisch-Festschrift, S. 284 f. Diesen beeinflussen neben dem Wandel des allgemeinen Rechtsbewußtseins – und von diesem z. T. wiederum hervorgerufen wie auch auf es zurückwirkend – natürlich noch andere Faktoren wie etwa das Fortschreiten des gesetzgeberischen Arbeitnehmerschutzes u. dgl. 33 So mit Recht Larenz, Methodenlehre, S. 315. 34 Anders liegt es natürlich hinsichtlich des faktisch geltenden Rechts, des „law in action“, bei dem regelmäßig die neue Einsicht mit der gewandelten Anwendung zusammenfällt oder dieser sogar vorausgeht (zum Unterschied von normativer und faktischer Geltung vgl. oben Fn. 12). 35 Grundlegend Larenz, Methodenlehre, S. 189 ff. (193 f.). 31 32
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ausgesetzt, doch wird dieses andererseits auch erst im Prozeß seiner Anwendung näher konkretisiert36, – wie denn z. B. die Anerkennung [73] der Lehre von der Verwirkung oder ähnlicher neuer Institute eine Wandlung des allgemeinen Rechtsbewußtseins nicht nur voraussetzt, sondern auch selbst zum Ausdruck bringt und vorantreibt37. Zusammenfassend ist somit folgendes zu sagen: Die Wandlungen des objektiven Systems gehen im wesentlichen38 zurück auf Änderungen der Gesetzgebung, auf gewohnheitsrechtliche Neubildungen, auf die Konkretisierung wertausfüllungsbedürftiger Normen und auf den Durchbruch außergesetzlicher allgemeiner Rechtsprinzipien, die ihren Geltungsgrund in der Rechtsidee und in der Natur der Sache finden. Die Änderungen des wissenschaftlichen Systems ergeben sich zum einen aus den Fortschritten der Einsicht in die Grundwertungen des geltenden Rechts und stellen zum anderen den Nachvollzug von Wandlungen des objektiven Systems dar. Die Änderungen des ersteren folgen daher den Wandlungen des letzteren grundsätzlich nach, doch sind auch das objektive und das wissenschaftliche System in der allgemeinen Dialektik zwischen dem objektiv geltenden Recht und seiner Anwendung verbunden. [74]
36 In dieser Dialektik ist auch der Gegensatz zwischen dem normativ geltenden und dem faktisch geltenden Recht (vgl. oben Fn. 12) teilweise überwunden, indem die beiden Geltungsformen sich im Prozeß der Rechtsanwendung wechselseitig beeinflussen. Im übrigen wird ihre Verbindung vor allem durch das Gewohnheitsrecht gewährleistet: eine Regelung, die zwar in faktischer, nicht aber in normativer Geltung steht, kann durch das Gewohnheitsrecht auch letztere erlangen, und umgekehrt kann eine Regelung, die zwar normative Geltung besitzt, aber mangels Anwendung der faktischen Geltung entbehrt, durch gewohnheitsrechtliche desuetudo auch die normative Geltung verlieren, so daß das Gewohnheitsrecht auf die Dauer meist ein Auseinanderfallen der beiden Geltungsarten verhindern wird. 37 Aus dieser Dialektik dürfte es sich wohl vor allem erklären, daß allgemeine Rechtsprinzipien häufig erst verhältnismäßig lange nach ihrer erstmaligen „Anwendung“ zutreffend formuliert werden und besonders oft viele Jahre hinter Scheinbegründungen verborgen bleiben. 38 Auch durch die gewöhnliche Auslegung können sich natürlich mitunter Systemwandlungen ergeben, weil und soweit auch diese durch die Vermittlung des „allgemeinen Rechtsbewußtseins“ hindurchgeht und daher Veränderungen unterliegt.
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§ 4 Die Beweglichkeit des Systems Mit der „Offenheit“ des Systems wird häufig seine „Beweglichkeit“ identifiziert. Ein derartiger Sprachgebrauch wäre an sich durchaus möglich, da auch das Wort „Beweglichkeit“ die Vorläufigkeit und Veränderlichkeit des Systems anschaulich zum Ausdruck bringt1, doch empfiehlt er sich nicht; denn der Terminus ist durch Wilburg in einem anderen Sinne festgelegt2, und man sollte ihn daher zur Vermeidung von Mißverständnissen auch nur so gebrauchen, wie er bei Wilburg gemeint ist. Im folgenden wird „Beweglichkeit“ deshalb von „Offenheit“ unterschieden und von einem „beweglichen System“ nur dort gesprochen, wo die für Wilburgs Systembegriff wesentlichen Merkmale gegeben sind. I. Die Merkmale des „beweglichen Systems“ i. S. Wilburgs Welche dies sind, wird am besten an einem der Beispiele klar, an denen Wilburg seine Konzeption entwickelt hat: an seiner Theorie des Schadensersatzrechts. Wilburg lehnt es ab, nach einem einheitlichen Rechtsprinzip, das alle Fragen der Schadensersatzhaftung löst, zu suchen, und setzt an dessen Stelle eine Mehrzahl von Gesichtspunkten, die er als „Elemente“ oder als „bewegende Kräfte“ bezeichnet; diese sind: „1. Ein für das Schadensereignis kausaler Mangel, der auf seiten des Haftenden liegt. Dieser Mangel hat verschiedene Schwere, je nachdem ob er vom Haftenden oder von dessen Gehilfen verschuldet oder überhaupt ohne Verschulden, so z. B. ein unerkennbarer Materialfehler einer Maschine, entstanden ist. 2. Eine Gefährdung, die der Schädiger durch ein Unternehmen oder durch den Besitz einer Sache geschaffen hat und die zum Eintritt des Schadens führte. 3. Die Nähe des Kausalzusammenhangs, der zwischen den haftungsbegründenden Ursachen und dem eingetretenen Schaden besteht. 4. Die soziale Abwägung der Vermögenslage des Beschädigten und des Beschädigers3.“ Die Rechtsfolge ergibt sich nun – und das ist [75] das Entscheidende – „aus dem Zusammenwirken dieser Elemente je nach Zahl und Stärke“4 und ist vom Richter „nach gelenktem Ermessen“ festzulegen5. Die „Kräfte“ sind also nicht „absolute, 1 In diesem Sinne braucht ihn z. B. Zippelius, NJW 1967, S. 2231, Sp. 2; wohl auch Zimmerl, Aufbau des Strafrechtssystems, 1930, Vorwort S. V; vgl. ferner die Zitate unten Fn. 9. 2 Grundlegend: Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht, Grazer Rektoratsrede 1950. 3 Vgl. a.a.O., S. 12 f. im Anschluß an Die Elemente des Schadensrechts, 1941, insbesondere S. 26 ff. und 283 ff.; vgl. ferner Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346. 4 Vgl. AcP 163, S. 347. 5 Vgl. Entwicklung eines beweglichen Systems, S. 22.
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starre Größen, sondern es entscheidet die Gesamtwirkung ihres variablen Spiels“6, und es kann dabei u. U. auch ausreichen, wenn nur eines der Elemente vorliegt, sofern dieses „in besonderer Stärke“ auftritt7. Charakteristisch für die Beweglichkeit des Systems ist demnach zum einen, daß Wilburg die Festlegung eines bestimmten Rangverhältnisses zwischen den „Elementen“ ablehnt, diese also grundsätzlich auf dieselbe Stufe stellt, und zum anderen, daß sie keineswegs immer alle gegeben sein müssen, sondern einander ersetzen können. Grundsätzliche Ranggleichheit und wechselseitige Austauschbarkeit der maßgeblichen Prinzipien oder Gerechtigkeitskriterien – denn um solche handelt es sich der Sache nach, wo Wilburg von „Elementen“ oder „bewegenden Kräften“ spricht8 – bei gleichzeitigem Verzicht auf eine abschließende Tatbestandsbildung sind also die Wesensmerkmale des „beweglichen Systems“. – Das hat, wie man unschwer sieht, mit der Offenheit des Systems so gut wie nichts zu tun9: die für diese charakteristische Veränderlichkeit der Wertungen und Prinzipien braucht bei einem beweglichen System nicht notwendig gegeben zu sein, da die maßgeblichen „Elemente“ durchaus ein für allemal feststehen können, und umgekehrt hat die Offenheit des Systems keineswegs unbedingt die Ranggleichheit und die Austauschbarkeit seiner Prin- [76] zipien und den Verzicht auf feste Tatbestandsbildung zur Folge; ein bewegliches System kann also offen oder geschlossen10, ein offenes System beweglich oder unbeweglich sein.
Vgl. a.a.O., S. 13. Vgl. a.a.O., S. 13. 8 Diese Terminologie dürfte wenig glücklich sein. Denn beide Ausdrücke erinnern sehr stark an naturwissenschaftliche Kategorien (chemische Elemente, physikalische Kräfte! vgl. auch a.a.O., S. 17, wo von der „Wirkungsenergie“ der Vertragstreue die Rede ist), und mit diesen sind juristische Probleme nicht sachgerecht zu lösen, – was Wilburg übrigens keineswegs verkennt (vgl. z. B. seine Kritik an der „naturhistorischen“ Methode Jherings, a.a.O., S. 4 f.). Besser wäre daher wohl der Terminus „Bewertungsprinzipien“ oder „Gerechtigkeitskriterien“, weil dadurch das Gemeinte unmittelbar beim Namen genannt würde und zugleich auch Wilburgs methodengeschichtliche Stellung deutlich zum Ausdruck käme: der Sache nach ist er den Vorstellungen der älteren Interessenjurisprudenz und des „kausalen Rechtsdenkens“, zu denen er eine gewisse Verwandtschaft konstatiert (vgl. a.a.O., S. 5) und die in der Tat seine Terminologie beeinflußt haben mögen, weit überlegen und dürfte zu den frühesten und wegweisenden Vertretern der modernen „Wertungsjurisprudenz“ (zu dieser vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 123 ff.) zu rechnen sein. 9 Es ist daher nicht zutreffend, wenn des öfteren Wilburgs „bewegliches“ System mit einem offenen System einfach gleichgesetzt wird; vgl. aber Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 187 f. (188); Wieacker, Juristentags-Festschrift, Bd. II, 1960, S. 7; Larenz, JuS 65, S. 379, Sp. 2; MayerMaly, The Irish Jurist, vol. II part 2, 1967, p. 375 mit Fußn. 2. 10 Wilburg selbst dürfte sein bewegliches System zugleich als offenes meinen, da er ausdrücklich hervorhebt, es könnten auch „neue Gesichtspunkte und Kräfte“ hinzutreten, vgl. a.a.O., S. 14. 6 7
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II. Bewegliches System und allgemeiner Systembegriff Wilburg will mit seiner Konzeption keineswegs den Gedanken eines Systems gänzlich aufgeben, sondern dieses nur anders – eben „beweglich“ – gestalten; er hält daher auch unmißverständlich an dem Terminus „System“ fest. Gleichwohl hat Viehweg ihn ohne weiteres unter die Vertreter topischen – und das heißt doch wohl: nichtsystematischen – Denkens eingereiht11, und es fragt sich in der Tat, ob und inwiefern hier der Sache nach12 wirklich noch von einem „System“ die Rede sein kann oder ob nicht vielmehr ein „bewegliches“ System einen Widerspruch in sich darstellt. Charakteristisch für den Systembegriff sind nun, wie eingangs herausgestellt13, die Merkmale der Einheit und Ordnung. Das erstere ist bei Wilburg zweifellos erfüllt. Denn sein ganzes Denken ist, das muß gegenüber manchem Mißverständnis nachdrücklich betont werden, darauf gerichtet, einige wenige tragende Grundgedanken herauszuarbeiten, aus deren Zusammenspiel sich dann die Fülle der Einzelentscheidungen ergibt; das bewegliche System soll also durchaus die Einheit in der Vielheit sichtbar machen. Das kommt z. B. in Wilburgs Forderung an den Gesetzgeber, durch eine „klare Führung der Ideen“ die Flut unzusammenhängender Einzelnormen einzudämmen14, ebenso deutlich zum Ausdruck wie in seiner Polemik gegen die Orientierung des Richters an bloßer Billigkeit15, der „die Grundsätzlichkeit“ fehle16. Daß Wilburg sich weigert, alle Rechtsnormen auf einen einzigen Rechtsgedanken zurückzuführen, ist demgegenüber unerheblich, da ein System durchaus aus mehreren Grundprinzipien bestehen kann und in aller Regel auch besteht. [77] Mit dem Merkmal der Einheit muß folgerichtig aber auch das der Ordnung bejaht werden, da es jene nicht ohne diese geben kann17, und so betont denn auch Wilburg immer wieder die Notwendigkeit einer „inneren Ordnung“ oder eines „inneren Halts“ des Rechts18. Dazu steht es durchaus nicht in Widerspruch, daß er die maßgeblichen Kriterien, wie gezeigt, grundsätzlich als wechselseitig austauschbar ansieht; denn es kann ja keineswegs jeder beliebige Gesichtspunkt jeden anderen ersetzen – das wäre in der Tat nicht Ordnung, sondern Chaos –, sondern es kann immer nur ein Element aus einer bestimmten Zahl für eine konkrete Rege11 Vgl. Topik und Jurisprudenz, S. 72 ff.; zustimmend Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 597, Fn. 48; vgl. dazu auch unten Fn. 28. 12 Die Terminologie ist letztlich natürlich nicht entscheidend, wenngleich Viehweg das in ihr zum Ausdruck kommende Selbstverständnis Wilburgs nicht einfach mit Stillschweigen hätte übergehen dürfen, vgl, auch Diederichsen, NJW 66, S. 699. 13 Vgl. oben § 1 I. 14 Vgl. a.a.O., S. 4. 15 Vgl. a.a.O., S. 22. 16 Vgl. a.a.O., S. 6. 17 Wohl aber ist umgekehrt Ordnung ohne Einheit möglich; vgl. auch oben S. 12 f. 18 Vgl. a.a.O., S. 12 bzw. S. 22.
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lungsmaterie an die Stelle eines anderen treten, also z. B. für die Lösung des Problems des außervertraglichen Schadensersatzanspruchs einer der oben genannten vier Faktoren an die Stelle eines anderen von ihnen. Und ebensowenig steht die grundsätzliche Gleichrangigkeit der maßgeblichen Gerechtigkeitskriterien mit dem Merkmal der Ordnung in Widerspruch, da die Gleichordnung auch eine Form der Ordnung ist. Allerdings ist mit dem Begriff des Systems herkömmlich die Vorstellung einer gewissen Hierarchie verbunden, doch erscheint dieses Merkmal nicht als unverzichtbar, soweit sein Fehlen nicht das Bestehen einer inneren Einheit unmöglich macht. Letzteres aber ist bei Wilburg gerade nicht der Fall, und man würde ihn denn wohl auch mißverstehen, wollte man annehmen, er sähe schlechthin alle innerhalb der Rechtsordnung irgendwie relevanten Gesichtspunkte grundsätzlich als gleichgewichtig an; im Gegenteil: der Gedanke einer gewissen Hierarchie dürfte Wilburgs Konzeption keineswegs fremd sein, da zu den von ihm herausgearbeiteten „Elementen“ bei manchem Sonderproblem zweifellos noch zusätzliche Lösungsgesichtspunkte treten müssen, auf die gerade ein so differenzierendes Denken wie das seine nicht verzichten kann, und da diese dann gegenüber jenen jedenfalls geringeres Gewicht besitzen. Nur innerhalb der – einheitsstiftenden – Grundprinzipien besteht also Ranggleichheit – und selbst hier schließt Wilburg ersichtlich die Möglichkeit einer Rangstufung nicht völlig aus19 –, wohingegen im Verhältnis zwischen diesen und den übrigen für ein Einzelproblem maßgeblichen Kriterien durchaus von einer [78] gewissen Hierarchie gesprochen werden könnte20. Alles in allem trägt Wilburgs Konzeption den Namen „System“ daher zu Recht21, wenngleich nicht zu verkennen ist, daß es sich um einen Grenzfall handelt. III. Bewegliches System und geltendes Recht 1. Der grundsätzliche Vorrang unbeweglicher Systemteile Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit der Systemproblematik im Hinblick auf das geltende deutsche Recht, insbesondere auf das deutsche Privatrecht, und es erhebt sich daher die Frage nach dessen Verhältnis zu Wilburgs Gedanken. Ein 19 Vgl. z. B. a.a.O., S. 15, wo Wilburg (bei einem bereicherungsrechtlichen Problem) die Vermögenslage der Beteiligten „in zweifelhaften Fällen“ berücksichtigen will, also offenbar nur dort, wo die übrigen Kriterien eine gerechte Lösung nicht ermöglichen, d. h. aber subsidär, was eindeutig ein Rangverhältnis impliziert. Auch im Schadensersatzrecht hat Wilburg späterhin gewisse Zweifel an der Zulässigkeit einer gleichrangigen Berücksichtigung der Vermögenslage geäußert, vgl. AcP 163, S. 346, Fn. 2. 20 Ob das Wilburgs Ansicht wirklich ist, wird man mangels einer eindeutigen Stellungnahme zu dieser Frage allerdings wohl kaum abschließend entscheiden können. 21 Vgl. auch Bydlinski, öJBl. 1965, S. 360; Diederichsen, NJW 66, S. 699.
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Blick auf unsere Rechtsordnung läßt die Antwort nicht zweifelhaft erscheinen: das System des geltenden deutschen Rechts ist grundsätzlich nicht beweglich, sondern unbeweglich. Denn es weist den einzelnen Prinzipien i. d. R. klar umgrenzte Anwendungsbereiche zu, innerhalb deren sie nicht durch andere „Elemente“ ersetzbar sind, und es bevorzugt die feste Tatbestandsbildung, die eine variable Bestimmung der Rechtsfolge auf Grund – wenn auch „gebundenen“ – richterlichen Ermessens ausschließt. So ist im deutschen Recht, um beim Beispiel des Schadensersatzrechts zu bleiben, deutlich bestimmt, wo das Verschuldensprinzip und wo der Gedanke der Gefährdung maßgeblich sind, unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise auch einmal die Vermögenslage der Beteiligten zu berücksichtigen ist (vgl. § 829 BGB) usw. Für eine Abwägung der Kriterien „nach Zahl und Stärke“ bleibt hier kein Raum, und das gilt im Grundsatz auch für alle anderen Teile unseres Privatrechts und unserer Rechtsordnung überhaupt. 2. Die Existenz beweglicher Systemteile Jedoch nur im Grundsatz! Das geltende deutsche Schadensersatzrecht enthält nämlich zugleich auch ein Gegenbeispiel, das die notwendige Einschränkung deutlich macht: die Durchbrechung des Alles-oder-Nichts-Prinzips in § 254 BGB. Nach dieser Vorschrift hängt die Höhe des Ersatzanspruchs „von den Umständen“ ab, sofern auf seiten des Geschädigten ein Verschulden oder – das ist heute allgemein anerkannt – ein anderer Zurechnungsgrund, vor allem also eine zurechenbare Betriebsgefahr mitgewirkt hat. Hier ergibt sich nun genau das Bild, das für Wilburgs bewegliches System charakteristisch ist: es sind verschiedene Faktoren gegeneinander abzuwägen, wobei der [79] eine den anderen ersetzen kann und unter ihnen kein festes Rangverhältnis besteht. So kann z. B. statt Mitverschulden auch eine mitwirkende Betriebsgefahr eingewandt werden, ein leichtes Mitverschulden kann durch das Hinzutreten von gefahrerhöhenden Umständen in der Sphäre des Geschädigten möglicherweise zu einer ebenso großen Minderung seines Ersatzanspruchs führen wie ein grobes Mitverschulden22, eine „besondere“ oder „erhöhte“ Betriebsgefahr kann auch ein schweres Verschulden teilweise aufwiegen usw.; eine mitwirkende Betriebsgefahr kann grundsätzlich auch gegenüber der Verschuldenshaftung23, leichtes Mitverschulden auch gegenüber grober Fahrlässigkeit und u. U. sogar gegenüber Vorsatz anspruchsmindernd 22 Denn das Verschulden und sein Grad sind bei der Ermittlung der Höhe des Ersatzanspruchs nur einer unter mehreren abzuwägenden Umständen; zur Frage, welche Faktoren maßgeblich sind, vgl. statt aller Larenz, Schuldrecht A. T., 9. Aufl. 1968, § 15 I e; Esser, Schuldrecht, 3. Aufl. 1968, § 47 IV und VII; Soergel-Schmidt, 10. Aufl. 1968, § 254 Rdzn. 7 ff. 23 Das ist heute ganz h. L., vgl. z. B. Larenz, a.a.O., unter b und Esser, a.a.O., unter 5, jeweils m. Nachw.
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wirken, und auch umgekehrt wird die Gefährdungshaftung nicht notwendig durch Mitverschulden, die Haftung auf Grund einer „culpa levissima“ nicht ohne weiteres durch grobes Mitverschulden ausgeschlossen. Eine feste Tatbestandsbildung ist also nicht möglich, sondern es sind ganz im Sinne Wilburgs bestimmte Kriterien „nach Zahl und Stärke“ gegeneinander abzuwägen, ohne daß ein Rangverhältnis, etwa zwischen Verschulden und Gefährdung, ein für allemal festläge; andererseits sind aber auch nicht beliebige Gesichtspunkte von Bedeutung – der Richter darf zweifelsohne nicht den Familienstand oder die Staatsangehörigkeit der Beteiligten berücksichtigen und die Vermögensverhältnisse nur im Ausnahmefall der analogen Anwendung des § 829 BGB –, sondern nur spezifische, generell feststehende Zurechnungskriterien wie die Höhe des Verschuldens, die Gefährlichkeit eines Betriebes oder einer Sache, der Grad der Adäquanz oder die „Nähe“ des Kausalzusammenhangs24, – also jene Prinzipien, die auch sonst unser Schadensersatzrecht beherrschen. Dessen System enthält somit bei grundsätzlicher „Unbeweglichkeit“ einen Teilbereich, in dem die maßgeblichen Bewertungsgesichtspunkte „beweglich“ sind. Ähnliches läßt sich auch für andere Gebiete zeigen. Insbesondere dort, wo die festen Tatbestände durch Generalklauseln ergänzt und aufgelockert sind, finden sich häufig Beispiele für die Beweglichkeit [80] des Systems: bei der Feststellung, ob eine Kündigung sozialwidrig ist, ein wichtiger Grund vorliegt, ein Rechtsgeschäft oder ein Verhalten gegen die guten Sitten verstößt usw. sind regelmäßig bestimmte Gesichtspunkte ohne festes Rangverhältnis „nach Zahl und Stärke“ gegeneinander abzuwägen25. Die feste Tatbestandsbildung stellt dabei allerdings, das wird man ohne weiteres sagen können, die Regel dar, die „Beweglichkeit“ bildet die Ausnahme26. Das geltende Recht kennt also ein Nebeneinander von unbeweglichen und beweglichen Systemteilen bei grundsätzlichem Überwiegen der ersteren. IV. Die legislatorische und methodologische Bedeutung des beweglichen Systems Methodologisch und rechtsphilosophisch kann man nun freilich bei diesem Ergebnis nicht stehen bleiben. Vielmehr ist weiter zu fragen, wie denn Willburgs Konzeption unabhängig von ihrer mehr oder weniger weitgehenden Verwirklichung in einer 24 Welche Faktoren zu berücksichtigen sind, ist im einzelnen noch nicht völlig geklärt; daß es dabei aber immer um Zurechnungsgesichtspunkte geht und daß nicht jeder beliebige „topos“ Verwendung finden kann, dürfte außer Streit stehen. Vgl. zur Problematik die oben Fn. 22 angegebene Literatur. 25 Das „bewegliche System“ ist jedoch nicht mit den Generalklauseln zu identifizieren, vgl. näher unten S. 82 und 85. 26 Nicht nur zahlenmäßig, sondern vor allem auch gewichtsmäßig!
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konkreten Rechtsordnung zu beurteilen ist und welche Bedeutung sie dementsprechend de lege ferenda, also für den Gesetzgeber hat. 1. Das bewegliche System und die Forderung nach stärkerer Differenzierung Für die Antwort muß zunächst ein Merkmal ausgeklammert werden, das zwar auch kennzeichnend für Wilburgs „bewegliches System“ ist, das aber nicht ein Spezifikum desselben darstellt, sondern ebenso bei einem „unbeweglichen“ System denkbar ist. Gemeint ist Wilburgs Forderung nach stärkerer Differenzierung und seine Kritik an jeder Verabsolutierung eines bestimmten Prinzips. Insoweit ist ihm zweifellos zuzustimmen, und oben27 wurde es denn auch geradezu als ein wesentliches Charakteristikum der systembildenden Funktion der Prinzipien bezeichnet, daß diese nicht den Anspruch ausschließlicher Geltung erheben, sondern vielmehr auf wechselseitige Ergänzung, also auf ein „Zusammenspiel“ angewiesen sind und für die rechtssatzmäßige Ausformung darüber hinaus der differenzierenden Konkretisierung durch neue und selbständige Bewertungskriterien bedürfen. So richtig diese Haltung nun ist und so allgemeine Anerkennung sie – nicht zuletzt unter dem Eindruck von Wilburgs eigenen Arbeiten zum Bereicherungsrecht und zum Schadensersatzrecht – in der heutigen zivilistischen Dogmatik findet, so wenig ist eine solche stärkere Diffe- [81] renzierung doch gerade an ein bewegliches System gebunden28. Wenn Wilburg z. B. fordert, im Konkursrecht das starre Prinzip der Gleichheit aller nicht dinglich gesicherten Gläubiger durch ein „elastischeres“ Zusammenwirken verschiedener Rechtsgedanken zu ersetzen und als solche etwa den Gesichtspunkt der „Wertverfolgung“, der unvorsichtigen Kreditgewährung und des Sozialschutzes bei „kleinen“ Gläubigern nennt29, so kann man dieses Ziel mindestens ebensogut durch ein unbeVgl. S. 53 ff. und 55 ff. Vollends unverständlich ist es, wenn Viehweg, a.a.O., S. 72 ff., insbesondere S. 74, in Wilburgs Kampf gegen die Verabsolutierung bestimmter Prinzipien einen „Beleg für die topische Struktur in der gegenwärtigen Zivilistik“ sieht. Daß ein Prinzip stets nach Alleinherrschaft streben muß, gilt nicht einmal für das von Viehweg in bezug genommene axiomatisch-logische System, mag auch eine gewisse Tendenz zur Rückführung auf einige wenige Grundgedanken diesem (wie jedem) System innewohnen und seinem Ideal entsprechen. Die Herausarbeitung einiger weniger tragender Grundgedanken aber ist, wie im Text gezeigt, genau die Absicht Wilburgs, so daß diese Anknüpfung Viehwegs an ihn als besonders unglücklich erscheint; eher hätte sich dafür noch Wilburgs Verzicht auf die Bildung fester Tatbestände angeboten, doch hätte Viehweg damit freilich nicht seine These, daß die Jurisprudenz in ihrer Gesamtheit eine topische Struktur aufweise, belegen können, sondern sie auf Generalklauseln und ähnliche Erscheinungen beschränken müssen (womit er dem Richtigen auch durchaus nahe gekommen wäre, vgl. näher unten § 7 II 2). 29 Vgl. a.a.O., S. 6 ff. im Anschluß an öJBl. 1949, S. 29 ff. 27 28
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wegliches wie durch ein bewegliches System erreichen: man kann durchaus entsprechende feste Tatbestände bilden (wie das im deutschen Konkursrecht hinsichtlich der Ersatzaussonderung in § 46 KO30 oder hinsichtlich bestimmter besonders schutzwürdiger Gläubiger in § 61 KO ja auch geschehen ist) und so den Grundsatz der Gleichheit aller Konkursgläubiger durch klar umrissene Ausnahmen einschränken; ja, man wird sogar sagen müssen, daß eine solche zwar differenzierende, aber unbewegliche Gestaltung im Konkursrecht wesentlich sachgerechter ist und daß man insbesondere auf ein festes Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Arten von Konkursforderungen, damit aber auch zwischen den verschiedenen Bewertungsgesichtspunkten kaum wird verzichten können. Differenzierung und Kampf gegen falsche Verabsolutierung einzelner Prinzipien setzen daher nicht notwendig Beweglichkeit voraus31, und so besagt die große Differenziertheit von Wilburgs Denkweise als solche noch nichts Wesentliches über den Wert eines beweglichen Systems. 2. Bewegliches System und Generalklausel Allein entscheidend sind vielmehr auch insoweit nur dessen Spezifika, also das Fehlen einer festen Tatbestandsbildung sowie die wech- [82] selseitige Austauschbarkeit und grundsätzliche Gleichrangigkeit der Bewertungsprinzipien. Insbesondere das erste Merkmal legt es nun nahe, die Frage ohne weiteres mit der nach dem Verhältnis von festem Tatbestand und Generalklausel zu identifizieren. Damit würde man Wilburg jedoch mißverstehen32. Denn für die Generalklausel ist charakteristisch, daß sie wertausfüllungsbedürftig ist, d. h., daß sie die zu ihrer Konkretisierung erforderlichen Kriterien nicht angibt und daß diese sich grundsätzlich nur im Hinblick auf den jeweiligen konkreten Fall festlegen lassen; Wilburgs Bestreben ist demgegenüber darauf gerichtet, die maßgeblichen „Elemente“ nach Inhalt und Zahl generell zu bestimmen und nur ihr „Mischungsverhältnis“ variabel zu gestalten und von den Umständen des Falles abhängen zu lassen33. So wehrt sich Wilburg denn auch nachdrücklich gegen Entscheidungen nach bloßer Billigkeit, weil – ein für seine Grundhaltung höchst aufschlußreiches Argument – die30 Ob dessen Ausgestaltung im einzelnen Wilburgs Forderungen entspricht – sie tut es sicher nicht! –, ist für die hier erörterte grundsätzliche Fragestellung ohne Bedeutung. 31 Eher schon „Offenheit“, soweit sich die Forderung nach stärkerer Differenzierung nicht nur an den Gesetzgeber, sondern auch an den Rechtsanwender richtet. 32 Die Kritik von Esser, AcP 151, S. 555 f. und RabelsZ 18 (1953), S. 165 ff. wird daher m. E. Wilburg nicht voll gerecht. 33 Wilburg stellt daher auch grundsätzlich nicht schlechthin auf die Lage des Einzelfalls ab, sondern „auf die Lage des Einzelfalls im Hinblick auf die dargelegten, zusammenwirkenden Gesichtspunkte“, wie seine charakteristische Formulierung lautet; vgl. a.a.O., S. 17, 13, 18 und öfter.
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ser die „Grundsätzlichkeit“ fehle34; die Generalklauseln werden dagegen immer wieder, und mindestens teilweise mit Recht, als „Einbruchsstellen der Billigkeit“ bezeichnet. 3. Die Zwischenstellung des beweglichen Systems zwischen Generalklausel und festem Tatbestand und die Notwendigkeit einer Verbindung dieser drei Gestaltungsmöglichkeiten Weist somit das bewegliche System auch nicht dieselbe Struktur wie die wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln auf, so ist andererseits doch auch eine gewisse Verwandtschaft mit diesen nicht zu leugnen35: das bewegliche System nimmt eine Zwischenstellung zwischen festem Tatbestand und Generalklausel ein. Daraus ergeben sich seine Vorzüge wie seine Schwächen. Was zunächst die letzteren betrifft, so liegt es auf der Hand, daß ein bewegliches System in geringerem Maße die Rechtssicherheit gewährleistet als ein unbewegliches, streng hierarchisches System mit festen Tatbeständen. In Gebieten, in denen ein erhöhtes Rechtssicherheitsbedürfnis besteht, ist daher unbedingt letzterem der Vorzug zu geben, und so würde denn auch Wilburg selbst gewiß nicht dafür eintreten, etwa die festen Ordnungen des Wert- [83] papierrechts und des Sachenrechts36 oder auch nur des Erbrechts und des Gesellschaftsrechts in bewegliche Systeme aufzulösen. Weiter ist zu bedenken, daß der Richter einfach überfordert wäre, wenn er sich ausnahmslos einem beweglichen System gegenübersähe und damit in jedem Fall vor den Schwierigkeiten der Abwägung zwischen der oft verhältnismäßig großen Zahl von „Elementen“ stünde37. Und schließlich sollte man auch nicht verkennen, daß neben dem Wert der Rechtssicherheit außerdem noch der der Gerechtigkeit in Widerspruch zu einem beweglichen System geraten kann; denn die „generalisierende“ Tendenz des Gerechtigkeitsgebotes, die sich aus dem Gleichheitssatz ergibt, Vgl. a.a.O., S.6; vgl. auch S.22. Zur Bedeutung des beweglichen Systems für die Konkretisierung von Generalklauseln vgl. auch unten S. 85 mit Fn. 45 und vor allem S. 152 f. 36 Zu diesem vgl. ausdrücklich a.a.O., S. 4. 37 Wilburg sieht diesen Einwand durchaus (vgl. a.a.O., S. 23) und entgegnet, die Stellung des Richters sei noch viel schwieriger, „wenn er Grundsätze anwenden soll, die zu unannehmbaren Konsequenzen führen“. Das ist nur zum Teil überzeugend; denn erstens sind wirklich „unannehmbare Konsequenzen“ bei einigermaßen durchdachten Gesetzen doch wohl ein Ausnahmefall, zweitens kann der Richter ihnen häufig durchaus legitim mit Hilfe der das „strenge“ Recht relativierenden Generalklauseln begegnen, drittens kann die Hinnahme auch einer groben Unbilligkeit mit Rücksicht auf andere Rechtswerte, insbesondere auf die Rechtssicherheit u. U. sehr wohl das kleinere Übel sein und viertens und vor allem ergibt sich aus Wilburgs Besorgnis nicht notwendig die Konsequenz, daß nun das gesamte System beweglich sein müsse, sondern nur die, daß es bewegliche Teilbereiche (und auch echte Generalklauseln) als „Ventil“ enthalten muß (vgl. auch sogleich im Text). 34 35
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wirkt jedem Abstellen auf die Umstände des Einzelfalles und damit auch einem Abwägen von – wenn auch generell festliegenden – „Elementen“ entgegen. Die Gerechtigkeit weist allerdings nicht nur eine generalisierende, sondern auch eine individualisierende Tendenz auf38, und es liegt daher nahe, sich zur Rechtfertigung des „beweglichen“ Systems auf diese zu berufen. Indessen ist dabei doch Vorsicht geboten. Denn zum einen ist eine gewisse Individualisierung auch durch starke Differenzierung eines unbeweglichen, streng hierarchischen Systems möglich, und zum anderen erlaubt auch das bewegliche System keine unbegrenzte Individualisierung38a, da es ja auf einer beschränkten Zahl von „Elementen“ aufbaut. In Wahrheit kann man das bewegliche System daher keiner der beiden Tendenzen der Gerechtigkeit gänzlich zuordnen: es berücksichtigt die generalisierende Tendenz, indem es die maßgeblichen Gerechtigkeitskriterien allgemein festlegt, und es trägt der individualisierenden Tendenz Rechnung, indem es die konkrete Rechtsfolge vom Zusammenwirken dieser Gesichtspunkte im Einzelfall abhängig macht. Darin tritt sein großer Vorzug in Erscheinung: das [84] bewegliche System stellt einen besonders glücklichen Kompromiß zwischen den verschiedenen Postulaten der Rechtsidee dar – auch die Rechtssicherheit ist ja immerhin noch in weit stärkerem Maß gewahrt als bei einer bloßen Billigkeitsklausel – und bringt deren „Polarität“39 in einer abgewogenen, „mittleren“ Lösung zum Ausgleich; von den Rigorismen starrer Normen hält es sich gleichermaßen fern wie von der Konturlosigkeit reiner Billigkeitsklauseln. Ihm fehlen aber auch, wie schon gesagt, mindestens teilweise die Vorzüge jener anderen Möglichkeiten, und so kann die Folgerung nur sein, das Recht aus einem Zusammenwirken aller dieser Gestaltungsarten aufzubauen: zwischen die feste Tatbestandsbildung auf der einen und die bloße Billigkeitsklausel auf der anderen Seite tritt das bewegliche System. Die erstere ist zumindest in bestimmten Gebieten, wie soeben dargelegt, keinesfalls zu missen, und insbesondere dann, wenn das „unbewegliche“ System starke Differenzierungen aufweist, kann es die sachgerechteste Lösung darstellen. Erinnert sei an das oben40 erörterte Beispiel aus dem Konkursrecht oder auch an Wilburgs Beispiel aus dem Bereich der Gefährdungshaftung: bei besonders hoher Gefährlichkeit einer Sache, etwa eines Flugzeuges, entlastet den Inhaber nicht einmal der Einwand höherer Gewalt, bei einem weniger gefährlichen Gegenstand wie bei einem Kraftfahrzeug wirkt dagegen schon das Vorliegen eines von außen kommenden „unabwendbaren“ Ereig38 Zu diesen beiden Tendenzen der Gerechtigkeit und zu ihrer wechselseitigen Bezogenheit vgl. vor allem Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 16 ff. und Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 320, 323 ff. (325), 351 ff. 38a Dann wäre es kein System mehr! 39 Daß es um „Polarität“ und nicht um echte Antinomien geht, hat Henkel, a.a.O., S. 345 ff., insbesondere S. 349 ff., überzeugend dargetan. 40 Vgl. S. 81.
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nisses haftungsausschließend41; soll eine solche Differenzierung der Entlastungsgründe nach dem Grade der Gefährlichkeit der Anlage – die sinnvoll erscheint und dem deutschen Recht ja auch durchaus „systemimmanent“ ist – wirklich dem Richter von Fall zu Fall überlassen bleiben oder erscheint es im Interesse der Rechtssicherheit wie der Beachtung des Gleichheitsgebotes hier nicht wesentlich sachgerechter, daß der Gesetzgeber sie nach klaren Tatbestandsmerkmalen (Flugzeug, Eisenbahn, Kraftfahrzeug usw.) generalisierend vornimmt?! Und wie steht es vollends mit der für die Gefährdungshaftung unerläßlichen, weil für die Kalkulierbarkeit und Versicherbarkeit des Risikos erforderlichen Begrenzung der Haftung durch zahlenmäßig fixierte Höchstbeträge42? Es ist schwer zu bestreiten, daß [85] hier die „starre“ gesetzliche Regelung das kleinere Übel ist. – Aber auch umgekehrt darf man nicht verkennen, daß die vollständige Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls möglicherweise ebenfalls sinnvoll sein kann und daher vom Gesetzgeber nicht gänzlich ausgeschlossen werden sollte; denn auch die „Billigkeit“ ist ein spezifisch rechtlicher Wert43, und ihr tragen eben nur gänzlich offene Bestimmungen wie z. B. Zumutbarkeitsklauseln in vollem Umfang Rechnung. Die Verschiedenheit der einzelnen Postulate der Rechtsidee nötigt den Gesetzgeber daher, von allen genannten Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, und nur in einer abgewogenen Auswahl unter ihnen bewährt er sich gegenüber dem Problem der „Polarität“39 der obersten Rechtswerte. Welche Lösung jeweils zu bevorzugen ist, läßt sich allerdings nicht generell sagen, sondern hängt von der besonderen Struktur der betreffenden Regelungsmaterie und dem für sie im Vordergrund stehenden Wert ab44. Dem beweglichen System kommt dabei insofern eine besonders wichtige Aufgabe zu, als es, wie gesagt, in sehr glücklicher Weise die Mitte zwischen festem Tatbestand und Generalklausel hält und der generalisierenden wie der individualisierenden Tendenz der Gerechtigkeit Raum gibt. Es ist aber eben doch nur eine unter mehreren in Betracht kommenden Gestaltungsmöglichkeiten und darf daher in seiner Leistungsfähigkeit andererseits auch nicht überschätzt werden. Mit dieser Einschränkung jedoch ist zu sagen, daß der Gedanke eines beweglichen Systems, wie er von Wilburg Vgl. a.a.O., S.13. In diesem Problem dürfte auch eines der Hauptbedenken gegen eine Generalklausel der Gefährdungshaftung liegen; mindestens müßte diese durch eine Reihe von Spezialtatbeständen ergänzt werden, die die Haftungshöchstgrenze und andere Sonderfragen differenzierend festlegen und so gleichzeitig auch Maßstäbe für die Konkretisierung der Generalklausel selbst bieten könnten. 43 So nachdrücklich und mit Recht Henkel, a.a.O., S. 324. 44 In eine nähere Diskussion über Wert und Unwert der Generalklauseln und über den Umfang des ihnen sinnvollerweise einzuräumenden Anwendungsbereichs kann hier nicht eingetreten werden; vgl. dazu statt aller Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933; F. v. Hippel, Richtlinie und Kasuistik im Aufbau von Rechtsordnungen, 1942; aus neuerer Zeit vor allem Henkel, a.a.O., S. 357 ff., 360 ff. 41 42
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entwickelt worden ist, eine entscheidende Bereicherung des gesetzgeberischen wie des methodologischen45 Instrumentariums darstellt und daher zweifelsohne zu den bedeutenden juristischen „Entdeckungen“46 zu zählen ist. [86]
45 Methodologisch ist zum einen von Bedeutung, die beweglichen Systemteile von den Generalklauseln zu unterscheiden und entsprechend enger zu interpretieren, also z. B. in § 254 BGB nur spezifische Zurechnungsgesichtspunkte zuzulassen; zum anderen dürfte dem Gedanken des beweglichen Systems aber auch eine maßgebliche Rolle bei der Konkretisierung der Generalklauseln selbst zukommen, vgl. dazu unten S. 152 f. 46 Der Begriff der „juristischen Entdeckung“ stammt von Dölle, der ihn allerdings ausschließlich an dogmatischen Einsichten exemplifiziert hat; vgl. den Festvortrag vor dem 42. deutschen Juristentag, Bd. II der „Verhandlungen“, Tübingen 1959.
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§ 5 System und Rechtsgewinnung Begriff und Eigenart des juristischen Systems sind nunmehr hinreichend geklärt, um zur Erörterung jener Frage übergehen zu können, die für die Bedeutung des Systemgedankens in der Jurisprudenz letztlich entscheidend ist: die Frage nach der „praktischen“ Relevanz des Systems. In der Tat wäre eine eingehende Untersuchung der Problematik von „Systemdenken und Systembegriff“ wenig sinnvoll, wäre die Stellungnahme hierzu nicht auch von „praktischer“ Wichtigkeit; denn die Jurisprudenz ist wie wenige andere Wissenschaften unmittelbar auf „praktische“ Bewährung ausgerichtet und angewiesen, und so hat die Frage nach dem „Lebenswert“ des Systems, um in der Sprache der Interessenjurisprudenz zu sprechen, denn auch seit je im Mittelpunkt der Systemdiskussion gestanden. „Praxis“ in diesem Sinne ist nun die Anwendung des Rechts auf den konkreten Sachverhalt, und das Problem ist daher dahin zu präzisieren, ob dem System irgendeine Bedeutung für die Gewinnung der jeweils einschlägigen Rechtssätze zukommt. Diese Frage wird von einer weit verbreiteten Ansicht mit Entschiedenheit verneint. Nach ihr besitzt das System keinen „Lebenswert“, insbesondere keinen „Erkenntniswert“1, und keinen Wert für die Rechtsgewinnung, sondern nur „Darstellungs- und Ordnungswert“. Dieses Systemverständnis geht auf die ältere Interessenjurisprudenz zurück2, kann jedoch auch heute noch überwiegend auf Zustimmung rechnen. Als repräsentativ sei aus jüngster Zeit die Stellungnahme von Kriele zitiert. Er meint, heute spielten „die Versuche zur Rechts- [87] gewinnung mittels der Deduktion aus einem System praktisch nur noch eine verhältnismäßig geringe Rolle“3, und in der Tat könne „die Rechtsgewinnung in der Annahme eines vorgegebenen Systems keinen Halt gewinnen“4; denn: „Der Sinn eines solchen Systems kann vielfältig sein: es dient didaktischen Zwecken, dient 1 im Sinne der Erkenntnis dessen, was geltendes Recht ist; dagegen wird dem System ein didaktischer Wert i. S. einer Erleichterung des Verständnisses des Gesetzes regelmäßig nicht abgesprochen. 2 Vgl. vor allem M. v. Rümelin, Bernhard Windscheid und sein Einfluß auf Privatrecht und Privatrechtswissenschaft, 1907, S. 40 ff. und Zur Lehre von der Juristischen Konstruktion ArchRWirtschPh. XVI (1922/23), S. 343 ff. (349 ff.); Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912, 2. Aufl. 1932, S. 9 ff. und Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 66 ff., 84 ff., 91 ff., 188 ff.; Stoll, Begriff und Konstruktion in der Lehre von der Interessenjurisprudenz, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, 1931, S. 60 ff. (S. 68 f, 76 ff., 112 ff.). Die vorzügliche Rechtfertigung des Systemdenkens gegenüber den Angriffen der Interessenjurisprudenz durch Kretschmar, Über die Methode der Privatrechtswissenschaft, 1914, S. 42 ff. und Jher. Jb. 67, 264 ff., 273 ff., 285 ff. hat leider niemals genügend Beachtung gefunden. Vgl. ferner auch Baumgarten, Juristische Konstruktion und Konstruktionsjurisprudenz, in: Festgabe für Speiser, 1926, S. 105 ff. 3 Vgl. Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 97. 4 a.a.O., S. 97.
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der äußeren Einteilung und damit der Orientierung über die Rechtsordnung, dient rechtspolitisch dem vereinfachten Aufbau der Gesetze ... oder dergl. Nur der Interpretation dient es nicht5.“ Auch in diesem Punkte wird die Diskussion indessen durch die Unklarheiten über den jeweils zugrunde gelegten Systembegriff verwirrt. Alles, was von den Gegnern des Systemdenkens insoweit vorgebracht wird, paßt nämlich nur auf zwei ganz bestimmte Arten von Systemen: auf das „äußere“ System und auf ein logisches oder axiomatisch-deduktives System. So hängt Hecks Polemik gegen die „systematische Konstruktion”6 unmittelbar mit dem Kampf der Interessenjurisprudenz gegen die von den Anhängern der Begriffsjurisprudenz geübte „Inversionsmethode“ zusammen und kann dementsprechend auch nur das von jenen zugrunde gelegte logisch-deduktive System treffen7. Und auch Kriele dürfte einen ganz ähnlichen Systembegriff vor Augen haben, da er ausdrücklich von „Deduktion“ aus einem System spricht8 und auf das „axiomatische“ System Bezug nimmt9. Vollends unkritisch wird schließlich heute im dogmatischen Schrifttum Systemdenken meist ohne weiteres mit „Begriffsjurisprudenz“ gleichgesetzt, ist es hier doch einer der beliebtesten Einwände, ein systematisches Argument ohne nähere Auseinandersetzung als „begriffsjuristisch“ und daher „überholt“ abzutun, – ein Verfahren, das sich gern als „modern“ aus- [88] gibt, beim derzeitigen Stande der Methodenlehre aber nachgerade antiquiert ist. Denn wie im zweiten Paragraphen eingehend dargestellt, gibt es eine Vielzahl verschiedener Systembegriffe, und es steht keineswegs von vornherein fest, daß die Kritik, die an der Möglichkeit einer Rechtsgewinnung aus einem logischen oder axiomatisch-deduktiven System mit Recht geübt worden ist, ohne weiteres auch auf alle übrigen Systemarten zutreffen müßte. Im Gegenteil! Faßt man nämlich mit der hier vertretenen Ansicht das „innere“ System einer Rechtsordnung als axiologisches oder teleologisches10, so 5 a.a.O., S.98 (Hervorhebung hinzugefügt); ein weiterführender Ansatz allerdings S. 121, der jedoch im folgenden (vgl. vor allem S. 124) leider nicht fruchtbar gemacht wird. 6 Vgl. vor allem Begriffsbildung, S. 66 ff. (69 f.), 188 ff. 7 Mitunter setzt Heck dieses zudem auch noch mit dem „äußeren“ System einfach gleich, was seine Polemik noch ungenauer macht; vgl. z. B. a.a.O., S. 196 (gemeint ist hier übrigens das äußere System der Wissenschaft, nicht das des Gesetzes). 8 Vgl. a.a.O., S. 97. 9 Vgl. a.a.O., Fn. 1. Allerdings weisen die Beispiele, die Kriele in Fn. 2 bringt, in die entgegengesetzte Richtung, da die Anhänger der dort erwähnten Ansichten durchweg nicht von einem axiomatisch-deduktiven System ausgehen dürften. Leider hat sich Kriele jedoch mit den von ihm hier erwähnten Theorien nicht im einzelnen auseinandergesetzt, und so ist nicht klar erkennbar, worin er deren Schwächen genau sieht. Da die von ihm im Text vorgebrachten Einwände aber nur gegenüber einem axiomatisch-deduktiven System zutreffen, liegt in der Tat der Verdacht nahe, daß auch Kriele dem Mißverständnis erlegen ist, es könne immer nur jenes gemeint sein, wo von einem juristischen System die Rede ist. 10 Vgl. oben § 2 II 1.
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liegt die Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung geradezu auf der Hand; denn das Systemargument ist dann nur eine besondere Form einer teleologischen Begründung, und als solche muß es ohne weiteres zulässig und relevant sein. Man kann daher durchaus von einer „teleologischen oder wertungsmäßigen Ableitungseignung“ des Systems sprechen, sofern man nur beachtet, daß „Ableitung“ nicht i. S. logischer Deduktion, sondern i. S. wertungsmäßiger Zuordnung zu verstehen ist. Diese ist nicht nur für das oben vorgeschlagene System allgemeiner Rechtsprinzipien, sondern für jedes teleologische System, insbesondere für ein solches aus entsprechenden Begriffen oder Werten anzuerkennen, wobei die praktischen Ergebnisse bei korrekter Systembildung entsprechend der Umformbarkeit der verschiedenen teleologischen Systeme ineinander11 stets dieselben sein müssen12. Damit ist indessen lediglich die grundsätzliche Möglichkeit, das System für die Rechtsgewinnung fruchtbar zu machen, dargetan, und es gilt daher nunmehr, seine Bedeutung hierfür im einzelnen und insbesondere auch die Besonderheiten systematischen Denkens gegenüber anderen Formen teleologischer Argumentation herauszuarbeiten. Dabei kann wieder auf den beiden Elementen des Systembegriffs aufgebaut werden: dem der teleologischen Ordnung und dem der Wahrung der wertungsmäßigen Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts. I. Systematische Einordnung und Aufdeckung des teleologischen Gehalts Wenn man eine rechtliche Erscheinung in einer bestimmten Weise „systematisch einordnet“, so macht man damit regelmäßig zugleich eine Aussage über ihren teleologischen Gehalt. Beispielsweise dient es [89] keineswegs nur „Darstellungs- und Ordnungszwecken“, wenn man eine Vorschrift als Tatbestand der Gefährdungshaftung, der Rechtsscheinhaftung oder der Aufopferungshaftung qualifiziert oder wenn man einen Anspruch als Surrogationsanspruch bezeichnet13. Vielmehr werden damit die hinter den fraglichen Normen stehenden Wertungen, insbesondere die allgemeinen Prinzipien der Rechtsordnung unmittelbar angesprochen. Ein Streit um eine systematische Einordnung ist daher regelmäßig zugleich ein Streit um das „Wesen“ eines Rechtsphänomens14, d. h. aber vorwiegend um seinen wertungsmäßigen Gehalt innerhalb des geltenden Rechts15. Vgl. dazu oben § 2 II 2 a. Es ist evident, daß sich das gleiche Systemargument z. B. aus dem teleologisch verstandenen Begriff des Rechtsgeschäfts gewinnen lassen muß wie aus dem Prinzip der Privatautonomie. 13 Vgl. die im folgenden verwendeten Beispiele. 14 So mit Recht Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 188 f. 15 Es geht also i. d. R. nicht um irgendeine a-priorische Betrachtung! 11 12
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So wäre nichts verfehlter, als etwa die Auseinandersetzung um die Qualifikation eines bestimmten Parteiaktes als Rechtsgeschäft für Begriffsjurisprudenz ohne praktische Bedeutung zu halten; vielmehr fragt man in der Tat z. B. nach dem „Wesen“ des Verlöbnisses, wenn man darüber diskutiert, ob dieses als Vertrag, als rein tatsächliches Verhältnis oder als „gesetzliche“ Sonderbeziehung auf Grund der Inanspruchnahme von Vertrauen anzusehen ist und ob demnach der Verlöbnisbruch einen Vertragsbruch, ein Delikt oder einen Vertrauensbruch darstellt16. Ähnlich geht es bei dem berühmten Streit zwischen der Kreationstheorie und der Vertragstheorie (u. a.17) um das „Wesen“ des Entstehungsaktes eines Wertpapiers. Allerdings ist der Vorgang dieser „Wesenserhellung“ nicht etwa ein sozusagen einbahniger Prozeß, bei dem das Objekt zunächst noch völlig unbekannt ist und dann mit einem Schlag allein durch die systematische Einordnung verstanden würde. Vielmehr besteht eine Wechselwirkung zwischen der Erkenntnis des fraglichen Gegenstandes und seiner systematischen Qualifikation18. So muß man z. B. zunächst die ratio legis des § 833 S. 1 BGB erkannt haben, bevor man diese Vorschrift der Gefährdungshaftung zuordnen kann. Andererseits wäre aber die Aufdeckung dieser ratio ungleich schwieriger, stünde nicht die systematische Kategorie der Gefährdungshaftung bereits zur Ver- [90] fügung. Auch – und das ist wohl noch wichtiger – ermöglicht erst die systematische Einordnung, die fragliche Norm völlig, nämlich nicht nur als Einzelerscheinung, sondern als Teil eines Ganzen zu verstehen. Wenn man z. B. § 833 S. 1 als einen unter vielen Tatbeständen der Gefährdungshaftung sieht, so hat man ihn vollständiger und richtiger verstanden, als wenn man nur seine ratio legis allein – die Einstandspflicht für die von einem Tier ausgehenden Risiken – erkannt hat. Umgekehrt erfährt auch das System durch die Zuordnung eines neuen Tatbestandes u. U. eine inhaltliche Bereicherung oder Modifizierung, da das Besondere hier nicht bloßer Unterfall, sondern konstitutives Element des Allgemeinen ist19. Es liegt also ein dialektischer Prozeß wechselseitiger Sinnerhellung vor. Daß dabei stets die Gefahr des Zirkelschlusses droht, ist nicht zu leugnen, doch handelt es sich hier lediglich um einen Sonderfall des in der Hermeneutik auch sonst wohlbekannten Zirkels zwischen dem Allge16 Vgl. auch Beitzke, Festschrift für Ficker, 1967, S. 84, der mit Recht fragt, welche der Theorien „eine bessere Erklärung des Wesens des Verlöbnisses und seiner Rechtsfolgen geben“ kann. Dabei ist „Erklärung“ nicht als kausale Ableitung aus der Theorie zu verstehen, – ein Mißverständnis, dem insbesondere die ältere Interessenjurisprudenz verfallen war –, sondern als Aufdeckung des inneren Sinngehalts des Instituts und der (wertungsmäßigen) Folgerichtigkeit der einzelnen Rechtsfolgen. 17 Es geht ferner um die Wahrung der Einheit unseres Rechts (vgl. schon oben S.39 f.), doch kann das von der Wesenserhellung nicht scharf getrennt werden (vgl. näher unten II vor 1). 18 Vgl. Engisch, a.a.O., S. 189; zustimmend auch Diederichsen, NJW 66, 701. 19 Das Allgemeine ist hier also nicht als „Abstrakt-Allgemeines“, sondern als „KonkretAllgemeines“ i. S. Hegels zu begreifen.
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meinen und dem Besonderen20; dieser ist allem geisteswissenschaftlichen Verstehen eigentümlich und läßt sich daher nie von vornherein ausschließen. Ist somit der „Erkenntniswert“ systematischer Einordnungen nicht zu bezweifeln, so ergibt sich daraus ohne weiteres auch deren Bedeutung für die Rechtsgewinnung; denn wenn es hier um die Aufhellung des teleologischen Gehalts geht, dann kann dies für die heutige vorwiegend teleologisch argumentierende Jurisprudenz nicht ohne Einfluß auf die Auslegung und Fortbildung des Rechts sein. Systematische Einordnungen spielen denn auch in der Tat auf allen Stufen der Rechtsgewinnung eine erhebliche Rolle. 1. Die „systematische Auslegung“ So nimmt die „systematische Auslegung“ seit je einen festen Platz unter den juristischen „Auslegungskanones“ ein21. Freilich denkt man [91] in diesem Zusammenhang meist vornehmlich an die Auslegung aus dem äußeren System des Gesetzes, also um Rückschlüsse aus der Stellung einer Vorschrift in einem bestimmten Buch, Abschnitt, Paragraphenzusammenhang, aus ihrer Fassung als selbständiger Absatz oder als bloßer Satz eines Absatzes usw. usw. Darin liegt nun allerdings nur ein verhältnismäßig geringfügiger Anhaltspunkt, ist doch die Stellung einer Vorschrift nicht selten sachlich verfehlt; man denke, um nur zwei Beispiele zu nennen, etwa an die Einfügung des § 833 S. 1 BGB in den Zusammenhang des Deliktsrechts oder an die Verweisung auf § 278 BGB in § 254 Abs. II S. 2 BGB (statt in Abs. III). Immerhin ist nicht zu leugnen, daß auch die Argumentation aus dem äußeren System einen gewissen Wert hat. So ist es z. B. durchaus nicht unzulässig, aus der Stellung einer Vorschrift im Allgemeinen oder Besonderen Teil eines Gesetzes Rückschlüsse auf ihren Anwendungsbereich zu ziehen; auch darf man nicht vergessen, daß die Einteilung der Gesetze oft maßgeblich von der „Natur der Sache“ beeinflußt ist und daß daher der Charakter einer Bestimmung z. B. als einer familien- oder handelsrechtlichen Norm für ihr Verständnis fruchtbar gemacht werden kann. Wirklich durchschlagend sind aber auch solche Argu20 Zur Problematik vgl. vor allem Schleiermacher, Werke I 7, 1838, S.37, 143 ff.; Dilthey, Gesammelte Schriften VII, 1927, S. 212 f.; Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959, S. 14; Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, Festschrift für Rabel, 1954, Bd. II, S.102 ff. und Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 219 ff. Der im Text gemeinte Zirkel ist nicht identisch mit dem „hermeneutischen Zirkel“ i. S. Heideggers und Gadamers (anders offenbar dieser selbst a.a.O., S. 275 ff.), der das Verhältnis von „Vorverständnis“ des Auslegenden und Auslegungsergebnis betrifft. 21 Vgl. statt aller Baumgarten, Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode, 1920–22, Bd. I, S. 295 ff. und Bd. II, S. 617 ff. und Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1939, S. 35 ff.; Engisch, Einführung, a.a.O., S. 77 ff.; Larenz, Methodenlehre, a.a.O., S. 244 ff.
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mente erst dann, wenn zugleich die in der systematischen Stellung zum Ausdruck kommenden Wertungen herausgearbeitet werden, und dann handelt es sich in Wahrheit bereits um eine Argumentation aus dem inneren System. Diese aber ist nun in der Tat von größter Bedeutung. Während nämlich die Auslegung aus dem äußeren System lediglich gewissermaßen die Fortsetzung der grammatischen Auslegung ist, so ist die Auslegung aus dem inneren System die Fortsetzung der teleologischen22 Auslegung oder besser nur eine höhere Stufe innerhalb dieser, – eine Stufe, auf der von der „ratio legis“ zur „ratio iuris“ fortgeschritten wird; und wie der teleologischen22 Auslegung ganz allgemein so kommt somit der Argumentation aus dem inneren System des Gesetzes der höchste Rang unter den Auslegungsmitteln zu23. [92] Einige praktische Beispiele mögen die Bedeutung der systematischen Auslegung für die Rechtsgewinnung veranschaulichen. So wird etwa die Auslegung des § 833 S. 1 BGB durch seine Qualifikation als Tatbestand der Gefährdungshaftung erheblich gefördert. Aus ihr ergibt sich u. a., daß, wie stets bei der Gefährdungshaftung, nur für die Verwirklichung der „spezifischen“ Gefahr, also für die Folgen eines „willkürlichen typisch tierischen Verhaltens“ gehaftet wird, nicht aber z. B. für einen Beinbruch, den jemand erleidet, weil er über eine schlafende Katze stolpert, oder für den Schaden, den ein auf einen Menschen gehetzter Hund anrichtet. Auch für die Abgrenzung des Halterbegriffs gewinnt man wesentliche Anhaltspunkte, wenn man ihn in Anlehnung an andere Teleologisch im weitesten Sinn verstanden, vgl. oben S. 41. Die oft vertretene Ansicht, es lasse sich zwischen den einzelnen Auslegungsmitteln kein festes Rangverhältnis aufstellen, verdient keine Zustimmung. Vielmehr gebührt letztlich stets der teleologischen Auslegung der Vorrang, und das wird im praktischen Ergebnis heute auch nahezu allgemein berücksichtigt. Was zunächst das Verhältnis von teleologischer und grammatischer Auslegung angeht, so ist der Satz „Höher als der Wortlaut des Gesetzes steht sein Sinn und Zweck“ wohl allgemein anerkannt; daß der „mögliche Wortsinn“ nach h. L. die Grenze der Auslegung bildet und insofern dem Gesetzeszweck vorgeht, ist – abgesehen von Analogieverboten und dgl. – ein rein terminologisches Problem, da bei einer Überschreitung des Wortsinnes nur von der Auslegung i. e. S. zur nächsten Stufe, der von Analogie und Restriktion, übergegangen und somit im Ergebnis jedenfalls dem Gesetzeszweck zum Vorrang gegenüber dem – zu engen oder zu weiten – Wortlaut verholfen wird. Was sodann das Verhältnis von teleologischer und systematischer Auslegung betrifft, so hat die Auslegung aus dem äußeren System wegen ihrer großen Unsicherheit (vgl. soeben im Text) jedenfalls hinter der teleologischen Auslegung zurückzustehen, während die Auslegung aus dem inneren System, wie im Text dargelegt, selbst nur eine Form der teleologischen Auslegung ist. Was schließlich das Verhältnis von teleologischer und historischer Auslegung angeht, so ist auch hier der teleologischen der Vorrang einzuräumen. Dies bedarf für die objektive Theorie keiner Begründung, ist aber auch für die subjektive Theorie nicht zu bezweifeln, da auch diese nicht die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers in allen Einzelheiten verwirklichen, sondern dessen Zwecken zur Durchsetzung verhelfen will; die Auslegung verfährt hier also subjektiv-teleologisch und setzt sich dabei u. U. durchaus über die feststellbaren Vorstellungen des Gesetzgebers hinweg, wenn diese zur Erreichung der von ihm angestrebten Zwecke ungeeignet sind, – ein Verfahren, das ein so entschiedener Anhänger der subjektiven Auslegungstheorie wie Heck in die bekannte Maxime vom „denkenden Gehorsam“ gekleidet hat. 22 23
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Tatbestände der Gefährdungshaftung, also systemkonform zu konkretisieren versucht. Gewiß lassen sich dieselben Ergebnisse auch mit einer teleologischen Auslegung des § 833 S. 1 allein erzielen, doch ist nicht zu bezweifeln, daß sie durch die Argumentation aus den allgemeinen Grundsätzen der Gefährdungshaftung nicht nur einfacher, sondern auch überzeugender zu begründen sind24. Auch gibt es Fragen, [93] für deren Lösung nur noch der Rückgriff auf das übergreifende Institut der Gefährdungshaftung bleibt. So sollte man z. B. in Fällen wie der leihweisen Überlassung eines Tieres oder der Übergabe an einen Trainer oder Tierarzt die Problematik nicht mit Fiktionen wie der Konstruktion eines vertraglichen Haftungsausschlusses oder der Annahme eines Mitverschuldens zu lösen versuchen25, sondern den Ausschluß der Haftung vielmehr auf den in den allgemeinen Lehren der Gefährdungshaftung entwickelten systemimmanenten Gesichtspunkt der „freiwilligen Interessenexponierung“26 stützen27. Ähnlich läßt sich die Bedeutung systematischer Einordnungen an der umstrittenen Frage veranschaulichen, ob § 281 BGB auch auf den Anspruch aus § 985 BGB Anwendung findet. Freilich ist die Argumentation aus dem äußeren System, nämlich aus der Stellung des § 281 im Schuldrecht, hier wieder einmal denkbar unüberzeugend. Dagegen führt die Auslegung aus dem inneren System 24 Es ist auch kein Einwand, daß die Regeln über die Tiergefahr und den Halterbegriff nach h. L. offenbar auch auf S. 2 Anwendung finden sollen, obwohl dieser kein Tatbestand der Gefährdungshaftung, sondern ein solcher der Haftung für vermutetes Verschulden ist. Denn zum einen ist das keineswegs zwangsläufig, sondern bedürfte trotz des engen äußeren Zusammenhangs der beiden Vorschriften schon wegen des Grundsatzes der Relativität der Rechtsbegriffe einer eigenständigen, am besonderen Zweck des S. 2 ausgerichteten Begründung. Zum anderen spielen auch für S. 2 Risikogesichtspunkte eine wesentliche Rolle; schon die Umkehr der Beweislast enthält ein Risikoelement, woraus sich in der Tat eine weitgehende Übereinstimmung des Halterbegriffs herleiten läßt, und vollends die Aufstellung der besonderen Verhaltenspflichten, wie sie dem § 833 S. 2 zugrunde liegt, knüpft an die besondere Gefährlichkeit des Tieres an: richtet das Tier einen Schaden nicht durch „willkürliches typisch tierisches Verhalten“ an, so liegt der Schadenseintritt jedenfalls außerhalb des Schutzzwecks der Norm, und es kommt daher auf das Gelingen des Exkulpationsbeweises nicht mehr an. Im übrigen macht Esser mit Recht darauf aufmerksam, daß die Vorschrift des S. 2 heute sachlich weitgehend verfehlt ist und in der Praxis dementsprechend nahezu wie ein Tatbestand der Gefährdungshaftung gehandhabt wird (vgl. Schuldrecht, 2. Aufl. 1960, § 203, 4 a). 25 Zur Problematik vgl. statt aller Enneccerus-Lehmann, 15. Aufl. 1958, § 253 V. 26 Grundlegend Müller-Erzbach, AcP 106, S. 351 ff., 396 ff., 409 ff.; der Sache nach ebenso z. B. Esser, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung, 1941, S. 109 f.; Larenz, Schuldrecht A. T. § 15 I b. 27 Die Ablehnung einer Gefährdungshaftung nach § 833 S. 1 BGB bedeutet nicht notwendig, daß der Tierhalter nicht gleichwohl unabhängig von Verschulden haften könnte. Nur ist das kein Problem der Gefährdungshaftung, sondern einer davon dogmatisch wie praktisch scharf zu trennenden vertraglichen Risikoordnung (grundlegend zum Unterschied Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, 1941, S. 157 ff.); diese weist z. B. bei der Leihe das Risiko mit Recht dem Entleiher zu, so daß eine Haftung des verleihenden Tierhalters nur bei Verschulden in Betracht kommt, während beim Auftrag und bei der G. o. A. umgekehrt der Tierhalter auf Grund der von der h. L. in Analogie zu § 670 BGB entwickelten Grundsätzen das Risiko trägt.
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unmittelbar zum Ziel. § 281 enthält nämlich anerkanntermaßen einen Surrogationsanspruch, und folglich kann er nur eingreifen, sofern die Voraussetzungen des Surrogationsprinzips vorliegen, sofern also der Anspruch aus § 985 untergegangen ist. Dieser geht nun aber wegen seiner dinglichen Natur häufig nicht unter, sondern richtet sich nur gegen den neuen Besitzer, und folglich ist jedenfalls in diesem Falle eine Anwendung des § 281 ausgeschlossen. Geht der Anspruch aus § 985 dagegen durch Besitzverlust unter, so bestehen keine Bedenken gegen eine Anwendung des § 281. Wenn der Untergang darauf beruht, daß ein Dritter gutgläubig Eigentum erworben hat, wird man allerdings wohl § 816 I 1 BGB als lex specialis den Vorrang einräumen müssen (obwohl auch die Annahme von Anspruchskonkurrenz vertretbar erscheint). Wenn der Untergang dagegen auf andere Gründe zurückgeht – d. h. wohl im wesentlichen auf den Untergang der Sache selbst –, dann erweist sich eine Anwendung des § 281 als durchaus gerechtfertigt; warum sollte [94] denn der Eigentümer z. B. nicht den Anspruch auf die Versicherungssumme oder auf einen eventuellen Schadensersatzanspruch28 haben, wo § 281 diesen schon dann gewährt, wenn lediglich ein obligatorischer Anspruch auf die Sache und nicht die viel stärkere dingliche Zuordnung besteht?! Geht man somit von der Einordnung des § 281 in das innere System unserer Rechtsordnung aus, so kommt man auf schnellem Wege zu einer überzeugenden Lösung: nur dann, aber auch immer dann, wenn für eine Surrogation, d. h. die Ersetzung eines erloschenen Rechts durch ein statt dessen entstandenes neues Recht, Raum ist, wenn also der Anspruch aus § 985 untergegangen ist, greift § 281 ein. Dabei werden die von der h. L. befürchteten Schwierigkeiten, die durch das Nebeneinander von Ansprüchen des Eigentümers gegen den neuen Besitzer aus § 985 und gegen den alten Besitzer aus § 281 entstehen können, ebenso vermieden29 wie die Unbilligkeiten, zu denen die h. L.30 ihrerseits mit ihrer generellen Ablehnung der Anwendbarkeit des § 281 führt31. 28 z. B. aus Vertrag i. V. m. § 278 BGB; insoweit spielt zusätzlich die Problematik der Drittschadensliquidation hinein. – Bei Erbringung der Schadensersatzleistung an den Besitzer (statt an den wahren Eigentümer) greift u. U. § 816 II BGB i. V. m. § 851 BGB ein. 29 Dagegen läßt sich auch nicht vorbringen, die Anwendung des § 281 BGB könne u. U. den gutgläubigen Besitzer unbillig treffen, weil er vielleicht das Surrogat in dem Glauben, es stehe ihm zu, bereits für seine eigenen Zwecke verwendet habe. Er wird dann nämlich regelmäßig nach § 275 BGB frei; allerdings wird man für ein Vertretenmüssen i. S. des § 280 in analoger Anwendung des § 990 BGB stets grobe Fahrlässigkeit hinsichtlich des Glaubens an die eigene Berechtigung verlangen müssen, um die Wertungseinheit mit den übrigen Rechtssätzen des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses zu wahren. 30 Für diese vgl. statt aller Westermann, Sachenrecht, 5. Aufl. 1966, § 31 IV 4. 31 Über § 818 I HS. 2 läßt sich auch dann nicht immer ein befriedigendes Ergebnis erzielen, wenn man die Bereicherungsvorschriften neben den §§ 987 ff. BGB anwendet (was hinsichtlich des Surrogats in der Tat unproblematisch sein dürfte). Denn neben dem Anspruch aus § 985 braucht nicht notwendig der aus § 812 gegeben zu sein; auch schadet nach § 819 I nur positive Kenntnis (allerdings könnte man daran denken, § 819 zur Wahrung der Wertungseinheit mit den
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Noch ein drittes Beispiel sei erwähnt. Ordnet man die §§ 171 I, 172 I BGB der Rechtsscheinhaftung zu, so folgt daraus u. a., daß nur der gutgläubige Dritte geschützt wird und daß dieser Kenntnis von dem Scheintatbestand, also der fraglichen Erklärung gehabt haben muß, – Ergebnisse, die sich aus den Vorschriften allein wegen der wenig glücklichen Fassung der §§ 171 I und 173 nicht überzeugend ableiten lassen (und die dementsprechend auch umstritten sind). Erst die Einordnung der §§ 171, 172 in den allgemeinen systematischen Zusammen- [95] hang32 ermöglicht somit, ihren teleologischen Gehalt voll zu erfassen und die Rechtsfolgen im einzelnen festzulegen; dabei spielt hier, im Gegensatz zum letzten Beispiel und in weit stärkerem Maße als im ersten Beispiel, noch ein zweites Element hinein, auf das alsbald näher zurückzukommen ist: das der Wahrung der Wertungseinheit mit den übrigen Tatbeständen der Rechtsscheinhaftung33. 2. Die Ausfüllung von Lücken aus dem System Was für die Auslegung im engeren Sinn, d. h. für die Interpretation der Normen im Rahmen ihres möglichen Wortsinnes soeben ausgeführt wurde, das gilt mutatis mutandis auch für die Lückenergänzung. Die Behauptung der Interessenjurisprudenz, die Lückenfüllung sei im Wege der Argumentation aus dem System nicht möglich, ist daher für ein teleologisches System unzutreffend34, und dementsprechend ist für dieses auch die beliebte Gegenüberstellung von „verstehender“ und „lückenergänzender Konstruktion“ unsinnig35. Denn wenn es bei der Entwicklung des inneren Systems einer Rechtsordnung um die Aufdeckung der tragenden Grundwertungen geht, dann werden damit eben jene Elemente freigelegt, mit deren Hilfe sowohl die Feststellung35a als auch die Ausfüllung von Lücken in einer Reihe von Fällen erst möglich ist: die allgemeinen Rechtsprinzipien.
übrigen Tatbeständen des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses insoweit entsprechend zu erweitern; vgl. auch das analoge Problem bei § 281 und dazu die vorvorige Fn.). 32 Bei dieser erhebt sich freilich wieder das Zirkelproblem. Um es zu vermeiden, bedarf es eines Kriteriums, das mit der Frage nach der Relevanz des bösen Glaubens in keinem Zusammenhang steht; ist jenes aber gefunden, so ist auch diese ohne weiteres gelöst. 33 Als Beispiel vgl. in diesem Zusammenhang ferner die systemkonforme Auslegung der §§ 370 und 405 BGB unten S. 117 f. 34 Das heißt natürlich keineswegs, daß die Lückenergänzung aus dem System immer möglich wäre. In der Zurückweisung der These, aus dem System lasse sich die Geschlossenheit der Rechtsordnung begründen, hatte die Interessenjurisprudenz also durchaus recht, vgl. näher unten IV 4 und § 6 III 1. 35 Diese Terminologie dürfte auf Triepel zurückgehen, vgl. Staatsrecht und Politik, Berliner Rektoratsrede, 1927, S. 22 f. 35a Zu dieser vgl. näher alsbald im Text unter II 2.
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Wieder bestätigen die Beispiele das Gesagte. Wenn man z. B. § 904 S. 2 BGB (mit der wohl immer noch h. L.36) als Tatbestand einer Eingriffshaftung37 qualifiziert, so folgt daraus für die Ausfüllung der in dieser Vorschrift enthaltenen Lücke, nämlich für die Frage nach dem Anspruchsverpflichteten, ohne weiteres die Lösung: es haftet der Eingreifende. Sieht man dagegen (mit der überzeugenden Ansicht38) in § 904 S. 2 einen Fall der Aufopferungshaftung, so ist die Lücke [96] entsprechend den allgemeinen Regeln und der inneren Konsequenz des Aufopferungsprinzips in dem Sinne zu schließen, daß der Begünstigte verpflichtet ist. Ähnliches gilt hinsichtlich des Erfordernisses der Zurechnungsfähigkeit des Haftenden: geht es um Eingriffshaftung, ist diese analog §§ 827 f. BGB zu fordern, geht es um Aufopferungshaftung, ist sie irrelevant39. So wird am Beispiel des § 904 S. 2 nicht nur deutlich, wie sich aus der dogmatischen Einordnung unmittelbar die entscheidenden Gesichtspunkte für eine Lückenfüllung ergeben, sondern auch, wie sich mit der systematischen Qualifikation zugleich das Ergebnis ändert, – was nicht zu verwundern ist, wenn man bedenkt, daß in der unterschiedlichen Einordnung des § 904 S. 2 eben gegensätzliche Meinungen über dessen sachlichen Gehalt zum Ausdruck kommen. Ähnlich ergeben sich aus der Kreationstheorie bzw. aus der Vertragstheorie und der Rechtsscheintheorie im Wertpapierrecht praktische Folgen hinsichtlich einer Reihe von Einzelproblemen40. Es ist daher nicht zutreffend, wenn Heck behauptet, die Entscheidung für die eine oder andere dieser Theorien enthalte „überhaupt kein Werturteil“ und dürfe „nicht vor der Lückenergänzung, sondern erst nachher“ getroffen werden41. Vielmehr liegt hier genau jene komplexe Wechselwirkung vor, die oben41a beschrieben wurde: man sucht zunächst die Bestimmungen des Gesetzes mit Hilfe einer der Theorien zu verstehen und in die Grundwertungen unseres Privatrechts einzuordnen, zieht dann die Folgerungen aus der Theorie für die gesetzlich nicht geregelten Fälle, prüft die Überzeugungskraft der so gewonnenen Ergebnisse42, modifiziert daraufhin gegebenenfalls die Darstellung und Nachweise vgl. bei Horn, JZ 1960, S. 350 ff. Dieser Begriff ist allerdings einstweilen dogmatisch noch ziemlich diffus. 38 Vgl. vor allem Larenz, Schuldrecht B. T., 8. Aufl. 1967, § 72, 1. 39 Vgl. näher Canaris, NJW 64, 1993. 40 Vgl. zu diesen im einzelnen z. B. Jacobi, Ehrenbergs Handbuch IV 1, 1917, S. 304 ff.; Enneccerus-Lehmann, a.a.O., § 208 II = S. 844. 41 Vgl. Begriffsbildung, a.a.O., S. 103; richtig Lehmann, a.a.O., a. E. 41a Vgl. S. 89 f. 42 Woran man diese prüft, ist eine noch wenig geklärte Frage. Sicher spielt hier das Rechtsgefühl eine wesentliche Rolle, doch sollte man versuchen, die „Sachgerechtigkeit“ eines Ergebnisses darüber hinaus auf objektive Kriterien zu stützen wie die „Natur der Sache“, die Praktikabilität, die Übereinstimmung mit anderweitig im Gesetz zum Ausdruck kommenden Wertungen, die Vereinbarkeit mit allgemeinen Rechtsprinzipien und -werten wie dem Verkehrsschutz oder dgl. usw. 36 37
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Theorie in der einen oder anderen Richtung, überprüft erneut ihre Konsequenzen usw. Es wird also nicht erst die Lücke ausgefüllt und dann die Theorie gebildet, sondern es wird die Lücke ausgefüllt, indem die Theorie gebildet wird, und es wird die Theorie gebildet, indem die Lücke ausgefüllt wird. Dieser Vorgang wird nicht nur durch die phänomenologische43 Untersuchung juristischer Theorienbildung [97] bestätigt, sondern kann auch von vornherein richtigerweise gar nicht anders aussehen, weil sonst die Folgerichtigkeit und Einheit der Rechtsordnung nicht gewährleistet bliebe: nur ein stetiges „Hin- und Herwandern des Blickes“ kann der Gefahr entgegenwirken, daß die Vielzahl der Einzelfragen, um die es bei einer so komplexen Problematik wie der der „Wertpapierrechtstheorien“ geht, nach widersprüchlichen Gesichtspunkten entschieden wird, nur die Bildung einer in sich geschlossenen, wenn auch stets nur vorläufigen und modifizierbaren Theorie wahrt die innere Einheit. Dabei besteht die erwähnte Wechselwirkung nur hinsichtlich der wichtigsten Probleme, während auf weniger bedeutende Einzelfragen bei der Theorienbildung keine Rücksicht genommen werden kann; insoweit sind die Lücken des Gesetzes vielmehr ohne weiteres, also ohne daß den gewonnenen Ergebnissen noch Einfluß für eine Modifizierung der Theorie eingeräumt werden könnte, aus dieser, d. h. aus dem oder den als tragend erkannten Grundgedanken auszufüllen; für diese Fälle gilt also geradezu das Gegenteil des zitierten Satzes von Heck, und wiederum ist zur Rechtfertigung auf den Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit zu verweisen. Damit aber ist bereits das zweite wesentliche Element, das dem System seine Bedeutung für die Rechtsgewinnung verleiht, angesprochen. II. Die Bedeutung des Systems für die Wahrung der wertungsmäßigen Einheit und Folgerichtigkeit bei der Rechtsfortbildung Diese ergibt sich bei der in dieser Arbeit entwickelten Ansicht schon aus der oben44 dem Systembegriff zugewiesenen Aufgabe und der daraus hergeleiteten Definition45. Diese Funktion des Systems ist dabei von der soeben erörterten – der Aufdeckung des wertungsmäßigen Gehalts einer Vorschrift oder eines Instituts – grundsätzlich zu unterscheiden, mag sie auch in enger Beziehung zu ihr stehen. Denn während dort das Schwergewicht darauf liegt, das Besondere – wenngleich als Teil des Allgemeinen – zu verstehen, so geht es hier umgekehrt vorwiegend darum, das Allgemeine – wenngleich im Besonderen – zu wahren. Psychologisch kann der Vorgang selbstverständlich anders liegen. Vgl. vor allem §§ 1 II, 2 II 2. 45 Sie ist bereits sehr klar erkannt bei Kretschmar, Methode der Privatrechtswissenschaft, a.a.O., S. 42 und Jher. Jb. 67, S. 273. 43 44
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Beide Funktionen des Systems bei der Rechtsgewinnung sind also in der dialektischen Wechselwirkung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen, aber eben auch voneinander unterschieden. Was nun die Wirkungsweise des Systems bei der Wahrung der Einheit und Folgerichtigkeit im Prozeß der Rechtsgewinnung angeht, so [98] kann sie sowohl konservativ als auch dynamisierend sein, kann also die Fortbildung des Rechts sowohl hemmen als auch vorantreiben. Im ersten Fall wird eine bestimmte Lösung als „systemwidrig” verworfen, im zweiten als vom System geboten neu entwickelt; im ersten Fall geht es im wesentlichen um die Vermeidung von Wertungswidersprüchen, im zweiten um die Feststellung von Lücken. 1. Die Vermeidung von Wertungswidersprüchen Vor allem die erste Funktion des Systems wird nicht selten betont45a. So sieht es Larenz mit Recht als ein „Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen“ an, daß der neue Rechtssatz nicht in Widerspruch zu dem gesetzlichen System tritt, sondern sich vielmehr „bruchlos in das gegebene Ganze der Rechtsordnung einfügen“ läßt46. Als Beispiel für eine systemwidrige und daher mißglückte Rechtsfortbildung nennt Larenz die Sicherungsübereignung47. Ein weiteres Beispiel, das in diesen Zusammenhang gehört, dürfte die „Anscheinsvollmacht“ sein, wenn man sie so faßt, wie das heute Rechtsprechung und h. L. tun, wenn man sie also über das Handelsrecht hinaus auf das bürgerliche Recht ausdehnt und verschuldete Unkenntnis des Geschäftsherrn vom Auftreten des falsus procurator genügen läßt; denn nach der Irrtumsregelung des BGB besteht nun einmal bei fehlendem Erklärungsbewußtsein allenfalls eine Haftung auf das negative Interesse gemäß § 122 BGB, nicht aber eine Erfüllungshaftung wie bei der Rechtsscheinhaftung, und daran ändert sich auch nichts, wenn der Irrtum bzw. die Unkenntnis verschuldet ist. Die Irrtumsregelung des BGB setzt daher einer Rechtsfortbildung in dieser Richtung unübersteigbare Schranken, und Erscheinungen wie die Anscheinsvollmacht oder die Regeln über das kaufmännische Bestätigungsschreiben müssen deshalb in einer Weise gefaßt werden, daß sie als eng umgrenzte, sachlich begründbare Ausnahmen von dieser grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers, nicht aber als willkürliche Systembrüche erscheinen48. Anderenfalls ist die entscheidende Frage, ob und unter welchen Vo45a Vgl. zuletzt vor allem Esser, Wertung, Konstruktion und Argument im Zivilurteil, 1965, S. 14 ff., der nachdrücklich auf die „Kontrollfunktion“ systematischer Einordnungen hinweist. 46 Vgl. Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 6 ff., 13. 47 Vgl. a.a.O., S. 6 ff. 48 Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 217 ff.
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raussetzungen man in ähnlichen Fällen zu einer Rechtsfortbildung schreiten darf, nicht zu lösen, und eine Fülle unzusammenhängender und widersprüchlicher Einzelentscheidungen, also Ungerechtigkeit und Rechtsunsicherheit sind die unausweichliche Folge. [99] Die praktische Bedeutung des Systems für die Vermeidung von Wertungswidersprüchen zeigt sich indessen nicht nur bei der Frage, ob das Recht überhaupt fortgebildet werden soll, sondern auch bei dem Problem, wie diese Fortbildung zu geschehen hat (nachdem ihre Zulässigkeit bereits anderweit festgestellt ist). Denn auch bei der Konkretisierung im Gesetz nicht hinreichend ausgestalteter Rechtsprinzipien bedarf es zur Wahrung der inneren Einheit einer dogmatischen Einordnung49. So führt z. B. das Güterabwägungsprinzip erst durch seine dogmatische Verfestigung in dem Rechtfertigungsgrund des „übergesetzlichen“ Notstands zu subsumtionsfähigen Normen, – wobei diese systematische Einordnung wieder von unmittelbarer praktischer Relevanz ist, etwa hinsichtlich der Möglichkeit von Notwehr gegen eine Notstandshandlung oder für die Frage eines Deliktanspruchs gegen den Notstandstäter. Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört die Konkretisierung des Prinzips des Persönlichkeitsschutzes. Hier hätte, wie oft genug betont worden ist, das System des BGB, genauer das Prinzip der Beschränkung des Deliktschutzes auf absolute Rechte, gefordert, daß nicht ein generalklauselartiges „allgemeines“ Persönlichkeitsrecht, sondern statt dessen tatbestandlich fest umrissene einzelne Persönlichkeitsrechte gebildet würden. 2. Die Feststellung von Lücken Auf der anderen Seite sollte man auch die Impulse zur Weiterbildung des Rechts, die vom Systemdenken ausgehen, nicht unterschätzen. Der Gedanke der Folgerichtigkeit und Einheit des Rechts beweist nämlich eine außerordentliche dynamisierende Kraft, sofern man ihn nur ernst nimmt und das Recht nicht resignierend als ein zufälliges Konglomerat historisch gewachsener Einzelentscheidungen versteht. Denn das Problem, ob ein bestimmtes Rechtsprinzip „systemtragend“ ist, schließt die Frage ein, ob es „sinnkonstitutiv“ für das fragliche Rechtsgebiet ist, und diese wiederum ist mit der Frage nach der „Allgemeinheit“ eines Prinzips identisch. Hat man aber ein Prinzip erst einmal als „allgemein“ erkannt, insbesondere sein rechtsethisches Gewicht und seine positiv-rechtliche Ranghöhe erfaßt, so kann es in Verbindung mit dem Gebote wertungsmäßiger Folgerichtigkeit zu einer ungeahnten Fortbildung des Rechts führen: es geht um nichts anderes als um die Lückenfeststellung an Hand eines allgemeinen Prinzips50. 49 50
Vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken, a.a.O., S. 162 f., 164 ff. Vgl. dazu eingehend Canaris, a.a.O., S. 93 ff.
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Dementsprechend ist die folgerichtige Durchbildung des Systems auch insoweit50a von Einfluß auf die Er- [100] gänzung der Rechtsordnung. Denn wenn ein „allgemeines“ Prinzip herausgearbeitet wird, gebietet der Gleichheitssatz in vielen Fällen die Anerkennung ungeschriebener Normen, und so ist es nicht verwunderlich, daß sich nicht selten aus scheinbar eng umgrenzten Einzeltatbeständen wie z. B. den §§ 122, 179, 307 BGB oder den §§ 171, 172, 405 BGB oder § 242 BGB neue systemtragende Institute gebildet haben: ihrem inneren Gewicht nach sind die in jenen Vorschriften verkörperten Wertungen „allgemein“, und es konnte daher nicht ausbleiben, daß sie über kurz oder lang System und Inhalt des geltenden Rechts maßgeblich beeinflußten. Es ist deshalb auch höchst anfechtbar, wenn der Rechtsprechung immer wieder zum Vorwurf gemacht wird, daß sie für die Fortbildung des Rechts „Aufhänger“ im Gesetz sucht. Man sollte das nicht als „positivistisches Relikt“ abtun und das darin zutage tretende Streben nach Gesetzestreue nicht als Scheinbegründung kritisieren, sondern anerkennen, daß dahinter eine richtige methodologische und rechtsphilosophische Erkenntnis steht: es ist ungleich leichter, lediglich die „formale“ Folgerichtigkeit einer Wertung darzutun, als ihre „materiale“ Gerechtigkeit und Verbindlichkeit (de lege lata!) zu beweisen; und dementsprechend ist schon viel gewonnen, wenn man einen bestimmten Rechtsgedanken in einer Vorschrift aufgedeckt hat und nun nur noch zu fragen braucht, warum er nicht „allgemein“ gilt. Gewiß schließt auch diese Frage oft noch heikle Wertungsprobleme ein51, und gewiß ist man hier immer in Gefahr, sich in dem Zirkel zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zu verfangen, aber diese Schwierigkeiten sind i. d. R. doch weit geringer als die, die Verbindlichkeit eines Rechtsgedankens allein aus seiner materialen Gerechtigkeit abzuleiten52. So tritt neben die erste, gewissermaßen negative Funktion des Systems, das Entstehen von Wertungswidersprüchen zu verhindern, die zweite, gewissermaßen positive Funktion, das Recht entsprechend dem inneren Gewicht der in ihm enthaltenen systemtragenden oder „allgemeinen“ Prinzipien fortzuentwickeln; in beiden Fällen geht es um die Wahrung der Wertungseinheit, denn auch eine entgegen dem Gleichheitsgebot nicht ausgefüllte Lücke stellt einen Wertungswiderspruch (i. w. S.) dar.
Vgl. im übrigen auch oben unter I 2. die über die Probleme einer bloßen Einzelanalogie weit hinausreichen! 52 Zum Verhältnis von System und materialer Gerechtigkeit vgl. im übrigen auch unten 50a 51
IV 3.
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III. Der Wertungsgehalt gesetzlicher Konstruktionen Systematische Einordnungen schließen Wertungen in sich. Das gilt nicht nur für die Systembildung durch Wissenschaft und Recht- [101] sprechung, sondern folgerichtig auch für die „Konstruktionen“ des Gesetzgebers53. Dies verkannt zu haben, war einer der schwerwiegendsten Fehler Hecks und der Interessenjurisprudenz bei ihrer Systemkritik; denn die Annahme, der Richter sei an die Konstruktionen des Gesetzgebers nicht gebunden und dürfe diese berichtigen wie ein Redaktionsversehen (!)54, durchbricht in einer wichtigen Frage den sonst auch von der Interessenjurisprudenz beachteten Grundsatz der Gesetzestreue. Dies hat denn auch, wie nicht anders zu erwarten, in praktischen Fragen zu Fehlentscheidungen geführt. Eines der bekanntesten Beispiele, das Heck bezeichnenderweise selbst als charakteristisch für seine methodische Konzeption ansieht55, ist seine Lehre von der „Zweckgemeinschaft“ zwischen Forderung und dinglicher Sicherung. Er polemisiert gegen das „Anlehnungsdogma“, nach dem das Sicherungsrecht gegenüber der Forderung akzessorisch ist, und setzt an dessen Stelle die Theorie der Zweckgemeinschaft, nach der Forderung und Sicherheit. weil sie wirtschaftlich in gleicher Weise auf Befriedigung des Gläubigerinteresses gerichtet sind, auch rechtlich in einer ,,paritätischen“ Gemeinschaft stehen; entgegen der gesetzlichen Konstruktion sei das Verhältnis von Forderung und dinglicher Sicherheit dementsprechend nicht wie das von Forderung und Bürgschaft, sondern wie das mehrerer Gesamt53 Höchst anfechtbar ist dementsprechend die verbreitete Behauptung, der Gesetzgeber könne „nicht dogmatische Einsichten, sondern nur Rechtsfolgen vorschreiben“. Zutreffend ist zwar, daß der Gesetzgeber nicht die Richtigkeit einer bestimmten Theorie als solcher statuieren kann, doch kann er sich durch die Rechtsfolgen für sie entscheiden. Daher sind zwar dogmatische Formulierungen, die der Gesetzgeber gebraucht hat, und auch seine erkennbare Stellungnahme zugunsten bzw. zuungunsten einer bestimmten Theorie nicht ohne weiteres für die Wissenschaft maßgeblich, doch ist diese dann gebunden, wenn sich die angeordneten Rechtsfolgen nur mit Hilfe der fraglichen Theorie erklären lassen bzw. wenn sie zu ihr in Widerspruch stehen. – Ähnlich problematisch ist auch die Warnung an den Gesetzgeber, er solle sich einer Stellungnahme zu wissenschaftlichen Theorienstreiten enthalten. Zwar sollte sich dieser in der Tat vor „doktrinärer Konsequenzmacherei“ hüten und vor sachlich angemessenen Differenzierungen auch dort nicht zurückschrecken, wo sich diese (noch) nicht theoretisch oder systematisch „erklären“ lassen, doch ist andererseits nichts so gefährlich wie ein „fauler“ Kompromiß zwischen mehreren Theorien; denn dieser muß notwendig zu Wertungswidersprüchen und zu Störungen der inneren Einheit der Rechtsordnung, damit aber zu Ungerechtigkeiten führen, und so ist auch in diesem Zusammenhang nachdrücklich zu betonen, daß auch der Gesetzgeber an den Systemgedanken gebunden ist (sogar im verfassungsrechtlichen Sinne!), vgl. näher unten § 6 I 4. 54 Vgl. Heck, a.a.O., S. 86 f. und für das im folgenden behandelte Beispiel Sachenrecht, § 78 IV 2; ferner Stoll Jher. Jb. 75, S. 171, Fn. 2 mit Nachw.; anders und richtig aber Rümelin, a.a.O., S. 351 f. 55 Vgl. Sachenrecht, Vorwort, S. III, Fn. 1.
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schuldforderungen zueinander anzusehen56. Diese Ansicht hat sich mit Recht nicht durchzusetzen ver- [102] mocht. Denn es handelt sich hier keineswegs um eine „wertungsfreie Begriffskonstruktion“57, sondern um eine Wertung im Gewande der Konstruktion. Mit Recht sagt Westermann, „Wortlaut und System des Gesetzes“ hätten „die Forderung und die Hypothek eindeutig in das Verhältnis von zuständigkeitsbestimmendem und -bestimmtem Recht gesetzt“ und daran sei die Rechtsanwendung gebunden; und mit Recht fügt er hinzu, dieses Verhältnis entspreche auch „der wirtschaftlichen Vorstellung, die sich nicht, wie Heck annimmt, nur durch die Sicherheit bestimmen läßt, sondern für den Regelfall an den gewöhnlichen Ablauf der Dinge denkt, d. h. an die Bezahlung der Forderung“58. Die Konstruktion ist hier also nicht einmal „lebenswidrig“, sie wäre aber selbst in diesem Falle bindend, da das Gesetz die Lebensphänomene auch sachwidrig, d. h. der Natur der Sache widersprechend bewerten kann, ohne – von Fällen barer Willkür i. S. d. Art. 3 GG abgesehen – darum allein schon seine Verbindlichkeit einzubüßen59. Gänzlich verfehlt ist es daher, wenn Heck seine Theorie sogar auf die Grundschuld überträgt und hier aus der wirtschaftlichen Zweckgemeinschaft eine rechtliche Schicksalsgemeinschaft mit der gesicherten Forderung herleitet60 mit der Folge, daß Veränderungen im Bestand des einen Rechts ohne weiteres in gleicher Weise auch das andere ergreifen. Das Gesetz hat vielmehr in Hypothek und Grundschuld zwei verschiedene Typen zur Verfügung gestellt, und wenn sich die Parteien für die Grundschuld, also für den Typus, der dem Gläubiger eine stärkere Stellung gewährt, entscheiden, so wählen sie damit gleichzeitig eben auch eine verschiedene, den Gläubiger bevorzugende Interessenbewertung. Ein zweites ähnlich anschauliches Beispiel bietet die Frage, ob der gutgläubige Erwerb eines in Wahrheit nicht bestehenden Pfandrechts, also der Zweit-, Dritt- oder Vierterwerb vom scheinbar Pfandberechtigten möglich ist. Die h. L.61 verneint das unter Hinweis auf die Konstruktion der Pfandrechtsübertragung in § 1250 I 1 BGB: das Pfandrecht geht unabhängig von der Übergabe der Sache ipso iure mit Abtretung der Forderung auf den neuen Gläubiger über, und daher fehlt es an einer der typischen Voraussetzungen des gutgläubigen Erwerbs im Mobiliarsachenrecht, nämlich an der Erfüllung des Traditionsprinzips. Heck vertritt unter Berufung auf die Bedürfnisse [103] des Lebens die Gegenansicht und meint, „die SchutzwürVgl. Sachenrecht, § 78; vgl. auch § 82 und § 101, 6. So Heck, a.a.O., § 78 IV 2 a. 58 Vgl. Sachenrecht, 5. Aufl. 1966, § 93 II 4 c; vgl. auch § 114 II 1 c (für die Grundschuld) und § 126 I 3 (für das Pfandrecht). 59 Vgl. auch unten § 6 I 4 b. 60 Vgl. a.a.O., § 100, 5 a; dagegen mit Recht z. B. Wolff-Raiser, Sachenrecht, 10. Aufl. 1957, § 132 I 2 mit Fn. 7; Westermann, a.a.O., § 116 I 1 a. 61 Vgl. statt aller Wolff-Raiser, a.a.O., § 170 II 1 mit Fn. 4; Baur, Sachenrecht, 4. Aufl. 1968, § 55 B V 3. 56 57
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digkeit des Erwerbers“ dürfe nicht „an der unrichtigen juristischen Konstruktion des Vorgangs scheitern“62. Westermann schließt sich dem an, weil nicht ersichtlich sei, daß das Gesetz das Pfandrecht nicht als Verkehrsgegenstand behandeln wolle63. Zu folgen ist der h. L. Westermann hat zwar durchaus den richtigen Gesichtspunkt herausgearbeitet, nur muß die Antwort genau umgekehrt lauten: indem das Gesetz das Pfandrecht hinsichtlich der Übertragung als unselbständiges Annex (!) der Forderung behandelt64, die ihrerseits eben nicht als Verkehrsgegenstand ausgestaltet ist, gibt es gerade zu erkennen65, daß es auch dieses nicht als Verkehrsgegenstand ansieht; denn nur so läßt sich § 1250 überhaupt sinnvoll und unter Vermeidung eines Wertungswiderspruchs verstehen: die Unterstellung unter die Regeln des Zessionsrechts muß für ein bloßes „Annex“ folgerichtig auch hinsichtlich des grundsätzlichen Ausschlusses gutgläubigen Erwerbs, wie er diesem Rechtsgebiet nun einmal eigentümlich ist, gelten66, 67. Wieder enthält also die Konstruktion die Wertung68, und die Konstruktion für irrelevant zu erklären, bedeutet daher zugleich, die Wertung zu mißachten. [104] Vgl. a.a.O., § 105 V. Vgl. a.a.O., § 132 I 1 b. 64 Der Annexcharakter, also der Verzicht auf eine konstitutive Wirkung der Übergabe ist entscheidend, nicht die Tatsache, daß es sich um Erwerb kraft Gesetzes handelt; denn letzteren Gesichtspunkt könnte man mit dem Einwand begegnen, § 1250 I trage lediglich dem mutmaßlichen Parteiwillen Rechnung und es liege daher eine Art gesetzlich vertypten rechtsgeschäftlichen Übergangs vor, so daß ein Verkehrsschutzbedürfnis im Gegensatz zum Normalfall gesetzlichen Erwerbs durchaus zu bejahen sei. 65 Das gilt jedenfalls vom Standpunkt der objektiven Theorie aus! Im übrigen ist der Ausschluß des gutgläubigen Erwerbs aber sogar von den Gesetzesverfassern beabsichtigt (vgl. Mot. III, S. 837 unter 2), so daß auch die Anhänger der subjektiven Theorie die Entscheidung als bindend anerkennen müssen. 66 Bei der Hypothek hat das BGB folgerichtig die Abtretung der Forderung den Regeln des Liegenschaftsrechts unterstellt! 67 Selbst wenn die Übergabe konstitutiv wäre, die Pfandrechtsübertragung also den Regeln des Mobiliarsachenrechts folgte, wäre die Zulassung gutgläubigen Erwerbs übrigens äußerst bedenklich. Denn der Besitz verlautbart nach dem BGB zwar das Eigentum, keineswegs aber ohne weiteres auch ein Pfandrecht; es ist nämlich zwar sehr wahrscheinlich, daß der Besitzer zugleich Eigentümer ist, doch spricht keine annähernd vergleichbare Wahrscheinlichkeit dafür, daß der besitzende Nichteigentümer – der Dritte kennt hier ja das mangelnde Eigentum! – Pfandgläubiger ist: er kann ebensogut Leiher, Mieter, Kommisionär usw. sein. In richtiger Erkenntnis dieser Lage hat das Gesetz den Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsmacht grundsätzlich abgelehnt, und es wäre ein Wertungswiderspruch hierzu, den guten Glauben an das Bestehen eines Pfandrechts, hinsichtlich dessen der bloße Besitz keine sicherere Grundlage bietet als hinsichtlich der Verfügungsbefugnis, zu schützen. Aus diesen Erwägungen wird man übrigens auch § 1006 nicht über § 1227 zur Anwendung bringen können. 68 Daß Westermann, a.a.O., dies hier leugnet und sich Heck anschließt, erscheint angesichts seiner entgegengesetzten Stellungnahme (vgl. allgemein § 93 II 4 c und für das Pfandrecht § 126 I 3) zu Hecks Polemik gegen das „Akzessorietätsdogma“ nicht folgerichtig; denn auch für die Fassung des § 1250 I 1 hat die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers für die Akzessorietät der dinglichen Sicherheiten unstreitig eine maßgebliche Rolle gespielt, und so bezieht 62 63
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Daß gesetzliche Konstruktionen Wertungen in sich schließen, ist im übrigen auch bei der Rechtsfortbildung zu beachten. Praktische Bedeutung gewinnt dieser Gesichtspunkt z. B. hinsichtlich der Übertragung einer Vormerkung. Diese ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt, und die ganz h. L. löst das Problem daher durch eine analoge Anwendung des § 401 BGB, so daß die Vormerkung ipso iure mit Abtretung der gesicherten Forderung übergeht69. Damit ist nun aber, was oft nicht hinreichend beachtet wird, zugleich die Entscheidung über die Frage gefällt, ob der gutgläubige Zweit-, Dritt-, Vierterwerb einer Vormerkung vom eingetragenen Nicht-Vormerkungsberechtigten möglich ist. Es gilt dann nämlich genau das gleiche, was soeben zu dem entsprechenden Problem beim Pfandrecht ausgeführt wurde: da es sich um einen Erwerb außerhalb des Grundbuchs (!), also nach den Regeln des Zessionsrechts und nicht nach denen des Liegenschaftsrechts handelt70, ist ein gutgläubiger Erwerb ausgeschlossen71. Die Unterstellung der Vormerkungsübertragung unter § 401 statt unter § 873 BGB kann nämlich nur den Sinn haben, daß man in dieser nicht ein liegenschaftsrechtliches Verkehrsrecht, sondern lediglich ein unselbständiges Sicherungsmittel für die Forderung, ein Annex derselben sieht, und so wenig wie hinsichtlich dieser kann es folgerichtig hinsichtlich jener einen gutgläubigen Erwerb geben72. Mit der ersten Frage ist also auch die zweite entschieden; über die Lösung der ersten läßt sich streiten, die Lösung der zweiten dagegen ist vorgezeichnet, und jede Abweichung muß zu einem Widerspruch gegenüber der in der ersten Frage getroffenen Wertung führen, – worin sich wieder zeigt, welch hohe Bedeutung dem System für die Gewährleistung der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit zukommt. IV. Die Schranken der Rechtsgewinnung aus dem System Wenn in den bisherigen Ausführungen die Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung stärker betont wurde, als das heute meist [105] üblich ist, so darf man diese doch andererseits auch nicht überschätzen und insbesondere die sich Heck, a.a.O., denn auch ausdrücklich auf seine allgemeine Ablehnung des „Akzessorietätsdogmas“. 69 Vgl. statt aller RGZ 142, 331 (333); Baur, a.a.O., § 20 V 1 a; Westermann, a.a.O., § 84 V 1. 70 Unerheblich ist dagegen, daß es sich um Erwerb kraft Gesetzes handelt; Fn. 64 gilt entsprechend. 71 Sehr strittig; zur Problematik vgl. vor allem BGHZ 25, 16 (23); Medicus, AcP 163, 1 ff. (8 ff.); Reinicke, NJW 64, S. 2373 ff. (2376 ff.); Baur, a.a.O., § 20 V 1 a; Westermann, a.a.O., § 85 IV 4, wo a. E. auch zur methodologischen Problematik ausdrücklich Stellung genommen und entgegen den Ausführungen des Textes der Wertungsgehalt der Konstruktion verneint wird (vgl. dazu aber oben Fn. 68). 72 Zum Einwand, in § 401 sei auch die Hypothek genannt und auf diese träfen die Ausführungen des Textes nicht zu, vgl. oben Fn. 66.
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Grenzen nicht übersehen, die der systematischen Rechtsfindung gesetzt sind73. Insoweit lassen sich mehrere Aspekte unterscheiden. 1. Die Notwendigkeit teleologischer Kontrolle Eine erste Schranke ergibt sich aus dem teleologischen Charakter aller richtig verstandenen Systemargumente. Es ist nämlich zu beachten, daß das System die in Frage stehende Wertung mitunter nicht adäquat formuliert und daß daher stets eine – zumindest implizite – teleologische Kontrolle dahingehend erforderlich ist, ob der dem System entnommene Obersatz oder Oberbegriff usw. den gemeinten wertungsmäßigen Gehalt auch zutreffend und vollständig wiedergibt. So ist z. B. der nicht selten als Systemargument verwendete Satz, bei Erwerb kraft Gesetzes komme ein Gutglaubensschutz nicht in Betracht, nur sehr bedingt brauchbar. Zwar beruht er auf der richtigen Einsicht, daß sich der ex-lege-Erwerb unabhängig vom Parteiwillen vollzieht und daß es daher regelmäßig an dem für den gutgläubigen Erwerb unerläßlichen Verkehrsschutzbedürfnis fehlt, doch geht er in seiner Formulierung über diese seine „ratio“ hinaus. Das aber ist deshalb gefährlich, weil er in dieser Form nicht auf alle Tatbestände gesetzlichen Erwerbs zutrifft74, da ein ex-lege-Übergang u. U. auch nur die rechtstechnische Einkleidung einer (mittelbar) rechtsgeschäftlichen Übertragung sein kann75. So dürfte z. B. das „gesetzliche“ Werkunternehmerpfandrecht nach § 647 BGB in Wahrheit ein lediglich gesetzlich typisiertes „rechtsgeschäftliches“ Pfandrecht sein, so daß die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs zu bejahen ist76: § 647 ordnet nur an, was die Parteien typischer- und vernünftiger- [106] weise selbst vereinbaren würden77. Der zum Systemargument verfestigte Satz über die Versagung des Gutglaubensschutzes bei Erwerb kraft Gesetzes ist daher nur verwertbar, wenn man ihn vor dem Hintergrund des ihn – im Grundsatz – tragenden Rechtsgedankens sieht und
73 Vgl. dazu auch Herschel, BB 66, S.791 ff., der jedoch vorwiegend die Argumentation aus dem „äußeren“ System im Auge hat. 74 So geht die Hypothek gemäß § 1153 I BGB kraft Gesetzes (!) mit der Übertragung der Forderung über, und gleichwohl ist nicht zu bezweifeln, daß sie nach § 892 BGB gutgläubig erworben werden kann. Auch mit § 366 III HGB ist der kritisierte Satz in seiner Allgemeinheit nicht zu vereinbaren. 75 Das ist sicher bei § 1153 I BGB der Fall, dürfte aber z. B. auch auf § 401 und § 1250 BGB zutreffen; in den beiden letzteren Fällen ist allerdings gleichwohl kein gutgläubiger Erwerb möglich, vgl. oben III a. E. 76 Zu der umstrittenen Frage vgl. statt aller einerseits BGHZ 34, 122 und 153 und andererseits Westermann a.a.O., § 133 I mit ausführlichen Nachweisen. 77 Gäbe es § 647 BGB nicht, so hätte die Kautelarjurisprudenz die Bestellung eines Pfandrechts längst in die AGB der Werkunternehmer aufgenommen, und § 1207 BGB wäre dann unmittelbar anwendbar!
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gegebenenfalls (im Wege einer Art „teleologischer Reduktion“) entsprechend einschränkt. 2. Die Möglichkeit einer Fortbildung des Systems Eine zweite wesentliche Schranke der Rechtsgewinnung aus dem System ergibt sich aus der (im vorletzten Paragraphen eingehend erörterten) Offenheit des Systems. Aus dieser folgt nämlich, daß man die Feststellung, das (bisherige) System fordere oder widerlege eine bestimmte Lösung, nicht ohne weiteres als endgültiges Ergebnis hinnehmen darf, sondern vielmehr zusätzlich noch die Möglichkeit einer Fortbildung des Systems zu prüfen hat; was einmal systemrichtig schien oder es sogar war, kann sich also u. U. schon wenig später als überholt erweisen. Dementsprechend muß man sich bei der Rechtsgewinnung aus dem System vor dem Mißverständnis hüten, daß das System stets fertig vorgegeben sei und ohne weiteres die jeweiligen Problemlösungen bereithielte. Vielmehr gilt auch für das System, was Engisch78 für den – diesem ja zugrunde liegenden – Gedanken der „Einheit der Rechtsordnung“ ausgeführt hat: es ist nicht nur Axiom, sondern auch Postulat, nicht nur vorgegeben, sondern auch aufgegeben, und das bedeutet für das Verhältnis von Systembildung und Rechtsgewinnung, daß zwischen diesen nicht eine einseitige Abhängigkeit, sondern eine Wechselbeziehung79 besteht: wie das System die Rechtsgewinnung beeinflußt, so erfolgt auch umgekehrt die volle Ausbildung des Systems erst im Prozeß der Rechtsgewinnung. Außer unter dem Vorbehalt „teleologischer Kontrolle“ steht somit jedes Systemargument auch noch unter dem der Möglichkeit einer Fort- oder Umbildung des Systems80. 3. Systemrichtigkeit und materiale Gerechtigkeit Vorsicht ist dagegen geboten, wenn eine „systemrichtige“ Lösung unter Berufung auf die „materiale Gerechtigkeit“ bekämpft wird81. [107] Denn der Gegensatz, der bei einer solchen Argumentation unterstellt wird, besteht grundsätzlich keineswegs; im Gegenteil: das System als der Inbegriff aller eine Rechtsordnung tragenden Grundwertungen bringt geradezu die materiale Gerechtigkeit, wie diese 78 Vgl. Die Einheit der Rechtsordnung, S. 69 f. (vgl. auch S. 83 f.); zustimmend Larenz, Methodenlehre, S. 135 f. 79 Diese wird man wohl nur als dialektische verstehen können. 80 Hinsichtlich der Einzelheiten kann auf die Ausführungen oben § 3 verwiesen werden; vgl. dort insbesondere IV. 81 Typisch ist die – regelmäßig völlig unreflektiert gebrauchte – Formel, die Systemrichtigkeit oder Systemeinheit dürfe nicht „auf Kosten der materialen Gerechtigkeit gehen“.
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sich in der jeweiligen positiven Rechtsordnung verwirklicht hat, zur Darstellung, und mit Recht hat daher Coing das System als den Versuch bezeichnet, „das Ganze der Gerechtigkeit im Hinblick auf eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Lebens in einer Summe rationaler Prinzipien zu erfassen“82, und hat Larenz es sogar mit der „geschichtlich konkretisierten Rechtsidee“ gleichgesetzt83. Es ist deshalb in diesem Zusammenhang einmal mehr nachdrücklich zu betonen, daß Systemargumente ex definitione nichts anderes darstellen als das am Gleichheitssatz ausgerichtete „Zuendedenken“ der Grundwertungen des Gesetzes und daß sie ihre Legitimität und Durchschlagskraft daher gleichermaßen aus der Autorität des positiven Rechts und der Dignität des Gerechtigkeitsgebotes gewinnen. Wie fragwürdig der Versuch ist, unter Berufung auf die materiale Gerechtigkeit systematisch gebotene Lösungen hintanzusetzen, sei an einem besonders charakteristischen Beispiel aus dem Arbeitsrecht veranschaulicht. Bekanntlich entspricht es ständiger Rechtsprechung und herrschender Lehre, daß ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber bei „schadensgeneigter Tätigkeit“ unter bestimmten Voraussetzungen nicht oder wenigstens nicht in vollem Umfang schadensersatzpflichtig ist, obwohl an sich die Voraussetzungen einer „positiven Forderungsverletzung“ oder einer unerlaubten Handlung vorliegen. So unumstritten dies nun im Grundsatz ist, so ungeklärt sind die Einzelheiten, und dabei besteht vor allem Streit über die Frage, welche Umstände für die Bejahung eines Schadensersatzanspruchs und für seine Höhe in concreto maßgeblich sind; insbesondere ist zweifelhaft, ob in diesem Zusammenhang auch „soziale“ Gesichtspunkte wie Alter, Familienstand und Vermögensverhältnisse des Arbeitnehmers heranzuziehen sind. Letzteres widerspricht nun aber eindeutig dem System des Bürgerlichen Rechts, das sowohl hinsichtlich des Grundes der Ersatzpflicht als auch hinsichtlich ihrer Höhe (§ 254 BGB!) grundsätzlich nur Zurechnungskriterien, nicht aber auch soziale Gesichtspunkte der erwähnten Art berücksichtigt. Systemkonform ist daher allenfalls eine Lösung, die ausschließlich auf Zurechnungselementen aufbaut und etwa gegenüber dem schuldhaften Unrecht auf seiten des Arbeit- [108] nehmers den Gedanken der Risikozurechnung auf seiten des Arbeitgebers anspruchsmindernd oder -ausschließend ins Spiel bringt84. Die Gegenansicht nimmt denn auch nicht für sich in Anspruch, sie sei „systemrichtig“, sondern versucht ihre Systemwidrigkeit – ausdrücklich oder der Sache nach – durch die Berufung auf angebliche Forderungen der materialen Gerechtigkeit zu rechtfertigen85, die hier auf Grund Vgl. zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 28. Vgl. Festschrift für Nikisch, S.304. 84 Zu dieser Ansicht vgl. vor allem Gamillscheg-Hanau, Die Haftung des Arbeitnehmers, 1965, S. 34 ff.; Larenz, Schuldrecht B. T., § 48 II d; Canaris, RdA 66, S. 45 ff. 85 Charakteristisch zuletzt Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, 1966, S.20. Den Vorwurf, die Anforderungen der materialen Gerechtigkeit würden um der Systemeinheit willen zurückgesetzt, kann man übrigens leicht umkehren und 82 83
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der besonderen Natur des Arbeitsverhältnisses eine Abweichung von den allgemeinen Prinzipien unseres Schadensersatzrechts nötig machen sollen. Läßt sich nun aber wirklich behaupten, im Arbeitsverhältnis entspreche bei der Festlegung einer Schadensersatzpflicht nur86 die Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse, des Familienstandes usw. der materialen Gerechtigkeit? Die Frage stellen heißt sie verneinen. Man kann es im Gegenteil sogar als ausgesprochene Ungerechtigkeit ansehen, wenn z. B. ein Arbeitnehmer, der zufällig eine Erbschaft gemacht hat oder der noch ledig ist, bei sonst gleichen Umständen dem Arbeitgeber eine größere Schadensersatzsumme zahlen muß als sein ärmerer bzw. verheirateter Kollege! Was hier der materialen Gerechtigkeit entspricht, läßt sich daher in Wahrheit nicht a priori feststellen, sondern ist nur vor dem Hintergrund des jeweiligen positiven Rechts, in dem die Gerechtigkeit ihre konkrete Verwirk[109] lichung gefunden hat, zu entscheiden, und dieses steht hier, wie gesagt, der Berücksichtigung derartiger sozialer Gesichtspunkte eindeutig entgegen. Das Beispiel der schadensgeneigten Arbeit ist in diesem Zusammenhang indessen noch in anderer Hinsicht lehrreich. Denn auch wenn man die Lösung mit der hier befürworteten Ansicht lediglich aus dem Zusammenspiel spezifischer Zurechnungselemente auf beiden Seiten herleitet, so handelt es sich doch nicht geradezu um ein Musterbeispiel von Systemtreue, da das geschriebene Recht schließlich nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine Einschränkung der Haftung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber enthält. In Wahrheit ist vielmehr nicht zu leugnen, daß sich hier in der Tat Anforderungen der materialen Gerechtigkeit gegen das (ursprüngliche) System unseres Schadensersatzrechts durchgesetzt und zur Herausbildung eines neuen, ungeschriebenen Zurechnungsgrundes geführt haben. Es soll denn auch keineswegs geleugnet werden, daß in gegen Wiedemann selbst erheben; denn die von ihm seinerseits vorgenommene andersartige systematische Einordnung zwingt ihn dazu, die Regeln über die schadengeneigte Arbeit auf Arbeitsverhältnisse zu beschränken, und das kann, wie vor allem der vom BGH entschiedene „Autoüberführungsfall“ (AP Nr. 28 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmer m. Anm. A. Hueck) deutlich gemacht hat, zu erheblichen Unbilligkeiten führen. Letzteres scheint auch Wiedemann selbst zu spüren, doch kann er von seinem Ausgangspunkt aus nur von Fall zu Fall mit einer „stillschweigenden Verabredung“ einer abweichenden Risikoverteilung helfen (vgl. S. 19); die Annahme „stillschweigender“ Parteiabreden aber ist wegen ihres fiktiven Charakters bekanntlich nahezu immer ein untrügliches Indiz dafür, daß eine Scheinbegründung vorliegt und daß dementsprechend die Prämissen der Korrektur bedürfen. Im übrigen spielt auch bei Wiedemann der Risikogedanke eine so maßgebliche Rolle (vgl. vor allem die Ausführungen S. 18 f., die im Grundsatz vollen Beifall verdienen, wenn auch der Autoüberführungsfall m. E. anders zu entscheiden gewesen wäre, vgl. RdA 66, S. 48), daß nicht recht verständlich ist, warum er ihn dann doch nicht als tragenden Rechtsgrund der Haftungseinschränkung anerkennen und so die Wiedereingliederung dieses Instituts in das System unseres Schadensersatzrechts ermöglichen will. 86 Wenn auch die systemkonforme Gegenansicht als material gerecht anerkannt werden muß, ist der Forderung nach Berücksichtigung sozialer Umstände ohne weiteres der Boden entzogen.
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besonderen Fällen einmal ein Konflikt zwischen Systemrichtigkeit und materialer Gerechtigkeit entstehen und daß dieser u. U. auch zugunsten der letzteren entschieden werden kann; denn, wie in § 3 eingehend dargelegt, ist das System „offen“, also einer Wandlung zugänglich, und eine solche Fortbildung desselben kann durchaus auch auf Anforderungen der materialen Gerechtigkeit zurückgehen87. Unter welchen Voraussetzungen diesen dabei der Vorrang gebührt, ist allerdings keine spezifische Frage der Systemproblematik, sondern gehört in den Zusammenhang der Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung, insbesondere der Rechtsfindung mit Hilfe der „außergesetzlichen Rechtsordnung“, und kann daher hier nicht näher erörtert werden88. Immerhin folgt aus dem Gesagten ohne weiteres – und das ist an dieser Stelle allein entscheidend –, daß Gesichtspunkte der materialen Gerechtigkeit nicht ohne weiteres den Systemargumenten entgegengesetzt werden können, sondern daß hierzu vielmehr die besondere (und meist sehr schwierige) Rechtfertigung erforderlich ist, deren jede Rechtsfortbildung und insbesondere eine solche, die sich auf außergesetzliche Kriterien stützt, bedarf89. Was das Institut der schadensgeneigten [110] Arbeit betrifft, so leuchtet es unmittelbar ein, daß diese Rechtfertigung sich weit eher dafür geben lassen wird, daß die Haftung des Arbeitnehmers überhaupt eingeschränkt wird90, als zusätzlich noch dafür, daß dabei entgegen dem System unseres Schadensersatzrechts soziale Umstände wie die Vermögensverhältnisse, der Familienstand usw. zu berücksichtigen sind, – ganz abgesehen davon, daß jede Fortbildung und Modifizierung des Systems nicht weitergehen darf, als es der Anlaß erfordert91. Zusammenfassend ist demnach zu sagen: Die systemrichtige Lösung ist im Zweifel die de lege lata verbindliche, und sie ist grundsätzlich auch als die unter der Herrschaft einer bestimmten positiven Rechtsordnung gerechte anzuerkennen; systemfremde Gesichtspunkte materialer Gerechtigkeit können gegenüber Systemargumenten nur dann den Vorrang beanspruchen, wenn die besonderen Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem § 3 II und IV 1, insbesondere S. 70 f . M. E. ist eine derartige Rechtsfortbildung – von den krassen Fällen „gesetzlichen Unrechts“ abgesehen – unter der doppelten Voraussetzung zulässig, daß einerseits die Wertungen des positiven Rechts nicht entgegenstehen und daß andererseits ein „allgemeines Rechtsprinzip“ sie fordert, das seinen Geltungsgrund entweder in der „Rechtsidee“ oder in der „Natur der Sache“ findet; vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken, a.a.O., S. 95 f., 106 ff., 118 ff. und oben S. 69 f. 89 Vgl. dazu näher die vorige Fn. 90 Worin sie genau liegt, ist eine arbeitsrechtliche Frage, der in diesem Zusammenhang nicht im einzelnen nachzugehen ist. Letztlich entscheidend dürfte in der Tat die besondere Natur des Arbeitsverhältnisses (und verwandter Verträge) und die gegenüber anderen Verträgen atypische Risikolage sein (zur eigenen Ansicht vgl. näher RdA 66, S. 45 ff.); methodologisch gesehen geht es also um eine Argumentation mit Hilfe eines aus der „Natur der Sache“ legitimierten allgemeinen Rechtsprinzips (des Risikoprinzips). 91 Daß das hinsichtlich der Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte hier nicht der Fall ist, wurde oben schon dargelegt. 87 88
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Voraussetzungen vorliegen, unter denen eine Fortbildung des gesetzten Rechts auf Grund außer-positivrechtlicher Kriterien zulässig ist. 4. Die Grenzen der Systembildung als Grenzender Rechtsgewinnung aus dem System Die bisher gemachten Vorbehalte gegenüber der Rechtsgewinnung aus dem System stellten nicht eigentliche Beeinträchtigungen derselben dar, sondern bildeten nur sozusagen immanente Schranken; denn sowohl die Notwendigkeit teleologischer Kontrolle als auch die Möglichkeit einer Fortbildung des Systems – und letzterer sind ja auch die wenigen Fälle zuzurechnen, in denen sich die materiale Gerechtigkeit gegenüber der Systemrichtigkeit durchzusetzen vermag – bedeuten im Grunde nur die selbstverständliche Konsequenz aus bestimmten Eigenschaften des Systems, die ganz unabhängig von der Problematik der Rechtsgewinnung feststehen: aus seinem teleologischen Charakter und aus seiner „Offenheit“. Demgegenüber gibt es jedoch auch Fälle, in denen echte – und höchst störende! – Beeinträchtigungen der Rechtsgewinnung aus dem System vorliegen. Es wäre nämlich nicht nur naiv, zu glauben, daß sich aus dem System jede Rechtsfrage lösen ließe, sondern es kommt darüber hinaus auch vor, daß die [111] systemrichtige Entscheidung mit dem geltenden Recht unvereinbar ist: Systemlücken und Systembrüche sind dem Juristen eine vertraute Erscheinung. Hier sieht sich die Rechtsgewinnung aus dem System naturgemäß vor unüberwindliche Schranken gestellt, und es sind das dieselben, die der Systembildung überhaupt gezogen sind. Diese letzteren aber stellen einen eigenständigen Problemkreis dar, dem für die Rolle des Systemgedankens in der Jurisprudenz naturgemäß höchste Bedeutung zukommt und der daher im folgenden näher erörtert werden soll92. [112]
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Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem § 6 I 3 c, II 2 und III 2.
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§ 6 Die Grenzen der Systembildung Der Hinweis auf die Schranken einer Rechtsgewinnung aus dem System, der den Abschluß des letzten Paragraphen bildete, hat schon die Grenzen angedeutet, die dem Systemdenken in der Jurisprudenz ganz allgemein gezogen sind. In der Tat muß die Ausbildung eines vollkommenen Systems einer bestimmten Rechtsordnung stets ein nie ganz zu erreichendes Ziel bleiben. Denn dem steht das Wesen des Rechts unüberwindlich entgegen, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen ist nämlich eine bestimmte positive Rechtsordnung keine „ratio scripta“, sondern ein historisch gewachsenes, von Menschen geschaffenes Gebilde und weist als solches notwendigerweise Widersprüche und Unzulänglichkeiten auf, die mit dem Ideal innerer Einheit und Folgerichtigkeit und damit mit dem Systemgedanken unvereinbar sind. Zum anderen aber ist auch der Rechtsidee selbst ein systemfeindliches Element immanent, und zwar die sogenannte „individualisierende Tendenz“1 der Gerechtigkeit, die dem – auf der „generalisierenden Tendenz“ beruhenden2! – Systemgedanken entgegenwirkt und die Entstehung von Normen. zur Folge hat, die sich systematischer Festlegung a priori entziehen. „Systembrüche“ und „Systemlücken“ sind deshalb unvermeidbar. I. Systembrüche 1. Systembrüche als Wertungs- und Prinzipienwidersprüche Was zunächst die Systembrüche betrifft, so stellen sich diese bei Zugrundelegung des oben3 vertretenen Systembegriffs als Wertungs- und Prinzipienwidersprüche4 dar; denn wenn das System nichts an- [113] deres ist als die äußere Form der wertungsmäßigen Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung, so muß ein Systembruch auf einer Störung dieser Einheit und Folgerichtigkeit und mithin auf einer wertungsmäßigen Inkonsequenz beruhen. Die Frage nach der Möglichkeit 1 Zum Gegensatz von individualisierender und generalisierender Tendenz der Gerechtigkeit vgl. die Zitate oben § 1, Fn. 32; vgl. ferner oben § 4 IV = S. 83 f. und unten § 7 II 2 und 3. 2 Vgl. §1 II 2. 3 Vgl. § 2 II. 4 Die Prinzipienwidersprüche stellen dabei nur eine besondere Form der Wertungswidersprüche, nämlich Widersprüche in den Grundwertungen der Rechtsordnung dar; anders Engisch, Einheit, S. 64 mit Fn. 2 und Einführung, S. 160 und 162, der die Prinzipienwidersprüche den Wertungswidersprüchen nicht unter-, sondern nebenordnet (vgl. aber auch Einheit, S. 64, Fn. 2 letzter Satz und Einführung, S. 164); das ist von seinem Standpunkt aus folgerichtig, da er im Gegensatz zur hier vertretenen Ansicht den Prinzipienwidersprüchen auch Fälle zurechnet, in denen keine echten Wertungswidersprüche, sondern bloße Prinzipiengegensätze vorliegen, vgl. sogleich im Text unter 2 d.
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und der Bedeutung von Systembrüchen mündet daher in die Frage nach der Möglichkeit und der Bedeutung von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen5. 2. Abgrenzung der Wertungs- und Prinzipienwidersprüche gegenüber verwandten Erscheinungen Um diese zu klären, ist es zunächst erforderlich, den Begriff der Wertungs- und Prinzipienwidersprüche näher zu umreißen. Dazu müssen diese gegenüber verwandten Erscheinungen abgegrenzt werden. a) Gegenüber den Wertungsdifferenzierungen Auszuscheiden sind in diesem Zusammenhang als erstes die bloßen Wertungsdifferenzierungen; damit sind solche Wertungsunterschiede gemeint, die sachlich gerechtfertigt sind, mögen sie auch ein allgemeineres Prinzip für einen – wertungsmäßig atypisch liegenden – Sondertatbestand scheinbar durchbrechen, und die daher keine echten „Widersprüche“ darstellen. b) Gegenüber den immanenten Schranken eines Prinzips Auszugrenzen sind außerdem die immanenten Schranken eines Prinzips, da diese nicht eigentlich dem Prinzip entgegenwirken, sondern nur dessen wahren Sinngehalt deutlich machen. So wäre es z. B. verfehlt, von einem „Widerspruch“ zwischen dem Prinzip der Privatautonomie und dem Gebot der Wahrung der guten Sitten i. S. d. § 138 BGB zu sprechen. Denn wie jede Freiheit, die echte Freiheit und nicht Willkür ist, die ethische Bindung einschließt, so wohnt auch der Privatautonomie die Schranke der guten Sitten von vornherein inne; hier von einem „Widerspruch“ zu reden, liefe auf eine Verabsolutierung des Gedankens der Privatautonomie hinaus, die deren rechtsethischen Gehalt mißverstehen und daher das Prinzip denaturieren würde. [114]
5 Zu diesen vgl. allgemein Engisch, Einheit, S. 59 ff. und Einführung, S. 160 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 254 f., jeweils mit weiteren Nachweisen, sowie die Beiträge in: Perelman (Herausgeber), Les Antinomies en Droit, Traveaux du Centre National de Recherches de Logique, Bruxelles 1965.
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c) Gegenüber der Prinzipienkombination Zu Unrecht ist weiterhin nicht selten dort von Prinzipienwidersprüchen die Rede, wo es in Wahrheit nur um eine Verbindung zweier Prinzipien geht. Ein Beispiel hierfür bildet das Problem, ob der Verkehrs- und Vertrauensschutz dem Schutz mangelnder Geschäftsfähigkeit „vorgeht“ oder umgekehrt. Einen „Widerspruch“ zwischen den beiden Prinzipien könnte man allenfalls6 dann annehmen7, wenn das Vertrauensprinzip seinem Wesen oder seiner positivrechtlichen Ausgestaltung nach bereits für sich allein den Schutz des Vertrauenden fordern würde. Das ist aber nicht der Fall. Denn das Vertrauensprinzip besagt nur etwas über die eine Seite, die des Vertrauenden, nicht auch über die andere Seite, die des Haftenden, und eine Aussage über die Rechtsfolge kann man immer erst dann machen, wenn die Gerechtigkeitskriterien für beide Seiten ermittelt sind; daher müssen zum Gedanken des Vertrauensschutzes stets noch andere Elemente hinzukommen, die die Haftung des anderen Teils rechtfertigen, und diese liegen regelmäßig im Prinzip der Selbstverantwortung, also in einer Zurechnung des Vertrauenstatbestandes an den in Anspruch Genommenen8. Ist dieser nun nicht voll geschäftsfähig, so fehlt ihm insoweit die Zurechnungsfähigkeit9, und deshalb tritt seine Haftung nicht ein. Es handelt sich also in Wahrheit nicht darum, daß hier die Prinzipien des Vertrauensschutzes und des Schutzes mangelnder Geschäftsfähigkeit miteinander in Konflikt geraten und daß nun dieser „Widerspruch“ zugunsten des letzteren entschieden wird, sondern darum, daß das Vertrauensprinzip grundsätzlich nur im Zusammenwirken mit dem Prinzip der Selbstverantwortung relevant ist und daß daher folgerichtig bei Fehlen der Verantwortungsfähigkeit auch der Vertrauensschutz versagt. Vom Widerspruch zweier Prinzipien ist also das Nichtvorliegen der Voraussetzungen eines von zwei erst in ihrem Zusammenwirken relevanten Prinzipien zu unterscheiden. [115]
In Wahrheit nicht einmal dann, vgl. sogleich im Text unter d. Das tut z. B. Larenz, Festschrift für Nikisch, S. 302. Auch die übrigen von Larenz hier genannten Beispiele sind in Wahrheit keine echten Prinzipienwidersprüche, sondern gehören entweder ebenfalls zu der Gruppe der notwendigen Verbindung zweier Prinzipien oder (überwiegend) zu der (sogleich näher zu erörternden) Gruppe der bloßen Prinzipiengegensätze. 8 Wo darauf verzichtet wird, wie z. B. in den Fällen des Registerschutzes, müssen andere Elemente zur Rechtfertigung des Rechtsverlustes oder der Haftung hinzutreten, z. B. ein gegenüber dem bloßen Vertrauensschutz erhöhtes Verkehrsschutzbedürfnis, die Steigerung des Vertrauenstatbestandes bei gleichzeitiger Reduzierung der Fehlerquellen durch die Mitwirkung eines staatlichen Organs i. V. m. der Regreßmöglichkeit nach § 839 BGB usw. 9 Allerdings könnte diese sich grundsätzlich auch nach Analogie der §§ 827 ff. BGB beurteilen, doch passen die §§ 104 ff. BGB besser, da es um die Folgen eines Handelns im rechtsgeschäftlichen Bereich geht und da auch die Rechtsfolgen typischerweise solche sind, wie sie sonst nur an Rechtsgeschäfte geknüpft werden. 6 7
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d) Gegenüber den Prinzipiengegensätzen Auch wenn man diesem Verständnis des Vertrauensprinzips nicht beipflichtet, sondern ihm die Tendenz zuspricht, für sich allein den Schutz des Vertrauenden zu fordern, sollte man hier indessen gleichwohl nicht von einem „Widerspruch“ reden. Die Problematik fiele dann vielmehr in die vierte – und wichtigste – Gruppe, die von den Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen unterschieden werden muß: die der Wertungs- und Prinzipiengegensätze. Es gehört, wie schon in anderem Zusammenhang dargelegt10, geradezu zum Wesen der allgemeinen Rechtsprinzipien, daß sie häufig miteinander in Konflikt geraten und, jeweils für sich genommen, zu entgegengesetzten Lösungen drängen. Dann muß ein Kompromiß gefunden werden, wobei jedem Prinzip ein bestimmter Anwendungsbereich zugewiesen wird. Es geht hier also um das oben10 herausgearbeitete Charakteristikum der wechselseitigen Beschränkung der Prinzipien. Als Beispiel sei etwa an die gegenläufige Tendenz zwischen dem Prinzip der Testierfreiheit und dem des Familienschutzes erinnert, die im Pflichtteilsrecht ihren Ausgleich gefunden hat. Einen solchen „Kompromiß zwischen verschiedenen Grundgedanken“ der Rechtsordnung sollte man entgegen der Meinung Engischs11 nicht als einen Widerspruch, sondern als einen Gegensatz bezeichnen. Denn ein Widerspruch ist immer etwas, was eigentlich nicht sein sollte und daher nach Möglichkeit beseitigt werden muß, ist, wie Engisch selbst sagt, eine „Disharmonie“12, während die hier in Frage stehenden Prinzipiengegensätze notwendig zum Wesen einer Rechtsordnung gehören und dieser erst ihre ganze Sinnfülle geben13; sie müssen daher keineswegs beseitigt14, sondern durch eine „mittlerere“ Lösung „ausgeglichen“ werden,
Vgl. S. 53. Einführung, S. 162 bei Fn. 206 b; vgl auch Larenz, Festschrift für Nikisch, S. 301 und Methodenlehre, S. 314, wo auch Larenz in diesem Zusammenhang von Widersprüchen spricht, obwohl er der Sache nach bloße Prinzipiengegensätze im Auge hat (vgl. auch Fn. 7); Larenz ersetzt denn auch sogleich den Terminus „Widerspruch“ durch den – wesentlich besser passenden – Terminus „Widerstreit“, – allerdings vermutlich, ohne damit einen sachlichen Unterschied zum Ausdruck bringen zu wollen. 12 a.a.O., S. 162. 13 Treffend Esser, Grundsatz und Norm, S. 81 und S. 159, wo es heißt, durch das eine Prinzip werde dem anderen „vernünftig Widerpart gehalten“; vgl. ferner Larenz, Festschrift für Nikisch, S. 301 f. 14 Das will Engisch auch nicht, vgl. a.a.O., S. 164, doch beschränkt er diese Zurückhaltung nicht auf die Prinzipiengegensätze, sondern bezieht in sie (teilweise) auch die echten Widersprüche (im Sinne der im Text gebrauchten Terminologie) ein; im letzteren Falle aber kann ihm hierbei gerade nicht gefolgt werden (vgl. sogleich im Text unter 3), und da somit auch die rechtliche Behandlung der beiden Erscheinungen verschieden ist, empfiehlt sich auch aus diesem Grunde eine klare terminologische Abgrenzung. 10 11
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wobei [116] ihre innere Gegenläufigkeit in dem Kompromiß im doppelten Sinne des Wortes „aufgehoben“ ist15. Der Ausdruck Prinzipienwidersprüche sollte demnach den echten Widersprüchen vorbehalten werden, d. h. Wertungswidersprüchen, die die innere Folgerichtigkeit und Einheit der Rechtsordnung, ihre „Harmonie“, stören und die daher grundsätzlich vermieden bzw. beseitigt werden müssen. 3. Die Möglichkeiten zur Vermeidung von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen im Wege der Rechtsfortbildung Damit ist bereits der nächste Problemkreis angesprochen: die Frage, wie sich der Jurist bei der Anwendung des Rechts gegenüber solchen Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen zu verhalten hat und in welchem Umfang dementsprechend u. U. Systembrüche bestehen bleiben. Engisch ist der Meinung, daß die Wertungsund Prinzipienwidersprüche „im allgemeinen hingenommen werden müssen“16. Dem ist nicht zu folgen. Denn derartige Widersprüche stellen eine Verletzung des Gleichheitsgebotes dar17, und an dieses sind der Gesetzgeber wie der Richter gebunden18. Der Jurist hat daher sein gesamtes methodologisches Arsenal einzusetzen, um der Gefahr von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen entgegenzuwirken, und es kann sich allenfalls fragen, wie weit ihm dabei Erfolg beschieden ist19. a) Die Möglichkeiten der systematischen Auslegung Als methodologisches Hilfsmittel bietet sich hier zunächst die systematische Auslegung an, und innerhalb dieser wiederum vor allem [117] die Grundsätze über
Der Gegensatz ist also in dem Kompromiß überwunden und gleichzeitig noch enthalten. Vgl. Einführung, S. 161 und für die Prinzipienwidersprüche (allerdings stärker differenzierend) S. 164; vgl. auch schon Einheit, S. 63 f. und S. 84 ff., wo Engisch zwar anerkennt, daß auch die Beseitigung von Wertungswidersprüchen – ebenso wie die von Normwidersprüchen – u. U. „unbedingt erforderlich“ sein kann, jedoch meint, in anderen Fällen sei sie nicht „unbedingt notwendig“ (vgl. S. 84); es fragt sich indessen, woran die „Notwendigkeit“ einer Beseitigung gemessen werden soll, und bei der Beantwortung dieser Frage wird man wohl letztlich um die Heranziehung des Gleichheitssatzes nicht herumkommen, so daß sich das im Text befürwortete grundsätzliche Gebot einer Beseitigung ergibt. – Allerdings ist in diesem Zusammenhang die z. T. abweichende Terminologie Engischs zu berücksichtigen, vgl. dazu Fn. 11 und 14. 17 So auch Larenz, Methodenlehre, S. 254; zurückhaltend Engisch, Einheit, S. 62 f. („vielleicht“). 18 Vgl. näher alsbald im Text unter 4. 19 Ähnlich Larenz, a.a.O., mit Fn. 1. 15 16
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die lex specialis, die lex posterior und die lex superior19a. Allerdings sind diese ursprünglich nur im Hinblick auf Normwidersprüche – also auf Fälle, in denen die Rechtsordnung an den Tatbestand T in einer Norm die Rechtsfolge R und in einer anderen Norm die Rechtsfolge non-R knüpft – entwickelt worden, doch wird man sie, zumindest teilweise, auch auf Wertungs- und Prinzipienwidersprüche übertragen können20, also auf Fälle, in denen die Rechtsordnung in einer Norm an den Tatbestand T1 die Rechtsfolge R, in einer anderen Norm an den wertungsmäßig im wesentlichen gleich liegenden Tatbestand T2 die Rechtsfolge non-R geknüpft hat. Weiterhin kann man mit Hilfe der systematischen Auslegung Wertungswidersprüche dadurch vermeiden, daß man den Wortlaut verschiedener Vorschriften systemkonform, und das heißt einheitlich, interpretiert. So tritt z. B. eine Rechtsscheinhaftung für die Ausstellung einer Vollmachtsurkunde nach § 172 I BGB nur dann ein, wenn der Aussteller die Urkunde dem Bevollmächtigten „ausgehändigt“ hat, also nicht, wenn sie ihm gestohlen worden ist, wohingegen zwei andere und eng verwandte Vorschriften der Rechtsscheinhaftung, nämlich die §§ 370 und 405 BGB diese Einschränkung zumindest nicht ausdrücklich machen. Sie ist jedoch zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs in diese auf Grund systemkonformer Auslegung (bzw. Lückenfüllung) hineinzuinterpretieren21, da ein vernünftiger Grund [118] für die Differenzierung nicht erkennbar ist22 und da zudem auch § 935 I BGB in dieselbe Richtung weist. Dabei dürfte im 19a „Lex“ kann dabei auch eine Norm des Gewohnheitsrechts sein. So ist wohl der Wertungswiderspruch zwischen § 307 I 2 BGB und den allgemeinen Regeln über die „culpa in contrahendo“ i. V. m. § 254 BGB (zur Problematik vgl. einerseits Larenz, Schuldrecht A. T. S. 83 Fn. 1, andererseits Esser, Schuldrecht A. T. S. 206 bei Fn. 16) durch die – allerdings nicht unproblematische – Annahme zu beseitigen, daß die heute gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtssätze über die „culpa in contrahendo“ als lex posterior (generalis) vorgehen und § 307 I 2 daher derogiert ist. Folgt man dem nicht, so kommt man gleichwohl auf Grund der im Text unter Ziff. 4 b entwickelten Regeln zur Nichtigkeit des § 307 I 2, da die dieser Vorschrift zugrunde liegende Wertung im Vergleich zu § 254 und den Rechtssätzen über die „culpa contrahendo“ heute nur als „offenbare Willkür“ angesehen werden kann. 20 Die Frage ist wenig geklärt und bedürfte einer eigenständigen Untersuchung. Häufig wird man die Problematik dadurch lösen können, daß man die fragliche Wertung zu einer Norm konkretisiert und dann die Regeln über die lex superior, posterior oder specialis unmittelbar anwendet, doch wird dieser Weg wohl kaum immer gangbar sein. Im übrigen dürfte die Übertragung des Grundsatzes vom Vorrang der lex superior am ehesten zu rechtfertigen sein, während das Verhältnis zwischen früheren und späteren einander widersprechenden Wertungen und Prinzipien, also der Problemkreis der lex posterior, weitaus größere Schwierigkeiten aufweist, vgl. zu letzterem z. B. Engisch, Einheit, S. 84 und Einführung, S. 164 f. jeweils mit ausführlichen Nachweisen; Larenz, Methodenlehre, S. 266 ff. mit dem interessanten Beispiel des Verhältnisses von § 254 BGB zu § 1 RHaftPflG; Betti, Allgemeine Auslegungslehre, a.a.O., S. 638. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Beispiel in Fn. 19 a. 21 a. A. h. L., vgl. für § 370 statt aller Palandt-Danckelmann, § 370, Anm. 1 und für § 405 Stoll, AcP 135, S. 107. 22 Daß bei Umlaufpapieren auch ein Abhandenkommen der Verpflichtung des Ausstellers nicht entgegensteht, rechtfertigt sich ohne weiteres aus dem Umlaufzweck und dem damit
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Falle des § 370 noch eine (restriktive) Auslegung i. e. S. vorliegen, da man durchaus sagen kann, als „Überbringer“ einer Quittung sei schon rein sprachlich nicht unbedingt auch der Dieb anzusehen23; im Falle des § 405 handelt es sich dagegen wohl schon um Lückenergänzung, weil das Gesetz nur die „Ausstellung“ der Urkunde verlangt und die Einfügung des Merkmals der „Aushändigung“ daher nicht mehr im Rahmen des möglichen Wortsinnes liegt24. b) Die Möglichkeiten der systematischen Lückenergänzung Damit ist bereits eine zweite Stufe der Beseitigung von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen und von Systemwidrigkeiten erreicht: neben die systemkonforme Auslegung tritt die systemkonforme Lückenergänzung. Auch hier sind alle herkömmlichen Verfahren heranzuziehen, insbesondere also Analogie, argumentum a fortiori und teleologische Reduktion, die ja ohnehin nur die methodologischen Ausformungen des Gleichheitsgebotes darstellen. So dürfte z. B. der von Engisch25 im Anschluß an eine Entscheidung des RG26 erörterte Wertungswiderspruch zwischen der Mindeststrafe bei Kindestötung und bei der Aussetzung eines Kindes mit Todesfolge durch die Mutter unmittelbar nach der Geburt entgegen der Meinung Engischs und des RG durch ein argumentum a fortiori zu beseitigen sein: wenn schon bei der Tötung des Kindes mildernde Umstände berücksichtigt werden können, dann erst recht bei der vom Gesetz grundsätzlich milder bewerteten Aussetzung; denn es liegt keineswegs eine klar entgegenstehende Entscheidung des Gesetzgebers vor, sondern dieser hat den Sondertatbestand im Rahmen des § 221 StGB ersichtlich übersehen, [119] so daß es sich nicht einmal vom Standpunkt der subjektiven Auslegungstheorie aus um eine unzulässige Korrektur des Gesetzes handelt.
verbundenen gesteigerten (!) Verkehrsschutzbedürfnis, so daß insoweit kein zu beseitigender Wertungswiderspruch, sondern eine sinnvolle Wertungsdifferenzierung vorliegt. 23 Vgl. schon Protokolle zum ADHGB, 1858, S. 1323 f.; Keyssner, Festgabe für R. Koch, 1903, S.142; Goldberger, Der Schutz gutgläubiger Dritter im Verkehr mit Nichtbevollmächtigten nach Bürgerlichem Gesetzbuch, 1908, S. 82. Auch die hier Zitierten vertreten jedoch i. E. mit der h. L. die Ansicht, daß § 370 auch im Falle des Abhandenkommens eingreift. 24 Sie ist deshalb aber nicht etwa unzulässig. Vielmehr liegt ein besonderer – in seiner Eigenart bisher wenig gewürdigter – Typus einer Lücke vor: eine „verdeckte Normlücke“, bei der die Feststellung der Lücke mit Hilfe des positiven Gleichheitssatzes erfolgt; vgl. dazu allgemein Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 81 und S. 137 f. 25 Einführung, S. 160. 26 RGSt. 68, S. 407 (410).
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c) Die Grenzen der Beseitigung von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen im Wege der Rechtsfortbildung Damit ist nun aber zugleich schon die Grenze angedeutet, die auch der systemkonformen Lückenergänzung gezogen ist: sie liegt dort, wo die Grenzen der Lückenergänzung ganz allgemein liegen27. Jene scheidet deshalb vor allem dann aus, wenn Wortlaut und Sinn des Gesetzes der Annahme einer Lücke eindeutig im Wege stehen oder wenn ein Rechtsfortbildungsverbot28 gegeben ist. Enthielten z. B. § 370 und § 405 BGB den ausdrücklichen Zusatz „auch wenn die Urkunde dem Aussteller abhanden gekommen ist“, so wäre der Wertungswiderspruch zu dem – nach Wortlaut und Sinn ebenso unmißverständlichen – § 172 I BGB mit den Mitteln von Auslegung und Lückenergänzung (vorbehaltlich der sogleich noch näher zu erörternden Annahme einer Kollisionslücke) nicht zu beseitigen. Ein Beispiel aus dem geltenden Recht für einen derartigen Wertungswiderspruch dürften die §§ 28 und 130, 173 HGB bieten: während beim Eintritt in das Geschäft eines Einzelkaufmannes die Haftung für die Altschulden gemäß § 28 II mit Wirkung gegenüber den Gläubigern abbedungen werden kann, ist sie beim Eintritt in eine OHG oder KG nach §§ 130 II, 173 II zwingend vorgeschrieben, – ein Unterschied, für den sich wohl kaum ein vernünftiger Grund finden lassen dürfte29. Der darin liegende Wertungswiderspruch ist nun aber weder mit den Mitteln der Auslegung noch mit denen der Lückenergänzung zu beseitigen: § 28 II einerseits und §§ 130 II, 173 II andererseits sind nach Wortlaut und Sinn gleichermaßen eindeutig, und es handelt sich daher nicht um eine Lücke, sondern um einen „rechtspolitischen Fehler“. – Ähnliche Schwierigkeiten können sich auch dadurch ergeben, daß eine systemwidrige Regelung in den Rang von Gewohnheitsrecht erwächst; es sei nur an die Sicherungsübereignung und den dadurch entstandenen Widerspruch zum Verbot eines besitzlosen Pfandrechts erinnert. [120] Als Beispiel für die Grenzen, die durch ein Rechtsfortbildungsverbot der Beseitigung von Wertungswidersprüchen gesetzt sind, ist die unterschiedliche Regelung der Strafbarkeit des Versuchs bei der Sachbeschädigung einerseits und der einfachen Körperverletzung andererseits zu erwähnen; während der Versuch bei ersterer ausdrücklich unter Strafe gestellt ist, fehlt eine entsprechende Regelung
27 Auf diese Problematik und insbesondere auf die Abgrenzung zwischen Lücke und rechtspolitischem Fehler kann in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu eingehend Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 31 ff. mit ausführlichen Nachw. und S. 55 ff. 28 Dazu gehören neben dem meist allein in diesem Zusammenhang erwähnten Analogieverbot auch das Restriktions- und das Induktionsverbot; zu den letzteren vgl. Canaris, a.a.O., S. 193 bzw. S. 184 ff. und 194 ff. 29 Das mag in diesem Zusammenhang jedenfalls einmal unterstellt werden, um die methodologische (und verfassungsrechtliche, vgl. unten 4 b) Problematik zu veranschaulichen.
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bei letzterer, und darin liegt ein unerfreulicher Wertungswiderspruch30, da unser Recht die Unversehrtheit des Körpers grundsätzlich höher bewertet und dementsprechend stärker schützt als das Eigentum und da sich die Strafbarkeit des Versuchs nach der Systematik des StGB (u. a.) wesentlich nach Ranghöhe und Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit des fraglichen Rechtsguts richtet. Gleichwohl ist es nicht zulässig, nun auch die versuchte Körperverletzung unter Strafe zu stellen mit dem Argument: wenn schon der Versuch der Sachbeschädigung strafbar ist, dann erst recht der der Körperverletzung. Denn in einem derartigen argumentum a fortiori läge eine Lückenergänzung in malam partem, und diese ist zumindest im Besonderen Teil des StGB nach Art. 103 II GG verboten. Der Wertungswiderspruch läßt sich daher nicht beheben. Schließlich können auch die Schranken der richterlichen Rechtsfortbildung, wie sie in dem Phänomen der unausfüllbaren Lücken31 in Erscheinung treten, der Beseitigung eines Wertungswiderspruchs entgegenstehen. So ist es z. B. ein schwerer Systembruch, daß die Haftung nach § 22 WHG nicht der Höhe nach begrenzt ist32; denn eine Höchstsumme ist bei allen übrigen Tatbeständen der Gefährdungshaftung (mit Ausnahme des § 833 S. 1 BGB33) vorgesehen, und sie wird auch durch die tragenden Grundgedanken dieses Instituts gefordert, da nur so der Gefahr einer „ruinösen Schadenszurechnung“ vorgebeugt werden kann und da nur so die – für die Gefährdungshaftung unerläßliche – volle Versicherbarkeit des Risikos gewährleistet ist. Das Fehlen einer Höchstsumme in § 22 WHG wird man daher als Lücke ansehen müssen, da die immanenten Prinzipien der Gefährdungshaftung eine entsprechende Regelung fordern und da andererseits weder die Fassung der Vorschrift noch ihre Entstehungsgeschichte erkennen lassen, daß der Gesetzgeber hier bewußt eine entgegengesetzte Ent- [121] scheidung hat treffen wollen. Diese Lücke kann jedoch durch den Richter nicht ausgefüllt werden, weil für die dazu erforderliche Festsetzung einer bestimmten Summe keine spezifisch rechtlichen Kriterien zur Verfügung stehen und weil daher eine solche Entscheidung wegen des in ihr enthaltenen Elements von Willkür dem
30 Als Beispiel eines solchen wird er von Engisch, Einführung, S. 160 mit Recht angeführt. Die Polemik von Schreiber, Logik des Rechts, S. 60 gegen Engisch ist abwegig (vgl. die durchschlagende Entgegnung von Engisch, a.a.O., Fn. 198 a) und beweist ähnlich wie andere Äußerungen Schreibers (vgl. dazu unten Fn. 44 und 67) ein weitgehendes Unverständnis für axiologische und teleologische Problemstellungen. 31 Vgl. dazu allgemein Canaris, a.a.O., S. 172 ff. m. Nachw. 32 Vgl. vor allem die Kritik von Larenz, VersR 63, S. 591 ff. (603) und Schuldrecht B. T., § 71 VIII. 33 Bei diesem kann man jedoch wohl nicht von einem Systembruch sprechen, vgl. unten S. 128.
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Gesetzgeber vorbehalten bleiben muß34. Auch hier versagen somit die Mittel richterlicher Rechtsfortbildung gegenüber dem Wertungswiderspruches35. Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß es Wertungswidersprüche gibt, die mit Hilfe der legitimen Methoden der Auslegung und Rechtsfortbildung nicht zu überwinden sind. Dies ist der Fall, wo der Wertungswiderspruch sich nicht als Lücke, sondern als „rechtspolitischer Fehler“ darstellt oder wo zwar eine Lücke vorliegt, aber deren Ausfüllung verboten oder unmöglich ist. 4. Die Problematik der Verbindlichkeit systemwidriger Normen und der Bindung des Gesetzgebers an den Systemgedanken Damit ist indessen nicht gesagt, daß derartige Wertungswidersprüche und die aus ihnen folgenden Systembrüche ohne Ausnahme hingenommen werden müssen. Vergegenwärtigt man sich nämlich, daß Wertungswidersprüche Verstöße gegen den Gleichheitssatz darstellen und daß dieser anerkanntermaßen sowohl Ausfluß der Rechtsidee als auch Bestandteil des Grundgesetzes ist, so drängt sich die Frage doch geradezu auf, ob nicht im Falle eines Wertungswiderspruchs den fraglichen Normen zumindest unter bestimmten Voraussetzungen die Gefolgschaft zu versagen sei. Damit tritt eine neue Seite der Systemproblematik in das Blickfeld: die Frage nach der Verbindlichkeit systemwidriger Normen und dementsprechend die Frage nach der Bindung des Gesetzgebers an den Systemgedanken36. Bei ihrer Beantwortung ergeben sich sowohl methodologische als auch, wie bei der Gültigkeitsproblematik nicht anders zu erwarten ist, verfassungsrechtliche Aspekte. a) Die Lösung mit Hilfe der Annahme einer „Kollisionslücke“ Was zunächst die ersteren anbetrifft, so ist in der traditionellen Methodenlehre schon seit langem eine Figur anerkannt, die u. U. auch [122] im vorliegenden Zusammenhang fruchtbar gemacht werden könnte: die der sogenannten Kollisions-
Zum Grundsätzlichen vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 175 f. Zur Frage der Gültigkeit des § 22 WHG vgl. unten S. 128 f. mit Fn. 60. 36 Diese ist bisher verhältnismäßig wenig durchdacht. Hinzuweisen ist jedoch auf die Arbeiten von Zimmerl (Der Aufbau des Strafrechtssystems, 1930, Strafrechtliche Arbeitsmethode de lege ferenda, 1931, insbesondere S. 14 ff., 54 ff., 146 ff.), in denen allerdings der Schwerpunkt nicht auf der methodologischen, sondern auf der materiell-strafrechtlichen Problematik liegt; auch argumentiert Zimmerl überwiegend de lege ferenda, so daß die Frage nach der Verbindlichkeit systemwidriger Normen de lege lata bei ihm gänzlich in den Hintergrund tritt. Vgl. auch schon Beling, Methodik der Gesetzgebung, insbesondere der Strafgesetzgebung, 1922, S. 20 f. 34 35
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lücke37. Von einer solchen spricht man herkömmlicherweise vor allem in den Fällen eines Normwiderspruchs: wenn das Gesetz an den Tatbestand T zugleich die Rechtsfolgen R und non-R knüpft und dieser Widerspruch sich mit den Mitteln von Auslegung und Rechtsfortbildung nicht beseitigen läßt, dann heben sich die beiden Rechtsfolgeanordnungen gegenseitig auf, und es entsteht eine Lücke. Damit ist aber, was bisher im Schrifttum nicht genügend betont worden ist, der Bereich der Lückenergänzung bereits überschritten und der der Derogierung betreten; denn der entscheidende Schritt liegt schon vor der Bejahung einer Lücke, nämlich in der Annahme, daß sich die widersprechenden Normen aufheben und daher beide nichtig sind. Es liegt nun nahe, ebenso bei Vorliegen eines Wertungswiderspruchs zu verfahren und dementsprechend auch hier davon auszugehen, daß sich die einander widersprechenden Normen aufheben und daß folglich Kollisionslücken entstehen38. Dagegen drängt sich indessen sofort der Einwand auf, für die Beseitigung eines Normwiderspruchs bestehe ein weit stärkeres Bedürfnis als für die Beseitigung eines Wertungswiderspruchs39. Die Relevanz dieses Bedenkens läßt sich nur überprüfen, wenn man nach dem Grund fragt, der zur Ausräumung des Widerspruchs zwingt und diesen in Beziehung zum Unterschied der beiden Arten von Widersprüchen setzt. Dabei scheint nun auf den ersten Blick der Gedanke eine Rolle zu spielen, im Falle eines Normwiderspruchs liege ein logischer Widerspruch vor40, im Falle eines Wertungswiderspruchs dagegen nur ein axiologischer oder teleologischer, ersterer aber könne unter keinen Umständen hingenommen werden, weil auch [123] das Recht den Gesetzen der Logik unterworfen sei41, letzterer dagegen sei eher erträglich, weil die Rechtsordnung ihre Wertungen selbst bestimme42 und weil daher insoweit auch eine widersprüchliche Entscheidung des 37 Vgl. dazu statt aller Engisch, Einheit, S. 50 und S. 84 sowie Einführung, S. 159; Canaris, a.a.O., S. 65 ff. mit ausf. Nachw. in Fn. 28. 38 Diese Möglichkeit wird schon von Engisch, Einheit, S. 84, gesehen, jedoch nicht allgemein, sondern nur für einzelne (allerdings leider nicht näher umrissene) Fälle bejaht. Ablehnend dagegen Canaris, a.a.O., S. 66 Fn. 32, wo die (teleologischen) Kollisionslücken klar von den Wertungswidersprüchen abgegrenzt werden; die darin zum Ausdruck kommende Ansicht gebe ich hiermit auf, vgl. alsbald im Text. 39 Dies ist ersichtlich die Grundhaltung von Engisch, vgl. Einheit, S. 63 und Einführung, S. 161; vgl. ferner Betti, Allgemeine Auslegungslehre, a.a.O., S. 638 (für das Verhältnis von lex prior und lex posterior). 40 So Schreiber, a.a.O., S. 60; Canaris, a.a.O., S. 66; vgl. auch Engisch, Einführung, S. 234, Fn. 198 a, der in ähnlichem Zusammenhang jedenfalls bei „echter Identität der Rechtsfrage“, – die bei Normwidersprüchen stets gegeben ist! – einen logischen Widerspruch bejaht; vgl. aber auch Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 209 f. 41 Vgl. vor allem Schreiber, a.a.O., S. 60, der die Notwendigkeit der Beseitigung von Normwidersprüchen als „Beispiel für die Tatsache, daß Gesetze der Logik augenscheinlich Bestandteil des Rechts werden“ anführt. 42 In dieser Richtung wohl Schreiber, a.a.O., S. 60.
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Gesetzgebers zu respektieren sei. Indessen ist es schon sehr zweifelhaft und muß als zumindest ungeklärt angesehen werden, ob und inwieweit die Rechtsordnung wirklich den Gesetzen der Logik unterliegt43; denn diese gelten – jedenfalls in ihrer bisher üblichen Fassung – nur für Aussagesätze, die als solche dem Kriterium von wahr und falsch unterstehen, nicht dagegen für Sollenssätze, die nicht an diesem Maßstab, sondern an dem von geltend und nicht-geltend zu messen sind44. Aber auch wenn man einmal annimmt, ein Normwiderspruch sei wirklich als Verstoß gegen die Gesetze der Logik zu behandeln, so folgt daraus doch noch nicht, daß es auch Gründe der Logik sind, die zu der hier interessierenden Lösung des Problems, [124] nämlich zur Annahme einer Kollisionslücke führen. Denn ebenso wie aus dem Widerspruch zweier Aussagesätze nur geschlossen werden kann, daß einer von ihnen falsch sein muß, so könnte aus dem Widerspruch zweier Normen rein logisch allenfalls geschlossen werden, daß eine von ihnen ungültig sein muß; es geht aber gerade darum zu begründen, warum beide ungültig sind – denn durch diese Annahme soll ja der Normwiderspruch beseitigt werden –, und die Problematik läßt sich somit mit den Mitteln der Logik allein keinesfalls lösen. Man kommt der wirklichen Begründung für die Annahme einer Kollisionslücke nur näher, wenn man fragt, welche der beiden Normen denn gültig bzw. ungültig sein soll, und sich zugleich klar macht, daß eine juristisch begründbare 43 Einen Versuch zu begründen, daß die Gesetze der Logik „Bestandteil des Rechts“ seien, macht Schreiber, a.a.O., S. 90 ff. Seine Ausführungen sind jedoch heillos verworren. Insbesondere verwechselt er offenbar die „Bindung“ an die Gesetze der Logik mit der „Bindung“ des Richters an Gesetz und Recht (vgl. S. 93 f.) und macht sich damit einer primitiven Begriffsvertauschung schuldig, da die Verpflichtungskraft eines Aussagesatzes und eines Sollenssatzes nun einmal qualitativ verschieden ist. Außerdem legen das Klug-Zitat S. 93 und die Berufung auf die revisions-rechtlichen Entscheidungen S. 94 den Verdacht nahe, daß Schreiber sogar die Frage nach dem Rechtscharakter logischer Gesetze mit der der Bindung des Rechtsanwenders an diese verwechselt (vgl. dazu sehr klar Klug, Juristische Logik, S. 142; hinsichtlich spezifisch juristischer „Kunstregeln“ mag es anders liegen, weil und soweit diese Ausdruck echter Gerechtigkeitsmaximen sind, vgl. dazu Esser, Grundsatz und Norm, S. 110 ff.). 44 Zur Problematik vgl. etwa Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 76 f. und ARSP 52 (1966), S. 545 ff. (548); Philipps, ARSP 52 (1966), 195 ff. – Der Versuch von Schreiber, a.a.O., S. 63 ff., einen gemeinsamen Oberbegriff zu finden, geht gänzlich in die Irre. Denn wenn er als solchen „gültig“ wählt, so beruht das wieder (vgl. die vorige Fn.) auf einer leicht durchschaubaren Begriffsvertauschung: gültig kann zwar sowohl als Synonym von wahr („eine gültige Aussage“) als auch als Synonym von geltend („eine gültige Verordnung“) gebraucht werden, hat jedoch in beiden Fällen eine ganz verschiedene Bedeutung und ist daher als sinnvoller Oberbegriff untauglich. Schreiber führt denn auch die uneingeschränkte Übertragung logischer Gesetze auf Rechtsnormen und seine eigene Theorie schließlich selbst ad absurdum, wenn er das Bestehen einer Rechtsnorm des Inhalts behauptet: „Es ist rechtens: Die Verfasser von Dissertationen über die Logik des Rechts werden relegiert oder sie werden nicht relegiert“ (vgl. S. 65 f.) und diesen angeblichen Rechtssatz, der jedem juristischen Geltungsbegriff Hohn spricht, nicht als den baren Unsinn bezeichnet, der er ist, sondern lediglich als Beispiel einer „gewissen Härte, die die Interpretation der logisch rechtens Sätze mit sich bringt“ (S.66). Man kann in diesen Ausführungen wohl nur eine – freilich sehr mißverständliche – Selbstpersiflage sehen.
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Antwort hierauf nicht möglich ist, weil es auf Grund der besonderen Problematik der unauflösbaren Normwidersprüche an entsprechenden Geltungskriterien fehlt45. Es bliebe daher nichts anderes übrig, als sich durch bloße Dezision beliebig für die eine oder die andere Norm zu entscheiden. Das aber wäre Willkür und damit eine Lösung, die ihrem Wesen nach keine rechtliche wäre. Folglich ist es letzten Endes das Willkürverbot, das zur Annahme der Ungültigkeit beider Normen führt46. Dieses Kriterium spielt nun aber auch bei den Wertungswidersprüchen eine entscheidende Rolle, stellen diese doch Verstöße gegen den mit dem Willkürverbot zumindest eng zusammenhängenden Gleichheitsssatz dar, und so drängt sich in der Tat die Schlußfolgerung auf, auch bei Vorliegen eines Wertungswiderspruchs könne mit der Annahme einer Kollisionslücke geholfen werden. Indessen darf dabei doch ein wesentlicher Unterschied zu den Normwidersprüchen nicht übersehen werden: während bei dieser der Richter wenigstens einer Norm auf jeden Fall den Gehorsam versagen muß, kann er bei jenen an sich beide Normen befolgen; während der Richter im ersten Fall also keine Möglichkeit hat, den Verstoß gegen das Willkürverbot mit seiner Bindung an das Gesetz zu rechtfertigen, kann [125] er sich im zweiten Fall immerhin auf die Autorität des Gesetzgebers berufen, auf dessen Anordnung der Verstoß gegen den Gleichheitssatz beruhe und dessen Willen er nicht mißachten dürfe. In diesem Unterschied dürfte wohl letztlich die Ansicht ihren Grund haben, Wertungswidersprüche seien eher erträglich als Normwidersprüche. Es fragt sich freilich, ob dem wirklich entscheidende Bedeutung beigemessen werden kann, drängt sich doch sofort der Einwand auf, die verschiedene Behandlung von Norm- und Wertungswidersprüchen und die darin zum Ausdruck kommende Zurücksetzung des Gleichheitssatzes gegenüber dem Gebot der Gesetzestreue sei als positivistisches Relikt zu verwerfen. Ob dem wirklich so ist, mag jedoch hier46a dahingestellt bleiben; denn auch vom Standpunkt eines extremen Positivismus aus ist der Richter ja keineswegs ausnahmslos an unterverfassungsmäßige Normen gebunden, sondern kann diesen gegebenenfalls mit der Begründung, sie seien verfassungswidrig, den Gehorsam versagen. Da Wertungswidersprüche aber Verstöße 45 Läßt sich der Vorrang einer der beiden Normen irgendwie begründen, so liegt weder ein unauflöslicher Normwiderspruch noch eine Kollisionslücke vor. Eine solche Begründung kann sich nicht nur aus den Regeln über die lex specialis usw. ergeben, sondern auch aus anderen Gesichtspunkten, z. B. daraus, daß eine der beiden Normen dem inneren System, der Natur der Sache, der Rechtsidee oder den in der Rechtsgemeinschaft anerkannten sittlichen Werten widerspricht, während die andere mit diesen Kriterien in Einklang steht; dann gilt allein letztere, und es liegt nicht etwa eine Kollisionslücke vor. 46 Daß dadurch eine Lücke entsteht, läßt sich allerdings erst feststellen, wenn man auch noch das Rechtsverweigerungsverbot hinzunimmt; denn erst dieses versperrt den an sich noch verbliebenen Ausweg, die Rechtsfrage wegen des Widerspruchs für unlösbar zu erklären; vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 65 ff. 46a Vgl. aber unten bei und in Fn. 58 a.
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gegen den Gleichheitssatz sind, drängt sich eine Prüfung am Maßstab des Art. 3 I GG geradezu auf. Die Problematik mündet somit in eine verfassungsrechtliche Fragestellung. b) Die Lösung mit Hilfe des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes Daß Art. 3 I GG auch den Gesetzgeber bindet, ergibt sich ohne weiteres aus Art. 1 III GG. Ebenso steht außer Zweifel, daß er für alle Rechtsgebiete und insbesondere auch für das gesamte Privatrecht gilt47, da Gesetzgebung stets Ausübung hoheitlicher Gewalt ist und es daher nicht etwa um die Problematik der „Drittwirkung“ der Grundrechte geht. Folglich sind Wertungswidersprüche nicht anders als sonstige Verstöße gegen den Gleichheitssatz am GG zu messen, zumal dieser nicht nur in Art. 3 I verankert ist, sondern „darüber hinaus als selbstverständlicher ungeschriebener Verfassungsgrundsatz in allen Bereichen gilt ...“48. Vor diesem Hintergrund gewinnt daher der Systemgedanke unter einem neuen Aspekt höchste praktische Bedeutung: systemwidrige Normen können wegen des in ihnen enthaltenen Wertungswiderspruchs gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz verstoßen und daher nichtig sein. In der Tat hat sich das BVerfG denn auch verschiedentlich in dieser Richtung geäußert und z. B. eine Norm mit der Begründung für nichtig erklärt, der Gesetzgeber sei „von seinem eigenen Prinzip ... abgegangen“, ohne daß es „für diese ,Systemwidrigkeit‘ ... hinreichende, sachlich vertretbare Gründe“ gäbe49. An anderer Stelle heißt es, es stünde dem Gesetzgeber zwar [126] grundsätzlich frei, „von den einen Rechtskreis bestimmenden Grundregeln, die er selbst gesetzt hat, abzuweichen“, doch könne eine solche Abweichung „ein Indiz für Willkür sein, ..., wenn damit das System des Gesetzes ohne zureichende sachliche Gründe verlassen wird“50, und wieder an anderer Stelle sagt das BVerfG, ein Verstoß gegen Art. 3 GG könne in einer „neuartigen, aus System, Sinn und Zweck des bisherigen Gesetzes herausfallenden abweichenden Regelung“ liegen51. Das heißt nun allerdings nicht, daß jede systemwidrige Norm ohne weiteres nichtig sein müßte. Das BVerfG spricht vielmehr zurückhaltend nur von einem „Indiz“ für einen Verstoß gegen Art. 3 und fügt verschiedentlich auch vorsichtig das Wörtchen „allenfalls“ ein52, – wobei der Zusammenhang allerdings erkennen läßt, daß es einen weiteren Systembegriff als den hier vertretenen zugrunde legt Vgl. z. B. BVerfGE 11, 277 (280 f.); 14, 263 (285); 18, 121 (124 ff.). Vgl. BVerfGE 6, 84 (91). 49 BVerfGE 13, 31 (38). 50 BVerfGE 18, 315 (334). 51 BVerfGE 7, 129 (153); 12, 264 (273). 52 Vgl. z. B. BVerfGE 9, 20 (28); 12, 264 (273); 18, 315 (334). 47 48
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und möglicherweise nicht nur an das „innere“ System denkt. Vor allem aber ist zu beachten, daß nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG Art. 3 I i. S. eines Willkürverbotes zu verstehen ist: „Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß53.“ Nun wird auf Wertungswidersprüche und daher auf Systembrüche zwar in aller Regel in der Tat zutreffen, daß sich „ein vernünftiger ... Grund für die Differenzierung ... nicht finden läßt“, da sie ja ex definitione auf sachlich nicht berechtigten Abweichungen von den grundsätzlichen Wertungen des Gesetzes beruhen, doch braucht darum gleichwohl nicht immer auch ein Verstoß gegen das Willkürverbot vorzuliegen. Vielmehr kann ein solcher trotz eines Wertungswiderspruchs aus verschiedenen Gründen zu verneinen sein. Zunächst ist denkbar, daß zwar eine gewisse Disharmonie der Wertung nicht zu leugnen ist, daß diese aber doch nicht den Grad erreicht hat, der zur Bejahung wirklicher Willkür erforderlich ist, daß also „die Unsachlichkeit der getroffenen Regelung“ nicht „evident“ ist54, 55. Sodann ist zu bedenken, daß der Gesetzgeber neben dem Ziel einer sachgerechten, sich in das Ganze der Rechtsordnung harmonisch einfügenden Regelung auch noch andere Werte und Zwecke zu verfolgen [127] hat und daß auch deshalb nicht jeder Wertungswiderspruch einen Verstoß gegen das Willkürverbot darstellen muß. Hierbei ist vor allem an den Wert der Rechtssicherheit zu denken. Diese kann z. B. ein Analogieverbot rechtfertigen56 und damit der Beseitigung von Wertungswidersprüchen entgegenstehen; es sei nur an das oben erörterte Beispiel der mangelnden Strafbarkeit der versuchten einfachen Körperverletzung erinnert. Von Willkür kann in einem solchen Fall keine Rede sein, weil die Rechtssicherheit hier die Gleichstellung an sich gleichwertiger, aber nicht ausdrücklich erfaßter Fälle verbietet. Aber auch andere Zwecke kommen in Betracht. So ist z. B. daran zu denken, daß der Gesetzgeber zur Erreichung einer internationalen Rechtsvereinheitlichung – etwa innerhalb der EWG – auf bestimmten Gebieten Regelungen in Kauf nimmt und gesetzlich sanktioniert, die zu Brüchen mit tragenden Grundprinzipien unseres Rechts führen, sich aber andererseits nicht entschließen kann, diese bewährten und in das Rechtsbewußtsein eingegangenen Grundsätze allgemein außer Kraft zu setzen und nun alle vergleichbaren Vorschriften entsprechend den die neue Regelung tragenden Wertungen abzuändern. Auch dann wird man trotz des Systembruchs nicht von einem Verstoß gegen das Willkürverbot sprechen können. Schließlich kann BVerfGE 1, 14 (52). Diese Formulierung entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, vgl. z. B. BVerfGE 18, 121 (124) mit ausf. Nachw. 55 Vgl. auch das Beispiel des § 25 I 1 HGB unten II 1 a. E. 56 Vgl. dazu näher Canaris, a.a.O., S. 183 ff. 53 54
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mitunter auch die Tatsache, daß die Rechtsordnung in verschiedenen Zeiten entstanden ist, zu im Wege von Auslegung und Rechtsfortbildung nicht zu beseitigenden Systembrüchen führen, ohne daß darum ohne weiteres schon „Willkür“ vorliegen muß. Zwar kann man den bloßen Hinweis auf die „historische Gewachsenheit“ einer Regelung grundsätzlich nicht als hinreichende Rechtfertigung für einen Wertungswiderspruch anerkennen, doch mag manchmal durchaus ein sachlicher Grund dafür gegeben sein, daß der Gesetzgeber die älteren Rechtsteile nicht sofort an die neueren angleicht. Dieser könnte etwa darin liegen, daß „die Zeit noch nicht reif“ ist für die Neuregelung auch des anderen Rechtsgebiets (die ja u. U. noch die Lösung einer Fülle weiterer Probleme voraussetzen kann!), oder auch ganz einfach darin, daß der Gesetzgeber auf Grund der Schwerfälligkeit des Gesetzgebungsverfahrens eben eine gewisse Zeit braucht57. So wird man z. B. Vorschriften des GmbHG, die wertungsmäßig mit den vergleichbaren Bestimmungen des neuen AktienG nicht harmonieren, angesichts der geplanten Reform des GmbH-Rechts auch dann nicht (heute schon58) als nichtig ansehen dür- [128] fen, wenn sich „ein vernünftiger Grund für die Differenzierung nicht finden läßt“. Somit gibt es durchaus Fälle, in denen ein Systembruch keinen Verstoß gegen das Willkürverbot darstellt. An der Verbindlichkeit der systemwidrigen Norm ist dann nicht zu zweifeln, da auch der zuerst erörterte Nichtigkeitsgrund, die Annahme einer Kollisionslücke, wie gezeigt, letztlich auf das Willkürverbot zurückgeht und daher ausscheidet58a. In der Regel wird jedoch bei einem Systembruch ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz gegeben sein, wobei allerdings noch einmal daran zu erinnern ist, daß hier nur die echten Systembrüche und nicht die bloßen Systemmodifikationen gemeint sind, also nur die Fälle, in denen wirklich ein Wertungswiderspruch, und nicht nur eine – wenn auch vielDie Problematik dürfte hier in die des „gesetzgeberischen Unterlassens“ übergehen. Ob von einem späteren Zeitpunkt an, dürfte wieder von der Stellungnahme zum Problem des gesetzgeberischen Unterlassens abhängen; daß aus dem Gleichheitssatz ein Verfassungsauftrag zur Beseitigung von Wertungswidersprüchen folgen kann, ist wohl nicht zu bezweifeln. 58a Freilich wäre es an sich denkbar, insoweit einen anderen Willkürbegriff als in Art. 3 GG zugrunde zu legen und so doch zur Nichtigkeit der widersprüchlichen Vorschriften zu kommen. Das würde jedoch dazu führen, daß der Richter einer nicht gegen das GG verstoßenden Norm den Gehorsam verweigern könnte, und das erscheint mit seiner verfassungsrechtlichen Bindung an das Gesetz und mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung allenfalls in jenen extremen Fällen „gesetzlichen Unrechts“ vereinbar, die von der bekannten „Radbruchschen Formel“ erfaßt werden; die Anerkennung eines derartigen Extremfalls aber ist selbstverständlich nicht schon bei leichten Wertungswidersprüchen möglich, sondern setzt ebenfalls „offensichtliche Willkür“ oder ein ähnliches „äußerstes“ Kriterium voraus, so daß man insoweit zu demselben Ergebnis wie über Art. 3 GG kommt. Im übrigen handelt es sich hier, insbesondere hinsichtlich der Frage rechtmäßigen Ungehorsams gegenüber nicht-verfassungswidrigen Normen, um einen eigenständigen und höchst komplizierten Problemkreis, der im Rahmen dieser Arbeit nicht näher erörtert werden kann. 57 58
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leicht rechtspolitisch wenig überzeugende, aber doch immerhin noch vertretbare – Wertungsdifferenzierung vorliegt. Als Beispiel mag noch einmal auf die oben59 erörterte Problematik des Fehlens von Höchstsummen bei bestimmten Tatbeständen der Gefährdungshaftung zurückgegriffen werden. Bei § 833 S. 1 BGB wird man darin keinen Systembruch, sondern nur eine Modifikation sehen dürfen, weil die von Tieren angerichteten Schäden typischerweise nicht so hoch sind, daß die Gefahr ruinöser Schadenszurechnung droht und daß das Risiko nicht auch ohne gesetzliche Höchstgrenze in vollem Umfang versicherungstechnisch kalkulierbar wäre; jedenfalls aber ist aus diesem Grund, auch wenn man einen echten Systembruch annehmen wollte, doch keine evidente Sachwidrigkeit gegeben, so daß der für die Anwendung des Art. 3 I GG erforderliche Grad einer ungerechtfertigten Wertungsverschiedenheit nicht erreicht wäre. Anders liegt es dagegen im Falle des § 22 WHG. Hier können Schäden in völlig unübersehbarer Höhe entstehen, so daß die Gefahr des wirtschaftlichen Ruins des Ersatzpflichtigen ohne weiteres zu bejahen ist und die Möglichkeit einer vollen Deckung des Risikos durch eine Ver- [129] sicherung zumindest stark in Frage gestellt erscheint. Das Fehlen einer Höchstsumme ist daher hier im Vergleich mit den anderen Tatbeständen der Gefährdungshaftung durch nichts zu rechtfertigen und verstößt deshalb gegen Art. 3 I GG60. – Als verfassungsrechtlich zumindest höchst bedenklich muß auch der ebenfalls schon oben erwähnte Widerspruch zwischen § 28 II und §§ 130 II, 173 II HGB angesehen werden61, – wie überhaupt die gesamte Regelung der Haftung für Altschulden bei Übernahme eines Handelsgeschäfts und bei Eintritt in ein solches oder in eine Handelsgesellschaft wertungsmäßig widersprüchlich und gänzlich undurchsichtig ist: nach § 25 und § 27 HGB kommt es auf die Fortführung der Firma an, nach §§ 28, 130 und 173 dagegen nicht, nach § 25 II und § 28 II ist die Haftung dispositiv, nach §§ 130 II, 173 II zwingend usw.; ja, es ist nicht einmal eine klare ratio legis der Bestimmungen erkennbar62! Es ist daher höchst fraglich, ob die gesamte Regelung der Haftung für Altschulden – zumindest, soweit sie nicht nur eine Haftung mit dem überVgl. S. 120 f. Ob deswegen § 22 WHG nichtig ist oder ob aus Art. 3 GG lediglich ein Verfassungsauftrag zu einer entsprechenden Ergänzung der Regelung folgt (dessen Mißachtung dann nach den Grundsätzen über das gesetzgeberische Unterlassen zu behandeln ist), ist eine über den vorliegenden Zusammenhang hinausführende allgemein-verfassungsrechtliche Frage; im Ergebnis dürfte hier der zweiten Alternative der Vorzug zu geben sein. 61 Ob wirklich ein Verfassungsverstoß vorliegt oder nicht, soll hier nicht abschließend entschieden werden. Es hängt davon ab, ob die Widersprüchlichkeit der Regelung ein solches Maß erreicht, daß die Unsachlichkeit „evident“ ist, ob sich also überhaupt kein vertretbarer Gesichtspunkt für die Unterschiede anführen läßt; die Problematik ist insoweit letztlich weder verfassungsrechtlicher noch methodologischer, sondern handelsrechtlicher Art. 62 Vgl. zur Kritik des § 25 HGB Pisko, Ehrenbergs Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. II, 1914, S. 243 f., 245 f., 255; zur Kritik des § 28 HGB Fischer, Anmerkung zu BGH LM Nr. 3 zu § 28 HGB. 59 60
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nommenen bzw. dem gemeinsamen Vermögen, sondern auch mit dem persönlichen Vermögen anordnet – überhaupt vor dem verfassungsrechtlichen Willkürverbot Bestand haben kann61. Dabei wären hier dann wohl alle Bestimmungen (jedenfalls in ihren widersprüchlichen Teilen) als nichtig anzusehen63 und nicht nur eine einzelne Vorschrift, da nicht ersichtlich ist, welche der Normen sachoder systemgerechter oder „vernünftiger“ ist, – während in anderen Fällen durchaus eine von mehreren untereinander widersprüchlichen Normen bestehen bleiben kann64. [130] 5. Die Bedeutung der verbleibenden Systembrüche für die Möglichkeiten von Systemdenken und Systembildung in der Jurisprudenz Alles in allem zeigt sich somit, daß das Systemdenken zwar grundsätzlich mit der Möglichkeit von Systembrüchen konfrontiert bleibt, daß diese jedoch von weit geringerer praktischer Bedeutung sind, als man gemeinhin annimmt. Denn zu den Möglichkeiten der systemkonformen Auslegung und Rechtsfortbildung65 tritt als weiterer Ausweg die Annahme der Verfassungswidrigkeit und damit der Nichtigkeit systemwidriger Normen. Diese können zwar u. U. durchaus vor dem Grundgesetz Bestand haben, doch dürften die oben in diesem Zusammenhang angeführten Beispiele deutlich gemacht haben, wie selten derartige Fälle, in denen zwar ein echter Systembruch, aber doch kein Verstoß gegen das Willkürverbot vorliegt, sein werden. Daß sie gleichwohl immerhin denkbar sind, ist zwar für die „Reinheit“ des Systems „störend“, macht ein solches aber nicht unmöglich. Denn 63 Ob der „Rest“ noch als gültig anzusehen wäre und ob gegebenenfalls eine vom Richter auszufüllende Lücke entstände, ist ein anderes Problem, das nicht in diesen Zusammenhang gehört und das sich ganz allgemein bei teilweise verfassungswidrigen Normen stellt; vgl. in diesem Zusammenhang auch Knittel, JZ 67, S. 79 ff. 64 Es gilt i. E. dasselbe, was oben hinsichtlich der Kollisionslücken ausgeführt wurde (vgl. Fn. 45). So sind in dem im Text behandelten Beispiel des § 22 WHG natürlich nicht etwa die – systemkonformen und prinzipgemäßen! – Bestimmungen über die Höchstsummen bei den übrigen Tatbeständen der Gefährdungshaftung als nichtig anzusehen, um den Wertungswiderspruch zu beheben, sondern § 22 WHG ist durch eine entsprechende Regelung zu ergänzen. 65 Diese könnte man geradezu als Unterfall der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung ansehen, wenn man das Problem der Systembrüche mit der hier vertretenen Ansicht unter dem Aspekt des verfassungsrechtlichen Willkürverbots sieht. Jedoch erschöpfen sich systematische Auslegung und Rechtsfortbildung nicht in der Beseitigung von Widersprüchen, die ein solches Ausmaß erreicht haben, daß ein Verstoß gegen Art. 3 I GG in Betracht kommt. In Wahrheit dürfte umgekehrt die verfassungskonforme Auslegung (auch soweit sie nicht gerade im Blick auf Art. 3 erfolgt) ein Unterfall der Auslegung aus dem (inneren!) System sein, da sie die Einzelnorm vor dem Hintergrund des Ganzen der Rechtsordnung sieht und ihre Legitimation letztlich im Gedanken der Einheit und Widerspruchsfreiheit des Rechts finden dürfte.
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während ein axiomatisch-logisches System schon durch einen einzigen Widerspruch zwischen seinen Axiomen unbrauchbar wird, weil aus ihm dann jeder beliebige Satz ableitbar ist66, läßt sich in dem axiologischen oder teleologischen System der Rechtswissenschaft der Widerspruch „isolieren“: die Systembildung ist in diesem Punkte dann zwar unmöglich – und dementsprechend auch die Rechtsgewinnung aus dem System –, alle übrigen Bereiche dagegen werden davon nicht berührt67. Mag eine [131] vollständige Systembildung somit auch unerreichbar bleiben, so besagt diese Diskrepanz zwischen dem Ideal eines Systems und seiner Realisierbarkeit doch nichts Entscheidendes gegen die Bedeutung des Systems für die Jurisprudenz. Im Gegenteil hat sich im Verlauf der vorstehenden Untersuchungen ein neuer Aspekt gezeigt, unter dem die Systembildung von praktischer Relevanz ist: durch die Möglichkeit der Nichtigkeit systemwidriger Normen. II. Systemfremde Normen 1. Systemfremde Normen als Verstoß gegen den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung Eng verwandt mit der Problematik der Systembrüche ist die der systemfremden Normen. Während aber bei jenen und insbesondere bei den systemwidrigen Normen das Gebot der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit verletzt ist, liegt bei diesen ein Verstoß gegen das Postulat der inneren Einheit vor: es handelt sich um Rechtssätze, die zwar nicht in einem Wertungswiderspruch zu anderen Bestimmungen oder zu den Grundprinzipien der Rechtsordnung stehen, die sich aber 66 Vgl. z. B. Leinfellner, Struktur und Aufbau wissenschaftlicher Theorien, 1965, S. 208; Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, S. 80; Popper, Logik der Forschung, S. 59. 67 Schon aus diesem Grunde geht daher die anmaßende Kritik von Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, S. 199, an Larenz, Festschrift für Nikisch, S. 301, an der Sache vorbei und zeigt nur, wie wenig Schreiber die Besonderheiten juristischen, d. h. vorwiegend teleologischen Denkens begriffen hat (vgl. dazu auch Fn. 30 und 44): was für ein logisches System und für logische Sätze gilt, braucht deshalb noch längst nicht auch auf ein teleologisches System und auf allgemeine Rechtsprinzipien zu passen, deren Eigengesetzlichkeit es im Gegenteil unbefangen zu ermitteln gilt (vgl. dazu auch oben § 2 bei Fn. 124). Außerdem hätte Schreiber bei unvoreingenommener Lektüre unschwer erkannt, daß Larenz, wie seine Beispiele klar zeigen, der Sache nach trotz seiner zugegebenermaßen mißverständlichen Formulierungen in Wahrheit keine echten Widersprüche (und schon gar nicht solche im Sinne der Logik) im Auge hat, sondern bloße Prinzipiengegensätze und ähnliche Erscheinungen (vgl. näher oben Fn. 7 und 11), die selbst von Schreibers Standpunkt aus die Möglichkeit sinnvoller Ableitungen gänzlich unberührt lassen. Im übrigen erledigt sich ein Satz wie „Die Grundsätze und Prinzipien des historischen Rechtsganzen sind schon aus logischen Gründen ungeeignet, dem Richter zu zeigen, welche Rechtsnormen er im Wege der Rechtsschöpfung der Lösung eines Interessenkonfliktes zugrunde legen soll“ (vgl. Schreiber, a.a.O., S. 198 f.) doch wohl wirklich von selbst.
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andererseits auch nicht auf einen allgemeinen Rechtsgedanken zurückführen lassen und die daher innerhalb des Ganzen der Rechtsordnung wertungsmäßig isoliert bleiben; auch bilden sie nicht etwa lediglich eine Systemmodifikation, weil (und sofern) ihre ratio nicht genügend Überzeugungskraft besitzt, um als sinnvolle Bereicherung der Grundwertungen des fraglichen Rechtsgebiets gelten zu können. Ein Beispiel aus dem geltenden Privatrecht dürfte wiederum § 25 HGB bilden. Auf den ersten Blick könnte es zwar scheinen, als sei dieser entweder (ähnlich wie z. B. § 419 BGB) eine Ausprägung des Prinzips der Zusammengehörigkeit von Aktiva und Passiva oder aber ein Unterfall der Rechtsscheinhaftung68, doch halten beide Hypothesen näherer Prüfung nicht stand; die erste nicht, weil es dann nicht auf [132] die Fortführung der Firma ankommen könnte, die Haftung auf das übernommene Vermögen beschränkt sein müßte und die Bestimmung auch nicht dispositiv sein dürfte; die zweite nicht, weil der gute Glaube des Altgläubigers keine Rolle spielt, eine „Disposition“ auf seiner Seite nicht erforderlich ist und auch kein objektiver Scheintatbestand vorliegt69. Nach Ansicht der Gesetzesverfasser ist der Sinn des § 25 I 1 HGB denn auch nicht in einem dieser beiden Rechtsgedanken, sondern vielmehr darin zu sehen, daß man der Verkehrsanschauung „entgegenkommen“ wollte, nach der „der jeweilige Inhaber der Firma als Berechtigter und Verpflichteter angesehen wird“70. Geschützt wird also das Vertrauen auf eine falsche Rechtsauffassung (und noch dazu unabhängig davon, ob der Altgläubiger nicht in concreto durchaus zutreffende rechtliche Vorstellungen hatte!). Eine solche ratio legis stellt in unserer Rechtsordnung eine einmalige Absonderlichkeit dar und besitzt auch in sich selbst nicht die geringste Überzeugungskraft. § 25 HGB ist deshalb in der Tat systematisch in keiner Weise einzuordnen. 2. Auslegung und Gültigkeit systemfremder Normen Hinsichtlich der praktischen Handhabung derartiger systemfremder Normen gilt ganz ähnliches wie hinsichtlich der der systemwidrigen Vorschriften. Insbesondere scheiden selbstverständlich die Möglichkeiten systematischer Auslegung und Lückenergänzung aus, und das führt – wie übrigens auch im Falle des § 25 HGB71 – häufig dazu, daß eine sinnvolle Interpretation überhaupt nicht möglich 68 Dafür die wohl h. L., vgl. z. B. RGZ 149, 25 (28); 169, 133 (138); BGHZ 18, 248 (250); 22, 234 (239); 29, 1 (3); A. Hueck, ZHR 108, S. 8; Schlegelberger-Hildebrandt, 4. Aufl. 1960, § 25 Rdzn. 2 und 6 a. A. 69 Vgl. näher Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 184 f. 70 Vgl. Entwurf eines Handelsgesetzbuchs mit Ausschluß des Seehandelsrechts nebst Denkschrift, Amtliche Ausgabe, Berlin 1896, S.38. 71 Vgl. Fn. 69 und Fischer, Anmerkung zu BGH LM Nr. 3 zu § 28 HGB.
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ist. Jedenfalls aber wird man derartige „Fremdkörper“ innerhalb der Rechtsordnung auf einen möglichst engen Raum zu begrenzen haben, so daß man als grundsätzliche Auslegungsmaxime ein Gebot einschränkender oder wenigstens ein Verbot ausdehnender Auslegung aufstellen kann. Im übrigen ergibt sich auch hier die Gültigkeitsproblematik, und wieder ist sie aus Art. 3 GG zu lösen: auch systemfremde Vorschriften sind am verfassungsrechtlichen Willkürverbot zu messen. Dabei bietet § 25 HGB ein gutes Beispiel dafür, daß nicht jede Störung des Systems zur Nichtigkeit der entsprechenden Norm führen muß; denn die vom Gesetzgeber dem § 25 HGB zugrunde gelegte ratio ist zwar alles andere als überzeugend, aber doch nicht so unsinnig, daß man die Vorschrift als evident sachwidrig und daher geradezu willkürlich bezeichnen müßte72. [133] III. Systemlücken 1. Systemlücken als Wertungslücken Weit schwerere Gefahren als von den verhältnismäßig seltenen unbehebbaren Systembrüchen und den ebenfalls nicht sehr häufigen systemfremden Normen drohen der Systembildung von den „Systemlücken“. Wie jene auf die Widersprüchlichkeit oder die Singularität bestimmter gesetzlicher Wertungen zurückgehen, so beruhen diese auf deren gänzlichem Fehlen. Denn da das System ex definitione nur die äußere Form der wertungsmäßigen Einheit des Rechts darstellt, ist alle Systembildung notwendigerweise darauf angewiesen, daß überhaupt Wertungen vorhanden sind; Wertungslücken haben daher folgerichtig stets Systemlücken zur Folge. Daß aber derartige Wertungslücken vorkommen können, ist nicht zu bezweifeln, da es nicht nur keine „logische“, sondern auch keine „teleologische Geschlossenheit“ des Rechts gibt73. Das beweist schon allein die Existenz solcher Gesetzeslücken, für deren Ausfüllung das positive Recht keine hinreichenden Wertungen zur Verfügung stellt; man denke nur an ein so klassisches Lückenbeispiel wie das Fehlen einer Regelung des Obligationsstatuts im deutschen EGBGB. Das beweisen aber darüber hinaus auch die zahlreichen „wertausfüllungsbedürftigen“ Normen74, die sich durchaus nicht immer mit Hilfe der Wertungen des geltenden Rechts konkretisieren lassen und sich häufig sogar einer 72 Ob sie wegen des Wertungswiderspruchs zu anderen Vorschriften (vgl. oben S. 129) nichtig ist, muß von der Frage nach der Willkürlichkeit ihrer – für sich allein betrachteten – ratio getrennt werden! 73 Vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken, a.a.O., S. 173. 74 Diese werden von der in Deutschland h. L. von den Gesetzeslücken auch für die Fälle getrennt, in denen sie Wertungslücken enthalten; vgl. eingehend Canaris, a.a.O., S. 26 ff. mit ausführlichen Nachw.
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vom jeweiligen Einzelfall unabhängigen wertungsmäßigen Festlegung überhaupt entziehen. Dabei muß man sich darüber im klaren sein, daß das Vorhandensein einer solchen Wertungslücke gesetzgeberisch keineswegs immer negativ zu beurteilen ist. Zwar sind natürlich die zuerst erwähnten Gesetzeslücken ein schwerer Mangel, und auch viele Blankettnormen stellen nicht mehr dar als eine unerfreuliche Verlegenheitslösung; andererseits aber haben „konkretisierungsbedürftige“ Generalklauseln häufig auch eine völlig legitime Funktion und wirken einer allzu starren Generalisierung entgegen, indem sie der „Billigkeit“ i. S. der Gerechtigkeit des Einzelfalles zum Durchbruch verhelfen75. An dieser Stelle macht sich also bemerkbar, daß der Systembildung, wie eingangs76 schon hervorgehoben, nicht nur die historische Gewachsenheit des Rechts und die Begrenztheit menschlichen Erkenntnis- und Sprachvermögens entgegensteht, sondern auch – als gewissermaßen immanente Schranke – die „individualisierende Tendenz“ der Gerechtigkeit. [134] 2. Systemlücken als Einbruchstellen nicht-systemorientierter Denkweisen Was die methodologische Behandlung derartiger Wertungslücken angeht, so müssen hier die Möglichkeiten systematischen Denkens naturgemäß versagen; denn dieses ist seiner Struktur nach an ein Arbeiten mit Hilfe des Gleichheitssatzes gebunden und kann entsprechend dessen rein „formalem“ Charakter immer nur (wenigstens ansatzweise) schon vorhandene Wertungen „zu Ende denken“, niemals aber gänzlich neue Wertungen schaffen. Zwar müssen die fraglichen Teile der Rechtsordnung nicht notwendig ein für allemal außerhalb des Systems bleiben, sondern können nach und nach wertungsmäßig hinreichend konkretisiert und verfestigt werden, um einer Systematisierung und einer Eingliederung in das – stets offene! – System zugänglich zu werden77, doch kann dies bestenfalls teilweise gelingen und ist vor allem auch keineswegs immer wünschenswert; zumindest bei jenen Wertungslücken, die auf dem Durchbruch der „individualisierenden Tendenz“ der Gerechtigkeit beruhen, wäre eine restlose systematische Verfestigung vielmehr geradezu funktionswidrig. So eröffnet sich hier ein legitimes Feld für nicht-systemorientierte Denkweisen. Als eine solche ist in erster Linie die „Topik“ zu nennen, deren Bedeutung für die Jurisprudenz daher im folgenden Paragraphen näher untersucht werden soll. [135]
Vgl. auch oben § 4 IV 3, S. 85 und unten § 7 II 2. Vgl. S. 112. 77 Vgl. näher unten § 7 II 3. 75 76
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Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz
§ 7 Systemdenken und Topik In seiner Schrift „Topik und Jurisprudenz“1 hat Theodor Viehweg die These aufgestellt, die Struktur der Jurisprudenz sei nicht mit Hilfe des Systemgedankens1a, sondern nur auf Grund der Lehre von der Topik zutreffend zu erfassen. Die Diskussion um diese Behauptung ist seither nicht mehr zur Ruhe gekommen, und auch die vorliegende Arbeit verdankt ihre Entstehung nicht zuletzt den provozierenden Anregungen, die die Gedanken Viehwegs für jeden Anhänger systematischen Denkens in sich schließen. Die Anerkennung2 wie die Lebhaftigkeit des Widerspruchs3, die diese gefunden haben, läßt dabei von vornherein [136] vermuten, daß Viehweg jedenfalls mit seiner zentralen Behauptung, die Jurisprudenz sei ihrer Struktur nach topisch, einen wesentlichen Punkt des juristischen Selbstverständnisses getroffen haben muß. Zumindest dieser Grundgedanke verdient daher, immer erneut diskutiert zu werden, und gegen seine Richtigkeit 1 1953, 3. Aufl. 1965; vgl. auch Stud. Gen. 11 (1958), S. 334 ff. (338 f.). Aus der Fülle der Rezensionen vogl. vor allem Schilling, Philos. Literaturanzeiger VIII, S. 27 ff.; Coing, ARSP 41 (1954/55), S. 436 ff.; Würtenberger, AcP 153, S. 560 ff.; Wesenberg, JZ 1955, S. 462; Engisch, ZStrW 69, S. 596 ff. 1a Neuerdings verwahrt sich Viehweg gegen die Interpretation, seine Angriffe richteten sich gegen jede Art des Systemdenkens in der Jurisprudenz, und beschränkt seine Kritik ausdrücklich auf die Verwendung eines „Deduktivsystems“, vgl. Systemprobleme in Rechtsdogmatik und Rechtsforschung, in: System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation, 1968, S. 96 ff. (S. 102 bei und in Fn. 13). Dementsprechend sieht er zwischen topischem und systematischem Denken keinen grundsätzlichen Gegensatz, sondern verbindet beide sogar ausdrücklich zu einem „topischen System“, vgl. a.a.O., S. 104. Ein solches ist jedoch ein Widerspruch in sich; denn ein Verfahren, das „bindungsscheu“ ist (vgl. Viehweg, Topik, a.a.O., S. 23), das lediglich „Winke geben will“ (vgl. Viehweg, Topik, a.a.O., S. 15) und das wesensgemäß am möglichst eng formulierten Einzelproblem, ja am Einzelfall orientiert ist (vgl. dazu unten bei und mit Fn. 67), vermag niemals dem Gedanken der Einheit und inneren Ordnung und damit den Grundvoraussetzungen des Systembegriffs gerecht zu werden, und so geht es Viehweg ja denn auch nicht um jene wenigen allgemeinen Prinzipien, die die Einheit eines Gebietes konstituieren, sondern im Gegenteil um die Mannigfaltigkeit mehr oder weniger beliebiger Gesichtspunkte (vgl. etwa die Umschreibungen von „Topos“ bei Viehweg, Topik, a.a.O., S. 10 und 18). Wenn er jetzt von einem „topischen System“ spricht, so trägt das daher nicht nur nichts zur Klärung der Problematik bei, sondern muß im Gegenteil den ohnehin schon reichlich verschwommenen Begriff des „Topos“ auch noch seiner letzten Konturen berauben. 2 Vgl. z. B. Coing, a.a.O.; Würtenberger, a.a.O.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 6 f., 44 ff., 218 ff.; Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 27 ff.; Arndt, NJW 63, S. 1277 f.; Peter Schneider, VVdDStRL 20, S. 35 ff.; Ehmke, VVdDStRL 20, S. 53 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 596 f. mit Fn. 48; Egon Schneider, MDR 67, S. 6 ff. (8 ff.); N. Horn, NJW 67, S. 601 ff. 3 Vgl. z. B. Flume, Steuerberater-Jahrbuch 1964/65, S. 67, Allg. Teil des Bürg. Rechts, Bd. II 1965, S. 296, Fn. 9 und Richter und Recht, Vortrag vor dem 46. Deutschen Juristentag, Bd. II, Teil K, 1967, S. 34, Fn. 85; Diederichsen, NJW 1966, S. 697 ff.; grundsätzlich kritisch, wenn auch weniger scharf im Ton, ferner z. B. Engisch, a.a.O.; Wesenberg, a.a.O.; Enn.-Nipperdey, Allg. Teil des Burg. Rechts, 15. Aufl. 1959, § 23 II und § 58 Anm. 35; Larenz, Methodenlehre, S. 133 f.
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besagen auch die vielen Schwächen und Unklarheiten in Einzelheiten, die Viehweg von seinen Kritikern – m. E. überwiegend mit Recht – entgegengehalten worden sind, nichts Entscheidendes. Wie steht es also mit der „Topik-These“? Die Antwort hierauf setzt eine kurze Klärung des Wesens der Topik voraus, die durch eine Reihe neuerer Arbeiten zu diesem Thema, insbesondere durch die Untersuchungen von Diederichsen4, Horn5, Kriele6 und Zippelius7 wesentlich erleichtert wird. I. Zur Charakterisierung der Topik 1. Topik und Problemdenken Nach Ansicht Viehwegs ist „der wichtigste Punkt bei der Betrachtung der Topik die Feststellung, daß es sich um diejenige denkerische Techne handelt, die sich am Problem orientiert“, und dementsprechend definiert er die Topik kurz als „die Techne des Problemdenkens“8. Damit ist indessen so gut wie nichts gewonnen; denn mit Recht sagt ein so entschiedener Anhänger des Systemdenkens und Gegner der Topik wie Flume: „Alles rechtliche Denken ist Problemdenken, und jede rechtliche Regelung ist eine solche eines Problems”9, und man wird hinzufügen dürfen: alles wissenschaftliche Denken überhaupt ist Problemdenken – ist doch ein „Problem“ nichts weiter als eine Frage, deren Beantwortung nicht von vornherein klar ist10. Viehweg muß daher offenbar einen engeren Begriff des „Problems“ zugrunde legen11, und das tut er in der Tat, indem er an Nicolai Hart- [137] manns Unterscheidung zwischen „aporetischer“ und „systematischer“ Denkweise anknüpft12. Topisches und systematisches Denken in der Jurisprudenz, NJW 1966, S. 697 ff. Zur Bedeutung der Topiklehre Theodor Viehwegs für eine einheitliche Theorie des juristischen Denkens, NJW 1967, S. 601 ff. 6 Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 114 ff. 7 Problemjurisprudenz und Topik, NJW 1967, S. 2227 ff.; vgl. auch schon Wertungsprobleme im System der Grundrechte, 1962, S. 79 ff. und Das Wesen des Rechts, 1965, S. 64 ff. 8 Vgl. a.a.O., S. 15; Hervorhebungen im Original. 9 Vgl. Allg. Teil, a.a.O., S. 296. 10 Ähnlich definiert Viehweg selbst das „Problem“ als „jede Frage, die anscheinend mehr als eine Antwort zuläßt“ (vgl. a.a.O., S. 16). 11 Vgl. hierzu und zum folgenden auch Kriele, a.a.O., S. 119 ff. 12 Vgl. Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, Kantstudien, Bd. XXIX (1924), 160 ff. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Max Salomon bereits mehrere Jahrzehnte vor dem Erscheinen der Arbeit Viehwegs nicht nur die Rechtswissenschaft als „Problemwissenschaft“ gekennzeichnet, sondern sich dabei auch ausdrücklich auf N. Hartmann und Aristoteles berufen hat, vgl. Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, S. 54 ff. (58); zur Auffassung Salomons vgl. im übrigen näher oben § 2 I 4 a. 4 5
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Diese kennzeichnet Hartmann folgendermaßen: „Systematische Denkweise geht vom Ganzen aus. Die Konzeption ist hier das Erste und bleibt das Beherrschende. Nach dem Standpunkt wird hier nicht gesucht, er wird zu allererst eingenommen. Und von ihm aus werden die Probleme ausgelesen. Problemgehalte, die sich mit dem Standpunkt nicht vertragen, werden abgewiesen. Sie gelten als falsch gestellte Fragen.“ ... „Aporetische Denkweise verfährt in allem umgekehrt.“ ... „Sie zweifelt nicht daran, daß es das System gibt, und daß es vielleicht in ihrem eigenen Denken latent das Bestimmende ist. Darum ist sie seiner gewiß, auch wenn sie es nicht erfaßt13.“ Aus diesen Sätzen wird einwandfrei deutlich, daß Nicolai Hartmann nicht eine Frontstellung gegen den Systemgedanken überhaupt einnimmt – auch die „aporetische“ Denkweise geht ja von der Existenz des Systems aus! –, sondern nur gegen eine bestimmte Art systematischen Denkens polemisiert, die in das System nicht einzuordnende Fragen als Scheinprobleme abtut. Er wendet sich daher lediglich gegen eine Auffassung, die im System etwas Endgültiges und nicht nur einen vorläufigen, jederzeit modifizierbaren Entwurf sieht, also gegen ein „geschlossenes“ System. Dieses aber ist nicht das der Jurisprudenz und auch nicht das irgendeiner anderen Wissenschaft, solange noch ein Fortschritt in deren grundlegenden Erkenntnissen möglich ist14, und so ist auch durch Viehwegs Identifizierung von Topik und aporetischem Denken keineswegs eine hinreichende Definition der Topik gegeben. Im Gegenteil: diese ist in höchstem Maße irreführend15, ist doch auch die Denkweise in einwandfrei nichttopischen Wissenschaften „aporetisch“ im Sinne Hartmanns, da die Abweisung von in das (bisherige) System nicht einzuordnenden Problemen für jede Disziplin als Sünde wider den Geist der Wissenschaft angesehen werden muß; gewiß würde doch kein Physiker oder Chemiker ein den bisherigen Lehrsätzen widersprechendes Phänomen ignorieren, aber niemand wird auf den Gedanken kommen, Physik und Chemie deshalb der Topik zuzuord- [138] nen. Aporetisches Denken führt daher keineswegs notwendig zur Topik, sondern nur zur „Offenheit“ des Systems16. Vollends zweifelhaft wird der Zusammenhang zwischen Problemdenken und Topik, wenn man die Folgerungen betrachtet, die Viehweg daraus für die „Struktur der Jurisprudenz“ zieht. Außer dem nichtssagenden Satz „Die Gesamtstruktur der Jurisprudenz kann nur vom Problem bestimmt werden“, stellt er zwei weitere „Erfordernisse“ auf: „Die Bestandteile der Jurisprudenz, ihre Begriffe und Sätze, müssen in spezifischer Weise an das Problem gebunden bleiben und können daher nur vom Problem her verstanden werden“ und „Die Begriffe und Sätze der Vgl. a.a.O., S. 163 f. Vgl. näher oben § 3 I und III. 15 Sie fehlt denn auch bei Hartmann, a.a.O., worauf Zippelius, a.a.O., S. 2227 bei Fn. 1 mit Recht hinweist. 16 Richtig Kriele, a.a.O., S. 121 f. 13 14
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Jurisprudenz können deshalb auch nur in eine Implikation gebracht werden, die an das Problem gebunden bleibt. Eine andersartige ist zu meiden“17. Das ist entweder falsch oder trivial. Falsch ist es, wenn Viehweg die „Begriffe und Sätze der Jurisprudenz“ damit an das konkrete Problem binden will, anläßlich dessen sie (mehr oder weniger zufällig) einmal entdeckt und entwickelt worden sind; daß z. B. der „Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte“ ursprünglich nahezu ausschließlich bei Mietverträgen Anwendung fand, besagt für sich allein nicht das geringste dagegen, diese Konstruktion auch bei anderen Vertragstypen zu gebrauchen. Insoweit kommt vielmehr alles darauf an, ob das „neue“ Problem sachlich im wesentlichen mit dem bisher gelösten übereinstimmt. Meint Viehweg dagegen mit der zitierten Äußerung nur, daß jeder juristische Begriff oder Satz die Lösung eines bestimmten rechtlichen Problems darstellt und daher vor dessen Hintergrund zu sehen ist, so ist ihm zweifellos zuzustimmen; damit ist dann aber nicht mehr gesagt, als daß jede Antwort sich auf eine Frage bezieht und dementsprechend in ihrem Sinn wesentlich von dieser bestimmt wird. Es ist sicher nützlich, sich dies immer wieder vor Augen zu führen und deshalb z. B. stets sehr genau den teleologischen Gehalt juristischer Begriffe oder Sätze herauszuarbeiten18, doch liegt darin kein Spezifikum der Topik und insbesondere kein Gegensatz zum systematischen Denken, sondern eine Selbstverständlichkeit, die mutatis mutandis für jedes wissenschaftliche Denken gilt. Die „Orientierung am Problem“ ist also offensichtlich nicht das Entscheidende, und sie dürfte darüber hinaus wissenschaftstheoretisch überhaupt kein brauchbares Unterscheidungskriterium darstellen19. Daß psychologisch ein Gegensatz zwischen Problemdenken und Systemdenken besteht, daß also das Denken des einen Wissenschaftlers sich [139] leichter am konkreten Problem entzündet und stärker an dessen Lösung interessiert ist, während das eines anderen seine Anregungen eher von der Seite des Systems her empfängt und in dessen Ausbau seine Befriedigung findet, soll damit natürlich nicht geleugnet werden; allerdings kann auch dieser Gegensatz allenfalls als ein ideal-typischer angesehen werden20, da auch der Problemdenker das System, vor dessen Hintergrund sich das Problem i. d. R. erst klar formulieren und abschließend lösen läßt, nicht gänzlich außer acht lassen wird und umgekehrt der Systemdenker sich kaum je völlig den vom Problem ausgehenden Anregungen für eine Bereicherung oder Modifizierung des Systems verschließen dürfte. Wie dem aber auch sei, der Gegensatz von Problemdenken und Systemdenken ist, insofern er sich auf einen rein psychologischen Unterschied reduziert, jedenfalls nicht geeignet, irgendwelche Aufschlüsse über Vgl. a.a.O., S. 66. Vgl. auch oben § 5 IV 1. 19 Vgl. oben bei Fn. 10. 20 Vgl. auch Diederichsen, a.a.O., Fn. 64 (S. 702) im Hinblick auf Nicolai Hartmanns Unterscheidung von „systematischem“ und „aporetischem“ Denken. 17 18
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die „Struktur der Jurisprudenz“, um die es bei der Topik-Diskussion ja geht, zu geben. Das ist nachdrücklich festzuhalten, dürfte doch die Faszination, die die Topik vielfach ausübt, nicht zuletzt auf dem Mißverständnis beruhen, allein sie gewährleiste wirkliches Problemdenken. In Wahrheit nehmen aber die Anhänger der Topik mit dieser Behauptung ein Verdienst für sich in Anspruch, das ihnen nicht oder jedenfalls nicht allein gebührt. 2. Topik und Prämissenlegitimation durch „ἔνδoξα“ oder „common sense“ Nicht die von Viehweg in den Vordergrund gestellte Verbindung von Topik und Problemdenken kann somit den entscheidenden Aufschluß geben, sondern nur der Rückgriff auf das, was „Topik“ darüber hinaus in einer jahrtausendealten philosophischen Tradition bedeutet hat. Der Begriff stammt nun bekanntlich von Aristoteles, und Viehweg knüpft auch ausdrücklich an ihn an21. Bei Aristoteles aber ist die Topik den sogenannten „dialektischen“ Schlüssen zugeordnet (Top. I. 1. 2.)22 und diese wiederum sind dadurch gekennzeichnet, daß sie ἔξ ἐνδόξων, also „aus Meinungsmäßigem“, wie Viehweg wohl zutreffend übersetzt23, gezogen werden (Top. I. 1. 4.). Im Gegensatz zu den „apodeiktischen“ Schlüssen, die aus Vordersätzen gewonnen werden, deren Wahrheit beweisbar ist, bauen die „dialektischen“ Schlüsse auf Prämissen auf, [140] die nicht stringent bewiesen, sondern nur erwiesen, aufgewiesen, einsichtig gemacht werden können. Das Verfahren zur Beschaffung derartiger Prämissen ist nun die Topik24, die sonach nicht etwa durch irgendwelche Besonderheiten der von ihr angewandten Schlußverfahren, sondern allein durch die Besonderheiten der von ihr zugrunde gelegten Obersätze gekennzeichnet ist25, genauer gesagt: durch die besondere Art, wie diese Prämissen begründet werden. ’Ένδοξα sind nämlich nach Aristoteles solche Sätze, „die 21 Vgl. a.a.O., S. 6 ff.; zur Frage, inwieweit Aristoteles in der modernen Topikdiskussion mißverstanden und umgedeutet wurde, vgl. eingehend Kuhn, Zeitschr. für Politik, 1965, S. 101 ff., insbesondere S. 112 ff. 22 In der Zitierweise wird hier Viehweg gefolgt, vgl. a.a.O., S. 7, Fn. 8. 23 Vgl. a.a.O., S.7 mit Fn. 9; vgl. in diesem Zusammenhang auch Lerches Konzeption eines „Ansichtendenkens“ (DVBl. 61, S. 695 ff.), das er allerdings – mit Recht – klar gegenüber der Topik absetzt (vgl. S. 697 f.). 24 Mit der Problematik der Auffindung der Prämissen (im Gegensatz zur Schlußfolgerung aus ihnen) hat sich in umfassender Weise Perelman befaßt, der dabei der „Rhetorik“ und der Topik entscheidende Bedeutung zuerkennt; vgl. vor allem Rhétorique et Philosophie, 1952, und (zusammen mit L. Olbrechts-Tyteca) Traité de l’argumentation, 1958 mit dem bezeichnenden Obertitel „La nouvelle rhétorique“ (zur Topik vgl. p. 112 sqq.); zur juristischen Seite der Problematik vgl. vor allem Justice et raison, 1963, jetzt teilweise deutsch in: Über die Gerechtigkeit, 1967. 25 Darauf wird mit Recht immer wieder hingewiesen, vgl. Viehweg, a.a.O., S. 8; Kriele, a.a.O., S. 134; Horn, a.a.O., S. 602 f.
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allen oder den meisten oder den Weisen wahr scheinen, und auch von den Weisen wieder entweder allen oder den meisten oder den Bekanntesten und Angesehensten“ (Top. I. 1. 5. 3.). Dem entspricht es, daß die Anhänger der Topik als das entscheidende Kriterium für die Richtigkeit einer Problemlösung regelmäßig den „sensus communis“26 oder den „common sense“27 ansehen und daß Viehweg als „einzige Kontrollinstanz die Diskussion“ nennt28. Dabei werden allerdings durchaus wirkliche Einsichten angestrebt“, und es handelt sich nicht etwa um „bloßes, beliebiges Meinen“29, sondern eben um Sätze, die ihre Probe vor dem Forum „aller“ oder der „Besten und Angesehensten“ bestanden haben oder doch bestehen könnten. Damit ist nun freilich die Topik noch nicht vollständig gekennzeichnet; vielmehr ist bisher mit Absicht ein wesentliches Merkmal außer Betracht geblieben: der Bezug der Topik auf die Rhetorik. Dieser ist ihr historisch gesehen von vornherein immanent und spielt von Aristoteles über Cicero bis Vico eine maßgebliche Rolle30. Dabei geht es teils um nach bestimmten Spielregeln durchgeführte Diskussionen, wobei [141] offenbar ein einmal zugestandener Satz nicht wieder zurückgenommen werden durfte31, teils auch einfach um die Vorbereitung von Reden, die durch die Verwendung von Topoi-Katalogen erleichtert wurde. Es liegt auf der Hand, daß es hierbei häufig nicht auf die Suche nach der Wahrheit ankommt, sondern auf den rein äußerlichen „rhetorischen Erfolg“, also auf den nicht selten ziemlich billigen32 Triumph über den Diskussionspartner oder auch nur um den „Beifall der Menge“. Dieser Verbindung mit der Rhetorik dürfte die Topik daher auch ihre weitgehende Geringschätzung verdanken, wie sie etwa in dem Satz Kants zum Ausdruck kommt, daß der Topik „sich Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten für seine vorliegende Materie schickte, und darüber, mit einem Schein von Gründlichkeit, zu vernünfteln oder wortreich zu schwatzen“33.
26 So sind bei Vico (De nostri temporis studiorum ratione, 1708, deutsch-lateinische Ausgabe in der Übersetzung von Walter F. Otto, 1947) Topik und sensus communis unlöslich verbunden; vgl. dazu vor allem Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 16 ff. 27 Charakteristisch z. B. die Verbindung von Topik und common sense bei Esser, a.a.O., vgl. z. B. S. 44, 46, 47 und öfter. 28 Vgl. a.a.O., S. 24. 29 So Viehweg, a.a.O., S. 25; vgl. auch Kriele, a.a.O., S. 135 und Gadamer, a.a.O., S. 16. 30 Vgl. die Schilderungen bei Viehweg, a.a.O., S. 6 ff., 10 ff., 2 ff. und Kriele, a.a.O., S. 136 ff., 141 ff., 144, 125 ff. 31 Vgl. die anschauliche Schilderung bei Kriele, a.a.O., S. 136 f. 32 Vgl. die bei Kriele, a.a.O., S. 137 geschilderten Tricks, die Aristoteles vorschlägt. 33 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, 1. Aufl. 1781, S. 269 f.
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II. Die Bedeutung der Topik für die Jurisprudenz 1. Grundsätzliche Kritik der Topik a) Die Unbrauchbarkeit des „rhetorischen“ Zweiges der Topik Fragt man nun, was die Topik innerhalb der Jurisprudenz zu leisten vermag, so ist von vornherein klar, daß sie jedenfalls insoweit unbrauchbar ist, als sie sich mit der Rhetorik verbindet; denn die Frage nach dem Gerechten ist kein Problem bloßer Rhetorik, wie weit man diesen Begriff auch immer fassen mag34. Daß Viehweg hiergegen nicht eindeutig Stellung bezogen hat, sondern im Gegenteil offenbar auch diese Komponente der Topik für seine Analyse der Jurisprudenz nutzen will, ist ein schwerer Mißgriff und hat die Auseinandersetzung um seine Thesen stark belastet; eine Behauptung wie die, „daß die grundlegenden Prämissen durch die Annahme des Gesprächspartners legitimiert werden“35, mag zwar für bestimmte Formen eines Streit- [142] gesprächs passen36, ist aber innerhalb der Jurisprudenz schlechterdings indiskutabel: die Prämissen werden für den Juristen grundsätzlich durch das objektive Recht, insbesondere durch das Gesetz festgelegt und sind einer „Legitimation“ durch den „Gesprächspartner“ (welchen?!) weder fähig noch bedürftig. b) Das Versagen der Topik gegenüber dem juristischen Geltungsund Verbindlichkeitsproblem Die Topik geht nun aber in ihrem Bezug auf die Rhetorik nicht auf. Wie jede echte Diskussion und jeder echte Dialog ein Prozeß der Wahrheitsfindung sein kann – man denke nur an den Sokratischen Dialog –, so kann vielmehr auch topische Argumentationsweise „zum Wahren hinführen“37, und dieses Ziel ver34 Vgl. auch Flume, Richter und Recht, a.a.O., S. 34 und Kaser, a.a.O., S. 67: „Die Gemeinsamkeit zwischen Jurisprudenz und Rhetorik findet jedoch schon sehr bald ihr Ende ... Die Redekunst zielt vielmehr auf recht äußerliche und, an ethischen Maßstäben gemessen, oft bedenkliche Erfolge ab. Sie läßt sich dabei, ihren griechischen Vorbildern folgend, von Topoi aus allen Lebensbereichen leiten, zu deren Verwertung sie sich einer ausgefeilten Dialektik bedient. So kunstvoll sich diese Technik auch darstellt, steht sie doch tief unter der von hoher Rechtsethik getragenen Jurisprudenz.“ 35 Vgl. Viehweg, a.a.O., S. 24. 36 Insbesondere natürlich dort, wo die Zurücknahme bestimmter einmal zugestandener Prämissen unzulässig ist (vgl. bei und mit Fn. 31); aber auch sonst baut jede Diskussion, soll nicht von vornherein eine Einigung ausgeschlossen sein, auf den den Partnern gemeinsamen, von ihnen ausdrücklich oder stillschweigend anerkannten Prämissen auf. 37 Vgl. die Definition des Topos durch Viehweg, a.a.O., S. 10 oben; vgl. ferner Gadamer, a.a.O., S. 16: „Das ‚gut-Reden‘ ... ist von jeher eine in sich doppeldeutige Formel und keines-
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folgen die „dialektischen“ Schlüsse i. S. des Aristoteles ja in der Tat. Daß das auch auf (gute) Rhetorik zutreffen kann, soll nicht bestritten werden, nur zum Wesen der Rhetorik (ob im antiken oder im modernen Sinne) gehört dieses Ziel nicht notwendig34, und es dürfte sich daher empfehlen, die „rhetorische“ Topik von der „dialektischen“ terminologisch und sachlich klar zu trennen38. Ist nun wenigstens letztere für die Jurisprudenz fruchtbar zu machen? Topoi sind, so definiert Viehweg (in Interpretation des Aristoteles), „vielseitig verwendbare, überall annehmbare Gesichtspunkte, die im Für und Wider des Meinungsmäßigen gebraucht werden und zum Wahren hinführen können“39. Topisches Denken kann sich dabei nach seiner Darstellung auf zwei Stufen vollziehen40. Auf der ersten werden „mehr oder weniger zufällige Gesichtspunkte in beliebiger Auswahl versuchsweise“ aufgegriffen, während man auf der zweiten ein „Repertoire von Gesichtspunkten“ heranziehen kann, das in sogenannten Topoikatalogen unter einer bestimmten äußeren Ordnung, insbeson- [143] dere alphabetisch, gesammelt ist, aber keinen inneren Zusammenhang, also kein System aufweist40a. Nun kann sich natürlich auch der Jurist gegenüber einem bestimmten Problem so verhalten, und es mag durchaus richtig sein, daß Beratungen von Kollegialgerichten regelmäßig in diesem Stil verlaufen41, doch ist damit noch nicht das Geringste über die Verwendbarkeit der Topik für die Jurisprudenz ausgesagt. Denn nunmehr erhebt sich erst die entscheidende Frage, warum die „zufällig aufgegriffenen Gesichtspunkte“ für die Problemlösung überhaupt maßgeblich sein sollen und welchem von diesen sich oft widerstreitenden Topoi gegebenenfalls der Vorrang vor den übrigen zukommt. Wenn jemand z. B. von einem anderen Schadensersatz verlangt, weil dieser ihn mit seinem Auto überfahren hat, wegs nur ein rhetorisches Ideal. Es meint auch das Sagen des Richtigen, das heißt des Wahren, nicht nur: die Kunst der Rede, die Kunst, etwas zu sagen.“ Vgl. aber auch Kuhn, Zeitschr. für Politik 1965, S. 111. 38 Wobei die Möglichkeit von Überschneidungen ja soeben zugestanden wurde. 39 Vgl. a.a.O., S. 10. 40 Vgl. Viehweg, a.a.O., S. 18. 40a Vgl. jetzt aber Fn. 1 a. 41 Das führt Schneider, MDR 63, S. 653 und 67, S. 8 ff. mit viel Emphase zugunsten der Topik an. Dabei verkennt er vor allem zweierlei: erstens geht es bei der Topikdiskussion nicht um eine faktische, sondern um eine methodologische Frage, also nicht darum, wie die Gerichte üblicherweise vorgehen, sondern darum, wie sie richtigerweise vorgehen sollten (vgl. dazu auch unten Fn. 58), so daß Schneiders Argument schon aus diesem Grunde allenfalls mittelbar relevant sein könnte; und zweitens und vor allem ist in diesem Zusammenhang keinesfalls der Stil der richterlichen Beratung, sondern nur der der Entscheidung und Begründung von Bedeutung, und insoweit wird wohl niemand behaupten wollen, daß unsere Gerichte ausschließlich topisch verführen und nicht z. B. u. U. einen in der Beratung vorgebrachten Gesichtspunkt als „systemwidrig“ verwürfen (wobei der Terminus „systemwidrig“ natürlich nicht ausdrücklich gebraucht werden muß). – Im übrigen stehen die Angriffe von Schneider, a.a.O., gegen Diederichsen, a.a.O., auf einem Niveau, das eine Auseinandersetzung mit ihnen ausschließt.
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so kann man prima vista die verschiedensten „Gesichtspunkte“ heranziehen: man kann etwa darauf abstellen, ob der Autofahrer schuldhaft gehandelt hat; man kann aber auch sagen, wer eine so gefährliche Sache wie ein Auto benutze, müsse auch unabhängig von Verschulden für die bei dessen Betrieb angerichteten Schäden einstehen; man kann die Vermögenslage beider Teile in Betracht ziehen, aber auch behaupten, diese habe mit einem gerechten Schadensausgleich nichts zu tun; man kann fragen, inwieweit ein eigenes Verhalten des Verletzten mit zu dem Unfall beigetragen hat, ob höhere Gewalt im Spiel war, ob nicht irgendein Dritter den Schaden allein verschuldet hat und ihn daher unabhängig von der Betriebsgefahr des Autos tragen soll; man kann darauf abstellen, ob einer der Beteiligten versichert ist, man kann sagen, der Staat müsse für den Schaden aufkommen, wenn er eine solche Gefährdung wie die durch den Betrieb eines Autos zulasse usw. usw. Alle diese Gesichtspunkte könnten gewiß für die Lösung unseres Problems (für sich allein oder zusammen mit anderen) irgendwie relevant sein, aber darum sind sie doch noch keineswegs verbindlich in dem Sinne, daß sie geltendes [144] Recht sind42. Ein Topos ist also immer nur ein als solcher unverbindlicher Entscheidungsvorschlag43, und es bedarf daher eines zusätzlichen Kriteriums, um seine Verbindlichkeit nachzuweisen und die Auswahl unter den verschiedenen, für die Lösung eines bestimmten Problems u. U. in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu ermöglichen. Als solches bietet die Topik nun – scheidet man die „Annahme durch den Gesprächspartner“, wie oben geschehen, als für den Juristen völlig unbrauchbar aus – nur die ἔνδoξα oder den common sense an, also die Meinung „aller oder der meisten oder der Weisesten“ über das, was wahr bzw. mutatis mutandis über das, was gerecht ist; „die Diskussion bleibt die einzige Kontrollinstanz“, um dieses Zitat noch einmal zu wiederholen44, wobei durchaus zugestanden sein mag, daß das Wissen der „Besten und Angesehensten“ in sie eingegangen ist. Damit aber wird deutlich, daß die Topik das Wesen der Jurisprudenz grundsätzlich verfehlt. Denn was geltendes Recht ist, welcher Gesichtspunkt also jeweils verbindlich ist, bestimmt sich i. d. R. eben nicht nach dem „common sense“ oder der „Meinung aller oder der meisten oder der Weisesten“, sondern nach objektivem Recht. Es trifft daher den Kern der Problematik, wenn Diederichsen Viehweg vorwirft, nirgends fände sich in seiner Schrift „ein Bekenntnis zur geltenden Rechtsordnung und zu dem sonst jedem Juristen selbstverständlichen Satz, bei der
Vgl. auch Diederichsen, a.a.O., S. 703 Sp. 2 (ähnlich S. 702 Sp. 2). Vgl. auch Zippelius, a.a.O., S. 2233 Sp. 2 und Das Wesen des Rechts, a.a.O., S. 67 sowie vor allem Kriele, a.a.O., S. 146 ff., 151, 153. Krieles eigene Lösung des Rechtsgewinnungsproblems verfällt allerdings m. E. in dieselben Fehler, die er den Anhängern der Topik – mit Recht – vorhält; denn die von Kriele für maßgeblich gehaltene „Rechtsvernunft“ (vgl. S. 157 ff.) ist doch wohl kaum etwas anderes als eine spezielle Form der ἔνδoξα. 44 Vgl. Viehweg, a.a.O., S. 24. 42 43
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Rechtsanwendung an Gesetz und Recht gebunden zu sein“45. Und es ist ebenso konsequent wie verfehlt, wenn Horn in Fortführung der Gedanken Viehwegs dem Gesetz (!) „topische Struktur“ zuspricht46 und seine „Geltung“ und die „Geltung“ anerkannter Rechtsgrundsätze und Prinzipien auf die ἔνδoξα stützt47. Daß das jeder juristischen [145] Geltungslehre Hohn spricht, liegt auf der Hand: ein Gesetz „gilt“ auch dann, wenn es nicht von der Meinung „aller oder der meisten oder der Weisesten“ getragen ist, und umgekehrt kann die Meinung „aller oder der meisten oder der Weisesten“ durchaus falsch sein, d. h. etwas verkünden, was keineswegs geltendes Recht ist48. So unterscheiden denn auch weder Viehweg noch Horn erkennbar zwischen der Tätigkeit des Gesetzgebers und der des Richters, ja man gewinnt den Eindruck, als seien ihre Ausführungen primär auf die erstere bezogen. c) Die Topik als Lehre vom richtigen Handeln und die Jurisprudenz als Wissenschaft vom richtigen Verstehen Das dürfte nun kein Zufall sein, hat doch die Topik in Wahrheit dem Gesetzgeber – und dementsprechend einer Disziplin wie einer sich normativ verstehenden49 Politologie50 – wesentlich mehr zu bieten als dem Richter. Mit Recht hat nämlich Horn darauf aufmerksam gemacht, daß die Beispiele der Aristotelischen 45 Vgl. a.a.O., S. 702 Sp. 1; ähnlich mit Recht auch Flume, a.a.O. (wie Fn. 2). Vgl. in diesem Zusammenhang Viehweg, a.a.O., S. 63, wo es von der Topik heißt: „Sie versteht diese (sc.: die juristische Techne) als eine Erscheinungsform jenes unablässigen Suchens nach dem jeweilig Gerechten, ... das sich an Hand des positiven Rechts fortsetzt.“ Das ist bezeichnend für die Gefahren der Topik: der dem positiven Recht verpflichtete Jurist sucht nicht „an Hand“ (!) dessen nach dem „jeweilig Gerechten“, sondern er hat die positiv-rechtliche Entscheidung grundsätzlich (d. h. vorbehaltlich der – extremen – Möglichkeit „gesetzlichen Unrechts“) als rechtens hinzunehmen und die Frage nach einem davon unabhängigen „jeweils Gerechten“ i. d. R. gar nicht zu stellen; vgl. dazu auch oben § 5 IV 3. 46 Treffend F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 59, „Die Norm wird ... für die Topik zum Topos unter anderen“. 47 Vgl. a.a.O., S. 606 f. 48 So tritt denn auch jemand, der die h. L. oder die st. Rspr. angreift, mit Selbstverständlichkeit mit der Behauptung auf, allein die von ihm verkündete „Mindermeinung“ sei „richtig“ in dem Sinn, daß sie geltendes Recht sei, und macht nicht lediglich einen als solchen gänzlich unverbindlichen Vorschlag zur Änderung der bisherigen Rechtslage, wie das allein folgerichtig wäre, wenn diese lediglich auf ἔνδoξα gegründet wäre; vgl. in diesem Zusammenhang auch oben S. 69 f. 49 Zur Frage, inwieweit dies der Fall ist, vgl. den informativen Aufsatz von Grimm, JZ 65, S. 434 ff. 50 Zur Bedeutung der Topik für die politische Wissenschaft vgl. einerseits Hennis, Politik und praktische Philosophie, 1963, S. 89 ff., andererseits Helmut Kuhn, Aristoteles und die Methode der politischen Wissenschaft, Zeitschr. für Politik, 1965, S. 101 ff.
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Topik zum größten Teil der Ethik entnommen sind und daß Aristoteles dementsprechend hier „offenbar an die Wissensgebiete denkt, die sich mit dem menschlichen Handeln selbst befassen, an die praktische Philosophie im weiten Sinn: Ethik, Ökonomie und ,Politik‘, d. h. Jurisprudenz und politische Wissenschaft“51. Horn bezeichnet die Topik daher als „Methode der Handlungswissenschaften“52, und ähnlich hat ihr schon vorher Hennis den Rang einer „Logik der praktischen Wissenschaften“ zuerkannt53. Darin dürfte in der Tat eine wesentliche Präzisierung des Wesens der Topik liegen. Denn wo es um die Frage nach dem „richtigen Handeln“ geht und insbesondere dort, wo hierüber Aussagen oder [146] Vorschriften gemacht werden, die Verbindlichkeit für Dritte beanspruchen, erscheint eine Legitimation dieser Sätze durch den Konsens „aller oder der meisten oder der Weisesten“ zumal in einer Demokratie immer noch als der relativ beste Ausweg angesichts der Tatsache, daß völlig stringente Beweise nach Art der Naturwissenschaften in dieser Hinsicht nun einmal nicht möglich sind; oder, um noch einmal Horn zu zitieren: „Wer nicht eine alles durchschauende Vernunft für sich in Anspruch nimmt, mit der er die auftretenden Tatsachen- und Wertungsfragen nach Art einer Rechenaufgabe lösen kann, muß auf Sätze zurückgreifen, über die in der sozialen Gemeinschaft, in der die Frage nach der ,Richtigkeit‘ auftritt, Verständigung besteht54.“ Das ist für den Gesetzgeber gewiß eine für den Regelfall55 beherzigenswerte Maxime, und so mag man die Prämissen, an denen er sich orientiert, in der Tat als Topoi bezeichnen56 und das Verfahren, in dem sie gefunden werden, topisch nennen, – nur ist die Gesetzgebungskunst eben nicht Jurisprudenz im herkömmlichen Sinne des Wortes; und man kann sie mit dieser auch nicht einfach auf eine Stufe stellen, da anderenfalls der fundamentale Unterschied zwischen Rechtspolitik und Rechtsanwendung, zwischen Argumentation de lege ferenda und de lege lata aufgegeben würde57, – ein Ergebnis, das mit der Gewaltenteilung und der in 51 Vgl. a.a.O., S. 603 Sp. 2; vgl. auch Gadamer, a.a.O., S. 18 f. („praktisches Wissen“); Wieacker, Privatrechtsgeschichte, a.a.O., S. 596 („praktische Richtigkeit“). 52 Vgl. a.a.O., S. 603 f. 53 a.a.O., S. 109; ablehnend Kuhn, a.a.O., S. 110, 112, 119. 54 Vgl. a.a.O., S. 607 Sp. 1. 55 In Ausnahmefällen muß natürlich auch er den Mut haben, gegen die Meinung „aller“ oder der „meisten“ zu entscheiden, und zwar dann, wenn diese mit der Meinung der „Weisesten“ nicht übereinstimmt; daß die Möglichkeit einer derartigen Diskrepanz schon in der Formel des Aristoteles angelegt ist, ohne daß Kriterien für ihre Lösung ersichtlich sind, macht eine wesentliche Schwäche der Topik aus. 56 Vgl. Henkel, a.a.O., S. 418 ff., der in diesem Zusammenhang von „Topoi des zu findenden richtigen Rechts“ spricht (S. 418). 57 Daß es Übergänge und Grenzfälle gibt, soll natürlich nicht geleugnet werden, doch hindert das nicht, die Unterscheidung als im Kern richtig anzusehen (vgl. auch die folgende Fn.). Auf die hiermit zusammenhängenden höchst komplexen Vorfragen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden, doch entspricht das Festhalten an der Unterscheidung trotz
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Art. 20 III GG statuierten Bindung der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ unvereinbar wäre58. [147] Dementsprechend ist die Jurisprudenz grundsätzlich59 auch keine „Handlungswissenschaft“ in dem Sinne, in dem Horn den Begriff gebraucht, sondern eine hermeneutische Wissenschaft: sie ist weitgehend59 eine Lehre vom richtigen Verstehen, nicht vom richtigen Handeln60. Denn die Vorschriften über letzteres stellt grundsätzlich das objektive Recht auf, und der Richter hat i. d. R. lediglich dessen Wertungen verstehend nachzuvollziehen61, nicht aber die Anschauungen anderer, und seien es auch die „aller oder der meisten oder der Weisen“, an deren immer wieder aufkommender Kritik zweifellos der ganz überwiegenden Ansicht; wenn man diese nicht teilt, wird man natürlich auch die Topik anders beurteilen, doch sollte man dann auch die extreme Position in dieser Vorfrage nicht im Dunkeln lassen. 58 Daß eine Unterscheidung von Rechtspolitik und Rechtsanwendung überhaupt nicht möglich sei und daß demnach Art. 20 III GG ein unerfüllbares und daher leerlaufendes Postulat beinhalte, wird wohl niemand im Ernst behaupten wollen. Es ist deshalb entgegen der Ansicht von Kriele, a.a.O., S. 149 keineswegs ein sinnloser Einwand, daß juristisches Denken nicht „topisch sein solle oder sein dürfe“. Die „Topikthese“ kann vielmehr im Gegenteil vernünftigerweise nur methodologisch und normativ, nicht faktisch oder phänomenologisch begriffen werden; denn daß der Jurist „unentrinnbar“ (vgl. Kriele, a.a.O.) topisch denke, also notwendigerweise (!) seine Argumente ausschließlich auf ἔνδoξα und common sense, nicht aber auf die davon unabhängigen und oft genug damit in Widerspruch stehenden Anordnungen des Gesetzes stützen könne, wäre eine abwegige Behauptung, und es kann daher nur um die Frage gehen, wie er richtigerweise zu argumentieren hat. Freilich zeigt Kriele allenthalben, daß er von der Möglichkeit des Gesetzgebers, klar faßbare Wertungen zu setzen, wenig hält, so etwa in seiner Polemik gegen das „Subsumtionsideal“ (S. 47 ff.) oder in seiner maßlos übertriebenen Behauptung, „das Vorhandensein eines Rechtssatzes, der durch bloßes ,Verstehen‘ subsumtionsgeeignet wird“, sei „ein Grenzfall“, die Gesetzeslücke sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel, und der Lückenbegriff wirke daher „eher verwirrend als klärend“ (S. 196, vgl. auch S. 205 f.). Krieles Blick ist dabei nicht nur ersichtlich viel zu stark am Verfassungsrecht mit seiner Fülle „wertausfüllungsbedürftiger“ Generalklauseln orientiert, sondern auch zu einseitig auf die Tätigkeit der höchsten Gerichte und der Wissenschaft gerichtet; daß diese sich nahezu ausschließlich mit vom Gesetzgeber nicht eindeutig entschiedenen Wertungsproblemen befassen, liegt in der Natur der Sache, besagt aber nichts dagegen, daß es eine Unzahl völlig unmißverständlich geregelter Fragen gibt (die deshalb meist gar nicht erst streitig werden!). Daß „das BGB mehr Probleme offenläßt als löst“ (so Kriele, a.a.O., S. 209), ist jedenfalls eine Behauptung, die durch nichts belegt ist und m. E. als geradezu abenteuerlich zurückgewiesen werden muß (Heck wird von Kriele zu Unrecht als Zeuge aufgerufen: er sagt an der zitierten Stelle nur, daß bei einer bestimmten Terminologie „vielleicht der weitaus größte Teil der zweifelhaften Rechtsfragen auf dem Vorhandensein von Gesetzeslücken beruht“; Kriele übersieht hier [ebenso wie S. 196] ersichtlich die Beschränkung auf die „zweifelhaften“ Fragen, über deren zahlenmäßiges Verhältnis zu den unzweifelhaften Heck nicht das geringste sagt, und die rein terminologische Bedeutung der Stelle, bei der es um die sprachliche Abgrenzung zwischen „Subsumtion“ und „Lückenergänzung“ geht und um sonst nichts.). 59 Vgl. aber auch unten Ziff. 2. 60 a. A. offenbar Wieacker, JZ 57, S. 704, 706; vgl. auch Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, S. 19 und Festschrift für Erik Wolf, 1962, S. 451. 61 Der Begriff „Wertungsjurisprudenz“ ist daher nicht unmißverständlich, weswegen er z. B. von Heck abgelehnt wurde, vgl. Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 50 f.
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Stelle zu setzen. Daß dieses „Verstehen“ nicht selten ein Element der Eigenwertung enthält – dessen Bedeutung man freilich nicht überschätzen sollte – und daß es sich nicht mit den Mitteln der formalen Logik vollziehen läßt, besagt dabei nicht das geringste zugunsten der Topik; denn diese ist keineswegs die [148] einzige Alternative zur formalen Logik und keineswegs das einzige Verfahren für die Auffindung von Prämissen62, und deshalb sind Viehwegs ständige Hinweise auf die begrenzten Erfolge formal-logischen Denkens in der Jurisprudenz63 ebensowenig beweiskräftig für seine „Topikthese“ wie seine Polemik gegen ein „axiomatisch-deduktives“ System63, das kaum noch vertreten wird64. Vielmehr dürfte nicht die Topik, sondern grundsätzlich nur ein teleologisch-systematisches Denken, wie es oben65 näher dargestellt worden ist und wie es dem heute wohl vorherrschenden Methodenverständnis entspricht65a, für die Jurisprudenz die notwendige Ergänzung der Sätze der formalen Logik bilden. Von der Topik unterscheidet dieses sich vor allem in zweierlei Hinsicht: es ist hermeneutisch ausgerichtet66, d. h. auf den Nachvollzug objektiv vorgegebener geistiger Gebilde angelegt und lehnt es daher ab, seine Prämissen lediglich auf ἔνδoξα oder common sense zu stützen; und es betrachtet alle auftauchenden Fragen nicht als isolierte Einzelprobleme, wie das für die Topik charakteristisch ist67, sondern sucht sie, der 62 Die Naturwissenschaften bedienen sich z. B. zur Findung ihrer Prämissen zweifellos nicht der Topik. 63 Vgl. vor allem S. 53 ff. 64 Das ist Viehweg oft entgegengehalten worden, vgl. z. B. Engisch, ZStrW 69, S. 600; Diederichsen, a.a.O., S. 699 f.; Kriele, a.a.O., S. 120 ff., insbesondere S. 124 mit Fn. 42; vgl. jetzt aber das Zitat in Fn. 1 a. 65 Vgl. § 2 II. 65a Vgl. die Nachw. § 2 Fn. 117 und 133. 66 Angesichts der Vieldeutigkeit des Ausdrucks „topos“ ist freilich zu befürchten, daß manche Anhänger der Topik hierin keinen Gegensatz sehen werden (vgl. Viehweg, a.a.O., S. 24 und vor allem, weit über die in Bezug genommene Stelle S. 24 hinausgehend und durch das dort Gesagte nicht gerechtfertigt, S. 59. Vgl. ferner Coing, Auslegungsmethoden, S. 22 f. und F. Müller, a.a.O., S. 45 ff., der geradezu von „topischer Hermeneutik“ spricht, diese allerdings in Gegensatz zur „Topik“ bringt). Das würde jedoch nur terminologische Verwirrung stiften und die sachlichen Gegensätze, – die im wesentlichen die zwischen einer Lehre vom „richtigen Verstehen“ und einer Lehre vom „richtigen Handeln“ sind – verschleiern. Daß auch insoweit gewisse Zusammenhänge bestehen – etwa zwischen dem „hermeneutischen Vorverständnis“ i. S. Heideggers und Gadamers und der ἔνδoξα, die z. B. Ehmke (VVdDStRL 20, S. 53 ff.) in origineller Weise in Verbindung bringt (vgl. dazu auch F. Müller, a.a.O., S. 45 ff.) –, steht der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Unterscheidung ebensowenig entgegen wie die Tatsache, daß speziell in der Jurisprudenz beide Denkweisen einander sinnvoll ergänzen und sich z. T. gegenseitig durchdringen (vgl. dazu sogleich im Text unter 2 und 3). Vgl. ferner auch Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, 1963, der die Topik einer „transzendentalen (existentialen) Hermeneutik“ eingliedern will (S. 143), dabei jedoch im Anschluß an Heidegger einen sehr viel umfassenderen Sinn des Wortes Hermeneutik zugrunde legt. 67 Bezeichnend ist auch in diesem Zusammenhang, daß Viehweg als Aufgabe der Jurisprudenz immer wieder die Suche nach dem „jeweilig Gerechten“, nach dem, „was denn hier und
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„generalisierenden“ Tendenz68 der Gerech- [149] tigkeit folgend und damit „systematisch“ verfahrend, möglichst weitgehend in allgemeinere Probleme aufzulösen68a und vor dem Hintergrund des „Ganzen der Rechtsordnung“, d. h. dem teleologisch verstandenen System zu lösen. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, daß die Topik die Struktur der Jurisprudenz grundsätzlich nicht zutreffend zu erfassen vermag. Das beruht hauptsächlich darauf, daß ein Topos als solcher nur ein Lösungsvorschlag, nicht jedoch ohne weiteres geltendes Recht ist, mag er sich auch „vom Problem her“ noch so sehr als „sachgerecht“ aufdrängen. Die sich damit stellende Frage nach der Verbindlichkeit der jeweils aufgegriffenen Gesichtspunkte und nach der Auswahl unter ihnen kann die Topik aber nur durch den Hinweis auf die „Meinung aller oder der meisten oder der Weisen“ oder auf den common sense lösen, womit sie in einen scharfen Gegensatz zur juristischen Geltungs- und Rechtsquellenlehre gerät. Dementsprechend unterscheiden ihre Anhänger nicht hinreichend zwischen den Aufgaben der Gesetzgebung und denen der Rechtsprechung und verkennen, daß es die Jurisprudenz primär mit dem verstehenden Nachvollzug bereits gesetzter Wertungen, nicht aber mit „topischer“ Prämissenwahl zu tun hat, also eine Lehre vom „richtigen Verstehen“, nicht vom „richtigen Handeln“ ist. 2. Verbleibende Möglichkeiten für die Topik Damit wird nun allerdings auch schon deutlich, daß und unter welchen Voraussetzungen topisches Denken innerhalb der Jurisprudenz gleichwohl eine bedeutsame Funktion zu erfüllen hat: immer dann, wenn es an hinreichend konkretisierten positiv-rechtlichen Wertungen fehlt. Denn in diesem Falle stoßen nicht nur die Möglichkeiten des systematischen Denkens an unübersteigbare Grenzen69, sondern es liegen auch regelmäßig die Charakteristika der Topik vor: [150] die Normen werden hier im wesentlichen erst durch den Richter mit Inhalt erfüllt, so daß dieser insoweit weitgehend ähnlich wie der Gesetzgeber vorgehen jetzt jeweils gerecht“ ist (vgl. S. 63 bzw. S. 65 und öfter), ansieht (vgl. dazu auch oben Fn. 45). Vgl. ferner Gadamer, a.a.O., S. 18 f., der die Topik in Zusammenhang mit der Aristotelischen Phronesis bringt, diese als das „praktische“ Wissen kennzeichnet und als Charakteristikum herausarbeitet: „... es ist auf die konkrete Situation gerichtet. Es muß also die ,Umstände‘ in ihrer unendlichen Varietät erfassen.“ Vgl. weiter Ehmke, VVdDStRL 20, S. 55: „Die Problemlösung muß unter Abwägung aller für den konketen Fall relevanten Gesichtspunkte gefunden werden ...” 68 Zum Gegensatz von generalisierender und individualisierender Tendenz des Gerechtigkeitsgebotes vgl. näher oben § 1 II 2 mit Nachw. in Fn. 32 und § 4 IV 3. 68a Vgl. in diesem Zusammenhang auch Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 20 f. 69 Zu diesen vgl. genauer oben § 6, insbesondere unter III.
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muß und in der Tat über die Maximen „richtigen Handelns“ zu entscheiden hat; er ist dabei anerkanntermaßen gehalten, im Rahmen seiner „Eigenwertung“ die in der betreffenden Rechtsgemeinschaft vorherrschenden rechtlichen, kulturellen und sozialen Wertungen und Anschauungen maßgeblich zu berücksichtigen, das heißt aber doch wohl: sich an der ἔνδoξα auszurichten. Um welche Problemkreise geht es dabei im einzelnen? a) Die Topik als Notbehelf bei Fehlen hinreichender gesetzlicher Wertungen, insbesondere in Lückenfällen Zunächst sind hier natürlich bestimmte Fälle von Lücken im Gesetz zu nennen, für deren Ausfüllung das positive Recht keine Wertungen enthält. Ein klassisches Beispiel, das in diesen Zusammenhang gehört, ist etwa das Fehlen einer Regelung über das Obligationsstatut im deutschen IPR. Hier bleibt in der Tat nichts anderes übrig, als zunächst einmal mehr oder weniger tastend verschiedene Gesichtspunkte aufzugreifen, am Problem zu erproben und gegeneinander abzuwägen, d. h. topisch zu verfahren, wobei das für die Topik charakteristische Streben, sich stark am Einzelproblem, ja sogar am Einzelfall zu orientieren, in dem – lange Zeit vorherrschenden – Abstellen auf den „hypothetischen Parteiwillen“ deutlich in Erscheinung tritt70. b) Die Topik als funktionsgerechtes Verfahren bei gesetzlicher Bezugnahme auf den „common sense” und bei Billigkeitsentscheidungen Die zweite Gruppe, die hier zu erwähnen ist, sind die wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln. Auch bei diesen lassen sich die Charakteristika topischen Denkens ohne weiteres nachweisen. So ist z. B. die zur Konkretisierung des § 138 BGB von der Rechtsprechung geprägte Formel von der Anschauung „aller recht und billig Denkenden“ nahezu eine Definition der ἔνδoξα71, und ähnlich ist die Inhaltsbestimmung der „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“ i. S. des § 276 BGB nur möglich durch ein am jeweiligen Einzelfall orientiertes [151] Abstellen darauf, was hier der „ordentliche Kaufmann“, der „vernünftige Kraftfahrer“ usw. tun 70 Zum heutigen Stand der Diskussion vgl. statt aller Soergel-Kegel, Bürg. Gesetzbuch, Bd. V, 9. Aufl. 1961, vor Art. 7 EGBGB Rdzn. 167 ff.; Sandrock, Zur ergänzenden Vertragsauslegung im materiellen und internationalen Schuldvertragsrecht, 1966, S. 132 ff. 71 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Ehmke, VVdDStRL 20, S. 71, wo die Überzeugungskraft topischer Argumente auf den „Konsens aller ,Vernünftig-und Gerecht-Denkenden‘ “ gestützt wird.
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würde, also durch die Ermittlung der Regeln „richtigen Handelns“ – genau darum geht es! – mit Hilfe des Rückgriffs auf die Ansicht „aller oder der meisten oder der Weisen“72. Die Topik hat hier daher eine völlig legitime Ergänzungsfunktion gegenüber dem Systemdenken zu erfüllen, ja, man wird sogar sagen können, daß auch in dieser Frage wieder die „Polarität“ der obersten Rechtswerte73 zum Ausdruck kommt: die Topik ist der Billigkeit, also der individualisierenden Tendenz68 des Gerechtigkeitsgebotes zugeordnet73a; sie stellt das adäquate Verfahren für eine am möglichst eng formulierten Einzelproblem, ja am Einzelfall orientierte BilligkeitsarBilligkeitsargumentation dar, bei der grundsätzlich kein irgendwie diskutabler Gesichtspunkt von vornherein als unzulässig zurückgewiesen werden kann, wie das für das abstrahierende, auf der generalisierenden68 Tendenz des Gerechtigkeitsgebotes aufbauende Systemdenken typisch ist74. 3. Die wechselseitige Ergänzung und Durchdringung systematischen und topischen Denkens Damit ist bereits gesagt, daß topisches und systematisches Denken keine einander ausschließenden Gegensätze sind, sondern sich wechselseitig sinnvoll ergänzen75. Sie stehen dabei nicht, wie es nach den bisherigen Ausführungen vielleicht den Anschein haben könnte, isoliert nebeneinander, sondern durchdringen sich gegenseitig. So ist auch dort, wo der Topik soeben der Primat eingeräumt wurde, die Systematik darum doch keineswegs gänzlich bedeutungslos. Dies ist ganz offensichtlich bei dem zuerst genannten Problemkreis, also jenen Fällen von Lücken, in denen das positive Recht keine Wertungen für die Ausfüllung enthält: hier ist die Topik nicht mehr als ein Notbehelf, [152] und es gilt daher, möglichst bald die unsicheren topoi durch klare Wertungen zu ersetzen, die Lösung also systematisch zu verfestigen.
72 Wobei hier freilich im Gegensatz zu der Aristotelischen Formel außer Zweifel steht, daß nicht ein statistischer, sondern ein normativer Maßstab anzulegen ist. 73 Vgl. auch oben § 4 IV 3 m. Fn. 39. 73a Zur Billigkeit als Ausdruck der individualisierenden Tendenz der Gerechtigkeit vgl. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 327 m. Nachw. in Fn. 2. 74 Darin liegt nicht etwa ein Widerspruch zur „Offenheit“ des Systems i. S. des „aporetischen“ Denkens; denn das System scheidet nicht bestimmte Probleme als Scheinfragen aus, sondern nur bestimmte Problemlösungen als Verstöße gegen die das geltende Recht tragenden Grundgedanken. 75 Für eine Verbindung von Topik und Systemdenken, bei mancherlei Unterschieden im einzelnen, i. E. auch Esser, a.a.O., S. 6 f., 44 ff. und öfter und Stur. Gen. 12 (1959), S. 104 und 105, Sp. 2; Kaser, a.a.O., S. 53; Peter Schneider, VVdDStRL 20, S. 37 und 51; Henkel, a.a.O., S. 426; Raiser, NJW 64, S. 1203 f.; Diederichsen, a.a.O., S. 704 f.; F. Müller, a.a.O., S. 57 und S. 67; Zippelius, a.a.O., S. 2233 unter d.
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Aber auch bei der Konkretisierung wertausfüllungsbedürftiger Generalklauseln, bei der die Topik weit mehr als ein bloßer Notbehelf ist, zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Systematisierung76. Nicht nur, daß auch die Generalklauseln stets im Lichte der Gesamtrechtsordnung, also vor dem Hintergrund des Systems zu interpretieren sind – so ist z. B. § 138 BGB großenteils aus in unserer Rechtsordnung anderweit zum Ausdruck gekommenen Wertungen, mithin systemgebunden und nicht aus der ἔνδoξα auszulegen77 –, sondern vor allem geschieht die Konkretisierung auch weitgehend durch Typenbildung, ja z. T. durch klare Tatbestandsbildung78 und drängt dadurch zur systematischen Verfestigung. Man denke etwa an § 242 BGB und die Systematisierungsarbeit, die bei dessen „rechtstheoretischer Präzisierung“ von Rechtsprechung und Lehre geleistet worden ist79. So hat sich, um nur ein Beispiel zu nennen, hier die „Arglisteinrede“ verselbständigt, und innerhalb dieser, die ja noch immer eine wertausfüllungsbedürftige „Untergeneralklausel“ bleibt, hat sich ein Zusammenspiel von festem Tatbestand, beweglichem Tatbestand i. S. Wilburgs80 und gänzlich offenem, nur topisch zu erfassendem Restbereich ergeben: Der Einwand des „dolus praeteritus“ dürfte bereits ein fester, wertungsgemäß weitgehend ausgefüllter Tatbestand sein (wenn auch natürlich mit dem „normativen“ Tatbestandsmerkmal81 der „Arglist“); der Einwand der Verwirkung stellt demgegenüber einen beweglichen Tatbestand dar, bei dem zwar die „Elemente“ feststehen82, die Rechtsfolge sich aber erst aus ihrem von Fall zu Fall variablen „Mischungsverhältnis“ ergibt83, und der Einwand des „venire [153] contra factum proprium“ schließlich dürfte heute noch auf der Grenze zwischen „beweglichem“ Tatbestand und topisch-offener Generalklausel stehen84; jenseits dieser drei Typen aber bleibt der große, noch weitgehend unkonkretisierte Bereich, in dem nahezu jeder topos zulässig ist. So ist auch die Generalklausel keineswegs gänzlich der Billigkeit Richtig Diederichsen, a.a.O., S. 704; noch verkannt bei Canaris, a.a.O., S. 107, Fn. 172. Vgl. dazu vor allem Pawlowski, ARSP 1964, S. 503 ff.; Larenz, Jur. Jb. Bd. VII (1966), S. 98 ff. und Allg. Teil, 1967, § 28 III a. 78 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Paulus, Probleme richterlicher Regelbildung am Beispiel des Kreditsicherungsrechts, Jur. Jb. Bd. VI (1965/6), S. 134 ff. 79 Hingewiesen sei nur auf die Kommentierung des § 242 durch Siebert, bei Soergel-Siebert, 9. Aufl. 1959, und auf Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956. 80 Vgl. die Darstellung oben § 4 I. 81 „Normativ“ und „wertausfüllungsbedürftig“ ist nicht dasselbe, wenn auch der Unterschied nur gradueller Art sein dürfte. 82 Es sind: Vertrauen darauf, daß der Anspruch nicht mehr geltend gemacht wird; ein „Sich-einrichten“ hierauf; ein gewisser Zeitablauf; und die Zurechenbarkeit der Unterlassung der Anspruchserhebung. 83 So kann z. B. eine besonders lange Zeitdauer die Geringfügigkeit der für das „Sicheinrichten“ erforderlichen Maßnahmen aufwiegen und umgekehrt. 84 Vgl. näher Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 266 ff., insbesondere S. 301–305. 76 77
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und damit dem topischen Denken überlassen. Vielmehr macht sich auch in ihr die Gegenläufigkeit der individualisierenden und der generalisierenden Tendenz der Gerechtigkeit bemerkbar84a, und letztere drängt wie immer zur Systematisierung. Umgekehrt bleibt auch das primär dem systematischen Denken zugewiesene Gebiet nicht völlig von Einflüssen der Topik frei. Zunächst ergibt sich das schon daraus, daß der Bereich, in dem noch klar erfaßbare positiv-rechtliche Wertungen vorhanden sind, nur fließende Übergänge zu dem Bereich hat, wo jene fehlen, und daß es daher eine Grenzzone gibt, in der sich u. U. systematisch legitimierte und lediglich auf ἔνδoξα beruhende Gesichtspunkte mischen können. Sodann spielen auch bei einer systemorientierten Rechtsfortbildung praeter legem und insbesondere bei der Konkretisierung außergesetzlicher „allgemeiner“ Rechtsprinzipien – mithin aber auch bei den durch diese bewirkten Systemänderungen85 – bloße topoi zumindest in den Anfangsstadien der Entwicklung eine maßgebliche Rolle86; ja, man kann dem Entstehen „neuer“ Rechtsprinzipien sogar in gewisser Hinsicht durchaus topische Struktur zusprechen87, weil sich die ihr zugrunde liegende Wandlung des allgemeinen Rechtsbewußtseins in der Tat wohl in einem Prozeß der „Diskussion“ (im umfassensten Sinn) zwischen „allen oder den meisten oder den Weisen“ vollzieht – aber freilich doch nur „in gewisser Hinsicht“, weil die Berufung auf das „allgemeine Rechtsbewußtsein“ oder die ἔνδoξα nicht genügt, sondern der Ergänzung durch objektive Kriterien wie die Rechtsidee oder die Natur der Sache88 bedarf89. [154] So gibt es keine starre Alternative zwischen topischem und systematischem Denken, sondern nur eine wechselseitige Ergänzung. Wie weit das eine und wie weit das andere reicht, bestimmt sich dabei entscheidend nach dem Maß der jeweils vorhandenen positiv-rechtlichen Wertungen, – woraus sich auch ohne weiteres erklärt, daß die Topik in stark mit Generalklauseln durchsetzten Bereichen wie dem Verfassungsrecht90 oder in sehr lückenhaft geregelten Gebieten wie
Vgl. auch Henkel, a.a.O., S. 359 f. Zu diesem vgl. oben § 3 IV 1. 86 Vgl. dazu vor allem Esser, a.a.O., S. 5 ff., 44 ff., 218 ff., 238 ff. und öfter. 87 Vgl. Horn, a.a.O., S. 607, der jedoch nicht nur aus dem im Text genannten Grund viel zu weit geht, sondern auch deshalb, weil er insoweit nicht zwischen gesetzesimmanenten und außergesetzlichen Prinzipien unterscheidet. 88 Vgl. näher oben S. 70 f. 89 Freilich werden auch diese ihrerseits durch das allgemeine Rechtsbewußtsein beeinflußt, und es ergibt sich daher wieder das Problem der Dialektik zwischen dem objektiven und dem subjektiven Geist. 90 Zur Bedeutung der Topik für das Verfassungsrecht vgl. vor allem Peter Schneider und Ehmke in VVdDStRL 20, S. 1 ff. (35 ff.) bzw. 53 ff. sowie mit berechtigten Vorbehalten F. Müller, a.a.O., S. 47 ff. (57 ff.). 84a 85
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dem Internationalen Privatrecht eine weit größere91 Rolle spielt als z. B. im Liegenschafts- oder im Wertpapierrecht. [155] § 8 Thesen Zu § 1 1. Voraussetzung für die Brauchbarkeit des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft und für die Entwicklung eines spezifisch juristischen Systembegriffs ist, daß das System in der Jurisprudenz eine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermag. Das hängt davon ab, ob den Merkmalen des allgemeinen Systembegriffs entsprechende rechtliche Erscheinungen zugeordnet werden können. 2. Die Merkmale des allgemeinen Systembegriffs sind Ordnung und Einheit. Sie finden ihre juristische Entsprechung im Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit der Rechtsordnung; diese sind nicht nur unerläßliche Voraussetzungen einer sich als Wissenschaft verstehenden Jurisprudenz und selbstverständliche Prämissen der herkömmlichen juristischen Auslegungsmethoden, sondern vor allem auch Folgerungen aus dem Gleichheitssatz und der „generalisierenden Tendenz“ der Gerechtigkeit, also mittelbar aus der „Rechtsidee“ selbst. 3. Die Funktion des Systems in der Jurisprudenz besteht dementsprechend darin, die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen. Hieraus gewinnt zugleich das juristische Systemdenken seine Rechtfertigung, die sich somit mittelbar aus den „obersten Rechtswerten“ herleiten läßt. Zu § 2 4. Aus der Funktion des Systemgedankens ist der juristische Systembegriff zu entwickeln. Unbrauchbar oder allenfalls beschränkt brauchbar sind deshalb alle die Systembegriffe, die nicht geeignet sind, die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung zum Ausdruck zu bringen; das gilt insbesondere für das „äußere System“, für die Systeme „reiner Grundbegriffe“, für das logische System der „Begriffsjurisprudenz“, für das axiomatisch-deduktive System i. S. der Logistik, für das „System der Problemzusammenhänge“ Salomons und für das „System von Konfliktsentscheidungen“ i. S. Hecks und der Interessenjurisprudenz. [156] 91
Aber durchaus nicht die allein entscheidende, vgl. auch F. Müller, a.a.O.
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5. Bestimmt man den Systembegriff im Hinblick auf den Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit des Rechts, so läßt sich das juristische System als „axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien“ definieren. Denkbar ist auch eine entsprechende Ordnung von Werten, teleologischen Begriffen oder Rechtsinstituten. Zu § 3 6. Dieses System ist nicht geschlossen, sondern offen. Das gilt sowohl für das System der juristischen Lehrsätze, das wissenschaftliche System“, als auch für das System der Rechtsordnung selbst, das „objektive System“. Hinsichtlich des ersteren bedeutet Offenheit die Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis, hinsichtlich des letzteren die Wandelbarkeit der rechtlichen Grundwertungen. 7. Die Offenheit des juristischen Systems steht der Verwendbarkeit des Systemgedankens in der Jurisprudenz nicht entgegen. Die Offenheit des „wissenschaftlichen Systems“ teilt diese vielmehr mit allen anderen Wissenschaften, da kein derartiges System mehr als ein vorläufiger Entwurf sein kann, solange in dem betreffenden Gebiet überhaupt noch ein Fortschritt der Erkenntnis möglich, also wissenschaftliches Arbeiten sinnvoll ist. Die Offenheit des „objektiven Systems“ ist demgegenüber zwar möglicherweise eine Besonderheit der Jurisprudenz, doch ergibt sie sich zwingend aus deren Gegenstand, nämlich aus dem Wesen des Rechts als einer im Prozeß der Geschichte stehenden und sich daher verändernden Erscheinung. Zu § 4 8. Von der Problematik der „Offenheit“ des Systems ist die seiner „Beweglichkeit“ zu unterscheiden. Beweglichkeit in dem Sinne, den dieser Terminus durch Wilburg erhalten hat, bedeutet die grundsätzliche Ranggleichheit und wechselseitige Austauschbarkeit der maßgeblichen Gerechtigkeitskriterien bei gleichzeitigem Verzicht auf abschließende Tatbestandsbildung. 9. Auch ein „bewegliches System“ verdient noch den Namen System, da auch in ihm die Merkmale der Ordnung und Einheit erfüllbar sind. Es handelt sich jedoch um einen Grenzfall der Verwendbarkeit des Systembegriffs. 10. Das geltende Recht wird grundsätzlich nicht von einem beweglichen, sondern von einem unbeweglichen System beherrscht. Es enthält jedoch bewegliche Teilbereiche. [157] 11. Legislatorisch steht das „bewegliche System“ zwischen fester Tatbestandsbildung einerseits und Generalklausel anderseits. Es bringt in besonders
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glücklicher Weise die Polarität zwischen den „obersten Rechtswerten“, insbesondere zwischen der „generalisierenden“ und der „individualisierenden Tendenz“ der Gerechtigkeit zum Ausgleich und bildet deshalb eine wertvolle Bereicherung des gesetzgeberischen Instrumentariums. Es darf jedoch nicht ausschließlich verwandt werden, sondern stellt nur eine unter mehreren miteinander zu verbindenden legislatorischen Möglichkeiten dar. Zu § 5 12. Die Besinnung auf Begriff und Eigenart des juristischen Systems führt auch ohne weiteres zu einer Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung. Versteht man nämlich das System als eine (offene und grundsätzlich unbewegliche) teleologische Ordnung, so folgt daraus unmittelbar, daß das Systemargument nur eine besondere Form einer teleologischen Begründung darstellt und daher wie diese den höchsten Rang unter den Rechtsfindungskriterien beanspruchen kann. Das System besitzt mithin „teleologische Ableitungseignung“. 13. Im einzelnen erfüllt das System vor allem zwei Aufgaben bei der Rechtsgewinnung: es trägt zur vollständigen Erfassung des teleologischen Gehalts einer Norm oder eines Rechtsinstituts bei, indem es dazu führt, diese als Teil des Ganzen der Rechtsordnung und vor dem Hintergrund übergreifender Zusammenhänge zu interpretieren; und es dient der Wahrung und Verwirklichung der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit des Rechts, indem es wertungsmäßige Inkonsequenzen aufzeigt und damit die Rechtsfortbildung sowohl durch die Aufdeckung von drohenden Wertungswidersprüchen in Schranken hält als auch durch die Feststellung von Lücken vorantreibt. Dementsprechend ist die Bedeutung des Systems auf allen Stufen der Rechtsgewinnung anzuerkennen: für die „systematische Lückenergänzung und Rechtsfortbildung“ nicht weniger als für die „systematische Auslegung“. 14. Der Grundsatz der „teleologischen Ableitungseignung“ des Systems gilt auch für die „Konstruktionen“ des Gesetzgebers. Diese sind daher entgegen der Ansicht Hecks nicht „wertungsfreie Begriffskunstruktionen“, die „wie ein Redaktionsversehen“ berichtigt werden dürfen, sondern Wertungen im Gewande der Konstruktion, die ebenso verbindlich sind wie jede andere gesetzliche Wertung. [158] 15. Über die Betonung der Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung darf man die Schranken nicht übersehen, die dieser gezogen sind. Vor allem steht sie stets unter dem doppelten Vorbehalt einer „teleologischen Kontrolle“ des Systemarguments und der Möglichkeit einer Fortbildung des Systems entsprechend dem Grundsatz seiner Offenheit.
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Äußerste Vorsicht ist dagegen gegenüber dem Versuch geboten, (angebliche) Forderungen der „materialen Gerechtigkeit“ gegen Systemargumente auszuspielen: letztere stellen ex definitione nur das am Gleichheitssatz ausgerichtete Zuendedenken der Wertungen des Gesetzes dar und gewinnen ihre Überzeugungskraft daher gleichermaßen aus der Autorität des positiven Rechts und der Dignität des (formalen) Gerechtigkeitsgebotes. Die systemrichtige Lösung ist deshalb nicht nur im Zweifel die de lege lata verbindliche, sondern sie ist grundsätzlich auch als die unter der Herrschaft einer bestimmten Rechtsordnung gerechte hinzunehmen. Im übrigen ergeben sich die Schranken der Rechtsgewinnung aus dem System daraus, daß der Systembildung selbst erhebliche Grenzen gesetzt sind. Zu § 6 16. Diese Grenzen der Systembildung haben ihren Grund einerseits in der historischen Gewachsenheit der Rechtsordnung und den auf der Unvollkommenheit menschlichen Erkenntnis- und Sprachvermögens beruhenden Mängeln der Gesetzgebung, andererseits in der sogenannten „individualisierenden Tendenz“ der Gerechtigkeit, die sich in jeder Rechtsordnung in Teilbereichen durchsetzt und dem – auf der „generalisierenden Tendenz“ beruhenden! – Systemgedanken entgegenwirkt. 17. Im einzelnen sind Systembrüche, systemfremde Normen und Systemlücken zu unterscheiden. Systembrüche beruhen auf Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen, systemfremde Normen entstehen aus Wertungen, die innerhalb des Ganzen der Rechtsordnung isoliert bleiben und auch aus sich selbst heraus keine Überzeugungskraft besitzen, und Systemlücken sind die Folge von Wertungslücken. 18. Systembrüche sind mit den Mitteln der „systematischen Auslegung“ und der „systematischen Lückenergänzung“ weitgehend zu beseitigen. Wo dies nicht gelingt, weil Wortlaut und Sinn des Gesetzes, das Gewohnheitsrecht oder ein Rechtsfortbildungsverbot entgegenstehen, bleibt der Ausweg, die systemwidrigen Normen wegen Verstoßes gegen [159] den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz als nichtig anzusehen; denn Systembrüche stellen ex definitione Wertungswidersprüche und damit Verletzungen des Gleichheitssatzes dar. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in der Tat bereits mehrfach in dieser Richtung geäußert. Mit dieser Erkenntnis gewinnt das System im übrigen zugleich unter einem neuen Aspekt praktische Bedeutung. Gleichwohl bleibt ein, wenn auch verhältnismäßig kleiner Restbestand von Systembrüchen, da ein Wertungswiderspruch nicht notwendig immer „Willkür“ i. S. der herrschenden Interpretation des Art. 3 I GG zu bedeuten braucht.
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19. Die unbehebbaren Systembrüche verhindern zwar eine vollständige Ausformung des Systems, lassen dieses aber in den übrigen, von dem Bruch nicht unmittelbar betroffenen Gebieten unberührt und besagen somit nichts Entscheidendes gegen die Verwendbarkeit des Systemgedankens in der Jurisprudenz. Dasselbe gilt grundsätzlich für die Systemlücken, die wesentlich häufiger sind als die Systembrüche. Sie lassen sich zwar teilweise durch wertungsmäßige Verfestigung in das System integrieren, entziehen sich aber andererseits auch über weite Strecken jeder Systematisierung, und zwar insbesondere dort, wo die zugrunde liegende Wertungslücke auf dem Durchbruch der „individualisierenden Tendenz“ der Gerechtigkeit beruht. Hier eröffnet sich ein legitimes Feld für nicht-systemorientierte Denkweisen, insbesondere für die Topik. Zu § 7 20. Das Spezifikum „topischen Denkens” ist entgegen der Ansicht Viehwegs nicht in dem Bezug auf das „Problemdenken“ zu sehen; insbesondere führt das „aporetische Denken“ i. S. Nicolai Hartmanns keineswegs notwendig zur Topik, sondern lediglich zur Offenheit des Systems. Das Charakteristikum der Topik liegt vielmehr darin, daß die Legitimation der jeweils zugrunde zu legenden Prämissen allein auf ἔνδoξα, also auf „die Meinung aller oder der meisten oder der Weisen“, d. h. im wesentlichen auf den „common sense“ gestützt wird. 21. Die Topik ist deshalb mit der juristischen Geltungs- und Rechtsquellenlehre grundsätzlich unvereinbar; denn bei der Rechtsanwendung sind die Prämissen nicht aus der „Meinung aller oder der meisten oder der Weisen“, sondern aus dem geltenden Recht zu legitimieren, und zwar auch und gerade dann, wenn dieses mit jener nicht übereinstimmt. Insbesondere vermag die Topik deshalb kein zutreffendes Kriterium für die Beantwortung der entscheidenden Frage zu bieten, [160] welchem unter mehreren „topoi“, die ihrer Natur nach immer nur Lösungsvorschläge sein können, der Vorrang zuzuerkennen ist; diese Auswahlfunktion kann vielmehr i. d. R. nur das System erfüllen. Diesem Versagen der Topik gegenüber dem Prinzip der Bindung der Rechtsanwendung an das Gesetz entspricht es, daß ihre Anhänger nicht hinreichend zwischen den Aufgaben der Gesetzgebung und denen der Rechtsprechung unterscheiden; sie verkennen vor allem, daß es die Jurisprudenz primär mit dem verstehenden Nachvollzug bereits gesetzter Wertungen, nicht aber mit „topischer“ Prämissenwahl zu tun hat und daß sie demgemäß grundsätzlich eine Lehre vom „richtigen Verstehen“ und nicht eine Lehre vom „richtigen Handeln“ ist. Außerdem ist topisches Denken zu stark am möglichst eng gefaßten Einzelproblem orientiert und läuft dadurch immer Gefahr, das Gebot der inneren Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung zu mißachten.
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22. Vermag somit die Topik die Struktur der Jurisprudenz grundsätzlich nicht zutreffend zu erfassen, so gibt es doch Bereiche, in denen sie gleichwohl eine legitime Funktion zu erfüllen hat. Diese liegen überall dort, wo es an hinreichenden gesetzlichen Wertungen fehlt und wo daher für das Systemdenken kein Raum ist. In diesen ist die Topik teilweise ein bloßer Notbehelf und eine Vorstufe systematischer Verfestigung, teilweise stellt sie aber auch das allein sachgerechte Verfahren dar. Letzteres gilt vor allem dort, wo das Gesetz selbst blankettartig auf den „common sense“ verweist und dem Richter die Festlegung der Maximen „richtigen Handelns“ überläßt, und dort, wo das Gesetz Einbruchsstellen der systemfeindlichen „individualisierenden Tendenz“ der Gerechtigkeit, also der „Billigkeit“ aufweist und deshalb die – der Topik gemäße – Orientierung am Einzelfall fordert. 23. Der Gegensatz zwischen Systemdenken und Topik ist somit kein ausschließender. Vielmehr ergänzen sich beide Denkweisen gegenseitig und durchdringen sich sogar teilweise. [167] Literaturverzeichnis (Die Abkürzungen folgen dem „Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache“ von Hildebert Kirchner, 2. Aufl., Berlin 1968) Arndt, Adolf: Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1983, S. 1273 ff. Bäumlin, Richard: Staat, Recht und Geschichte. Eine Studie zum Wesen des geschichtlichen Rechts, entwickelt an den Grundproblemen von Verfassung und Verwaltung, Zürich 1961. Baumgarten, Arthur: Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode, Tübingen 1922. – Juristische Konstruktion und konstruktive Jurisprudenz, in: Festgabe zum 80. Geburtstag von Paul Speiser, Basel 1926, S. 105 ff. – Grundzüge der juristischen Methodenlehre, Bern 1939. Beling, Ernst: Methodik der Gesetzgebung, insbesondere der Strafgesetzgebung. Zugleich ein Beitrag zur Würdigung des Strafgesetzentwurfs von 1919, Berlin 1922. Betti, Emilio: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967. Binder, Julius: Rechtsbegriff und Rechtsidee. Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers, Leipzig 1915. – Der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, Kantstudien 25 (1920), S. 321 ff. – Philosophie des Rechts, Berlin 1925.
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allgemeines Rechtsbewußtsein 71, 73 Fn. 38, 153, 153 Fn. 89 Altschulden, Haftung für – im Handelsrecht 119, 129, 131 f. Analogie 24 f. Analogieverbot 120, 127
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Anscheinsvollmacht 98 aporetisches Denken 137 f. Applikation (i. S. Gadamers) 65 Fn. 11 argumentum ad absurdum 24 Fn. 26 argumentum e contrario 24 f. argumentum a fortiori 24 f. Aufopferungshaftung 95 f. Auslegung, systematische 14, 90 ff., 116 ff. – verfassungskonforme 130 Fn. 65 außergesetzliche Rechtsordnung 69 ff. Aussetzung (eines Kindes) 118 f. Ausschließlichkeitsanspruch (von Rechtsprinzipien) 53 ff., 80 Axiologie 22 ff., 41 ff. Axiomatik 25 ff., 58 ff. Begriffsjurisprudenz 9, 20 ff., 41, 87 Beschränkung, wechselseitige (von Rechtsprinzipien) 56 Beweglichkeit des Systems 74 ff. Billigkeit 85, 133, 151 Bindung (des Gesetzgebers an den Systemgedanken) 121 ff. – des Rechts an die Gesetze der Logik 22 Fn. 17, 123 Fn. 43 – des Richters an das Gesetz (und Topik) 142 ff. common sense 139 ff., 150 f. Deduktion, formal-logische 26 Drittwirkung der Grundrechte 67, 125 Einheit (der Rechtsordnung) 13 ff., 35 ff., 47, 97 ff., 131 – und Systembegriff 11 ff. Einordnung, systematische 88 ff. Erkenntnis (des Rechts) 72 f. Fernwirkung (der gesetzgeberischen Werturteile) 37
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Folgerichtigkeit 12, 13 ff., 16, 22, 43, 45, 47, 97 ff. Fortbildung des Systems 65 ff., 106 Geltungsproblem 66 ff. mit Fn. 12 und Fn. 36, 142 ff. generalisierende Tendenz (der Gerechtigkeit) 17, 83, 148 f. Generalklauseln 29, 72, 79 f., 81 ff., 133, 152 f. Gerechtigkeit, generalisierende Tendenz 17, 83, 148 f. – individualisierende Tendenz 83 f., 112, 133, 134, 151 – materiale 100, 106 ff. Geschichtlichkeit des Rechts 63 Geschlossenheit, logische 29, 133 – teleologische 29, 133 Gesetzgebung (Bindung an Systemgedanken) 121 ff. – und Topik 146 Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung 32 ff. Gewohnheitsrecht 67, 72 Fn. 36, 117 Fn. 19 a, 119 Gleichheitssatz, allgemeiner 16, 22, 24, 45 f., 83, 100, 116, 121, 134 – verfassungsrechtlicher 125 ff. Grenzen der Systembildung 112 ff. Handlungswissenschaften 145, 147 Hermeneutik 14, 23, 44, 90, 147 f. – topische 148 Fn. 66 Hierarchie 77 immanente Schranken (eines Prinzips) 113 individualisierende Tendenz (der Gerechtigkeit) 83 f., 112, 133, 134, 151 Interessenjurisprudenz 9, 35 ff., 101 ff. Intuition 42 Fn. 119 Inversionsmethode 87
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Körperverletzung (Strafbarkeit des Versuchs) 120 Kollisionslücke 27, 121 ff., 128 mit Fn. 58 a Konkretisierung 29, 57 f., 150, 152 Konstruktionen, gesetzliche 100 ff. – lückenergänzende 95 Kontrolle, teleologische 105 f. Lebensverhältnisse, System der 34 f. Lebenswert des Systems 86 ff. Lebenszusammenhänge 47 Fn. 133 Logik 20 ff., 22 ff. logischer Widerspruch 122 ff. Logistik 25 ff. Lücke 28 f., 95 ff., 133, 150 – unausfüllbare 120 f. Lückenausfüllung, systematische 95 ff., 118 f. Lückenfeststellung, systematische 99 f., 118 f. Natur der Sache 25, 34, 70 f., 98 Fn. 42, 109 Fn. 88, 153 Normlogik 123 Fn. 44 Normwiderspruch 27, 117, 122 Notstand, übergesetzlicher 99 Offenheit des Systems 61 ff., 75 f., 106, 138 Ordnung, axiologische 41 ff., 47 – und Systembegriff 11 ff. – teleologische 41 ff., 47 Persönlichkeitsschutz 99 Pfandrecht (gutgläubiger Zweiterwerb) 102 f. Phänomenologie des Verstehens 15 Polarität (der obersten Rechtswerte) 84, 85 Prinzipiengegensatz 53, 115 f. Prinzipienkombination 114 Prinzipienwiderspruch 27, 53, 59, 112 ff. Problemdenken 136 ff.
Problemzusammenhang 29 ff., 32 ff. Rangverhältnis (zwischen den Auslegungskriterien) 91 Fn. 23 Rechtsanalogie 14, 68 Rechtsbewußtsein, allgemeines 71, 73 Fn. 38, 153 mit Fn. 89 Rechtsfortbildung, richterliche (und Systemwandlungen) 67 ff. Rechtsfortbildungsverbot 119 f. mit Fn. 28 Rechtsgewinnung 86 ff. Rechtsidee 16, 70 f., 109 Fn. 88, 121, 153 Rechtsinstitut, System von -en 50 f. Rechtsprinzipien, allgemeine 25, 46 ff., 52 ff., 68 ff., 99 f., 112 ff., 153 Rechtsquellenproblem 66 ff. mit Fn. 12 und Fn. 36 Rechtsscheinhaftung 94 f., 117 f. Rechtssicherheit 17 f., 19, 82 f., 127 Rechtswerte, oberste 10, 17, 84 f. Reduktion, teleologische 24 f. reine Grundbegriffe, System 20 Rhetorik 140 f., 140 Fn. 24, 141 f., 142 Richterrecht (als Rechtsquelle) 69 f. schadensgeneigte Tätigkeit 107 ff. sensus communis 139 ff. Subsumtion 23 f. Surrogationsprinzip 93 f. System, äußeres 19, 34, 87, 91 – von allgemeinen Rechtsbegriffen 49 f. – axiologisches 42 ff. – axiomatisch-deduktives 25 ff., 87 – der Begriffsjurisprudenz 20 ff. – bewegliches 74 ff. – formal-logisches 20 ff. – inneres 35, 40, 91
Schriften zur Rechtstheorie, Heft 14, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 3−169
–
der Interessenjurisprudenz 35 ff. – von Konfliktsentscheidungen 35 ff. – der Lebensverhältnisse 34 f. – logisches 87 – von Normen 48 f. – objektives 13, 63 ff., 64 f., 65 ff. – offenes 61 ff. – als Problemzusammenhang 29 ff. – von Rechtsinstituten 50 f. – reiner Grundbegriffe 20 – teleologisches 42 ff. – topisches 135 Fn. 1 a – von Werten 51 f. – wissenschaftliches 13, 62 f., 64, 65 ff. systematische Auslegung 14, 90 ff., 116 ff. systematische Einordnung 88 ff. systematische Lückenausfüllung 95 ff., 118 f. systematische Lückenfeststellung 99 f., 118 f. Systembegriff, allgemeiner 11 ff. – der Interessenjurisprudenz 35 ff. Systembildung 32 ff., 65, 112 ff., 130 Systembrüche 112 ff. systemfremde Normen 131 Systemlücken 133 f. Systemrichtigkeit (und materiale Gerechtigkeit) 106 ff. Systemwandlungen 65 ff. Teleologie 22 ff., 41 ff. Theorienbildung 96 f. Tierhalterhaftung 89 f., 92 f., 128 Topik 135 ff. topisches System 135 Fn. 1 a Typenbildung 152
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unausfüllbare Lücken 120 f. verfassungskonforme Auslegung 130 Fn. 65 Verfassungswidrigkeit systemwidriger Normen 125 ff. Vollständigkeit (der Axiome) 26 ff. – als Merkmal des Systembegriffs 12 Fn. 12 Vormerkung (gutgläubiger Zweiterwerb) 104 Wandlungen des Systems 65 ff. Wasserhaushaltsgesetz (Gefährdungshaftung) 120 f., 128 f. Werkunternehmerpfandrecht (gutgläubiger Erwerb) 105 f. Werte, System von 51 f. Wertpapiertheorien 39 f., 89, 96 f. Wertung 22, 23, 41 ff., 46, 50 Wertungsdifferenzierung 113 Wertungsjurisprudenz 41 Wertungslücke 133, 150 Wertungswiderspruch 27, 98 f., 112 ff. Widerspruch (zwischen Axiomen) 130 – (und juristische Systembildung) 130 f. – logischer 122 ff. Widerspruchsfreiheit (eines axiomatischen Systems) 26 f., 59 f. – (der Rechtsordnung) 16 f., 22, 98 f., 112 ff., 130 f. Willkürverbot (und Kollisionslücke) 124 – verfassungsrechtliches 125 ff., 132 Wissenschaftsbegriff, positivistischer 21 Wissenschaftscharakter (der Jurisprudenz) 13 Fn. 16, 14 f., 29 f., 31 mit Fn. 63, 43, 65 Fn. 10 Zirkel, hermeneutischer 90, 100
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Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz
Zusammenspiel (von Rechtsprinzipien) 55 f., 80 Zweckgemeinschaft (zwischen Forderung und dinglicher Sicherung) 101 f.
Theorienrezeption und Theorienstruktur IN: LESER/ISOMURA (HRSG.),
FESTSCHRIFT FÜR ZENTARO KITAGAWA, 1992, S. 59–94 Zu den herausragenden Leistungen, die wir dem Jubilar verdanken, gehört seine Analyse der Rezeption deutscher Theorien im japanischen Recht;1 man kann geradezu sagen, daß er das Phänomen der Theorienrezeption als ein eigenständiges juristisches Problem „entdeckt“ hat.2 Diesen Begriff gebraucht er dabei in einem verhältnismäßig engen und strikten Sinne. Danach sind „bei der Theorien-Rezeption die ,rezipierten fremden Theorien‘ lediglich in das System des inländischen Rechts als ,instituierte‘ Theorien eingebettet worden“;3 das bedeutet, daß „das bestehende Recht von den Juristen ausschließlich nach einer fremden Rechtswissenschaft, von seinen Notenkomplexen wenn nicht vollständig, so doch manchmal in wichtigen Punkten abweichend, umkonstruiert und umgebildet wird“.4 Davon unterscheidet er (bloße) „Schuleinflüsse in der Rechtsvergleichung“; hier „muß die eingeführte Theorie zuerst um die Anerkennung als Theorie kämpfen, als die sie dann zur Rechtsgestaltung des inländischen Rechts beitragen kann“.5 Der Unterschied darf aber nicht überbewertet werden; mit Recht sagt Kitagawa, daß die Ergebnisse seiner Untersuchung „auf wichtige Probleme der Rechtsvergleichung, wie über die Bedeutung und die Grenze von Schuleinflüssen ... übertragen werden können“.6 Man könnte daher wohl auch von einer Theorienrezeption im „starken“ und im „schwachen“ Sinne sprechen und den letzteren Ausdruck für diejenigen Fälle verwenden, in denen eine für ein fremdes Recht entwickelte Theorie für das eigene übernommen wird, ohne dieses von seinen eigenen [60] Normstrukturen abweichend umzubilden – sei es, weil die Theorie 1 Vgl. Kitagawa, Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan, 1970, S. 67 ff. und S. 189 ff. 2 Vgl. zu juristischen „Entdeckungen“ Dölle, Verhandlungen des 42. Deutschen Juristentags, Bd. II/B, 1958, S. 1 ff. 3 Vgl. Kitagawa, a.a.O, S. 189. 4 Vgl. Kitagawa, a.a.O., S. 21; ähnlich ders., in: Coing/Hirano/Kitagawa/Murakami/Nörr/ Oppermann/Shiono (Hrsg.), Die Japanisierung des westlichen Rechts, 1990, S. 126. Die Abhandlungen von Arai über die Übernahme des deutschen Rechtsgeschäftsbegriffs, Rechtstheorie Beiheft Nr. 12 S. 179 ff. und von Takada über die Rezeption des Begriffs „Rechtsstaat“ in Japan, ebenda S. 249 ff. sind erst nach Drucklegung erschienen und konnten daher leider nicht mehr berücksichtigt werden. 5 Vgl. Kitagawa, a.a.O. (Fn. 1), S. 189; ähnlich S. 17. 6 Vgl. Kitagawa, a.a.O., S. 123 f.
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Theorienrezeption und Theorienstruktur
wegen Gleichartigkeit der Normen ohne weiteres paßt, oder sei es, weil sie sich durch eine geringfügige Modifikation unschwer an das eigene Recht anpassen läßt. Das Phänomen der Theorienrezeption im „starken“ Sinne ist geradezu ein Musterbeispiel sowohl für die Faszinationskraft juristischer Theorien als auch für die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Kitagawa hat das an konkreten Beispielen des Rechtslebens, also auf der Grundlage von Empirie und Geschichte, analysiert und beurteilt. Dem Jubilar seien daher im folgenden einige Überlegungen gewidmet, die sich der Problematik gewissermaßen von der anderen Seite her nähern, d. h. von Funktion und Struktur juristischer Theorien ausgehen und von daher die Voraussetzungen sinnvoller Theorienrezeption beleuchten. Da eine solche in spezifischer Weise im Spannungsfeld von Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung steht, sollen ein paar Bemerkungen hierzu angeschlossen werden, zumal sich die Problemfelder in vielfacher Weise berühren und überschneiden. I. Funktion und Struktur juristischer Theorien 1. Theorien als „allgemeine Sätze“ Fragt man nach der Funktion von Theorien, so kann man intuitiv in einer ersten Annäherung sagen, daß diese dazu dienen, Erkenntnisse durch Einordnung in einen allgemeineren Zusammenhang zu gewinnen. So versucht z. B. der Naturwissenschaftler, die Erscheinungen auf Naturgesetze zurückzuführen und dadurch zu erklären. Der Jurist versucht, Normen mit Hilfe spezifisch juristischer, d. h. „dogmatischer“ Begriffe sowie durch ihre Verknüpfung mit allgemeinen Rechtsprinzipien verständlich zu machen. Wenn man sich bei philosophischen Autoritäten vergewissert, bestätigt sich die Annahme, daß es in Theorien um den Bezug auf ein „Allgemeines“ geht. Beispielsweise sagt Kant zu Beginn seiner berühmten Abhandlung „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“: „Man nennt einen Inbegriff ... von praktischen Regeln alsdann Theorie, wenn diese Regeln als Prinzipien in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden“.7 Ähnlich definiert Popper lapidar: „Wissenschaftliche Theorien sind allgemeine Sätze“.8
7 Vgl. Kant, Berlinische Monatsschrift 1793, 201 = Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, S. 275. 8 Vgl. Popper, Logik der Forschung, 9. Aufl., 1989, S. 31.
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2. Die Unentrinnbarkeit juristischen Theoriedenkens a) Da Theorie somit durch den Bezug auf ein Allgemeines bestimmt ist, ist ihre Verwendung unvermeidlich. Schon ein simples „reasoning from case to [61] case“ kommt ohne den Rückgriff auf eine Gemeinsamkeit zwischen den Fällen nicht aus und ist also zu einer gewissen Verallgemeinerung genötigt. Man kann nicht einmal ein „Beispiel“ für irgend etwas geben, ohne (unausgesprochen) zu verallgemeinern; denn ohne einen Gesichtspunkt, der über das Beispiel hinausgeht, kann man überhaupt nicht verstehen, warum und wofür das Beispiel „exemplarisch“ ist. Für den Juristen kommt das elementare Gerechtigkeitsgebot hinzu, Gleiches gleich und Ungleiches nach Maßgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln; der dafür erforderliche Vergleich ist ohne die Heranziehung eines Kriteriums, das über die Fälle hinausgreift und also eine gewisse Allgemeinheit aufweist, von vornherein unmöglich. b) Demgemäß sind juristische Theorien keineswegs ein Spezifikum des deutschen oder des kontinental-europäischen Rechtsdenkens und von ihm beeinflußter Rechtsordnungen wie der japanischen. Vielmehr denken die Juristen auch in den Ländern des case law „theoretisch“ und in diesem Sinne „dogmatisch“. Für die USA hat das vor allem Esser eindrucksvoll dargestellt und dabei insbesondere die Bedeutung von „principles“ und „doctrines“ herausgearbeitet.9 Für das englische Recht kommt Fikentscher zwar zu dem Ergebnis, daß „der Kernbegriff des Rechtsgrundsatzes (principles), auf den zurückgegriffen werden muß, wenn kein Präzedenzfall zur Verfügung steht, in der englischen Fallrechtstheorie praktisch keine Rolle spielt“, doch gilt gleichwohl auch für das englische Recht: „Die Entscheidung eines neuen Falles verlangt stets die Inbeziehungsetzung zweier oder mehrerer früher entschiedener Fälle, und hierin liegt notwendig ein Systemansatz, der sich dann in anderen derartigen Systemansätzen und Teilsystemen zu einem größeren Ganzen zusammenfügt, um die einzelnen Fälle ,orten‘ zu können und das Gebiet lehrbar und begreifbar zu machen“.10 c) Allerdings ist es für das deutsche Rechtsdenken charakteristisch, daß es in besonderem Maße theoriefreudig ist. Das gilt in mehrfacher Hinsicht. Zum einen neigen wir dazu, schon schlichte Auslegungshypothesen, die lediglich das Verständnis von einzelnen Normen zum Gegenstand haben, zu „Theorien“ hochzustilisieren. Man denke etwa an die verschiedenen „Theorien“ zur Interpretation des Merkmals der „Wegnahme“ im Sinne des Diebstahlstatbestandes gemäß 9 Vgl. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl., 1990, S. 183 ff. 10 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. II, 1975, S. 63 bzw. 69; noch weitergehend sagt von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 2. Aufl., 1986, S. 121 geradezu, daß „das common law ,nicht aus besonderen Fällen, sondern aus allgemeinen Prinzipien besteht‘‘‘ (unter Zitierung von Lord Mansfield).
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Theorienrezeption und Theorienstruktur
§ 242 StGB,11 an den Gegensatz von Differenz- und Surrogationstheorie im Rahmen von § 325 BGB oder an den von Herstellungs- und [62] Vertragstheorie bei der Wandelung. Eine solche Begriffsverwendung ist zwar etwas hochtrabend, doch ist grundsätzlich nichts gegen sie einzuwenden, sofern – allerdings auch nur sofern – die betreffende Interpretationshypothese auf der Einordnung der Norm in einen allgemeineren Zusammenhang beruht. Schließlich darf man bei dem Wort „Theorie“ nicht immer nur an das Paradigma der großen physikalischen Theorien denken; auch wer den Schlüssel zur Aufklärung eines Verbrechens in Händen zu haben glaubt, sagt nicht selten, er habe eine „Theorie“ über die Tat und den Täter. Auf der anderen Seite neigt die deutsche Rechtswissenschaft in besonderem Maße zur Entwicklung von Theorien mit sehr großer Abstraktionshöhe und entsprechend weitem Anwendungsfeld. Auch das ist unschädlich, solange man sich bewußt bleibt, daß damit zugleich die praktische Leistungsfähigkeit stark abnimmt. Am fruchtbarsten dürften Theorien „mittlerer Reichweite“12 sein. In der Tat stehen diese heute in Deutschland im Mittelpunkt des Interesses der Zivilrechtswissenschaft – zum einen, weil die „großen“ Theorien für das Privatrecht längst entwickelt worden sind, und zum zweiten und vor allem, weil Theorien mittlerer Reichweite wegen ihrer größeren Sachhaltigkeit dem modernen Drang zum Problemdenken weitaus besser entsprechen.13 Damit geht eine zunehmende Neigung zu sprachlicher Selbstbescheidung einher, auf Grund deren man heute zur Kennzeichnung einer bestimmten Position lieber Worte wie These, Lehre oder dgl. benutzt, wo man früher von Theorie gesprochen hätte. d) Verhältnismäßig theoriefreudig ist auch die deutsche Rechtsprechung, die in ihren Urteilen nicht selten zu theoretischen Kontroversen Stellung nimmt und ihre Begründung u. U. geradezu auf eine bestimmte Theorie stützt. Das ist grundsätzlich nicht tadelns-, sondern im Gegenteil begrüßenswert. Denn da nun einmal jeder, der ein juristisches Problem entscheidet, zwangsläufig eine – mehr oder weniger weitreichende – Theorie hat, sollte dies tunlichst explizit gemacht werden. Das kann zum einen die Entscheidung selbst verbessern, weil dem Richter dadurch die Reichweite und die Folgewirkungen der von ihm zugrunde gelegten rechtlichen Prämissen stärker bewußt werden, und das erleichtert zum anderen die kritische Diskussion über die Entscheidung. Hüten sollten sich die Gerichte allerdings vor der Versuchung, ohne zwingenden Grund ein Bekenntnis zu einer bestimmten Theorie als solcher abzulegen. 11 Vgl. dazu Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, in Recht – Moral – Ideologie, 1981, S. 73 und S. 93f., der hier von einer „interpretativen Theorie“ spricht; ähnlich Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 316. 12 Vgl. dazu Dreier, a.a.O., S. 93. 13 Ähnlich Medicus, Theorien im modernen Zivilrecht, in Wolfgang Thiele, Gedächtnisreden, 1984, S. 42 ff.
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Es handelt sich dabei nämlich u. U. um ein obiter dictum von besonderer Reichweite und Sprengkraft; denn zum einen ist keineswegs immer sicher, daß es für die sachgerechte Lösung des entscheidungserheblichen Problems gerade auf diese Theorie ankommt, und zum anderen kann diese Folgewirkungen für andere Probleme nach sich ziehen, die nicht mitbedacht, ja u. U. noch gar nicht erkannt sind.14 [63] Ebenso unerfreulich kann freilich andererseits die Flucht vor einer theoretischen Festlegung sein, weil dadurch jede Orientierungssicherheit verloren gehen kann; auf ein Beispiel wird noch zurückzukommen sein (vgl. unten II 2 c). Insbesondere ist es mit der Bildung bloßer „Fallgruppen“ nicht getan, so nützlich sie i. d. R. sind. Würde man z. B. nur aufzählen, daß die Lehre von der Drittschadensliquidation die Fallgruppen der mittelbaren Stellvertretung, der obligatorischen Gefahrentlastung, der Obhutspositionen usw. betrifft, so wäre das für sich genommen nichts weiter als eine Anhäufung von Sachverhaltsumschreibungen, die als solche unverständlich bleiben müßte; erst wenn man das Kriterium der zufälligen Schadenverlagerung hinzunimmt und dieses mit der Schadenskumulierung kontrastiert – was ja heute auch allenthalben geschieht15 – erkennt man sowohl den inneren Zusammenhang dieser Fallgruppen als auch ihren spezifischen Unterschied gegenüber anderen Fällen – und befindet sich damit zugleich bereits im Bereich von Theorie und Dogmatik. 3. Der Anwendungs- und Praxisbezug juristischer Theorien a) Ist somit (ein gewisses Minimum von) Theorie für die Entscheidung von Rechtsfällen unerläßlich, so haben juristische Theorien jedenfalls dann, wenn sie rechtsdogmatischer Natur sind16 und also mit dem positiven Recht zu tun haben, grundsätzlich einen Anwendungs- und Praxisbezug. Das folgt im Grunde bereits aus ihrer Funktion, einzelnes in einen allgemeineren Zusammenhang einzuordnen. Denn da rechtliche Entscheidungen, wie gesagt, notwendigerweise Verallgemeinerungen implizieren und das positive Recht die Entscheidungsgrundlage bildet, fördert dessen theoretische Durchdringung zugleich in aller Regel die Rechtsanwendung und -gewinnung. 14 Ein warnendes Beispiel ist etwa die Entscheidung BGHZ 69, 82, 84 f., wo der BGH sich ohne jeden Anlaß und überdies in völliger Verkennung des wissenschaftlichen Diskussionsstandes zur Genehmigungstheorie beim Lastschriftverfahren bekannt hat, ohne deren weitreichende Konsequenzen – etwa für den Fall eines Konkurses des Lastschriftschuldners – zu berücksichtigen; vgl. dazu eingehend Canaris, Bankvertragsrecht, 3. Aufl., 1988, Rdn. 531 ff. 15 Vgl. statt aller Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. I, 14. Aufl., 1987, § 27 IV b. 16 Anders liegt es u. U., wenn sie rechtstheoretischer Natur sind, vgl. dazu Dreier, a.a.O., S. 94 ff.
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In der Tat ist bekanntlich nichts praktischer als eine gute Theorie. Umgekehrt ist eine rechtsdogmatische Theorie, die keine praktischen Konsequenzen hat, meist wissenschaftlich ohne Interesse, ja oft nicht einmal sinnvoll überprüfbar, weil es an Kriterien für ihre Falsifizierung fehlt. Daß eine Ansicht „in der Theorie richtig sein mag, aber für die Praxis nicht taugt“, dürfte zwar auch heute noch einer verbreiteten Vulgärvorstellung entsprechen,17 kann aber in Wahrheit bei rechtsdogmatischen Theorien gar nicht vorkommen; vielmehr muß bei einem solchen Widerspruch entweder die Theorie aufgegeben bzw. geändert [64] oder die Praxis bereinigt werden – wobei auf die Frage, wie das ohne Verstrickung in einen vitiosen Zirkel möglich ist, hier nicht eingegangen werden kann, weil sie weit über den unmittelbaren Gegenstand dieser Abhandlung hinausgeht. Rechtsdogmatische Theorien haben also außer einer erklärenden auch eine heuristische Funktion.18 Diese darf man sich freilich nicht so vorstellen, daß aus der Theorie das „richtige“ Ergebnis rein formal-logisch deduziert werden kann. Das sieht Kitagawa völlig zutreffend, wenn er rechtsdogmatischen Theorien zwar einen heuristischen Wert zubilligt, aber zugleich betont, dies bedeute nicht, „daß die Kasuistik aus der Theorie abgeleitet werden kann“, sondern lediglich, daß diese „mittelbar zur rechtsschöpferischen Tätigkeit des Richters (wie des Gesetzgebers) beitragen kann, indem sich die vereinzelte Kasuistik mit Hilfe der Theorie in durchsichtigen, systematischen Einordnungen niederschlägt“.19 b) Das Zusammenspiel der erklärenden und der heuristischen Funktion sei an dem ebenso altehrwürdigen wie berühmten Theorienstreit um die Entstehung der Verpflichtung aus einem Wertpapier veranschaulicht. Kreation-, Vertragsund Rechtsscheintheorie bemühen sich keineswegs nur um die begriffliche Einordnung des Entstehungsaktes, also um die Frage, ob dieser als einseitiges Rechtsgeschäft, Vertrag oder Realakt zu qualifizieren ist. Außerdem und sogar primär geht es vielmehr darum, eine gedankliche Grundlage dafür zu finden, daß Einwendungen gegen die Verpflichtung aus dem Papier gegenüber späteren Erwerbern grundsätzlich ausgeschlossen sind. Dieses Ziel selbst folgt dabei nicht aus einer der Theorien, sondern liegt diesen logisch voraus; es ist bekanntlich darin begründet, daß Inhaber- und Orderpapiere zum Umlauf bestimmt sind und diese wirtschaftliche Aufgabe nur befriedigend erfüllen können, wenn spätere Erwerber grundsätzlich nicht mit Einwendungen aus der Person eines früheren Inhabers rechnen müssen.
Vgl. auch Zöllner, ZfA 1990, 337. Vgl. dazu eingehend H. Wagner, JuS 1963, 458 ff.; ähnlich z. B. Dreier, a.a.O., S. 83; Podlech, Jb. für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. II (1972), 493 f; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl., 1991, Rdn. 782 ff.; Zöllner, a.a.O., S. 344 f. 19 Vgl. Kitagawa, a.a.O., S. 190 Fn. 24 (Hervorhebung von Kitagawa). 17 18
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Die Verbindung von Vertrags- und Rechtsscheintheorie, die heute von der h. L. vertreten wird,20 sorgt dabei zunächst für die Verträglichkeit der Lösung mit dem System des geltenden Rechts: Die fehlerfreie Begründung der wertpapierrechtlichen Verpflichtung wird in Einklang mit dem – u. a. in § 305 BGB zum Ausdruck kommenden – Grundsatz, daß rechtsgeschäftliche Obligationen nicht durch ein einseitiges Rechtsgeschäft, sondern durch einen Vertrag zustande kommen, auf einen solchen zurückgeführt; und der Schutz späterer Erwerber vor Mängeln dieses Vertrages wird in Übereinstimmung mit den für den gutgläubigen Erwerb beweglicher Sachen geltenden Regeln aus der [65] Einstandspflicht für die Veranlassung eines Scheintatbestandes hergeleitet. Zugleich wird dadurch der materielle Gerechtigkeitsgehalt der Problemlösung verdeutlicht. Es wird nämlich plausibel gemacht, daß derjenige, der ein Wertpapier ohne wirksamen Begebungsvertrag in den Verkehr gelangen läßt, für dessen Einlösung deshalb haftet, weil er durch seine Unterschrift in zurechenbarer Weise eine Vertrauensgrundlage für spätere Erwerber geschaffen hat; indem somit die Prinzipien der Selbstverantwortung und des Vertrauensschutzes als Lösungsgrundlage herangezogen werden, wird auf elementare Rechtsgrundsätze zurückgegriffen und eine Argumentationsbasis geschaffen, die zwar zum einen die Vorgaben des positiven Rechts voll respektiert, zum anderen aber nicht gänzlich in dessen Zufälligkeiten befangen bleibt, sondern zugleich in vor- und überpositivrechtliche Bereiche hineinreicht. Schließlich wird auch ein Rahmen für die Lösung praktischer Einzelprobleme gewonnen. So folgt aus dem Zurechnungsprinzip z. B., daß Geschäftsunfähige und beschränkt Geschäftsfähige nicht haften; denn ihnen fehlt es an der erforderlichen rechtsgeschäftlichen Zurechnungsfähigkeit. Erst recht scheidet eine Haftung grundsätzlich aus, wenn die Unterschrift des (angeblichen) Unterzeichners des Wertpapiers gefälscht ist oder wenn für diesen ein falsus procurator gehandelt hat. Andererseits ist ebenfalls von vornherein klar, daß Einwendungen wie Abhandenkommen des ordnungsmäßig unterschriebenen Papiers, Dissens, Irrtum, Erfüllung usw. dem gutgläubigen Erwerber nicht entgegengesetzt werden können; denn sie lassen die Zurechenbarkeit unberührt. Zweifelhaft ist dagegen z. B. der Fall, daß das Papier unter dem Einfluß einer widerrechtlichen Drohung unterzeichnet worden ist; dieser Mangel schließt die Zurechenbarkeit zwar nicht aus, beeinträchtigt sie aber doch so stark, daß durch eine zusätzliche Wertung geklärt werden muß, ob der Unterzeichner auch hier dem gutgläubigen Erwerber aus dem Papier haftet – was die h. L. bekanntlich bejaht. Die leitenden Prinzipien legen also zwar die Grundzüge der Lösung fest, bedürfen aber u. U. der Ergän-
20 Vgl. dazu Hueck/Canaris, Recht der Wertpapiere, 12. Aufl., 1986, § 3 und § 9; Zöllner, Wertpapierrecht, 14. Aufl., 1987, § 6; Baumbach/Hefermehl, Wechsel- und Scheckgesetz, 17. Aufl., 1990, WPR Rdn. 25 ff.
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zung durch zusätzliche Wertungsgesichtspunkte.21 – Auch das Rechtsscheinprinzip enthält wichtige Vorgaben für die Entscheidung der praktischen Probleme. So ergibt sich aus ihm z. B. ohne weiteres, daß Bösgläubige nicht geschützt werden; dagegen folgt aus ihm nicht, ob unter Bösgläubigkeit nur positive Kenntnis der wahren Rechtslage oder auch (ein bestimmter Grad von) Fahrlässigkeit zu verstehen ist. Auch bei subtileren Fragen, für deren Beantwortung das Gesetz keinen Anhaltspunkt enthält, läßt sich das Rechtsscheinprinzip fruchtbar machen. Zu denken ist etwa an die Behandlung schwer erkennbarer Formmängel wie den Fall, daß das Wort „Wechsel“ nur in der Überschrift und nicht im Text der Urkunde steht – was nach Art. 1 Nr. 1 WG Nichtigkeit zur Folge hat; hier ist dem Erwerber nach richtiger Ansicht auch dann, wenn man seine Unkenntnis von dem Formmangel nicht als grob fahrlässig qualifiziert, der Vertrauensschutz zu versagen, weil die [66] Einwendung aus der Urkunde selbst hervorgeht und es also an einem objektiven Scheintatbestand fehlt. 4. Paradigmatische Problemlösungen als integrierender Bestandteil juristischer Theorien a) Eingangs sind Theorien im Anschluß an Popper als „allgemeine Sätze“ gekennzeichnet worden. Fruchtbar gemacht worden ist im bisherigen Verlauf der Erörterungen jedoch nur das Merkmal der Allgemeinheit. Dagegen ist noch nicht zur Sprache gekommen, was es bedeutet, daß eine Theorie ein „Satz” ist. Nach herkömmlicher Ansicht ist das dahin zu verstehen, daß eine Theorie ein System von Aussagen darstellt – eine Vorstellung, von der auch in der juristischen Methodenlehre mit Selbstverständlichkeit ausgegangen wird.22 Von diesem Ausgangspunkt aus dürfte sich indessen das komplexe Verhältnis zwischen einer juristischen Theorie und ihrer praktischen „Anwendung“, wie es soeben veranschaulicht worden ist, ebenso wenig adäquat begreifen lassen wie die nicht weniger komplexe Wechselwirkung zwischen der Aufstellung abstrakter Sätze und der Gewinnung konkreter Ergebnisse bei der – hier nicht näher zu erörternden – Entwicklung und Überprüfung einer juristischen Theorie. Es ist nämlich nicht einsichtig, wie aus einem bloßen System von Aussagen auf andere Weise als im Wege logischer Deduktion Schlußfolgerungen sollen gezogen werden können – und genau dieser Weg ist in der Jurisprudenz nach aller Erfahrung nicht oder allenfalls ausnahmsweise gangbar.
21 Vgl. dazu näher Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl., 1983, S. 57 f. 22 Vgl. z. B. Dreier, a.a.O., S. 82; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., 1983, S. 433; Alexy, in: Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990, S. 97.
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b) Wesentlich fruchtbarer erscheint für die Jurisprudenz eine neuartige Theorienkonzeption, die auf den amerikanischen Wissenschaftsphilosophen Sneed zurückgeht23 und von dem deutschen Wissenschaftsphilosophen Stegmüller wesentlich ausgebaut worden ist.24 In den USA bezeichnet man sie als den „nonstatement-view“, in Deutschland als das „strukturalistische Theorienkonzept“. Ausgangspunkt sind Untersuchungen zur Physik gewesen. Dabei hat sich gezeigt, daß z. B. die Theorie Newtons (klassische Partikelmechanik) bei unmodifizierter Anwendung zu völlig unsinnigen Aussagen führen würde; Stegmüller hat das drastisch dahin formuliert, man müsse zu der Konsequenz kommen, daß Newton nicht nur als Metaphysiker, sondern auch als Physiker verrückt gewesen sei.25 Der Unsinn verschwindet jedoch sofort, wenn man die Anwendungsfälle hinzunimmt, auf die Newton seine Theorie bezogen hat; man darf diese also nicht allein aus den in ihr enthaltenen abstrakten Elementen interpretieren, sondern muß zugleich im Auge behalten, daß sie zur Erklärung [67] bestimmter Erscheinungen dient: des Sonnensystems, der Pendelbewegungen, der Gezeiten, des freien Falls von Körpern in Erdnähe. Die Anhänger des neuen Theorienkonzepts ziehen aus ihren Einsichten eine doppelte Konsequenz: Sie fordern den Abschied von der Illusion, daß man den Anwendungsbereich einer Theorie durch vollständige Bestimmung aller notwendigen und hinreichenden Bedingungen festlegen könne; statt dessen erheben sie die „intendierten Anwendungen“ zum Bestandteil der Theorie selbst und ermitteln etwaige neue Anwendungen durch ihre Ähnlichkeit mit den „paradigmatischen Beispielen“.26 Schon Sneed hat sich dabei auf Wittgenstein berufen und dessen Gedanken der „Familienähnlichkeit“ herangezogen; Wittgenstein erläutert den Gebrauch des Wortes „Spiel“ in einem ersten Schritt durch Beispiele und legt in einem zweiten Schritt fest, daß alles „Spiel“ heißen soll, was mit jenen hinreichende Ähnlichkeit hat.27 Auch zur Sprachphilosophie Putnams dürften sich (trotz ihrer Unterschiede gegenüber derjenigen Wittgensteins) unschwer fruchtbare Beziehungen herstellen lassen, da auch er die Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen weitgehend durch Paradigmata ersetzen will,28 doch ist eine 23 Vgl. Sneed, The Logical Structure of Mathematical Physics, 1971 (2. Aufl., 1979), insbesondere S. 154 ff. 24 Vgl. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Bd. II/3, 1986, passim. 25 Vgl. Stegmüller, Kripkes Deutung der Spätphilosophie Wittgensteins, 1986, S. 133. 26 Vgl. Stegmüller, a.a.O. (Fn. 24), S. 2, 26 ff., 46 f.; ähnlich z. B. Balzer, Empirische Theorien: Modelle – Strukturen – Beispiele, 1982, S. 28 ff.; Balzer/Moulines/Sneed, An Architectonic for Science, 1987, S. 37 ff. 27 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1958, Nr. 66 ff. 28 Vgl. Putnam, Mind, Language and Reality (Philosophical Papers 2), 1975, insbesondere S. 198 ff. und S. 215 ff.; vgl. auch ders., Realism and Reason (Philosophical Papers 3), 1983, insbesondere S. 46 ff., 69 ff., 271 ff.
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Vertiefung dieser sprachphilosophischen Zusammenhänge nicht Aufgabe der vorliegenden Abhandlung. Für den Juristen springt die Fruchtbarkeit des „strukturalistischen“ Theorienkonzepts sofort ins Auge,29 da die Bildung von paradigmatischen Fallgruppen und das Ziehen von Ähnlichkeitsschlüssen ja geradezu unser tägliches Brot sind.30 Auf einmal ist das nicht mehr ein bloßer Notbehelf, an dem sich die wissenschaftliche „Rückständigkeit“ unserer Disziplin zeigt, sondern ein notwendiger Teil der Theoriebildung selbst, ohne den sogar das Musterbeispiel der strengen Wissenschaften, die Physik, nicht auskommt.31 [68] Übrigens ist dieser Zusammenhang von Fallgruppenbildung und Theorie aus der Sicht der modernen Hermeneutik, durch die die deutsche Jurisprudenz in den letzten Jahrzehnten unter dem Einfluß von Heidegger und Gadamer nachhaltig geprägt worden ist, weniger überraschend, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn wir entwerfen ja Theorien (jedenfalls auch) zum Zwecke der Lösung von Fällen, und daher muß es auch hier zu jenem berühmten „Hin- und -Herwandern des Blickes“32 kommen, das die Hermeneutik für das Verhältnis von Norm und Fall so intensiv beschäftigt hat. Nicht nur die Theorie trägt also zur Lösung des Falles bei, sondern dessen mögliche oder erwünschte Lösung wirkt auch ihrerseits auf die Ausformung der Theorie zurück. In Anlehnung an ein berühmtes Wort Kants kann man sagen: Ohne Theorie ist Falldenken „blind“, ohne Fallgruppen sind Theorien „leer“. c) Allerdings bedarf es noch einer Präzisierung dessen, was in der Jurisprudenz die „intendierten Anwendungen“ einer Theorie sind. Nach dem soeben Gesagten liegt es nahe anzunehmen, das seien die Fallgruppen. Indessen zeigt schon die Verwendung des Wortes Gruppe, daß es nicht um die Fälle als solche geht, sondern diese vielmehr bereits irgendwie geordnet sind. Demgemäß weisen sie eine Gemeinsamkeit auf, die für ihre Entscheidung wichtig ist. Diese Gemeinsamkeit ist es, die ihrerseits das für die betreffende Fallgruppe spezifische Problem konstituiert. Wesentlich ist also letztlich nicht der Fall selbst, sondern das Problem, das in ihm sichtbar wird. Dieses erkennen wir freilich oft erst durch den 29 Vgl. schon Canaris, Festschr. für Giger, 1989, S. 116 ff; siehe ferner Schlapp, Theorienstrukturen und Rechtsdogmatik, 1989, S. 122 ff., dessen Hauptinteresse indessen der Formulierbarkeit juristischer Theorien mit den Mitteln der Mengenlehre gilt; darauf kann hier nicht eingegangen werden, doch sei immerhin betont, daß die verschiedenen Komponenten des strukturalistischen Theorienkonzepts unabhängig voneinander sind und nicht in toto akzeptiert zu werden brauchen, vgl. Stegmüller, a.a.O., S. 3 und 31. 30 Vgl. dazu statt aller A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 2. Aufl., 1982, passim. 31 Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. die Skepsis von Medicus, a.a.O. (Fn. 13), S. 57 gegenüber der Leistungsfähigkeit juristischer Theorien auf Grund ihres – natürlich nach wie vor völlig unbestreitbaren – Präzisionsdefizits im Vergleich zu physikalischen Theorien. 32 Das Bild stammt von Engisch, vgl. Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., 1963, S. 15, 26, 33.
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Vergleich mit anderen ähnlichen oder gegensätzlichen Fällen – und so kommt es dann zur Bildung von Fallgruppen. Bestandteil der Theorie sind demgemäß nicht die einzelnen Fälle im Sinne konkreter Lebenssachverhalte und Rechtsstreitigkeiten,33 sondern die Problemlösungen. Diese sind als die „intendierten Anwendungen“ der Theorie anzusehen. Das verdient deshalb Hervorhebung, weil unter den Anhängern des „strukturalistischen Theorienkonzepts“ noch keine endgültige Klarheit darüber zu bestehen scheint, ob unter „intendierten Anwendungen“ individuelle Anwendungen oder Anwendungsarten zu verstehen sind34 – im Beispiel der Theorie Newtons also z. B. einzelne Pendelbewegungen oder die Pendelbewegung als solche. Für die Jurisprudenz ist nur die Orientierung am Problem und nicht die am Einzelfall fruchtbar, weil nur so die gesuchte Gemeinsamkeit in den Blick kommt und die Verallgemeinerung in Richtung auf eine Theorie möglich wird. Extreme Anhänger der Hermeneutik behaupten allerdings, daß sich das Rechtssystem mit jeder neuen Anwendung einer Norm ändert35 – also mit jeder [69] einzelnen Fallentscheidung. Darin liegt jedoch eine Verabsolutierung des hermeneutischen Ansatzes und des Fallrechtsdenkens, die durch die Realität juristischen Denkens nahezu tagtäglich widerlegt wird. Denn auch wenn „jeder Fall anders ist“, wie man oft sagt, folgt diese Andersartigkeit doch meist lediglich aus der Kombination der Fragen; daß ein wirklich neues Problem sichtbar wird, ist nach aller Erfahrung eine ziemlich seltene Ausnahme. Wird z. B. die wertpapierrechtliche Rechtsscheintheorie auf einen weiteren Fall des Abhandenkommens eines unterschriebenen Wechsels oder die Lehre von der Drittschadensliquidation auf einen weiteren Fall des Handelns für fremde Rechnung angewandt – um bei den bisher verwendeten Beispielen zu bleiben –, so stellt das weder eine Anreicherung der Theorie noch eine Änderung des Rechtssystems dar. Anerkennt man dagegen etwa eine Rechtsscheinhaftung desjenigen, der die Verfälschung eines Wechsels durch unsorgfältige Ausfüllung erleichtert hat,36 oder läßt man eine Drittschadensliquidation beim Finanzierungsleasing zu, wenn der Lieferant seine Leistungspflichten aus dem Vertrag mit dem Leasinggeber verletzt hat,37 so handelt es sich um die Lösung eines weiteren Problems, die zugleich eine Präzisierung des Anwendungsbereichs
Anders Schlapp, a.a.O., S. 72 f., 120, 138 ff., 144 f. und öfter. Vgl. dazu Stegmüller, a.a.O., S. 30, 47 f. 35 In diesem Sinne z. B. Hassemer, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1974, S. 177; ihm folgend Schlapp, a.a.O., S. 72 f. 36 Das lehnt der BGH entgegen der nahezu einmütigen Ansicht des Schrifttums ab, vgl. BGHZ 47, 95, 101; BGH NJW 1986, 2834 ff.; kritisch dazu Canaris, JZ 1987, 543 ff. 37 Vgl. Canaris, Bankvertragsrecht, 2. Aufl., 1981, Rdn. 1794; das Problem stellt sich allerdings nur, wenn man den Leasinggeber nicht schon nach § 278 BGB gegenüber dem Leasingnehmer für die Pflichtverletzung des Lieferanten einstehen läßt, vgl. dazu Canaris, AcP 190 (1990), 432 f. 33 34
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der betreffenden Doktrin bedeutet und das geltende Recht – verstanden i. S. des law in action – fortentwickelt. Hinzu kommt, daß die Entscheidung eines Falles auch falsch sein kann. Dann ändert sie das Rechtssystem grundsätzlich nicht einmal dann, wenn in dem Fall ein neues Problem zutage getreten ist. Demgemäß hat der konkrete Einzelfall für die Jurisprudenz nicht dieselbe Bedeutung wie für die Naturwissenschaften. Denn wenn eine naturwissenschaftliche Theorie auch nur in einem einzigen Fall wirklich versagt, ist sie falsifiziert oder doch zumindest mit einem neuen Problem konfrontiert. In unserer Disziplin ist es dagegen ebensogut möglich, daß der Richter den Fall lediglich falsch entschieden oder das Problem verkannt hat. d) Auch wenn man nicht die Einzelfallentscheidungen, sondern die Problemlösungen als Bestandteil der Theorie ansieht, kann das doch auch für diese nicht schlechthin und ausnahmslos gelten. Manche Problemlösungen verhalten sich nämlich gegenüber der Theorie neutral oder indifferent; ein Beleg ist etwa das oben erwähnte Beispiel der unter dem Einfluß einer widerrechtlichen Drohung erfolgten Wechselzeichnung, für dessen Behandlung die Rechtsscheintheorie nichts oder zumindest nur sehr wenig hergibt. Andere Probleme sind so peripher, daß ihre Lösung ebenfalls nicht als konstitutiv für die betreffende Theorie angesehen werden kann; das trifft z. B. wohl für die Frage zu, ob bei [70] Zeichnung eines Wechsels durch einen Minderjährigen oder einen falsus procurator schwebende Unwirksamkeit und damit Genehmigungsfähigkeit nach §§ 107, 177 BGB eintritt, wie das vom Boden der Vertragstheorie aus selbstverständlich ist, oder ob man statt dessen unheilbare Unwirksamkeit nach §§ 111, 180 BGB anzunehmen hat, wie das an sich in der Konsequenz der Kreationstheorie liegen würde.38 Dagegen sind andere Problemlösungen schlechthin zentral. Würde das geltende Recht etwa auch Bösgläubige gegenüber Mängeln der wertpapierrechtlichen Verpflichtungserklärung schützen, wäre für die Rechtsscheintheorie offenkundig von vornherein kein Raum; würde das Gesetz auch denjenigen aus einem Wertpapier haften lassen, dessen Unterschrift gefälscht worden ist (und der keinen Anlaß zu Vertrauen auf deren Echtheit gegeben hat), so ließe sich das Prinzip der Zurechnung und Selbstverantwortung im vorliegenden Zusammenhang nicht heranziehen. Solche zentralen Problemlösungen kann man als paradigmatisch bezeichnen. Sie sind es zum einen in dem Sinne, daß man die Theorie letztlich nur vor ihrem Hintergrund verstehen kann, und zum anderen auch in dem Sinne, daß sie als Leitbild für die Lösung anderer Probleme dienen, die man bei der Entwicklung der Theorie u. U. gar nicht im Auge gehabt hat. Daß „die Casuistik weder eine Wissenschaft noch ein Teil derselben ... und nicht systematisch in sie verwebt, 38 Diese weigern sich allerdings z. T., diese Konsequenz zu ziehen, vgl. Ulmer, Das Recht der Wertpapiere, 1938, S. 49.
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(sondern) nur gleich den Scholien zum System hinzugetan ist“, wie Kant hinsichtlich der Ethik angenommen hat39 und wie es auch heute noch einer verbreiteten Ansicht entsprechen dürfte, trifft somit in dieser Allgemeinheit vom hier vertretenen Standpunkt aus nicht zu. e) Selbstverständlich erschöpft sich eine Theorie nicht in den „intendierten Anwendungen“ bzw. den „paradigmatischen Problemlösungen“. Auch auf der Grundlage dieses Theorienkonzepts bleibt vielmehr ein System von Aussagesätzen (zusätzlich) erforderlich. Davon kann man freilich in der Jurisprudenz nur in einem schwachen Sinne des Wortes sprechen. Meist gelingt uns nämlich nicht mehr als die Aufstellung einer bloßen Regel. Das Charakteristikum einer Regel liegt darin, daß sie Ausnahmen zuläßt und daß sich diese nicht im voraus abschließend festlegen lassen – was wir mit der für Juristen charakteristischen Einschränkung „grundsätzlich“ zum Ausdruck zu bringen pflegen. Auch hier kann man allerdings mit guten Gründen bezweifeln, ob das eine Eigentümlichkeit und eine spezifische Schwäche gerade der juristischen Theoriebildung ist; denn die Anhänger des „strukturalistischen“ Theorienkonzepts vertreten auch für physikalische Theorien den Standpunkt, daß die Menge der potentiellen Anwendungen „offen“ ist und einzelne intendierte Anwendungen aus der Theorie wieder herausgenommen werden können, ohne diese selbst aufzugeben.40 [71] Die Regel wird ihrerseits letztlich stets aus Wertungen gewonnen, weil alles juristische Denken in teleologischen Erwägungen wurzelt. Gemeint sind dabei nicht subjektive Wertungen des jeweiligen Rechtsanwenders, sondern solche des objektiven Rechts, wobei auf das dabei entstehende schwierige Abgrenzungsproblem hier nicht eingegangen werden kann. Demgemäß kann man sowohl die Regel als auch deren „intendierte Anwendungen“ nur aus dem Bezug auf die zugrundeliegende Wertung wirklich verstehen. Es empfiehlt sich daher, auch die fundamentale Wertung mit in die Theorie aufzunehmen. Dabei wird es sich meist um mehrere Grundwertungen handeln, da sich im Recht normalerweise gegensätzliche Interessen gegenüberstehen und man diese nur mit Hilfe von mehreren Wertungen zum Ausgleich bringen kann. Ohne daß im vorliegenden Zusammenhang eine weitere Vertiefung möglich und erforderlich ist,41 sei zusammenfassend die These aufgestellt: Eine rechts-
39 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, 1797, XVII Anm. = Akademieausgabe, Bd. VI, S. 411. 40 Vgl. Stegmüller, a.a.O. (Fn. 24), S. 28, 47. 41 Eingehender habe ich diese Problematik, insbesondere auch die der Falsifikation juristischer Theorien, in einem Vortrag untersucht, den ich am 6. 12. 1990 vor der juristischen Fakultät der Universität Lissabon gehalten habe; eine Veröffentlichung in portugiesischer Sprache ist in Vorbereitung, eine deutsche Parallelveröffentlichung hoffe ich in absehbarer Zeit vorlegen zu können.
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dogmatische Theorie ist eine Trias aus Grundwertung(en), Regel(n) und paradigmatischen Problemlösungen. 5. Konsequenzen für Theorienrezeption und Systembildung a) Vom Boden einer Konzeption aus, für die zu den integrierenden Bestandteilen einer Theorie paradigmatische Problemlösungen gehören, muß die Rezeption von ,,,instituierten‘, fremden Theorien ohne Kasuistik“42 von vornherein als ein heikles Unterfangen angesehen werden. Denn da die Problemlösungen in erster Linie aus dem Recht des Rezeptionslandes zu entwickeln sind und jedenfalls mit diesem vereinbar sein müssen, kann es dabei leicht zu Friktionen und Diskrepanzen kommen – sei es, daß die Theorie nur dem Buchstaben nach in das Arsenal der Dogmatik übernommen wird, praktisch aber ohne Folgen bleibt und daher letztlich nicht wirklich assimiliert wird,43 sei es, daß sie gewissermaßen zweckentfremdet und zur Lösung von Problemen eingesetzt wird, für die sie nicht gemacht und daher möglicherweise auch nicht geeignet ist, oder sei es gar, daß sie zu einer Über- und Umformung der rezipierenden Rechtsordnung contra legem führt. Dem entspricht es, wenn [72] Kitagawa in seiner Analyse zu dem Ergebnis kommt: „Die Theorien-Rezeption in Japan bietet somit ein typisches Beispiel dafür, daß die Begriffsjurisprudenz im scharfen Gegensatz zum Gesetzespositivismus stehen kann, obwohl beide manchmal gleichgesetzt werden“.44 In der Tat muß es mehr oder weniger zwangsläufig zu einem solchen Gegensatz kommen, wenn „das bestehende Recht von den Juristen ausschließlich nach einer fremden Rechtswissenschaft, von seinen Normkomplexen wenn nicht vollständig, so doch manchmal in wichtigen Punkten abweichend, umkonstruiert und umgebildet wird“.45 Darüber hinaus kann sogar im Herkunftsland einer Theorie ein Konflikt zwischen dieser und dem geltenden Recht entstehen, bei dem sich eine begriffsjuristische und eine gesetzespositivistische Position gegenüberstehen. Ein auch heute noch aktuelles Beispiel hierfür ist in Deutschland der Streit um die Rechtsnatur der Feststellung eines Kontokorrentsaldos gemäß § 355 HGB. Der BGH folgt insoweit der Novationstheorie, die bezeichnenderweise während der Hochblüte Vgl. Kitagawa, a. a. O, (Fn. 1), S. 191. Kitagawa unterscheidet die Assimilation von der Rezeption, vgl. a.a.O., S. 21; anders z. B. Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, 1966, S. 89 ff., und ders., Rezeption als sozialer Prozeß, 1981, S. 13 ff., 120 ff.; vgl. dazu ferner Papachristos, La réception des droits privés étrangers comme phénomène de sociologie juridique, 1975, S. 109 ff.; Tzouganatos, Zur Rezeption fremden Rechtsguts im Bereich des Wirtschaftsrechts, 1983, S. 58 ff. 44 Vgl. Kitagawa, a.a.O., S. 193. 45 Vgl. Kitagawa, a.a.O., S. 21. 42 43
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der Begriffsjurisprudenz in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstanden ist, und nimmt demgemäß an, daß die Saldofeststellung die alten Forderungen zum Erlöschen bringt und durch eine neue Forderung ersetzt.46 Dagegen beurteilt die h. L. die Frage, ob und inwieweit jene untergegangen sind, nach dem wirklichen oder mutmaßlichen Parteiwillen gemäß § 366 BGB und qualifiziert die Saldofeststellung als Schuldanerkenntnis i. S. von § 781 BGB, auf Grund dessen gemäß § 364 II BGB eine zusätzliche „abstrakte“ Saldoforderung neben die – fortbestehende – „kausale“ Saldoforderung tritt.47 Der BGH setzt sich also einer Theorie zuliebe über zwei gesetzliche Vorschriften – nämlich § 366 BGB und § 364 II BGB – hinweg und mißachtet außerdem die Wertung von § 356 HGB; denn diese Vorschrift, nach der die Saldofeststellung den Fortbestand von Sicherheiten grundsätzlich nicht berührt, ist nachweisbar gerade mit dem Ziel eingeführt worden, eine besonders unsinnige Konsequenz der Novationstheorie – nämlich das Erlöschen von Sicherheiten durch die Saldofeststellung – zu verhindern, und stellt daher eine klare Absage des Gesetzgebers an die Novationstheorie dar. Daß der BGH noch bis in die jüngste Zeit praktische Fragen allein auf Grund der Novationstheorie entschieden hat,48 stellt ein beredtes Zeugnis sowohl für die Wirkungsmächtigkeit rechtsdogmatischer Theorien als auch für die Zählebigkeit eines überholten, weil begriffsjuristischen statt problemorientierten Theorieverständnisses dar. [73] b) Andererseits kann eine Theorienrezeption natürlich auch glücken. Kitagawa hat das ebenfalls an Hand von Beispielen demonstriert.49 Am günstigsten sind die Voraussetzungen hierfür naturgemäß, wenn die gesetzliche Regelung und die zu lösenden Probleme in beiden Ländern im wesentlichen übereinstimmen, doch kann es zu einer geglückten Theorienrezeption auch schon dann kommen, wenn die Rechtsordnung des Rezeptionslandes zu den einschlägigen Fragen lediglich schweigt und es somit eine der Theorie entgegenstehende Regelung nicht gibt. Sie ohne nähere Prüfung der mit ihr verbundenen Kasuistik, also der zu ihr gehörenden paradigmatischen Problemlösungen, zu übernehmen, wäre freilich ein riskantes Unterfangen, das im besten Falle zu einem „Zufallstreffer“ führen könnte, doch wird das heute angesichts des weltweiten Vordringens einer problemorientierten Jurisprudenz wohl nicht mehr vorkommen.
Vgl. z. B. BGHZ 50, 277, 279 m. Nachw.; 93, 307, 313. Vgl. Canaris, DB 1972, 421 ff. und 469 ff.; Capelle/Canaris, Handelsrecht, 21. Aufl., 1989, § 25 III und IV m. umf. Nachw. 48 Vgl. z. B. BGHZ 58, 257 zur Ersatzaussonderung gemäß § 46 KO bei Einzahlung von fremdem Bargeld auf ein Kontokorrentkonto und dazu kritisch Canaris, Bankvertragsrecht, a.a.O., Rdn. 506 f.; BGHZ 93, 307, 313 zur Behandlung von Posten aus unverbindlichen Börsentermingeschäften und dazu kritisch Canaris, ZIP 1985, 593 f. und ZIP 1987, 885 ff. 49 Vgl. Kitagawa, a.a.O. (Fn. 1), S. 82 f., 191 f. und a.a.O. (Fn. 4), S. 127. 46 47
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Voraussetzung einer geglückten Theorienrezeption ist im übrigen keineswegs notwendigerweise, daß auch die rezipierende Rechtsordnung selbst aus dem betreffenden Mutterrecht rezipiert worden ist. Denn angesichts der Ähnlichkeit vieler Regelungen und Probleme in unterschiedlichen nationalen Rechten ist es ohne weiteres vorstellbar, daß eine Theorie für mehrere Rechtsordnungen paßt oder sich schon durch geringfügige Modifikationen an ein fremdes Recht anpassen läßt. Eine rechtsdogmatische Theorie ist gewissermaßen ein „frei schwebendes sprachlich gefaßtes Immaterialgut“,50 für dessen Aneignung allein ausschlaggebend ist, ob die leitenden Wertungsgesichtspunkte übereinstimmen und ob die paradigmatischen Problemlösungen sich als adäquat erweisen. c) Auch wo eine Theorie nicht als ganze rezipiert wird oder werden kann, lassen sich u. U. Teilelemente übernehmen. Das gilt vor allem für die begrifflichen Kategorien und dogmatischen Figuren, die sie bereitstellt. Die erklärende Funktion einer Theorie läßt sich somit auch dann u. U. nutzbar machen, wenn das für ihre heuristische Funktion nicht möglich ist.51 Mit Recht unterscheidet daher Kitagawa zwischen der Prägung des juristischen Begriffsapparates durch die Theorienrezeption einerseits und der Lösung konkreter Probleme bzw. der Entscheidung praktischer Fälle andererseits.52 d) Demgemäß kann Theorienrezeption auch zur Systembildung im Rezeptionsland beitragen. Allerdings wird auch diese durch paradigmatische Problemlösungen mitgeprägt. Ich habe seinerzeit vorgeschlagen, das System einer Rechtsordnung mit Hilfe seiner grundlegenden Prinzipien darzustellen,53 von [74] diesen aber zugleich gesagt, daß sie ,,ihren eigentlichen Sinngehalt erst in einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung entfalten“.54 Daran ist unbefriedigend, daß folgerichtig auch dieses Zusammenspiel selbst in die Darstellung des Systems aufgenommen werden müßte; denn natürlich wird das System einer Rechtsordnung nicht allein durch die – isoliert gesehenen – Prinzipien, sondern zugleich durch die Art und Weise ihres Zusammenwirkens bestimmt. Dieser Mangel läßt sich beheben, indem man die für die Theoriebildung gewonnenen Einsichten auf die Systembildung überträgt: Da das Zusammenspiel der Prinzipien sich in paradigmatischen Problemlösungen konkretisiert, sind diese neben jenen als zweites fundamentales und integrierendes Element des Systems anzusehen. Diese Sichtweise hat zugleich den Vorzug, daß dadurch eine organi50 So der treffende, allerdings nicht speziell auf Theorien bezogene Ausdruck von Hirsch, Rezeption, a.a.O. (Fn. 43), S. 126. 51 Vgl. zu diesen beiden Funktionen oben bei Fn. 18. 52 Vgl. Kitagawa, a.a.O., S. 86 und 93. 53 Vgl. Canaris, Systemdenken, a.a.O. (Fn. 21), S. 46 ff.; ähnlich z. B. Larenz, a.a.O. (Fn. 22), S. 456 ff.; F. Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, 1988, S. 301 ff.; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 4. Aufl., 1988, S. 68 f. 54 Vgl. a.a.O., S. 55 f.
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sche Verbindung von Systembildung und Problemdenken hergestellt wird – ein Ziel, an dessen Verwirklichung ersichtlich auch der Jubilar arbeitet.55 II. Bemerkungen zum Verhältnis von Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung Theorien haben offenkundig etwas mit Rechtsdogmatik zu tun, ja es ist im Vorstehenden wiederholt geradezu von „rechtsdogmatischen“ Theorien die Rede gewesen – übrigens im Einklang mit dem Sprachgebrauch Kitagawas.56 Die Rezeption von Theorien setzt ihrerseits Rechtsvergleichung voraus. Die Thematik der Theorienrezeption betrifft daher zwangsläufig auch das Verhältnis von Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung. Dieses ist in Deutschland nicht immer ganz frei von gewissen wechselseitigen Irritationen. Demgegenüber vertritt der Jubilar auch insoweit eine sehr ausgewogene Position, die beiden Fächern ihre spezifische und unterschiedliche Stellung zuerkennt.57 Daher seien auch zu dieser Seite des Themas noch einige Bemerkungen gewagt – naturgemäß aus der Sicht eines Rechtsdogmatikers. 1. Kennzeichen von Rechtsdogmatik und Angriffe aus rechtsvergleichender Sicht Was unter Rechtsdogmatik genau zu verstehen ist, läßt sich angesichts des z. T. sehr kontroversen Meinungsbildes58 derzeit nicht bis in alle Einzelheiten feststellen. Es seien daher nur einige wenige Kennzeichen genannt, da das für die Zwecke der vorliegenden Abhandlung ausreicht. [75] a) Zunächst kann man sagen, daß „Rechtsdogmatik sicher mit dem geltenden Recht und seiner Anwendung zu tun hat“.59 Dieser spezifische Geltungs- und Anwendungsbezug im Hinblick auf das positive Recht (im weiten Sinne, nicht nur im Sinne der lex scripta) unterscheidet sie von anderen juristischen Disziplinen wie Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, Rechtsgeschichte und auch Rechtsvergleichung. 55 Vgl. den Hinweis von Kitagawa, a.a.O. (Fn. 4), S. 141 Fn. 46; vgl. ferner schon ders., Rechtssoziologisches zum Problem- und Systemdenken im japanischen Vertragsrecht, 1. Festschr. für Larenz, 1973, S. 305 ff, insbesondere S. 328. 56 Vgl. Kitagawa, a.a.O. (Fn.1), S. 190 mit Fn. 24. 57 Vgl. Kitagawa, a.a.O., S. 105 ff. zur Rechtsvergleichung und S. 183 ff. zur Rechtsdogmatik; vgl. auch schon ders., AcP 166 (1966), 330 ff., insbesondere S. 341 f. 58 Vgl. dazu z. B. Alexy. a.a.O. (Fn. 11), S. 307 ff; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 8 ff. 59 So die – mit Recht vorsichtige – Formulierung von F. Bydlinski, Gedanken über Rechtsdogmatik, Festschr. für Floretta, 1983, S. 3.
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Daß Rechtsdogmatik für Rechtspolitik und Gesetzgebung bedeutungslos sei, ist damit selbstverständlich nicht gesagt; vielmehr hat (gute) Rechtsdogmatik grundsätzlich auch die rechtspolitische Seite mit im Blick und trägt zur Verbesserung des Rechts bei,60 wie auch umgekehrt Gesetzgebung zur Vermeidung unnötiger Fehlleistungen auf ein klares rechtsdogmatisches Fundament angewiesen ist.61 Gleichwohl bleibt es für Rechtsdogmatik charakteristisch, daß sie de lege lata argumentiert und sich der Unterscheidung dieser Sichtweise von Vorschlägen de lege ferenda bewußt ist. b) Damit hängt auf das engste zusammen, daß bei rechtsdogmatischer Arbeit das geltende Recht (wiederum i. w. S.) grundsätzlich als verbindlich vorausgesetzt wird. Wegen dieser „applikativen Haltung“ hat der Ausdruck „Dogmatik“ durchaus seine Berechtigung,62 auch wenn er mitunter zu dem leidigen Mißverständnis verführt, Dogmatik sei „starr“, „unkritisch“, „ideologieverhaftet“ oder dgl.; in Wahrheit geht es lediglich um die Anerkennung der Bindung an „Gesetz und Recht“, wie sie z. B. in Art. 20 III GG ausgesprochen ist. Zu welchen Irrtümern es führen kann, wenn man die Rechtsvergleichung als „funktionelle und antidogmatische Methode“ mit der herkömmlichen Dogmatik gewissermaßen auf derselben Stufe konfrontiert und als Alternative zu dieser propagiert,63 zeigen die Ausführungen Zweigerts zur Produzentenhaftung und zum Ersatz immateriellen Schadens. Seiner Ansicht nach steht einer strikten Haftung ohne Verschulden für Konstruktionsfehler und Ausreißer, die er für die „beste Lösung“ hält, in Deutschland nur „das Dogma im Wege, Deliktshaftung sei Verschuldenshaftung“, doch sei „dieses Dogma vom Leben überholt“; man solle sich daher darüber hinwegsetzen – wie der BGH auch im Herrenreiterfall „die Fähigkeit bewiesen (habe), ein überlebtes Dogma, hier das von der Notwendigkeit einer gesetzlichen Norm für die Zusprechung immateriellen [76] Schadens (§ 253 BGB), getrost über Bord zu werfen“.64 Da indessen das Verschuldenserfordernis ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal des § 823 BGB und § 253 BGB eine gesetzliche Vorschrift ist, werden hier fälschlich Normen mit „Dogmen“ identifiziert mit der Folge, daß der Verbindlichkeitsanspruch des Gesetzes unter Berufung auf den „Reichtum der topoi, welche die Rechtsordnungen der Welt in Geschichte und Gegenwart entwickelt haben“, hintangestellt und an dessen Stelle ein „von
60
S. 9 ff.
Treffend dazu Karsten Schmidt, in: ders. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, 1990,
61 Vgl. dazu z. B. Karsten Schmidt, a.a.O., S. 15 ff.; Herberger, in: Behrends/Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik, 1989, S. 67 ff.; Henckel, ebenda, S. 93 ff. 62 So mit Recht F. Bydlinski, a.a.O. (Fn. 59), S. 8; der Sache nach ähnlich z. B. Herberger, a.a.O., S. 73 ff.; Pawlowski, a.a.O. (Fn. 18), Rdn. 867. 63 Vgl. Zweigert, Rechtsvergleichung, System und Dogmatik, in Festschr. für Bötticher, 1969, S. 448. 64 Vgl. Zweigert, a.a.O., S. 445 f.
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den Lebenssituationen herkommendes Problemdenken“ gesetzt wird.65 Mit Recht hat Dölle dem entschieden widersprochen66 – und zwar bemerkenswerterweise nicht nur deshalb, weil die Bindungswirkung des Gesetzes unterlaufen und die Leistungsfähigkeit von Dogmatik verkannt wird, sondern auch deshalb, weil die Leistungsfähigkeit von Rechtsvergleichung überschätzt wird (vgl. dazu auch unten 5). c) Als drittes Kennzeichen von Dogmatik sollte man eine bestimmte Art methodischen Vorgehens ansehen. Dogmatik ganz allgemein als „ein Verfahren zur rationalen Verifizierung der gewählten Entscheidung“ oder zur „Begründung praktischer Entscheidungen aus einer objektivierbaren Konvention“ zu bezeichnen,67 betont zwar zutreffend das Ziel rationaler Begründung, läßt aber die Eigentümlichkeit des Weges im Dunkeln, auf dem Dogmatik dieses zu erreichen sucht. Überwiegend dürfte nämlich mit diesem Wort in Deutschland eine Begründung durch spezifisch „systematische“ oder „theoretische“ Argumente assoziiert werden.68 Demgemäß erscheint es als zweckmäßig, von Dogmatik nur dort zu sprechen, wo es in irgendeinem – wenn auch u. U. nur geringen – Maße um die Einordnung in einen allgemeineren Zusammenhang und um die Folgerichtigkeit einer Entscheidung im Hinblick auf andere Problemlösungen geht. Eine rein einzelfallbezogene pragmatische Abwägung oder eine lediglich topische Argumentation sollte demnach nicht als dogmatisch bezeichnet werden. In der Tat dürfte es unüblich sein, z. B. bei jeder Anwendung von § 138 BGB oder § 242 BGB von Dogmatik zu sprechen. Zwar gibt es selbstverständlich auch bei der Konkretisierung derartiger Generalklauseln Dogmatik – und zwar sowohl im ganzen wie z. B. durch die Entwicklung eines „beweglichen Systems“ im Rahmen von § 138 BGB69 als auch im einzelnen wie z. B. bei der Entwicklung der „Vertragsbruchstheorie“ zur Lösung von Kollisio- [77] nen zwischen Globalzession und verlängertem Eigentumsvorbehalt70 –, doch bleibt ein Restbereich übrig, in dem die Argumentation so speziell wird und/oder sich so stark einem rein dezi-
Vgl. Zweigert, a.a.O., S. 449. Vgl. Dölle, Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung, RabelsZ 34 (1970), 403 ff. 67 So Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in Festschr. für Gadamer, 1970, Bd. II, S. 316 bzw. S. 322. 68 Vgl . z. B. Larenz, a.a.O. (Fn. 22), S. 217 ff.; Alexy, a.a.O. (Fn. 11), S. 308, 311, 322 und öfter, Pawlowski, a.a.O. (Fn. 18), Rdn. 888; Karsten Schmidt, a.a.O. (Fn. 60), S. 13; Herberger, a.a.O. (Fn. 61), S. 75; der Sache nach im wesentlichen auch Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 4. Aufl., 1988, S. 55 ff. 69 Grundlegend Mayer-Maly, in: MünchKomm., 2. Aufl., 1984, § 138 Rdn. 21 ff.; ders., in: F. Bydlinski/Krejci/Steininger, Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 117 ff. 70 Vgl. dazu statt aller Mayer-Maly, a.a.O., § 138 Rdn. 88 ff. 65 66
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sionistischen Akt nähert, daß man dafür das Wort Dogmatik nicht verwenden sollte. Anderenfalls wäre diese geradezu identisch mit Jurisprudenz i. e. S.71 In diesem weiten Sinne ist der Begriff jedenfalls dann nicht gemeint, wenn aus rechtsvergleichender Sicht kritische Betrachtungen über Rechtsdogmatik angestellt werden – und darum geht es ja im vorliegenden Zusammenhang. Charakteristisch für eine bestimmte Art dieser Kritik sind die Ausführungen von Zweigert/Kötz in ihrem Werk „Einführung in die Rechtsvergleichung“. Dort wird die Rechtsvergleichung als eine „vorzüglich geeignete Methode, die Rechtswissenschaft auf einen neuen realistischen Boden zu stellen“, gepriesen, weil sie „nicht nur die Hohlheit des dogmatischen Systemdenkens erweist, sondern ... ein eigenes neues System entwickelt, das an die Lebensbedürfnisse anknüpft und deshalb sach- und funktionsbezogen ist“; Dogmatik wird dabei als ,,hochgezüchtetsystematisches Begriffsdenken“ qualifiziert.72 Daran ist – bei der hier zugrunde gelegten Terminologie – sicher richtig, daß Dogmatik durch die „Zucht“ des Systems und des Begriffs gekennzeichnet ist. Was indessen die damit verbundene Kritik angeht, so handelt es sich um einen Extremstandpunkt,73 mit dem man sich schon wegen seiner Pauschalität nur schwer auseinandersetzen kann; denn natürlich gibt es schlechte Dogmatik, die man durchaus als „hochgezüchtet“ oder begrifflich hypertroph angreifen kann – nur besagt das nichts gegen die Möglichkeit guter Dogmatik. Es ist daher sehr zu begrüßen, daß Kötz unlängst nicht nur den Standpunkt Zweigerts ausdrücklich abgeschwächt, sondern seine eigene Kritik mit Beispielen belegt hat.74 Auch diese beruht zwar, wie sich zeigen wird, auf Mißverständnissen und Irrtümern, doch läßt sich über sie wegen ihrer Konkretheit immerhin präzise diskutieren. Außerdem dürfte sie, wenn ich recht sehe, keineswegs einen Extremstandpunkt darstellen, sondern repräsentativ für ein verbreitetes Unbehagen an Dogmatik sein; dieses geht offenbar dahin, daß Dogmatik (wenn nicht geradezu ein Instrument für Scheinbegründungen, so doch jedenfalls) ohne Relevanz für die praktischen Ergebnisse ist. [78]
71 So folgerichtig in der Tat F. Bydlinski, Methodenlehre, a.a.O., S. 16; selbstverständlich liegt darin nur ein terminologischer und kein sachlicher Unterschied gegenüber der hier vertretenen Auffassung. 72 Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 33 bzw. S. 35. 73 Man vergleiche als Kontrast etwa die Position von Großeld, Vom Beitrag der Rechtsvergleichung zum deutschen Recht, AcP 184 (1984), 290 ff., insbesondere S. 294 f. in ausdrücklicher Entgegensetzung zu Zweigert; ders., Macht und Ohnmacht der Rechtsvergleichung, 1984, S. 23 ff. 74 Vgl. Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik in: Rechtsdogmatik ..., a.a.O. (Fn. 60), S. 75 ff.
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2. Die Ergebnisrelevanz von Rechtsdogmatik Eines der beliebtesten Felder hochdogmatischer Anstrengungen und demgemäß auch antidogmatischer Kritik ist seit längerem in Deutschland das Bereicherungsrecht. So sucht denn auch Kötz auf diesem Gebiet Belege dafür, daß Dogmatik nicht selten „ihre dienende Funktion verfehlt ... und daß in solchen Fällen auch schon einmal aus der Wohltat eine rechte Plage werden kann“.75 Seine Beispiele sind indessen in Wahrheit ein trefflicher Beweis für die Unumgänglichkeit und praktische Fruchtbarkeit von Dogmatik, die Kitagawa mit Recht als „angewandte Wissenschaft vom Recht“ bezeichnet.76 a) Als ersten Beleg nennt Kötz die Diskussion um die Flugreiseentscheidung BGHZ 55, 128, die seinerzeit schon Esser als Beispiel für „die Misere einer überdogmatischen Praxis“ und für die Diskrepanz zwischen einer „sachlich schlüssigen rechtspolitischen Wertung“ und einer „formal unschlüssigen Einkleidung, ja Verkleidung“ angeführt hat.77 Lassen wir Kötz selbst zu Wort kommen: „Daß ein Siebzehnjähriger, der sich unter vorsätzlicher Täuschung des Bodenpersonals ohne Flugschein an Bord einer Lufthansa-Maschine geschlichen und auf diese Weise den Weg nach New York zurückgelegt hat, den Flugpreis bezahlen muß, wird den meisten einleuchten. Daß der Fall über drei Instanzen ging, ist schon etwas weniger leicht verständlich. Daß aber die Entscheidung des Bundesgerichtshofs in acht Spezialveröffentlichungen (Zitat) und erst recht in der monographischen und kommentierenden Spezialliteratur zum bevorzugten Wetzstein des versammelten kondiktionsdogmatischen Scharfsinns der deutschen Rechtsgelehrten gemacht worden ist, darf immerhin mit Erstaunen registriert werden, zumal am praktischen Ergebnis niemand etwas zu mäkeln fand und der Streit nur darum geführt wurde, wie die dogmatische Konzeption auszusehen habe, die das vorhandene Entscheidungsmaterial möglichst vollständig erklärt und gleichzeitig von ihren Anhängern ein möglichst kleines sacrificium intellectus verlangt“.78
Diese Ausführungen bedürfen zunächst einer Ergänzung in tatsächlicher Hinsicht: Die Maschine war nicht ausgebucht, so daß der Minderjährige keinem anderen – zahlenden – Passagier den Platz weggenommen hatte; und der Minderjährige durfte den Flughafen New York nicht verlassen, sondern wurde mit dem nächsten Flugzeug nach Deutschland zurückgebracht. Vor dem Hintergrund dieser Umstände darf man füglich bezweifeln, ob es wirklich „den meisten einleuchten wird“, daß der Minderjährige den Flugpreis bezahlen muß. Denn da zum einen die Lufthansa keine finanzielle Einbuße erlitten und zum anderen der MinVgl. Kötz, a.a.O., S. 87. Vgl. Kitagawa, a.a.O., S. 186. 77 Vgl. Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, AcP 172 (1972), 120 bzw. 121. 78 Vgl. Kötz, a.a.O., S. 87. 75 76
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derjährige keinen Vorteil erlangt hatte, legt schon eine recht unkomplizierte dogmatische Überlegung offen, daß die Entscheidung des BGH [79] keineswegs nur in der Begründung, sondern auch und gerade im Ergebnis überaus fragwürdig ist: Der BGH ist zu einer Haftung ohne Schaden der Lufthansa und ohne Bereicherung des Minderjährigen gekommen! Es liegt auf der Hand, daß die Vereinbarkeit einer solchen Lösung mit der materiellen Gerechtigkeit höchst zweifelhaft ist – und zwar auch unabhängig von den positivrechtlichen Vorgaben der deutschen lex lata. Wenn Dogmatik nach einem – oft und auch von Kötz zitierten – Wort Essers „als Weg, Gerechtigkeitsfragen ... juristisch operational zu machen“,79 anzusehen ist, dann sollte man doch wirklich meinen, daß sie gerade hier gefordert ist. Das gilt umso mehr, als der Minderjährige grundsätzlich nicht einmal bei ordnungsmäßigem Kauf eines Flugscheins zahlungspflichtig gewesen wäre; denn der Vertrag wäre (vom Ausnahmefall des § 110 BGB abgesehen) unwirksam gewesen, und der Minderjährige hätte den gezahlten Preis daher grundsätzlich nach § 812 BGB zurückverlangen können, da die „Saldotheorie“ nach herrschender und richtiger Ansicht nicht zu seinen Lasten angewandt werden darf.80 Auch die Vermeidung derartiger Wertungswidersprüche ist gewiß eine genuine Aufgabe von Dogmatik. Kötz irrt denn auch, wenn er behauptet, daß „am praktischen Ergebnis niemand etwas zu mäkeln fand“; in Wahrheit haben viele, ja wohl sogar die meisten Autoren die Entscheidung auch im Ergebnis abgelehnt.81 Insgesamt ist der Fall geradezu paradigmatisch dafür, daß es bei – richtig verstandener – Dogmatik auch und z. T. sogar primär um Fragen der Gerechtigkeit und um praktische Ergebnisse geht. Häufig stellt Dogmatik überhaupt erst die Kategorien bereit, die den Blick für die Gerechtigkeitsprobleme öffnen. Dabei ist im vorliegenden Zusammenhang keineswegs nur die Frage des Minderjährigenschutzes brisant. Vielmehr ist auch bei Volljährigen eine Bereicherungshaftung ohne Schaden des Kondiktionsgläubigers und ohne Vermögensvorteil des Kondiktionsschuldners eine Figur, die nicht ohne weiteres aus sich selbst heraus einleuchtet und daher dringend der dogmatischen Fundierung bedarf; die hier einschlägige Vorschrift des § 819 BGB ordnet eine solche Rechtsfolge jedenfalls nicht unmittelbar an, da sie auf § 989 BGB verweist und dort lediglich eine VerVgl. Esser, a.a.O. (Fn. 77), S. 113. Vgl. statt aller Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II, 12. Aufl., 1981, § 70 III = S. 582 f. 81 Vgl. z. B. Canaris, JZ 1971, 562 f.; Medicus, FamRZ 1971, 251 und in Bürgerliches Recht, 14. Aufl., 1989, Rdn. 176; Knütel, JR 1971, 294; Metzler, MDR 1971, 634; G. H. Roth, Festschr. für Küchenhoff, 1972, S. 379 ff. und S. 388; Wilhelm, Rechtsverletzung und Vermögensentscheidung als Grundlagen und Grenzen des Anspruchs aus ungerechtfertigter Bereicherung, 1973, S. 188 ff.; Schilken, Wissenszurechnung im Zivilrecht, 1983, S. 297; Koppensteiner/Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, 2. Aufl., 1988, § 15 I 2 c; Staudinger/Lorenz, 12. Aufl., 1979, § 819 Rdn. 10 a. E.; MünchKomm.-Lieb, § 819 Rdn. 7; der Sache nach auch Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, § 18 III 2. 79 80
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antwortlichkeit für einen „Schaden“(!) statuiert wird. Auch unter diesem – noch fundamentaleren – Aspekt hat das Ergebnis des [80] BGH daher Ablehnung erfahren.82 Die Sicherheit, mit der Esser und Kötz auf Grund einer „rechtspolitischen Wertung“ ohne Zuhilfenahme der Dogmatik den Fall glauben entscheiden zu können, erweist sich somit als höchst trügerisch und stellt daher einen signifikanten Beleg für die Gefährlichkeit eines dogmatisch unkontrollierten „Vorverständnisses“ dar. b) Als zweites Beispiel wählt Kötz – wie könnte es anders sein – die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung von Mehrecksverhältnissen. Auch hierzu sei er wörtlich zitiert: „Bei den viel erörterten ,Leistungskondiktionen im Dreiecksverhältnis‘ liegt es ähnlich. Ursprünglich glaubte man hier, daß sich die richtige Lösung der Fälle am ehesten finden lasse, wenn man den Begriff der ,Leistung‘ richtig interpretiere. Dann trat Canaris auf den Plan, forderte den ,Abschied vom Leistungsbegriff‘ und entwickelte ein System von Wertungsgesichtspunkten, die auf die angemessene Verteilung der Einwendungs- und Insolvenzrisiken abzielten und zu bestimmten Entscheidungsregeln zusammengefaßt wurden (Zitat). Jetzt aber scheint es, als setze der bereicherungsdogmatische Zeitgeist zu neuer Bewegung an. Denn wenn ich Reuter und Martinek richtig verstanden habe, so werfen sie Canaris vor, seine Lehre münde ,in einen gleichsam ,freihändigen‘ Akt der Risikoverteilung‘; worauf es in Wahrheit beim Bereicherungsausgleich im Dreiecksverhältnis im Falle einer defekten Anweisung ankomme, sei ein ,konsequentes Durchdenken der Folgen des jeweiligen Defekts und seiner Wirkungen auf die Empfangsermächtigung nach §§ 362 Abs. 2, 185 BGB einerseits und auf die Tilgungs- bzw. Zweckbestimmung analog §§ 267, 366 BGB andererseits‘ (Zitat). Das mag durchaus so sein. Hier ist nur zweierlei von Interesse: Einmal, daß die Gelehrten an den praktischen Ergebnissen der Rechtsprechung wiederum kaum etwas zu beanstanden finden, ferner, daß sie mit ihren dogmatischen Offerten die Aufnahmekapazität der Richter schon längst überschritten haben“.83
Wiederum insinuiert Kötz eine Funktion von Dogmatik, die den Realitäten des Rechtslebens nicht entspricht. Das läßt sich besonders gut an der Problematik des Bereicherungsausgleichs bei der Zession demonstrieren. Richtet sich der Bereicherungsanspruch des Schuldners, der an den Zessionar geleistet hat, gegen diesen oder gegen den Zedenten, wenn sich herausstellt, daß die zedierte Forderung nicht besteht? Wer die Problematik mit Hilfe des Leistungsbegriffs lösen will, muß folgerichtig im ersteren Sinne entscheiden, da der Schuldner ja an den Zessionar und nur an ihn geleistet hat; dieser Ansicht hängt auch Reuter an.84 Von meinem Standpunkt aus ist dagegen grundsätzlich der Zedent als Bereicherungs-
Vgl. z. B. G. H. Roth, a.a.O., S. 382; Erman/Westermann, 8. Aufl., 1989, § 819 Rdn. 5 a. E. Vgl. Kötz, a.a.O., S. 88. 84 Vgl. Reuter/Martinek, a.a.O., § 12 VI 3. 82 83
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schuldner anzusehen.85 Zwischen ihm und dem Schuldner bestehen nämlich gegebenenfalls Einwendungen und Einreden, und nur sein Insolvenzrisiko hat der Schuldner durch den Vertragsschluß mit ihm auf sich genommen; die Gegenansicht verstößt daher gegen das fundamentale Gebot des [81] geltenden Rechts und der materiellen Gerechtigkeit, daß der Schuldner durch die – ohne seine Beteiligung erfolgende! – Zession keine Verschlechterung seiner Rechtsstellung erleiden darf. Außerdem ist für die Parallelfälle bei der Anweisung allgemein anerkannt, daß sich der Bereicherungsanspruch grundsätzlich gegen den Anweisenden und nicht gegen den Anweisungsbegünstigten richtet; soll es anders sein, wenn der Gläubiger seinen Schuldner durch eine Zession statt durch eine Anweisung zur Leistung an den Dritten veranlaßt?! Die richtige Lösung ist zwischen den verschiedenen dogmatischen „Lagern“ hart umstritten. Das ist auch nicht verwunderlich. Denn die Lehre von der Maßgeblichkeit des Leistungsbegriffs kann ohne inneren Bruch gar nicht zu einem Anspruch gegen den Zedenten kommen; umgekehrt ist diese Lösung unausweichlich, wenn man die von mir herausgearbeiteten Wertungsgesichtspunkte als ausschlaggebend ansieht und daraus die Regel ableitet, daß sich der Bereicherungsanspruch grundsätzlich gegen die Partei desjenigen Rechtsverhältnisses richtet, in dem der kondiktionsauslösende Mangel gegeben ist. Entgegen der Meinung von Kötz geht es also auch hier durchaus um die Ergebnisse selbst und keineswegs nur um deren dogmatische Einkleidung. Zugleich wird wieder deutlich, in welchem Maße Dogmatik mit der Herausarbeitung der einschlägigen Gerechtigkeitsgesichtspunkte verquickt ist. Erst recht verfehlt Kötz den Kern der dogmatischen Diskussion, wenn er sagt, daß „die Gelehrten an den praktischen Ergebnissen der Rechtsprechung kaum etwas zu beanstanden finden“. Für die Zessionsproblematik gab es nämlich bis vor kurzem noch gar keine „Ergebnisse der Rechtsprechung“, und für eine Reihe weiterer Mehrecksprobleme gibt es sie bis heute nicht. Dogmatik erfüllt daher hier ihre Aufgabe, der Rechtsprechung vorauszuarbeiten. Überdies widerlegt die inzwischen ergangene Entscheidung des BGH zur Zessionsproblematik auch die Behauptung von Kötz, daß „die Gelehrten ... mit ihren dogmatischen Offerten die Aufnahmefähigkeit der Richter schon längst überschritten haben“; denn der BGH hat darin die im Schrifttum vorgebrachten Argumente im wesentlichen berücksichtigt und sich nach eingehender Auseinandersetzung der Ansicht angeschlossen, daß sich der Bereicherungsanspruch grundsätzlich gegen den Zedenten richtet86 – ein Ergebnis, das zwar ich selbst für richtig halte, an dem aber andere durchaus „etwas zu
85 86
Vgl. Canaris, 1. Festschr. für Larenz, 1973, S. 834 ff. Vgl. BGHZ 105, 365, 369 ff. m. umf. Nachw. zum Diskussionsstand.
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beanstanden finden“.87 Am Rande sei schließlich noch vermerkt, daß hier eine weitere Funktion „paradigmatischer Problemlösungen“ (vgl. oben I 4) sichtbar wird: Sie können auch zur Falsifikation einer Theorie dienen, sofern mit dieser nur eine bestimmte Lösung vereinbar ist und sich zeigen läßt, daß diese unzutreffend ist. c) Allerdings hat der BGH auch in dieser Entscheidung seine stereotype Formulierung wiederholt, daß sich bei der bereicherungsrechtlichen Behand- [82] lung von Mehrpersonenverhältnissen „jede schematische Lösung verbietet (und) in erster Linie die Besonderheiten des einzelnen Falles ... zu beachten sind“. Indessen trägt gerade ein solcher Verzicht auf klare dogmatische Konturen wesentlich dazu bei, daß das deutsche Bereicherungsrecht sich heutzutage in einem so unübersichtlichen Zustand befindet. Auf der anderen Seite hält der BGH bei dem zweiten bereicherungsrechtlichen „Großproblem“, der Rückabwicklung gegenseitiger Verträge, verbaliter starr an der Saldotheorie fest, durchbricht diese jedoch in zahlreichen Einzelfragen in nahezu beliebiger Weise, statt sich völlig von ihr zu lösen und sie durch ein konsistentes neues Konzept zu ersetzen, wie das schon seit längerem im Schrifttum gefordert wird.88 Nicht ein Übermaß, sondern ein Mangel an Dogmatik bzw. das Beharren auf einem überholten Dogma sind also das Grundübel. Es scheint mir daher auch kein adäquater Ausweg zu sein, wenn Flessner für das Bereicherungsrecht von der Dogmatik fordert, auf eine „Anweisung für die Lösung des Einzelfalles“ zu verzichten und sich mit einer „konsultativen“ Rolle – im Gegensatz zu einer „präskriptiven“ – zu bescheiden.89 Zwar kann hier auf die schwierige Problematik des Richtigkeitsanspruchs juristischer Aussagen, wie er derzeit vor allem im Zusammenhang mit Dworkins right-answer-thesis diskutiert wird, naturgemäß nicht eingegangen werden, doch dürfte die Flucht in ein „bewegliches System“ des Bereicherungsrechts, wie es Flessner vorschwebt, eher die Gefahr einer Kapitulation vor den Schwierigkeiten als die Chance ihrer Lösung in sich bergen. So will Flessner es für die Mehrecksverhältnisse ersichtlich bei der Formel des BGH, es sei „nur nach den Notwendigkeiten des einzelnen Falles zu entscheiden“,90 bewenden lassen. Für Leistungserschleichungen möchte Flessner wesentlich die Höhe des zu entrichtenden Entgelts berücksichtigen und daher die Zahlungspflicht des Minderjährigen eher bei der – teueren – Flugreise verneinen 87 Vgl. z. B. Gernhuber, Bürgerliches Recht, 3. Aufl., 1991, § 47 I 7 m. w. Nachw.: Die Entscheidung des BGH sei „sachlich falsch, (weil) der ,Schuldner‘ dem ,Zedenten‘ nicht geleistet hat“. 88 Vgl. zur Kritik an der Saldotheorie zuletzt umfassend Kohler, Die gestörte Rückabwicklung gescheiterter Austauschverträge, 1989, S. 158 ff. m. umf. Nachw.; zu meiner eigenen Ansicht vgl. meinen Beitrag in Festschr. für Lorenz, 1991. 89 Vgl. Flessner. in: Das bewegliche System ..., a.a.O. (Fn. 69), S. 170 ff. 90 Vgl. Flessner, a.a.O., S. 174.
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als beim „Nachzahlen von DM 1,50 oder DM 20 – Strafgebühr“ in öffentlichen Verkehrsmitteln.91 Dagegen drängt sich indessen der Einwand auf, daß hier Gleiches ungleich behandelt wird, zumal der Flugpreis für den reichen Tunichtgut eine Bagatelle, die Strafgebühr für den armen Lausbuben dagegen eine Härte sein kann. Wie dem aber auch sei – warum darin ein Fortschritt gegenüber der traditionellen dogmatischen Sichtweise zu sehen sein soll, vermag ich nicht zu erkennen. [83] 3. Dogmatische „Reinigung“ als Voraussetzung funktionaler Rechtsvergleichung? Die Skepsis von Zweigert und Kötz gegenüber der praktischen Leistungsfähigkeit von Rechtsdogmatik wirkt sich auch auf die Anforderungen aus, die sie an funktionale Rechtsvergleichung stellen. Für diese verlangen sie nämlich – anders als für bloße Länderberichte –, daß „die Lösungen der untersuchten Rechtsordnungen von allen systematischen Begriffen dieser Rechtsordnungen zu befreien, aus ihren nur-nationalen dogmatischen Verkrustungen zu lösen und ausschließlich unter dem Aspekt der Funktionalität, der Befriedigung des jeweiligen Lebensbedürfnisses zu sehen sind“;92 das zu untersuchende Problem müsse „erbarmungslos von den Systembegriffen der eigenen Rechtsordnung gereinigt werden“.93 a) Gegen diese radikale Forderung sind schon aus pragmatischen Gründen erhebliche Vorbehalte angebracht. Rechtsvergleichung wird nämlich sowohl von als auch (primär) für Juristen betrieben – und diese verstehen sich erfahrungsgemäß häufig auch dann recht gut, wenn sie die Probleme und Lösungen ihrer jeweiligen nationalen Rechte unter Verwendung ihrer dogmatischen Kategorien erörtern. Das gilt umso mehr, als Rechtsvergleichung besonders fruchtbar sein kann, wenn sie zwischen „verwandten“ Rechtsordnungen betrieben wird. Außerdem ist die Terminologie, die für (gute) Dogmatik benötigt wird, schließlich keine Geheimsprache, sondern lediglich eine leicht „gehobene“ Fachsprache, die sich von der Umgangssprache meist nur durch eine verhältnismäßig geringe Steigerung sprachlicher Technizität und Präzision unterscheidet. Es wird daher nicht selten schon aus Zweckmäßigkeitsgründen untunlich sein, das zu untersuchende Problem erst einmal „erbarmungslos von den Systembegriffen zu reinigen“, um es dann in anderen Begriffen darzustellen, zumal hier außerdem die – noch keineswegs bewältigten – Schwierigkeiten einer die nationalen Rechte übergreifenden Terminologie und Systematik der funktionalen Vgl. Flessner, a.a.O., S. 175. Vgl. Zweigert/Kötz, a.a.O. (Fn. 72), S. 48. 93 Vgl. Kötz, a.a.O. (Fn. 74), S. 84. 91 92
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Rechtsvergleichung auftreten können. Wenn z. B. Kitagawa bestimmte Probleme des Gutglaubensschutzes im japanischen Recht unter Verwendung von dogmatischen Kategorien wie Scheingeschäft, Rechtsscheinsetzung und Quasi-Besitzer erörtert,94 so kann ihm der deutsche Jurist unschwer folgen und ebenso unschwer die Parallelprobleme und -lösungen des deutschen Rechts vergleichend gegenüberstellen.95 Um nicht mißverstanden zu werden: Nicht Wert und Notwendigkeit einer funktionalen Rechtsvergleichung sollen hier in Frage gestellt werden, sondern nur die Unerläßlichkeit einer „erbarmungslosen“ dogmatischen Reinigung; gerade wenn man die Untrennbarkeit [84] von Theorie und Problemlösung und die Ergebnisrelevanz von Dogmatik so nachdrücklich betont, wie das in der vorliegenden Abhandlung geschieht, liegt nichts ferner als Polemik gegen funktionale, d. h. am Sachproblem orientierte Rechtsvergleichung. b) Außerdem müssen gegen das „Reinigungspostulat“ auch aus der Sicht des Problemdenkens gravierende Bedenken erhoben werden. Es ist nämlich häufig sehr gewagt vorauszusetzen, daß es „das“ Problem als solches überhaupt gibt. Denn Probleme stellen sich i. d. R. nicht isoliert, sondern stehen im Zusammenhang mit Nachbarproblemen und ziehen Unter- und Folgeprobleme nach sich, die von der Lösung des Primärproblems abhängig sind. Meist hat es der Jurist daher mit ganzen Komplexen oder Netzen von Problemen und Problemlösungen zu tun. Erst wenn man diese in ihrer Gesamtheit überblickt, also weiß, welche Folgeprobleme eine bestimmte Primärlösung hervorruft und wie diese sowie etwaige Nachbarprobleme von der betreffenden Rechtsordnung bewältigt werden, kann man daher ein fundiertes Urteil über den Wert einer Lösung abgeben. Gerade solche Zusammenhänge darzustellen, ist aber eine spezifische Aufgabe der Rechtsdogmatik. Daher ist zu befürchten, daß die „Reinigung“ des Problems und seiner Lösung von dogmatischen Kategorien oft nur um den Preis eines erheblichen Verlusts an Genauigkeit gelingen kann – ganz zu schweigen von den Bedenken aus erkenntnistheoretischer, hermeneutischer und sprachphilosophischer Sicht gegen die Möglichkeit, ein Rechtsproblem ohne einen dogmatisch geleiteten „Vorgriff“ überhaupt als solches formulieren zu können. Der Dogmatiker, der bei der Rechtsvergleichung Rat für die Lösung eines – im eigenen Recht nicht klar geregelten – Problems sucht, wünscht sich demgemäß oft statt „erbarmungsloser Reinigung“ eher einen Einblick in die dogmatischen Zusammenhänge und damit in die volle Komplexität des Problemgeflechts, wobei die Kappung gewisser dogmatischer „Spitzen“ freilich i. d. R. nicht nur unschädlich, sondern in der Tat verständniserleichternd ist. So wenig Rechtsvergleichung auf die Berücksichtigung der kulturellen Voraussetzungen und der rechtstatsächlichen Auswirkungen der zu vergleichenden Problemlösungen ver94 95
Vgl. Kitagawa, a.a.O. (Fn. 4), S. 133 f. Vgl. Stoll, ebd. (Fn. 4), S. 159 ff.
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zichten kann,96 so wenig sollte sie daher deren dogmatische Implikationen gänzlich zu eliminieren versuchen. 4. Drei deutschrechtliche „Entdeckungen“ als Beispiele für die praktische Leistungsfähigkeit dogmatischer Figuren Aus rechtsvergleichender Sicht wird mitunter nicht nur abstrakt Kritik an dogmatischem Denken geübt, sondern auch die Legitimität bestimmter Rechtsfiguren in Zweifel gezogen, in denen sich dieses kondensiert. Das kann natürlich [85] durchaus berechtigt sein. Umgekehrt können sich aber dogmatische Konstruktionen auch als hochgradig leistungsfähig erweisen. a) Typisch für das deutsche Recht ist die Figur des dinglichen Vertrags und dessen Trennung von dem zugrundeliegenden Anspruch. Daß darin eine glänzende juristische „Entdeckung“ liegt, die die begriffliche Ordnung des Rechtsstoffes außerordentlich erleichtert, sollte man nicht in Zweifel ziehen. Unbestreitbar ist nämlich, daß der Rechtsakt der Eigentumsverschaffung stets denselben Inhalt hat, mag der zugrunde liegende Anspruch nun auf Kauf, Auftrag (§ 667 BGB), Vermächtnis, ungerechtfertigter Bereicherung oder Delikt beruhen. Es ist auch unschwer einzusehen, daß z. B. die Übertragung einer Forderung gedanklich in genauer Parallele zur Übereignung steht und die Bestellung einer Hypothek oder eines Pfandrechts damit auf das engste verwandt ist. Wenn die dadurch bewirkte Zusammenschau von „Lebenssachverhalten von geradezu atemberaubender Verschiedenheit“ einen anglo-amerikanischen Juristen wirklich „mit Skepsis erfüllen“ sollte und von ihm u. U. gar „das Ansinnen, ... diese Lehre ... auch nur verständig zu diskutieren, als lebensfremd zurückgewiesen werden würde“,97 so sollte man eine solche mehr dem Lebenssachverhalt als dem Rechtsproblem verhaftete Einstellung nicht nur als Unterschiedlichkeit der Denkweisen konstatieren, sondern zugleich darauf beharren, daß Rechtsvergleichung keine Einbahnstraße ist und daher auch das deutsche Recht Bereicherungen für das Rechtsdenken bereithält. In der Tat ist die Trennung zwischen dinglichem Vertrag und zugrundeliegendem obligatorischem Anspruch geradezu denknotwendig98 und gehört – jedenfalls als gedankliche Möglichkeit – zu den apriorischen Grundlagen des Privatrechts. So ist es kein Zufall, daß sie sich ansatzweise schon in Kants Rechtslehre 96 Vgl. dazu Kitagawa, a.a.O., S. 154 ff.; ders., 1. Festschr. für Larenz, 1973, S. 305 ff.; Hirsch, a.a.O. (wie Fn. 43); Großfeld, AcP 184 (1984), 305 ff.; ders., Rechtsvergleichung, a.a.O. (Fn. 73), S. 80 ff.; speziell zum japanischen Recht vgl. auch Rahn, Rechtsdenken und Rechtsauffassung in Japan, 1990, S. 23 ff., 130 ff., 378 ff. 97 So Zweigert/Kötz, a.a.O. (Fn. 72), 1. Aufl., 1971, S. 226 f.; in der 2. Aufl. ist dieser Abschnitt aus Raumgründen weggelassen worden. 98 So mit Recht Weitnauer, 2. Festschr. für Larenz, 1983, S. 709.
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findet; dort wird jedenfalls für diejenigen Fälle, in denen die Übergabe der Sache dem Abschluß des (obligatorischen) Vertrages zeitlich nachfolgt, die These verfochten, daß „noch ein besonderer Vertrag, der allein die Übergabe betrifft, dazu kommen müsse“.99 Natürlich kann das positive Recht darauf verzichten, sich diese Möglichkeit zunutze zu machen, doch läßt es sich dann ein wichtiges Ordnungsinstrument entgehen. Das gilt nicht nur für die gedankliche Durchdringung des Rechtsstoffes, sondern auch für bestimmte rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten. Gut verdeutlichen läßt sich das am Beispiel der Bedingung. So ist es eine bestechend einfache Lösung, den Eigentumsvorbehalt wie in § 455 BGB dadurch zu bewältigen, daß man die Übereignung unter die Bedingung der vollständigen [86] Kaufpreiszahlung stellt, obwohl der Kaufvertrag selbst unbedingt (!) geschlossen ist. Umgekehrt kann auch das obligatorische Geschäft (auf Grund der Vertragsfreiheit) bedingt sein, während das dingliche bedingungsfeindlich ist. Von dieser Möglichkeit macht das deutsche Recht in § 925 BGB Gebrauch, indem es für die Übereignung von Grundstücken Bedingungen verbietet, um aus Gründen des Verkehrsschutzes die mit jenen verbundenen Gefahren für die Richtigkeit des Grundbuchs zu vermeiden. Noch interessanter ist, daß nach Art. 12 I 2 WG und Art. 15 I 2 ScheckG die Indossierung eines Wechsels oder Schecks bedingungsfeindlich ist und eine dennoch hinzugefügte Bedingung als nicht geschrieben gilt. Auch das internationale Einheitsrecht macht sich hier also inzident die Möglichkeit zunutze, den Übertragungsakt als eigenständiges Geschäft zu behandeln (und zwar wiederum aus Gründen des Verkehrsschutzes im Interesse der Umlauffähigkeit von Wechsel und Scheck); denn irgendein Grund, den Parteien auch für die allein zwischen ihnen relevanten obligatorischen Beziehungen die Vereinbarung einer Bedingung zu verbieten, besteht nicht, so daß auch hier die Möglichkeit einer Kombination von bedingtem Kausalgeschäft und unbedingtem Übertragungsakt gegeben ist. Selbstverständlich folgt aus der Lehre vom dinglichen Vertrag und dem damit verbundenen Trennungsprinzip in keiner Weise, daß man auch den weiteren Schritt zum Abstraktionsprinzip tun und also die Wirksamkeit des dinglichen Geschäfts von derjenigen des obligatorischen grundsätzlich loslösen muß. Daß es sich hier um eine höchst fragwürdige Eigentümlichkeit des deutschen positiven Rechts handelt, ist oft genug dargelegt worden.100 Hier sei daher nur am Rande festgehalten, daß gleichwohl die praktische Leistungsfähigkeit des Abstraktionsprinzips von seinen Kritikern regelmäßig unterschätzt wird. Das gilt etwa für den 99 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, Rechtslehre § 21 = Akademieausgabe, Bd. VI, S. 275; Kant hat seine Einsicht freilich durch die Fehlerhaftigkeit seiner Begründung wie seiner Beispiele weitgehend wieder entwertet; die klare Herausarbeitung des Trennungs- (und des Abstraktions)prinzips ist bekanntlich von Savigny zu verdanken. 100 Vgl. statt aller Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, II 1, 13. Aufl., 1986, § 39 II.
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gängigen Einwand, zur Wahrung der Verkehrsschutzinteressen genügten schon die Vorschriften über den gutgläubigen Erwerb, ja das Abstraktionsprinzip führe geradezu zum Schutz von Bösgläubigen.101 Dabei wird verkannt, daß einerseits schwere Mängel wie Drohung, Täuschung, Wucher, Knebelung, Gläubigergefährdung usw. auch das dingliche Geschäft als solches ergreifen und also nur im Wege gutgläubigen Erwerbs überwunden werden können, andererseits aber leichtere Mängel wie Inhaltsirrtum, Dissens, Formmangel usw. Dritte nicht im selben Maße „angehen“, so daß es nicht ohne weiteres sachwidrig ist, wenn sie ihnen gegenüber nur bei sittenwidrigem Handeln zum Schaden des Veräußerers gemäß § 826 BGB durchschlagen. Bemerkenswerterweise enthält wiederum das WG und das ScheckG – also internationales Einheitsrecht! – Regelungen, die zu ganz ähnlichen Ergebnissen führen; denn während dem Erwerber gegenüber schweren Mängeln der genannten Art gemäß oder analog Art. 16 II WG, 21 ScheckG schon grobe Fahrlässigkeit schadet (ebenso wie nach § 932 BGB), braucht er sich leichtere Mängel nach Art. 17 WG, 22 ScheckG nur entgegenhalten zu lassen, wenn er [87] bewußt (!) zum Nachteil des Schuldners gehandelt hat102 (ähnlich wie nach § 826 BGB). – Regelmäßig übersehen wird ferner, daß das Abstraktionsprinzip dem Erwerber einen wichtigen strafrechtlichen Schutz bietet, sofern dem Veräußerer die faktische Möglichkeit zu Verfügungen über die Sache bleibt wie vor allem in den Fällen des § 930 BGB; denn wenn jeder Mangel des Kausalgeschäfts auf die Eigentumslage durchschlüge, würde jeder Irrtum über dessen Wirksamkeit die Strafbarkeit wegen eines Eigentumsdelikts auf Grund eines Tatbestandsirrtums ausschließen – eine Möglichkeit, die bei Streitigkeiten zwischen Veräußerer und Erwerber eine erhebliche Gefahr für diesen darstellen und jenem Gelegenheit zu mannigfachen Schutzbehauptungen bieten würde.103 – Allerdings will ich mit diesen Argumenten nur die Kritik am Abstraktionsprinzip relativieren, dieses aber nicht etwa in ähnlicher Weise rühmen wie die Lehre vom dinglichen Vertrag und das damit verbundene Trennungsprinzip. b) Vom abstrakten dinglichen Vertrag ist es kein weiter Weg zum abstrakten Schuldvertrag, der ebenfalls eine für die deutsche Rechtsdogmatik typische Figur darstellt und in den §§ 780 f BGB gesetzliche Anerkennung gefunden hat. Dabei muß man sich vorab bewußt machen, daß Abstraktheit in diesem Zusammenhang mehreres bedeuten kann: Zunächst Farb- und Typuslosigkeit in dem Sinne, daß eine Leistung – i. d. R. Geld – nicht aus einer bestimmten Vertragsart, also als Kaufpreis, Darlehen, Geschenk usw., sondern schlechthin, also ohne Bezug auf jede derartige „causa“, geschuldet wird; und sodann rechtliche Unabhängigkeit von einem zugehörigen anderen Geschäft – sei es zwischen denselben Parteien oder So z. B. Kegel, Festschr. für F. A. Mann, 1977, S. 83 und S. 86. Vgl. dazu näher Hueck/Canaris, a.a.O. (Fn. 20), § 9 I 3 m. umf. Nachw. 103 Vgl. dazu auch BGH NJW 1984, 1184, 1186 bezüglich der Sicherungsübereignung. 101 102
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sei es mit einem Dritten. Diese verschiedenen Funktionen können dabei auch miteinander kombiniert werden. Außerdem kann die Abstraktheit unterschiedlich intensiv sein: Zwischen denselben Parteien steht sie gemäß § 812 II BGB grundsätzlich der Kondizierbarkeit des abstrakten Vertrages nicht entgegen und führt daher i. d. R. nicht zu einem endgültigen Einwendungsverlust, während sie für Einwendungen aus Drittverhältnissen ein geradezu klassisches Instrument des Ausschlusses ist. Daß auch diese juristische „Entdeckung“ ihre praktische Bewährung vorzüglich bestanden hat, zeigt sich vor allem im Wertpapier- und Bankrecht. Das Zahlungsversprechen aus einem Wertpapier, aus der Gutschrift auf einem Bankkonto, aus der Eröffnung eines Dokumentenakkreditivs und dgl. als abstrakte Obligation zu deuten, ist nämlich eine ebenso einfache, ja „elegante“ wie sachgerechte Lösung.104 Denn unbestrittenermaßen kommt dem Einwendungsausschluß hier zentrale Bedeutung zu; und es läßt sich auch mit guten Gründen sagen, hier werde die Zahlung von Geld schlechthin, also nicht unter Bezugnahme auf irgendeine „causa“, versprochen. Keinerlei Schwierigkeiten hat die deutsche Rechtsordnung auch mit der Zulassung von Bankgarantien, [88] weil sie auch diese ohne weiteres in die Kategorie der abstrakten Verpflichtungsverträge einordnen kann.105 Besonders gut bewährt sich die Konstruktion des abstrakten Schuldvertrags schließlich bezüglich der Saldofeststellung beim Kontokorrent. Zum ersten geht es nämlich auch hier wieder um die Beseitigung von Einwendungen – freilich nur in dem schwächeren Sinne, daß sie nicht endgültig ausgeschlossen, sondern lediglich auf die Ebene der Kondizierbarkeit gemäß § 812 II BGB „herabgestuft“ werden; und zum zweiten erweist sich hier die Leistungsfähigkeit der Abstraktheit i. S. der Typuslosigkeit dadurch, daß verschiedenartigste Forderungen mit u. U. unterschiedlichen Verjährungsfristen, Erfüllungsorten, Gerichtsständen usw. zu einer einzigen Forderung mit einheitlichen rechtlichen Eigenschaften zusammengefaßt werden – ein Ziel, dessen Verwirklichung durch die Vereinfachungsfunktion des Kontokorrents dringend gefordert wird.106 Daß der abstrakte Schuldvertrag eine Eigentümlichkeit des deutschen Rechts bildet, ist somit kein Grund zur Kritik, sondern im Gegenteil ein Vorzug. Demgemäß ist es nicht förderlich, daß Kübler in seiner Schrift „Feststellung und Garantie“ mit dem signifikanten Untertitel „Eine rechtsvergleichende und dogmatische Abhandlung wider die Lehre vom abstrakten Schuldvertrag“ den Versuch zu
104 Vgl. dazu näher Hueck/Canaris, a.a.O. (Fn. 20), § 2 VI; Canaris, Bankvertragsrecht, 3. Aufl., 1988, Rdn. 418 und 984. 105 Vgl. näher Canaris, a.a.O., Rdn. 1125; vgl. zur Abstraktheit der Garantie aus der Sicht des italienischen Rechts jüngst Portale Jahrbuch für italienisches Recht, Bd. 3 (1990) 49 ff. 106 Vgl. eingehend Canaris, Festschr. für Hämmerle, 1972, S. 55 ff.
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einer Beseitigung dieses Instituts unternommen hat.107 Es wäre eine Verkennung der legitimen Aufgaben von Rechtsvergleichung, wenn dem – an sich durchaus förderungswürdigen – Bestreben nach internationaler Vereinheitlichung des Rechtsdenkens auch solche dogmatischen Figuren geopfert würden, die sich sowohl durch gedankliche Klarheit als auch durch praktische Nützlichkeit bewährt haben. Natürlich lassen sich die einschlägigen Sachprobleme auch ohne die Figur des abstrakten Schuldvertrages irgendwie lösen, doch können sich dabei unnötige oder gar gefährliche Komplikationen ergeben. Höchst aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das österreichische Recht, das nach der lex scripta abstrakte Schuldverträge nicht kennt und diesen sogar grundsätzlich die Anerkennung versagt.108 Gleichwohl dringt in Österreich die Ansicht vor, daß die Feststellung eines Kontokorrentsaldos ein abstraktes Schuldanerkenntnis darstellt,109 weil diese Rechtsfigur sowohl der Vereinfachungs- und Vereinheitli- [89] chungsfunktion des Kontokorrents gerecht wird als auch die Geltendmachung von Einwendungen in sachgerechter Weise erschwert. In der Tat ist dadurch, daß Österreich die kontokorrentrechtliche Regelung der §§ 355 ff HGB aus dem deutschen Recht übernommen hat, hier ein Harmonisierungsbedürfnis entstanden; die Ergänzung zu § 355 HGB, die in Deutschland das geschriebene Recht in § 781 BGB bietet, wird also in Österreich durch die Wissenschaft mit Hilfe dogmatischer Mittel gewonnen – ein Vorgang, der im Rahmen einer Abhandlung über die Theorienrezeption von besonderem Interesse ist. – Vor Schwierigkeiten stand man in Österreich auch bezüglich der Bankgarantie und ähnlicher Verträge, da der Sicherungszweck dem Garantievertrag nicht die Abstraktheit nimmt.110 Die Wissenschaft hat hier den Ausweg gewiesen, indem sie die Unterscheidung von abstrakten Verträgen zwischen zwei Personen und solchen im Zusammen107 Vgl. Kübler, Feststellung und Garantie, 1967, S. 90 ff., 107 ff., 208 ff.; ablehnend die h. L. vgl. z. B. Canaris, a.a.O. (Fn. 106), S. 58 ff.; Gernhuber, Das Schuldverhältnis, 1989, § 18 I 3 d m. w. Nachw. 108 Vgl. z. B. Koziol, Gedächtnisschr. für Gschnitzer, 1969, S. 233 ff.; Rummel, in: ders. (Hrsg.), Komm. zum ABGB, 2. Aufl., 1990, § 859 Rdn. 31 m. w. Nachw. 109 Vgl. Hämmerle/Wünsch, Handelsrecht, Bd. III, 3. Aufl., 1979, § 13 II G; Schuhmacher, in: Straube Komm. zum HGB, 1987, § 355 Rdn. 31; a. A. z. B. Avancini/Iro/Koziol, Österr. Bankvertragsrecht, Bd. I, 1987, Rdn. 5/39 mit Fn. 93. Gegen den Hinweis von Avancini auf § 937 ABGB ist zu replizieren, daß diese Vorschrift nur einem vollständigen Einwendungsverlust entgegensteht, nicht aber auch einem „gemindert“ abstrakten Anerkenntnis, zumal Avancini insoweit mit Hilfe der Novationstheorie weitgehend zu denselben Ergebnissen kommt; in der Tat wäre es mit den wirtschaftlichen Funktionen des Kontokorrents völlig unvereinbar, wenn der Gläubiger der Saldoforderung auch nach deren Feststellung noch den Bestand aller Kausalforderungen vortragen und u. U. beweisen müßte, so daß hier ein dringendes Bedürfnis für eine „geminderte“ Abstraktion besteht – ein Gesichtspunkt, der auch nach der Konzeption Koziols für deren Zulassung spricht, vgl. a.a.O. (Fn. 108), S. 241 unten. 110 So mit Recht Koziol, Der Garantievertrag, 1981, S. 29 f.
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hang mit Mehrecksverhältnissen herausgearbeitet und den Nachweis geführt hat, daß bei letzteren die Gründe für das Abstraktionsverbot nicht passen.111 Kaum war dies geleistet, stand man indessen vor einer neuen Schwierigkeit: Die – im internationalen Bankverkehr immer häufiger werdende – Rückgarantie läßt sich in dieses Lösungsmodell nicht ohne weiteres einfügen, weil die Bank dabei nicht die Leistung eines Dritten, sondern die Erfüllung einer eigenen Verpflichtung (zum Aufwendungsersatz) garantiert,112 so daß an sich eine „zweipersonale“ Garantie vorliegt. Wäre diese unwirksam, würde man in der Tat geneigt sein zu sagen: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“. Die „Theorie“, d. h. die Rechtswissenschaft fand denn auch eine Begründung für die Zulässigkeit der Rückgarantie,113 doch wird aus solchen Komplikationen und dem durch sie ausgelösten Argumentationsaufwand deutlich, daß die grundsätzliche Anerkennung abstrakter Schuldverträge – bei gleichzeitiger Aufstellung von Formvorschriften für Nichtkaufleute, Zulassung der Kondiktion in gewissen Fällen und Berücksichtigung des allgemeinen Rechtsmißbrauchsvorbehalts – von einem völlig legitimen Verkehrsbedürfnis getragen wird. Das gilt umso mehr, als die Problematik im österreichischen Recht möglicherweise noch nicht für alle Varianten ausgestanden ist. So wird z. B. die Ansicht vertreten, daß die Garantie einer Bank zur [90] Einlösung eines auf sie gezogenen Wechsels unwirksam ist, wenn deren Zahlungspflicht unabhängig von ihrem Regreßanspruch gegen den Aussteller sein soll;114 in dieser Allgemeinheit wäre das ein höchst rigides und wenig verkehrsgerechtes Risiko, weil der Garantiebegünstigte dann das volle Risiko von Einwendungen der Bank aus ihrem Verhältnis zum Garantieauftraggeber trüge.115 111 Vgl. grundlegend Koziol, Gültigkeit abstrakter Schuldverträge, a.a.O., S. 243 ff. und Garantievertrag, a.a.O., S. 31 ff.; ebenso z. B. Rummel, a.a.O., § 859 Rdn. 32. 112 Vgl. Koziol, ÖBA 1986, 445; Canaris, Bankvertragsrecht, a.a.O., Rdn. 1118. 113 Vgl. Koziol, ÖBA 1986, 445 ff. 114 So Jabornegg, ÖBA 1988, 621 f. 115 In dem zugrunde liegenden Fall hatte die Bank die Garantie ohne Rückfrage beim Aussteller übernommen, so daß nicht etwa ein Zurechnungsmangel wie Fälschung des Garantieauftrags oder dgl. vorlag (vgl. dazu Koziol, Garantievertrag, a.a.O., S. 88 f.), sondern ein Handeln „auf eigenes Risiko“. Der Wechsel war allerdings gefälscht und wurde deshalb von dem (angeblichen) Aussteller nicht bezahlt. Da eine Einlösungsgarantie in erster Linie das Risiko der Bonität des Bezogenen decken soll, liegt es nahe, sie ihrem typischen Sinn und Zweck nach auf das – ganz anders geartete und vom Garanten ungleich schwerer zu beherrschende – Fälschungsrisiko nicht zu erstrecken, doch ist das ein Problem der Auslegung und sollte folglich mit deren Mitteln statt mit Hilfe einer zwingenden Beschränkung der Privatautonomie gelöst werden. Der OGH war daher von einem richtigen Judiz geleitet, als er einen Garantieanspruch im Wege der Auslegung ablehnte, schoß aber über das Ziel hinaus, indem er schon das tatbestandliche Vorliegen einer Garantie verneinte (vgl. OGH ÖBA 1988, 615, 618 und dazu mit Recht kritisch Jabornegg, a.a.O., S. 620 f.). Die Testfrage ist, ob ein Garantieanspruch auch dann abzulehnen gewesen wäre, wenn ceteris paribus der Wechsel echt, der Aussteller aber insolvent gewesen wäre; ein solches Ergebnis schiene mir befremdlich.
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c) Bei der Erörterung exemplarischer deutscher Rechtsfiguren darf von Jherings „Entdeckung“ der culpa in contrahendo nicht fehlen,116 zumal sie in Japan rezipiert worden ist.117 Wie die Entwicklung gezeigt hat, ist damit die Grundlage für einen eigenständigen Haftungstatbestand zwischen Vertrag und Delikt gelegt worden, der zwar an die vertragliche „Sonderbeziehung“ anknüpft, aber eben keine Haftung aus Vertrag ist und außerdem über das vorvertragliche Stadium hinausreicht, wie insbesondere die Verbindung mit den „Schutzwirkungen zugunsten Dritter“ deutlich macht. Unter dem – hier im Vordergrund stehenden – Gesichtspunkt der praktischen Leistungsfähigkeit ist dabei besonders bemerkenswert, daß auch Rechtsordnungen mit einer deliktsrechtlichen Generalklausel wie z. B. Österreich und die Schweiz das Institut der culpa in contrahendo kennen.118 Das ist ein starkes Indiz gegen die Berechtigung [91] des in Deutschland gerade unter rechtsvergleichenden Aspekten schwelenden Verdachts, daß die culpa in contrahendo ihre Wirkungsmächtigkeit vorwiegend oder gar allein der tatbestandlichen Enge des deutschen Deliktsrechts verdankt.119 Zugleich ist es folglich ein Anhaltspunkt dafür, daß die culpa in contrahendo ein nützliches Instrument für die Bewältigung von Problemen darstellt, die sich auch in einer anders strukturierten Rechtsordnung als der deutschen stellen können. Fragt man demgemäß sehr allgemein und in gewissem Sinne unabhängig vom positiven Recht nach den praktischen Funktionen der culpa in contrahendo, so springt in erster Linie ihr Beitrag zur Bewältigung der Schwierigkeiten ins Auge, die sich hinsichtlich der Ersatzfähigkeit primärer Vermögensschäden ergeben. Auch eine Rechtsordnung, die insoweit nicht so restriktiv verfährt wie die deutsche, muß hier nämlich zur Vermeidung untragbarer Haftungsrisiken und zum Schutze der Handlungs- und Wettbewerbsfreiheit Spielräume offenhalten – etwa durch gesteigerte Anforderungen an die Rechtswidrigkeit oder Schuldhaftigkeit des schädigenden Verhaltens. Es liegt daher nahe, insoweit nach zusätz116 Vgl. dazu aus methodologischer Sicht eingehend Larenz, a.a.O. (Fn. 22), S. 405 ff.; zum heutigen Stand der deutschrechtlichen Dogmatik zur c. i. c. vgl. zuletzt Lorenz, in: Jayme (Hrsg.), German National Reports in Civil Law Matters for the XIIIth Congress of Comparative Law in Montreal 1990, S. 41 ff. 117 Vgl. Kitagawa, a.a.O. (Fn. 1), S. 82 ff. und a.a.O. (Fn. 4), S. 127. 118 Vgl. zum österreichischen Recht z. B. Klang/Gschnitzer, Komm. zum ABGB, 2. Aufl., 1958/9, Bd. IV 1, § 878 Anm. B V 1-3 = S. 878 ff.; Frotz, Gedächtnisschr. für Gschnitzer, 1969, S. 166 f.; Welser, Vertretung ohne Vertretungsmacht, 1970, S. 57 ff.; ders., ÖJZ 1973, 281 ff.; Ostheim, JBl. 1980, 522 ff. und 570 ff.; Koziol, Haftpflichtrecht, Bd. II, 2. Aufl., 1984, S. 70 ff.; Ehrenzweig/Mayrhofer, Schuldrecht A. T., 3. Aufl., 1986, S. 224 ff.; für einen deliktsrechtlichen Lösungsansatz demgegenüber Reischauer, in: Rummel, a.a.O., vor §§ 918-933 Rdn. 14; zur Rechtslage im schweizerischen Recht vgl. die Darstellung und die Nachw. bei Canaris, Festschr. für Giger, 1989, S. 97 ff. 119 Repräsentativ z. B. Pouliadis, Culpa in contrahendo und Schutz Dritter, 1981, S. 80 ff., 250; Thiemann, Culpa in contrahendo – ein Beitrag zum Deliktsrecht, 1984, S. 26 ff., 99 ff.; vgl. ferner die Nachw. unten Fn. 122.
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lichen Kriterien für die Bejahung einer Schadensersatzpflicht, die über die Schadenszufügung als solche hinausgehen, und also nach Anhaltspunkten für die Begründung einer besonderen Pflichtenstellung zu suchen. Hierfür bietet sich die culpa in contrahendo an, weil schon im Vor- und Umfeld eines Vertrages eine besonders enge Beziehung zwischen den Parteien besteht und die Rücksichtnahme auch auf die (bloßen) Vermögensinteressen des anderen Teils in engstem Zusammenhang mit den spezifischen Funktionen des Vertrages steht.120 Hier hat m. E. auch die Verknüpfung der culpa in contrahendo mit der Vertrauenshaftung besondere Überzeugungskraft.121 Darüber hinaus wird die culpa in contrahendo in Deutschland bekanntlich auch zum Schutz von absoluten Rechten wie Leben, Gesundheit und Eigentum eingesetzt. Daß sie insoweit ebenfalls eine legitime Funktion erfüllt, wird besonders häufig bezweifelt122 – und zwar vor allem von Wissenschaftlern, deren Denken durch Rechtsvergleichung beeinflußt ist. Indessen sind diese Vorbehalte nicht berechtigt. Das zeigt sich nahezu immer dann, wenn die Vertragshaftung für den Geschädigten günstiger ist als die Deliktshaftung. So ist es z. B. eine rechtspolitisch legitime, ja vernünftige Differenzierung, die Einstandspflicht für Fremdverschulden bei jener weiter auszudehnen als bei dieser [92] und sie also z. B. im Vertragsrecht auf den „independent contractor“ zu erstrecken, im Deliktsrecht aber auf die „eigenen Leute“ des Schädigers zu beschränken (so daß z. B. der Hauseigentümer zwar seinen Mietern, nicht aber auch den Passanten für ein Verschulden des Architekten oder des Bauunternehmers haftet). In derartigen Fällen ergibt sich sofort ein starkes Gerechtigkeitsbedürfnis dafür, schon im vorvertraglichen Stadium sowie auch gegenüber „vertragsnahen“ Dritten die Regeln über die Vertragshaftung anzuwenden, obwohl eine Haftung aus dem Vertrag nicht in Betracht kommt.123 Überaus lehrreich sind in diesem Zusammenhang auch die Fälle, in denen die Vertragshaftung unabhängig von Verschulden ist (und eine korrespondierende außervertragliche Gefährdungshaftung nicht besteht). So wurde z. B. die verschuldensunabhängige Haftung des Gastwirts gemäß § 701 BGB auch zu der Zeit, als das noch nicht wie heute im Gesetz stand, auf das Stadium vor Vertragsschluß erstreckt, also in contrahendo bejaht.124 Ähnlich werden in den Schutzbereich der verschuldensunabhängigen Vermieterhaftung nach § 538 I Fall 1 BGB „vertragsnahe“ Dritte wie Ehefrau und Kinder des Mie-
Vgl. näher Canaris, 2. Festschr. für Larenz, 1983, S. 37 f. und S. 90 ff. Vgl. näher Canaris, a.a.O. (Fn. 120), S. 105 ff. 122 Vgl. z. B. von Caemmerer, DJT-Festschr., 1960, Bd. II, S. 56 ff.; Stoll, AcP 176 (1976), 151 mit Fn. 21; ders., Festschr. für von Caemmerer, 1978, S. 437, 452, 454; ders., Festschr. für Flume, 1978, S. 752; Kreuzer, JZ 1976, 780; Hohloch, JuS 1977, 305 f.; von Bar, JZ 1979, 729. 123 Vgl. eingehend Canaris, a.a.O. (Fn. 120), S. 87 ff. 124 Vgl. z. B. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts II, 9. Aufl., 1968, S. 281 m. Nachw. 120 121
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ters einbezogen, auch wenn sie nicht Partei des Mietvertrages sind.125 Die Konstruktion eines „gesetzlichen“, d. h. auf dem objektiven Recht und nicht auf dem Parteiwillen beruhenden, Schutzverhältnisses bei rechtsgeschäftlichem Kontakt, in die die Lehre von der culpa in contrahendo schließlich gemündet ist, stellt somit weder eine bloße Reaktion auf Eigentümlichkeiten des deutschen Rechts noch gar eine überflüssige Ausgeburt „hochgezüchteter“ Dogmatik dar, sondern ist der Versuch einer konsistenten Antwort auf ziemlich fundamentale Sachprobleme,126 die sich bei unterschiedlicher Ausgestaltung von Vertrags- oder Deliktshaftung mehr oder weniger zwangsläufig in der einen oder anderen Variante ergeben. 5. „Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits?“ Juristen grämen sich oft darüber, daß ihre Arbeit wegen des Bezugs auf ihr nationales Recht nicht dieselbe internationale Resonanz findet wie die der Vertreter anderer Disziplinen. So hat Kötz unlängst beredte Klage darüber geführt, daß „dem wissenschaftlichen Geschäft des Juristen wegen seiner Verengung auf einen bloß nationalen Gegenstand eine unvermeidliche Provinzialität, eine gewisse Kleinkariertheit, eine subalterne Beschränktheit anhaftet“.127 Noch härter trifft uns der Hohn Pascals: „Trois degrés d’élévation du pôle renverse(nt) toute la jurisprudence. ... Plaisante justice qu’une rivière [93] borne! Vérité au decà des Pyrénées; erreur au delà“.128 Hier wird, so scheint es, der Jurisprudenz nicht nur die Rationalität, sondern außerdem sogar die Gerechtigkeit ihrer Urteile abgesprochen. Indessen vernachlässigt solche Kritik die Geschichtlichkeit des Rechts, das historisch gewachsen ist und sich in ständiger Weiterentwicklung befindet, und verschließt sich darüber hinaus der Notwendigkeit seiner Positivierung, die nicht nur ein Gebot der Rechtssicherheit, sondern ebenso eine Folge der Einsicht in die Relativität von Gerechtigkeit bzw. in die Schwierigkeit ihrer Erkenntnis ist. Es geht daher nicht in erster Linie um Wahrheit oder Irrtum, sondern zunächst einmal um die Respektierung der Möglichkeit, der Gerechtigkeit auf unterschiedlichen Wegen näher zu kommen. Also doch „unvermeidliche Provinzialität“, aus der uns allenfalls die Rechtsvergleichung heraushelfen kann? Das wäre eine schiefe Sicht. Gerade die Rechtsvergleichung lehrt nämlich, daß sich wesentliche Probleme häufig in unterschied-
Vgl. nur BGHZ 49, 350, 354. Vgl. dazu Karsten Schmidt, a.a.O. (Fn. 60), S. 20 ff., der die Lehre vom Schutzverhältnis als Beispiel dogmatischer Institutionenbildung anführt und positiv würdigt. 127 Vgl. Kötz, a.a.O. (Fn. 74), S. 76. 128 Vgl. Pascal, Pensées, 1670, hier zitiert nach der Ausgabe von Lafuma, 1951, Nr. 60-108. 125 126
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lichen Rechtsordnungen in gleicher oder ähnlicher Weise stellen,129 daß die Zahl der „brauchbaren“ Lösungen begrenzt ist und man darüber hinaus nicht selten zwischen „besseren“ und „schlechteren“ Lösungen unterscheiden kann, und daß die „fundamentalen Rechtsgrundsätze“ sowie zahlreiche „allgemeine Rechtsprinzipien“130 in hohem Grade von den nationalen Rechten unabhängig sind. Es ist aber weitgehend die Rechtsdogmatik, die die Lösungsmodelle und Argumentationsmuster entwickelt, welche der Rechtsvergleichung überhaupt erst den Gegenstand bieten. Auch fungiert der Rechtsvergleicher, der Anregungen aus fremden Rechtsordnungen für die Fortbildung seines Heimatrechts de lege lata fruchtbar macht – was bei Vorhandensein entsprechender Spielräume durchaus möglich sein kann131 – seinerseits als Rechtsdogmatiker, weil (und sofern) er das fremde Gedankengut harmonisch, also systemverträglich, in das geltende Recht zu integrieren sucht. Andererseits hebt die Rechtsvergleichung einen Schatz von Lösungsmöglichkeiten und Rechtsgedanken ins Bewußtsein, dessen Reichtum die Phantasie auch des produktivsten Rechtsdogmatikers weit übersteigt und der überdies den Vorzug hat, bereits in der Praxis erprobt zu sein. Außerdem öffnet sie nicht selten den Blick für zukunftsweisende Entwicklungstendenzen. Insgesamt wirken somit Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik mit je unterschiedlicher Aufgabenstellung zusammen. Zu internationaler Einheitlichkeit der Jurisprudenz nach Art der Naturwissenschaften oder der Volks- und Betriebswirtschaftslehre werden sie es dabei freilich nicht bringen. Das ist auch gar nicht wünschenswert. Denn dadurch [94] ginge der Wettbewerb unterschiedlicher Lösungsmodelle und damit ein wesentlicher Teil jenes evolutionären Prozesses von trial and error verloren, der nach Popper und von Hayek eine der wichtigsten Voraussetzungen für gesellschaftlichen und rechtlichen Fortschritt ist.
129 Das heißt nicht, daß auch ihre Formulierung stets in dergleichen Weise erfolgen muß und einer vollständigen „dogmatischen Reinigung“ bedürftig oder auch nur zugänglich ist, vgl. dazu oben II 3. 130 Vgl. zu dieser Unterscheidung F. Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, a.a.O., S. 301 ff. 131 Treffend dazu F. Bydlinski, Methodenlehre, a.a.O., S. 461 ff.
Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien* JZ 1993, S. 377–391 Der Beitrag befaßt sich mit der Bedeutung von Theorien in der Jurisprudenz. Er knüpft dabei an bestimmte Positionen der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie an, ohne sich jedoch eine von diesen zur Gänze zu eigen zu machen. In erster Linie verfolgt er praktisch-methodologische Ziele, bemüht sich aber zugleich, Brücken zu schlagen zwischen dem vorwiegend intuitiven Umgang von Juristen mit ihren Theorien und dem reflektierten Denken von Wissenschaftsphilosophen über Theorien. Die Problematik wird an Hand einer Reihe von Beispielen aus dem Bereich des Privatrechts veranschaulicht. I. Charakteristika und Aufgaben juristischer Theorien In der praktischen Arbeit von Juristen scheinen Theorien eine große Rolle zu spielen: Die Lehrbücher sind voll davon, die Studenten lernen sie eifrig, und auch die Rechtsprechung bedient sich ihrer häufig. Demgegenüber ist die Literatur, die sich explizit mit juristischen Theorien befaßt, eher spärlich1. Das dürfte vor allem damit zusammenhängen, daß sich seit der Überwindung der „Begriffsjurisprudenz“ und erst recht seit dem Vordringen des „Problemdenkens“ Mißtrauen gegen die Leistungsfähigkeit juristischer Theorien breit gemacht hat. Demgemäß gilt es zunächst, deren Bedeutung und Funktion für die Jurisprudenz näher zu beleuchten. * Die vorliegende Abhandlung wollte ich ursprünglich Karl Larenz zu seinem 90. Geburtstag am 23.4.1993 dedizieren; ich widme sie nunmehr seinem Andenken. Sie geht zurück auf einen Vortrag, den ich 1991 vor der Rechtswissenschaftlichen Gesellschaft in Göttingen gehalten habe; einige Grundgedanken habe ich, wenngleich in wesentlich anderer Form, bereits 1990 vor der juristischen Fakultät der Universität Lissabon vorgetragen. 1 Am wichtigsten erscheint mir der Beitrag von Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, Festschr. für Schelsky, 1978, S. 103, im folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in ders., Recht – Moral – Ideologie, 1981, S. 70; vgl. ferner Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 449 ff.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 337 ff.; U. Neumann in: Kaufmann/Hassemer, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Aufl. 1989, S. 384 ff.; H. Wagner, Die Theorie in der Rechtswissenschaft, JuS 1963, 457 ff.; Medicus, Theorien im modernen Zivilrecht, in Wolfgang Thiele Gedächtnisreden, 1984, S. 38 ff.; R. Weimar, Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft, Gedächtnisschr. für Tammelo, 1984, S. 703 ff.; Zöllner, Theorie und Praxis im Arbeitsrecht, ZfA 1990, 337 ff.
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1. Allgemeinheit und Systembezogenheit als Merkmale des Theoriebegriffs a) Kant beginnt seine berühmte Abhandlung „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ mit den Worten: „Man nennt einen Inbegriff selbst von praktischen Regeln alsdann Theorie, wenn diese Regeln als Prinzipien in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden...“2. Was die Theorie auszeichnet, ist danach also eine „gewisse Allgemeinheit“. Dieses Kriterium wird auch in der modernen Wissenschaftsphilosophie als maßgeblich angesehen. So definiert z. B. Popper lapidar: „Wissenschaftliche Theorien sind allgemeine Sätze“3. Indem Kant außerdem sagt, daß die Regeln „als Prinzipien“ gedacht werden, läßt er zugleich den Gedanken des Systems anklingen, welches er als „ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“ bezeichnet4. In der Tat verdient nicht jede beliebige Verbindung allgemeiner Sätze den Namen Theorie5. Hinzukommen muß vielmehr, daß diese systematisch, d. h. nach den Kriterien der Ordnung und Einheit6, miteinander verbunden sind. Ziel einer wissenschaftlichen Theorie ist also [378] eine systematische Erklärung im Wege der Einordnung in einen umfassenderen Zusammenhang7. Die Naturwissenschaften streben diese an, indem sie die Erscheinungen auf Naturgesetze zurückführen. In der Jurisprudenz besteht die Aufgabe von Theorien vornehmlich darin, Normen mit Hilfe spezifisch juristischer, d. h. „dogmatischer“ Begriffe und/oder durch ihre Verknüpfung mit allgemeinen Rechtsprinzipien verständlich zu machen8. b) An das Erfordernis der „Allgemeinheit“ sollten aus pragmatischen Gründen keine starken Anforderungen gestellt werden. Man darf sich also nicht allein an den „großen“ Theorien – etwa der Physik – orientieren, sondern bezieht zweckmäßigerweise auch die „kleinen“ in den Begriff ein9, weil und sofern auch sie die Funktion der Erklärung durch Einordnung in einen „allgemeineren“ Zu2 Vgl. Kant Berlinische Monatsschrift 1793, 201 = Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften Bd. VIII S. 275. 3 Vgl. Popper, Logik der Forschung, 9. Aufl. 1989, S. 31. 4 Vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786, Vorrede S. IV = Akademieausgabe Bd. IV S. 467; vgl. zu Kants Systembegriff eingehend und weiterführend Kambartel, Theorie und Begründung, 1976, S. 28 ff., 41 ff. 5 Zutreffend Watkins, Wissenschaft und Skeptizismus, 1992, S. 108 f. 6 Vgl. zu dem hier zugrunde gelegten Systembegriff, der auf verhältnismäßig bescheidenen Voraussetzungen aufbaut, näher Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 11 ff., 61 ff.; von einem wesentlich anspruchsvolleren Systembegriff geht z. B. Hruschka aus, vgl. JZ 1985, 1 f. 7 Ähnlich z. B. Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, 3. Aufl. 1986, S. 319 und ders., Die Wahrheit des Mythos, 1985, S. 96 f. 8 Die Unterscheidung von Erklären und Verstehen soll hier nicht thematisiert werden, zumal ich deren Fruchtbarkeit für gering halte. 9 So auch Dreier aaO (Fn. 1) S. 73 und S. 93 f. am Beispiel der Theorien zur Interpretation des Merkmals „Wegnahme“ i. S. von § 242 StGB.
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sammenhang zu erfüllen suchen. Allerdings sollte Theorie entgegen einer Gepflogenheit, die sowohl in der Umgangssprache als auch unter Juristen verbreitet ist, nicht einfach als Synonym für Hypothese gebraucht werden. Wenn jemand z. B. sagt, er habe eine „Theorie“ darüber, wer der Mörder sei, so ist das zwar eine Hypothese, aber keine Theorie i. S. des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs, weil es hier an der spezifischen Erklärungsleistung durch Einordnung in einen allgemeinen Zusammenhang fehlt. Zwar ist jede Theorie (nur) eine Hypothese, aber darum noch längst nicht jede Hypothese eine Theorie. 2. Die heuristische Funktion juristischer Theorien und die Kriterien für deren Leistungsfähigkeit a) Auch wenn juristische Theorien oft zunächst nur zum Zwecke einer besseren Darstellung und Ordnung des Rechtsstoffes entworfen werden, erschöpft sich ihre Bedeutung darin durchaus nicht. Sofern nämlich die Schaffung von Ordnung nicht nur äußerlich ist, sondern auf einem vertieften Verständnis von Sachzusammenhängen beruht – also das Prädikat „systematisch“ verdient –, enthält sie zwangsläufig ein produktives Element. Eine Norm in einen allgemeineren Zusammenhang einzuordnen, kann daher ihre Interpretation beeinflussen. In der Tat verwendet der Jurist Theorien zur Gewinnung neuer, d. h. bisher so nicht formulierter Rechtssätze – sei es durch die theoriegeleitete Auslegung geschriebener Normen oder sei es gar bei der Entwicklung ungeschriebener Normen. Rechtsdogmatische, d. h. auf das positive Recht bezogene Theorien10 – und nur von diesen soll im folgenden die Rede sein11 – haben daher außer ihrer explikativen auch eine heuristische Funktion12. b) Diese beiden Funktionen stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern ergänzen und fördern sich wechselseitig. Das sei an dem „klassischen“ Theorienstreit um die Entstehung der Verpflichtung aus einem Wertpapier veranschaulicht13. Kreations-, Vertrags- und Rechtsscheintheorie bemühen sich kei10 Zum hier zugrunde gelegten Verständnis von Dogmatik vgl. näher Canaris, Festschr. für Kitagawa, 1992, S. 74 ff. 11 Man kann von den rechtsdogmatischen die rechtstheoretischen Theorien unterscheiden, vgl. dazu Dreier aaO (Fn. 1) S. 94 ff.; daß in den Titel dieses Beitrags nicht das Wort „rechtsdogmatisch“, sondern statt dessen das farblosere Wort „juristisch“ aufgenommen worden ist, hat seinen Grund darin, daß ersteres Gegenstand zahlreicher Mißverständnisse und Grundlage vielfältiger – z. T. geradezu böswilliger – Polemik ist. 12 Vgl. dazu eingehend H. Wagner JuS 1963, 458 ff.; insoweit ähnlich Dreier aaO (Fn. 1) S. 83; Podlech Jb. für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. II (1972) 493 f.; Pawlowski aaO (Fn. 1) S. 346 ff.; U. Neumann aaO (Fn. 1) S. 385; Zöllner ZfA 1990, 344 f. 13 Vgl. zum folgenden eingehend Hueck/Canaris, Recht der Wertpapiere, 12. Aufl. 1986, §§ 3 und 9. – Der Leser sei um Verständnis dafür gebeten, daß ich in dieser Abhandlung über-
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neswegs nur um die begriffliche Einordnung des Entstehungsaktes, also um die Frage, ob dieser als einseitiges Rechtsgeschäft, Vertrag oder Realakt zu qualifizieren ist. Außerdem und sogar primär geht es vielmehr darum, eine gedankliche Grundlage dafür zu finden, daß Einwendungen gegen die Verpflichtung aus dem Papier gegenüber späteren Erwerbern grundsätzlich ausgeschlossen sind. Dieses Ziel selbst folgt dabei nicht aus einer der Theorien, sondern liegt diesen logisch voraus und beruht auf spezifischen Bedürfnissen der Praxis; es ist bekanntlich darin begründet, daß Inhaber- und Orderpapiere zum Umlauf bestimmt sind und diese wirtschaftliche Aufgabe nur befriedigend erfüllen können, wenn spätere Erwerber grundsätzlich nicht mit Einwendungen aus der Person eines früheren Inhabers rechnen müssen. Die Verbindung von Vertrags- und Rechtsscheintheorie, die heute von der h. L. vertreten wird, sorgt dabei zunächst für die Verträglichkeit der Lösung mit dem System des geltenden Rechts: Die fehlerfreie Begründung der wertpapierrechtlichen Verpflichtung wird im Einklang mit dem – u. a. in § 305 BGB zum Ausdruck kommenden – Grundsatz, daß rechtsgeschäftliche Obligationen nicht durch ein einseitiges Rechtsgeschäft, sondern durch einen Vertrag zustande kommen, auf einen solchen zurückgeführt; und der Schutz späterer Erwerber vor Mängeln dieses Vertrages wird in Übereinstimmung mit den Regeln, die für den gutgläubigen Erwerb beweglicher Sachen gelten, aus der Einstandspflicht für die Veranlassung eines Scheintatbestandes hergeleitet. Zugleich wird dadurch der materielle Gerechtigkeitsgehalt der Problemlösung verdeutlicht. Es wird nämlich einsichtig gemacht, daß derjenige, der ein Wertpapier ohne wirksamen Begebungsvertrag in den Verkehr gelangen läßt, für dessen Einlösung deshalb haftet, weil er durch seine Unterschrift in zurechenbarer Weise eine Vertrauensgrundlage für spätere Erwerber geschaffen hat; indem somit die Prinzipien der Selbstverantwortung und des Vertrauensschutzes als Lösungsgrundlage herangezogen werden, wird auf elementare Rechtsgrundsätze zurückgegriffen und eine Argumentationsbasis geschaffen, die zwar zum einen die Vorgaben des positiven Rechts voll respektiert, zum anderen aber nicht gänzlich in dessen Zufälligkeiten befangen bleibt, sondern zugleich in vor- und überpositivrechtliche Bezirke hineinreicht. Schließlich wird auch ein Rahmen für die Lösung praktischer Einzelprobleme gewonnen. Beispielsweise folgt aus dem Zurechnungsprinzip, daß Geschäftsunfähige und beschränkt Geschäftsfähige nicht haften; denn ihnen fehlt es an der erforwiegend solche Beispiele verwende, mit denen ich mich in meinen eigenen Publikationen näher befaßt habe; diese Art der Auswahl dient der Entlastung des Textes, da man selbstverständlich bei nahezu jedem der verwendeten Beispiele über die richtige Lösung und damit meist auch über die Tauglichkeit als Beispiel streiten kann, so daß die Verweisung auf eine genauere Erörterung an anderer Stelle eine Vertiefung der Argumentation erspart, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung disproportional und störend wäre.
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derlichen rechtsgeschäftlichen Zurechnungsfähigkeit. Andererseits ist ebenfalls von vornherein klar, daß Einwendungen wie Abhandenkommen des ordnungsgemäß unterschriebenen Papiers, Dissens, Irrtum, Erfüllung usw. dem gutgläubigen Erwerber nicht entgegengesetzt werden können, da sie die Zurechenbarkeit des vom Aussteller geschaffenen Vertrauenstatbestandes unberührt lassen. Auch das Rechtsscheinprinzip enthält wichtige Vorgaben für die Entscheidung der praktischen Probleme. So ergibt sich aus ihm z. B. ohne weiteres, daß der bösgläubige Nehmer des Papiers und [379] dessen Finder nicht geschützt werden. Daß die Theorie auch für die Beantwortung schwieriger und hochkontroverser Fragen die Richtung zu weisen vermag, zeigt sich u. a. in den Fällen, in denen jemand die Verfälschung des Papiers durch dessen unsorgfältige Ausfüllung ermöglicht oder erleichtert hat; da er dann in zurechenbarer Weise einen Scheintatbestand veranlaßt hat, haftet er nach herrschender und richtiger Lehre entgegen der Ansicht der Rspr. gutgläubigen Erwerbern grundsätzlich gemäß dem Inhalt des verfälschten Papiers, zumal sonst untragbare Wertungswidersprüche gegenüber der Einstandspflicht des Ausstellers bei anderen Mängeln gleichen oder gar höheren Gewichts entstehen14. c) Vor diesem Hintergrund lassen sich die Funktionen einer juristischen Theorie etwa folgendermaßen zusammenfassen: Diese ermöglicht die begriffliche und/oder dogmatische Einordnung der einschlägigen Problemlösung(en), gewährleistet deren Verträglichkeit mit dem System des geltenden Rechts, verdeutlicht ihren materiellen Gerechtigkeitsgehalt und stellt einen Rahmen für die Lösung von (weiteren) Problemen zur Verfügung. Zugleich liegen darin konsequenterweise auch die wichtigsten Kriterien für die Leistungsfähigkeit einer juristischen Theorie. II. Paradigmatische Problemlösungen als integrierender Bestandteil juristischer Theorien Billigt man juristischen Theorien eine heuristische Funktion zu, so anerkennt man damit zugleich ihre Anwendungsrelevanz. Damit begibt man sich nun freilich auf ein heikles Gebiet. Ergebnisse aus einer Theorie einfach formallogisch zu deduzieren, gilt nämlich seit der Abkehr von der „Begriffsjurisprudenz“ bekanntlich als unzulässige „Inversionsmethode“, wie man im Anschluß an Heck zu sagen pflegt, und stellt in der Tat meist einen vitiosen Zirkelschluß dar. Das aber bedeutet, daß der Anwendungsbezug juristischer Theorien im Grunde weitgehend ungeklärt ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn man Theorien mit „Sätzen“ identifi14 Vgl. eingehend Canaris JZ 1987, 543 ff. gegen BGH, 26. 5. 1986 – II ZR 260/85 = JZ 1987, 577.
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ziert, wie das der eingangs zitierten Definition Poppers und auch der gängigen Vorstellung in der juristischen Methodenlehre entspricht, nach der eine Theorie ein System von Aussagen darstellt15; denn aus bloßen Sätzen oder Aussagen kann man schwerlich auf andere Weise als im Wege logischer Schlüsse Ergebnisse herleiten. 1. Das „strukturalistische Theorienkonzept“ a) Abhilfe könnte hier ein neuartiges Verständnis von Theorie schaffen, das auf den amerikanischen Wissenschaftstheoretiker Sneed zurückgeht16 und vor allem von Stegmüller wesentlich ausgebaut worden ist17. In den USA bezeichnet man es als den non-statement-view, in Deutschland als das „strukturalistische Theorienkonzept“. Ausgangspunkt sind Untersuchungen zur Physik gewesen. Dabei hat sich gezeigt, daß z. B. die Theorie Newtons, d. h. die klassische Partikelmechanik, zu völlig unsinnigen Konsequenzen führen würde, wenn man alle ihre Aussagen wörtlich nehmen und daraus ohne weiteres auf ihren Anwendungsbereich schließen würde; Stegmüller hat das drastisch dahin formuliert, man könne geradezu auf den Gedanken kommen, „Newton müsse verrückt gewesen sein – und zwar nicht etwa verrückt bloß als Metaphysiker, sondern als Physiker“18. Der Widersinn läßt sich indessen unschwer beseitigen, indem man die Beispiele hinzunimmt und dadurch die Anwendungsfälle mitberücksichtigt, für deren Bewältigung Newton seine Theorie entworfen hat; man darf diese also nicht allein aus den in ihr enthaltenen abstrakten Elementen interpretieren, sondern muß zugleich im Auge behalten, daß sie zur Erklärung bestimmter Erscheinungen dient: des Sonnensystems, der Pendelbewegungen, der Gezeiten, des freien Falls von Körpern in Erdnähe. Demgemäß betrachten die Anhänger des strukturalistischen Theorienkonzepts es als eine Illusion, daß man den Anwendungsbereich einer Theorie durch vollständige Angabe aller notwendigen und hinreichenden Bedingungen bestimmen könne. Statt dessen erheben sie die „intendierten Anwendungen“ zum Bestandteil der Theorie selbst und ermitteln etwaige neue Anwendungen durch
15 Vgl. z. B. Dreier aaO (Fn. 1) S. 82; Larenz aaO (Fn. 1) S. 450; Alexy, Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990, S. 97. 16 Vgl. Sneed, The Logical Structure of Mathematical Physics, 1971 (2. Aufl. 1979), insbesondere S. 154 ff. 17 Vgl. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie Bd. II/3, 1986, passim. 18 Vgl. Stegmüller, Kripkes Deutung der Spätphilosophie Wittgensteins, 1986, S. 133.
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ihre Ähnlichkeit mit den „paradigmatischen Beispielen“19, wobei sich Sneed und Stegmüller insoweit an die Sprachphilosophie Wittgensteins anlehnen20. b) Es liegt auf der Hand, daß sich dieses Theorienkonzept für die Jurisprudenz heranziehen läßt21, ja daß es für sie von besonderer Fruchtbarkeit ist. Zum einen ist es nämlich für den Juristen eine alltägliche Erfahrung, daß man zwar notwendige und meist auch einige hinreichende, aber fast nie alle Bedingungen für die Anwendung einer Theorie oder auch nur einer Regel angeben kann; und zum anderen gehört die Bildung paradigmatischer Fälle und das Ziehen von Ähnlichkeitsschlüssen zu unserem elementaren Handwerkszeug22. Was bisher als bloßer Notbehelf und Anzeichen für die wissenschaftliche Rückständigkeit unserer Disziplin erschien, wird vor dem Hintergrund des strukturalistischen Konzepts zum unvermeidlichen Teil der Theoriebildung selbst, ohne den sogar das Musterbeispiel der strengen Wissenschaften, die Physik, nicht auskommt 23. Zu präzisieren ist freilich, was man bei einer juristischen Theorie unter den „intendierten Anwendungen“ zu verstehen hat. 2. Fallentscheidungen, Fallgruppenbildungen oder Problemlösungen als „intendierte Anwendungen“? a) Bei den Anhängern des „strukturalistischen“ Theorienkonzepts scheint noch keine endgültige Klarheit darüber zu bestehen, ob als „intendierte Anwendungen“ individuelle Anwendungen oder Anwendungsarten anzusehen sind – bezüglich der Theorie Newtons also z. B. einzelne Pendelbewegungen oder die Pendelbewegung als solche. Für die Jurisprudenz besteht die individuelle Anwendung in der Entscheidung eines Einzelfalls i. S. eines konkreten Lebenssachverhalts bzw. Rechtsstreits. Mag man bei der Bildung einer Theorie mitunter auch einen solchen vor Augen haben – zu- [380] mal in der richterlichen Praxis –, so wäre es doch nicht adäquat, ihn als „intendierte Anwendung“ anzusehen. Zwar be19 Vgl. Stegmüller aaO (Fn. 17) S. 2, 26 ff., 46 f., 198 f.; ähnlich Balzer, Empirische Theorien: Modelle – Strukturen – Beispiele, 1982, S. 28 ff.; Balzer/Moulines/Sneed, An Architonic for Science, 1987, S. 37 ff. 20 Vgl. dazu näher alsbald unter II 3 b. 21 Vgl. Canaris, Festschr. für Giger, 1989, S. 116 ff.; siehe ferner Schlapp, Theorienstrukturen und Rechtsdogmatik, 1989, S. 122 ff., dessen Hauptinteresse indessen der Formulierbarkeit juristischer Theorien mit den Mitteln der Mengenlehre gilt, vgl. dazu unten III 3 a. 22 Zur Bedeutung der Analogie für das juristische Denken grundlegend A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 2. Aufl. 1982; vgl. im übrigen aus jüngster Zeit vor allem die Beiträge in Nerhot (Hrsg.), Legal Knowledge and Analogy, 1991. 23 Allerdings soll damit selbstverständlich nicht prätendiert werden, daß sich juristische Theorien hinsichtlich ihres Exaktheitsgrades oder auch nur hinsichtlich ihres Erklärungsgehalts den physikalischen an die Seite stellen ließen.
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haupten Anhänger der hermeneutischen Schule, daß sich das Rechtssystem mit jeder Anwendung einer Norm, also jeder Einzelfallentscheidung ändert24 – was folgerichtig wohl auf das Verständnis der Anwendung einer Theorie übertragen werden müßte25 –, doch liegt darin eine Verabsolutierung des hermeneutischen Ansatzes und des Fallrechtsdenkens26, die durch die Realität juristischen Denkens nahezu tagtäglich widerlegt wird. Wird z. B. die wertpapierrechtliche Rechtsscheintheorie auf einen weiteren Fall des Diebstahls eines unterschriebenen Wechsels angewandt – um bei diesem Beispiel zu bleiben –, so stellt das weder eine Anreicherung der Theorie noch eine Änderung des Rechtssystems dar. Auch kann die Entscheidung eines Falls schlicht und einfach falsch sein, so daß sie schon aus diesem Grund das Rechtssystem nicht zu ändern vermag. b) Eher zu erwägen ist, als „intendierte Anwendungen“ juristischer Theorien die ihnen zugeordneten Fallgruppen anzusehen. In der Tat ist es ja eines der Hauptcharakteristika heutiger Jurisprudenz, daß sie eine ihrer wichtigsten Aufgaben in der Herausarbeitung von Fallgruppen sieht. So ist z. B. die Lehre von der Drittschadensliquidation überhaupt nicht zu verstehen, geschweige denn adäquat anzuwenden ohne die Kenntnis der einschlägigen Fallgruppen wie mittelbare Stellvertretung, obligatorische Gefahrentlastung, Obhutspositionen usw. Indessen setzt die Bildung von „Gruppen“ ihrerseits ein Kriterium voraus, mit dessen Hilfe die Fälle „gruppiert“ werden; demgemäß weisen diese eine Gemeinsamkeit auf, die über sie hinausweist und offenbar für ihre Entscheidung wichtig ist. Überdies muß zwischen den verschiedenen Gruppen untereinander wiederum eine Ähnlichkeit bestehen, damit man sie überhaupt in Zusammenhang miteinander bringen kann. Nur die Fallgruppen der Drittschadensliquidation aufzählen zu können, bleibt daher borniertes Repetitorwissen, solange man nicht das tertium comparationis kennt und versteht: die bloße Schadensverlagerung im Gegensatz zur Schadenskumulierung27. c) Die Verbindung zwischen den Fällen und die Ähnlichkeit zwischen den Fallgruppen wird somit durch die Gemeinsamkeit des zu lösenden Problems konstituiert. Zwar erkennen wir dieses oft erst durch den Vergleich mit anderen ähnlichen oder gegensätzlichen Fällen28, doch ist für die theoretische Durchdringung Vgl. Hassemer, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1974, S. 177. So in der Tat Schlapp aaO (Fn. 21) S. 72 f. 26 Demgemäß ist es eine krasse Überspitzung, wenn Gadamer – bezeichnenderweise in polemischer Wendung gegen Kants Trennung zwischen „bestimmender“ und „reflektierender“ Urteilskraft – undifferenziert behauptet: „Das Allgemeine, unter das man ein Besonderes subsumiert, bestimmt sich eben dadurch selber fort. So bestimmt sich der rechtliche Sinn eines Gesetzes seinerseits durch die Judikatur und grundsätzlich die Allgemeinheit der Norm durch die Konkretion des Falles“, vgl. Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975, S. 519 (Nachwort). 27 Vgl. nur Larenz, Schuldrecht Bd. I, 14. Aufl., 1987, § 27 IV b. 28 Treffend dazu F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 426 f. 24 25
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des Rechtsstoffes nicht der Fall als solcher relevant, sondern allein das Problem, das in ihm sichtbar wird. Hat man dieses aber in seiner spezifischen Besonderheit erst einmal erkannt, wird dadurch meist auch schon der Blick für seine Lösung geöffnet. Wenn einem z. B. bezüglich der Drittschadensfälle der Unterschied zwischen Schadensverlagerung und Schadenskumulierung klar geworden ist, dann ist es nur noch ein kurzer Schritt zu der Einsicht, daß die Bedenken gegen die Ersatzfähigkeit von Drittschäden nur bei letzterer berechtigt sind und daß die Zulassung ihrer Liquidation bei ersterer daher überaus naheliegt. Demgemäß erscheint es folgerichtig, als „intendierte Anwendungen“ juristischer Theorien weder Einzelfallentscheidungen noch die Bildung von Fallgruppen, sondern Problemlösungen anzusehen. 3. Hermeneutische und sprachphilosophische Hintergründe Viele Juristen werden es aus ihrer Erfahrung heraus ohne weiteres als zutreffend akzeptieren, daß man den Anwendungsbereich einer Theorie kaum je durch die Angabe aller notwendigen und hinreichenden Bedingungen bestimmen kann und sich daher weitgehend an paradigmatischen Problemlösungen orientieren muß. Bei dieser rein faktischen Feststellung könnte man es bewenden lassen und mit Beruhigung ergänzend zur Kenntnis nehmen, daß es nach Ansicht der Anhänger des strukturalistischen Theorienkonzepts anscheinend nicht einmal den Physikern grundlegend anders ergeht. Befriedigender ist indessen, wenigstens ansatzweise plausibel zu machen, worin dieser Befund begründet sein könnte. Mehr als einige bruchstückhafte Andeutungen sind dazu im Rahmen dieses Beitrags freilich nicht möglich. a) Juristische Theorien werden (u. a.) zu dem Zweck entwickelt, Probleme zu lösen. Aus der Sicht der modernen Hermeneutik, durch die die deutsche Rechtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten unter dem Einfluß von Heidegger und Gadamer nachhaltig geprägt worden ist29, verliert daher die These, daß die „intendierten Anwendungen“ integrierender Bestandteil einer Theorie sind, viel von der Befremdlichkeit, die sie auf den ersten Blick haben mag. Denn wenn Verstehen ein „Vorverständnis“, d. h. einen „Vorgriff“ auf das zu Verstehende voraussetzt und durch diesen allererst möglich wird, liegt es nahe, daß das Resultat des Verstehens – die Theorie – an das Ziel des Verstehens – die Problemlösungen – gebunden bleibt und ohne deren Berücksichtigung ihrerseits nicht voll zu „verstehen“ ist. Eine Theorie ist eine Antwort auf Fragen; daß zum Verständnis einer 29 Vgl. dazu z. B. Larenz aaO (Fn. 1) S. 206 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. III, 1976, S. 429 ff.; A. Kaufmann in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Aufl. 1989, S. 126 ff.; Picker JZ 1988, 3 ff.; vgl. dazu auch unten V 2 g.
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Antwort grundsätzlich die Kenntnis der entsprechenden Frage gehört und daß beide sich in einem „Hin- und Herwandern des Blickes“30 wechselseitig beeinflussen können, stellt eine hermeneutische Elementareinsicht dar. Es ist aufschlußreich, hier noch einmal auf Kants eingangs herangezogene Bestimmung des Begriffs der Theorie zurückzukommen und diese nunmehr vollständig zu zitieren: „Man nennt einen Inbegriff selbst von praktischen Regeln alsdann Theorie, wenn diese Regeln als Prinzipien in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden, und dabei von einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausübung notwendig Einfluß haben“31. Geht man fehl in der Annahme, daß der letzte, hier hervorgehobene Satzteil auf eben jenes Wechselwirkungsverhältnis anspielt, um das es im vorliegenden Zusammenhang geht? b) Nun ist freilich Stegmüller durchaus kein Anhänger der hermeneutischen Schule, sondern vielmehr ein Repräsentant der analytischen Wissenschaftsphilosophie. In diesem Punkt scheinen sich mir indessen diese beiden – sonst eher gegenläufigen – Strömungen der zeitgenössischen Philosophie zu berühren. Hinzu kommt eine Verbindung zu einer dritten Hauptströmung: der modernen Sprachphilosophie. Sneed und Stegmüller haben sich ausdrücklich auf den späten Witt- [381] genstein berufen und dessen Gedanken der „Familienähnlichkeit“ herangezogen: Wie Wittgenstein in einem ersten Schritt den Gebrauch des Wortes „Spiel“ durch Beispiele erläutert und in einem zweiten Schritt festlegt, daß alles „Spiel“ heißen soll, was mit jenen hinreichende Ahnlichkeit hat, so sollen nach Stegmüller zunächst bestimmte Anwendungen einer Theorie als Paradigmata eingeführt und weitere Anwendungen dann gegebenenfalls durch Ähnlichkeitsschlüsse hinzugenommen werden32. In der Tat scheint eine Anlehnung an die Sprachphilosophie Wittgensteins hier nahezuliegen. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die zentrale Rolle, die Beispiele und Ähnlichkeitsschlüsse für diese spielen, sondern auch deshalb, weil in ihr die Kontextabhängigkeit von Sprache in besonderem Maße in den Mittelpunkt gerückt wird; zum Kontext einer Antwort aber gehört auch die korrespondierende Frage, also das zu lösende Problem für die Theorie, so daß man von diesem Ansatzpunkt aus ebenfalls zu dem soeben hervorgehobenen hermeneutischen Zusammenhang gelangt. Indessen ist kritisch einzuwenden, daß „Familienähnlichkeit“ eine besonders schwache Form der Ähnlichkeit ist. Das liegt vor allem daran, daß die Zugehörigkeit zu einer „Familie“ nicht davon abhängt, ob den betreffenden Fällen auch nur
30 Dieses vielzitierte Bild stammt von Engisch und wird von ihm für das Verhältnis von Sachverhalts- und Normermittlung gebraucht, vgl. Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 15, 26, 33. 31 Vgl. Kant aaO (Fn. 2). 32 Vgl. Stegmüller aaO (Fn. 17) S. 27 sowie dens., Kripkes Deutung der Spätphilosophie Wittgensteins, 1986, S. 132 ff.
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eine einzige wesentliche Eigenschaft gemeinsam ist 33; so sagt Wittgenstein im Hinblick auf das von ihm verwendete Beispiel des Wortes Spiele: „Wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften sehen...“34. Darüber hinaus muß es folgerichtig wohl sogar möglich sein, daß zwei Fälle überhaupt kein Merkmal miteinander gemeinsam haben, sondern zu der „Familie“ nur deshalb gehören, weil sie beide mit einem dritten Fall eine (je unterschiedliche) Ähnlichkeit besitzen. Man kann somit auf der Grundlage der „Familienähnlichkeit“ nicht einmal eine einzige notwendige Bedingung oder allenfalls eine solche ohne wesentliche Unterscheidungskraft formulieren35. Demgemäß mag das Kriterium der „Familienähnlichkeit“ zwar für manche juristische Denkvorgänge wie z. B. die Bildung von „Fallgruppen“ oder auch die Entwicklung „beweglicher“ Systeme i. S. Wilburgs eine gewisse Fruchtbarkeit besitzen, doch sollte man die Erfassung der Struktur von Theorien nicht von vornherein ausgerechnet an diese besonders vage Art von Ähnlichkeit binden. Hinzu kommt, daß m. E. vom Boden der Sprachphilosophie des späten Wittgenstein aus keine befriedigende Lösung der Frage in Sicht ist, wann eine Antwort richtig oder falsch ist, und man daher keinen adäquaten Zugang zum Problem der Falsifikation von Theorien findet, doch muß dieser Einwand hier bloße Behauptung bleiben, da seine nähere Begründung den Rahmen dieser Abhandlung gänzlich sprengen würde36. c) Diese Vorbehalte gegen die Anlehnung an die Sprachphilosophie Wittgensteins dürfen nicht dahingehend mißverstanden werden, daß nun doch wieder das Bemühen um die Angabe aller erforderlichen und hinreichenden Bedingungen in den Mittelpunkt zu rücken sei. Skepsis gegenüber diesem Ansatz prägt z. B. auch die Sprachphilosophie Putnams37, obgleich dieser den Gedanken Wittgensteins in 33 Vgl. dazu Bambrough, Universals and Family Resemblances, in: Pitcher (Hrsg.), Wittgenstein, The Philosophical Investigations, 1966, S. 186 ff.; eine etwas andere Deutung geben Stegmüller aaO (Fn. 17) S. 195 ff. und von Kutschera, Sprachphilosophie, 2. Aufl. 1975, S. 190 ff. 34 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1958, Nr. 66 (Hervorhebung im Original). 35 Nicht befriedigend insoweit Stegmüller, Kripkes Deutung ... aaO S. 133, wonach sich als notwendige Bedingung angeben läßt, daß ein Spiel eine menschliche Tätigkeit ist; zum einen ist das eine ziemlich unergiebige Kennzeichnung, weil die insoweit primär interessierende Frage, wodurch sich ein Spiel von anderen Tätigkeiten unterscheidet, dabei völlig ausgeblendet bleibt, und zum anderen entspricht es auch nicht dem – für Wittgenstein doch so wichtigen! – Sprachgebrauch, weil dieser auch das Spiel von Tieren, ja das Spiel der Meereswellen, des Lichts in den Bäumen und dgl. umfaßt. 36 Hingewiesen sei immerhin auf die höchst aufschlußreichen Ausführungen von Stegmüller, Kripkes Deutung ... aaO S. 80 ff. über den „Zwang zur Preisgabe der Verankerung von Satzbedeutungen in Wahrheitsbedingungen“. 37 Vgl. Putnam, Mind, Language and Reality (Philosophical Papers 2), 1975, S. 196 ff., 215 ff.; eine ausführliche Darstellung der Sprachphilosophie Putnams findet sich bei Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 8. Aufl. 1987, Bd. II S. 345 ff.
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mancher Hinsicht fernsteht. Für Putnam wird die Bedeutung („meaning“) von Worten (u. a.) durch die – von ihm so genannte – Stereotype bestimmt38. Darunter ist eine grobe Charakteristik zu verstehen, die sich an den „normalen Mitgliedern“ orientiert und nicht auf der vollständigen Angabe aller notwendigen und hinreichenden Bedingungen beruht; so gehört z. B. zur Stereotype eines Tigers, daß dieser Streifen hat, obwohl das keineswegs auf jeden Tiger zutrifft. Über die Anwendbarkeit eines Begriffs ist somit (u. a.) durch den Vergleich mit der Stereotype, also letztlich wiederum durch Ähnlichkeitsschlüsse zu entscheiden. Hinsichtlich der Wahrheitsfrage ist Putnam, im Gegensatz zum späten Wittgenstein, „Realist“39; die Verbindung zur Sprachphilosophie liegt dabei darin, daß Putnam die „Extension“ – d. h. die Menge der Gegenstände, die unter ein Wort (bzw. einen Satz) fallen – als Bestandteil der Bedeutung auffaßt. d) Eine letzte Bemerkung, in aller Kürze: Beruht nicht Larenz’ Bemühen, Hegels konkret-allgemeinen Begriff für die Jurisprudenz fruchtbar zu machen40, auf ähnlichen Grundeinsichten wie die Skepsis gegenüber der Möglichkeit, den Anwendungsbereich von Worten und Sätzen durch die Angabe aller notwendigen und hinreichenden Bedingungen anzugeben? Und findet nicht dieser Versuch von Larenz, der bisher fast nur Kritik und kaum Gefolgschaft erfahren hat, in derartigen Tendenzen der zeitgenössischen Philosophie mittelbar eine gewisse Stütze? III. Die übrigen Bestandteile einer Theorie Auch nach dem „strukturalistischen“ Konzept besteht eine Theorie selbstverständlich nicht nur aus den „intendierten Anwendungen“. Diesen steht vielmehr der „Kern“ einer Theorie als deren zweiter Bestandteil gegenüber41. 1. Theorienkern und Spezialgesetze Mit dem Bild vom „Kern“ soll zunächst zum Ausdruck gebracht werden, daß nur besonders fundamentale Gesetze zu der Theorie selbst gehören. Daneben gibt es Spezialgesetze, die nur für gewisse, nicht aber für sämtliche Anwendungen gelten42. Wiederum liegt die Parallele zu den juristischen Theorien auf der Hand. Vgl. Putnam aaO S. 139 ff., 148, 249 ff. Vgl. Putnam aaO S. 235 ff., 272 ff. und dens., Meaning and the moral sciences, 1978, S. 97 ff., 123 ff. 40 Vgl. Larenz aaO (Fn. 1) S. 457 ff. 41 Vgl. Stegmüller aaO (Fn. 17) S. 46 ff. 42 Vgl. Stegmüller aaO S. 67. 38 39
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Auch wir können nämlich ein Problem meist nicht allein mit Hilfe der einschlägigen Theorie lösen, sondern benötigen zusätzliche Normen, die nicht Gegenstand der betreffenden Theorie sind; u. U. bedarf es sogar einer spezielleren Untertheorie mit einem engeren Anwendungsbereich oder einer Ergänzungstheorie mit einem anderen Anwendungsbereich. So gibt z. B. die wertpapierrechtliche Rechtsscheintheorie nichts für die wichtige Streitfrage her, ob alle präklusionsfähigen Einwendungen – wie z. B. Willensmängel, Fehlen und Nichtigkeit des Begebungsvertrags und dgl. – unter Art. 17 [382] WG zu subsumieren sind, so daß dem Erwerber immer nur ein bewußtes Handeln zum Nachteil des Wechselverpflichteten schadet, oder ob auf einen Teil der Einwendungen die Art.10 und 16 II WG analog anzuwenden sind mit der Folge, daß der Schutz des Erwerbers schon bei grober Fahrlässigkeit entfällt43. Ebensowenig bietet die Rechtsscheintheorie einen Anhaltspunkt für die Entscheidung der Frage, ob bei Zeichnung des Papiers unter dem Einfluß einer widerrechtlichen Drohung i. S. von § 123 BGB oder bei Fehlen des Erklärungsbewußtseins überhaupt eine präklusionsfähige Einwendung oder nicht vielmehr eine „absolute“, d. h. auch dem gutgläubigen Erwerber gegenüber durchgreifende Einwendung gegeben ist44. Hier bedarf es somit des Rückgriffs auf zusätzliche Lösungskriterien mit eigenständigem Sachgehalt, die gegenüber der Rechtsscheintheorie „extern“ sind. 2. Netzartige Theorienverknüpfungen Solche Zusatz- und Unterprobleme können häufig nicht ohne Rücksicht auf die Behandlung von Parallelfragen in anderen Regelungsbereichen gelöst werden. Beispielsweise kann für die Entscheidung der Frage, ob und wann dem Erwerber eines Wertpapiers nur bewußtes Handeln zum Nachteil des Verpflichteten oder schon grobe Fahrlässigkeit schadet, der Rückgriff auf das Abstraktionsprinzip hilfreich sein, da dadurch der Zugang zu analogen Problemen im Recht des gutgläubigen Erwerbs beweglicher Sachen eröffnet wird; ähnlich ist es für die wertpapierrechtliche Behandlung von Einwendungen wie Drohung, fehlendem Erklärungsbewußtsein usw. nützlich, ja geboten, die Bedeutung dieser Mängel bei der Scheingesellschaft bzw. der fehlerhaften Gesellschaft mitzuberücksichtigen. Dieser letztere Hinweis macht zugleich bewußt, daß auch die wertpapierrechtliche Rechtsscheintheorie selbst nicht isoliert gesehen werden darf, sondern ihrerseits wiederum in den größeren Zusammenhang der gesamten Rechtsscheinlehre eingeordnet werden muß, zu dem auch Figuren wie die Scheingesellschaft, der 43 44
Vgl. dazu eingehend Hueck/Canaris aaO (Fn. 13) § 9 I 3. Vgl. dazu Hueck/Canaris aaO § 9 II 3 d.
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Scheinkaufmann, die Scheinvollmacht und dgl. gehören. Die Rechtsscheintheorie als solche aber ist bekanntlich auf das engste verknüpft mit der Rechtsgeschäftslehre und wäre ohne sorgfältige Abstimmung mit dieser von vornherein zum Scheitern verurteilt45. Wegen derartiger Zusammenhänge spricht Stegmüller von Theoriennetzen, ja er will den Begriff der Theorie durch den des Theoriennetzes geradezu ersetzen46. Letzteres halte ich nun freilich nicht für zweckmäßig, weil dadurch der Blick allzu sehr von der jeweiligen Einzeltheorie auf die Gesamtheit von Theorienkomplexen abgelenkt wird und ein nützlicher Terminus ohne hinreichendes Äquivalent aus der Wissenschaftssprache verschwinden würde. Daß das Phänomen der netzartigen Verknüpfung von Theorien als solches richtig gesehen ist, kann man dagegen auch und gerade aus der Sicht der Jurisprudenz nur bestätigen. 3. „Modelle“ i. S. der Mengenlehre oder Regeln i. S. schwacher Aussagen als Bestandteil des „Kerns“ einer Theorie a) Was nun den Inhalt des „Kerns“ einer Theorie betrifft, so soll dieser nach dem „strukturalistischen“ Konzept aus drei Klassen von „Modellen“ i. S. der Mengenlehre bestehen47. Dem liegt das Bestreben zugrunde, Theorien durch mengentheoretische Prädikate zu formulieren und sich dabei am Präzisionsstandard der heutigen Mathematik zu orientieren. Das soll nicht nur für physikalische, sondern im Prinzip auch für (manche) geistes- und sozialwissenschaftliche Theorien gelten48. Es mag sein, daß eine derartige Vorgehensweise auch für juristische Theorien möglich ist49. Zweckmäßig erscheint sie mir für die Bedürfnisse des Juristen – anders als vielleicht für die des Wissenschaftstheoretikers – indessen nicht. Das liegt an dem sehr hohen Grad der Formalisierung, den das Arbeiten mit den Mitteln der Mengenlehre erfordert. Erste Versuche belegen m. E., daß man dabei zu einer Darstellungsweise von juristischen Theorien gelangt, deren Komplexität in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem Gewinn an Exaktheit steht50 und den Juristen in seiner Alltagsarbeit kraß überfordert. Im übrigen kann eine formale Darstellung, wie sie die mengentheoretische ist, die erforderlichen inhaltlichen 45
433 ff.
Vgl. eingehend Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 424 ff.,
Vgl. aaO S. 70 ff. Vgl. Stegmüller aaO S. 46 f. 48 Vgl. Stegmüller aaO S. 360 ff. 49 Das bejaht Schlapp aaO (Fn. 21) S. 122 ff., dessen Hauptanliegen in diesem Nachweis besteht. 50 Charakteristisch sind die Ausführungen von Schlapp aaO S. 130 f., der einen sehr hohen Aufwand an schwieriger Terminologie benötigt, um höchst triviale juristische Sätze mit den Mitteln der Mengenlehre zu formulieren. 46 47
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Untersuchungen darüber, was zum „Kern“ der Theorie gehört und was nicht, ohnehin nicht ersparen51 und ist auch aus diesem Grunde für den Einzelwissenschaftler, der primär hieran interessiert ist, wenig attraktiv. Das bedeutet freilich nicht, daß das strukturalistische Konzept insoweit zu verwerfen ist. Stegmüller selbst anerkennt nämlich durchaus, daß den „Modellen“ i. S. der Mengenlehre prallellaufende Aussagen der betreffenden Einzelwissenschaft zugeordnet sind52. Wenn er diese nicht als Bestandteil der Theorie ansehen will, so mag es dafür auf der Ebene der Wissenschaftsphilosophie gute Gründe geben, doch folgt daraus nicht, daß man auf der Ebene der Einzelwissenschaften ebenso verfahren muß. Im übrigen betont Stegmüller ausdrücklich, daß man sich Teile des „strukturalistischen“ Konzepts zu eigen machen kann, ohne dieses im ganzen zu übernehmen53; daß die „intendierten Anwendungen“ integrierender Bestandteil einer Theorie sind, läßt sich daher auch dann fruchtbar machen, wenn man mit der herkömmlichen Auffassung daran festhält, daß eine Theorie „Aussagen“ oder „Sätze“ beinhaltet (ohne sich freilich in diesen zu erschöpfen). b) Konstruiert man demgemäß den „Kern“ einer juristischen Theorie nicht als Klassen von „Modellen“ i. S. der Mengenlehre, so bleibt nichts anderes übrig, als sich dazu auch weiterhin der Mittel der normalen Sprache – d. h. nicht notwendig der Umgangssprache, aber doch jedenfalls nur der gewöhnlichen, nichtformalisierten Fachsprache – zu bedienen und in dieser die maßgebliche Aussage zu formulieren. Von einer solchen kann dabei freilich nur in einem schwachen Sinne des Wortes die Rede sein. Meist gelingt uns nämlich nicht mehr als die Aufstellung einer bloßen Regel. Das Charakteristikum einer solchen liegt darin, daß sie Ausnahmen zuläßt und daß sich diese nicht im voraus abschließend festlegen lassen – was wir mit der für Juristen charakteristischen Einschränkung „grundsätzlich“ zum Ausdruck zu bringen pflegen. Auch hier kann man allerdings mit guten Gründen bezweifeln, ob das eine Eigentümlichkeit und eine spezifische Schwäche gerade der juristischen Theoriebildung ist; denn die Anhänger des „strukturalistischen“ Konzepts vertreten auch für physikalische Theorien den Standpunkt, daß die Menge der potentiellen Anwendungen „offen“ ist und einzelne intendierte Anwendungen aus der Theorie wieder herausge- [383] nommen werden können, ohne diese selbst aufzugeben54. Regel wird dabei, wie zur Vermeidung von Mißverständnissen noch einmal betont sei, hier i. S. von (schwa-
So mit Recht Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, 3. Aufl. 1986, S. 301. Vgl. aaO S. 52, 76 ff. 53 Vgl. aaO S. 3, 31, 53, 72. 54 Vgl. Stegmüller aaO S. 28, 47; vgl. dazu aber auch unten V 2 d. 51 52
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cher) Aussage verstanden, also nicht i. S. von Rechtsnorm55, wenngleich sie sich auf diese bezieht oder zu deren Entwicklung führt. In der Tat pflegen juristische Theorien – zumindest implizit – eine Regel zu enthalten. Diese lautet etwa bei der wertpapierrechtlichen Rechtsscheintheorie, daß zurechenbare Einwendungen zugunsten gutgläubiger Erwerber präkludiert werden. Bei der rechtsgeschäftlichen Willenstheorie geht sie dahin, daß Willensmängel grundsätzlich zur Nichtigkeit der Willenserklärung führen; nach der – gegenläufigen – Erklärungstheorie sind diese dagegen grundsätzlich unbeachtlich, soweit sie für den Erklärungsadressaten nicht erkennbar sind. Die bereicherungsrechtliche Saldotheorie enthält die Regel, daß bei gleichartigem Leistungsinhalt nur die jeweilige Differenz („Saldo“) auszugleichen ist und die erbrachte eigene Leistung dabei trotz ihres Untergangs entgegen § 818 III BGB als Abzugsposten in Rechnung gestellt werden kann; demgegenüber beruht die Zweikondiktionentheorie auf der Regel, daß die beiderseitigen Leistungen jeweils gesondert bereicherungsrechtlich abzuwickeln sind und der Untergang eines Leistungsgegenstandes dabei in strikter Anwendung von § 818 III BGB demjenigen zur Last fällt, der ihn geleistet hat. Für das Finanzierungsleasing – um ein derzeit besonders aktuelles Beispiel hinzuzunehmen – geht der BGH von der Regel aus, daß auf dieses „in erster Linie“ Mietrecht anzuwenden ist56. c) Die Entwicklung der Regel erfolgt in einem ersten Schritt intuitiv mit Hilfe juristischer Phantasie, d. h. Einfallskraft. Den Ausgangspunkt bildet meist der Versuch, die ratio decidendi für eine bestimmte Problemlösung zu formulieren. Diese wird dann in einem Verfahren von trial and error erprobt. Ein wesentliches Mittel besteht dabei darin, Folgerungen aus der Hypothese zu ziehen und deren Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht zu überprüfen; hier liegt ein Ansatz für die Anwendung des Falsifikationsprinzips in der Jurisprudenz (vgl. näher unten IV 3). Hinzu kommt die Verallgemeinerung der Hypothese; man sucht diese also für andere Probleme fruchtbar zu machen, indem man den Bereich der intendierten Anwendungen ausweitet und die sich dabei ergebenden Lösungen wiederum auf ihre Verträglichkeit mit dem geltenden Recht sowie auf ihre innere Überzeugungskraft prüft. Daß darin ein Induktionsschluß liegt, stellt keinen durchschlagenden Einwand dar; ein solcher ist zwar logisch fehlerhaft, doch folgt daraus i. d. R. lediglich, daß er nicht logischer, sondern anderer – d. h. z. B. hermenentischer oder empirischer – Art ist, keineswegs aber zugleich, daß er notwendigerweise fehlerhaft ist. Andererseits darf auch die Gefahr eines vitiosen Zirkelschlusses nicht verharmlost werden. Vor allem sollte tunlichst eine möglichst breite Induktions55 Anders Schlapp aaO (Fn. 21) S. 14, 74, u. ö., der die Norm selbst als Teil der Theorie und der Dogmatik ansieht; vgl. im übrigen zu Begriff und Funktion von Regeln in der Jurisprudenz die Beiträge in ARSP Beiheft 45, 1992. 56 Das ist st. Rspr. seit BGH, 28. 10. 1981 – VIII ZR 302/80 = BGHZ 82, 121, 130.
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basis von Problemlösungen, deren Überzeugungskraft unabhängig von der betreffenden Hypothese gewährleistet ist, entwickelt werden57, bevor letztere zur Regel erhoben und als Kern einer Theorie anerkannt wird. Ein gewisser Rest von Zirkularität bleibt freilich meist übrig, da das Besondere erst aus dem Allgemeinen voll verstanden, dieses aber nur aus jenem überhaupt erschlossen werden kann. Diese Erscheinungsform des hermeneutischen Zirkels 58, die schon Schleiermacher klar herausgearbeitet hat59, ist grundsätzlich nicht vitios, sondern unvermeidlich, ja u. U. geradezu fruchtbar60, weil sich das Allgemeine und das Besondere wechselseitig erhellen. 4. Rechtliche Wertungen bzw. allgemeine Rechtsprinzipien als Bestandteil juristischer Theorien a) Wie soeben bereits angedeutet, beruht eine juristische Regel grundsätzlich auf bestimmten Wertungen des objektiven Rechts. Der wertpapierrechtlichen Rechtsscheintheorie liegt z. B. eine Verbindung der Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Zurechnung zugrunde. Die rechtsgeschäftliche Willenstheorie bemüht sich bekanntlich um eine optimale Verwirklichung des Prinzips der Selbstbestimmung, wohingegen die Erklärungstheorie – ähnlich wie die Rechtsscheintheorie – den Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Zurechnung höheren Rang zumißt. Die bereicherungsrechtliche Saldotheorie bleibt ein vordergründiges, ja fast unverständliches Konstrukt, solange man sie nicht auf den Gedanken des „faktischen“ oder „fortwirkenden“ Synallagmas zurückführt und dadurch mit dem vertragsrechtlichen Äquivalenzprinzip in Verbindung bringt; auch für die Behandlung des Finanzierungsleasing durch den BGH spielt letzteres eine zentrale Rolle61. Demgemäß kann man sowohl die intendierten Anwendungen einer Theorie, d. h. ihre paradigmatischen Problemlösungen, als auch die ihr zugrundeliegende Regel letztlich nur verstehen, wenn man die dahinter stehende(n) Wertung(en) kennt. Es empfiehlt sich daher, auch diese in den „Kern“ einer juristischen Theorie aufzunehmen. 57 Ähnlich F. Bydlinski aaO (Fn. 28) S. 64; vgl. im übrigen zu Bedeutung induktivpragmatischen Denkens in der Jurisprudenz weiterführend Wieacker, Festschr. für Gadamer, 1970, S. 324 ff., 332 ff. 58 Unter diesem Begriff werden sehr verschiedenartige Probleme thematisiert, was im juristischen Schrifttum häufig verkannt wird; vgl. demgegenüber die klare Darstellung und Analyse von Stegmüller, Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, 1979, S. 27 ff. 59 Vgl. Schleiermacher, Werke I/7, 1838, S. 37, 143 ff.; siehe dazu eingehend Rössler, Die Theorie des Verstehens in Sprachanalyse und Hermeneutik, 1990, S. 181 ff. 60 Daß es auch fruchtbare Zirkel gibt, anerkennt auch Stegmüller, vgl. aaO (Fn. 17) S. 333 f. 61 Vgl. nur BGH, 13.3.1991 – VIII ZR 34/90 = BGHZ 114, 57, 69 = JZ 1991, 923 (dazu Tiedtke, S. 907).
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b) Was ihre Formulierung angeht, so ist es zweckmäßig und i. d. R. auch unschwer möglich, ihnen die Fassung eines allgemeinen Rechtsprinzips zu geben. Ein solches hat keinen Normcharakter und legt demgemäß für sich allein noch keine Rechtsfolge fest, sondern ist der Abstufung, Einschränkung und Kombination mit anderen Prinzipien zugänglich und bedürftig62, enthält aber doch bereits eine gewisse „Tendenzaussage“ über Voraussetzungen und Folgen der daraus zu bildenden Regel63. Die Prinzipien können sowohl begründende als auch begrenzende Funktion entfalten. Zugleich stellen sie eine Querverbindung zu anderen Teilen des Rechtssystems dar, da sie nahezu ubiquitären Charakter haben und demgemäß an den verschiedensten Stellen der Rechtsordnung von Bedeutung sind; man denke nur an grundlegende privatrechtliche Prinzipien wie diejenigen der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung, des Verkehrs- und Vertrauensschutzes, der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung oder auch – auf einer Stufe etwas stärkerer Konkretisierung – das Verschuldensprinzip, das Prinzip der Zurechnung nach den Gesichtspunkten der Risikosetzung und -beherrschung bzw. nach dem Sphärengedanken, das Prinzip der Zusammengehörigkeit von Vorteil und korrespondierendem Nachteil [384] usw. usw. Übrigens dürften derartige Prinzipien für die juristische Theorie- und Systembildung eine ähnliche Rolle spielen wie die sogenannten „constraints“64 für das strukturalistische Theorienkonzept65, was sich schon in der gängigen Übersetzung dieses – nicht leicht verständlichen – Begriffs als „Querverbindung“ andeutet. 5. Zusammenfassende Charakterisierung der Struktur einer juristischen Theorie Insgesamt kann man eine juristische Theorie somit als Trias aus Wertungen bzw. allgemeinen Rechtsprinzipien, Regeln und paradigmatischen Problemlösungen kennzeichnen. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei unterstrichen, daß es sich nicht um eine einzige Wertung und eine einzige Regel handeln muß, sondern daß eine Theorie auch auf mehreren Wertungen beruhen und mehrere Regeln – etwa Grundsatz und Ausnahme(n) – zum Inhalt haben kann.
62 Vgl. dazu näher Canaris, Systemdenken aaO (Fn. 6) S. 52 ff.; ähnlich z. B. Larenz aaO (Fn. 1) S. 474 ff. und ders., Richtiges Recht, 1979, S. 23 ff. 63 Ob die Prinzipien „Optimierungsgebote“ sind, wie Alexy meint, kann hier dahinstehen. 64 Vgl. dazu Stegmüller aaO S. 56 ff. 65 Vgl. auch Schlapp aaO (Fn. 21) S. 157 ff., 202 ff.
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IV. Mängel juristischer Theorien In der Wissenschaftsphilosophie stellt man an Theorien die Anforderungen der Konsistenz und der Prüfbarkeit. Diesen müssen auch juristische Theorien genügen66. Dem noch vorgelagert ist die Frage nach ihrer Leistungsfähigkeit; denn wenn es daran fehlt, ist eine Theorie uninteressant, so daß sich Widerlegungsversuche nicht lohnen. 1. Mangelnde Leistungsfähigkeit a) Jeglicher Leistungsfähigkeit entbehrt eine Theorie zunächst dann, wenn sie lediglich „selbsterklärend“, also tautologisch ist. Ein Beispiel bildet die sogenannte Residuumstheorie, nach der der Wechselbereicherungsanspruch aus Art. 89 WG ein „Residuum“ oder „Überbleibsel“ des verfallenen bzw. verjährten Wechselanspruchs ist67. Diese früher von der h. L. vertretene Theorie ist zwar nicht geradezu falsch, aber sinnlos, weil sie auf einem völlig inhaltsleeren Merkmal aufbaut; denn daß ein Bereicherungsanspruch „übrig bleibt“, wenn und weil der Wechselanspruch untergegangen ist, besagt für sich allein überhaupt nichts und läßt insbesondere jede Einordnung in einen allgemeineren Zusammenhang vermissen, obwohl darin doch die Aufgabe einer Theorie liegt. Demgegenüber hat die heute vorherrschende Ansicht, wonach der Wechselbereicherungsanspruch ein Sonderfall einer Nichtleistungskondiktion i. S. von § 812 I 1 Alt. 2 BGB ist, einen eigenständigen erklärenden Gehalt, weil sie den Anspruch auf den „Rechtsfortwirkungsgedanken“ und damit auf ein Kriterium zurückführt, das anerkanntermaßen im Recht der Nichtleistungskondiktionen von zentraler Bedeutung ist. b) Die erforderliche Leistungsfähigkeit ist einer Theorie ferner dann abzusprechen, wenn die von ihr verwendeten Merkmale der Abgrenzungsfähigkeit ermangeln. Das trifft z. B. für die von der Rspr. und Teilen des Schrifttums vertretene Kausalitätstheorie zur Bestimmung der Person des Störers i. S. von § 1004 BGB zu68. Angesichts der Äquivalenz aller Ursachen ist nämlich stets sowohl das Verhalten des Störers als auch das des Gestörten kausal für die Störung; geht diese z. B. von einem Flughafen aus, so beruht sie nicht nur auf dessen Errichtung und dem Flugbetrieb, sondern auch darauf, daß die gestörten Personen sich in seiner Umgebung aufhalten. Diese Theorie kann somit für keinen einzigen intendierten Anwendungsfall notwendige und hinreichende Bedingungen nennen und ist aus Ebenso Dreier aaO (Fn. 1) S. 82 f., 88 ff.; Larenz aaO (Fn. 1) S. 450. Vgl. dazu und zum folgenden eingehend Canaris WM 1977, 34 ff. m. umf. Nachw. 68 Vgl. z. B. BGH, 18.5.1955 – I ZR 8/54 = BGHZ 17, 266, 291 = JZ 1955, 734; BGH, 10.11.1972 – V ZR 54/71 = BGHZ 59, 378, 380; Herrmann, Der Störer nach § 1004 BGB, 1987, S. 419 ff. u. ö. 66 67
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diesem Grunde unbrauchbar. Denn auch wenn man nicht den gesamten Anwendungsbereich einer Theorie durch die Angabe aller notwendigen und hinreichenden Bedingungen bestimmen kann, muß das doch zumindest für eine intendierte Anwendung möglich sein, weil man sonst überhaupt kein Paradigma und damit auch keine Grundlage für Ähnlichkeitsschlüsse zur Verfügung hat. c) Dieses Beispiel wird in lehrreicher Weise ergänzt durch die Theorie des „integrierten Gesamteigentümers“, die das vorliegende Problem mit den Mitteln der ökonomischen Analyse des Rechts zu lösen unternimmt69. Danach soll z. B. der Eigentümer eines Weingutes, dessen Reben durch ein von Kornfeldern herübergewehtes Unkrautvernichtungsmittel geschädigt werden, keinen Abwehranspruch nach § 1004 BGB haben, sofern er selbst bei gleichzeitiger Innehabung der Kornfelder zweckmäßigerweise nur Korn und keinen Wein angebaut hätte. Auch dieser Theorie fehlt die erforderliche Leistungsfähigkeit. Sie macht nämlich noch nicht einmal den Versuch, die rein ökonomische Betrachtungsweise auf die Ebene des Rechts umzusetzen und demgemäß Gründe dafür anzugeben, warum ihre Lösung rechtens ist, d. h. dem Gesetz oder doch zumindest einem Gebot der Gerechtigkeit entspricht. Selbstverständlich ist das ja keineswegs, da die Unterstellung, daß der Weinbauer zugleich Eigentümer der Kornfelder sei, kontrafaktisch ist und dieser daher in Wirklichkeit u. U. gar nicht sinnvoll Korn statt Wein anbauen kann – z. B., weil sein Grundstück dafür zu klein ist, der Markt keine Absatzchancen mehr bietet, er nur das Know-how eines Weinbauern hat usw.; außerdem gewährleistet die Eigentumsfreiheit nach Art. 14 GG und § 903 BGB grundsätzlich eine beliebige, also auch eine ökonomisch unzweckmäßige Nutzung des eigenen Grundstücks, so daß man Wein, Blumen usw. einfach deshalb anbauen darf, weil es einem Freude macht. Die Theorie des „integrierten Gesamteigentümers“ ist daher, wenn man sie als eine solche zum geltenden Recht versteht, sogar geradezu falsch, weil gesetzeswidrig. Der BGH hat denn auch einen ganz ähnlichen Fall entgegengesetzt entschieden70. d) Insgesamt kehren hier somit, wie nicht anders zu erwarten, die oben I 2 c herausgearbeiteten Kriterien für die Leistungsfähigkeit einer juristischen Theorie spiegelbildlich wieder: Eine solche ermangelt der erforderlichen Leistungsfähigkeit jedenfalls dann, wenn sie das betreffende Problem nicht in einen größeren Zusammenhang einzuordnen vermag (wie die Residuumstheorie), wenn sie keine Verbindung zwischen der Problemlösung und einer gesetzlichen Wertung oder einem Gerechtigkeitskriterium herstellt (wie die Theorie des integrierten Gesamteigentümers) oder wenn sie nicht einmal für einen einzigen intendierten AnwenVgl. Adams JZ 1989, 787 ff. Vgl. BGH, 2.3.1984 –.V ZR 54/83 = BGHZ 90, 255, 260 f. und 267 f.; es ist bezeichnend für gewisse Tendenzen innerhalb der Lehre von der ökonomischen Analyse des Rechts, daß Adams diese – voll einschlägige! – Entscheidung überhaupt nicht erwähnt und statt dessen einen in Illinois spielenden Fall als Beispiel heranzieht. 69 70
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dungsfall alle notwendigen und hinreichenden Bedingungen nennen kann und also keine Basis für Ähnlichkeitsschlüsse bietet (wie die Theorie einer reinen Kausalhaftung). 2. Inkonsistenz a) Inkonsistent ist eine Theorie stets, wenn sie einen logischen Widerspruch enthält; denn dann läßt sich aus ihr jeder belie- [385] bige Satz, einschließlich seines kontradiktorischen Gegenteils, herleiten71. Echte logische Widersprüche sind nun allerdings in der Jurisprudenz äußerst selten. Um so häufiger sind Wertungswidersprüche. Führt eine Theorie aus sich selbst heraus zu einem solchen (und ist dieser so kraß, daß er untragbar ist), so ist sie ebenfalls als inkonsistent anzusehen72. Allerdings macht er im Gegensatz zu einem logischen Widerspruch nicht die gesamte Theorie ohne weiteres unbrauchbar, da er sich meist auf ein bestimmtes Teilproblem beschränkt und sich dann isolieren läßt, ohne den übrigen Anwendungsbereich der Theorie zu infizieren. Gleichwohl hat ein derartiger Wertungswiderspruch die Inkonsistenz der Theorie zur Folge, weil er einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungssatz und damit gegen das elementarste Prinzip der Rechtsanwendung und -findung darstellt; eine Theorie, die eine solche Konsequenz hat, kann keinesfalls richtig sein. Als Beispiel sei die Behandlung der sogenannten „Vorleistungsfälle“ durch die Saldotheorie genannt. Hat der Verkäufer den Kaufpreis erhalten und der Käufer die Sache zerstört, so kann jener deren Wert bei Nichtigkeit des Vertrages nach der Saldotheorie auf seine Pflicht aus § 812 BGB zur Rückzahlung des Kaufpreises anrechnen und braucht nur den Saldo – bei Gleichwertigkeit von Sache und Preis also gar nichts – herauszugeben, so daß der Käufer die Folgen seines Umgangs mit der Sache im Ergebnis selbst trägt. Ist der Kaufpreis dagegen noch nicht bezahlt worden, so gibt es nichts zu „saldieren“, so daß man zum genau entgegengesetzten Ergebnis kommt: Der Verkäufer erhält weder den Kaufpreis, weil der Vertrag nichtig ist, noch Wertersatz für die Sache nach § 818 II BGB, weil diese zerstört und die Bereicherung i. S. von § 818 III BGB weggefallen ist73, so daß der Käufer die Folgen seines Umgangs mit der Sache hier auf den Verkäufer abwälzen kann. Da es für diese Unterschiedlichkeit der Lösungen
71 Vgl. Popper aaO (Fn. 3) S. 59; ausführlich ders., Was ist Dialektik? in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 6. Aufl. 1970, S. 267 ff. 72 Ähnlich Dreier aaO (Fn. 1) S. 83; Larenz aaO (Fn. 1) S. 450; Pawlowski aaO (Fn. 1) S. 342. 73 Vgl. z. B. BGH 25.6.1952 – II ZR 295/51 = LM Nr. 2 zu § 818 III BGB a. E.; Larenz, Schuldrecht Bd. II, 12. Aufl. 1981, § 70 III a. E.; Esser/Weyers, Schuldrecht II, 7. Aufl. 1991, § 51 II 3 b.
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keinen hinreichenden Sachgrund gibt, ist die Saldotheorie schon allein wegen dieses ihr immanenten Wertungswiderspruchs unzutreffend74. Allerdings gilt das nur in Fällen, in denen der Wertungswiderspruch wie in diesem Beispiel allein durch die Theorie selbst hervorgerufen wird. Ganz anders stellt sich die Problematik dar, wenn sich in der Theorie lediglich ein außerhalb ihrer liegender Wertungswiderspruch widerspiegelt. So kann z. B. keine der Theorien, die zur Abgrenzung von privatem und öffentlichem Recht entwickelt worden sind, zureichend erklären, warum die Rechtsverhältnisse zwischen den Bürgern und der Post bis vor kurzem dem öffentlichen Recht unterstanden. Das spricht jedoch nicht gegen diese Theorien75, sondern gegen die seinerzeitige Rechtslage. Man kann in einem solchen Fall frei nach Hegel geradezu sagen: „Umso schlimmer für das positive Recht, wenn es der Theorie nicht entspricht.“ b) Als inkonsistent ist eine Theorie zum zweiten dann zu beurteilen, wenn sie Ausnahmen von der ihr entsprechenden Regel macht, ohne dafür einen einleuchtenden und mit ihren Prämissen verträglichen Grund angeben zu können. Dadurch wird eine solche Theorie nämlich in ähnlicher Weise entwertet wie durch einen logischen Widerspruch. Denn wenn man eine unbegründete Ausnahme machen darf, ist nicht einzusehen, warum man nicht noch eine zweite, ja beliebig viele weitere Ausnahmen zu machen befugt ist, ohne dafür einen Grund zu brauchen. Da mit einer solchen Theorie letztlich also jede Lösung „vereinbar“ ist, vermag sie in Wahrheit überhaupt keine zu legitimieren. In diesem Zustand befindet sich nachgerade die Saldotheorie in der heute vom BGH vertretenen Fassung, da dieser sie durch zahlreiche Ausnahmen durchbricht, die man nur noch auswendig lernen, aber nicht mehr verstehen kann76. Inkonsistent in diesem Sinne ist auch die Mietvertragstheorie des BGH zum Finanzierungsleasing. So gibt der BGH z. B. dem Leasinggeber bei einer ordentlichen Kündigung des Leasingnehmers einen Anspruch auf Fortentrichtung der (abgezinsten) Leasingraten bis zum Ende der vereinbarten Laufzeit des Vertrages, obwohl eine Pflicht zur Zahlung von Miete nach ordentlicher Kündigung des Mietverhältnisses und Rückgabe der Mietsache mietrechtlich gesehen geradezu eine Perversität ist; zur Begründung beruft sich der BGH – i. E. übri74 So mit Recht bereits Flume, Festschr. für Niedermeyer, 1953, S. 162: „Die Saldo-Theorie fällt u. E. als ‚Theorie‘ und als Entscheidungsnorm schon deshalb, weil sie die Entscheidung der Fälle trennt, daß beiderseits die Leistungen ausgetauscht worden sind oder nur ein Teil geleistet hat.“ Vgl. zum heutigen Diskussionsstand über die Vorleistungsproblematik Canaris, Festschr. für Lorenz, 1991, S. 23 f. m. umf. Nachw. 75 So aber Medicus, Allg. Teil des BGB, 5. Aufl. 1992, § 1 II 2. 76 Demgemäß kritisiert Flume NJW 1970, 1161 den BGH mit der rhetorischen Frage: „Was ist das für eine seltsame ,Theorie‘, die einen Begriff der Bereicherung, nämlich Bereicherung = Saldo, aufstellt, um, wenn er nicht passend erscheint, diesen Begriff wieder aufzugeben?“ Vgl. im übrigen zum derzeitigen Stand der Saldotheorie und ihrer Kritik eingehend Larenz/Canaris, Schuldrecht Bd. II/2, 13. Aufl. 1993, § 73 III 7 a und b.
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gens durchaus zu Recht! – auf die Finanzierungsfunktion des Finanzierungsleasing, lehnt deren Berücksichtigung jedoch bei anderen, eng verwandten Problemen wie der Frage, ob der Leasinggeber bei einem von ihm nicht zu vertretenden Scheitern des Leasingvertrages (wenigstens) einen Anspruch auf Ersatz seiner Refinanzierungskosten hat, ohne zureichenden Grund allein aus spezifisch mietrechtlichen Erwägungen ab77. Ähnlich widerspruchsvoll ist, daß der BGH einerseits die Pflicht des Leasinggebers zur Aufrechterhaltung der Gebrauchstauglichkeit des Leasinggutes für vollständig abdingbar hält – wiederum i. E. mit Recht! –, andererseits aber dessen Haftung für die anfängliche Gebrauchstauglichkeit des Leasinggutes als so essentiell ansieht, daß sie in AGB (zwar eingeschränkt, aber) nicht ausgeschlossen werden kann78. Gegen diese Differenzierung spricht schon, daß beide Pflichten in § 537 BGB ausdrücklich gleichgestellt sind. Außerdem paßt die Begründung des BGH, die Anschaffung und Nutzung des Leasinggutes lägen ganz überwiegend im Interesse des Leasingnehmers, keineswegs nur für die erste der beiden Fallgestaltungen, für die allein der BGH sie heranzieht, sondern evidentermaßen ebenso für die zweite. Die Regel des BGH, auf das Finanzierungsleasing sei „in erster Linie“ Mietrecht anzuwenden79, wird also ohne einsichtige Gründe bei wesentlichen Problemen durchbrochen und ist folglich weder dogmatisch noch praktisch brauchbar. c) Als inkonsistent ist eine Theorie somit zu qualifizieren, wenn sie einen logischen Widerspruch enthält, aus sich selbst heraus zu einem untragbaren Wertungswiderspruch führt oder unbegründete Ausnahmen von der ihr zugrundeliegenden Regel zuläßt. 3. Unvereinbarkeit mit „Basis“- oder „Prüfsätzen“ Wenn die Anhänger einer Theorie diese durch inkonsistente Ausnahmen durchbrechen, ist das natürlich nicht Ausdruck [386] von Willkür oder Torheit, sondern beruht i. d. R. darauf, daß ihnen die Ergebnisse, zu denen ihre Theorie „eigentlich“ führen müßte, aus einem außerhalb derselben liegenden Grund als unangemessen erscheinen. Das leitet über zu der weiteren Frage, ob und wie man die Richtigkeit einer juristischen Theorie anhand ihrer Konsequenzen überprüfen kann. In der Tat ist es in der Rechtswissenschaft bekanntlich ein gängiges Verfah-
77 Vgl. einerseits BGH, 12.6.1985 – VIII ZR 148/84 = BGHZ 95, 39, 53 f., andererseits BGH, 9.10.1985 – VIII ZR 217/84 = BGHZ 96, 103, 107 ff. = JZ 1986, 106 und dazu Canaris AcP 190 (1990) 438 ff. 78 Vgl. z. B. BGH, 8.10.1987 – VII ZR 358/86 = NJW 1988, 197, 200 bzw. BGH, 13.3.1991 – VIII ZR 34/90 = BGHZ 114, 57, 69. 79 Vgl. die Nachw. oben Fn. 56.
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ren, eine Theorie mit ihren „Ergebnissen“ zu konfrontieren und sie wegen deren „Unhaltbarkeit“ zu verwerfen. a) Diese Vorgehensweise hat eine offenkundige Ähnlichkeit mit dem Falsifikationismus, wie er vor allem von Popper entwickelt worden ist. Dabei werden Theorien durch den Vergleich mit „Basis“- oder „Prüfsätzen“ falsifiziert. Allerdings hat Popper nur empirische Theorien im Auge. Demgemäß setzt er fest, daß die Basissätze die Form singulärer Es-gibt-Sätze haben sollen und durch „Beobachtung“ intersubjektiv nachprüfbar sein müssen80. In Trivialform bedeutet das, daß der Satz „Alle Raben sind schwarz“ durch den Satz „Im Zoo von X gibt es, wie jedermann sehen kann, einen weißen Raben“ falsifiziert wird. Es bedarf keiner Begründung, daß die Überprüfung juristischer Theorien nicht auf diese Weise erfolgen kann. Das Fehlen derartiger empirischer Kriterien steht indessen einem juristischen Falsifikationismus nicht entgegen, ohne daß die Rechtswissenschaft deshalb ihre herkömmliche Methodologie zugunsten einer empiristischen aufgeben müßte81. Das Grundschema Poppers läßt sich nämlich mutatis mutandis auch in der Jurisprudenz verwenden. Denn auch für diese gilt, daß ein allgemeiner Satz mit einem Basissatz in Widerspruch stehen kann, weil die Negation des widersprechenden Basissatzes aus der Theorie ableitbar ist 82. Da juristische Theorien allgemeine Aussagen über Rechtsnormen enthalten oder zu solchen führen83, sind als Basissätze folgerichtig gleichartige Aussagen einer niedrigeren Allgemeinheitsstufe 84 heranzuziehen. Diese sind (mit den üblichen juristischen Methoden) aus dem geltenden Recht, vor allem also aus dem Gesetz zu gewinnen. Widerspricht die daraus folgende Lösung derjenigen, die sich aus der zu prüfenden Theorie ergibt, so ist diese falsifiziert. Anerkennt man also überhaupt, daß eine bestimmte Problemlösung mit einer Theorie unvereinbar sein kann – und das zu leugnen, liefe darauf hinaus, juristischen Theorien jeden heuristischen, ja sogar den explikativen Wert abzusprechen –, so ist damit die Grundlage für einen juristischen Falsifikationismus gegeben. Vgl. Popper aaO (Fn. 3) S. 68. So aber H. Albert, Jb. für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 (1972) S. 80 ff. und ders., Traktat über rationale Praxis, 1978, S. 75 ff.; gegen ihn mit Recht z. B. E. von Savigny, Jb. für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 (1978) S. 97 ff.; F. Bydlinski aaO (Fn. 28) S. 37 ff. und ders., Fundamentale Rechtsgrundsätze, 1988, S. 107 ff.; Thienel, Kritischer Rationalismus und Jurisprudenz, 1991, S. 49 ff. und passim (vom Boden der „Reinen Rechtslehre“ aus); Schefold in: Leser u. a. (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers, 1991, S. 252 ff. 82 Vgl. Popper aaO S. 66 f. 83 Vgl. oben III 3 b. 84 Vgl. dazu Popper aaO S. 54; die ebenda vorgenommene Unterscheidung Poppers zwischen falsifizierender Hypothese bzw. widerlegendem „Effekt“ und den einzelnen Basissätzen kann hier außer Betracht bleiben, da sie mit dem Erfordernis der „Reproduzierbarkeit“ von empirisch feststellbaren Ereignissen zu tun hat und es dazu in der Jurisprudenz kein Pendant gibt. 80 81
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b) Nicht erforderlich für einen solchen ist dagegen die Prämisse, daß der betreffende Prüfsatz seinerseits stets richtig sein müsse; denn da auch dieser folgerichtig dem Prinzip des Fallibilismus unterliegt, ist es möglich, daß er falsch (und also zu Falsifizierung der Theorie in Wahrheit ungeeignet) ist. Ebensowenig darf gefordert werden, daß der Basissatz unabhängig von einer Theorie gefunden worden ist. Das gilt schon deshalb, weil ohne (ein Minimum an) Theorie überhaupt keine Erkenntnis möglich ist. Darüber hinaus dürfen die Basissätze grundsätzlich auch unter Zuhilfenahme spezifisch wissenschaftlicher Theorien entwickelt werden, da man bei der Überprüfung einer Theorie unmöglich alle anderen – u. U. bestens bewährten – Theorien außer Betracht lassen und also gewissermaßen stets am wissenschaftlichen Nullpunkt anfangen kann. Daß allerdings bei der Ermittlung der Basissätze eine konkurrierende Theorie oder gar die zu prüfende Theorie selbst soll herangezogen werden dürfen bzw. müssen 85, ist – zumindest prima vista – eine befremdliche These86, liegt doch hier die Gefahr eines vitiosen Zirkels nahe. Indessen brauchen diese Schwierigkeiten, also die sogenannten Basisprobleme87, hier nicht vertieft zu werden, weil sie nicht spezifisch für die Überprüfung juristischer Theorien sind. Angemerkt sei daher lediglich, daß daraus kein prinzipieller Einwand gegen den Falsifikationismus hergeleitet werden kann; es „ist, pragmatisch gesehen, nur eine Komplikation, nicht eine Widerlegung des Grundgedankens“88. In der Tat ist dem Fortschritt der Erkenntnis ja schon in hohem Maße durch die Einsicht gedient, daß man nicht gleichzeitig eine bestimmte Theorie und einen bestimmten Basissatz für richtig halten kann – auch wenn damit die Diskussion darüber, ob nun die Theorie oder der Basissatz (oder der Ableitungszusammenhang) fehlerhaft ist, keineswegs immer ausgestanden ist. Außerdem läßt sich erfahrungsgemäß meist wesentlich leichter Einigkeit darüber erzielen, ob ein Basissatz den Falsifikationsversuchen standhält89, als darüber, ob das bezüglich einer Theorie der Fall ist.
Vgl. Popper aaO 5. 69, 71; Stegmüller aaO (Fn. 17) S. 31 ff. („T-Theoretizität“). Kritisch denn auch Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft, 1974, S. 59 ff.; Hübner aaO (Fn. 51) S. 294 f. 87 Vgl. dazu z. B. Popper aaO S. 60 ff.; Hübner aaO S. 56 ff.; Watkins aaO (Fn. 5) S. 131 ff.; Andersson, Kritik und Wissenschaftsgeschichte, 1988, S. 93 ff. 88 So mit Recht C. F. von Weizsäcker, Zeit und Wissen, 1992, S. 251 f.; dort auch treffend zum Einwand der Fallibilität des Falsifikationismus: „Das Vertrauen in dieses Verfahren ist selbst eine allgemeine Regel, die bisher durch kein Versagen überzeugend falsifiziert worden ist.“ 89 Das bedeutet freilich entgegen Popper aaO S. 69 ff. nicht, daß die Basissätze lediglich „festgesetzt“ werden; mag es sich auch „logisch betrachtet (um) willkürliche Festsetzungen“ handeln (vgl. aaO S. 74), so gilt das methodologisch betrachtet durchaus nicht, was Popper zu Unrecht herunterspielt; vgl. dazu auch die Kritik von Mittelstraß aaO (Fn. 86) S. 61 an Popper. 85 86
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c) Da als Basissätze, wie gesagt, Aussagen über Normen heranzuziehen sind, ist eine juristische Theorie jedenfalls dann falsifiziert, wenn sie unvereinbar mit einer Vorschrift des Gesetzes ist. So wäre z. B. der Standpunkt unhaltbar, daß sich das Recht der Willensmängel de lege lata nach der Erklärungstheorie richtet. Zur Begründung genügt der Hinweis auf § 118 i. V. mit § 122 BGB. Nach der Erklärungstheorie müßte die Scherzerklärung nämlich zumindest dann wirksam sein, wenn der Mangel der Ernstlichkeit für den anderen Teil nicht erkennbar ist – und genau dieses Ergebnis wird durch § 118 i. V. mit § 122 BGB ausgeschlossen90. Während hierüber wohl weitgehend Einigkeit besteht – obgleich das ausschlaggebende Argument aus § 122 BGB nicht ohne Subtilität ist und mitunter verkannt wird –, sind andere Theorienstreitigkeiten trotz einer ähnlich klaren Gesetzeslage auch heute noch hoch kontrovers. Beispielsweise vertritt die Rspr. noch immer die Ansicht, daß die Anerkennung eines Kontokorrentsaldos eine Novation darstellt91. Danach müßte diese eigentlich zum Erlöschen aller akzessorischen Sicherheiten führen, doch ordnet § 356 HGB ausdrücklich das Gegenteil an – und zwar nachweisbar deshalb, weil der Gesetzgeber dieser Konsequenz der schon seinerzeit [387] vertretenen Novationstheorie eine Absage erteilen wollte. Um diese dennoch zu retten, hat man § 356 HGB mit der Konstruktion einer gesetzlichen Forderungsauswechselung zu „erklären“ versucht92. Das ist indessen geradezu ein Musterbeispiel einer reinen ad-hoc-Hypothese, die in dieser Form unzulässig ist; denn die These von der Forderungsauswechselung „erklärt“ nichts außer der angeblichen Vereinbarkeit der Novationstheorie mit § 356 HGB und spielt für keine einzige sonstige Frage eine Rolle, was die fatale Konsequenz hat, daß kein (weiterer) Basissatz für ihre Überprüfung zur Verfügung steht. Allerdings ist zweifelhaft und umstritten, was unter einer bloßen ad-hoc-Hypothese genau zu verstehen ist und wie eine solche sich von einer zulässigen (und u. U. sehr fruchtbaren!) Hilfs- oder Ergänzungshypothese unterscheidet93. Popper fordert insoweit, daß durch die Einführung der Hypothese der „Falsifizierbarkeitsgrad“ des Systems nicht herabgesetzt, sondern gesteigert wird 94. Mag das auch zu streng erscheinen95, so muß man doch zumindest verlangen, daß die Hypothese sich nicht in der Beseitigung derjenigen Schwierigkeit, zu deren Bewältigung sie aufgestellt worden ist, erschöpft, sondern einen darüber hinausgehenden, zusätzSo mit Recht schon Bading GruchBeitr. 58 (1914) 774 f. Vgl. z. B. BGH, 8.3.1972 – VIII ZR 40/71 = BGHZ 58, 257, 260 m. Nachw.; BGH, 24.1.1985 – I ZR 201/82 = BGHZ 93, 307, 313. 92 Grundlegend M. Wolff in: Ehrenbergs Handbuch Bd. IV/1, 1917, S. 66. 93 Vgl. dazu z. B. Hübner aaO (Fn. 51) S. 115 ff.; Andersson aaO (Fn. 87) S. 135 ff.; Pähler, Qualitätsmerkmale wissenschaftlicher Theorien, 1986, S. 108 ff. 94 So Popper aaO (Fn. 3) S. 51; etwas zurückhaltender ders., Replies to my critics, in: Schilpp (Hrsg.), The philosophy of Karl Popper, 1974, Bd. 2 S. 986. 95 So Andersson aaO (Fn. 87) S. 143 f. 90 91
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lichen Informationsgehalt aufweist96, da anderenfalls die Gefahr eines vitiosen Zirkels auf der Hand liegt und überdies jeder beliebigen „Immunisierungsstrategie“ Tür und Tor geöffnet würde. Diesem Postulat genügt die Annahme einer gesetzlichen Forderungsauswechselung nicht, so daß sie in der Tat zu verwerfen und zur „Rettung“ der Novationstheorie demgemäß ungeeignet ist. d) Die Falsifizierbarkeit einer Theorie ist grundsätzlich strikt von der Frage nach ihrer Leistungsfähigkeit zu trennen97. Um das zu demonstrieren, sei noch einmal die Problematik der Bestimmung des Störers i. S. von § 1004 BGB aufgegriffen. Um diese zu lösen, hat Picker die Usurpationstheorie entwickelt. Danach ist Störer, „wer durch sein Handeln oder den Zustand seiner Sachen das fremde Eigentum für sich in Anspruch nimmt und dadurch der Ausübung der Sachherrschaft durch den Berechtigten im Wege steht“98. Diese Theorie fasziniert durch ihre außerordentliche Leistungsfähigkeit; denn dogmatisch gesehen besticht sie durch die strenge Durchführung der Parallele von § 1004 BGB zu § 985 BGB, praktisch gesehen hat sie den kaum zu überschätzenden Vorzug, daß sie die höchst unerquicklichen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Beseitigungs- und Schadensersatzansprüchen mit einem Schlage ausräumt, und unter Gerechtigkeitsaspekten läßt sie sich durch den Unterschied zwischen der Einstandspflicht für gegenwärtiges und für vergangenes Unrecht legitimieren. Trotzdem ist sie m. E. nicht zu halten99. Der Haupteinwand besteht dabei darin, daß nach der Usurpationstheorie der Anspruch aus § 1004 BGB durch Dereliktion der störenden Sache hinfällig gemacht werden kann – eine Konsequenz, die die Anhänger dieser Theorie ausdrücklich ziehen100 und der sie in der Tat nicht entrinnen können, ohne einen inneren Bruch in ihre Konzeption zu bringen; denn wer das Eigentum an der störenden Sache aufgibt, hört zwangsläufig zugleich auf, das Eigentum des Gestörten zu „usurpieren“. Damit aber führt diese Theorie zu einem Basissatz, der mit dem Gesetz unvereinbar ist. Die Dereliktion läuft nämlich im wesentlichen darauf hinaus, daß der Störer sich von den Kosten der Beseitigung befreien kann – und gerade diese wollten ihm die Gesetzesverfasser anlasten101, indem sie ihm in § 1004 BGB eine echte Beseitigungs- und nicht lediglich wie im – gleich anschließenden! – § 1005 BGB eine bloße Duldungspflicht auferlegten. Selbst größte Leistungsfähigkeit bewahrt also eine Theorie nicht notwendig davor, am Gesetz zu scheitern.
Vgl. auch Andersson aaO S. 190. Das betont mit Recht von Kutschera, Wissenschaftstheorie II, 1972, S. 461 f. 98 Vgl. Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, 1972, S. 129; diese Theorie verwendet auch Pawlowski aaO (Fn. 1) S. 340 ff. als Beispiel, allerdings mit anderer Zielrichtung als hier. 99 Vgl. näher Larenz/Canaris aaO (Fn. 76) § 86 V 2. 100 Vgl. Picker aaO S. 113 ff.; Staudinger/Gursky, 12. Aufl. 1989, § 1004 Rdn. 76. 101 Vgl. Mot. III S. 425 f. 96 97
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e) Darüber hinaus kann eine Theorie nicht nur durch gesetzliche, sondern auch durch ungeschriebene Basissätze falsifiziert werden. Da man dabei indessen tief in die besondere Problematik der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung hineingerät, sei das nur an einem einzigen Beispiel veranschaulicht. Als solches soll der Bereicherungsausgleich bei der Zession dienen. Von wem muß der Schuldner, der an den Zessionar geleistet hat, kondizieren, wenn die abgetretene Vertragsforderung sich als unwirksam erweist – vom Zessionar oder vom Zedenten? Sieht man mit der Theorie des Leistungsbegriffs als Kondiktionsschuldner grundsätzlich den Leistungsempfänger an102, kann sich der Bereicherungsanspruch nur gegen den Zessionar richten, da der Schuldner ja an ihn geleistet hat; stellt man dagegen mit der Theorie des kondiktionsauslösenden Mangels darauf ab, wer Partei des fehlerhaften Kausalverhältnisses ist103, hat der Schuldner folgerichtig grundsätzlich vom Zedenten zu kondizieren, da der Bereicherungsausgleich durch die Unwirksamkeit des mit diesem geschlossenen Vertrags erforderlich wird. Welcher dieser beiden gegensätzlichen Basis- oder Prüfsätze ist nun richtig? Nach überwiegender Meinung, der sich inzwischen auch der BGH angeschlossen hat, der letztere104. Dafür spricht zunächst schon der Vergleich mit der Rechtslage in den Anweisungsfällen, bei denen sich ceteris paribus der Bereicherungsanspruch unzweifelhaft gegen den Anweisenden und nicht gegen den Anweisungsbegünstigten richtet; warum soll anders zu entscheiden sein, wenn der Gläubiger seinen Schuldner durch eine Zession statt durch eine Anweisung zur Leistung an den Dritten veranlaßt?! Außerdem nimmt die Gegenansicht dem Schuldner im praktischen Ergebnis die Einwendungen und Einreden gegen den Zedenten, also seinen Vertragspartner, und überbürdet ihm das Risiko einer Insolvenz des Zessionars statt desjenigen seines Vertragspartners; das verstößt gegen das in den §§ 404 ff. BGB zum Ausdruck kommende fundamentale Gebot des geltenden Rechts und der Gerechtigkeit, daß der Schuldner durch die – ohne seine Mitwirkung erfolgende! – Zession keine Verschlechterung seiner Rechtsstellung erleiden darf. Folglich kann die Theorie des Leistungsbegriffs nicht richtig sein, da sie zu einem inakzeptablen Basissatz führt. f) Zusammenfassend kommt man zu dem Ergebnis, daß eine juristische Theorie in der Tat durch den Vergleich mit Basissätzen überprüft und falsifiziert werden kann. Diese beruhen auf Normen, die aus dem Gesetz oder mit den Mitteln der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung gewonnen werden. Steht ein solcher Basissatz in Widerspruch zu dem korrespondierenden Basissatz, der sich bei konsequenter [388] Durchführung der Theorie ergibt, so ist diese falsifiziert. Sie 102 So z. B. Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, 1934, S. 113; von Caemmerer, Festschr. für Rabel, 1954, S. 351. 103 So Canaris, Festschr. für Larenz, 1973, S. 834 f. und S. 861. 104 Vgl. BGH, 2.11.1988 – IV b ZR 102/87 = BGHZ 105, 365 sowie eingehend Larenz/Canaris aaO (Fn. 76) § 70 V 1 a m. umf. Nachw.
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durch eine bloße ad-hoc-Hypothese zu „retten“, ist unzulässig; eine solche liegt vor, wenn die Hypothese sich in der Beseitigung der betreffenden Schwierigkeit erschöpft, also keinen darüber hinausgehenden Informationsgehalt aufweist. Von der Leistungsfähigkeit einer Theorie ist die Möglichkeit ihrer Falsifizierung zu unterscheiden, so daß auch hochgradig leistungsfähige Theorien falsch sein können. V. Konsequenzen aus der Fehlerhaftigkeit einer Theorie 1. Der pragmatische Einschlag der Problematik a) Nicht selten begegnet man der Ansicht, die Falsifikation einer Theorie habe zur Folge, daß diese aufgegeben werden muß105. Das ist indessen ein Irrtum 106. Denn Falsifikation bedeutet ja nur, daß die Theorie in ihrer derzeitigen Formulierung nicht richtig sein kann. Folglich steht grundsätzlich nichts im Wege, sich um ihre Verbesserung zu bemühen. Häufig kann man ihren Anwendungsbereich einschränken, indem man bestimmte „intendierte Anwendungen“ aus diesem herausnimmt107. U. U. kann man sie sogar zur Gänze umformulieren, ohne ihren Zentralgedanken zu verwerfen, da dieser bisher lediglich unzutreffend ausgedrückt oder vielleicht noch nicht einmal voll ins Bewußtsein getreten war. Mitunter ist es auch zweckmäßiger, einstweilen mit einer falsifizierten Theorie weiterzuarbeiten, als sich ohne jede Theorie „durchzuwursteln“. Dafür spricht vor allem, daß erfahrungsgemäß die meisten falsifizierten Theorien durchaus einen richtigen Kern haben; auch darf man nicht vergessen, daß sich der falsifizierende Basissatz doch noch seinerseits als falsch erweisen kann108 und jede Falsifikation somit streng genommen nur vorläufigen Charakter hat. Selbst wenn eine andere Theorie, die den betreffenden Fehler überzeugend beheben kann, zur Verfügung steht, ist ihr nicht immer ohne weiteres der Vorzug zu geben. Sie kann nämlich ihrerseits Fehler aufweisen, die ebenso schwer oder gar schwerer wiegen, und also von der richtigen Lösung noch weiter entfernt sein als ihre falsifizierte Konkurrentin. Ob und wann eine falsifizierte Theorie gänzlich aufzugeben ist, stellt somit weitgehend ein pragmatisches Problem dar, für dessen Lösung sich strikt und 105 So setzt z. B. Lakatos die Falsifikation einer Theorie mit der Notwendigkeit ihrer Beseitigung gleich und interpretiert auch Popper in diesem Sinn, vgl. in: Lakatos/Musgrave (Hrsg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, 1974, S. 106 f., 118 u. ö.; aus der juristischen Literatur siehe z. B. Fezer, Teilhabe und Verantwortung, 1986, S. 370: „Widerlegte Theorien werden verworfen“ (in Interpretation Poppers). 106 Vgl. Andersson aaO (Fn. 87) S. 15f., 145 ff., 149 ff.; Pähler aaO S. 139 ff.; W. Meyer, Wirtschaftstheorie und Falsifikationismus, in: Festschr. für H. Albert, 1991, S. 60 f. 107 Vgl. Stegmüller aaO (Fn. 17) S. 28, 47. 108 Vgl. oben IV 3 b.
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ausnahmslos zu befolgende Regeln schwerlich werden aufstellen lassen. Das gilt auch vom Boden des Falsifikationismus aus, wie man leicht daran erkennen kann, daß fast alle vorstehend angeführten Argumente auf diesem selbst beruhen. Daß die Ablösung einer Theorie durch eine andere sich wissenschaftsgeschichtlich gesehen nicht allein, ja vielleicht nicht einmal primär, nach dem Falsifikationsmodell beschreiben läßt, sondern daß dabei viele andere Faktoren – auch „irrationale“ – im Spiel sind, wie das vor allem T. S. Kuhn herausgearbeitet hat109 und wie jeder Wissenschaftler aus seinem alltäglichen Erleben bestätigen kann, spricht somit nicht gegen den Falsifikationismus; deshalb brauchte dieser Befund dessen Anhängern eigentlich kaum Anlaß zu polemischen Repliken zu geben 110, zumal der kritische Rationalismus nicht plausibel machen kann, ob und warum sich die „bessere“, d. h. der Wahrheit näherkommende Theorie durchsetzt, und daher in einem evolutionistischen Modell der Wissenschaftsentwicklung i. S. Kuhns in gewisser Weise geradezu eine konsequente Ergänzung findet111. b) Aus dem Repertoire der in dieser Abhandlung benutzten Beispiele eignet sich die Kontroverse zwischen Zweikondiktionen- und Saldotheorie besonders gut zur Veranschaulichung der vorliegenden Problematik. Durch die Entwicklung der Saldotheorie ist nämlich die Zweikondiktionentheorie keineswegs zur Gänze falsifiziert, sondern lediglich in ihrem Anwendungsbereich eingeschränkt worden. Das wird schlagend dadurch belegt, daß die Anhänger der Saldotheorie in den (zahlreichen) Fällen, in denen sie Ausnahmen von dieser machen, es mit Selbstverständlichkeit bei der Zweikondiktionentheorie und ihren Ergebnissen bewenden lassen; in der Tat hat diese den Vorzug, daß sie die – sich aus § 818 III BGB ergebende – gesetzliche Ausgangslage richtig wiedergibt. Andererseits plädieren auch die Gegner der Saldotheorie, nach deren Ansicht diese inzwischen ihrerseits falsifiziert ist112, mitnichten einfach für eine Rückkehr zum Status quo ante, also für eine generelle Wiederaufnahme der Zweikondiktionentheorie. Vielmehr wird auch von ihnen anerkannt, daß die Saldotheorie einen richtigen Kern hat und gegenüber der Zweikondiktionentheorie insofern einen wesentlichen Fortschritt bedeutet, als sie die Notwendigkeit bewußt gemacht hat, die – im Mittelpunkt der Zweikondiktionentheorie stehende – Anwendung von § 818 III BGB auf die Rückabwicklung gegenseitiger Verträge durch weitreichende Einschränkungen rechtsfortbildend zu korrigieren. Ob diese schon klar genug herausgearbeitet und 109 Vgl. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976 sowie seine Auseinandersetzung mit Poppers Wissenschaftsphilosophie in: Lakatos/Musgrave aaO (Fn. 105) S. 1 ff. 110 Es gibt gleichwohl eine ausgebreitete Kontroverse zwischen „Popperianern“ und „Kuhnianern“, die hier indessen auf sich beruhen kann; vgl. dazu z. B. Stegmüller aaO (Fn. 17) S. 153 ff., 218 ff., 278 ff. u. ö.; Andersson aaO (Fn. 87) passim. 111 Treffend dazu Mittelstraß aaO (Fn. 86) S. 62 und 121 sowie ders., Der Flug der Eule, 1989, S. 200 f. 112 Vgl. oben IV 2 a mit Fn. 74 und b mit Fn. 76.
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zu einem hinreichend überzeugungskräftigen neuen Lösungsmodell ausgebaut worden sind, um der Saldotheorie endgültig den Abschied zu geben113, oder ob man diese durch eine verbesserte Fassung retten kann114 oder ob man sich trotz ihrer – kaum noch bestrittenen – Mängel einstweilen weiter mit ihr behelfen sollte115, ist derzeit eine offene Frage, die man nur pragmatisch entscheiden kann und bei deren Beantwortung „persönliche“ Grundhaltungen und dgl. in der Tat eine erhebliche und wohl nicht ganz illegitime Rolle spielen. 2. Gründe für die Verwerfung einer Theorie oder den Verzicht auf deren Anwendung a) Pragmatik bedeutet selbstverständlich nicht reine Beliebigkeit. So ist eine Theorie jedenfalls dann aufzugeben, wenn sie ihr eigenes Ziel in wesentlichen Punkten verfehlt hat und dieses von einer konkurrierenden Theorie erreicht wird, die bisher den Falsifikationsversuchen widerstanden hat. Ein Musterbeispiel hierfür ist – um weiter bei dem bisher verwendeten Anschauungsmaterial zu bleiben – die wertpapierrechtliche Kreationstheorie. Die Entstehung der Verpflichtung aus der fehlerlosen Begebung eines Papiers kann nämlich die Vertragstheorie besser erklären, weil allein sie dem – insbeson- [389] dere in § 305 BGB niedergelegten – Prinzip entspricht, daß Verpflichtungen nach geltendem Recht grundsätzlich durch Vertrag und nicht durch einseitiges Rechtsgeschäft begründet werden; und die Problematik der mangelhaften Begebung bewältigt die Rechtsscheintheorie weitaus besser, weil sie grundsätzlich für alle Arten von Mängeln paßt, während die Kreationstheorie zwangsläufig in denjenigen Fällen versagt, in denen auch der Kreationsakt selbst – und nicht nur die Begebung des Papiers – von einem Mangel beeinflußt ist wie z. B. dann, wenn das Papier unter dem Einfluß eines Irrtums i. S. von § 119 BGB oder einer Drohung i. S. von § 123 BGB unterzeichnet worden ist116. Die Verbindung von Vertrags- und Rechtsscheintheorie, wie sie heute von der h. L. vertreten wird, ist folglich der Kreationstheorie klar überlegen. b) Aufzugeben ist eine Theorie ferner dann, wenn sie nur mit Hilfe einer unzulässigen ad-hoc-Hypothese zu „retten“ ist117. Das gilt zumal dann, wenn eine Alternative zur Verfügung steht, die ohne eine solche auskommt und nicht dem Verdacht ausgesetzt ist, statt dessen andere Mängel zu haben. Exemplarisch hierfür ist die kontokorrentrechtliche Novationstheorie, die ihre Unvereinbarkeit mit § 356 HGB nur durch die ad-hoc-Konstruktion einer gesetzlichen FordeSo Canaris, Festschr. für Lorenz, 1991, S. 58 ff. m. umf. Nachw. zum Diskussionsstand. So vor allem Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, § 17 III 3 b und c. 115 So die Tendenz des BGH. 116 Vgl. näher Hueck/Canaris aaO (Fn. 13) § 3 I 1 d und II 1. 117 Vgl. dazu oben IV 3 c nach Fn. 92. 113 114
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rungsauswechselung beschönigen kann118, wohingegen ihre Konkurrentin, die Schuldanerkenntnistheorie, mit § 356 HGB nicht die geringsten Schwierigkeiten hat und überdies auch noch den Vorzug voller Übereinstimmung mit § 364 II BGB besitzt119, wodurch sie zugleich in hohem Maße vor der Gefahr unerkannter Mängel geschützt ist. Es ist daher nachgerade unbegreiflich, daß der BGH aus der – im Schrifttum heute fast allgemein abgelehnten – Novationstheorie noch immer praktische Konsequenzen für die Lösung konkreter Sachfragen zieht120, ohne auf die Einwände gegen diese Theorie mit einem einzigen Wort einzugehen. c) Das leitet über zur nächsten Maxime: Aus einer falsifizierten Theorie dürfen (zumindest) in dem Bereich, der von dem Fehler betroffen ist, keine Problemlösungen mehr hergeleitet werden. So kann z. B. die Anwendbarkeit von § 818 III BGB in den sogenannten Vorleistungsfällen auch dann, wenn man an der Saldotheorie festhält, keinesfalls allein durch die Berufung auf diese legitimiert werden, da genau das der Angriffspunkt ihrer Gegner ist121 und man also bei einer solchen Argumentation in einen vitiosen Zirkel gerät; glaubt man bei dieser Problematik an der Anwendung von § 818 III BGB festhalten zu müssen, so kann man das folglich nur mit Gesichtspunkten zu begründen versuchen, die unabhängig von der Anerkennung der Saldotheorie sind – was ja in der Tat geschieht122. Man sollte meinen, daß zirkuläre Ableitungen aus einer Theorie seit der Überwindung der Begriffsjurisprudenz und der von dieser geübten „Inversionsmethode“ der Vergangenheit angehören, doch kommen sie auch heute noch überraschend oft vor. Ein Beleg ist die soeben erwähnte Rspr. des BGH zum Kontokorrent. Die Wissenschaft ist in dieser Hinsicht mitunter ebenfalls alles andere als zimperlich. So hat kein Geringerer als Gernhuber die – oben IV 3 e bereits erwähnte – Entscheidung des BGH, daß der Putativschuldner bei einer Leistung an den Zessionar grundsätzlich nicht von diesem, sondern vom Zedenten zu kondizieren hat, mit der lapidaren Bemerkung als „sachlich falsch“ zurückgewiesen: „Dem ,Zedenten‘ hat der ‚Schuldner‘ nicht geleistet“123. Das ist geradezu ein Musterbeispiel für eine Beweisführung mit dem thema probandum, d. h. einen vitiosen Zirkelschluß; denn kontrovers ist ja gerade die Frage, ob KondiktiVgl. oben IV 3 c. Grundlegend Hefermehl, Festschr. für Lehmann, 1956, S. 549 ff.; vgl. im übrigen näher Capelle/Canaris, Handelsrecht, 21. Aufl. 1989, § 25 IV 1 und V m. umf. Nachw. 120 Vgl. z. B. BGH, 8.3.1972 – VIII ZR 40/71 = BGHZ 58, 257 zur Ersatzaussonderung gemäß § 46 KO bei Einzahlung von fremdem Bargeld auf ein Kontokorrentkonto und dazu kritisch Canaris, Bankvertragsrecht, 3. Aufl. 1988, Rdnr. 506 f.; BGH, 24.1.1985 – I ZR 201/82 = BGHZ 93, 307, 313 zur Behandlung von Posten aus unverbindlichen Börsentermingeschäften und dazu kritisch Canaris ZIP 1985, 593 f. und ZIP 1987, 885 ff. 121 Vgl. oben IV 2 a mit Fn. 74. 122 Vgl. Koppensteiner/Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, 2. Aufl. 1988, § 16 V 4, die insoweit trotz Ablehnung der Saldotheorie zum selben Ergebnis kommen wie deren Anhänger. 123 Vgl. Gernhuber, Bürgerliches Recht, 3. Aufl. 1991, § 47 I 7 118 119
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onsschuldner der Leistungsempfänger – also der Zessionar – oder, wie die Gegentheorie annimmt, die andere Partei des fehlerhaften Vertrags – also der Zedent – ist124. d) Diese Problematik ist zugleich ein gutes Beispiel dafür, daß man eine Theorie keineswegs immer durch die Herausnahme einer intendierten Anwendung retten kann. Geht man nämlich mit der Theorie des Leistungsbegriffs davon aus, daß Kondiktionsschuldner grundsätzlich der Leistungsempfänger ist, so muß man folgerichtig zur Kondiktion gegen den Zessionar kommen (wie Gernhuber), sieht man dagegen mit der Theorie des kondiktionsauslösenden Mangels die Partei desjenigen Rechtsverhältnisses, in dem dieser seinen Ursprung hat, als Kondiktionsschuldner an, so kann sich der Kondiktionsanspruch grundsätzlich nur gegen den Zedenten richten. Wer der richtige Schuldner ist, muß demgemäß mit Hilfe von Kriterien entschieden werden, die außerhalb der beiden Theorien liegen, und führt dann, wie oben IV 3 e dargelegt, zu einem Basissatz, anhand dessen diese überprüft und gegebenenfalls falsifiziert werden können. Keine der beiden Theorien hat nun Argumente zur Verfügung, mit denen sie begründen könnte, warum die ihr entsprechende Regel auf die Bereicherungsproblematik bei der Zession nicht paßt (was übrigens auch kein Anhänger der beiden Theorien behauptet), und jede von ihnen steht und fällt daher mit der Lösung der vorliegenden Problematik. e) Es geht bei dieser auch nicht etwa um ein bloßes Randproblem. Mit Hilfe eines solchen läßt sich nahezu jede juristische Theorie in Schwierigkeiten bringen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß Theorien zur Lösung bestimmter Probleme entwickelt werden und demgemäß ohne Berücksichtigung paradigmatischer Anwendungsfälle letztlich gar nicht adäquat zu verstehen sind (vgl. oben II); denn deshalb muß es mehr oder weniger zwangsläufig dazu kommen, daß eine Theorie ihrer Formulierung nach auch Probleme erfaßt, für deren Lösung sie „nicht gemacht ist“. Daher ist eine Theorie nicht schon falsifiziert, wenn sie in irgendeiner peripheren Frage zu unbefriedigenden Konsequenzen gelangt. Vielmehr zeigt sich daran lediglich einmal mehr, daß (auch) die Rechtswirklichkeit dividiert durch die Vernunft nicht ohne Rest aufgeht. Andererseits darf man sich selbstverständlich nicht bei jeder Schwierigkeit einfach darauf herausreden, es handele sich um ein Randproblem. Das ist bei korrektem Vorgehen denn auch nicht möglich. Es gibt nämlich durchaus Kriterien, um festzustellen, ob ein bloßes Randproblem vorliegt oder nicht: Ein solches ist dadurch gekennzeichnet, daß es nur eine schwache Ähnlichkeit – das ist ein abstufbarer Begriff! – mit den Zentralproblemen hat, die mit Sicherheit in den Anwendungsbereich der Theorie fallen, oder daß der Ableitungszusammenhang zwischen der
124
Vgl. oben IV 3 e.
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Theorie und der betreffenden Problemlösung – der nicht logischer, sondern teleologischer Art ist! – nur sehr locker ist. [390] Um das soeben erörterte Beispiel wieder aufzunehmen: Das „Modell“, an dem die Theorien über den Bereicherungsausgleich im Mehrpersonenverhältnis orientiert sind und das somit für diese paradigmatisch ist, bilden unbestrittenermaßen die Anweisungslagen; da die Zessionsproblematik mit diesen eine deutliche Ähnlichkeit aufweist125, kann man sie nicht als Randproblem abtun. Ein zweites Beispiel: Der Ableitungszusammenhang zwischen Pickers Usurpationstheorie und dem Problem der Dereliktion ist eng, da mit der Dereliktion die Usurpation endet126 und also das zentrale Merkmal der Theorie entfällt; für diese ist folglich die Lösung der Dereliktionsproblematik alles andere als peripher. f) Insgesamt kann somit entgegen der „anarchistischen“ Auffassung mancher Wissenschaftsphilosophen keine Rede davon sein, daß man letztlich jede Theorie retten könne, indem man mit ihr unvereinbare Anwendungsfälle einfach aus ihrem Geltungsbereich herausnimmt. Man muß dazu lediglich die Maxime akzeptieren, daß die grundlose Behauptung einer Ausnahme unzulässig ist, doch sollte das nicht schwerfallen, da man sonst letztlich sogar vitiose Zirkelschlüsse zulassen könnte und damit jeden Anspruch auf Rationalität aufgeben würde. Um nicht mißverstanden zu werden: Natürlich kann sich immer herausstellen, daß es in Wahrheit doch gute Gründe für das Vorliegen eines legitimen Ausnahmefalles gibt, doch ist das ein anderes Thema – nämlich das der Fallibilität eines jeden Satzes. Außerdem kann es vorkommen, daß die Ausnahme vom Gesetz erzwungen wird; dann ist möglicherweise dieses inkonsistent, so daß die Theorie nur eine ihr vorgegebene Inkonsistenz widerspiegelt, selbst aber durchaus konsistent ist127. g) Nun muß man freilich bei der hier vertretenen Grundhaltung heutzutage den Einwand gewärtigen, aufgrund des hermeneutischen Zirkels seien in der Jurisprudenz Zirkelschlüsse ohnehin unvermeidlich. In der Tat trifft es wohl zu, daß alles Bemühen um rationales Erklären und Verstehen letztlich mit einem Rest von Zirkularität behaftet bleibt – wie sich ja auch an den „Basisproblemen“ zeigt. Ebenso wie bei diesen ist indessen auch hier zu entgegnen, daß es sich, pragmatisch gesehen, lediglich um eine Komplikation, nicht aber um eine Widerlegung im Grundsätzlichen handelt128. Die schlechteste aller Maximen ist daher, kräftig zu sündigen, weil wir ohnehin allzumal Sünder sind. Gleichwohl ist genau diese Haltung im Zuge der Hermeneutikdebatte in der Jurisprudenz in Mode gekommen. Richter, ja sogar Rechtswissenschaftler sehen es allen Ernstes als Legitimation für von ihnen vertretene Problemlösungen an, daß diese nun einmal ihrem „Vorverständnis“ entsprächen. Vgl. oben IV 3 e. Vgl. oben IV 3 d bei Fn. 100. 127 Vgl. oben IV 2 a bei Fn. 75. 128 Vgl. oben IV 3 b mit Fn. 88. 125 126
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Wer so denkt, hat nichts von Hermeneutik verstanden. Zu deren vornehmsten „Canones“ gehört nämlich die Forderung nach „Objektivität der Einstellung“, so daß „jede Interpretation mit dem Entschluß des Interpreten anfangen muß, sich auf das Werk einzustellen ... und nichts in den Text hineinzutragen, sondern das zu entwickeln, was im Text enthalten ist“; dieser Canon „ist ganz sicher die Grundlage der Jurisprudenz als Wissenschaft“129. Aus dieser Anforderung entläßt auch die neuere Hermeneutik, die vor allem von Heidegger und Gadamer entwickelt worden ist, den Interpreten mitnichten. Vielmehr bleibt auch und gerade nach Heidegger die „erste, ständige und letzte Aufgabe (der Auslegung), sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern“; demgemäß hat „dieses Voraus-setzen den Charakter des verstehenden Entwerfens, so zwar, daß die solches Verstehen ausbildende Interpretation das Auszulegende gerade erst selbst zu Wort kommen läßt ...130. Das „Vorverständnis“ hat also stets nur den Charakter eines vorläufigen Vorgriffs auf eine Sinnerwartung, die „sich berichtigen lassen muß, wenn der Text es fordert“ und dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt ist131 – eine Denkweise, die durchaus mit Poppers Verfahren von „trial and error“ verglichen werden kann132. Soweit das in der juristischen Literatur anders gesehen wird, handelt es sich um eine „grundsätzliche Veränderung von Inhalt und Funktion des ,Vorverständnisses‘“133, durch die dieses zum vulgären Vorurteil verkommt. Ob und wann der Richter auf seine „Eigenwertung“ zurückgreifen darf134, weil er mißlicherweise kein besseres Lösungskriterium findet, ist eine gänzlich andere Frage, die hier nicht zu vertiefen ist. VI. „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“? Theorie und Dogmatik begegnen heutzutage in der Jurisprudenz zunehmendem Mißtrauen, ja mitunter offener Feindseligkeit. Die Ursachen sind vielfältig. Gewiß spielen die Abneigung und das Unvermögen, sich dem Anspruch theoreti129 So mit Recht Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959, S. 13 f., 18. 130 So Heidegger, Sein und Zeit, 12. Aufl. 1972, S. 153, 314 f.; die erste Hervorhebung ist hinzugefügt, die zweite im Original. 131 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Anfl. 1975, S. 275. 132 Das wird zutreffend hervorgehoben von Zaccaria ARSP 72 (1986), 303 f. 133 So mit Recht Picker JZ 1988, 6; ähnlich Zöllner AcP 188 (1988), 89 f.; vgl. im übrigen die überaus abgewogene Darstellung und Kritik von Larenz aaO (Fn. 1) S. 206 ff. 134 Vgl. dazu z. B. Larenz aaO (Fn. 1) S. 293 ff.; F. Bydlinski aaO (Fn. 28) S. 19 ff.
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schen Denkens und seinen unbequemen Zumutungen überhaupt zu stellen, eine erhebliche Rolle. Ein anderer Grund ist die Faszinationskraft des Fallrechtsdenkens135. Ein dritter liegt in der Sorge, daß Theorie den Bedürfnissen von Praxis nicht gerecht wird; der von Kant verworfene „Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ ist auch heute noch charakteristisch für die Haltung vieler Juristen. Man sollte sich gegenüber solchen Befürchtungen nicht überheben; die enge Stirn eierköpfiger Bewohner von Elfenbeintürmen steht dem Rechtswissenschaftler angesichts des unmittelbaren Praxisbezugs der Jurisprudenz besonders schlecht – wie auch immer man im übrigen das Verhältnis von Theorie zu Praxis sehen mag136. Demgemäß zielt die vorliegende Abhandlung auch und gerade auf Praxis (und gibt u. a. deshalb den Beispielen so viel Raum). Daß eine Lehre „in der Theorie richtig ist, aber nicht für die Praxis taugt“, ist mit der Anwendungsorientierung juristischer Theorien nicht zu vereinbaren und darf daher eigentlich gar nicht vorkommen; vielmehr muß bei einem solchen Widerspruch entweder die Theorie aufgegeben bzw. korrigiert oder die Praxis geändert werden. Andererseits ist es eine naive Illusion zu glauben, als Jurist könne man ohne Theorien auskommen. Wer immer Recht anwendet oder gar fortbildet und dabei nicht bloße Kadijustiz übt, hat eine Theorie, mag diese auch noch so rudimentär sein und oft unbewußt bleiben. Ohne ein gewisses Maß von Verallgemeinerung und damit von Theorie kann [391] man nämlich dem elementaren Gerechtigkeitsgebot, Gleiches gleich und Ungleiches nach Maßgabe seiner Verschiedenartigkeit ungleich zu behandeln, von vornherein nicht Genüge tun; denn dafür braucht man ein Kriterium des Ver-Gleichens, das zwangsläufig über den zu entscheidenden Einzelfall hinausgreift. Ist dem aber so, dann sollte man die Theorie tunlichst explizit machen; das kann die Entscheidung verbessern, weil ihrem Träger dadurch die Reichweite und die Folgewirkungen der von ihm zugrunde gelegten Prämissen eher bewußt werden, und das erleichtert überdies ihre kritische Diskussion. Zugleich wird durch den Hinweis auf den Gleichheitssatz noch einmal in Erinnerung gerufen, worin Aufgabe und Leistung rechtsdogmatischer Theorien liegen: Diese kontrollieren und sichern die Verträglichkeit einer Problemlösung mit den übrigen Teilen des geltenden Rechts, verdeutlichen deren materiellen Gerechtigkeitsgehalt und stellen einen Rahmen für die Entwicklung weiterer Problemlösungen zur Verfügung; zugleich gewährleisten sie die interne 135 In Wahrheit kann freilich auch dieses der Theorie nicht entraten, vgl. Canaris, Festschr. für Kitagawa, 1992, S. 60 f. 136 Eine besonders pointierte Position vertreten hierzu die Anhänger des Erlanger Konstruktivismus. So sind nach Lorenzen „alle Theorien Redeinstrumente schon begonnener Praxis”, vgl. Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, 1987, S. 18; siehe in diesem Zusammenhang ferner Mittelstraß aaO (Fn. 86) S. 91 f., 124 ff. und dens. in: Kambartel/Mittelstraß (Hrsg.), Zum normativen Fundament der Wissenschaft, 1973, S. 1 ff., insbes. S. 49 ff.
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Stimmigkeit einer Gesamtlösung oder eines Komplexes zusammenhängender Einzellösungen. Herablassung gegenüber Theorien nach Art des „Gemeinspruchs“ oder gar antidogmatische Feindseligkeit verfehlt somit die Leistung der Theorie ebenso wie die Aufgaben der Praxis. Dem Alltagsverstand mag Theorie freilich unverständlich, esoterisch, ja lachhaft erscheinen137. Platon hat das Gelächter der thrakischen Magd über Thales, der beim Beobachten der Sterne (angeblich) in den Brunnen gefallen war, im „Theaitetos“ unsterblich gemacht138, und Hans Blumenberg hat dieses Gelächter zum Titel und Leitmotiv einer „Urgeschichte der Theorie“ gewählt139. Indessen wußte Thales nach einer von Aristoteles berichteten Anekdote seine theoretischen Fähigkeiten sehr wohl praktisch zu verwerten, indem er aufgrund seiner astronomischen Kenntnisse eine günstige Ölernte voraussah, rechtzeitig alle Ölpressen mietete und dann hohen Gewinn machte 140. Eine besondere Pointe141 liegt dabei darin, daß Thales in Wahrheit wohl gar nicht in den Brunnen gefallen, sondern in ihn gestiegen war, um dessen Wasserspiegel für astronomische Beobachtungen zu nutzen 142. Das ist das Signum des echten Theoretikers oder, wie wir Juristen zu sagen pflegen, Dogmatikers: Er sitzt aus gutem Grund in seinem Brunnen und läßt sich durch Unverständnis und Spott banausischer Mägde nicht beirren.
137 Vgl. dazu H. Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin – Eine Urgeschichte der Theorie, 1987, S. 9 f. 138 Platon, Theaitetos 174 a. 139 Vgl. aaO (Fn. 137); Blumenberg geht es dabei freilich auch ganz wesentlich um die Verteidigung „lebensweltlicher“ Bedürfnisse und Haltungen gegenüber Anmaßungen von Theorie und Philosophie, insbesondere in scharfer Wendung gegen Heidegger, vgl. aaO S. 146 ff. 140 Aristoteles, Politik A 11, 1259 a 5–18; vgl. dazu H. Lübbe, Unbehagen an der Wissenschaft, in: Endstation Terror, 1978, S. 184 f. 141 – die freilich weder Platon noch Blumenberg explizit thematisieren – 142 Vgl. dazu Herzog, Akzente 1990, 221.
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In der juristischen Methodenlehre ist anerkannt, daß zu den legitimen Mitteln der Rechtsfindung auch die sogenannte Eigenwertung des Richters gehört. Da bekanntlich nicht alle Juristen in allen Fällen zu den gleichen Werturteilen gelangen – um mich sehr zurückhaltend auszudrücken –, bedeutet die Zulassung einer Eigenwertung zugleich, daß verschiedene Gerichte zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen dürfen – und zwar durchaus legitimerweise. Muß man also annehmen, daß es u. U. für ein und denselben Fall bzw. für ein und dasselbe Rechtsproblem mehrere „richtige“ oder u. U. gleichermaßen „vertretbare“ Lösungen gibt? Das wird in der Tat von einer Reihe – z. T. sehr prominenter – Autoren bejaht. Dabei wird allerdings häu- [24] fig nicht recht klar, wie das genau gemeint ist. Man kann diese These in dem harmlos-pragmatischen Sinne verstehen, daß sie sich auf die richterliche Praxis bezieht, wie sie nun einmal ist – d. h. mit allen ihren Unvollkommenheiten und insbesondere mit dem Zwang, innerhalb einer begrenzten Zeit zu einer Entscheidung zu kommen; dann besagt sie lediglich, daß der Richter de facto mitunter zur Eigenwertung als einem bloßen Notbehelf Zuflucht nehmen muß, weil er trotz intensivsten Bemühens kein irgendwie geartetes „objektives“ Kriterium gefunden hat und den Prozeß ja nun einmal zu Ende bringen muß. Wenn man die Eigenwertung aus diesem Grund und in diesem Sinn als zuverlässig ansieht und das mit ihrer Hilfe gewonnene Ergebnis deshalb „richtig“ oder „vertretbar“ nennt, ist dagegen natürlich nichts einzuwenden; denn dann handelt es sich lediglich um eine realistische Beschreibung der richterlichen Tätigkeit und eine pragmatische Rücksichtnahme auf deren faktische Bedürfnisse. Die These von der Eigenwertung kann aber auch in einem ganz anderen, weit anspruchsvolleren Sinn verstanden werden – nämlich dahingehend, daß es in bestimmten Fällen oder bei bestimmten Problemen auch idealiter, d. h. sogar unter optimalen Bedingungen – also für den besten vorstellbaren Richter mit beliebig viel Zeit zum Nachdenken usw. – mehrere richtige oder gleich gut vertretbare Lösungen gibt. Der Grund hierfür liegt dann nicht in den faktischen Beschränktheiten richterlicher Praxis, sondern in deren Struktur selbst und ist folglich prinzipiell unbehebbar. Nur mit dieser Auffassung werde ich mich im folgenden beschäftigen [25] und ihr gegenüber die Gegenposition verfechten, wonach es „eigentlich“, d. h. idealiter, grundsätzlich nur eine einzige richtige Lösung gibt. Diese Ansicht wird derzeit bekanntlich vor allem von Ronald Dworkin auf einem
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anspruchsvollen theoretischen Niveau vertreten, doch geht es mir nicht um die Interpretation und Verteidigung gerade dieser seiner „right-answer-thesis“, sondern um das Sachproblem selbst, zumal sich meine Position von derjenigen Dworkins in einigen wesentlichen Punkten unterscheidet. I. Lassen Sie mich zunächst in einem ersten Teil meines Vortrags die beiden gegensätzlichen Grundpositionen einer Plausibilitätsprüfung unterziehen. 1. Dabei schneidet die These, daß es u. U. mehrere richtige Entscheidungen eines juristischen Falles oder eines vom Richter zu lösenden Problems gibt, außerordentlich schlecht ab. Man stelle sich einmal die Reaktion der unterliegenden Partei vor, wenn das Gericht ihr sagen würde, daß es den Fall „genauso gut“ entgegengesetzt hätte entscheiden können, sich jedoch angesichts dessen großer Komplexität nun einmal zu gerade diesem Urteil entschlossen habe! Der Laie würde einer solchen Einlassung gewiß völlig verständnislos gegenüberstehen, ja von Willkür sprechen. Und der Richter selbst? Ich kann mir nicht vorstellen, daß er jemals auf den Gedanken käme, in sein Urteil hineinzuschreiben, dieses beruhe letztlich auf seiner Eigenwertung und die entgegengesetzte Entscheidung wäre genausogut ver- [26] tretbar gewesen. Die Ansicht, es gäbe u. U. mehrere richtige Lösungen, ist somit in hohem Maße kontraintuitiv und unterliegt entsprechend strengen Begründungsanforderungen. Nun mag man diese Argumentation vielleicht als trivial empfinden. Abgesehen davon, daß das nicht gegen ihre Überzeugungskraft spricht, gelangt man über die Stufe der Trivialität schon dann hinaus, wenn man Kants Publizitätsgedanken hinzunimmt. In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ hat er den Satz aufgestellt: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ Ich lasse dahingestellt, ob dieser Satz wirklich, wie Kant behauptet, transzendental, also a priori, gültig ist; ein gewichtiges Indiz für Unrecht ist es allemal, wenn man die Maxime seines Handelns nicht gegenüber dem Betroffenen offenlegen kann. Das Argument, kein Richter würde in sein Urteil hineinschreiben, daß es auf Eigenwertung beruhe und die entgegengesetzte Lösung genausogut vertretbar gewesen wäre, gewinnt dadurch einen Stellenwert, der es jedenfalls über eine bloße Trivialbegründung hinaushebt. Vollends in größte Schwierigkeiten gerät die kritisierte Position, wenn man sie mit dem Satz vom Widerspruch konfrontiert. Es kann nicht gleichermaßen richtig sein, daß der Kläger Eigentümer der streitgegenständlichen Sache ist und daß er es nicht ist, daß die Tat des Angeklagten einen bestimmten Straftatbestand erfüllt und daß sie ihn nicht erfüllt usw.; denn ein Recht kann einer Partei nur entweder zustehen oder [27] nicht zustehen, eine Norm auf einen Sachverhalt
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nur entweder anwendbar sein oder nicht anwendbar sein – tertium non datur, auch wenn es hier nicht um eine Frage der Logik, sondern um eine solche der Rechtsgeltung geht. Spätestens an dieser Stelle werden die Anhänger der von mir kritisierten Position vermutlich den Gedanken des richterlichen Ermessens einführen. In der Tat mache ich die Konzession, daß dieser dort viel für sich hat, wo der Richter quantitative Entscheidungen treffen muß. Das Musterbeispiel bildet die Strafzumessung: Ob es für eine Tat nur eine einzige, gegebenenfalls auf den Tag genau feststehende Strafe gibt, wie die sogenannte Punktstrafentheorie behauptet, oder ob es innerhalb einer gewissen Bandbreite mehrere verschiedene Strafen gibt, die gleichermaßen tatangemessen und also „richtig“ sind; ist eine Frage, die sich mit guten Gründen im letzteren Sinne beantworten läßt. Gleiches gilt im Privatrecht vor allem dort, wo das Gesetz dem Richter die Aufgabe einer Schätzung überträgt wie z. B. u. U. hinsichtlich der Höhe eines Schadens. Bei Entweder-oder-Entscheidungen scheint mir demgegenüber die Kategorie des richterlichen Ermessens gänzlich inadäquat. Greifen wir das Beispiel des umstrittenen Eigentums wieder auf. Das geltende Recht sieht nun einmal nicht vor, daß der Richter bei großer Unsicherheit über die Rechtslage das Eigentum „salomonisch“ beiden Parteien je zur Hälfte zusprechen darf, und es räumt ihm auch nicht die Kompetenz ein, in einem konstitutiven Akt das Eigentum der einen [28] Partei zu- und der anderen abzusprechen, mag das auch u. U. die Folge der Rechtskraft seines Urteils sein. Der Richter hat nach geltendem Recht vielmehr das Eigentum derjenigen Partei anzuerkennen, der es unabhängig von seinem Spruch zusteht. Davon gehen im Prinzip auch die Anhänger der Lehre vom konstitutiven Ermessensakt aus, wie sich aus einem simplen Gedankenexperiment ergibt: Steht für den Richter außer Zweifel, wer Eigentümer ist, so ist es eine Selbstverständlichkeit, daß er diesen als solchen anzuerkennen hat. Damit steht man vor dem Kern der von mir kritisierten Position. Dieser besteht – wenn ich mir aus Gründen der Darstellung eine gewisse Vereinfachung erlauben darf – in einem Zweistufenmodell, nach dem es klare und unklare Fälle bzw. Probleme gibt. Bei den ersteren vollzieht der Richter einen reinen Erkenntnisakt und ist demgemäß vollständig gebunden, wohingegen er bei den letzteren einen dezisionistischen oder volitiven Akt vornimmt und einen Ermessensspielraum hat. Indessen halte ich diese Sichtweise schon deshalb für hochgradig unplausibel, weil sie in der Tat zu der erwähnten, mit der lex lata unvereinbaren Konsequenz gezwungen ist, daß der Richter die Rechtslage hinsichtlich des Bestehens subjektiver Rechte ändern darf – und zwar legitimerweise, nicht lediglich wie nach der Gegenposition auf Grund eines mitunter unvermeidlichen, aber eben irregulären Fehlurteils. Es kommt hinzu, daß es eine auch nur einigermaßen handhabbare Abgrenzung zwischen „klaren“ und „unklaren“ Fällen oder Problemen nicht gibt und nach den [29] Einsichten der Hermeneutik auch gar nicht geben kann. Denn
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schon die Aussage, daß etwas „klar“ oder „unklar“ ist, stellt ihrerseits das Ergebnis einer Interpretation dar und ist folglich mit allen Unsicherheitsfaktoren einer solchen belastet. So weiß ja denn auch jeder Jurist aus eigener Erfahrung sehr genau, daß sich oft bei näherem Nachdenken als durchaus unklar erweist, was zunächst völlig klar zu sein schien, und daß umgekehrt mit einem Schlage sonnenklar werden kann, was zunächst in undurchsichtigem Nebel lag. Letztlich scheint mir demgemäß das Zweistufenmodell geradezu zirkulär zu sein. Um es sinnvoll handhaben zu können, müßte man nämlich eigentlich schon die richtige Lösung kennen, weil nur auf ihrer Grundlage zwischen „klaren“ und „unklaren“ Fällen bzw. Problemen und damit zwischen Fehlen und Vorhandensein eines Ermessensspielraums unterschieden werden kann. Wie inadäquat diese Vorstellung von richterlichen Entscheidungen ist, zeigt schließlich auch deren Vergleich mit denjenigen des Gesetzgebers. Dieser ist wirklich – in den Grenzen der Verfassung – in seiner Entscheidung frei und hat somit einen Spielraum für konstitutive Änderungen der Rechtslage, ohne dafür begründungspflichtig zu sein. Für ihn gilt demgemäß grundsätzlich „auctoritas facit legem“, für den Richter dagegen „veritas facit legem“. Demgegenüber ebnet das Zweistufenmodell die Unterschiede zwischen richterlicher und gesetzgeberischer Tätigkeit zu Unrecht weitgehend ein. 2. Veritas möge hier zur Vermeidung von Mißverständnissen und von zu hohen Ansprüchen – der For- [30] mulierung meines Themas entsprechend – mit Richtigkeit statt mit Wahrheit übersetzt werden und lex für die vom Richter anzuwendende Norm stehen, sei sie geschrieben oder ungeschrieben. Zugleich habe ich durch den Kontrast zum Gesetzgeber schon anklingen lassen, worauf sich diese Richtigkeit gründet: auf die Kraft der Begründung. Richtig nenne ich demgemäß eine richterliche Entscheidung dann, wenn für sie bessere Argumente als für die Gegenansicht sprechen. Das dürfte der Auffassung entsprechen, die die meisten Juristen – zumindest intuitiv – von der richterlichen Tätigkeit hegen. Eine und nur eine richtige Lösung gibt es somit jedenfalls dann, wenn ein Übergewicht der Gründe besteht, mag dieses auch noch so schwach sein. Problematisch sind folglich allenfalls diejenigen Fälle, in denen sich die Argumente für und wider genau die Waage halten. Für derartige „tie-cases“ scheint Dworkin eine Ausnahme von seiner right-answer-thesis machen und die Gleichwertigkeit der beiden gegensätzlichen Lösungen hinnehmen zu wollen. Gibt es hier wirklich keinen tie-break? Ich meine doch. Zu Argumenten gehört nämlich auch eine Argumentationslast. Sie ist ähnlich zu verteilen wie die Beweislast und trifft daher grundsätzlich denjenigen, der die umstrittene Rechtsfolge anstrebt – also z. B. das Eigentum beansprucht, eine Strafe verhängen will, ein Gesetz für verfassungswidrig erklären lassen möchte usw. Nun kann allerdings auch über die richtige Verteilung der Argumentationslast Streit entstehen. Man braucht folglich auch für diesen Fall eine Entschei- [31] dungsregel, um zu vermeiden, daß man in einen infiniten Regreß gerät. Sie ist
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jedoch bereits gefunden. Es ist nämlich dieselbe, die ich soeben genannt habe – nur gewissermaßen auf der zweiten Ebene: Wer die Regel, daß er die Argumentationslast für die ihm günstige Rechtsansicht trägt, durchbrochen haben möchte, muß dafür wiederum die besseren Gründe beibringen. Eine dritte Ebene, auf der dann noch einmal weiterargumentiert werden könnte, gibt es nicht. Das liegt an der Struktur des gerichtlichen Verfahrens, das auf eine abschließende Entscheidung innerhalb eines begrenzten Zeitraums gerichtet ist und das daher nicht nur auf der tatsächlichen, sondern grundsätzlich ebenso auf der rechtlichen Ebene Vorsorge dagegen treffen muß, daß durch ein non liquet oder Patt eine Entscheidung verhindert wird. Dabei handelt es sich nicht etwa um einen willkürlichen Abbruch eines der Idee nach unendlichen Argumentationsganges. Denn die Regel, daß nur derjenige obsiegen kann, der ein Gewicht mehr als sein Widerpart auf die Waage der Iustitia zu legen hat, folgt aus dem Sinn und Zweck des Verfahrens als eines Mechanismus zur Streitentscheidung. Wenn also z. B. Orest in den „Eumeniden“ des Aischylos freigesprochen wird, weil zwischen den Richtern Stimmengleichheit herrscht – und zwar wohlgemerkt nicht etwa bezüglich der bloßen Tatfrage, sondern bezüglich der Rechtsfrage! –, dann ist das völlig konsequent und geradezu die Verwirklichung des Urgesetzes der Streitentscheidung durch Verfahren: Man muß sich in diesem mit seinem Begehren durchsetzen und folglich für dieses das Überge- [32] wicht erlangen – sei es der Stimmen oder sei es der Argumente. II. Insgesamt erscheint mir somit die Ansicht, daß es auf jede Rechtsfrage in der richterlichen. Rechtsfindung nur eine einzige richtige Antwort gibt, grundsätzlich – d. h. abgesehen von den erwähnten Entscheidungen quantitativer Art – weitaus plausibler als die Gegenposition. Eine zwingende Begründung habe ich freilich nicht gegeben. Das dürfte auch gar nicht möglich sein. Wohl allerdings kann und muß man sich mit einer Reihe von Einwänden auseinandersetzen. Die wichtigsten bezeichne ich als relativistischen, ontologischen, intuitionistischen, hermeneutischen und applikativen Einwand. Ihnen gilt der zweite Teil meines Vortrags. 1. Relativistisch nenne ich den Einwand, es könne deshalb nicht nur eine einzige richtige Lösung geben, weil diese zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausfalle. Letzteres trifft gewiß zu, doch liegt darin kein relevanter Einwand. In der Tat hat man das ABGB oder das BGB vor fünfzig Jahren trotz identischen Textes z. T. anders verstanden als heute – und zwar mit vollem Recht. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der nächstliegende besteht darin, daß sowohl die Rechtstatsachen als auch die Gesamtrechtsordnung damals anders waren als heute. Natürlich wird der Sinn eines normativen Textes von den Fakten beeinflußt, die er zu regeln hat; ob es z. B. Teleobjektive, Minispione und dgl. gibt oder nicht, macht für
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die Art und Weise, wie die Texte über [33] den rechtlichen Persönlichkeitsschutz zu handhaben sind, einen gravierenden Unterschied. Ebenso selbstverständlich ist, daß u. U. Änderungen in anderen Teilen der Rechtsordnung berücksichtigt werden müssen, weil diese eine Einheit darstellt; so hat der Erlaß des Grundgesetzes zwangsläufig den Sinngehalt des BGB in manchen Bereichen verändert, was unter dem Stichwort der „Drittwirkung“ sattsam bekannt ist. Wohl noch wichtiger ist die allmähliche Änderung des Sinngehalts von Texten durch den Einfluß der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Allerdings kann ich mich im Rahmen dieses Vortrags naturgemäß nicht mit der schwierigen Frage auseinandersetzen, ob und wann „Richterrecht“ die Qualität einer echten Rechtsquelle im normativen – also nicht nur im faktischen – Sinne hat. Ich möchte daher lediglich anmerken, daß ich diejenige Ansicht für die tragfähigste halte, die immerhin eine subsidiäre Bindung an Präjudizien bejaht und eine solche dann annimmt, wenn keine deutlich besseren Gründe für eine Abweichung von einer höchstrichterlichen Entscheidung gegeben sind – eine Konzeption, die vor allem F. Bydlinski ausgearbeitet und m. E. überzeugend fundiert hat. Auf diese Weise erklärt sich vor allem, daß und warum der Gehalt von Generalklauseln allmählich durch die Rechtsprechung normativ verfestigt wird, sowie daß und warum auch solche höchstrichterlichen Judikate, die unrichtig waren unter bestimmten Voraussetzungen – nämlich dann, wenn die gegen sie sprechenden Gründe nur geringfügig überwiegen – gleichwohl die Rechtsentwicklung für die Zukunft verbindlich beeinflussen. [34] Der relativistische Einwand ist somit nicht stichhaltig. Denn weil eine richterliche Entscheidung stets auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogen ist, muß aus den genannten Gründen heute nicht mehr richtig sein, was gestern richtig war. 2. Der ontologische Einwand geht dahin, daß die Annahme, es gäbe auf jede Rechtsfrage nur eine einzige richtige Antwort, zur Voraussetzung habe, subjektive Rechte oder Normen als irgendwie „objektive“ Entitäten aufzufassen und ihnen damit einen ontologischen Status zuzusprechen, der inadäquat sei. Diese Kritik ist verbreitet und z. B. von H.L.A. Hart an Dworkins Position geübt worden. Hinter ihr dürfte die Korrespondenztheorie der Wahrheit stehen. Denn wenn Wahrheit in der Übereinstimmung zwischen einer Aussage und dem entsprechenden Gegenstand liegt, muß es letzteren wohl irgendwie „geben“, damit man über ihn Aussagen mit Richtigkeitsanspruch machen kann. An dieser Stelle könnte man nun vielleicht versucht sein, sich auf den altberühmten „Universalienstreit“ einzulassen, doch brauchen Sie nicht zu befürchten, daß ich das tue. Ich mache es mir vielmehr wesentlich einfacher und erkläre den ontologischen Einwand im vorliegenden Zusammenhang kurzerhand für irrelevant. Es geht hier nämlich nicht darum, ob es auf juristische Fragen überhaupt eine richtige Antwort gibt, sondern nur darum, ob es auf jede Frage eine solche gibt. Es ist aber ganz unerfindlich, warum der ontologische Status von Normen und Rechten gerade und nur bei den schwierigen Fragen, auf die es vielleicht mehrere Antworten geben könnte, zum Problem
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werden soll, bei den einfa- [35] chen Fragen, auf die es unzweifelhaft und anerkanntermaßen nur eine einzige richtige Antwort gibt, dagegen nicht. Das Ontologieproblem ist somit gar nicht spezifisch für die vorliegende Thematik und kann daher hier auf sich beruhen. Im übrigen darf ich immerhin anmerken, daß ich keine gedanklichen Schwierigkeiten habe, das Recht etwa jenem Bereich zuzurechnen, den Karl Popper „Welt 3“ nennt und der im wesentlichen aus Hervorbringungen des Menschen besteht, diesen gegenüber aber eine gewisse Eigenständigkeit aufweist. Insbesondere halte ich es für eine sinnvolle Redeweise zu sagen, die „Seinsweise“ des Rechts bestehe in dessen normativer Geltung; dafür spricht u. a., daß dieses den Kategorien von Raum und Zeit unterliegt, da es einen lokalen Geltungsbereich und eine temporale Geltungsdauer hat. Allerdings sind substanzontologische Vorstellungen in der Tat gegenüber dem Recht inadäquat, doch stellen diese bekanntlich nicht die einzige Möglichkeit dar, sich dem Ontologieproblem zu nähern. 3. Mit dem ontologischen Einwand hängt in gewisser Weise der intuitionistische zusammen. Ich nenne ihn so, weil er letztlich auf den Grundlagenstreit zwischen Platonisten und Intuitionisten in der Mathematik zurückgeht. Er tritt zwar in mancherlei Spielarten auf, kann aber für die Zwecke meiner Erörterungen im An- schluß an Michael Dummet im wesentlichen durch die Forderung charakterisiert werden, es müsse ein effektives Verfahren geben, mit dessen Hilfe wir in endlicher Zeit über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Aussage entscheiden können. Das könnte im vorliegenden [36] Zusammenhang insofern ein relevanter Einwand sein, als eine juristische Frage u. U. so schwierig ist, daß sie ein Richter von menschlichem Normalmaß nicht mit Sicherheit richtig entscheiden kann. Dworkin hat deshalb die berühmte Figur seines Hercules eingeführt, der mit solch außerordentlichen richterlichen Fähigkeiten begabt ist, daß jedenfalls er die richtige Antwort zu finden in der Lage ist. Diesen Ausweg würde ein Intuitionist möglicherweise nicht gelten lassen. Das mathematische Standardbeispiel ist die Frage, ob es eine vollkommene Zahl gibt, die ungerade ist. Vollkommen nennt man eine natürliche Zahl, wenn sie gleich der Summe ihrer echten Teiler ist – also z. B. die Zahl 6, weil sie gleich 1+2+3 ist. Man hat bisher keine ungerade Zahl gefunden, die diese Voraussetzung erfüllt, aber auch keinen Beweis dafür erbracht, daß eine ungerade Zahl nicht vollkommen sein kann, und anscheinend auch keine nähere Vorstellung davon, wie ein solcher Beweis aussehen könnte. Die Intuitionisten begnügen sich nun entgegen der klassischen Tradition nicht damit zu sagen, „entweder gibt es eine solche Zahl oder es gibt sie nicht“, sondern fordern, daß man über eine Methode verfügt – so Dummet –, eine solche Zahl zu finden. Ich weiß nicht, ob und inwieweit die Mathematiker dieser Forderung genügen können. Haben sie z. B. schon über eine Methode für den Beweis verfügt, daß die Reihe der Primzahlen unendlich ist, bevor dieser von Euklid erbracht wurde? Wir Juristen haben jedenfalls nach meiner festen Überzeugung solche Metho-
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den nicht. Wir können nämlich mit Hilfe unserer Metho- [37] denlehre, wie unbestritten sein dürfte, stets nur ex post überprüfen, ob ein Argumentationsgang korrekt ist, nicht aber ex ante angeben, wie er – sei es auch nur in groben Umrissen – richtigerweise auszusehen hätte. Für uns gilt somit uneingeschränkt das Dictum Poppers: Wie man eine Lösung findet, ist Privatsache; wissenschaftstheoretisch interessant ist nur, wie man sie prüft. Ist dem aber so, dann haben wir kein Kriterium, um zwischen entscheidbaren und unentscheidbaren bzw. zwischen von Normalrichtern und nur von herkulisch begabten Richtern entscheidbaren Rechtsfragen zu unterscheiden. Dann aber hat es auch keinen Sinn, unter diesem Aspekt die These zu kritisieren, daß es immer nur eine einzige richtige Lösung gibt. Denn ob wir diese finden können oder nicht, wissen wir zwar nicht, doch gilt das in prinzipiell gleicher Weise für jede noch unbekannte Lösung und läßt sich daher nicht in irgendeinen angebbaren Zusammenhang mit der Frage bringen, ob es diese gibt. Insgesamt erscheint mir daher die intuitionistische Sichtweise für die Jurisprudenz unfruchtbar und der auf sie gestützte Einwand demgemäß irrelevant. 4. Ich komme zum hermeneutischen Einwand. Diesen hat in besonders plakativer Form Odo Marquard formuliert. Von der literarischen Hermeneutik ausgehend postuliert er eine „pluralisierende“ Hermeneutik, die „in der einen und selben buchstäblichen Gestalt viele Sinnmöglichkeiten und verschiedenartigsten Geist aufspürt“. Ihm geht es dabei vor allem um das Ziel der Toleranz vor dem Hintergrund tödlicher Glaubenskriege. [38] Nun ist es sicher richtig, daß literarische Kunstwerke mehrdimensional und in gewissem Sinne unausdeutbar sind; Adorno spricht treffend von ihrem Rätselcharakter. Aber daraus folgt mitnichten, daß mehrere gegensätzliche Interpretationen als gleichermaßen richtig zu akzeptieren sind. Richtig ist vielmehr grundsätzlich die und nur die Interpretation, die die Mehrdimensionalität möglichst umfassend ins Bewußtsein hebt und eine etwaige Schwebelage des Gehalts als solche thematisiert. Außerdem sind auch hier häufig Entweder-oder-Entscheidungen zu treffen. Ein berühmtes Beispiel ist die Kontroverse zwischen Heidegger und Staiger über den Schlußvers des Gedichts „Auf eine Lampe“ von Mörike: „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.“ Heidegger meinte, „scheint“ bedeute hier leuchtet, Staiger interpretierte „scheint“ dagegen im Sinne von anscheinend und las also nicht: „Was aber schön ist, selig leichtet es in ihm selbst“, sondern „... ist anscheinend selig in ihm selbst“. Natürlich kann man diese beiden gegensätzlichen Interpretationen nicht einfach gleichberechtigt nebeneinander stehen lassen, sondern allenfalls akzeptieren, daß „leuchtet“ als Nebensinn mitschwingt – was Staiger in der Tat eingeräumt hat. Richtig ist aber entweder diese Interpretation Staigers oder diejenige Heideggers – m. E. übrigens erstere, doch ist das nicht mein Thema. Ganz dicht an dieses heran komme ich indessen beim ausübenden Interpreten: Der Schauspieler muß eine Betonung, der Musiker ein Tempo wählen usw.,
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obwohl oft auch andere Möglichkeiten gleichermaßen sinnvoll [39] wären. Hier wird man also in der Tat zugestehen müssen, daß es mehrere richtige Interpretationen geben kann, auch wenn diese sich gegenseitig ausschließen. 5. Gilt das vielleicht allgemein für die Anwendung, die Applikation von Texten, zumal nach Gadamer alles Verstehen angeblich Applikation und die juristische Interpretation deshalb geradezu ein Paradigma der Hermeneutik sein soll? Damit bin ich beim letzten der angekündigten Einwände, dem applikativen. Dieser ist vor einigen Jahren von Wolfgang Wieland in seiner Schrift „Aporien der praktischen Vernunft“ formuliert und auf die „kategoriale Heterogenität“ von allgemeiner Norm und singulärem Fall bzw. Normativität und Faktizität zurückgeführt worden. „Es ist eher die Ausnahme“, schreibt er, „wenn die Aufgabe, auf einen Einzelfall eine Norm zu applizieren, eine und nur eine Lösung erlaubt. Es hängt mit der Heterogenität der hier zu verbindenden Elemente zusammen, wenn es i. d. R. mehrere Lösungsmöglichkeiten gibt.“ Wieland nennt das die Applikationsaporie. Diese gilt indessen nur für die „praktische Vernunft“, der allein seine Abhandlung gewidmet ist und die er ganz im Sinne Kants versteht, also als das Vermögen, a priori gültige Regeln für praktisches Handeln aufzustellen wie den Kategorischen Imperativ. Applikation von Normen auf Sachverhalte ist nun aber gar nicht die Aufgabe der praktischen Vernunft. Dafür ist nach Kant vielmehr ein anderes menschliches Vermögen zuständig, das er bekanntlich „Urteilskraft“ nennt. Diese wird denn auch von Wieland folgerichtig als ergänzende Instanz zu Hilfe gerufen. [40] Mir scheint, hier sind wir im Zentrum der Problematik: Es ist das Mißtrauen gegen die Leistungsfähigkeit der Urteilskraft, welches die Skepsis gegen die These hervorruft, es gäbe für jeden vom Richter zu entscheidenden Fall grundsätzlich nur eine einzige richtige Lösung. Gerade dieses Mißtrauen gegen die Urteilskraft – und das ist die Pointe! – teilt nun aber Kant mitnichten. Es ist im Gegenteil eine zentrale Einsicht seiner „Kritik der Urteilskraft“, daß auch diese einen Richtigkeitsanspruch erhebt. III. Das Geschmacksurteil, also das Urteil über das Schöne, hat nach Kant „mit dem logischen die Ähnlichkeit, daß man die Gültigkeit desselben für jedermann voraussetzen kann“. Es „muß also damit ein Anspruch auf subjektive Allgemeinheit verbunden sein“. Den Grund dafür sieht Kant darin, daß das Geschmacksurteil frei von allen „Privatbedingungen“ und allem persönlichem „Interesse“ sei. Das ist nun genau jene Art von Haltung, die wir auch vom Richter erwarten. Bezeichnenderweise formuliert denn auch Kant in diesem Zusammenhang, um „in Sachen des Geschmacks den Richter (!) zu spielen“, dürfe sich in das Urteil
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„nicht das mindeste Interesse mischen“, weil es sonst „sehr parteiisch und kein reines Geschmacksurteil“ mehr sei. Wenn aber sogar ein Geschmacksurteil Anspruch auf Gültigkeit für jedermann erheben kann, dann auch und erst recht ein rich- [41] terliches Urteil, zumal dieses im Gegensatz zu jenem immerhin weitgehend auf Begriffen fundiert ist. Von Popper haben wir gelernt, daß man empirische Aussagen nicht verifizieren, sondern allenfalls falsifizieren kann. Das hindert ihn indessen nicht, Wahrheit und Richtigkeit als „regulative Ideen“ im Sinne Kants anzusehen, also als Vorstellungen, denen wir zwar keine Entitäten mit einem bestimmten ontologischen Status zuordnen können, die aber unser Denken und Handeln sinnvoll leiten. Eine solche „regulative Idee“ – nicht mehr, aber auch nicht weniger – scheint mir auch die These zu sein, daß es auf jede vom Richter zu beantwortende Frage grundsätzlich nur eine einzige richtige Antwort gibt. Denn so können wir seine Stellung, die durch seine Verpflichtung zu strikter Neutralität geprägt ist, am besten begreifen, und so kann er selbst seiner daraus folgenden Aufgabe am besten gerecht werden. Mit dieser Reverenz an zwei meiner philosophischen Leitsterne darf ich schließen.
Konsens und Verfahren als Grundelemente der Rechtsordnung – Gedanken vor dem Hintergrund der „Eumeniden“ des Aischylos* JUS 1996, S. 573–580 Der folgende Beitrag versucht einleitend, bewußt zu machen, wie aktuell und in gewissem Sinn auch praxisrelevant rechtsphilosophische Grundlagenprobleme sein können. Sodann stellt er einen der berühmtesten und bedeutendsten Texte der europäischen Rechtskultur vor, der geradezu zu deren Gründungsdokumenten gehört, und versucht durch das „Erzählen einer alten Geschichte“ an rechtsphilosophische Grundlagenprobleme heranzuführen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden im Schlußteil abstrahiert und verallgemeinert und zu dem Versuch zugespitzt, das Problem der Rechtsgeltung mit Hilfe der altehrwürdigen, seit längerem aber etwas vernachlässigten „Anerkennungstheorie“ einer Klärung näherzubringen. I. Die Aktualität rechtsphilosophischer Grundlagenprobleme anläßlich der Wiedervereinigung Deutschlands Die Wiedervereinigung Deutschlands hat unverhofft rechtsphilosophische Grundlagenprobleme, mit denen sich sonst nur die Gelehrten zu beschäftigen pflegen, zum Gegenstand eines breiten öffentlichen Interesses gemacht. Von besonderer Brisanz ist dabei natürlich die Frage, ob alle staatlichen Normen der früheren DDR Recht waren oder ob manche von ihnen Unrecht in Gesetzesform darstellten und ob es derartiges überhaupt gibt; davon soll hier nicht die Rede sein. Vielmehr sollen zwei andere Grundlagenprobleme etwas näher beleuchtet werden. 1. Die Erstreckung der Rechtsordnung der Bundesrepublik auf das Gebiet der früheren DDR Auf Grund der Wiedervereinigung, die bekanntlich in Form eines Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 S. 2 GG erfolgte, ist nahezu die gesamte Rechtsordnung der Bundesrepublik auf das Gebiet der frühe* Der folgende Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser am 19.10.1994 an der Universität Athen anläßlich der Verleihung des Dr. jur. h. c. gehalten hat.
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ren DDR erstreckt worden und von einem Tag auf den anderen für die dort lebenden Menschen in Kraft getreten. Eine derartige generelle Übernahme einer Rechtsordnung, die historisch gesehen ein äußerst seltener Vorgang ist, bedeutet für die betroffenen Bürger naturgemäß eine tiefgreifende Veränderung. Demgemäß gibt sie Anlaß zur Reflexion über die Frage, worin die Legitimationsgrundlage für die Geltung des positiven Rechts zu sehen ist. a) Es liegt auf der Hand, daß in diesem Zusammenhang die Kategorien Konsens und Verfahren eine zentrale Rolle spielen. Zweifellos entsprachen nämlich die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik und die Übernahme des westdeutschen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtssystems dem Willen der meisten Menschen in der DDR. Und die Verwirklichung dieses Willens erfolgte im Rahmen eines Verfahrens, das durch starke konsensuale Elemente geprägt war: Eine aus freien demokratischen Wahlen hervorgegangene Regierung der DDR handelte mit der Regierung der Bundesrepublik einen Vertrag über die Vereinigung aus, der von dem ebenfalls aus freien Wahlen hervorgegangenen Parlament der DDR ratifiziert wurde1. Freie Wahl, Vertragsschluß und parlamentarische Mehrheitsentscheidung sind bekanntlich die wichtigsten Verfahrensinstrumente, um einen Konsens auf die Stufe des geltenden Rechts zu heben und ihm dadurch dauerhafte Verbindlichkeit zu verleihen. Gleichwohl ist die Legitimationsproblematik allein durch den Hinweis auf die genannten Konsenselemente noch nicht hinreichend geklärt. So gab es selbstverständlich in der DDR eine Minderheit, die mit der Vereinigung nicht einverstanden war; kann deren Konsens durch denjenigen der Mehrheit ersetzt werden? Es kommt hinzu, daß die DDR wirtschaftlich ruiniert war und sich also in einer gewissen Zwangslage befand; das legt die Frage nahe, welches Maß an faktischer Ent- [574] scheidungsfreiheit für einen Konsens erforderlich ist. Zu bedenken ist schließlich, daß der Konsens nur genereller und sehr pauschaler Art war; zwar haben sich die Menschen in der DDR in einem konsensualen Verfahren für das Rechtssystem der Bundesrepublik im ganzen entschieden, doch bezog sich ihr Konsens – verstanden als reales, nicht lediglich als fiktives „vernünftiges“ Einverständnis – nicht auf die Fülle der Normen im einzelnen, so daß viele von ihnen sich jetzt in der neuen Rechtswelt fremd und unsicher fühlen. b) Rechtsphilosophisch gesehen ist hier der Punkt, wo die sogenannte Anerkennungstheorie ins Spiel kommt. Nach dieser beruht die Geltung des positiven Rechts letztlich auf der Anerkennung durch die Rechtsunterworfenen. Dabei stellt sich freilich sogleich eine Reihe schwieriger Fragen. Ist die Anerkennung eines jeden einzelnen Staatsbürgers erforderlich oder genügt die einer – welcher? – Mehrheit? Muß sich die Anerkennung auf die jeweils einschlägige Norm, viel1 Vgl. dazu sowie zu den staatsrechtlichen Grundlagen der Wiedervereinigung die Beiträge in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR VIII, 1995, §§ 184 ff.
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leicht gar auf deren Konkretisierung durch den Richter im Prozeß, beziehen oder lediglich auf die Rechtsordnung im ganzen bzw. auf eine – welche? – dieser noch vorausliegenden „Grundnorm“? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang überhaupt Geltung? Hierauf haben die Anhänger der Anerkennungstheorie z. T. sehr unterschiedliche Antworten gegeben, so daß diese in verschiedenen Varianten vertreten, nicht selten aber auch gänzlich verworfen wird2. Es wird sich zeigen, daß die Anerkennungstheorie, wenngleich nur in einer „schwachen“ Fassung, auch heute noch Wesentliches zur Klärung der Geltungsproblematik beibeizutragen hat. 2. „Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen“ Die soeben erwähnte Fremdheit vieler Bürger der DDR gegenüber der für sie neuen Rechtsordnung betrifft keineswegs nur den – z. T. in der Tat überaus schwierigen – alltäglichen Umgang mit unseren Gesetzen, sondern reicht bis in die Tiefen des Gerechtigkeitsgefühls und besteht auch gegenüber manchen tragenden Grundlagen unseres Rechtssystems. Plakativen Ausdruck hat dieses Unbehagen in dem Satz der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley gefunden: „Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen“3. Daß dieser Satz eine breite Diskussion ausgelöst hat, immer wieder zitiert wird und geradezu zum „geflügelten Wort“ geworden ist, läßt vermuten, daß er ein essentielles Problem auf den Punkt bringt und an einen empfindlichen Nerv rührt. Was ist es, das an diesem Satz brisant, ja schockierend wirkt? Gewiß vor allem die scharfe, fast kontradiktorisch erscheinende Entgegensetzung von Gerechtigkeit und Rechtsstaat und zugleich das daraus deutlich werdende Unverständnis sowohl für die Leistungsfähigkeit als auch für die Grenzen des Rechtsstaats! a) Der Rechtsstaat – was auch immer man darunter genau verstehen mag 4 – ist im Laufe eines langen evolutionären Prozesses geschaffen worden, um das 2 Eine knappe Darstellung und Würdigung geben Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl. (1993), S. 237 ff., und Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 1995, S. 303 ff.; eine ausführliche Behandlung findet sich bei H. L. Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, 1966, S. 84 ff. Als ausdrückliche Anhänger der Anerkennungstheorie sind aus dem neueren Schrifttum vor allem zu nennen Welzel, Die Frage nach der Rechtsgeltung, 1966, S. 16 ff., und Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 69 ff., 74. 3 Der Satz wird in verschiedenen Fassungen zitiert, die jedoch im wesentlichen denselben Sinn haben, vgl. die Nachw. bei v. Münch, Der Staat 1994, 12. 4 Für eine Vertiefung dieser Frage ist hier selbstverständlich nicht der Ort; daher sei im Hinblick auf die im Text angesprochene Problematik lediglich verwiesen auf die Beiträge von Starck, Berg und Pieroth zum Thema „Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vorrechtsstaatlichen Vergangenheit“ in VVDStRL 51 (1992), 9 ff., sowie auf Karpen, Der Rechtsstaat des Grundgesetzes — Bewährung und Herausforderung nach der Wiedervereinigung Deutschlands, 1992, insb. S. 107 ff.
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Entstehen eines Unrechtsstaats zu verhindern. Auf dieses Ziel sind demgemäß seine vielfältigen Garantien weitgehend zugeschnitten, und daher ist es im Grunde nicht erstaunlich, daß seine Instrumente wenig geeignet dazu sind, die Vergangenheit eines untergegangenen Staates und die durch diesen begangenen Unrechtsakte zu bewältigen. Die extremste Form einer solchen „Bewältigung“, also die blutige Rache, ist Deutschland ja durch den friedlichen Charakter der Revolution in der DDR glücklicherweise erspart geblieben, so daß die Aufarbeitung in der Tat vollständig zur Aufgabe des Rechts geworden ist. Darin bewährt sich zugleich der Rechtsstaat. Denn „es ist ein zentraler Aspekt der Rechtsstaatlichkeit, die eigenmächtig-gewaltsame Durchsetzung von Rechtsansprüchen zwischen Privaten grundsätzlich zu verwehren“ und statt dessen die Austragung von Konflikten der Gerichtsbarkeit zu übertragen, in der „sich innerstaatliches Gewaltverbot und staatliches Gewaltmonopol ausprägen“5. Die Ersetzung gewaltsamer Selbsthilfe durch gerichtliche Verfahren gehört somit zu den Fundamenten des Rechtsstaats. b) Gerade bei Problemen wie der Aufarbeitung des in der DDR geschehenen Unrechts prallen nun aber die unterschiedlichsten Vorstellungen von Gerechtigkeit aufeinander und führen zu einer Fülle schwierigster Rechtsprobleme. Dabei kommt eine weitere Funktion des Rechtsstaats ins Spiel. Diese besteht darin, die Verabsolutierung einer einzelnen Gerechtigkeitsauffassung und den unmittelbaren Durchgriff auf eine solche zu verhindern, indem der Entscheidung eine Reihe verfahrensrechtlicher Regeln und Garantien vorgelagert wird. Der Rechtsstaat mit seiner weitgehenden Dominanz des Verfahrens ist also (auch) eine Reaktion auf die immensen Schwierigkeiten, die überzeugende inhaltliche Antworten auf Gerechtigkeitsfragen häufig bereiten, sowie auf die Gefahren, die das „unvermittelte“ Aufeinanderprallen unterschiedlicher Gerechtigkeitsvorstellungen, zumal in einem „pluralistischen“ Staat, heraufbeschwören kann. Zwar zielt der Rechtsstaat selbstverständlich auf Gerechtigkeit6 und ersetzt demgemäß die Frage nach deren Inhalten keineswegs vollständig durch den Mechanismus von Verfahren, doch wird ihre Verwirklichung durch diesen stark relativiert und meditiatisiert. Wenn viele Menschen in der DDR „mit dem Rechtsstaat die Vorstellung von einer fast transzendenten Gerechtigkeit“ verbanden7, so war das daher ein Mißverständnis; denn der Rechtsstaat ist „eben nicht der Hüter ewiger Wahrheiten, (sondern) ‚nur‘ eine Einrichtung, die die unterschiedlichen Ansichten, Ansprüche, Interessen und Ziele fair ausgleichen und das aus dieser So BVerfGE 54, 277 (292). Davon geht das BVerfG in st. Rspr. aus, vgl. z. B. BVerfGE 7, 89 (92); 21, 378 (388); 25, 269 (290); 33, 367 (383); 52, 131 (144 f.); 70, 297 (308); vgl. dazu ferner z. B. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 23 ff., 72 ff.; Diederichsen, Der Staat 1995, 51 ff. 7 So der Befund des sächsischen Justizministers Heitmann in einer Rede an der Universität Rostock, abgedruckt in der FAZ v. 30.12.1994 Nr. 303 S. 6; Heitmann selbst beurteilt solche Erwartungen aus heutiger Sicht als „beinahe naiv und unwissend“. 5 6
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Unterschiedlichkeit entstehende Spannungsverhältnis für das Gemeinwohl nutzbar machen soll“8. Die Relativierung und Vermittlung kollidierender Gerechtigkeitsvorstellungen durch die Zwischenschaltung von Verfahren ist somit ein weiteres prägendes Element des Rechtsstaats. II. Antworten des Aischylos im Lichte heutigen Rechtsdenkens9 Was haben diese Überlegungen mit den „Eumeniden“ des Aischylos, auf die der Untertitel dieses Beitrags Bezug nimmt, [575] zu tun? Auch wenn gegenüber dem – in den USA derzeit verbreiteten – Trend zu „Law and Literarure“ ebenso wie gegenüber dem Trend zu „Law and Storytelling“10 erhebliche Zurückhaltung geboten erscheint11, kann große Dichtung doch in exemplarischer Weise zum Verständnis elementarer Rechtsprobleme beitragen. Das gilt, wie sich zeigen wird, zumal für die „Eumeniden“, die geradezu zu den Gründungsdokumenten der europäischen Rechtskultur zu zählen sind12. 1. Grundzüge der Handlung des Dramas Zunächst sei die Handlung der „Eumeniden“ kurz referiert, wobei ich mich in starker Vereinfachung auf diejenigen Züge beschränke, die für das Verständnis der folgenden rechtsphilosophischen Ausführungen von Bedeutung sind. Im ersten Teil der „Orestie“ des Aischylos – deren dritten Teil die „Eumeniden“ bilden – ermordet Klytaimestra ihren aus Troja heimkehrenden Gatten Agamemnon. Ihr Hauptmo-
8 So treffend der frühere thüringische Justizminister Jentsch, ZRP 1995, 12, in Auseinandersetzung mit dem Zitat von Bärbel Bohley. 9 Mit dieser Überschrift soll von vornherein klargestellt werden, daß es im folgenden nicht primär um ein historisch richtiges, sondein um ein aktuelles Verständnis des Textes geht, also darum, diesem Anregungen für die Beantwortung heutiger Fragestellungen zu entnehmen — wenngleich selbstverständlich unter Wahrung des gebührenden Respekts vor dem Werk des Dichters; demgemäß bleibt vor allem die — für Aischylos an sich zentrale — religiöse Dimension hier ausgeklammert. 10 Grundlegend für eine solche Sichtweise, wenngleich ohne unmittelbaren Bezug zum Recht ist das (zu wenig beachtete) Werk von W. Schapp, Philosophie der Geschichten, 1959, (2. Aufl. 1981). 11 Eine narrative Grundhaltung, wie sie vor allem Marquard für die Geisteswissenschaften propagiert (vgl. Apologie des Zufälligen. 1986, S. 105 ff.), ist für die Jurisprudenz schon deshalb grundsätzlich unangemessen, weil sie deren auf Praxis, d. h. vor allem auf Rechtsanwendung und -findung gerichteter Funktion nicht gerecht zu werden vermag; darüber hinaus begegnet sie aber auch generell durchgreifenden Einwänden, vgl. z. B. Mittelstraß, Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, 1989, S. 10 ff. 12 Vgl. auch Pawlowski, ARSP 77 (1991), 95.
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Konsens und Verfahren als Grundelemente der Rechtsordnung tiv ist, daß dieser ihre gemeinsame Tochter Iphigenie der Göttin Artemis geopfert hat, um dadurch günstigen Wind für das Auslaufen der griechischen Flotte gegen Troja zu erhalten. Im zweiten Teil der „Orestie“ rötet Orest seine Mutter Klytaimestra, weil diese seinen Vater Agamemnon umgebracht hat. Alsbald wird er der Erinnyen gewahr, die ihn wegen seiner Tat verfolgen. Vor ihnen flieht er zum Tempel Apollons in Delphi. Dieser hat ihn zur Tötung seiner Mutter bewogen und ihm dafür Straffreiheit verheißen, dagegen für den Fall, daß er diese Tat verweigere, schwerste Strafe angedroht. Das ist die Situation, in der der dritte Teil der „Orestie“, die „Eumeniden“ einsetzt. Auf Geheiß Apollons begibt sich Orest zum Tempel Athenes in Athen, und die Erinnyen folgen ihm dorthin. Athene verwickelt diese in eine Diskussion über die Berechtigung ihres Vorhabens, Orest als Muttermörder bis zum Tode zu hetzen. Diese endet damit, daß die Erinnyen Athene die Entscheidung des Streits übertragen. Das gleiche tut anschließend Orest. Daraufhin setzt Athene ein Gericht – den Areopag – ein, das aus den besten Bürgern Athens bestehen soll. Dieses spricht Orest mir Stimmengleichheit frei, wobei die Stimme Athenes den Ausschlag gibt. Über diesen Spruch auf das tiefste empört, drohen die Erinnyen der Stadt Athen Leid und Unheil an, doch Athene versöhnt sie schließlich.
Der enge Bezug dieses Theaterstücks zum Recht ist seit langem erkannt worden. Zutreffend hat man in ihm ein Paradigma für die Ablösung von Blutrache durch eine rechtlich organisierte Konfliktaustragung gesehen13. Zugleich geht es um die Überwindung einer Ordnung durch eine neue; weit verbreitet ist die Auffassung, daß Mutterrecht durch Vaterrecht, Matriarchat durch Patriarchat verdrängt wird14. Ich hebe diese interpretatorischen Leitlinien schon im Vorgriff ausdrücklich hervor, weil sie den Hintergrund für die nun folgende Einzelanalyse bilden und deren Verständnis erleichtern. 2. Die Entstehung der Gerichtsbarkeit aus dem Geist des Diskurses a) Die erste Zentralszene – deren fundamentale Bedeutung in der einschlägigen Literatur i. d. R. nicht gebührend gewürdigt wird – enthält in äußerster Knappheit eine geballte Fülle von Rechtsgedanken. Auf die Frage Athenes, warum die Erinnyen Orest jagen, antworten diese, daß er sich angemaßt habe, seine Mutter zu töten. Athenes Replik könnte ohne weiteres von einem heutigen Juris13 Vgl. dazu Karl Reinhardt, Aischylos als Regisseur und Theologe, 1949, S. 140 f.; Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken I, 1950, S. 410, 417; Fikentscher, Methoden des Rechts I, 1975, S. 156; Posner, Law and Lirerature, 1988, S. 36 f.; zu Unrecht scharf ablehnend Lloyd-Jones, The Justice of Zeus, 1971, S. 94 f. (vgl. dazu u. 4 b hei Fußn. 33). 14 Diese Sichtweise geht zurück auf Bachofen, Das Mutterrecht, 1861, vgl. die (gekürzte) Ausgabe bei Suhrkamp, 1975, S. 144 ff.; ähnlich z. B. die — lesenswerte! — Interpretation von Weinstock, Die Tragödie des Humanismus, 1953, S. 26 ff.; krit. freilich z. B. Wolf (o. Fußn. 13), S. 412 f.
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ten stammen: Sie fragt, ob Orest unter Zwang oder aus Furcht vor jemandes Zorn gehandelt habe. Verständnislos reagieren die Erinnyen mit der Gegenfrage, wie solche Umstände ein Anlaß für Muttermord sein könnten. Wieder gibt Athene eine Antwort, die voll auf der Höhe unseres heutigen Rechtsdenkens steht: Da es zwei Parteien gebe, sei erst die Hälfte gesagt. Die Erinnyen halten auch das nicht für einen relevanten Einwand, weil Orest die Tat nicht (durch einen Schwur) abstreiten werde. Mit erstaunlicher Schärfe repliziert Athene, sie wollten lieber gerecht genannt werden als gerecht handeln15. Jetzt zeigen sich die Erinnyen plötzlich verunsichert und vollziehen eine Kehrtwendung von größter Tragweite: Sie bitten Athene um Belehrung und übertragen ihr die rechtliche Entscheidung. Rechtstheoretisch gesehen führt uns diese kurze Theaterszene einen elementaren Vorgang vor Augen: die Entstehung von „positivem“ Recht und Gerichtsbarkeit. Dabei ist es zunächst wichtig festzuhalten, daß die Erinnyen nicht etwa anfangs außerhalb des Rechts stehen, sondern vielmehr lediglich eine besondere Art des Rechtsverständnisses repräsentieren. Ihre Aufgabe ist nämlich durchaus die Geltendmachung eines Rechtsanspruchs 16, doch verabsolutieren sie diesen und wollen ihn im Wege unmittelbarer Gewaltanwendung durchsetzen. Deshalb gibt es aus ihrer Sicht für Muttermord keine Entschuldigung – insofern verkörpern sie in der Tat das „Mutterrecht“ als obersten Wert; und deshalb ist für sie folgerichtig allein die Frage, ob Orest die Tat begangen hat oder abstreitet, von Bedeutung und die Frage, wie diese rechtlich zu bewerten ist, demgegenüber von vornherein überhaupt kein Thema. Athene dagegen relativiert den Absolutheitsanspruch der Erinnyen17. Sie zieht nicht nur „mildernde Umstände“ in Betracht18, sondern weit darüber hinaus sogar die Möglichkeit, daß eine Bestrafung Orests überhaupt zu unterbleiben habe, da er auf Befehl Apollons handelte und da daher dem von den Erinnyen verfochtenen Rechtsprinzip ein anderes mit gegenläufiger Tendenz entgegensteht. Demgemäß hat ihr Satz, daß es noch eine zweite Partei gebe, eine doppelte Bedeutung: In verfahrensrechtlicher Hinsicht klingt hier natürlich unüberhörbar die Maxime „audiatur et altera pars“ an, zugleich aber wird in materiellrechtlicher Hinsicht bewußt gemacht, daß grundsätzlich auch die andere Seite Recht haben könnte.
Vgl. Vers 430 und dazu näher u. bei Fußn. 20. Diese Ausdrucksweise verwende ich, weil die dike, auf die die Erinnyen sich immer wieder berufen, wohl eine subjektive Färbung hat; vgl. dazu H. J. Wolff, Beiträge zur Rechtsgeschichte Altgriechenlands und des hellenistisch-römischen Ägypten, 1961, S. 248 f.; A. Bürge, in: Pöckl (Hrsg.) Österreichische Dichter als Übersetzer, 1991, S. 50 (in Kritik an Peter Handkes Übertragung des Prometheus von Aischylos). 17 Diesen Aspekt betont auch Pawlowski, ARSP 77 (1991), 103 f. 18 Vgl. dazu eingehend Conacher, Aeschylus’ Oresteia, A Literary Commentary, 1987, S. 154. 15 16
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b) Dieser letztere Gedanke ist ebenso einfach wie fundamental, ja wohl geradezu ein Teil der apriorischen Grundlagen von Recht überhaupt. Wer Recht für sich in Anspruch nimmt, macht damit nämlich notwendigerweise stets eine doppelte Voraussetzung: Erstens, daß es Recht als eine eigenständige Kategorie überhaupt gibt und daß dieses somit nicht lediglich ein Deckmantel für die rein faktische Überlegenheit des Stärkeren ist. Sonst wäre es nämlich sinnlos zu sagen, man sei „im Recht“; folgerichtig wäre vielmehr, zur Durchsetzung seines Standpunkts kurzerhand zu Gewalt, List oder dergleichen zu greifen. Zweitens impliziert die Berufung auf „Recht“ zwangsläufig das Zugeständnis, daß der eigene Standpunkt – zumindest der prinzipiellen Möglichkeit nach – rechtlich unzutreffend und derjenige der anderen Partei demgemäß zutreffend sein könnte. Denn da ja jede der beiden Seiten für sich [576] „Recht“ in Anspruch nimmt, läßt dieses sich gar nicht anders denken als unter der Prämisse, daß nicht immer ein und dieselbe Partei – welche denn?! – Recht hat. Es ist daher von tiefer dichterischer Weisheit, daß sich die Erinnyen genau an diesem Punkt des Dialogs argumentativ geschlagen geben und Athene die Entscheidung übertragen. Es bleibt nämlich gar nichts anderes übrig als die Einsetzung eines neutralen Schiedsrichters, wenn man auf die gewaltsame Durchsetzung des eigenen Standpunkts verzichtet und überdies der anderen Partei die prinzipielle Möglichkeit des rechtlichen Obsiegens zugesteht. Zwar haben die Erinnyen das natürlich nicht ausdrücklich getan – sie sind im Gegenteil noch weit entfernt von solchen Einsichten! –, doch entspricht das der tieferen „Logik“ ihres Verhaltens. c) Man kann den Kerngehalt der Szene auch mit Begriffen der heutigen Rechtstheorie und -philosophie zum Ausdruck bringen. Wir erleben in dieser nämlich gewissermaßen die Entstehung des positiven Rechts und der Gerichtsbarkeit aus dem Geiste des Diskurses. Denn nachdem die Erinnyen sich auf eine Diskussion über ihr „Recht“ zur Verfolgung Orests erst einmal eingelassen haben, bringt Athene sie alsbald in eine Argumentationslage, aus der sie nicht entrinnen können, ohne sich zu ihren eigenen Prämissen in Widerspruch zu setzen: Stets sofort Gewalt zur Durchsetzung seines Standpunkts anzuwenden, ist, wie dargelegt, mit der Inanspruchnahme von „Recht“ ebenso unvereinbar wie die Verabsolutierung der eigenen Wertvorstellung und die generelle Leugnung der Möglichkeit, daß auch die andere Partei im Recht sein könnte. Ein solcher Selbstwiderspruch – mag man ihn als „performativ“ oder auch nur als „pragmatisch“ qualifizieren19 – stellt eine Inkonsistenz dar, die im Diskurs nicht akzeptabel ist, weil sie seine Grundlagen zerstört.
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Vgl. dazu näher u. III 3 a.
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Treffend kommt dieser Selbstwiderspruch in der freien Übersetzung des – oben20 ziemlich wortgetreu zitierten – Verses 430 in der von Peter Stein geschaffenen Fassung für die Aufführung der Berliner Schaubühne zum Ausdruck: „Sucht ihr Gerechtigkeit oder Rache? Ihr wollt als gerecht gelten, handelt aber nicht danach“21. So ist es in der Tat von großer Folgerichtigkeit, daß die Erinnyen gerade jetzt einlenken und es zur Anerkennung einer neutralen Entscheidungsinstanz kommt, also – um die Hauptbegriffe des Themas wiederaufzugreifen – zum Konsens mit deren Einsetzung und zur Verdrängung der Gewalt durch ein Verfahren vor Gericht.
3. Der Triumph des Verfahrensgedankens und seine Grenzen a) Wenden wir uns nun der zweiten Zentralszene zu: der Entscheidung des Gerichts. Dieses gelangt zu Stimmengleichheit und damit, wie Athene vorher ausdrücklich klargestellt hat, zum Freispruch Orests. Darin liegt – aus heutiger Sicht – geradezu der Triumph des Verfahrensgedankens über die Absolutheit der widerstreitenden Gerechtigkeitsansprüche22. Der Muttermord, von den Erinnyen verfolgt, ist verwerflich und bleibt es auch nach dem Gerichtsurteil; aber das Gebot Apollons, den Vater zu rächen, ist für Orest ebenfalls verbindlich. Racheverlangen steht also gegen Racheverlangen – eine Situation, die in ihrer zugespitzten Komplexität geradezu nach der Auflösung durch das „neutrale“ Verfahren ruft23. In der Stimmengleichheit gipfelt, wiederum in tiefer dichterischer Weisheit, der Triumph des Verfahrens. Ein solches Patt ist nämlich für die unterliegende Partei die härteste und die mildeste Niederlage zugleich: die härteste, weil das Obsiegen nur am Fehlen einer einzigen Stimme gescheitert ist, aber auch die mildeste, weil der eigene Rechtsanspruch nicht als unbegründet verworfen worden ist, sondern sich lediglich nicht hat durchsetzen lassen – wie denn in der Tat Athene später den Erinnyen unter Hinweis auf die Stimmengleichheit ausdrücklich versichert, sie seien nicht „besiegt“ worden (Vers 795).
b) Zugleich zeigt sich in der Konsequenz, daß Stimmengleichheit zum Freispruch führt, eine elementare Eigentümlichkeit eines jeden Verfahrens. Diese liegt darin, daß sich in einem solchen nur durchsetzt, wer die Mehrheit für sich zu gewinnen vermag; denn bei Stimmengleichheit ist ein Antrag grundsätzlich abgelehnt. Die Einführung des Verfahrensprinzips enthält daher der Tendenz nach Vgl. bei Fußn. 15. Vgl. Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin (Hrsg.), 1980, S. 67. 22 Vgl. auch Wolf (o. Fußn. 13), S. 419, der die den „Eumeniden“ zugrunde liegende Haltung als „das ,Wissen vom Nichtwissen‘ des Rechts“ bezeichnet: allerdings vernachlässigt er die kompensatorische Funktion des Verfahrensgedankens gänzlich. 23 Geradezu widersinnig ist daher die Bemerkung von Reinhardt (o. Fußn. 13), S. 141: „Schade dann nur, daß der Fall so kompliziert ist.“ 20 21
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zugleich die Einführung des Mehrheitsprinzips. Demgemäß kann man in der Übertragung der Entscheidung an den Areopag auch einen Schritt in Richtung auf die Verwirklichung der Demokratie sehen24. Unzutreffend ist demgegenüber entgegen manchen Interpretationen die Ansicht, daß der Freispruch Orests auf dem Grundsatz „in dubio pro reo“ beruht25. Dieser gilt nämlich bekanntlich nur, wenn nicht hinreichend gewiß ist, ob oder unter welchen Umständen der Angeklagte die Tat begangen hat. Das aber war hier völlig unstreitig. Es ging vielmehr allein um die reine Rechtsfrage, wie diese Tat zu bewerten war. Ergibt sich in dieser Hinsicht Stimmengleichheit unter den Richtern, so hat die Abweisung der Klage mit dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nichts zu tun. So ist z. B. auch eine Klage vor dem BVerfG abgewiesen, wenn es zwischen den acht Mitgliedern eines Senats zu einem Patt kommt. Darüber hinaus verfehlt die Heranziehung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ auch das Rechtsdenken des Aischylos, weil für dieses die Unterscheidung zwischen Rechts- und Tatfrage essentiell ist. Die Erinnyen würden nämlich von der Verfolgung Orests durchaus ablassen, wenn dieser die Tat (durch einen Schwur) abstritte, und sind also in dieser Hinsicht keineswegs „blinde“ Rächerinnen. Die Rechtsfrage dagegen, ob für eine solche Tat die Höchststrafe zu verhängen ist, stellt für sie gar keinen möglichen Diskussionsgegenstand dar. Diesen Absolutheitsanspruch einer einseitigen Gerechtigkeitsvorstellung gebrochen zu haben, ist die wichtigste Leistung Athenes und des durch sie initiierten Verfahrensmechanismus.
c) Eines zusätzlichen Worts bedarf das Verhalten Athenes in dem Verfahren. Diese gibt letztlich den Ausschlag, indem sie für den Freispruch Orests stimmt. Unter den Interpreten ist dabei streitig, ob erst ihre Stimme das Patt herbeigeführt und die Mehrheit der menschlichen Richter demnach für eine Verurteilung Orests gestimmt hat26 oder ob zwischen diesen Stimmengleichheit bestand und Athene also dem Orest zu einer Mehrheit verholfen hat27. Das mag hier auf sich beruhen. Zwar tritt bei Zugrundelegung der letzteren Interpretation der Mechanismus des Verfahrens nicht ganz so zugespitzt in Erscheinung, wie das in den vorstehenden Ausführungen dargestellt worden ist, doch schwächt das den Triumph des Verfahrensgedankens nur geringfügig ab, weil wir es dann gewissermaßen mit einem „Stichentscheid des Vorsitzenden“, also einem altvertrauten Mittel zur Überwindung verfahrensmäßiger Pattsituationen zu tun haben. Wichtiger ist die Begründung, die Athene für ihre Stimmabgabe gibt. Als erstes führt sie an, daß sie, da von keiner Mutter geboren (sondern aus dem Haupt des Zeus entsprungen), dem Männlichen zugeneigt sei. Das ist oft als parteiisch kritisiert worden, ist aber andererseits doch von bemerkenswerter Aktualität. Denn eine 24 Vgl. dazu eindringlich Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 1988, S. 129. 25 So aber z. B. Meier (o. Fußn. 24), S. 129; ähnlich Weinstock (o. Fußn. 14), S. 41. 26 So mit Selbstverständlichkeit z. B. Woff (o. Fußn. 13), S. 418; Meier (o. Fußn. 24), S. 129. 27 So Conacher (o. Fußn. 18), S. 164 ff., mit eingehender Argumentation und Nachw. zum Diskussionsstand.
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wesentliche These der Hermeneutik-Diskussion in den letzten Jahrzehnten bestand ja in der Behauptung, es sei ebenso unvermeidlich wie legitim, daß der Richter sein persönliches Vorverständnis und Vorurteil in seine Entscheidung einbringt28. Auch wenn gegenüber dieser Position größte Zurückhaltung geboten ist, [577] enthält sie doch jedenfalls insofern einen richtigen Kern, als Recht stets in die Wertvorstellungen der jeweiligen Kultur und Epoche eingebunden ist; diese in ein richterliches Urteil einfließen zu lassen, ist nicht unzulässig, solange sie nicht absolut gesetzt werden. Außerdem nuanciert Athene ihre Argumentation sogleich dahingehend, daß für sie das Geschick der Frau, die ihren Mann erschlug, nicht schwerer wiegen könne29. Das ist nun in der Tat alles andere als eine parteiische Begründung. Hier wird nämlich nicht dem Recht der neuen „männlichen“ Gottheiten ohne weiteres der Vorrang eingeräumt, sondern lediglich – in einer für Juristen geradezu typischen negativen Formulierung – zum Ausdruck gebracht, daß es keine hinreichenden Argumente für eine Höherbewertung des älteren mutterrechtlichen Strafanspruchs gibt. Wir würden heute sagen: Es kollidieren zwei Prinzipien, von denen keines sich als höherrangig erweisen läßt, und Orest ist demgemäß entschuldigt, weil er auf Befehl Apollons gehandelt hat. Am wichtigsten und interessantesten aber ist rechtstheoretisch gesehen wohl, daß Athene überhaupt eine Begründung gibt. Es geht also keineswegs allein um „Legitimation durch Verfahren“30, sondern durchaus auch um Legitimation durch Begründung. Demgemäß liegt hier auch nicht etwa ein Ansatz zu einer rein prozeduralen Gerechtigkeitsauffassung, wie sie in jüngster Zeit wieder häufig vertreten wird. Vielmehr entspricht die Argumentation Athenes einer Position, die uns von denjenigen, die vor einer Überspitzung des Verfahrensgedankens warnen und eine rein prozedurale Gerechtigkeitsauffasung ablehnen, bestens vertraut ist: Athene beruft sich auf bestimmte inhaltliche Werte, durch die sie selbst und die von ihr repräsentierte Kultur geprägt sind, und tut damit genau das, was auch die Kritiker einer rein prozeduralen Gerechtigkeitsauffassung für unvermeidlich halten31.
28 Repräsentativ ist die Schrift von Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970; vgl. ferner z. B. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. (1977), S. 135 f., der geradezu von „persönlicher Richtigkeit“ spricht. 29 Die Übersetzung der Stelle ist nicht ganz einfach; ich folge hier der Formulierung von Stein (o. Fußn. 21), S. 73. 30 So der — schon fast zum Schlagwort gewordene — Titel der Schrift von Luhmann, 1969, vgl. auch dens., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 208 f. 31 Vgl. nur Zippelius. in: 1. Festschr. f. Larenz, 1973, S. 293, 300 f., bzw. A. Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, 1989, S. 30 f.
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4. Grundkonsens und Rechtszwang Die Erinnyen sind über den Freispruch Orests tief empört, hatten sie doch das Obsiegen ihres Rechtsstandpunkts als selbstverständlich angesehen und offenbar nicht hinreichend bedacht, daß die Möglichkeit einer Niederlage von vornherein zwangsläufig in der Unterwerfung unter ein Verfahren zur Streitentscheidung enthalten war; auch sie könnten in gewissem Sinn sagen, sie hätten Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen. Bei dieser Enttäuschung des Rechtsempfindens darf es indessen nicht auf Dauer bleiben. Demgemäß gilt der Schluß des Dramas der Versöhnung der Erinnyen. a) Nach der Beendigung des Verfahrens geht es jetzt also wieder um Konsens. Dieser bezieht sich freilich nicht auf das Urteil des Gerichts und auch nicht auf die diesem zugrunde liegende Rechtsansicht. In der Tat wäre es unsinnig, ja wiederum geradezu ein Widerspruch in sich selbst, erst ein Gericht zur Entscheidung des Falles einzusetzen und dann deren Geltung doch von der Anerkennung durch die unterlegene Partei abhängig zu machen; denn dann wäre der Spruch des Gerichts nicht mehr als ein unverbindlicher Vergleichsvorschlag an die Parteien und würde daher sein Ziel verfehlen, den Streit zu beenden und so Frieden herbeizuführen. Insoweit sind die Erinnyen also entgegen der Ansicht mancher Interpreten nicht erst durch das Urteil überwunden worden, sondern schon dadurch, daß sie sich auf das Verfahren überhaupt eingelassen und damit inzident sowohl auf gewalttätige Selbsthilfe als auch auf die Absolutheit ihres Gerechtigkeitsanspruchs verzichtet haben (vgl. oben 2 b). Sie stellen denn auch die Verbindlichkeit des Urteils gar nicht in Frage und drohen demgemäß nicht etwa, sich unter Mißachtung des Freispruchs doch noch an Orest zu vergreifen. Vielmehr gilt ihre Drohung nunmehr der Stadt Athen, die sie in ihrer Empörung über das Urteil mit Unheil überziehen wollen. Darin tritt ein weiteres Grundlagenproblem zu Tage: Gerade weil die unterlegene Partei Gerichtsurteile und Rechtsnormen grundsätzlich auch dann hinnehmen muß, wenn sie diese als krasses Unrecht empfindet, ist es von höchster Wichtigkeit, wenigstens ihr Einverständnis mit der Rechtsordnung im ganzen zu bewahren. Anderenfalls besteht nämlich die Gefahr, daß sie ihren Grundkonsens wieder aufkündigt und zum Feind des Rechts wird. Es ist daher von tiefer Weisheit, daß Athene die Erinnyen zu versöhnen sucht, indem sie ihnen Eigentum in der Stadt anbietet und Verehrung zusichert (Vers 890 f). Darin kommen zwei Einsichten zum Ausdruck, die von unverminderter Aktualität sind: Rechtsfrieden kann auf die Dauer nur auf der Grundlage gleicher Bürgerrechte gedeihen, und die unterliegende Partei darf in ihrem Anspruch auf Achtung nicht herabgesetzt, sondern muß trotz der Niederlage als gleichwertiges Rechtssubjekt behandelt werden. b) Darüber hinaus haben die Zusicherungen Athenes das Ziel, die Funktionen der Erinnyen auch unter dem neuen Rechtszustand aufrechtzuerhalten. Das Recht kommt nämlich nicht ohne die Androhung und Anwendung von Gewalt
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aus und hat somit nach wie vor Zwangscharakter. Dafür sind Furcht und Ehrfurcht, wie sie von den Erinnyen hervorgerufen werden, von unverzichtbarer Bedeutung32. Allerdings hat sich deren Rolle jetzt wesentlich gewandelt, da sie nicht mehr aus eigener Machtvollkommenheit in einem verfahrensmäßig nicht organisierten Bereich tätig werden, sondern in die Polis von Athen und insbesondere den Areopag eingebunden sind33. In den Kategorien der Rechts- und Staatsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts gesprochen geht es demgemäß um den Übergang vom Naturzustand in den Staatszustand 34. So wird auch verständlich, warum Athene das Urteil nicht, wie ihr von den Erinnyen und Orest eigentlich angetragen worden war, allein und als Göttin spricht, sondern es in die Hand von Menschen legt (durch die sie ohne weiteres hätte überstimmt werden können!). Und so werden aus den Erinnyen, also grausigen und brutalen Rachegeistern, die Eumeniden, d. h. wohlwollende und wohltuende Mächte zum Schutz und Segen der Bürger. Man könnte wohl auch sagen: Ein „fundamentalistischer“ Absolutheitsanspruch ist durch die Kraft der Vernunft – den von Athene verkörperten Logos – überwunden worden, worin sich einmal mehr die Aktualität des aischyleischen Rechtsdenkens zeigt. III. Aspekte der Problematik von Anerkennungstheorie und Rechtsgeltung35 Ziel der Auseinandersetzung mit den „Eumeniden“ des Aischylos war es, dem Werk des Dichters Einsichten abzugewinnen, die sich auch heute noch als gültig bewähren. Demgemäß wurden dabei wiederholt Fragen und Argumente heutigen Rechtsdenkens an den antiken Text herangetragen. Abschließend sei daher der Versuch unternommen, einige wesentliche Ergebnisse zusammenfassend in abstrakter Form, d. h. losge- [578] löst von dem Drama des Aischylos, zu formulieren und in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen. Da ein Hauptinteresse bei der Analyse der „Eumeniden“ auf die Entstehung von Recht in einer organisierten Gemeinschaft gerichtet war, wird im folgenden die Problematik der 32 Natürlich erschöpft sich die Problematik nicht in diesem juristischen Aspekt, sondern hat auch eine religiöse Seite, vgl. dazu Reinhardt (o. Fußn. 131, S. 143 f.; eine tiefdringende Deutung aus existenzphilosophischer Sicht gibt in einer differenzierten Analyse der Angst Weinstock (o. Fußn. 14). S. 43 ff. 33 Es stellt daher den Gang des Dramas geradezu auf den Kopf, wenn Lloyd-Jones (o. Fußn. 13), S. 95, über den Areopag sagt: „This court is not to replace, but to assist the Erinyes“; gegen ihn mit Recht Conacher (o. Fußn. 18), S. 168 f. 34 Vgl. dazu auch u. III 1 c. 35 Im folgenden wird auf eine Auseinandersetzung mir den zu diesem Problemfeld vertretenen vielfältigen Positionen verzichtet, weil eine solche nur in Buchform möglich wäre; demgemäß beschränken sich die Nachweise auf ein Minimum und sind entsprechend lückenhaft.
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Rechtsgeltung und ihrer Legitimation durch die Anerkennungstheorie im Mittelpunkt stehen, womit zugleich der oben I 1 b unterbrochene Gedankengang wieder aufgenommen wird. Zwar ist es nicht möglich, im vorliegenden Rahmen eine umfassende Konzeption der Rechtsgeltungsproblematik zu entwickeln36, doch lassen sich immerhin einige wesentliche Teilstücke skizzieren. 1. Der Gegenstand der Anerkennung Wenn von der „Geltung“ des Rechts die Rede ist, so können damit zwei unterschiedliche Dimensionen angesprochen sein: die normative oder juristische Geltung i. S. einer verbindlichen Verhaltens-, Verteilungs- und Kompetenzordnung auf der Ebene des Sollens zum einen und die faktische oder soziologische Geltung i. S. der tatsächlichen Befolgung der Rechtssätze und der Chance ihrer effektiven Durchsetzbarkeit auf der Ebene des gesellschaftlichen Seins zum anderen37. Im folgenden wird es im wesentlichen um die erstgenannte Seite der Rechtsgeltung gehen. Von der Frage, worin deren Legitimation, d. h. der tiefere, vielleicht gar „letzte“ Grund für die Verpflichtungskraft des Rechts gegenüber den Rechtsunterworfenen liegt, war – teils explizit, teils implizit – bei der Analyse der „Eumeniden“ immer wieder die Rede. Dabei trat mehrfach, vor allem bei der Interpretation der ersten Zentralszene (vgl. oben II 2), eine Antwort ins Blickfeld, die man mit dem Grundgedanken der Anerkennungstheorie in Verbindung bringen kann: die (normative) Geltung der Rechtsordnung beruht auf dem Einverständnis der Rechtsunterworfenen. Daran schließen sich sogleich zwei fundamentale Folgefragen an, die von den Anhängern der Anerkennungstheorie z. T. sehr unterschiedlich beantwortet werden38. Die erste geht dahin, worauf sich das Einverständnis eigentlich richten muß, die zweite dahin, von wem und wie es zu erteilen ist. a) Gegenstand der Anerkennung kann gewiß nicht jede einzelne Norm als solche sein. Wollte man insoweit das Einverständnis des von dieser jeweils Betroffenen fordern, so geriete man geradezu in einen Widerspruch. Denn eine Norm, die nur gilt, weil und wenn der Betroffene sie anerkennt, gilt in Wahrheit überhaupt nicht, da ihre Verbindlichkeit dann in dessen Belieben gestellt ist. Diesem Einwand entginge man allerdings, wenn man statt dessen auf das Einverständnis anderer Rechtsgenossen – etwa auf das der Mehrheit – abstellen 36
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Eine solche hat in jüngster Zeit Alexy vorgelegt, vgl. Begriff und Geltung des Rechts,
37 Vgl. dazu statt aller Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. (1991), S. 195 ff., sowie jüngst Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 47 ff. 38 Vgl. dazu im einzelnen die Darstellung und die Stellungnahme in den o. Fußn. 2 zitierten Werken.
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würde, doch würde man sich dadurch von vornherein den Weg zur Lösung des gestellten Legitimationsproblems versperren. Für den Betroffenen stellt nämlich die Anerkennung einer Norm durch andere Rechtsunterworfene eine rein heteronome Entscheidung dar, so daß man der Antwort auf die Frage, warum gerade er – und das heißt letztlich: warum überhaupt irgendjemand – zur Befolgung der Norm verpflichtet ist, keinen Schritt näher gekommen wäre. b) Eher könnte als Gegenstand der Anerkennung die (jeweilige) Rechtsordnung „im großen und ganzen“ in Betracht kommen. Indessen krankt dieses Kriterium an seiner außerordentlichen Vagheit, da offen bleibt, welche Bestandteile der Rechtsordnung essentiell für die Anerkennung sind und welche nicht. Insbesondere läßt sich so der Einwand des jeweiligen Rechtsunterworfenen nicht ausräumen, gerade diejenige Norm, um deren Anwendung es im konkreten Fall geht, gehöre aus seiner Sicht zu den Essentialia der Rechtsordnung oder erscheine ihm als dermaßen ungerecht, daß er deshalb auch die Rechtsordnung „im großen und ganzen“ nicht mehr als verbindlich anerkennen könne; letztlich gelangt man so demnach wieder zu dem widersinnigen Ergebnis, daß die Geltung der einzelnen Normen von ihrer Anerkennung durch den Betroffenen abhängen kann. Vermeidet man diese untragbare Konsequenz, indem man die Bestandteile der Rechtsordnung „im großen und ganzen“ irgendwie objektiv bestimmt, so sieht man sich sogleich mit dem zweiten soeben ins Feld geführten Einwand konfrontiert: Das autonome Einverständnis des Betroffenen wird dann zwar nicht geradezu gänzlich irrelevant, aber in fundamentalen Konfliktfällen letztlich eben doch durch heteronome Elemente verdrängt. c) Am ehesten läßt sich die Konzeption der Anerkennungstheorie stimmig machen, indem man das Einverständnis auf eine (bloße) Grundnorm bezieht. Diese hat folgerichtig einen zwiefältigen Inhalt. Zum ersten besagt sie, daß es überhaupt Recht als eigenständige Sollensordnung gibt; das ist ihre materielle Seite. Und zum zweiten enthält sie grundsätzlich die Anerkennung einer (obersten) Instanz39, welche die Befugnis hat Recht zu schaffen oder zumindest bindend festzustellen; das ist ihre kompetenzielle Seite. Wenn hier von Recht als eigenständiger Sollensordnung gesprochen wird, so ist auch das – jedenfalls auf einer ersten Stufe des Gedankengangs – in einem „schwachen“ Sinn zu verstehen. Gemeint ist damit, daß Konflikte nicht durch die rein faktische Überlegenheit des jeweils Stärkeren, also unmittelbar durch Gewalt, Überlistung und dgl., sondern auf andere, durch gewisse Regeln bestimmte Weise gelöst werden. Dafür kommt nur die Einrichtung eines Verfahrens zur Streitentscheidung in Betracht, da ein anderes Mittel der Konfliktlösung nicht ersichtlich ist, sofern man die Selbsthilfe der Betroffenen grundsätzlich ausschließt 39 Insoweit ähnlich Engisch (o. Fußn. 1), S. 74, der jedoch gleichwohl die Anerkennung nicht auf die Grundnorm beziehen will (vgl. S. 72).
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(vgl. oben II 2 b). Das Verfahren kann freilich keine völlig beliebige Struktur haben. Denn der Verzicht auf Selbsthilfe wäre sinnlos, wenn an deren Stelle einfach nur die reine Willkür und die blanke Zwangsgewalt eines Dritten träten; außerdem ist der Einsicht Rechnung zu tragen, daß bei einem Konflikt nicht von vornherein immer eine der Parteien Recht haben kann – welche denn?! – und daß demgemäß grundsätzlich beiden gleichermaßen die Möglichkeit offen gehalten werden muß, sich mit ihrem Begehren durchzusetzen (vgl. oben II 2 b). Eine solche Konfliktaustragung ist nur gewährleistet, wenn die verfahrensmäßige Entscheidung auf (einem Minimum von) Gründen für den einen bzw. gegen den anderen Standpunkt beruht und also der Idee nach auf Argumentation angelegt ist. Stellt man sich die Entstehung der Rechtsordnung im Anschluß an ein seit Jahrhunderten in der Rechts- und Staatsphilosophie verbreitetes Denkmodell in einem Gedankenexperiment als Übergang von einem – nur gedachten, nicht etwa historischen – Ur- oder Naturzustand („status naturalis“) zu einem Organisationsoder Staatszustand („status civilis“) vor, so ist ersterer demnach dadurch gekennzeichnet, daß Konflikte durch Selbsthilfe ausgetragen werden, letzterer dagegen dadurch, daß an deren Stelle grundsätzlich ein auf Regeln beruhendes und auf Argumentation angelegtes Verfahren tritt. d) Auch wenn in dieser Abhandlung bewußt auf die Auseinandersetzung mit anderen Positionen verzichtet wird, bedarf es doch eines kurzen Eingehens auf die Frage, wie sich das hier zugrunde gelegte Verständnis der Grundnorm zu den bekanntesten Konzeptionen einer solchen verhält. Was zunächst diejenige Kelsens angeht40, so gibt es damit zumindest zwei Gemeinsamkeiten. Die erste besteht darin, daß die Annahme einer Grundnorm eine notwendige Voraussetzung ist, [579] um das positive Recht überhaupt als verbindliche Sollensordnung denken zu können; die zweite liegt in der Verknüpfung zwischen Grundnorm und oberster Normgebungsinstanz oder -kompetenz, wie denn überhaupt die Lehre vom „Stufenbau“ der Rechtsordnung zu den wichtigsten Einsichten der „Reinen Rechtslehre“ Kelsens und seiner Anhänger gehört. Nicht gefolgt wird hier dagegen der Ansicht, daß die Grundnorm jeglichen materiellen Inhalts entbehrt, sowie der These, daß sie ihrerseits keiner weiteren Fundierung zugänglich ist. Der Sache nach ist das Problem der Grundnorm bereits von Kant klar gesehen worden, wenn er sagt: „Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdann aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers ... begründete“41. Ein solches „natürliches Gesetz“ sucht Kant vernunftrechtlich zu begründen, indem er eine Pflicht annimmt, aus dem status natu-
40 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), insb. S. 219 ff.: dazu z. B. Larenz (o. Fußn. 37), S. 69 ff.; Alexy (o. Fußn. 36), S. 155 ff. 41 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VI, 1907, S. 224.
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ralis in den status civilis überzutreten42 – und zwar nicht lediglich aus bloßen Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeitserwägungen, sondern aufgrund eines Gebots der praktischen Vernunft, die anderen Menschen als Person zu achten und daher als Rechtssubjekt nen. Diese Fragestellung wird hier nicht vertieft und kann für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung offen bleiben, weil die Problematik der Weigerung, in den Rechtszustand einzutreten, sich insoweit auf andere, weniger anspruchsvolle Weise bewältigen läßt (vgl. alsbald unten 2 b). Erwähnung verdient schließlich noch Harts „rule of recognition“43. Diese ist am weitesten von der hier vertretenen Position entfernt, weil sie rein empirisch konzipiert ist und daher primär die faktische Geltung des Rechts zum Gegenstand hat, aus der allein nicht auf die – hier thematisierte – normative Geltung geschlossen werden kann44. Ob sich in einer transzendental-pragmatischen Anerkennungstheorie (vgl. dazu unten 3) Elemente der transzendental-logischen Sichtweise Kelsens mit einem empirischen Fundament verbinden lassen, ist eine andere Frage.
2. Die Person des Anerkennenden und die Art der Anerkennung a) Nach dem bisherigen Gedankengang ist ohne weiteres klar, daß zur Legitimation der Rechtsgeltung keinesfalls die Anerkennung durch eine – wie auch immer qualifizierte – Mehrheit ausreicht, sondern grundsätzlich die Anerkennung durch jeden einzelnen Rechtsunterworfenen, also ein autonomes Einverständnis erforderlich ist. Dessen Vorliegen ist nun in der Tat ziemlich einfach zu begründen, wenn man als Gegenstand der Anerkennung, wie soeben vorgeschlagen, die bloße Grundnorm (in dem näher umrissenen Sinn) genügen läßt. Diese anerkennt nämlich implizit jeder, der für sich selbst „Recht“ in Anspruch nimmt; denn es wäre – in einem alsbald noch zu präzisierenden – Sinn selbstwidersprüchlich, sich einerseits auf einen Rechtsstandpunkt zu stellen, andererseits aber die Geltung der Rechtsordnung generell zu leugnen oder allein für den eigenen Rechtsstandpunkt generell einen Richtigkeitsanspruch zu erheben (vgl. oben II 2 c). Auf die Rechtsordnung aber beruft sich im Konfliktsfalle nahezu jeder – sogar z. B. der Anarchist, der sich gegen Folter verwahrt, rechtliches Gehör verlangt oder dergleichen45. b) Diese Argumentation paßt allerdings nicht für den radikalen Rechtsverweigerer, der auch für sich selbst niemals die Rechtsordnung in Anspruch nimmt. EntVgl. aaO (o. Fußn. 41), vor allem S. 312. Vgl. Hart, The Concept of Law, 1961, S. 97 ff. 44 Zutr. die Kritik von Alexy an Hart (o. Fußn. 36), S. 162 f., 197. 45 Dieses Argumentationsmuster ist alt und findet sich in ähnlicher Form z. B. schon bei Bierling, einem der prominentesten Vertreter der Anerkennungstheorie, vgl. Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, Erster Teil, 1877, S. 135 f. 42 43
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gegen einer verbreiteten Ansicht liegt darin jedoch kein durchschlagender Einwand gegen die Anerkennungstheorie. Zwar stellt die Anwendung von zwang für einen solchen Rechtsverweigerer mangels jeglichen Elements von Anerkennung in der Tat nichts anderes als blanke Gewalt dar, doch wird er damit ja nur gemäß seiner eigenen Maxime behandelt, wonach es Recht (i. S. einer bindlichen Sollensordnung) gar nicht gibt und also nur Gewalt bleibt. Auch er würde sich daher in einen Selbstwiderspruch verwickeln, wenn er nun plötzlich gegenüber dem Rechtszwang doch wieder die Legitimationsfrage stellen und den Einwand erheben würde, ihm widerfahre illegitime Gewalt; man könnte ihm mutatis mutandis auch erwidern: volenti non fit iniuria. Die Rechtsordnung hat ihm gegenüber somit von vornherein keinen Legitimationsbedarf46. Das gilt umso mehr, als er in Wahrheit sogar weitaus besser behandelt wird als nach seiner eigenen Maxime; denn da auch er nach richtiger Ansicht keineswegs rechtlos, d. h. vogelfrei ist, kommen ihm grundsätzlich alle Garantien der Rechtsordnung, insbesondere alle Schranken gegenüber der Gewaltanwendung wie z. B. das Verbot der Selbsthilfe, der Folter usw. zugute. Nur am Rande sei noch vermerkt, daß auch die Existenz solcher Personen, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen zur Geltendmachung von Rechten außerstande sind, die Anerkennungstheorie nicht ernsthaft zu erschüttern vermag. Das gilt schon deshalb, weil diese Schwierigkeit durch die „Natur der Sache“ vorgegeben und mit der Institution des gesetzlichen Vertreters zu lösen ist.
3. Vorschlag einer „transzendentalpragmatischen“ Rekonstruktion der Anerkennungstheorie a) Im Vorstehenden ist wiederholt von einem Selbstwiderspruch die Rede gewesen. Dieser ist nicht logischer Art; denn es geht nicht darum, daß gleichzeitig die Aussage „a“ und die Aussage „non-a“ gemacht wird. Vielmehr handelt es sich um einen Widerspruch auf der Ebene des Verhaltens, wenn jemand einerseits Recht i. S. einer verbindlichen Sollensordnung für sich in Anspruch nimmt und sich also auf den Rechtsstandpunkt stellt, andererseits aber die Verbindlichkeit von Recht generell ablehnt. Man könnte daher kurzerhand von einem pragmatischen Widerspruch sprechen47. Vorzugswürdig dürfte indessen sein, hier den Begriff des performativen Selbstwiderspruchs zu verwenden, der von Apel im Rahmen seiner transzendental-
Ähnlich z. B. Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, 1988, S. 248. So. z. B. in vergleichbarem Zusammenhang Joerden, ARSP 74 (1988), 312; ferner z. B. Hruschka, JZ 1987, 952, in bezug auf Kants Lehre vom lügenhaften Versprechen. 46 47
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pragmatischen Philosophie eingeführt worden ist48. Sowohl die Inanspruchnahme von Recht als auch die Ablehnung seiner Verbindlichkeit stellen nämlich performative Akte dar49, die miteinander unverträglich sind. Der Widerspruch steckt dabei in den Voraussetzungen50, da derjenige, der sich auf den Standpunkt des Rechts stellt, damit zugleich implizit notwendigerweise (zumindest) die „Grundnorm“ als Quelle der Verbindlichkeit anerkennt (vgl. oben 2 a), gerade diese Anerkennung aber mit der Leugnung der Verbindlichkeit verweigert. Der hier entwickelte Gedankengang trägt dabei durchaus transzendental-pragmatische Züge: Transzendental ist er, indem er i. S. des von Kant geprägten und von Apel übernommenen Sprachgebrauchs nach den aller Erfahrung schon vorausliegenden Voraussetzungen fragt, die Erkenntnis – hier über die normative Geltung von Recht – überhaupt erst möglich machen; und pragmatisch orientiert ist er insofern, als er an das Verhalten der Rechtsunterworfenen innerhalb der durch die Rechtsordnung konstituierten Kommunikationsgemeinschaft anknüpft. Die Prämisse, daß ein performativer Selbstwiderspruch unzulässig ist, erscheint allerdings ihrerseits begründungsbedürftig. Dazu sei in Kürze folgendes angemerkt. Ein logischer Widerspruch führt be- [580] kanntlich dazu, daß sich aus einem Aussagensystem jeder beliebige Satz einschließlich seines kontradiktorischen Gegenteils und damit letztlich überhaupt kein Satz ableiten läßt. Für einen performativen Selbstwiderspruch gilt auf der Ebene der Verhaltensanforderungen mutatis mutandis ähnliches. Denn wenn man ihn zulassen würde, ließe sich jede beliebige und folglich gar keine Anforderung legitimieren. Wer also überhaupt eine solche aufstellen will, muß konsequenterweise die Zulässigkeit eines performativen Selbstwiderspruchs verneinen, da er sonst von vornherein das Fundament seines Denkens zerstören würde. Allerdings kann man sich natürlich generell weigern, sich auf die Aufstellung von Verhaltensanforderungen einzulassen, doch ist zu dieser Frage, die dem bekannten Problem der Diskursverweigerung51 entspricht, soeben 2 b bereits Stellung genommen worden, soweit das für die Thematik der vorliegenden Abhandlung erforderlich ist.
b) Der transzendentalpragmatische Ansatz könnte sich auch deshalb als fruchtbar erweisen, weil er u. U. in einem gewissen Umfang die Entwicklung inhaltlicher Anforderungen an die Rechtsordnung oder inhaltlicher Gerechtigkeits48 Vgl. Apel, Philosophie und Begründung, 1987, S. 184 ff.; ders., Diskurs und Verantwortung, 1988, S. 354 ff. 49 Das Fremdwort „performativ“ stellt eine wörtliche Übernahme aus dem Englischen dar und geht auf die Sprachphilosophie von J. L. Austin zurück (How to Do Things with Words, 1962, S. 4 ff.); es meint im wesentlichen den Vollzug eines Sprechaktes im Gegensatz (u. a.) zu einer deskriptiven Aussage. 50 Vgl. zum Zusammenhang zwischen einem performativen Widerspruch und der Aufdeckung notwendiger Präsuppositionen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 3. Aufl. (1988), S. 100 f. 51 Vgl. dazu Apel (o. Fußn. 48). S. 190 f.; Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, 1985, S. 228 ff.
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maximen erlaubt. Das kann hier nicht vertieft werden. Immerhin sei einer der möglichen Ansatzpunkte angedeutet: Von der Einsicht, daß in einer rechtlichen Auseinandersetzung grundsätzlich auch die jeweils andere Partei „Recht haben“ könnte und daß sich Recht gar nicht anders als unter dieser Voraussetzung denken läßt (vgl. oben II 2 b), dürfte es nur ein verhältnismäßig kurzer Schritt zu dem – vor allem auf Kant und Hegel zurückgehenden – Grundprinzip des gegenseitigen Achtens als Person52 sein, das bemerkenswerterweise eine Entsprechung in Apels transzendentalpragmatischer Philosophie findet53.
52 Vgl. dazu statt aller eindringlich Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 45 ff.; zum Verhältnis dieses Prinzips zum Rechtsstaatsgedanken vgl. Hruschka, Jb. f. Recht u. Ethik 1 (1993), 193 ff. 53 Vgl. z. B. Diskurs und Verantwortung, 1988, S. 195 f.
Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht IN: BEUTHIEN/FUCHS/ROTH/SCHIEMANN/WACKE (HRSG.), FESTSCHRIFT FÜR DIETER MEDICUS, 1999, S. 25–61
I. Vom Nutzen argumentativ anspruchsvoller Problemund Fallösungen für die Juristische Ausbildung Die folgenden Ausführungen gehen auf einen Vortrag zurück, den ich im Juni 1997 an der Universität Tübingen vor Studenten gehalten habe. Einen solchen zur Grundlage eines Festschrift-Beitrags zu machen, bedarf normalerweise einer besonderen Rechtfertigung. Nicht jedoch gegenüber dem Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist! Denn wie wohl kaum ein anderer Autor seiner Generation, ja der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts hat Medicus nicht nur als akademischer Lehrer vom Katheder aus – übrigens u. a. in Tübingen –, sondern vor allem durch seine Publikationen dazu beigetragen, unsere Studenten dazu zu erziehen und darin zu trainieren, Probleme des geltenden Rechts und praktische Fälle auf hohem Argumentationsniveau zu lösen.1 Dadurch hat er einen ganz exzeptionellen Einfluß auf die Denkweise unseres Nachwuchses erlangt – und zwar keineswegs nur in der Wissenschaft, sondern auch und gerade in der Praxis.2 Zugleich ist Medicus durch dieses sein erfolgreiches Wirken zu einem Hauptrepräsentanten unserer derzeitigen Ausbildungsmethode und -kultur geworden. So konnte es kaum ausbleiben, daß deren Kritiker sein Werk mitunter zum Anlaß genommen haben, an ihm gewissermaßen stellvertretend zu demonstrieren, was sie an jener mißbilligen.3 [26] 1 Von geradezu epochalem Erfolg ist in dieser Hinsicht Medicus’ Buch „Bürgerliches Recht“, 17. Aufl. 1996. 2 In besonders eindrucksvoller Weise hat das eine Umfrage in der Zeitschrift manager magazin belegt, vgl. 24. Jahrgang (1994) Heft 2 S. 156; im Ranking der Professoren, die „in der Praxis das höchste Ansehen genießen“, nahm Medicus hier den ersten Platz ein und erreichte bei der Befragung der Praktiker einen Prozentsatz, der über den Rand der Graphik noch hinausging, also sozusagen gar nicht vorgesehen war. 3 Vgl. vor allem Großfeld, JZ 1992, 22 ff. Medicus hat darauf im Vorwort zur 16. Aufl. seines Buches „Bürgerliches Recht“ ausführlich und überzeugend erwidert und diese Ausführungen auch in die neueste Auflage übernommen. Ich beschränke mich daher darauf hervorzuheben, welches Ausbildungsmodell Großfeld selbst vorschwebt: „Auch die (!) Methode des bildhaftgesamtheitlich schauenden Juristen hat ihr Recht, sie muß es im Examen behalten; beides ist
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1. Problem- und Fallbezogenheit Ein Kernpunkt der Kritik liegt dabei häufig in der Konzentrierung unseres Ausbildungs- und Prüfungssystems auf die Bearbeitung praktischer Fälle. Indessen besteht darin in Wahrheit einer seiner wichtigsten Vorzüge – auch und gerade im Vergleich mit ausländischen Systemen. Denn Jurisprudenz ist nun einmal eine praxisbezogene Disziplin, und die Qualität eines Juristen – übrigens keineswegs nur eines Praktikers, sondern in wesentlichen Hinsichten auch eines Wissenschaftlers! – erweist sich demgemäß vor allem an seiner Kompetenz, praktische Fälle angemessen zu lösen. Dies aber setzt spezifische Fähigkeiten voraus, die man nicht abstrakt lernen, sondern sich nur durch lange Übung allmählich aneignen kann. Man muß nämlich in der Lage sein, vom Besonderen zum Allgemeinen hin zu denken, also den Lebenssachverhalt unter die Norm zu subsumieren sowie das abstrakte und allgemeine Problem im konkreten und speziellen Fall zu erkennen und dafür die passende Regel zu finden. Das erfordert eine ganz eigenständige Denkweise und -fähigkeit, für die man seit Kant sogar einen besonderen Begriff hat: Urteilskraft.4 So ist es denn auch kein geringerer als Kant selbst, den man als Zeugen für Sinn und Notwendigkeit einer juristischen Ausbildung auf der Grundlage praktischer Fälle aufrufen kann; denn an prominenter Stelle hat er gesagt: „Ein Arzt, ein Richter oder ein Staatskundiger kann viele schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer [27] werden kann, und wird dennoch in der Anwendung gleichermaßen (!) zu schulen und zu benoten“, a.a.O. S. 25. Gibt es eine solche Methode überhaupt und wie kann man ihre Handhabung benoten? Wie unterscheidet sich eine „bildhaftgesamtheitliche Schau“ von bloßer Gefühls- oder gar übler Weltanschauungsjurisprudenz? Ist Großfeld gar nicht bewußt, welche historischen Reminiszenzen und Assoziationen hier wach werden? Und schließlich: Ist der Vorschlag einer solchen Alternative nicht geradezu geeignet, im Kontrast dazu die Vorzüge des derzeitigen Ausbildungs- und Prüfungssystems trotz aller unbezweifelbaren Mängel umso heller ins Licht treten zu lassen? 4 Im vorliegenden Zusammenhang genügt der Hinweis auf Kant, Kritik der Urteilskraft, 1799, Einleitung unter IV: „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“, vgl. Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band V, 1908, S. 179. Kant trifft anschließend die für die Jurisprudenz ebenfalls grundlegende Unterscheidung zwischen der „bestimmenden“ und der „reflektierenden“ Urteilskraft. Um erstere geht es, wenn „das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben ist ... und die Urteilskraft ... das Besondere darunter subsumiert“; reflektierend nennt Kant die Urteilskraft demgegenüber, wenn „nur das Besondere gegeben ist, wozu sie das Allgemeine finden soll“. Es liegt auf der Hand, daß auch und gerade diese zweite Erscheinungsform der Urteilskraft von zentraler Bedeutung für die Jurisprudenz ist, weil der Obersatz, unter den zu subsumieren ist, häufig eben nicht „gegeben“ ist, sondern erst entwickelt werden muß – worin bekanntlich eine der vornehmsten Aufgaben von Rechtsprechung und Wissenschaft, aber zugleich auch, auf niedrigerer Ebene, ein Teil des Alltagsgeschäfts eines jeden Rechtsanwenders und damit auch des an Fallösungen ausgebildeten Studenten besteht.
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derselben leicht verstoßen, entweder weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden.“5 Möge uns die derzeit wieder einmal in aller Munde befindliche Reform der juristischen Ausbildung nicht solche Juristen bescheren, denen es zwar nicht am Verstande, wohl aber an Urteilskraft mangelt und die daher allenfalls als „gründliche Lehrer“ juristischer Regeln taugen6, zu deren angemessener Anwendung jedoch nicht imstande sind. Diese Gefahr ist nur zu bannen, wenn entgegen manchen modischen Tendenzen das schulgerechte Lösen praktischer Fälle auch weiterhin im Mittelpunkt von Studium und Examen steht und die Studenten also durch Beispiele und die Simulation von „wirklichen Geschäften“, d. h. von entsprechend konstruierten Fällen, zu dem Urteil „abgerichtet“ werden, „ob ein Fall in concreto unter das Allgemeine gehöre“. Sonst erhalten wir Juristen, die zwar schöne rechtliche Essays schreiben und gefällig über juristische Probleme parlieren können, vielleicht auch mit juristischem Bildungsgut zu prunken verstehen, den praktischen und damit den eigentlichen Aufgaben des Juristen aber ohne das nötige Rüstzeug gegenüberstehen und von Kant daher als Dummköpfe bezeichnet worden wären7; die Ergebnisse mancher ausländischer Ausbildungssysteme, deren Universitätsabsolventen nicht selten gegenüber dem simpelsten Fall versagen (oft aber sinnloserweise große Teile des Gesetzes nahezu auswendig wissen), liefern abschreckende Gegenbilder.8 Außerdem verdankt die deutsche Rechtskultur nicht zuletzt der Fallbezogenheit unserer Ausbildung den eminenten Vorzug, daß das Verhältnis zwischen Rechtspraxis, insbesondere Rechtsprechung, und Rechtswissenschaft hierzulande trotz mancher bedauerlicher Defizite insgesamt von erfreulicher Intensität und für beide Seiten von großer Fruchtbarkeit ist. Auch hier kann ein Blick über die Grenzen – übrigens nicht zuletzt auf die wachsende Entfremdung zwischen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft in den USA – uns zu schätzen lehren, 5 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781 bzw. 2. Aufl. 1787, S. A 134 = B 173; ähnlich ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Berlinische Monatsschrift 1793, S. 201 = Akademieausgabe Band VIII, 1912, S. 275. 6 Kants Spitze gegen eine bestimmte Art von Professoren ist hier kaum zu überhören! 7 Dem Leser sei die zugehörige Fußnote aus KrV a.a.O. nicht vorenthalten: „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt...“. 8 Höchst lesenswert ist in diesem Zusammenhang die Würdigung der deutschen Juristenausbildung im internationalen Vergleich durch Ranieri, JZ 1997, 801 ff., 813; „gerade aus historischer und vergleichender Sicht“ hält er „das Modell der (fallösungsbezogenen) deutschen Klausur... als pädagogisches Instrument und als Prüfungsanforderung (für) vorbildhaft und europaweit überlegen“ und konstatiert, daß „es so auch im europäischen Ausland gesehen und bewundert wird“ und „einen zentralen Kern der kontinentalen Rechtskultur darstellt“.
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was wir haben und bei [28] einer etwaigen Ausbildungsreform keinesfalls aufs Spiel setzen sollten – auch nicht unter der m. E. höchst fragwürdigen, weil die wahren Mängel eher verschleiernden als behebenden, z. T. sogar verschlimmernden Devise, daß nur prüfen solle, wer lehrt. 2. Wissenschaftlichkeitsanspruch Ein anderer gängiger Einwand gegen unser herkömmliches Ausbildungssystem, der in den vorliegenden Zusammenhang gehört, geht dahin, daß die Anforderungen an die Differenziertheit der Problemlösungen, die wir unseren Studenten abverlangen, weit überzogen seien und von ihnen insbesondere die Auseinandersetzung mit divergierenden Meinungen nicht oder allenfalls in sehr geringem Maße erwartet werden dürfe.9 Abgesehen davon, daß eine sinnvolle Prüfung unterhalb eines gewissen Schwierigkeitsgrades gar nicht möglich ist und sich nur bei verhältnismäßig hohen Anforderungen die Spreu vom Weizen sondern läßt – worin ein elementares Gerechtigkeitsgebot gegenüber den leistungsfähigen Studenten liegt! –, geht es hier um nicht weniger als um den Anspruch unserer Ausbildung auf Wissenschaftlichkeit. Für diese sind nämlich die Fähigkeit zu kritischer Auseinandersetzung und die Offenheit für neue Gedanken schlechterdings konstitutiv und daran entscheidet sich daher, ob wir mit unseren Studenten Rechtswissenschaft oder bloße Rechtskunde betreiben, also wirklich den Status einer Universitätsfakultät oder lediglich den einer Fachhochschule verdienen. Solche Kritik und Offenheit aber sind vor allem im Umgang mit der Anwendung des geltenden Rechts zu praktizieren – mithin genau dort, wo dies nach unserem herkömmlichen Ausbildungssystem geschieht oder doch jedenfalls geschehen sollte und wofür der Student es in Medicus’ Buch „Bürgerliches Recht“ in geradezu exemplarischer Weise lernen kann.10 Denn das geltende Recht [29] ist dem Juris9 Repräsentativ außer Großfeld, a.a.O. z. B. Stürner, JZ 1996, 752, nach dessen Ansicht es sich bei Medicus’ Buch „Bürgerliches Recht“ „um ein Werk handeln dürfte, das stellvertretend für viele andere Lehrbücher Höhepunkt und Ende einer Ausbildungskultur markiert“ (Hervorhebung hinzugefügt); nach seiner Meinung „überfrachtet das Denken in einem filigranen Geflecht widerstreitender Lehrmeinungen zur Lösung von ›Problemfällen‹ die deutsche akademische Ausbildung auf Dauer mit falscher Last“. Ranieri hat diesen Ausführungen, die er als „eine Art Nachruf“ versteht, mit Recht vehement widersprochen, vgl. JZ 1997, 813. 10 Dies gegen Stürner a.a.O. und auch gegen Böckenförde, JZ 1997, 320, der – ähnlich wie Großfeld – als symptomatisch für die Überfrachtung von Studium und Examen beklagt, daß „,der Medicus‹ ... von 1968 bis 1991, in 23 Jahren, von 346 auf 570 Seiten gewachsen ist“. Was sind hier für seltsame Verklärungen der Vergangenheit im Spiel! Warum will man sich nicht daran erinnern, daß in unserer Studienzeit, die Großfeld und Böckenförde als „golden“ rühmen, dem einigermaßen anspruchsvollen Studenten im Bürgerlichen Recht kaum etwas anderes zur Verfügung stand als die Reihe der Enneccerus-Lehrbücher – wahre Monstren der Stoffanhäufung und für den Studenten eigentlich völlig ungeeignet. Und wenn Großfeld das Fernrepetitorium von
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ten grundsätzlich vorgegeben und daher, entgegen einem nach 1968 verbreiteten Irrglauben, nicht Gegenstand „kritischer Hinterfragung“, durch welche Professoren und Studenten die Wissenschaftlichkeit ihres Denkens beweisen könnten. Man gebe sich auch nicht der Illusion hin, der Wissenschaftlichkeitscharakter des juristischen Studiums lasse sich durch eine stärkere Betonung der sogenannten Grundlagenfächer, vor allem von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung gewährleisten. Zwar erbringen diese einen unverzichtbaren Beitrag zur Erweiterung des juristischen Horizonts, schützen vor einer bornierten Überbewertung des jeweils geltenden nationalen Rechts und tragen nicht selten wesentlich zur Bereicherung des Argumentationshaushalts bei, doch lassen sie sich ebenso leicht gänzlich unkritisch betreiben und „pauken“ wie das Lösen von Fällen. Eine Aufwertung derartiger Fächer bietet daher, zumal angesichts des damit verbundenen Anschwellens des Examensstoffes, in keiner Weise Gewähr dafür, daß wir der Gefahr des Abgleitens in bloße Rechtskunde entrinnen. Es ist somit nicht daran vorbeizukommen: Die Reflexion über die Lösung von Problemen des geltenden Rechts auf verhältnismäßig hohem Argumentationsniveau und die kritische, für neue Gedanken offene Diskussion kontroverser Ansichten sind es vor allem, die im Kern den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit unserer Ausbildung begründen. Von unseren Studenten nur noch die Bearbeitung solcher Fälle zu erwarten, deren Lösung kaum mehr als die schlichte Anwendung des Gesetzes und den Einsatz des „gesunden Menschenverstandes“ fordert, läuft daher letztlich darauf hinaus, auf das Studium der Rechtswissenschaft zu verzichten und sich mit bloßer Rechtskunde zu begnügen. Es mag Gründe dafür geben, dem egalitaristischen – und damit zwangsläufig wissenschaftsfeindlichen oder zumindest -fremden11 – [30] Zeitgeist dieses Opfer zu bringen. Wer das will, möge es jedoch offen und ehrlich aussprechen und sich zugleich der Frage stellen, welche Atzler wegen seiner „disziplinierten Sparsamkeit“ als „didaktisches Meisterwerk“ preist (JZ 1992, 23), so will ich bei dieser Gelegenheit doch bekennen, daß auch ich es benutzt, aber binnen kurzem wegen seiner Simplizität enerviert aus der Hand gelegt habe. Von den Extremen Enneccerus und Atzler gleichermaßen frustiert, kann ich mich an keine „goldene“ Zeit, sondern weit eher an eine andere Form des „Elends“ der juristischen Ausbildung erinnern; was wäre es für eine Wohltat gewesen, hätten wir damals schon „den Medicus“ gehabt – und zwar durchaus in seinem heutigen Umfang! Wie die Verhältnisse seinerzeit wirklich lagen, gibt im übrigen unfreiwillig Böckenförde selbst mit dem wahrhaft denkwürdigen Satz zu erkennen: „Was waren das für schöne Zeiten, als wir das Bereicherungsrecht anhand von Saldo- und ZweiKondiktionentheorie, mit den besonderen Positionen von Siber, Esser und Krawielecki lernen konnten“ (JZ 1997, 318); das Buch von Krawielicki ist eine Monographie (!) von extremem Schwierigkeitsgrad, deren Lektüre seinen Studenten zu empfehlen heute auch der anspruchsvollste Hochschullehrer niemals wagen würde. 11 Es ist unbequem und heutzutage unpopulär, aber gleichwohl immer noch wahr, wenn Max Weber sagt: „Wissenschaftliche Schulung aber, wie wir sie nach der Tradition der deutschen Universitäten an diesen betreiben sollen, ist eine geistesaristokratische Angelegenheit, das sollten wir uns nicht verhehlen.“ Vgl. Wissenschaft als Beruf, 3. Aufl. 1930, S. 10 (Hervorhebung im Original).
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Daseinsberechtigung juristische Fakultäten an Universitäten dann noch gegenüber Fachhochschulen haben. Im übrigen liegt in der Verbindung von fallösungsbezogener und wissenschaftlicher Grundorientierung unserer Ausbildung zugleich eine der Wurzeln für eine weitere Stärke des deutschsprachigen Rechtskreises. Schon an der Universität wird nämlich die Grundlage für den diskursiven und argumentativen Stil unserer Rechtsprechung gelegt, der sich so wohltuend von der apodiktischen und diskretionären Urteilsfindung der Gerichte mancher anderer Länder abhebt. Nur jener Stil entspricht der Aufgabe der Gerichte, Recht zu „sprechen“ statt es zu „setzen“. Denn nur er gewährleistet eine Begründung, welche den Adressaten des Urteils zu überzeugen versucht statt ihm einfach Gehorsam abzuverlangen; nur durch ihn stellt sich das Gericht offen einer rationalen kritischen Auseinandersetzung, deren Möglichkeit sowohl durch seine Bindung an Gesetz und Recht als auch durch das Demokratieprinzip gefordert wird; und nur auf dieser Grundlage kann die Rechtsgemeinschaft die Verallgemeinerungsfähigkeit und die praktische Tragweite eines Urteils einigermaßen verläßlich abschätzen. Darüber hinaus dürfte dem argumentativen Urteilsstil auf längere Sicht in der Europäischen Union auch deshalb die Zukunft gehören, weil nur er darauf angelegt ist, durch Überzeugungskraft Konsens zu stiften – und nur wenn dieses Bemühen im Vordergrund steht, wird die europäische Rechtsangleichung auf Dauer die nötige Akzeptanz in den einzelnen Mitgliedsstaaten finden; deshalb ist es, nebenbei bemerkt, höchst bedauerlich, daß die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs derzeit noch, französischem Vorbild folgend, nicht selten allzu diskretionär angelegt sind. Was also auch immer die Mängel unseres Ausbildungssystems sein mögen – dessen Problem- und Fallösungsbezogenheit sowie die Erwartung eines verhältnismäßig hohen Argumentationsniveaus der Studenten gehören gewiß nicht dazu, sondern bilden im Gegenteil spezifische Vorzüge, die wir keiner Reform opfern sollten. Eine Festschrift für Medicus ist ein besonders geeigneter Ort, das mit allem Nachdruck auszusprechen. Und zugleich liegt darin eine Legitimation für die folgenden Ausführungen, repräsentiert doch eine an Standardbeispielen demonstrierte Methodenlehre in besonderem Maße sowohl die Problemlösungsbezogenheit als auch den Wissenschaftlichkeitsanspruch unserer universitären Ausbildung. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei freilich hinzugefügt, daß ich in meinem Vortrag vor den Studenten nur die einfacheren Hauptargumente vorgetragen habe; die – z. T. sehr subtilen – Ausdifferenzierungen und Vertiefungen sind erst hier hinzugefügt worden, wie sich das für eine Publikation gebührt, die nicht etwa als gedruckter Vortrag, sondern als Beitrag zu einer akademischen Festschrift erscheint. Auch im übrigen habe ich die Besonderheiten des Vortragsstils beseitigt und insbesondere die (an die Studenten vorher verteilten) klausurähnlichen Beispielsfälle weggelassen. [31]
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II. Der Streit um die Rangordnung der Auslegungskriterien als Paradigma für die Problematik von Vorverständnis und Methodenwahl 1. Das Einführungsbeispiel: die Kündigung gegenüber dem Erben des verstorbenen Wohnungsmieters nach § 569 BGB Vor kurzem ist eine Entscheidung des BGH veröffentlicht worden, die in methodologischer Hinsicht höchst spektakulär ist. Es geht darin um die Frage, ob der Vermieter einer Wohnung für die Kündigung gegenüber dem Erben des verstorbenen Mieters ein berechtigtes Interesse nach § 564 b BGB braucht, obwohl ihm § 569 BGB anläßlich des Todesfalls eine besondere Kündigungsmöglichkeit eröffnet und deren Ausnutzung nur von der Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist abhängig macht. Der BGH hat das bejaht – und zwar auch für den Fall, daß der Erbe bisher nicht in der Mietwohnung gelebt hatte.12 Das hat z. B. zur Konsequenz, daß eine Kündigung des Vermieters mit dem Ziel, in Zukunft eine höhere Miete zu erlösen, nach § 564 b Abs. 2 Nr. 3 S. 2 BGB unwirksam ist. Das ist ein überaus verblüffendes Ergebnis. Denn bekanntlich liegt der Zweck von § 564 b BGB darin, den Mieter vor dem Verlust seines räumlichen Lebensmittelpunktes und vor den mit einem Wohnungswechsel verbundenen Belastungen zu bewahren. Auf den Erben des Mieters paßt diese ratio legis jedenfalls dann offenkundig nicht, wenn er selbst seinen Hausstand bisher gar nicht in der Mietwohnung hatte. Daß der BGH § 564 b BGB dennoch auch in einem solchen Fall für anwendbar hält, hat er im wesentlichen auf die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 564 b BGB und den damit übereinstimmenden Bericht des Rechtsausschusses des Bundestags gestützt. Darin wird in der Tat davon ausgegangen, daß § 564 b BGB auch auf eine Kündigung gegenüber dem Erben nach § 569 BGB Anwendung findet.13 Hier drängt sich natürlich die Frage auf, warum der BGH einer in den Gesetzesmaterialien niedergelegten Auffassung Vorrang vor der anerkannten ratio legis von § 564 b BGB eingeräumt hat. Könnte dabei vielleicht eine pointiert sozialstaatliche, antimarktwirtschaftliche oder gar eigentumsfeindliche Grundhaltung
12 BGHZ 135, 86. Als ich meinen Vortrag in Tübingen hielt, war dieser Beschluß erst wenige Tage zuvor publiziert worden und daher als aktueller „Aufhänger“ besonders geeignet. Im vorliegenden Beitrag wird er eine wesentlich geringere Rolle als in meinem Vortrag spielen, weil ich mich inzwischen in einer eigenständigen Abhandlung mit ihm auseinandergesetzt habe, vgl. Canaris, FS für Fikentscher, 1998, S. 11 ff.; völlig auf seine Einbeziehung zu verzichten, ist jedoch nicht möglich, weil sich bestimmte methodologische Probleme, die für die hier behandelte Thematik von zentraler Bedeutung sind, gerade an dieser Entscheidung des BGH in exemplarischer Weise veranschaulichen lassen. 13 Vgl. BT-Drucks. 7/2011 S. 8 und 7/2638 S. 2.
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im Hinter- [32] grund stehen?14 Diesen Verdacht wird vor allem hegen, wer der Ansicht ist, daß die Gerichte sich bei ihren Entscheidungen weitgehend an einem vorweg ins Auge gefaßten Ergebnis orientieren, zu diesem aufgrund eines bestimmten „Vorverständnisses“ gelangen und danach auch die „Wahl“ der jeweils angewandten Methode ausrichten. 2. Die Unklarheit über das Rangverhältnis der Auslegungskriterien als besondere Schwachstelle der Methodenlehre Diese These hat bekanntlich vor allem Esser in seiner Schrift „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ vertreten. Eines seiner Hauptargumente liegt dabei darin, daß von den Gerichten „je nach der Dienlichkeit eines offiziell anzuerkennenden Interpretationselements in der Tat höchst willkürlich oder scheinbar willkürlich, nämlich vom Ergebnis bestimmt, historische oder grammatische, systematische oder zweckreflektierende Interpretationsmerkmale selektiv benutzt werden“.15 Gibt es also zwischen den Auslegungskriterien kein Rangverhältnis oder was sonst ermöglicht den Gerichten die scheinbar beliebige Wahl zwischen diesen? Zuzugeben ist in der Tat, daß die Frage nach dem Rangverhältnis zwischen den Auslegungskriterien zu den am wenigsten geklärten Problemkreisen der juristischen Methodenlehre gehört. Dieses Defizit, an dem sich seit dem Erscheinen des Buches von Esser im Jahre 1970 wenig geändert hat, kann dem radikalen methodologischen Skeptizismus, der in dieser Schrift zum Ausdruck kommt und der das Selbstverständnis vieler Juristen maßgeblich beeinflußt haben dürfte, auch heute noch Nahrung bieten. Teilt man diesen Skeptizismus nicht, ja sieht man in ihm – wie ich – eine gravierende Gefahr für die Rationalität unserer Rechtskultur, muß man daher besondere Anstrengungen darauf richten, mehr Licht in das Dunkel zu bringen, in welchem die Rangproblematik immer noch weitgehend liegt. Da es dabei in eminentem Maße um eine praxisbezogene Fragestellung, ja geradezu um eines der Fundamente von Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung geht, liegt es nahe, die Thematik an Hand praktischer Standardprobleme zu erörtern und die Tauglichkeit der Auslegungskriterien dadurch nicht nur zu veranschaulichen, sondern vor allem auch einer Bewährungsprobe zu unterziehen. [33]
14 15
Es wird sich zeigen, daß das nicht der Fall ist, vgl. unten V 2. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 123.
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III. Die Auslegungskriterien als Argumente und Abwägungselemente Bekanntlich unterscheidet man, wie auch aus dem soeben zitierten Satz Essers hervorgeht, üblicherweise vier „klassische“ Auslegungsarten: die grammatische, die systematische, die historische und die teleologische, d. h. die am Wortlaut, am System, an der Geschichte und am Zweck des Gesetzes orientierte Auslegung.16 Was nun deren Rangverhältnis angeht, so gibt es prinzipiell zwei ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Die erste liegt darin, daß die vier Auslegungskriterien grundsätzlich auf derselben Ebene, also gleichrangig nebeneinander stehen; als Alternative kommt in Betracht, daß ein Auslegungskriterium unter bestimmten Voraussetzungen einer höheren Stufe als ein anderes angehört und also gegenüber diesem insoweit generell vorrangig ist. Diese Unterscheidung wird im Schrifttum leider fast nie gemacht17, ist aber für das Verständnis der Problematik essentiell. 1. Die Möglichkeit des Verzichts auf die Heranziehung aller vier Auslegungskriterien und das Gebot teleologischer Kontrolle; die Unanwendbarkeit von § 110 BGB auf den Kreditkauf Häufig kann man lesen, daß grundsätzlich alle Auslegungskriterien heranzuziehen seien – eine Maxime, die sich schon bei von Savigny findet.18 Das ist hermeneutisch gesehen, d. h. bei philosophischer Betrachtung, durchaus richtig. Unserer praktischen Erfahrung entspricht es jedoch nicht; denn meistens entscheiden wir ein Auslegungsproblem allein mit Hilfe von ein oder zwei Kriterien, ohne die übrigen auch nur in Erwägung zu ziehen. Bydlinski hat diese Vorgehensweise geradezu mit Hilfe einer Subsidiaritätsthese zu legitimieren versucht. Danach ist „die Heranziehung einer sehr arbeitsaufwendigen und (oder) unsicheren Methode ... sinnlos, wenn das betreffende Problem bereits vor ihrer Heranziehung gelöst ist“.19 Als Faustregel für die praktische Alltagsarbeit des Juristen ist das durchaus akzeptabel. Mehr als eine solche ist es jedoch wohl nicht. Zwei Einschränkungen erscheinen nämlich als unumgänglich. Die erste liegt darin, daß man niemals ganz sicher wissen kann, ob ein Problem 16 Vgl. dazu z. B. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 141 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. III, 1976, S. 668 ff. und Bd. IV, 1977, S. 361 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 436 ff.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, Rn. 359 ff. 17 Eine Ausnahme bildet vor allem Bydlinski a.a.O. S. 555 ff. 18 System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840, S. 215. 19 Bydlinski a.a.O. S. 559; ihm folgend Rüßmann in Behrends/Dießelhorst/Dreier (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990, S. 47 f.; kritisch Buchwald, ARSP 79 (1993) 26 f.
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wirklich „ge- [34] löst“ ist. So kann sich z. B. ein scheinbar eindeutiger Wortlaut plötzlich doch noch als mehrdeutig erweisen, wenn man die Entstehungsgeschichte der Vorschrift heranzieht20 – sei es auch mit erheblichem Arbeitsaufwand. Zum zweiten sollte man stets, wenigstens „im Hinterkopf“, eine teleologische Plausibilitätskontrolle durchführen; denn sonst droht „öde Buchstabenjurisprudenz“ und damit die Gefahr, daß die Lösung eines Problems nicht überzeugungskräftig begründet wird oder daß gar die eigentliche Schwierigkeit überhaupt nicht in den Blick kommt. Was mit teleologischer Plausibilitätskontrolle gemeint ist, sei kurz an einem Beispiel demonstriert, das schon dem Anfänger geläufig ist. Es handelt sich um die Frage, ob der Kreditkauf unter § 110 BGB fällt, wenn der Minderjährige genügend Mittel zu freier Verfügung hat, um den vollen Kaufpreis zu bezahlen. Die Antwort lautet bekanntlich: Nein. Zur Begründung wird üblicherweise darauf verwiesen, daß der Vertrag nach dem Wortlaut von § 110 BGB nur wirksam ist, wenn der Minderjährige seine Leistung mit den betreffenden Mitteln „bewirkt“. Das ist richtig, gewinnt aber volle Überzeugungskraft erst dann, wenn man eine kurze teleologische Überlegung hinzufügt. Würde man nämlich entgegen dem Wortlaut von § 110 BGB die bloße Möglichkeit zur Bewirkung der Leistung genügen lassen, so könnte der Minderjährige z. B. mit einem Betrag von DM 1000,- , der ihm zu freier Verfügung steht, zehn Kreditkäufe über DM 1000,- mit einer Anzahlung von jeweils DM 100,- leisten und sich so in eine Schuld von insgesamt DM 10 000,- verstricken, genau genommen sogar in eine Schuld von nahezu beliebiger Höhe. Daß das mit dem Schutzzweck der §§ 107, 110 BGB völlig unvereinbar wäre, liegt auf der Hand und gibt letztlich den Ausschlag. Diese teleologische Überlegung ist nun freilich so durchschlagend, daß niemand auf den Gedanken kommen würde oder gar sollte, die Richtigkeit des Ergebnisses noch durch die Erforschung der Entstehungsgeschichte zu erhärten; insofern steckt in Bydlinskis Subsidiaritätsthese ein völlig berechtigter Kern. [35] 20 Ein schönes Beispiel bildet Art. 69 Halbs. 2 WG. Dort ist bestimmt, daß derjenige, der einen Wechsel vor dessen Änderung unterschrieben hat, „nach dem ursprünglichen Texte haftet“. Daraus hat der BGH geschlossen, daß der Zeichner eines Wechsels für dessen nachträgliche Verfälschung grundsätzlich auch dann nicht einzustehen hat, wenn er diese in zurechenbarer Weise – wie z. B. durch eine verfälschungsanfällige Ausfüllung des Papiers – erleichtert hat, vgl. BGHZ 47, 95, 100 f. und BGH NJW 1986, 2834, 2835. Art. 69 Halbs. 2 WG ist indessen nachweislich mit dem Ziel eingeführt worden, der formalistischen Rechtsprechung des RG, nach welcher der Zeichner eines verfälschten Wechsels überhaupt nicht, also noch nicht einmal nach dem ursprünglichen, durch seine Unterschrift voll gedeckten Text haften sollte, eine Absage zu erteilen. Vor dem Hintergrund dieser Entstehungsgeschichte ist Art. 69 Halbs. 2 WG somit so zu verstehen, daß der Zeichner zumindest nach dem ursprünglichen Text haftet, nicht aber, wie der BGH aus der Vorschrift herausliest, nur nach dem ursprünglichen Text, und daher ergibt die historische Interpretation, daß der Wortlaut der Vorschrift entgegen dem ersten Anschein grundsätzlich auch eine Haftung für den veränderten Text – d.h. vor allem für eine nachträglich erhöhte Wechselsumme – zuläßt, vgl. näher Canaris, JZ 1987, 545.
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2. Alle vier Kriterien im Gleichlauf; die Unanwendbarkeit von § 818 Abs. 1 BGB auf das durch Rechtsgeschäft erworbene Surrogat Solche einfachen Beispiele sind freilich methodologisch wenig ergiebig, komplexere Konstellationen versprechen größeren Ertrag. Als nächstes sei daher ein Problem analysiert, bei dem, sozusagen ganz „schulgerecht“, alle vier Auslegungskriterien zusammenwirken und in die gleiche Richtung weisen, dessen Lösung aber gleichwohl umstritten ist – und zwar auch und gerade unter methodologischen Aspekten. Demonstriert sei dies an der Frage, ob § 818 Abs. 1 BGB auf das durch Rechtsgeschäft erworbene Surrogat, das commodum ex negotiatione Anwendung findet. Muß also z. B. ein Kunsthändler, der ein rechtsgrundlos erlangtes Gemälde an einen Sammler des betreffenden Malers zu einem weit über dem Marktwert liegenden Liebhaberpreis verkauft hat, den gesamten Erlös an den Bereicherungsgläubiger herausgeben? Die h. L. verneint das21, doch gibt es eine gewichtige Mindermeinung, die § 818 Abs. 1 BGB auf das rechtsgeschäftliche Surrogat anwenden will22 und die Frage also grundsätzlich bejahen müßte. a) Was zunächst den Wortlaut von § 818 Abs. 1 BGB angeht, so spricht dieser für die h. L.; denn der Empfänger hat das Surrogat – im Beispiel also den Erlös – weder „auf Grund eines erlangten Rechtes“ noch „als Ersatz für die Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung des erlangten Gegenstandes“ – hier also des Bildes – erlangt. Die systematische Interpretation bestätigt und bekräftigt dieses Ergebnis. Vergleicht man § 818 Abs. 1 BGB nämlich mit § 281 BGB, also einem anderen Surrogationsanspruch, so fällt sofort auf, daß diese Vorschrift wesentlich weiter formuliert ist; denn dort wird nur ganz allgemein gefordert, daß der Schuldner „für den geschuldeten Gegenstand einen Ersatz oder einen Ersatzanspruch erlangt“. Noch aufschlußreicher ist der Vergleich mit einer Reihe anderer Surrogationsvorschriften wie den §§ 1418 Abs. 2 Nr. 3, 1473 Abs. 1, 1638 Abs. 2, 2111 Abs. 1 S. 2, 2374 BGB. Nach der letztgenannten Vorschrift – welcher die übrigen im wesentlichen entsprechen – hat der Verkäufer einer Erbschaft dem Käufer die zu dieser gehörigen Gegenstände herauszugeben „mit Einschluß dessen, was er vor dem Verkauf auf Grund eines zur Erbschaft gehörenden Rechts oder als Ersatz für die Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung eines Erbschaftsgegenstandes oder – und nun kommt der entschei- [36] dende Teil – durch ein Rechtsgeschäft erlangt hat, das sich auf die Erbschaft bezog“. Die Vorschrift 21 Vgl. z. B. von Caemmerer, FS Rabel, 1954, S. 377; Larenz, FS von Caemmerer, 1978, S. 218 ff.; Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, § 16 I 2; Staudinger/Lorenz, 13. Aufl. 1994, § 818 Rn. 27; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 72 I 1 c m. w. N.; zweifelnd Medicus, Schuldrecht II, 8. Aufl. 1997, § 128 II 2, vgl. dazu unten bei Fn. 28. 22 Vgl. vor allem Esser/Weyers, Schuldrecht II, 7. Aufl. 1991, § 51 I 3 d; Jakobs, Lucrum ex negotiatione, 1993, S. 110 ff., 118; MünchKomm.-Lieb, 3. Aufl. 1997, § 818 Rn. 26, jedoch mit wichtigen Einschränkungen für die Leistungskondiktion.
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stimmt also zunächst fast wörtlich mit § 818 Abs. 1 BGB überein, enthält dann aber ausdrücklich den Zusatz, daß auch das rechtsgeschäftliche Surrogat herauszugeben ist. Das legt es nahe, aus dem Fehlen dieses Zusatzes in § 818 Abs. 1 BGB im Wege eines Umkehrschlusses mit der h. L. zu folgern, daß sich die Herausgabepflicht hier eben nicht auf das rechtsgeschäftliche Surrogat erstreckt. b) Daß das Fehlen dieses Zusatzes in § 818 Abs. 1 BGB kein Versehen ist, ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien. Dort heißt es nämlich, die heutige Fassung von § 818 Abs. 1 BGB, die von dem ursprünglichen Entwurf abweicht, solle „zu deutlicherem Ausdruck bringen, daß sich die Verbindlichkeit zur Herausgabe oder Werthvergütung nicht auf dasjenige erstrecken soll, was der Bereicherte durch willkürliche Verfügung über den Gegenstand erwirbt“.23 Damit ist natürlich das rechtsgeschäftliche Surrogat gemeint, so daß die historische Interpretation zum selben Ergebnis führt wie die grammatische und die systematische und dieses erhärtet. Erstaunlicherweise hat freilich Jakobs das genaue Gegenteil behauptet und aus der Entstehungsgeschichte von § 818 Abs. 1 BGB herzuleiten versucht, daß unter diese Vorschrift auch das commodum ex negotiatione fällt.24 Seine Ansicht kann indessen schon deshalb nicht überzeugen, weil er die soeben zitierte Stelle aus den Protokollen, soweit ersichtlich, unberücksichtigt läßt und sich nur auf gewisse Vorgänge im Verlauf der Beratungen über die Abfassung der Vorschrift bezieht; ein normaler Abgeordneter des Reichstags konnte aber allenfalls die Stelle in den Protokollen kennen und beachten, so daß diese aus Respekt vor dem „historischen Gesetzgeber“ – als welcher ja nicht irgendeine Vorbereitungskommission, sondern das Parlament anzusehen ist – jedenfalls Vorrang vor etwaigen anderen geschichtlichen Belegen hat. Außerdem ist Jakobs’ Argumentation auch in sich selbst nicht schlüssig. Das gilt schon deshalb, weil sie auf Spekulationen über die Ansichten von Planck und anderen Kommissionsmitgliedern beruht, die höchstens feinsinnige Gelehrte, nicht aber Abgeordnete anstellen können. Außerdem geht Jakobs davon aus, die Verfasser des Entwurfs hätten nur klarstellen wollen, daß „nicht das lucrum in natura: nicht der Esel, wenn der rechtsgrundlos erlangte Gegenstand ein Pferd ist, herauszugeben, also dem Kondiktionsgläubiger geschuldet sein und aufgedrängt werden kann“.25 Diese Interpretation steht in unüberbrückbarem Gegensatz zu den Ausführungen in den Protokollen, wonach für das rechtsgeschäftliche Surrogat nicht „Herausgabe oder Werthvergütung“ nach Absatz 1 von § 818 BGB, sondern „lediglich (!) die Verpflichtung zur Werthvergütung nach Absatz 2 in Frage kommt“; danach geht es also keineswegs darum, den Kondiktionsgläubiger vor der Aufdrängung des Surrogats in natura zu schützen, sondern vielmehr in der Tat darum, ihm den Anspruch aus § 818 [37] Abs. 1 Prot. II 709. A.a.O. S. 115 ff. 25 A.a.O. S. 116 f. 23 24
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BGB zu versagen und ihn auf den Anspruch aus Abs. 2 zu beschränken, der niedriger sein kann, wie sich unmißverständlich aus dem Wort „lediglich“ ergibt, und also nicht den vollen Erlös als solchen umfaßt. Es bleibt somit dabei, daß bei grammatischer, systematischer und historischer Interpretation das commodum ex negotiatione nicht unter § 818 Abs. 1 BGB fällt. c) Ist dieses Ergebnis nun auch teleologisch gesehen überzeugend? Das läßt sich mit guten Gründen bejahen. Sehr oft wird nämlich ein Gewinn, den der Bereicherungsschuldner über den – nach § 818 Abs. 2 BGB ohnehin zu ersetzenden – objektiven Wert hinaus erzielt, auf besonderen Umständen in seiner Person wie seiner Entschlußkraft oder Risikobereitschaft, seinen spezifischen Fähigkeiten, Kenntnissen oder Beziehungen beruhen – wie das ja in dem eingangs verwendeten Beispiel des Verkaufs zu einem Liebhaberpreis in der Tat zutrifft. Zwar mag das im Einzelfall auch einmal anders sein, doch ändert das nichts daran, daß bei typisierender Betrachtung der Ausschluß einer Herausgabepflicht für das commodum ex negotiatione durch § 818 Abs. l BGB keineswegs interessenwidrig ist. Dabei muß man klar sehen, daß es hier um nicht mehr als eine teleologische Plausibilitätskontrolle geht. Denn das Ergebnis der Auslegung ist durch die starken Argumente aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des Gesetzes bereits im wesentlichen vorgezeichnet, und daher besteht die Aufgabe jetzt nicht mehr darin, dieses Ergebnis erst noch teleologisch zu begründen, sondern nur noch darin, es teleologisch gegen den Einwand der Unvernünftigkeit oder dgl. abzusichern. Das aber ist mit Hilfe der soeben vorgetragenen Argumentation unschwer möglich, zumal es im Rahmen von § 818 Abs. 1 BGB nur um die Haftung des gutgläubigen Kondiktionsschuldners geht 26, weil der bösgläubige nach § 819 i. V. mit § 281 BGB (oder nach § 687 Abs. 2 i. V. mit §§ 681 S. 2, 667 BGB) ohnehin auf Gewinnherausgabe haftet. Zur teleologischen Kontrolle und Abrundung gehört freilich auch noch der Nachweis, daß keine untragbaren Wertungswidersprüche entstehen. Ein solcher könnte hier insbesondere im Verhältnis zu § 281 BGB und zu § 816 Abs. 1 S. 1 BGB in Betracht kommen, weil diese Vorschriften nach herrschender und m. E. richtiger Ansicht im Gegensatz zu § 818 Abs. 1 BGB eine Herausgabepflicht auch für das rechtsgeschäftliche Surrogat begründen. Dieses Bedenken läßt sich indessen entkräften. Das gilt im Verhältnis zu § 281 BGB schon deshalb, weil § 818 Abs. 1 BGB, wie gesagt, nur den gutgläubigen Bereicherungsschuldner betrifft und also als Ausdruck der spezifischen „Milde“ der Bereicherungshaftung zu verstehen ist, während § 281 BGB zu den „allgemeinen“ Vorschriften i. S. von § 818 Abs. 4 BGB gehört27 [38] und daher (nur) zu Lasten des verklagten und des 26 Diesen auf Gewinnherausgabe haften zu lassen, erweist sich auch sonst als sachwidrig, vgl. eingehend Larenz/Canaris a.a.O. § 72 III 3 c; z. T. abweichend MünchKomm.-Lieb, § 818 Rn. 21. 27 Vgl. nur BGHZ 75, 203, 205 ff.; Larenz/Canaris a.a.O. § 73 II 3 b.
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bösgläubigen Bereicherungsschuldners eingreift. Freilich hat Medicus hinsichtlich der unterschiedlichen Auslegung von § 281 BGB und § 818 Abs. 1 BGB gesagt, er sei nach wie vor „nicht voll überzeugt“.28 Indessen ist der Wortlaut des § 281 BGB nun einmal viel weiter gefaßt als der des § 818 Abs. 1 BGB, so daß zwar nicht dieser, wohl aber jener nach dem natürlichen Sprachgebrauch das commodum ex negotiatione einschließt.29 Auch könnte die Konsequenz von Medicus’ Standpunkt aus m. E. allenfalls darin liegen, das commodum im Wege einer einschränkenden Auslegung aus dem Anwendungsbereich von § 281 BGB herauszunehmen, nicht aber umgekehrt darin, § 818 Abs. 1 BGB auf dieses zu erstrecken; denn nach Medicus’ Ansicht haftet der Verfügende, anders als nach der h. L., sogar im Rahmen von § 816 Abs. 1 S. 1 BGB nicht auf Gewinnabführung, sondern nur auf Ersatz des objektiven Werts der veräußerten Sache 30, so daß insoweit im Rahmen von § 818 Abs. 1 BGB nichts anderes gelten kann, weil sonst ein schwerer Wertungswiderspruch entstünde. Allerdings hat die h. L. hier insofern ein gewisses Legitimationsproblem, als sie sich mit dem Einwand auseinandersetzen muß, die unterschiedliche Auslegung von § 816 Abs. 1 S. 1 BGB einerseits und § 818 Abs. 1 BGB andererseits hinsichtlich des commodum ex negotiatione sei ungereimt. Indessen läßt sich dieses Bedenken m. E. durch das Argument entkräften, daß der Bereicherungsgläubiger in den Fällen von § 816 Abs. 1 S. 1 BGB durch die Verfügung ein dingliches Recht, in den Fällen von § 818 Abs. 1 BGB dagegen nur einen schuldrechtlichen Herausgabeanspruch verliert und daher in jenen stärker schutzwürdig ist als in diesen; das ist kein rein rechtstechnischer und daher vordergründiger Unterschied31, weil Mängel auf der dinglichen Ebene wie z. B. solche aufgrund der §§ 935, 105, 123 oder 138 Abs. 2 BGB in aller Regel weitaus gravierender sind als Mängel, die sich auf den schuldrechtlichen Vertrag beschränken. Daher läßt sich auch von dieser Seite her die Auslegung, wonach § 818 Abs. 1 BGB das rechtsgeschäftliche Surrogat nicht umfaßt, teleologisch befriedigend absichern. [39]
Medicus a.a.O. (Fn. 21) § 128 II 2. Das gleiche gilt m. E. darüber hinaus sogar bei streng juristischer Betrachtungsweise. Denn wenn jemand, der seinem Gläubiger die Herausgabe einer Sache schuldet, diese nunmehr an einen Dritten veräußert, dann erlangt er den Anspruch auf den Kaufpreis und damit auf das commodum ex negotiatione auch rechtlich gesehen nicht schon durch den Abschluß des Kaufvertrags allein, sondern erst durch die wirksame Übereignung des Kaufgegenstandes, weil die Kaufpreisforderung erst durch diese von der Einrede des § 320 BGB bzw. der Verkäufer von der Rückzahlungspflicht aus §§ 440, 325 BGB frei wird; vgl. zur entsprechenden Argumentation im Rahmen von § 816 Abs. 1 BGB näher Larenz/Canaris a.a.O. § 72 I 2 a. 30 Medicus a.a.O. (Fn. 1) Rn. 723; kritisch dazu Larenz/Canaris a.a.O. § 72 I 2 a. 31 Vgl. näher Larenz/Canaris a.a.O. § 72 I 2 a (Kleindruck). 28 29
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d) Gewissermaßen flankierend ist schließlich noch hervorzuheben, daß man entgegen manchen Stimmen im Schrifttum32 zu einer Herausgabe- oder Ersatzpflicht des Bereicherungsschuldners hinsichtlich des rechtsgeschäftlichen Surrogats auch nicht gelangen kann, indem man den Begriff des Werts im Sinne von § 818 II BGB „subjektiv“ versteht. Die gegenteilige Ansicht leuchtet schon aus systematischen Gründen nicht ein; denn man kann schwerlich annehmen, daß das Gesetz in Absatz 2 von § 818 BGB gewähren will, was es in Absatz 1 klar verweigert hat.33 Außerdem sprechen die Gesetzesmaterialien auch in dieser Hinsicht eine klare Sprache. Wie schon bei der Auseinandersetzung mit Jakobs erwähnt, heißt es in ihnen nämlich ausdrücklich, daß für das rechtsgeschäftliche Surrogat keine „Verbindlichkeit zur Herausgabe oder Werthvergütung“ nach Abs. 1 von § 818 BGB, sondern „lediglich (!) die Verpflichtung zur Werthvergütung nach Abs. 2 in Frage kommt“34; aus dem Wort „lediglich“ folgt, daß diese Vergütung niedriger als eine solche für das rechtsgeschäftliche Surrogat sein kann und also den darin steckenden Gewinn nicht umfaßt. e) Was lehrt das Beispiel in methodologischer Hinsicht? Es demonstriert vor allem, daß eine Argumentation sehr stark sein kann, wenn sie auf einem Gleichlauf von grammatischer, systematischer und historischer Interpretation aufbaut. Lassen sich für das Ergebnis, zu dem man auf diesem Wege gelangt, dann auch noch einigermaßen plausible teleologische Gesichtspunkte ins Feld führen, so steht dem Anwender des Gesetzes auch dann, wenn dessen Verfasser diese Gesichtspunkte nicht explizit für maßgeblich erklärt haben, grundsätzlich nicht die Befugnis zu, sich über das Ergebnis von grammatischer, systematischer und historischer Auslegung unter Berufung auf „objektiv-teleologische“ Kriterien hinwegzusetzen. Vielmehr ist dann von derjenigen ratio legis auszugehen, die in Einklang mit diesem Ergebnis steht. Bei einer objektiv-teleologischen Interpretation ist nämlich zwangsläufig die Gefahr besonders groß, daß sie in Wahrheit vor allem von den persönlichen rechtspolitischen Vorstellungen des Interpreten geprägt wird, und daher muß ihre Überzeugungskraft schon geradezu durchschlagend sein, um sich gegen den Gleichlauf der übrigen „klassischen“ Auslegungskriterien durchsetzen zu können. Ist das nicht der Fall, so dienen diese zugleich auch zur Ermittlung der ratio legis, die dann ihrerseits den Auslegungsvorgang abrundet und abschließt. Bei der vorliegenden Problematik darf man demgemäß die plausible Erwägung, daß der Gewinn aus dem commodum ex negotiatione typischerweise weitgehend dem Bereicherungsschuldner zu verdanken ist und ihm also bei Gutgläu32
Rn. 18.
Vgl. vor allein Koppensteiner; NJW 1971, 1772; Erman/Westermann, 9. Aufl. 1993, § 818
33 So überzeugend Larenz, FS von Caemmerer, 1978, S. 221; ihm folgend auch Medicus a.a.O. (Fn. 21) § 128 III 2. 34 Prot. II 709.
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bigkeit [40] grundsätzlich verbleiben soll, nicht mit dem (angeblich) objektivteleologischen, jedoch keineswegs zwingendem Gedanken beiseite schieben, daß der Gewinn mit Hilfe des Kondiktionsgegenstands erzielt sei und daher grundsätzlich dem Kondiktionsgläubiger gebühre. Beide Sichtweisen haben etwas für sich, aber die letztere ist der ersteren nicht deutlich überlegen und daher muß diese sich durchsetzen, weil nur sie mit dem Ergebnis von grammatischer, systematischer und historischer Auslegung harmoniert. 3. Das Fehlen des Wortlautarguments und dessen Kompensation durch andere Kriterien; die Unanwendbarkeit von § 847 BGB auf Ansprüche aus positiver Vertragsverletzung Daß drei oder gar vier Kriterien in die gleiche Richtung weisen, stellt einen seltenen Glücksfall dar. Viel häufiger ist, daß zumindest eines von ihnen fehlt. Das kann sogar das grammatische sein, obwohl doch anerkanntermaßen jede Auslegung mit dem Wortlaut des Gesetzes zu beginnen und auf diesem aufzubauen hat. Manchmal ist das indessen nicht möglich – und zwar keineswegs nur in den Fällen der Analogie, sondern sogar schon auf der Ebene der Auslegung i. e. Sinne. Nach gängiger – übrigens für den Klausuraufbau besonders wichtiger – Ansicht gibt es Schmerzensgeld gemäß § 847 BGB nur im Rahmen eines Anspruchs aus Delikt, nicht aber auch im Rahmen eines solchen aus positiver Vertragsverletzung.35 Im Schrifttum wird jedoch auch die gegenteilige Ansicht vertreten.36 Was man bei einem Studenten i. d. R. als schweren Grundlagenfehler beanstanden würde, kann also offenbar im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion ein erörterungsbedürftiger und -würdiger Standpunkt sein. a) Blickt man ins Gesetz, so ist man in der Tat zunächst verblüfft. In § 847 BGB steht nämlich nicht ausdrücklich, daß die Körper- oder Gesundheitsverletzung aus einer unerlaubten Handlung nach den §§ 823 ff. BGB herrühren muß. Daß wir das trotzdem als selbstverständlich vorauszusetzen pflegen, beruht vor allem auf dem rein systematischen Argument, daß § 847 BGB im Titel über „Unerlaubte Handlungen“ steht. Dagegen drängt sich freilich sogleich der Einwand auf, daß dem Gesetzgeber das Institut der positiven Vertragsverletzung noch unbekannt war. Wenn dieses also heutzutage ebenfalls eine Anspruchsgrundlage für den Ersatz von Körper- und Gesundheitsschäden bildet und somit insoweit eine
35
So z. B. Medicus, Schuldrecht I, 10. Aufl. 1998, § 53 II 3; Larenz/Canaris a.a.O. § 83 III
1 b. 36 Vgl. vor allein Braschos, Der Ersatz immaterieller Schäden im Vertragsrecht, 1979, S. 86 ff.; von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht Bd. I, 1996, Rn. 576.
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ähnliche Funktion wahrnimmt wie die Deliktshaftung, dann ist es – so könnte man argumentieren – nur folgerichtig, darauf auch § 847 BGB anzuwenden. [41] Was die Verfasser des BGB nicht kannten, war indessen lediglich die positive Vertragsverletzung als solche, d. h. als eigenständiges Rechtsinstitut. Dagegen haben sie durchaus einzelne Probleme geregelt, die wir heute als Fälle der pVV qualifizieren. Das gilt z. B. für § 618 BGB, der dem Dienstherrn bestimmte Pflichten zum Schutz von Leben und Gesundheit des Dienstverpflichteten auferlegt. In Abs. 3 der Vorschrift wird nun bestimmt, daß bei einer Verletzung dieser Schutzpflichten durch den Dienstherrn „auf seine Verpflichtung zum Schadensersatz die für unerlaubte Handlungen geltenden Vorschriften der §§ 842 bis 846 entsprechende Anwendung finden“. Ausgerechnet auf § 847 BGB wird also nicht verwiesen. Da das keinesfalls als bloßes Redaktionsversehen abgetan werden kann, bleibt nur der Umkehrschluß, daß diese Vorschrift auf die in § 618 BGB geregelten Fälle der positiven Vertragsverletzung keine Anwendung findet. Für deren übrige Fälle kann folgerichtig nichts anderes gelten. Was läßt sich daraus in methodologischer Hinsicht lernen? Zumindest zweierlei. Erstens, daß auch ein so wichtiges Argument wie das aus dem Wortlaut des Gesetzes fehlen und durch andere Kriterien ersetzt werden kann. Zweitens, daß auch Argumente aus dem sogenannten äußeren System des Gesetzes – hier die Stellung von § 847 BGB im Titel über die unerlaubten Handlungen und das Fehlen der Verweisung auf § 847 BGB in § 618 Abs. 3 BGB – im Einzelfall von sehr hohem Gewicht sein können, obwohl sie grundsätzlich, d. h. bei abstrakter Betrachtungsweise, mit Recht als besonders schwach angesehen werden. b) Vollends befriedigt ist man freilich auch bei diesem Problem erst, wenn es gelingt, das Ergebnis, also die Unanwendbarkeit von § 847 BGB auf die pVV, zusätzlich teleologisch abzusichern. Das ist in der Tat möglich. Dafür muß man bedenken, wann denn der Anspruch aus § 847 BGB überhaupt praktische Bedeutung erlangen kann. Die Antwort lautet natürlich: Nur dann, wenn nicht gleichzeitig ein Deliktsanspruch gegeben ist, da sonst § 847 BGB ja ohnehin schon anwendbar ist. Das aber bedeutet, daß es im wesentlichen um die Fälle geht, in denen die Haftung sich nur mit Hilfe von § 278 BGB begründen läßt – also dann, wenn dem Geschäftsherrn (ausnahmsweise) der Entlastungsbeweis nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB gelingt, oder wenn es um dessen Einstandspflicht für einen selbständigen Unternehmer geht, der nicht unter den Begriff des Verrichtungsgehilfen fällt, so daß der Tatbestand von § 831 Abs. 1 S.1 BGB von vornherein nicht gegeben ist. Was würde es bedeuten, wenn der Vertragspartner in derartigen Fällen bei Körper- und Gesundheitsverletzungen zusätzlich zum Ersatz seines materiellen Schadens ein Schmerzensgeld erhielte? Da § 278 BGB eine Einstandspflicht für fremdes Verschulden unabhängig von einem eigenen Verschulden des Geschäftsherrn anordnet, käme man zu einem verschuldensunabhängigen Schmerzensgeldanspruch. Das aber ist im geltenden Recht ganz und gar systemwidrig. Das gilt schon deshalb, weil dem Schmerzensgeld außer seiner Ausgleichs-
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grundsätzlich auch eine Genugtuungsfunktion zukommt [42] und für eine solche natürlich von vornherein kein Raum ist, wenn es an einem Verschulden des Haftenden fehlt. Es ergibt sich außerdem daraus, daß das geltende Recht im Rahmen der Gefährdungshaftung grundsätzlich, d. h. abgesehen von wenigen irregulären Ausnahmen, keinen Schmerzensgeldanspruch kennt. Das ist ein Argument aus dem sogenannten „inneren“ System des Gesetzes und zugleich ein teleologisches Argument, weil es auf einer dem geltenden Recht zugrunde liegenden allgemeinen Wertung beruht. Daß § 278 BGB dem Geschäftsherrn das mit dem Einsatz von Gehilfen oder der Arbeitsteilung verbundene Risiko im Rahmen von Verträgen aufbürden will37, stellt kein relevantes Gegenargument dar, da es im vorliegenden Zusammenhang folgerichtig nicht auf die ratio legis von § 278 BGB, sondern auf diejenige von § 847 BGB ankommt. Erst recht sollte man hier nicht die Verfassung bemühen und die These, § 847 BGB sei auf Ansprüche aus pVV wegen Körper- und Gesundheitsverletzungen anzuwenden, auf die Schutzgebotsfunktion von Art. 2 Abs. 2 GG und ein daraus angeblich folgendes Gebot zu verfassungskonformer Auslegung von § 847 BGB stützen38; eine Pflicht des Gesetzgebers, der verletzten Partei auch in den Fällen des § 278 BGB, also bei Fehlen eines Verschuldens ihres Vertragspartners einen Schmerzensgeldanspruch einzuräumen, läßt sich aus der Verfassung nun wirklich nicht herleiten, zumal bei der Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion auf der Ebene des einfachen Rechts grundsätzlich ein breiter Spielraum unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten offensteht 39. Sollte der Gesetzgeber freilich, wie derzeit geplant, den Anwendungsbereich von § 847 BGB auf die Gefährdungshaftung erstrecken, ergäbe sich daraus ein gesetzlicher Wertungswandel, der es nahelegen würde, die Anwendung dieser Vorschrift zur Vermeidung eines schweren Wertungswiderspruchs dann auch auf Ansprüche aus positiver Vertragsverletzung, insbesondere in den Fällen des § 278 BGB, zu erstrecken; ob das freilich mit § 253 BGB zu vereinbaren wäre, soll hier nicht erörtert werden40. [43]
Das hat mir Picker bei meinem Vortrag in Tübingen entgegengehalten. So aber von Bar a.a.O. 39 Vgl. dazu z. B. BVerfGE 96, 56, 64 f.; Canaris, JuS 1989, 163 f. 40 Immerhin sei darauf hingewiesen, daß § 253 BGB entgegen einem verbreiteten Mißverständnis kein Analogieverbot enthält, vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 187 f.; die Anwendung von § 847 BGB auf Ansprüche aus positiver Vertragsverletzung bei Körper- und Gesundheitsschäden würde § 253 BGB lediglich durch eine weitere verhältnismäßig schmal begrenzte Ausnahme einschränken und nicht etwa zur Regel verkehren, da die Vertragsverletzung ja nicht generell in den Anwendungsbereich von § 847 BGB einbezogen würde. § 253 BGB stellt also im vorliegenden Zusammenhang wohl kein unübersteigbares Hindernis dar – und zwar nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen, sondern schon aus solchen, die auf der Ebene des einfachen Rechts liegen. 37 38
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4. Die Kollision zwischen verschiedenen Auslegungskriterien; der gutgläubige Erwerb des Werkunternehmerpfandrechts aus § 647 BGB Bisher ging es um die Koinzidenz der Auslegungskriterien und um die Kompensation des einen durch ein anderes. Noch schwierigere Probleme ergeben sich naheliegenderweise bei ihrer Kollision. Als Beispiel hierfür wähle ich die berühmte Streitfrage, ob das gesetzliche Pfandrecht aus § 647 BGB gutgläubig erworben werden kann – die Medicus geradezu mustergültig erörtert und, wie sich auch unter methodologischen Aspekten zeigen wird, zutreffend gelöst hat.41 a) Beginnt man schulgerecht mit der grammatischen Interpretation, so gelangt man sogleich zu dem Ergebnis, daß § 647 BGB jedenfalls nicht unmittelbar angewandt werden kann, wenn die von dem Werkunternehmer ausgebesserte Sache nicht dem Besteller, sondern einem Dritten gehört; denn nach dem klaren Wortlaut dieser Vorschrift entsteht das Pfandrecht nur an Sachen des „Bestellers“. Ein gutgläubiger Erwerb des Pfandrechts in unmittelbarer Anwendung von § 1207 i. V. mit § 932 BGB kommt ebenfalls nicht in Betracht, weil keine „Verpfändung“ i. S. dieser Vorschrift, also keine rechtsgeschäftliche Bestellung eines Pfandrechts vorliegt. § 1257 BGB verweist zwar für das gesetzliche Pfandrecht auf die Vorschriften über das rechtsgeschäftliche Pfandrecht, doch nur, soweit es sich um ein „kraft Gesetzes entstandenes Pfandrecht“ handelt. Aus dieser Formulierung wird geschlossen, daß die Vorschriften der §§ 1205 ff. BGB nur für Inhalt und Folgen eines gesetzlichen Pfandrechts gelten, nicht aber für dessen Entstehung, weil das mit der Vergangenheitsform „entstandenes“ Pfandrecht unvereinbar sei. Daraus ziehen der BGH und ein Teil des Schrifttums die Konsequenz, daß die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs nach § 1207 BGB hier ausscheidet.42 Um den Werkunternehmer nicht jeglichen Schutz zu versagen, versucht der BGH bekanntlich immerhin, ihm durch die Gewährung eines Anspruchs auf Verwendungsersatz nach § 994 BGB zu helfen.43 Diese Vorschrift gilt indessen anerkanntermaßen grundsätzlich nur für den nicht-berechtigten Besitzer. In den einschlägigen Fällen war der Besitzer jedoch typischerweise bei Vornahme der Verwendung zum Besitz berechtigt – so z. B. meistens, wenn ihm der Käufer einer unter Eigentumsvorbehalt stehenden Sache diese zur Reparatur übergeben hatte (§ 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB). Um aus diesem Engpaß zu entkommen, läßt es der BGH genügen, daß der Besitzer im Zeitpunkt der Geltendmachung des Vindikationsanspruchs nicht mehr berechtigt ist. Das ist indessen schon deshalb unschlüssig, Medicus a.a.O. (Fn. 1) Rn. 587 ff. Grundlegend BGHZ 34, 153; i. E. zustimmend z. B. Flume, AcP 161 (1962) 395; Westermann/Gursky, Sachenrecht, 6. Aufl. 1990, § 68 I; Neuner, ZHR 157 (1993) 254. 43 Grundlegend BGHZ 34, 122. 41 42
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weil es für die Rechtshängigkeit und die Unredlichkeit des Besitzers unzweifelhaft nicht auf diesen Zeitpunkt, sondern [44] auf denjenigen der Vornahme der Verwendungen ankommt und man für die Frage der Nichtberechtigung folgerichtig auf denselben Zeitpunkt abstellen muß.44 Der BGH nimmt daher zu dem Zusatzargument Zuflucht, der berechtigte Besitzer dürfe hier nicht schlechter stehen als der unberechtigte. Das ist jedoch wenig überzeugend, weil der berechtigte Besitzer aufgrund seiner Vertragsansprüche eben anders als der unberechtigte steht und mit diesem daher nicht ohne weiteres verglichen werden kann.45 Außerdem ist nicht einmal dieser Ausweg gangbar, wenn der Werkunternehmer bei Geltendmachung seines Verwendungsersatzanspruchs immer noch berechtigter Besitzer ist – z. B. weil der Vorbehaltseigentümer bisher weder vom Kaufvertrag zurückgetreten ist noch seinen Anspruch aus § 985 BGB erhoben hat.46 Da somit die Lösung des BGH in Konstruktion und Begründung nicht zu befriedigen vermag und darüber hinaus nicht einmal durchweg zu den angestrebten Ergebnissen führt, besteht aller Anlaß, genauer zu prüfen, ob das Pfandrecht aus § 647 BGB wirklich nicht gutgläubig erworben werden kann. Nun stellt zwar der Hinweis auf die Vergangenheitsform „entstandenes“ in § 1257 BGB wohl eines der berühmtesten Wortlautargumente der Zivilrechtsdogmatik dar, stark ist es jedoch nicht. Allerdings ist ohne weiteres zuzugeben, daß man die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs nicht auf eine unmittelbare Anwendung des Gesetzes stützen kann, weil dabei wie gezeigt die Grenze des Wortsinns überschritten würde. Das schließt jedoch eine analoge Anwendung von § 1207 BGB nicht aus, ist es doch gerade die Hauptfunktion der Analogie, eine Überschreitung der Wortlautgrenze zu ermöglichen. Freilich muß man sich hier ein zweites Mal mit dem Wortlaut von § 1257 BGB auseinandersetzen. Denn erzwingt nicht die Beschränkung dieser Verweisung auf das kraft Gesetzes „entstandene“ Pfandrecht geradezu einen Umkehrschluß hinsichtlich seiner Entstehung und schließt das nicht folgerichtig auch eine Analogie aus? Mitnichten! Für die Entstehung gesetzlicher Pfandrechte kann § 1257 BGB nämlich sinnvollerweise gar nicht auf die Vorschriften über das rechtsgeschäftlich bestellte Pfandrecht verweisen, weil die Entstehung ja schon durch diejenige Vorschrift geregelt ist, die das betreffende gesetzliche Pfandrecht begründet – hier also durch § 647 BGB. Daß dort bezüglich des gutgläubigen Erwerbs eine Lücke im Gesetz vorliegen könnte, die durch analoge Anwendung von § 1207 BGB zu schließen ist, wird durch den Wortlaut von § 1257 BGB somit keinesfalls ausgeschlossen. b) Hier kommt nun ein zweites, am inneren System des Gesetzes orientiertes Argument ins Spiel.47 Es liegt in dem Hinweis auf § 366 Abs. 3 HGB. Absatz 1 So mit Recht MünchKomm.-Medicus, 3. Aufl. 1997, Vor §§ 987-1003 Rn. 10. Siehe auch dazu näher Medicus a.a.O. mit Nachw. zum Diskussionsstand. 46 Das räumt auch der BGH ein, vgl. BGHZ 100, 95, 102 f. 47 Vgl. zum folgenden eingehend Canaris, Handelsrecht, 22. Aufl. 1995, § 27 II 2 und 3. 44 45
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dieser Vorschrift erweitert die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs zunächst über das BGB hinaus vom Schutz des guten Glaubens an das Eigentum auf den Schutz des guten [45] Glaubens an die Verfügungsmacht. Absatz 3 ordnet dann für die im HGB geregelten gesetzlichen Pfandrechte des Kommissionärs, Spediteurs usw. an, daß diese „hinsichtlich des Schutzes des guten Glaubens einem gemäß Absatz 1 durch Vertrag erworbenen Pfandrechte gleichstehen“. Das bedeutet zweierlei: Erstens wird hier nach dem klaren Gesetzeswortlaut als selbstverständlich vorausgesetzt, daß man die gesetzlichen Pfandrechte des HGB überhaupt kraft guten Glaubens erwerben kann; und zweitens wird angeordnet, daß dabei nicht nur der gute Glaube an das Eigentum, sondern auch derjenige an die bloße Verfügungsmacht des Kommittenten, Versenders usw. geschützt wird. Was folgt daraus für die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs des Werkunternehmerpfandrechts nach § 647 BGB? Zunächst einmal mit Sicherheit die Widerlegung der vom BGH im vorliegenden Zusammenhang zugrunde gelegten (und auch bei anderen Problemen verfochtenen) These, daß bei einem Erwerb kraft Gesetzes ein gutgläubiger Erwerb nicht in Betracht komme 48; das ist schon deshalb schlicht und einfach falsch, weil sich aus § 366 Abs. 3 HGB glasklar das Gegenteil ergibt. Wichtiger noch ist, daß hier ein schwerer Wertungswiderspruch droht. Denn wenn der Kommissionär, der Spediteur, der Lagerhalter und der Frachtführer nach § 366 Abs. 3 HGB ihre gesetzlichen Pfandrechte gutgläubig erwerben können, warum dann nicht auch der Werkunternehmer?! Dieses Argument hat umso größeres Gewicht, als die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs gesetzlicher Pfandrechte in § 366 Abs. 3 HGB ja wie gesagt nicht etwa angeordnet, sondern vorausgesetzt und lediglich um den Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsmacht erweitert wird.49 § 366 Abs. 3 HGB ist daher überhaupt nur verständlich, wenn es an anderer Stelle einen Rechtssatz gibt, der den gutgläubigen Erwerb gesetzlicher Pfandrechte grundsätzlich ermöglicht. Da aber der gutgläubige Erwerb grundsätzlich nicht im HGB, sondern im BGB geregelt ist, müßte dieser Rechtssatz eigentlich in letzterem stehen, und da er sich dort nicht findet, drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß es sich dabei um eine ausfüllungsbedürftige Lücke handelt. Es geht somit um die Konkordanz von HGB und BGB, also um nicht weniger als die innere Einheit der Rechtsordnung. Methodologisch gesehen haben wir es folglich wieder mit einem Argument aus dem inneren System des Gesetzes zu tun.
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Fn. 51.
BGHZ 34, 153, 158. Das kann man nicht als bloßes Redaktionsversehen abtun, vgl. alsbald unten nach
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c) Dieses suchen nun der BGH und manche Autoren unter Rückgriff auf historische Argumente zu entkräften.50 Sie berufen sich dabei u. a. auf eine Bemerkung in den Gesetzesmaterialien zu § 366 Abs. 3 HGB, wo von einem „Gegensatze zum bürgerlichen Rechte“ die Rede ist, und folgern daraus, die Verfasser des HGB hätten in der [46] Zulassung des gutgläubigen Erwerbs gesetzlicher Pfandrechte einen „Gegensatz zum bürgerlichen Rechte“ gesehen und diesen in Kauf genommen, ja geradezu mittelbar die Unzulässigkeit gutgläubigen Erwerbs nach dem BGB bestätigt. Das dürfte jedoch auf einem Mißverständnis beruhen, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang der betreffenden Passage ergibt. Sie lautet: „Wer von einem Kaufmanne, der gewerbsmäßig Kommissionsgeschäfte betreibt, Waaren oder Werthpapiere erwirbt oder zum Pfande nimmt, wird oftmals nicht im Unklaren darüber sein, daß die betreffenden Gegenstände nicht dem Veräußerer oder Verpfänder gehören, er darf sich aber ... darauf verlassen, daß der Kommissionär zur Verfügung über den Gegenstand befugt ist. ... Zudem steht die Frage im Zusammenhang mit der Regelung der gesetzlichen Pfandrechte, die dem Kommissionär, dem Spediteur, dem Frachtführer und nach dem Entwurfe dem Lagerhalter gewährt sind (§§ 389, 402, 413, 432). Nach Art. 306 Abs. 3 des Handelsgesetzbuchs gilt der Grundsatz des Schutzes des guten Glaubens auch in Ansehung solcher gesetzlichen Pfandrechte, und hieran wird im Gegensatze zum bürgerlichen Rechte festgehalten werden müssen. Für die bezeichneten Pfandrechte würde jener Schutz in sehr vielen Fällen ohne Bedeutung sein, wenn er auf den Fall beschränkt bliebe, daß der Berechtigte irrthümlicher Weise den anderen Theil für den Eigentümer der Sache gehalten hat. ... Der Schutz des guten Glaubens hat hier überhaupt nur einen Sinn, wenn er die Fälle umfaßt, in denen der Berechtigte angenommen hat, daß der andere Theil befugt sei, so wie geschehen für den Eigenthümer über die Waare zu verfügen. In dieser Weise wird die Bestimmung des Handelsgesetzbuchs über den redlichen Erwerb bei den Pfandrechten allgemein aufgefaßt.“51 Nach dem Zusammenhang, in dem der Satz über den „Gegensatz zum bürgerlichen Rechte“ steht, drängt es sich auf, diesen Gegensatz allein in der Erstreckung des Schutzes auf den guten Glauben an die Verfügungsmacht zu sehen. Denn nur hiervon handelt die gesamte Passage sowohl vor als auch nach diesem Satz. Jeder bei Verstand befindliche Jurist weiß aber, daß man den guten Glauben an die Verfügungsmacht nur schützen kann, sofern auch der gute Glaube an das Eigentum geschützt wird, und jeder halbwegs sorgfältige Gesetzesverfasser wird daher erst einmal die Grundlage für letzteres schaffen, wenn er ernstlich davon ausgeht, daß sie fehlt. Aber selbst wenn die Verfasser der Begründung zu § 366 HGB hätten 50 BGHZ 34, 153, 156; Münzel, MDR 1952, 644 f.; Frohn, AcP 161 (1962) 33 f.; Gursky, Sachenrecht, Fälle und Lösungen nach höchstrichterlichen Entscheidungen, 9. Aufl. 1996, S. 170; Neuner, ZHR 157 (1993) 254. 51 Denkschrift zum Entwurf eines Handelsgesetzbuchs, 1897, S. 100 (Hervorhebungen hinzugefügt).
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zum Ausdruck bringen wollen, daß ein gutgläubiger Erwerb gesetzlicher Pfandrechte nach dem BGB nicht zulässig sei, wäre doch ganz unverständlich, warum diese ihre Ansicht den Rechtsanwender binden sollte; das kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil sie für diese rein bürgerlichrechtliche Problematik gar nicht zuständig waren. [47] Nun führen der BGH und seine Anhänger freilich noch ein weiteres historisches Argument ins Feld, das aus den Materialien zum BGB stammt. In diesen heißt es nämlich an einer Stelle lapidar, daß der Grundsatz „Hand wahre Hand“, d. h. die Zulassung gutgläubigen Erwerbs „auf gesetzliche Pfandrechte überhaupt keine Anwendung findet“.52 Diese Bemerkung ist zwar in der Tat einschlägig, aber ebenfalls mitnichten bindend. Das folgt schon daraus, daß sie im Zusammenhang mit der Regelung des Vermieterpfandrechts gemäß § 559 BGB gefallen ist. Dieses unterscheidet sich vom Werkunternehmerpfandrecht des § 647 BGB grundlegend dadurch, daß es anders als dieses kein Besitzpfandrecht ist. Deshalb wird der gutgläubige Erwerb des Vermieterpfandrechts in der Tat auch von denjenigen abgelehnt, die einen solchen für das Werkunternehmerpfandrecht bejahen, und deshalb hatten die Verfasser dieser Regelung für ihren Gegenstand mit ihrer Bemerkung im Ergebnis durchaus Recht. Zu Unrecht haben sie diese jedoch verallgemeinert und auf alle gesetzlichen Pfandrechte bezogen. Insoweit handelt es sich daher nur um eine Art von obiter dictum, das als solches keinerlei Verbindlichkeit beanspruchen kann. Außerdem gilt auch hier wieder, daß die Verfasser von § 559 BGB für eine allgemeine Regelung des gutgläubigen Erwerbs gesetzlicher Pfandrechte gar nicht zuständig waren. Diese hätte allenfalls im Zusammenhang mit § 1257 BGB erfolgen können und dort findet sie sich wie dargelegt trotz der Beschränkung der Vorschrift auf ein kraft Gesetzes „entstandenes“ Pfandrecht eben gerade nicht. Keinesfalls kann man also dem Reichstag und das heißt dem „historischen“ Gesetzgeber diese Bemerkung als maßgebliche Willensbekundung zurechnen; denn wo kämen die Parlamentarier hin, wenn sie sich auch noch um obiter dicta an einer „falschen“ Stelle in der Gesetzesbegründung kümmern oder gar gegen diese verwahren müßten?! Daß sie auch eine solche Bemerkung konkludent oder inzident in ihren Willen aufgenommen hätten, können selbst die dezidiertesten Anhänger der – ohnehin höchst fragwürdigen – „Paktentheorie“ wohl kaum annehmen. d) So wird man wieder auf das systematisch-teleologische Argument aus § 366 Abs. 3 HGB zurückgeworfen und muß nunmehr endgültig die Frage beantworten, ob es irgendeinen triftigen Unterschied zwischen dem Werkunternehmerpfandrecht und den HGB-Pfandrechten gibt, der es erlaubt, für ersteres die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs zu verneinen, obwohl diese für letztere ausweislich des § 366 Abs. 3 HGB unzweifelhaft besteht. Ein Unterschied, der 52
Mot. II S. 405.
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eine solche Ungleichbehandlung legitimieren könnte, ist nun aber noch niemals aufgezeigt worden. In der Tat besteht er nicht. Denn einen spezifisch handelsrechtlichen Gehalt hat § 366 HGB allenfalls53 insoweit, als es darum geht, daß nicht nur wie nach § 932 BGB der gute Glaube an das Eigentum, sondern auch der gute Glaube an die bloße Verfügungsmacht des [48] Nichtberechtigten geschützt wird. Was dagegen die von § 366 Abs. 3 HGB vorausgesetzte Möglichkeit betrifft, auch gesetzliche Pfandrechte gutgläubig zu erwerben, so hat diese mit irgendwelchen Besonderheiten des Handelsrechts überhaupt nichts zu tun. Zwar ist der gutgläubige Erwerber in den von § 366 Abs. 3 HGB aufgezählten Fällen Kaufmann, doch ist nicht ersichtlich, warum diese Eigenschaft hier ausschlaggebend sein soll und gerade Kaufleute ein höheres Schutzbedürfnis hinsichtlich des gutgläubigen Pfandrechtserwerbs haben sollten – ganz abgesehen davon, daß ja auch ein Werkunternehmer nahezu immer Kaufmann ist. Hinzu kommt schließlich eine teleologische Kontrollüberlegung: Gäbe es § 647 BGB nicht, so könnte und sollte der Werkunternehmer sich das Pfandrecht vernünftigerweise durch Vertrag bestellen lassen, wobei er dann ohne weiteres die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs in unmittelbarer Anwendung von § 1207 BGB hätte. Diese Aufgabe nimmt ihm § 647 BGB gewissermaßen ab, und daher darf der Werkunternehmer nicht schlechter stehen, als hätte er sich rechtsgeschäftlich ein Pfandrecht ausbedungen. Man kann geradezu sagen, daß das Pfandrecht aus § 647 BGB nichts wesentlich anderes als ein durch Gesetz typisiertes rechtsgeschäftliches Pfandrecht darstellt.54 Die Konsequenz kann daher nur sein, den gutgläubigen Erwerb des Werkunternehmerpfandrechts in Analogie zu § 1207 BGB grundsätzlich zuzulassen.55 e) Allerdings muß man noch (mindestens) einen Schritt weitergehen. Entgegen der Ansicht des BGH56 entsteht nämlich das Pfandrecht aus § 647 BGB i. d. R. schon in Analogie zu § 185 Abs. 1 BGB, weil und sofern die Überlassung der Sache an den Werkunternehmer durch die Einwilligung des Eigentümers gedeckt ist.57 Die Richtigkeit dieser Ansicht ergibt sich wiederum ohne weiteres aus § 366 Abs. 3 HGB. Denn der Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsmacht setzt geradezu denknotwendig voraus, daß deren Vorliegen schon für sich allein für die Entstehung eines gesetzlichen (!) Pfandrechts genügen muß und daß Vgl. zu dieser Einschränkung alsbald bei Fn. 59. Ähnlich argumentiert auch Medicus a.a.O. (Fn. 1) Rn. 594 a. E. 55 Vgl. eingehend schon Canaris, Großkomm. zum HGB, 3. AufI. 1978, § 366 Anm. 78 und Handelsrecht a.a.O. § 27 II 3 a; ebenso i. E. z. B. Baur/Stürner, Lehrbuch des Sachenrechts, 16. Aufl. 1992, § 55 C II 2 a; Wilhelm, Sachenrecht, 1993, Rn. 944 ff.; Staudinger/Wiegand, 13. Aufl. 1996, § 1257 Rn. 14; J. Hager, Verkehrsschutz durch redlichen Erwerb, 1990, S. 108 ff. 56 BGHZ 34, 122, 125. 57 So mit Recht schon sehr früh Medicus a.a.O. Rn. 594; ebenso z. B. Benöhr, ZHR 135 (1971) 144 ff., 166; Picker, NJW 1978, 1418; Canaris a.a.O. § 366 Anm. 79 und Handelsrecht § 27 II 3 b; Wilhelm a.a.O. Rn. 945 und 948; Staudinger/Wiegand a.a.O. § 1257 Rn. 14. 53 54
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ein solches also durch ein rechtsgeschäftliches Einverständnis des Eigentümers begründet werden kann. Dieser Satz aber kann schlechterdings nicht auf das Handelsrecht beschränkt sein, sondern muß folgerichtig auch im Bürgerlichen Recht gelten, weil ihm jeglicher Bezug auf [49] den kaufmännischen Verkehr fehlt. Und wenn man die gesetzlichen Pfandrechte, soweit sie Besitzpfandrechte sind, als durch Gesetz typisierte Vertragspfandrechte versteht, verliert die Möglichkeit ihrer Begründung durch ein rechtsgeschäftliches Einverständnis des Eigentümers der Pfandsache auch jede dogmatische Befremdlichkeit. Meist kommt es somit auf die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs des Werkunternehmerpfandrechts gar nicht an. Wie aber ist die Rechtslage, wenn das Einverständnis des Eigentümers mit der Überlassung der Sache an den Werkunternehmer ausnahmsweise nicht vorliegt? Dann wird dieser nach dem Gesagten zwar geschützt, sofern er hinsichtlich des Eigentums des Bestellers gutgläubig war, doch wird es an dieser Voraussetzung vor allem bei der Reparatur von Kraftfahrzeugen nicht selten fehlen.58 Der gute Glaube an das Einverständnis des Eigentümers wird dagegen auch in solchen Fällen meist gegeben sein. Man sollte daher noch einen letzten Schritt zur Vervollständigung der Lösung tun und auch diesen schützen, wobei sich als Rechtsgrundlage eine Analogie zu § 366 Abs. 3 HGB anbietet59, doch soll das hier nicht vertieft werden, weil dieses Problem in methodologischer Hinsicht anders gelagert ist. f) Was hat nun die ausführliche Erörterung dieser Problematik unter methodologischen Gesichtspunkten gelehrt? Es wurden gegenläufige Argumente gegenübergestellt – grammatische und historische einerseits, systematische und teleologische andererseits. Diese wurden für stark oder schwach befunden, also gewichtet. Als Ergebnis eines langen Argumentationsprozesses hat sich schließlich herausgestellt, daß die Überzeugungskraft der systematischen und teleologischen Gesichtspunkte bei weitem überwiegt. Das ist eine typische Abwägungslösung. Eine solche ist indessen keineswegs immer möglich oder zulässig. Das zeigt sich alsbald, wenn man sich jetzt noch einmal dem Eingangsbeispiel zuwendet. [50]
So mit Recht Medicus a.a.O. Rn. 592. Vgl. näher Canaris a.a.O. § 366 Anm. 80 und Handelsrecht § 27 II 3 c; auch insoweit zustimmend Staudinger/Wiegand a.a.O. § 1257 Rn. 14 a. E.; Medicus hat dagegen bisher, soweit ersichtlich, diesen Schritt nicht getan, obwohl erst dadurch der Schutz des Werkunternehmers wirklich vollständig wird. 58 59
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IV. Vorrangregeln 1. Der Vorrang des historischen Normzwecks vor den Norminhaltsvorstellungen der Gesetzesverfasser; das Verhältnis von § 569 BGB zu § 564 b BGB In dem oben II 1 verwendeten Eingangsbeispiel geht es um die Frage, ob der Vermieter einer Wohnung für eine Kündigung gegenüber dem Erben des verstorbenen Mieters ein berechtigtes Interesse nach § 564 b BGB braucht, obwohl ihm § 569 BGB anläßlich des Todesfalls eine besondere Kündigungsmöglichkeit eröffnet und deren Ausnutzung nur von der Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist abhängig macht. Wie dargelegt hat der BGH das generell bejaht und seine Ansicht damit begründet, daß in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich von der Anwendbarkeit des § 564 b BGB auf die Kündigung nach § 569 BGB ausgegangen wird.60 Indessen steht diese Lösung für den Fall, daß der Erbe bisher nicht in der Wohnung gelebt hatte, in eklatantem Widerspruch zur ratio legis von § 564 b BGB. Denn diese liegt anerkanntermaßen darin, den Mieter vor dem Verlust seines räumlichen Lebensmittelpunkts und den mit einem Wohnungswechsel verbundenen Belastungen zu bewahren, und ein solches Schutzbedürfnis besteht natürlich von vornherein nicht, wenn der Erbe seinen Hausstand bisher nicht in der Wohnung gehabt hatte. Auf den ersten Blick könnte man nun versucht sein, die Bemerkung in den Gesetzesmaterialien einfach als Redaktionsversehen abzutun61 oder sie doch wenigstens zu entschärfen, indem man sie nur auf solche Fälle bezieht, in denen der Erbe des Mieters schon vor dem Erbfall in der Wohnung gelebt hatte. Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, daß das nicht möglich ist. In den Materialien wird nämlich an derselben Stelle desweiteren davon ausgegangen, daß § 564 b BGB außer auf eine Kündigung nach § 569 BGB u. a. auch auf eine solche nach § 569 a Abs. 6 BGB anzuwenden ist – und bei dieser ist es aufgrund der Besonderheiten der geregelten Fallgestaltung so gut wie ausgeschlossen, daß der Erbe vor dem Tod des Mieters seinen Hausstand in dessen Wohnung gehabt hat.62 Man weiß also letztlich nicht genau, was sich die Verfasser des Gesetzes bei ihrem Hinweis auf § 569 BGB gedacht haben, sondern kann, insoweit mit dem BGH übereinstimmend, lediglich konstatieren, daß sie auch in dessen Rahmen § 564 b BGB für anwendbar hielten. Andererseits bleibt es dabei, daß der Zweck von § 564 b BGB im Schutz des Mieters vor dem Verlust seines räumlichen Lebensmittelpunkts und den mit einem Umzug verbundenen Belastungen besteht. Das ergibt sich sogar ebenfalls BGHZ 135, 86; vgl. dazu eingehend Canaris, FS Fikentscher, 1998, S. 11 ff. So in der Tat Foerste, JZ 1997, 733 unter II 2 a. E. 62 Vgl. näher Canaris a.a.O. S. 10. 60 61
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ausdrücklich [51] aus den Gesetzesmaterialien.63 Es liegt somit ein Konflikt zwischen dem „historischen“ Zweck und den Vorstellungen der Gesetzesverfasser vom Inhalt der Norm des § 564 b BGB vor, soweit es um deren Verhältnis zu § 569 BGB geht. Diesen Konflikt kann man – anders als in den bisher behandelten Beispielen – nicht durch Abwägung oder Gewichtung der widerstreitenden Argumente entscheiden. Denn hier kommt es offenkundig nicht darauf an, ob man gerade bei diesem Problem dem einen oder dem anderen Auslegungskriterium die größere Überzeugungskraft zuerkennt, sondern vielmehr darauf, welches von ihnen generell gesehen vorgeht: der Zweck der Norm oder die Vorstellung der Gesetzesverfasser von ihrem Inhalt. Demgemäß braucht man hier eine abstrakte Regel darüber, welches der beiden Kriterien Vorrang hat. Eine solche läßt sich in der Tat finden: Der Vorrang gebührt dem Zweck des Gesetzes. An diesen ist der Rechtsanwender nämlich grundsätzlich jedenfalls dann gebunden, wenn er – wie hier – im Willen des „historischen“ Gesetzgebers fundiert, also subjektivteleologischer Art ist, wohingegen bloße Vorstellungen der Gesetzesverfasser vom Inhalt der Norm zwar als Auslegungskriterium relevant und demgemäß im Rahmen einer etwaigen Abwägungslösung zu berücksichtigen, jedoch als solche nicht verbindlich sind.64 Das entspricht zum einen dem Grundsatz vom Vorrang des Zwecks eines Gesetzes vor dessen Wortlaut, wie er vor allem in der Zulässigkeit von Analogie und teleologischer Reduktion zum Ausdruck kommt, und folgt zum anderen auch daraus, daß sich die Abgeordneten weitaus leichter über den Zweck einer Regelung als über die einzelnen Norminhaltsvorstellungen der Gesetzesverfasser informieren können, wie gerade die vorliegende Problematik trefflich illustriert.65 Der Mangel der Entscheidung des BGH liegt somit darin, daß dieser den methodologischen Konflikt nicht zutreffend herausgearbeitet und die einschlägige Vorrangregel nicht erkannt hat. Hätte er das getan, so hätte er entgegengesetzt entscheiden und die Anwendbarkeit von § 564 b BGB auf eine Kündigung nach § 569 BGB für diejenigen Fälle verneinen müssen, in denen der Erbe seinen Hausstand vor dem Tod des Mieters nicht in dessen Wohnung gehabt hatte. Allerdings läßt sich das mit einer bloßen restriktiven Auslegung von § 564 b BGB nicht erreichen, da diese Vorschrift nach ihrem Wortlaut ganz allgemein für Kündigungen und also auch für den Fall des § 569 BGB gilt, doch kann man insoweit auf das Mittel der teleologischen Reduktion zurückgreifen, weil § 564 b BGB für die hier zur Diskussion stehende Fallgestaltung nach seiner ratio legis nicht paßt. Damit illustriert die vorliegende Problematik zugleich die wohl bekannteste – und soeBT-Drucks. 7/2011 S. 7. Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 164 f., ähnlich bereits Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 92 Fn. 23. 65 Vgl. zum Vorstehenden näher Canaris, FS Fikentscher S. 32 f. 63 64
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ben bereits gestreifte – Vor- [52] rangregel: Der Zweck des Gesetzes geht seinem Wortlaut vor, soweit nicht ein Rechtsfortbildungsverbot entgegensteht. 2. Der Vorrang der verfassungskonformen Auslegung; §§ 564 b, 569 BGB und Art. 14 GG Schließlich läßt sich dieses Beispiel auch noch zur Veranschaulichung einer dritten Vorrangregel fruchtbar machen: derjenigen vom Vorrang der verfassungskonformen Auslegung. Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist nämlich die Kündigungsbeschränkung des § 564 b BGB mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG nur deshalb vereinbar, weil der Mieter ein schutzwürdiges Interesse daran hat, nicht ohne besonderen Grund seinen bisherigen Lebensmittelpunkt zu verlieren und den mit einem Wohnungswechsel verbundenen Belastungen ausgesetzt zu werden.66 Dieser Legitimationsgesichtspunkt entfällt natürlich, wenn der Erbe des Mieters gar nicht in der Wohnung gelebt hat. Auf einen solchen Fall trotzdem § 564 b BGB anzuwenden, verstößt daher gegen Art. 14 GG, weil es zum Schutz der legitimen Interessen des Mieters nicht geboten ist.67 Es ist also das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verletzt – und zwar wohl schon in seiner Erscheinungsform als Erforderlichkeitsprinzip. Um diesen Verstoß gegen Art. 14 GG von vornherein zu vermeiden, muß man § 564 b BGB so handhaben, daß er auf den Erben, der nicht in der Wohnung gelebt hat, keine Anwendung findet. Daß es sich dabei, wie soeben dargelegt, nicht um Auslegung i. e. S., sondern um eine teleologische Reduktion handelt, steht nicht entgegen, da auch eine solche zur Vermeidung eines Verfassungsverstoßes zulässig ist68, sofern das einfache Recht für sie einen Spielraum läßt. Letzteres aber ist hier der Fall. Denn wenn man entgegen der soeben entwickelten Ansicht nicht ohnehin schon auf der Ebene des bürgerlichen Rechts dem Schutzzweck von § 564 b BGB Vorrang vor den Norminhaltsvorstellungen der Gesetzesverfasser einräumt (so daß es eines Rückgriffs auf Art. 14 GG gar nicht mehr bedarf), können doch letztere keinesfalls Vorrang vor ersterem haben, und daher entsteht dann ein argumentatives Patt, welches durch den Rückgriff auf Art. 14 GG verfassungskonform aufgelöst werden kann und muß. Leider hat sich der BGH auf diese Problematik nicht näher eingelassen, sondern insoweit lediglich auf zwei (unveröffentlichte) Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts verwiesen, doch sind diese unzutreffend69 und entfalten außerdem anerkanntermaßen keine Bindungswirkung Grundlegend BVerfGE 68, 361, 370 f. Vgl. dazu und zum folgenden eingehend Canaris a.a.O. S. 39 ff. 68 Vgl. Larenz/Canaris a.a.O. S. 161. 69 Vgl. näher Canaris a.a.O. S. 35 ff. 66 67
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nach § 31 Abs. 1 BVerfGG, so daß eine eigene Stellungnahme des BGH zulässig und geboten gewesen wäre. [53] 3. Der Vorrang der im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Regelungsabsicht der Gesetzesverfasser gegenüber objektiv-teleologischen Kriterien; das Verhältnis von § 910 BGB zu § 1004 BGB In dem soeben erörterten Beispiel liegt der Konflikt allein auf der Ebene des „historischen“ Gesetzgebers – nämlich zwischen der Zwecksetzung der Gesetzesverfasser zum einen und ihren Vorstellungen von der tatbestandlichen Reichweite des § 564 b BGB zum anderen, so daß beide kollidierenden Kriterien „subjektiver“ Art sind. Wesentlich häufiger sind Konflikte zwischen Kriterien, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Um solche geht es vor allem dann, wenn der Gesetzesanwender die Regelungsabsicht der Gesetzesverfasser im Wege einer „objektiven“ Auslegung hintansetzt. Ein lehrreiches Beispiel für diese Problematik bildet die Frage des Verhältnisses von § 910 BGB zu § 1004 BGB. Nach § 910 BGB darf ein Eigentümer eines Grundstücks Wurzeln und Zweige, die von einem Nachbargrundstück auf das seinige herüberwachsen, grundsätzlich abschneiden. Zweifelhaft ist nun, ob er außerdem von dem Nachbarn auch Beseitigung verlangen und diesem somit deren Kosten aufbürden kann, ob also das Selbsthilferecht aus § 910 BGB neben den Anspruch aus § 1004 BGB oder an dessen Stelle tritt. Die Verfasser des Gesetzes sind unmißverständlich von der letzteren Ansicht ausgegangen70, doch setzen der BGH und die h. L. sich darüber hinweg und gewähren dem gestörten Eigentümer den Anspruch aus § 1004 BGB71 mit der – praktisch u. U. durchaus gewichtigen – Konsequenz, daß der Nachbar die Kosten der Beseitigung zu tragen hat.72 Zur Begründung hat der BGH sich im wesentlichen auf die Ausschlußfunktion des Eigentums gemäß § 903 BGB gestützt und den in den Gesetzesmaterialien vertretenen entgegengesetzten Standpunkt für irrelevant erklärt, weil er im Gesetz nicht zum Ausdruck gekommen sei. Der BGH hat also sowohl § 903 BGB als auch § 910 BGB rein „objektiv“, d. h. ohne jede Rücksicht auf den Standpunkt der Gesetzesverfasser ausgelegt. Indessen irren der BGH und die h. L., wenn sie meinen, dieser habe im Gesetz keinen Niederschlag gefunden. Sie haben dabei nämlich § 907 Abs. 2 BGB übersehen, wonach die Beseitigung von Bäumen und Sträuchern nicht verlangt werden kann. Zwar könnte man bei einer wiederum rein „objektiven“ Auslegung Vgl. Prot. III S. 138 ff., 142. Grundlegend BGHZ 60, 235, 241 f.; zustimmend z. B. Staudinger/H. Roth, 13. Aufl. 1996, § 910 Rn. 2 m. w. N. 72 Grundlegend BGHZ 97, 231, 236. 70 71
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vielleicht meinen, das sei nicht dasselbe wie die Beseitigung (lediglich) von Wurzeln und Zweigen, doch ist diese Vorschrift gerade deshalb in das Gesetz eingefügt worden, weil dessen Verfasser dadurch der – von dem ursprünglichen Entwurf abweichenden – Ansicht zu § 910 BGB, daß in bezug auf Wurzeln und Zweige kein Beseitigungsanspruch, [54] sondern nur ein Selbsthilferecht bestehe, Rechnung tragen wollten.73 Es geht also nicht etwa darum, daß wegen einer Beeinträchtigung durch Wurzeln und Zweige nicht die Beseitigung des gesamten Baumes als „Quelle“ verlangt werden kann – eine Selbstverständlichkeit, die keiner Klarstellung bedarf –, sondern vielmehr genau um die vorliegende Problematik. Da die Ansicht der Verfasser des Gesetzes somit in diesem sehr wohl Ausdruck gefunden hat – wenn auch nicht in § 910 BGB selbst, so doch in § 907 Abs. 2 BGB –, ist sie zu respektieren und § 910 BGB somit dahin auszulegen, daß er als lex specialis § 1004 BGB verdrängt.74 Dagegen läßt sich nicht etwa einwenden, es handele sich lediglich um eine Ansicht über Inhalt und Reichweite des § 910 BGB und diese sei nach dem oben75 Ausgeführten nicht bindend, sondern stelle nur eines von mehreren Abwägungselementen im Prozeß der Auslegung dar. Die Gesetzesverfasser ließen sich nämlich von einer bestimmten ratio legis leiten, mit der die konkurrierende Anwendung von § 1004 BGB in der Tat unvereinbar ist. Denn sie meinten, „wenn Bäume mit ihren Ästen oder Wurzeln in ein Nachbargrundstück hinüberragten, dann sei es nicht wohl möglich, den Begriff des Eigenthums schrankenlos durchzuführen“, und lehnten den Anspruch auf Beseitigung im wesentlichen mit der Begründung ab, „es handele sich nicht um einen bewußt widerrechtlichen Eingriff in das Eigenthum, (sondern) der Baum wachse einfach aus natürlichen Gründen“.76 Zum einen haben die Gesetzesverfasser hier also in der Tat eine gewisse Einschränkung der Ausschlußfunktion des Eigentums nach § 903 BGB intendiert, und zum anderen sind sie davon ausgegangen, daß § 1004 BGB einen Verhaltensbezug voraussetzt – was auch heute noch der h. L. entspricht77 – und
73 Vgl. Prot. III S. 158: „Mit dem zu § 861 (= § 910) gefaßten Beschlusse, nach welchem der Grundeigenthümer nicht einmal im Falle des Herüberragens von Zweigen oder des Eindringens von Wurzeln vom Nachbar die Beseitigung der Zweige und der Wurzeln verlangen, sondern nur sie selbst beseitigen könne, würde es im Widerspruche stehen, wenn der Eigenthümer nach § 864 (= § 907) Beseitigung von Bäumen und Sträuchern in der Nähe seiner Grenze verlangen könnte, weil dieselben nothwendig in Zukunft zu einer unzulässigen Einwirkung auf sein Grundstück führen würden.“ 74 Vgl. Larenz/Canaris a.a.O. § 86 II 3 c = S. 680 f.; zustimmend MünchKomm.-Medicus, 3. Aufl. 1997, § 1004 Rn. 21 a; ablehnend H. Roth, JZ 1998, 94 unter II. 75 Vgl. bei Fn. 64. 76 Prot. III S. 141 bzw. 142. 77 Vgl. z. B. MünchKomm.-Medicus, § 1004 Rn. 12 und 21; Larenz/Canaris a.a.O. § 86 V 3 f. Dieser Zusammenhang mit der Ansicht der Gesetzesverfasser wird gut gesehen, wenngleich – von seinem Standpunkt aus folgerichtig – anders bewertet von Picker, JuS 1974, 360, der aller-
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haben die Schwierigkeiten erkannt, die dieses Erfordernis gerade beim Wachstum von Bäumen bereitet. Wenn sie darin eine zureichende Grundlage für eine Ersetzung des Beseitigungsanspruchs durch ein bloßes Selbst- [55] hilferecht gesehen haben, so ist das nichts anderes als die Festlegung der ratio legis von § 910 BGB. Diese ist nun zwar für den Gesetzesanwender nicht bindend, wenn sie nur in den Materialien steht, wohl aber grundsätzlich dann, wenn sie im Gesetz Ausdruck gefunden hat und damit auf die normative Ebene gehoben worden ist. Zwar muß der Gesetzgeber seine Anordnungen in Gesetzesform kleiden, da nur diese ihm für die Durchsetzung seiner Regelungsvorstellungen zur Verfügung steht, doch genügt das andererseits auch, um zugleich die ratio legis verbindlich zu machen; denn deren Festlegung fällt unzweifelhaft ebenfalls in die Kompetenz des Gesetzgebers, und der richtige Ort hierfür ist natürlich nicht das Gesetz selbst, sondern in der Tat dessen „amtliche Begründung“, ein Kommissionsbericht oder dgl., so daß es als Manifestation ausreicht, wenn die Regelungsabsicht im Gesetz nur mittelbar in Erscheinung tritt. In einem solchen Fall umfaßt die Bindung der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ i. S. von Art. 20 Abs. 3 GG folgerichtig auch die „historische“ ratio legis. Dabei braucht diese ihren Niederschlag nicht unbedingt in der betreffenden Norm selbst zu finden, sondern kann sich auch auf indirekte Weise – also z. B. aus dem Zusammenspiel mit einer anderen Vorschrift wie hier mit § 907 Abs. 2 BGB – ergeben, weil man sich auch dabei bereits auf der normativen Ebene befindet und die gegenteilige Ansicht überdies zu ganz unpraktikablen, perfektionistischen Anforderungen an die Gesetzgebungstechnik führen würde. Somit gelangt man zu dem Satz, daß die ratio legis, welche die Gesetzesverfasser in einer für den „historischen“ Gesetzgeber – d. h. für die Mitglieder des Gesetzgebungsorgans – erkennbaren Weise zugrunde gelegt haben, für den Rechtsanwender grundsätzlich78 bindend ist, sofern sie im Gesetz in irgendeiner Form Ausdruck gefunden hat. Das ist eine echte Vorrangregel, die folgerichtig für eine Abwägung mit anderen Kriterien keinen Raum läßt.79 Daher stellt es m. E. kein triftiges Gegenargument dar, daß § 907 BGB nach dem heutigen Verständnis von § 1004 BGB nur noch einen schmalen Anwendungsbereich hat80; das wäre im Rahmen einer bloßen Abwägungslösung relevant, kann aber eine Vorrangregel nicht außer Kraft setzen. Im übrigen sei ausdrücklich klargestellt, daß die Ansicht der Gesetzesverfasser nicht etwa von vornherein gänzlich unbeachtlich ist, wenn dings leider ebenfalls nicht auf das Argument aus § 907 Abs. 2 BGB und seiner Entstehungsgeschichte eingeht. 78 Auf die Ausnahmen kann hier nicht eingegangen werden; solche kommen vor allem bei einem tiefgreifenden Wandel der gesetzlichen Wertungen oder der geregelten Sachlage und bei untragbaren Wertungswidersprüchen in Betracht. 79 Vgl. näher unten V 1 c. 80 So aber H. Roth, JZ 1998, 94 unter II.
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sie im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat; sie erlangt dann zwar keine Bindungswirkung, stellt aber immerhin noch eines der Abwägungselemente dar, die in den Auslegungsprozeß einzubeziehen sind. [56] 4. Der Vorrang des Gesetzeswortlauts vor gegenläufigen Zwecken bei
Fehlen eines Auslegungsspielraums und einer Lücke; das Verhältnis von § 182 Abs. 2 BGB zu §§ 313, 518, 766 BGB In den beiden bisher erörterten Beispielen für eine Vorrangregel waren jeweils „historische“ Aspekte im Spiel. Es fehlt noch ein Beispiel, in dem der zu lösende Konflikt auch bei rein „objektiver“ Interpretation auftritt. Als solches sei die heftig umstrittene Frage nach der Reichweite des Anwendungsbereichs von § 182 Abs. 2 BGB herangezogen. Diese Vorschrift betrifft die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit eines Rechtsgeschäfts und bestimmt lapidar, daß „die Zustimmung nicht der für das Rechtsgeschäft bestimmten Form bedarf“. Hat also z. B. ein Vertreter ohne Vertretungsmacht ein Grundstücksgeschäft vorgenommen und ist dabei dem Formerfordernis des § 313 BGB Rechnung getragen worden, so kann der Vertretene nach dem Wortlaut von § 182 Abs. 2 BGB die Genehmigung, von der die Wirksamkeit des Vertrags für und gegen ihn gemäß § 177 BGB abhängt, durch eine rein mündliche Erklärung, ja durch ein bloßes konkludentes Verhalten erteilen. Bei dieser Konsequenz läßt es der BGH in der Tat bewenden.81 Es liegt indessen auf der Hand, daß dadurch der Schutzzweck von § 313 BGB stark beeinträchtigt wird, weil der Geschäftsherr ohne die Warnung durch ein Formerfordernis und ohne notarielle Beratung an einen Vertrag über ein Grundstück gebunden wird. Ein großer Teil des Schrifttums, insbesondere auch Medicus, nimmt daher in Anlehnung an die zur Parallelproblematik bei § 167 Abs. 2 BGB entwickelten Einschränkungen an, daß in derartigen Fällen entgegen dem Wortlaut von § 182 Abs. 2 BGB auch die Zustimmungserklärung der Form des § 313 BGB bedarf.82 Auf den ersten Blick scheint eine derartige teleologische Reduktion von § 182 Abs. 2 BGB in der Tat nahezuliegen. Bei näherer Überlegung ergeben sich jedoch äußerst gravierende Einwände. Der wichtigste besteht darin, daß § 182 Abs. 2 BGB auf diese Weise bei folgerichtigem Vorgehen fast seines gesamten Anwendungsbereichs beraubt würde. Ähnlich wie § 313 BGB verfolgen nämlich die meisten Formvorschriften wie z. B. die §§ 518, 766 BGB einen Warnzweck und müßten daher von dem in § 182 Abs. 2 BGB statuierten Grundsatz der Formfreiheit ausgenommen werden. Das könnte nicht auf die Fälle des § 177 BGB Grundlegend BGHZ 125, 218, 220 ff. Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 7. Aufl. 1997, Rn. 1017; vgl. im übrigen die Nachw. in BGHZ 125, 218, 221 f. 81 82
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beschränkt bleiben, sondern müßte auch und erst recht für die des § 185 Abs. 2 BGB gelten, weil in diesen das Bedürfnis für einen etwaigen Schutz des Zustimmenden durch das Formerfordernis zumindest genauso stark, ja wohl sogar noch stärker als in denen des § 177 BGB ist.83 Für die Fälle der Zustimmung nach § 107 BGB wird § 182 Abs. 2 BGB ohnehin kaum [57] relevant, da hier meist andere Schutzmechanismen eingreifen wie vor allem die §§ 1641, 1804, 1821, 1822 Nr. 10, 1643 BGB. Praktische Bedeutung behielte § 182 Abs. 2 BGB somit nur für einen marginalen Bereich84 wie die seltenen Fälle, in denen das Formerfordernis keine Schutzfunktion für die betreffende Vertragspartei hat, und die ebenso seltenen Fälle, in denen eine widerrufliche vorherige Zustimmung nach § 185 Abs. 1 BGB zu einem formbedürftigen Verfügungsgeschäft erteilt wird. Daß dieses Ergebnis sich nicht im Wege einer einschränkenden Auslegung von § 182 Abs. 2 BGB legitimieren läßt, steht angesichts des apodiktischen Wortlauts der Vorschrift außer Zweifel. Aber auch das Mittel der teleologischen Reduktion dürfte hier versagen. Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß aus dem sprachlich zu weit geratenen Anwendungsbereich einer Vorschrift ein Teilbereich – der typischerweise klaren Ausnahmecharakter hat! – herausgenommen wird, weil das Gesetz insoweit eine „verdeckte Lücke“ aufweist.85 Demgegenüber geht es hier um eine Art von „Rundum-Amputation“ des § 182 Abs. 2 BGB, die nicht nur Einzelteile beseitigen, sondern die Vorschrift in ihrem Kern zerstören würde. Das wäre nicht die Füllung einer „verdeckten Lücke“, also die Beseitigung einer „planwidrigen Unvollständigkeit“ (!), sondern käme im praktischen Ergebnis einer Derogation von § 182 Abs. 2 BGB nahe oder sogar gleich. Eine solche aber liegt anders als eine teleologische Reduktion anerkanntermaßen grundsätzlich nicht in der Kompetenz der Rechtsprechung, und daher ist dem BGH zuzustimmen, wenn er – obgleich mit einer etwas anderen Begründung als hier – das Vorliegen einer Lücke ausdrücklich verneint86 und aus diesem Grund die von der Gegenansicht verfochtene Anwendung der Vorschrift des § 313 BGB auf die Zustimmung nach § 182 Abs. 2 BGB ablehnt. Das Beispiel lehrt somit, daß u. U. über den Wortlaut einer Vorschrift trotz einer Beeinträchtigung der Zwecke anderer Vorschriften nicht hinwegzukommen ist – nämlich dann nicht, wenn das Gesetz weder einen Auslegungsspielraum noch eine Lücke aufweist. Wertungswidersprüche gegenüber anderen Regelungen müssen dann – bis zur Grenze eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG – hingenommen werden. Im übrigen ist das Bedürfnis für eine Einschränkung von § 182 83 Davon wird mit Recht schon in den Gesetzesmaterialien ausgegangen, vgl. Prot. I S. 177 f. 84 Hagen meint sogar, daß „der Anwendungsbereich des § 182 Abs. 2 BGB auf Null reduziert würde“, vgl. FS Schippel, 1996, S. 183. 85 Vgl. statt aller Larenz/Canaris, Methodenlehre a.a.O. S. 210 ff. 86 BGHZ 125, 218, 223.
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Abs. 2 BGB entgegen der Ansicht ihrer Befürworter nicht ohne weiteres mit demjenigen für eine Einschränkung des § 167 Abs. 2 BGB zu vergleichen; denn im ersteren Falle steht dem Zustimmenden immerhin ein formgerechter (!) Vertrag zur Verfügung, so daß er sich voll über dessen Inhalt informieren kann, während es im letzteren Falle an einer entsprechenden Grundlage fehlt.87 Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt daher in der unterschiedlichen Handhabung der Vorschriften nicht. [58]
V. Methodologische Konsequenzen 1. Der Unterschied und das Verhältnis zwischen Abwägungselementen und Vorrangregeln Von zentraler Bedeutung für die Antwort auf die Frage nach dem Rangverhältnis der Auslegungskriterien ist die Unterscheidung zwischen Abwägungselementen einerseits und Vorrangregeln andererseits, die freilich bisher im Schrifttum fast nie getroffen wird.88 Meist haben die Auslegungskriterien lediglich die Funktion von Argumenten im Rahmen einer Gesamtabwägung, die auf das jeweilige Einzelproblem bezogen und beschränkt ist; außerdem gibt es für bestimmte Kollisionen aber auch abstrakte Regeln, aufgrund derer einem Kriterium generell Vorrang vor einem anderen zukommt. Demgemäß war die Struktur der Argumentation in Teil III dieser Abhandlung ganz anders als in Teil IV. a) In Teil III wurde grundsätzlich von der Gleichrangigkeit der verschiedenen Auslegungskriterien ausgegangen. Es wurden möglichst viele von ihnen zusammengetragen, mal wurde das eine und mal das andere in den Vordergrund gestellt, sie wurden als schwach oder stark bezeichnet und im Konfliktsfall gegeneinander abgewogen. Das ist die Art und Weise, wie man mit Argumenten umgeht. Als solche sind die grammatische, systematische, historische und teleologische Auslegung in der Tat in erster Linie anzusehen – genauer gesagt: als Sammelbezeichnung für bestimmte Typen von Argumenten, die im Rahmen der Rechtsfindung eine besonders wichtige Rolle spielen. Diese Art des Umgangs mit divergierenden oder kollidierenden Auslegungskriterien wird ständig praktiziert. So mag etwa ein „schwaches“ Wortlautargument hinter einem starken „systematischen“ Argument – z. B. dem Ziel der Vermeidung eines krassen Wertungswiderspruchs –, eine beiläufige und undurchdachte Bemerkung in den Gesetzesmaterialien hinter einem überzeugungskräftigen objektiv-teleologischen Gesichtspunkt zurückzutreten haben usw. usf. Dabei hanZutreffend Prölss, JuS 1985, 585. Eine Ausnahme bildet vor allem Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 555 ff. 87 88
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delt es sich um eine Lösung im Wege der Abwägung89, was freilich selten explizit ausgesprochen wird.90 Abstrakt gesehen kommt dabei zwar grundsätzlich teleologischen Gesichtspunkten das größte Gewicht zu, doch sind das Telos bzw. die ratio legis oft ungewiß und lassen sich nicht selten ihrerseits nur mit Hilfe der übrigen Kriterien ermitteln. [59] Bei dieser Art der Handhabung erfüllen die Auslegungskriterien offenkundig eine ähnliche Funktion wie die Elemente eines „beweglichen“ Systems im Sinne Wilburgs.91 Es kommt nämlich auf das Zusammenspiel der Kriterien je nach Zahl und Stärke an, sie sind abstufbar – also stärker oder schwächer – und sie stehen grundsätzlich auf derselben Rangebene. b) Ganz anders ist die Struktur der in Teil IV behandelten Rangregeln. Diese sind einer Abstufung, Gewichtung oder Abwägung weder bedürftig noch auch nur zugänglich. Vielmehr handelt es sich um Ja-nein- bzw. Entweder-oderEntscheidungen. Demgemäß haben wir es mit echten „Regeln“ in dem Sinne zu tun, in dem das Wort im heutigen rechtstheoretischen Schrifttum meist gebraucht wird92: Eine Vorrangregel gilt entweder und ist dann anwendbar, oder sie gilt nicht und ist also für die Lösung der betreffenden Kollision ohne Belang. Der darin liegende Unterschied zu Abwägungselementen oder Argumenten ist offenkundig. Auch ein schwaches Argument hat nämlich bei der Gesamtabwägung immer noch eine gewisse Relevanz, während umgekehrt ein starkes Argument keineswegs ohne weiteres und für sich allein den Ausschlag zu geben braucht. Hier fungieren die Auslegungskriterien somit ähnlich wie (bloße) „Prinzipien“ in dem Sinne, in dem man sie heute von den „Regeln“ unterscheidet; denn danach ist für Prinzipien charakteristisch, daß sie einer Abstufung und Gewichtung zugänglich und bedürftig sind93 und daß es sich demgemäß nicht um Lösungen nach dem Schema „ja/nein“ bzw. „entweder/oder“, sondern um komparative Sätze94 in der Form „je mehr und je stärker desto eher“ handelt.95 Dem-
89 Zur Begründung und Kritik von Abwägungsurteilen vgl. eingehend Sieckmann, Rechtstheorie 26 (1995) 45 ff. 90 Vgl. aber immerhin, wenngleich eher beiläufig, z. B. Bydlinski a.a.O. S. 556, 565 und JBI 1994, 438; Schlehofer, JuS 1992, 577; Buchwald, ARSP 79 (1993) 28. 91 Ebenso mit Recht Bydlinski a.a.O. S. 555 f., 565; ähnlich Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 206 ff. 92 Grundlegend Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1977, S. 58 ff.; präzisierend und weiterführend Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, ARSP Beiheft 25, 1985, S. 13 ff., der als Abgrenzungskriterium das „Kollisionstheorem“ Dworkins ablehnt und das Verständnis der Prinzipien als „Optimierungsgebote“ eingeführt hat. 93 Vgl. dazu näher Alexy a.a.O. S. 15 ff.; ähnlich insoweit bereits Canaris, Systemdenken (oben Fn. 64), S. 52 ff., 115 f. 94 Vgl. dazu grundlegend Otte, Jb. für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. II (1972), S. 301 ff.
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gegenüber kann man z. B. die oben IV 1 bzw. 3 aufgestellten Sätze, daß die „historische“ ratio legis Vorrang vor den Vorstellungen der Gesetzesverfasser von Inhalt und Reichweite einer Norm hat, bzw. daß sie bindend ist, wenn sie im Gesetz Ausdruck gefunden hat, nur entweder anerkennen oder ablehnen; tut man ersteres (und hält man den Satz bei dem betreffenden Problem für einschlägig), so ist damit die Kollision der Auslegungs- [60] kriterien gelöst, ohne daß für eine Abwägung noch Bedürfnis oder auch nur Raum bestünde. c) Das bedeutet zugleich, daß eine etwaige Vorrangregel einer Abwägungslösung vorgeht. Zu einer solchen kann man nämlich logischerweise gar nicht mehr gelangen, wenn schon aufgrund einer abstrakten Regel generell feststeht, daß eines der kollidierenden Kriterien Vorrang hat. Im Verhältnis zu diesen gehört also die Regel einer Metaebene an, und anders als diesen dürfte ihr die Qualität einer echten Rechtsnorm zuzuerkennen sein.96 Demgemäß bedarf jede Vorrangregel grundsätzlich einer besonderen, rechts- und/oder staatstheoretisch fundierten Begründung – ein Feld, das bisher noch nicht hinreichend bearbeitet ist, weil derzeit nur ziemlich wenige Vorrangregeln explizit formuliert und überzeugend legitimiert worden sind.97 2. Der Einfluß der Rangfolgeproblematik auf „Vorverständnis“
und „Methodenwahl“ Die Qualifizierung der Auslegungskriterien als grundsätzlich gleichrangiger Argumente, die je nach Zahl und Stärke zusammenwirken und in einen Abwägungsvorgang münden, dürfte auch dazu beitragen, etwas Licht in die eingangs erwähnte, von Esser konstatierte Vorgehensweise der Gerichte zu bringen, daß diese scheinbar beliebig zwischen den Kriterien wählen. Weitgehend liegt das nämlich wohl daran, daß oft nur die eine oder die andere, also z. B. nur die historische oder nur die teleologische Auslegung überhaupt ergiebig ist, daß das eine Argument schwach und das andere stark ist usw. usf. So gesehen verliert dieses Phänomen viel von seiner scheinbaren Anstößigkeit. Außerdem sind die Vorrangregeln, wie gesagt, bisher nicht zureichend erforscht, ja z. T. noch gar nicht ins Bewußtsein getreten, was zu Fehlentscheidungen wie dem oben IV 1 kritisierten Beschluß des BGH zu § 569 BGB beitragen kann. 95 Prinzipien in diesem Verständnis weisen daher eine gewisse Ähnlichkeit mit den Elementen eines beweglichen Systems im Sinne Wilburgs auf; das wird zutreffend gesehen von Michael a.a.O. S. 105 f. 96 Vgl. dazu eingehend Gern, Verw.Arch. 80 (1989) 430 ff. 97 Wesentliche Ansätze hierzu finden sich aber immerhin außer bei Bydlinski a.a.O. bei Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 181 f.; Neuner; Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 112 ff.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 192 ff., 316 f.
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Daß gleichwohl ergebnisgeleitete Gerichtsentscheidungen vorkommen und dann auch die Auswahl der angewandten Methode vom gewünschten Ergebnis beeinflußt sein kann98, ist allerdings natürlich nicht zu leugnen. Man sollte sich aber auch insoweit vor vorschnellen Verdächtigungen hüten. In der Entscheidung zu § 569 BGB [61] läßt der BGH z. B. selbst ein deutliches Bedauern über das Ergebnis anklingen, meint jedoch, Abhilfe könne hier nur der Gesetzgeber und nicht die Rechtsprechung schaffen.99 Auch bei der Problematik des Werkunternehmerpfandrechts behagt dem BGH sein Ergebnis offenbar nicht; denn er macht geradezu dogmatische Verrenkungen, um dem Werkunternehmer wenigstens mit einem Verwendungsersatzanspruch nach § 994 BGB zu helfen und anerkennt überdies großzügig AGB-Pfand-rechte der Werkunternehmer, deren primärer Sinn darin liegt, die Möglichkeit eines gutgläubigen rechtsgeschäftlichen Erwerbs zu eröffnen.
98 Dieser Verdacht drängt sich z. B. gegenüber der Entscheidung BVerfGE 69, 1, 30 ff. auf, wo unter Berufung auf ein angebliches „normatives Ziel“ von Art. 12 a Abs. 2 S. 2 GG eine Auslegung dieser Vorschrift vertreten wird, die in diametralem Gegensatz zu den Äußerungen steht, welche maßgebliche Abgeordnete – vor allem derjenige, der die Gesetz gewordene Formulierung vorgeschlagen hatte – im Bundestag getan hatten, vgl. dazu die abweichende Meinung a.a.O. S. 69 ff. 99 BGHZ 135, 86, 91 f.
Die Stellung der „UNIDROIT Principles“ und der „Principles of European Contract Law“ im System der Rechtsquellen* IN: BASEDOW (HRSG.), EUROPÄISCHE VERTRAGSRECHTSVEREINHEITLICHUNG UND DEUTSCHES RECHT, 2000, S. 5−31
Inhaltsübersicht** I.
Ein Einführungsbeispiel: Die UNIDROIT Principles als Maßstab für die Feststellung der Lückenhaftigkeit des deutschen Rechts der Willensmängel? ..................................................................................................................... 6 II. Einordnung der UNIDROIT Principles und der European Principles in das System der Rechtsquellen ................................................................................ 8 1. Begriffliche Klärungen und theoretische Grundlagen ................................. 8 a) Die Unterscheidung von Rechtsgeltungs-, Rechtserkenntnis- und Rechtsgewinnungsquelle ............................................................................ 8 b) Die Unterscheidung zwischen einem positivistischen und einem nicht-positivistischen Rechtsbegriff .......................................................10 c) Beschränkung der Thematik unter dem Gesichtspunkt der innerstaatlichen Anwendbarkeit der UNIDROIT Principles und der European Principles .................................................................................12 2. Allgemeine Folgerungen für die rechtsquellentheoretische Qualifikation der UNIDROIT Principles und der European Principles ................13 * Abgekürzt werden zitiert: Bonell, Das UNIDROIT-Projekt für die Ausarbeitung von Regeln für internationale Handelsverträge: RabelsZ 56 (1992) 274–289; ders., An International Restatement of Contract Law – The UNIDROIT-Principles of International Commercial Contracts2 (1997) (zitiert: Restatement); F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 (1991); Drobnig, Ein Vertragsrecht für Europa, in: FS Steindorff (1990) 1143–1154; Grundmann, Law merchant als lex lata Communitatis – insbesondere die Unidroit-Principles, in: FS Rolland (1999) 145–158; Lando, The Principles of European Contract Law, An Alternative or a Precursor of European Legislation?: Am. J. Comp. L. 40 (1992) 573–585; Michaels, Privatautonomie und Privatkodifikation – Zu Anwendbarkeit und Geltung allgemeiner Vertragsrechtsprinzipien: RabelsZ 62 (1998) 580–626; The Principles of European Contract Law, hrsg. von Lando/Beale, I: Performance, Non-Performance and Remedies (1995) (zitiert: Lando/Beale); Stoll, Rechtliche Inhaltskontrolle bei internationalen Handelsgeschäften, in: FS Kegel (1987) 623–662; Wichard, Die Anwendung der UNIDROIT-Prinzipien für internationale Handelsverträge durch Schiedsgerichte und staatliche Gerichte: RabelsZ 60 (1996) 269–302. ** Anm. d. Hrsg.: Die Inhaltsübersicht wurde aus dem Original übernommen, die Seitenzahlen beziehen sich folglich auf das Original.
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Die Stellung der „UNIDROIT Principles“
a) Das Fehlen der Qualität als Rechtsgeltungsquelle................................13 [6] b) Die Tauglichkeit als Rechtserkenntnisquelle und ihre Grenzen.........15 c) Die Möglichkeit der Qualifikation als Rechtsgewinnungsquelle ........16 III. Konsequenzen für die praktische Anwendbarkeit der UNIDROIT Principles und der European Principles .............................................................17 1. Die Anwendung kraft Vereinbarung der Parteien ......................................17 a) Die Rechtslage vor staatlichen Gerichten .............................................18 b) Die Rechtslage vor Schiedsgerichten .....................................................19 c) Die Problematik einer Anwendbarkeit des AGB-Gesetzes ................21 d) Die Vereinbarung der Geltung „allgemeiner Rechtsgrundsätze“ oder der „lex mercatoria“ für den Vertrag ............................................27 2. Einflüsse auf die Auslegung und Fortbildung des objektiven Rechts .....27 a) Einflüsse auf internationales Einheitsrecht ...........................................28 b) Einflüsse auf rein nationales Recht ........................................................29 I. Ein Einführungsbeispiel: Die UNIDROIT Principles als Maßstab für die Feststellung der Lückenhaftigkeit des deutschen Rechts der Willensmängel? Der Bundesgerichtshof (BGH) hat unlängst seine Rechtsprechung, nach der die Rückgängigmachung eines Vertrages wegen culpa in contrahendo verlangt werden kann, in einem wesentlichen Punkt geändert, indem er diese unter die einschränkende Voraussetzung gestellt hat, daß der Verletzte einen Vermögensschaden erlitten haben müsse1. Dadurch wollte der BGH vor allem der im Schrifttum geäußerten Kritik Rechnung tragen, durch die Anerkennung eines Anspruchs aus culpa in contrahendo auf Vertragsaufhebung würden Voraussetzungen und Grenzen der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB unterlaufen2 und insbesondere das in dieser Vorschrift statuierte Vorsatzerfordernis im praktischen Ergebnis durch bloße Fahrlässigkeit ersetzt. Die Entscheidung hat mancherlei Kritik erfahren3. Für die Thematik meines Vortrags von Interesse sind die Ausführungen von Wiedemann. Er meint, die vom BGH vorgenommene Korrektur sei methodologisch nicht erforderlich, und führt BGH 26.9.1997, NJW 1998, 302 = JZ 1998, 1173 mit Anm. Wiedemann. Grundlegend Medicus, Grenzen der Haftung für culpa in contrahendo: JuS 1965, 209 ff. (211 ff.). 3 Vgl. Medicus, Anm. zu BGH LM Nr. 113 zu § 249 (A) BGB unter 2 b; St. Lorenz, Vertragsaufhebung wegen culpa in contrahendo – Schutz der Entscheidungsfreiheit oder des Vermögens?: ZIP 1998, 1053 ff. (1055 f.); Grigoleit, Neuere Tendenzen zur schadenrechtlichen Vertragsaufhebung: NJW 1999, 900 ff. (901 f.). 1 2
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zur Begründung aus: „Die Lückenhaftigkeit und damit die Ergänzungsfähigkeit der im BGB enthaltenen Vorschriften [sc.: über Willensmängel] läßt sich mit dem Stand des inländischen wie des internationalen Vertragsrechts belegen. ... Will man sich ein Bild davon verschaffen, wie ein moderner Gesetzgeber in Kenntnis der vorhandenen Probleme das Anfechtungsrecht [7] ausgestalten könnte, so lassen sich die Artt. 3.4–3.17 der UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts (UP) von 1994 heranziehen, die den Anforderungen an eine faire Verhandlungsführung unter Kaufleuten Rechnung tragen. Dort ist unter anderem in Art. 3.10 die Anfechtung wegen unbilliger Übervorteilung geregelt, in Art. 3.13 der Gedanke der geltungserhaltenden Reduktion aufgenommen sowie in Art. 3.7 das Verhältnis zu den Rechtsbehelfen wegen Nichterfüllung und in Art. 3.18 das Verhältnis zur culpa in contrahendo berücksichtigt. Damit läßt sich der Nachweis der Lückenhaftigkeit der Regelung im BGB leicht führen“4. Die UP5 scheinen also rechtsquellentheoretisch rasch Karriere zu machen, sollen sie doch schon jetzt dazu dienen, „Lücken“ im BGB festzustellen und damit eine Legitimationsbasis für deren Ausfüllung durch die Rechtsprechung zu liefern. Aber ist das wirklich so „leicht“, wie Wiedemann behauptet? Nach verbreiteter Ansicht beurteilt sich die Frage, ob eine „Lücke“ im Gesetz vorliegt, „vom Standpunkt des Gesetzes selbst, der ihm zugrunde liegenden Regelungsabsicht, der mit ihm verfolgten Zwecke, des gesetzgeberischen ,Plans‘“6. Danach kommen die UP von vornherein nicht als Mittel zur Lückenfeststellung in Betracht, da sie zweifellos nicht Teil des deutschen Gesetzesrechts sind. Nach meiner eigenen Ansicht ist der Maßstab für die Feststellung einer Lücke allerdings weiter und beschränkt sich nicht auf den Plan des Gesetzes, sondern wird von der „gesamten geltenden Rechtsordnung“ gebildet7. Gehören also die UP als solche zur deutschen Rechtsordnung? Das zu behaupten, wäre zumindest äußerst kühn, sind diese Grundsätze doch von Privatpersonen verfaßt worden, ohne daß diese dazu einen Auftrag von einem Organ der Bundesrepublik Deutschland oder auch nur von einer inter- oder übernationalen Organisation von Staaten erhalten hatten. Anders mag sich die Problematik der Rechtsfortbildung insoweit freilich darstellen, wenn man die Zulassung eines Anspruchs auf Vertragsaufhebung aus culpa in contrahendo mit einer Derogation des in § 123 BGB enthaltenen Vorsatzerfordernisses begründet und sich dafür auf objektiv-teleologische Gesichtspunkte stützt8; daß man als Beleg für letztere u. a. auch die UP heranziehen Wiedemann (oben N. 1) 1176 f. Die UNIDROIT Principles werden im folgenden als UP und die Principles of European Contract Law als EP abgekürzt. 6 So Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6 (1991) 373. 7 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz2 (1983) 35 ff. (39) und Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3 (1995) 246 ff.; ähnlich Bydlinski 473. 8 So Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung (1997) 50 ff. (71 ff., 80). 4 5
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Die Stellung der „UNIDROIT Principles“
könnte, erscheint immerhin nicht von vornherein als ausgeschlossen. Wie dem auch sei – die Ansicht Wiedemanns belegt jedenfalls auf das trefflichste die Aktualität und Klärungsbedürftigkeit der Frage nach dem Rechtsquellencharakter der UP und der EP. Demgemäß werde ich auf sie gegen Ende meines Vortrags noch einmal zurückkommen9. [8] II. Einordnung der UNIDROIT Principles und der European Principles in das System der Rechtsquellen 1. Begriffliche Klärungen und theoretische Grundlagen Bevor ich mich meiner eigentlichen Themenstellung des näheren zuwende, sind vorab einige begriffliche und theoretische Klärungen vorzunehmen. Diese können allerdings angesichts der außerordentlichen Komplexität und Schwierigkeit der Thematik nur skizzen- und bruchstückhaften Charakter haben. a) Die Unterscheidung von Rechtsgeltungs-, Rechtserkenntnis- und Rechtsgewinnungsquelle (1) Der Begriff der Rechtsquelle ist mehrdeutig und wird in der Tat in unterschiedlichem Sinne gebraucht. Vor allem bei der Diskussion über den Rechtsquellencharakter des sogenannten Richterrechts hat es sich eingebürgert, zwischen Rechtsgeltungs- und Rechtserkenntnisquelle zu unterscheiden. Nach herkömmlicher Ansicht stellen Gerichtsentscheidungen nur eine Rechtserkenntnisquelle dar10. Das bedeutet, daß aus ihnen lediglich zu entnehmen ist, was rein faktisch als Recht praktiziert wird, nicht dagegen, was richtigerweise praktiziert werden sollte11. Bei dieser Qualifikation stehen Gerichtsurteile insoweit grundsätzlich auf einer Stufe mit Äußerungen der Rechtswissenschaft über den Inhalt des geltenden Rechts, mag auch der Erkenntniswert der letzteren u. U. schwächer sein. Die Sichtweise ist hier also nicht eine normative, sondern eine rein tatsächli-
Vgl. unten III 2 b (1). Repräsentativ Larenz (oben N. 6) 430 ff., und ders., Über die Bindungswirkung von Präjudizien, in: FS Schima (1969) 247 ff. (262); kritisch zu diesem Sprachgebrauch U. Neumann, Positivistische Rechtsquellentheorie und naturrechtliche Methode, Zum Alltagsnaturrecht in der juristischen Argumentation: ARSP Beiheft 37 (1990) 141 ff. (148). 11 Bei dieser Sichtweise entfällt der Einwand von U. Neumann (vorige Note) 148, der Begriff der Rechtserkenntnisquelle stelle ein „hybrides Gebilde“ dar, mit dessen Hilfe „normativ bedeutsame Gesichtspunkte, die auf der Basis eines positivistischen Rechtsbegriffs der Rechtsordnung nicht zu inkorporieren sind, an das positive Recht rückgebunden werden sollen“. 9
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che, der zugrunde gelegte Geltungsbegriff nicht ein spezifisch juristischer, sondern ein soziologischer12. Qualifiziert man Gerichtsurteile dagegen als Rechtsgeltungsquelle – wenn auch nur als subsidiäre13 –, so bedeutet das, daß man diesen grundsätzlich Verbindlichkeit zuerkennt, d. h. daß sie den Rechtsunterworfenen und den Rechtsanwender auf der Ebene des rechtlichen Sollens (unter bestimmten Voraussetzungen) binden und also Befolgung beanspruchen. Die Sichtweise [9] ist hier demnach normativ, der Geltungsbegriff spezifisch juristisch. Meistens wird der Begriff der Rechtsquelle in diesem Sinne, also im Sinne von Rechtsgeltungsquelle gebraucht14, doch wird das oft nicht klargestellt, wodurch mancherlei Verwirrung entsteht. Die juristisch-normative Geltung kann man geradezu als die „spezifische Seinsweise“ des Rechts bezeichnen, wenn man den Begriff des Rechts in einem engen, d. h. das sogenannte soft law ausschließenden Sinn versteht. Diese Kategorie ist m. E. letztlich nicht „hintergehbar“, d. h. weder deduktiv ableitbar noch genau erklärbar; wir setzen sie immer schon voraus, wenn wir Recht (i. e. S.) denken. (2) Die wichtigste Rechtsgeltungsquelle ist nach deutschem Recht selbstverständlich das Gesetz. Nun kann man bekanntlich rechtliche Entscheidungen nicht allein durch Subsumtion unter dessen Normen, sondern häufig nur in einem – oft sehr komplizierten – Argumentationsprozeß gewinnen. Vor allem von Anhängern der Diskurs- und der Argumentationstheorie wird daher mitunter ein außerordentlich weiter Begriff der Rechtsquelle zugrunde gelegt, wonach darunter alles zu verstehen ist, worauf man sich zur Begründung einer rechtlichen Entscheidung berufen kann15. Diese Terminologie halte ich nicht für zweckmäßig. So würden dadurch z. B. die Entstehungsgeschichte und das System des Gesetzes, auf die man sich ja anerkanntermaßen zur Begründung juristischer Entscheidungen berufen kann, rechtsquellentheoretisch auf eine Stufe mit dem Gesetz selbst gestellt. Dadurch wird der Unterschied zwischen Rechtsgeltungsquellen und anderen Faktoren, die im Rahmen der Rechtsgewinnung eine Rolle spielen, aber als solche keine normative Verbindlichkeit aufweisen, in überaus bedenklicher Weise verdunkelt oder gar verwischt. Ich schlage daher vor, solche Faktoren lediglich als Rechtsgewinnungsquelle zu bezeichnen und dadurch sowohl von der Rechtsgeltungs- als auch von der Rechtserkenntnisquelle zu unterscheiden.
12 Vgl. zur Unterscheidung dieser Geltungsbegriffe z. B. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts (1992) 139 ff., 142 ff.; Röhl, Allgemeine Rechtslehre (1994) 298 ff. 13 So z. B. Bydlinski 501 ff.; ihm folgend Larenz/Canaris (oben N. 7) 256 f. 14 Repräsentativ etwa A. Kaufmann, Rechtsphilosophie2 (1997) 101 f. 15 Vgl. vor allem Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation (1983) 59; siehe dazu auch U. Neumann (oben N. 10) 142, und ders., Wandlungen der Rechtsquellentheorie in der neueren Rechtstheorie, in: Rechtsentstehung und Rechtskultur, FS Scholler (1991) 83 ff. (88).
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Sie völlig aus der Rechtsquellenlehre zu verbannen, erschiene mir dagegen nicht sinnvoll. Zum einen umfaßt nämlich das Bild der Rechtsquelle nach seinem Sprachsinn auch den Vorgang der Gewinnung von Recht, da sich auch dabei die Frage nach einem „Ursprung“ stellt, aus dem dieses „entspringt“; und zum anderen liegt hier insofern ein gemeinsames Sachproblem vor, als keineswegs beliebige Faktoren zur Begründung von juristischen Entscheidungen herangezogen und also zum Zwecke der Rechtsgewinnung verwendet werden dürfen, so daß die Prüfung ihres Rechtsquellencharakters eine Abgrenzungsfunktion von zentraler Bedeutung erfüllt. Das zeigt sich bei der vorliegenden Problematik sogar mit besonderer Deutlichkeit. Denn von wesentlichem praktischem wie dogmatischem Interesse ist ja in der Tat, ob [10] und gegebenenfalls auf welche Weise die UP und die EP im Rahmen der Rechtsfindung und Rechtsfortbildung de lege lata berücksichtigt werden können. b) Die Unterscheidung zwischen einem positivistischen und einem nicht-positivistischen Rechtsbegriff Einer Antwort auf diese Frage kann man nur näher kommen, wenn man sich Rechenschaft darüber ablegt, ob man von einem streng positivistischen oder einem – zumindest partiell – nicht-positivistischen Rechtsbegriff ausgeht. Anerkennt man nämlich als Rechtsgeltungs- und als Rechtsgewinnungsquelle mit der traditionellen eng-positivistischen Ansicht nur Gesetz und Gewohnheitsrecht, so liegt es auf der Hand, daß sich in diesem System von vornherein kein Platz für Regelwerke wie die UP und die EP findet. Indessen ist ein solcher engpositivistischer Rechtsbegriff überaus unbefriedigend – und zwar vor allem aus zwei Gründen: einem empirischen und einem verfassungsrechtlichen. (1) Zunächst spricht gegen ihn, daß er in klarem Widerspruch zur – nahezu alltäglichen – Praxis der Rechtsanwender – seien es Richter oder seien es Wissenschaftler – und zu ihrem damit verbundenen Selbstverständnis steht. Es gibt nämlich zweifellos zahlreiche Fälle, in denen der Rechtsanwender zwar nicht mehr eine auf das Gesetz gestützte Lösung für eine bestimmte Rechtsfrage geben kann, in denen er aber andererseits keineswegs sofort zu einer reinen Eigenwertung oder zur freien Rechtssetzung nach Maßgabe seines bloßen Ermessens übergeht – wie das ein enger Positivismus annehmen muß –, sondern sich durchaus noch um eine spezifisch rechtliche Begründung seiner Entscheidung bemüht und eine solche oft auch findet. Man nennt das meistens das „Prinzipienargument“16 oder mitunter auch das „methodologische Argument“17 gegen den (en16 So z. B. Alexy (oben N. 12) 117 ff.; Dreier, Der Begriff des Rechts: NJW 1986, 800 ff. (802 f.); grundlegend Dworkin, Taking Rights Seriously (1977) 22 ff., 39 ff. = Bürgerrechte ernstgenommen (deutsche Übersetzung 1984) 54 ff., 81 ff.
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gen) Positivismus. Wieacker hat hierzu schon vor Jahrzehnten das plastische Schlagwort von der „außergesetzlichen Rechtsordnung“ geliefert18 (ohne damit freilich ein rechtsquellentheoretisch oder methodologisch ausgearbeitetes Konzept zu verbinden). Ähnlich spricht Larenz von der „Rechtsfortbildung über den Plan des Gesetzes hinaus“19. In der Tat pflegen wir nicht nur zahlreiche Argumente zu verwenden, die nicht gesetzlicher Herkunft, gleichwohl aber rechtlicher Natur sind, sondern kennen auch eine Reihe von – z. T. hochkomplexen – Rechtsinstituten, die [11] im Gesetz keine Grundlage finden und dennoch nicht als Frucht eines unzulässigen Contra-legem-Judizierens zu verwerfen sind. Man denke nur an die eingangs erwähnte Lehre von der culpa in contrahendo mit all ihren Verzweigungen bis hin zur – rechtlich durchaus legitimierbaren – sogenannten Sachwalterhaftung oder an die Lehre von der Geschäftsgrundlage. Sogar zwingende Gesetzesnormen überwinden wir mitunter im Wege einer nicht mehr vom Gesetz selbst geleiteten Rechtsfortbildung. Als Beispiel nenne ich die Einschränkung der Anwendung von Formvorschriften bzw. der aus einem Formverstoß resultierenden Nichtigkeitsfolge nach § 125 BGB; wenn wir sagen, eine Partei könne sich hierauf nicht berufen, sofern sie den Formmangel arglistig herbeigeführt hat oder bei der Rückabwicklung des Geschäfts einen nicht herausgabefähigen Vorteil behielte oder die andere Partei eine existenzbeeinflussende irreversible Vertrauensdisposition vorgenommen hat – das sind die drei wichtigsten Argumentationsmuster –, dann können wir uns hierfür gewiß nicht auf irgendwelche Anhaltspunkte im Gesetz berufen – aber wer wollte behaupten, daß es sich deshalb nicht um eine spezifisch rechtliche Begründung handeln würde?! Es entspricht somit in der Tat unserer Erfahrung und trifft daher empirisch gesehen durchaus zu, daß es so etwas wie eine „außergesetzliche Rechtsordnung“ gibt. (2) Darüber hinaus findet dieser den engen Positivismus überschreitende Ansatz eine verfassungsrechtliche Stütze in Art. 20 III GG, wonach die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ gebunden ist. Gewiß mögen die Verfasser des Grundgesetzes bei dieser Formulierung in erster Linie an die korrigierende Funktion gedacht haben, die das Recht gegenüber dem Gesetz in den Fällen „gesetzlichen Unrechts“ haben kann20 – etwa im Sinne der berühmten Radbruch’schen Formel. Außerdem hat das Recht nach Art. 20 III GG aber auch eine ergänzende Funktion So Bydlinski 289 ff.; vgl. auch ders., Fundamentale Rechtsgrundsätze (1988) 26 ff. Wieacker, Gesetz und Richterkunst, Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung (1957); siehe dazu vertiefend Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992) 69 ff. 19 Vgl. Larenz/Canaris (oben N. 7) 232 ff. 20 Im verfassungsrechtlichen Schrifttum beherrscht dieser Aspekt bei der Frage, welche Bedeutung dem „Recht“ in bezug auf das „Gesetz“ zukommt, die Interpretation meist gänzlich, vgl. z. B. Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz (Loseblattslg.; Stand: 1980) Art. 20 Abschn. VI Rz. 53; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Handbuch des Staatsrechts, hrsg. von Isensee/Kirchhof I (1987) § 24 Rz. 41; Ossenbühl, Gesetz und Recht, ebd. III (1988) § 61 Rz. 18. 17 18
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gegenüber dem Gesetz21. So hat denn auch das Bundesverfassungsgericht im berühmten Soraya-Beschluß ausgeführt, daß „das Recht nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch ist [und daß] gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen kann“22. (3) Geht man von einer solchen den engen Positivismus überschreitenden Position aus, so sind zumindest unter dem Aspekt der Rechtsgewinnungsquelle grundsätzlich auch Argumente und Begründungen relevant und berücksichtigungsfähig, die zwar nicht gesetzlicher Herkunft, gleichwohl aber [12] rechtlicher Natur sind. Allerdings sind ihre Art und die Gründe für ihren spezifisch rechtlichen Charakter leider noch weitgehend unerforscht, so daß wir davon nur eine sehr ungenaue, ja häufig nur eine rein intuitive Vorstellung haben. Immerhin kann man sagen, daß dies der Bereich ist, in dem wir von einer „objektiv-teleologischen“ Argumentation oder auch von den Geboten „praktischer Rechtsvernunft“ zu sprechen pflegen. (4) Rechtsquellentheoretisch sind dabei allerdings zwei Beschränkungen nachdrücklich zu betonen. Zum ersten ist es selbstverständlich und wohl auch unstreitig, daß Gesetz und Gewohnheitsrecht grundsätzlich, d. h. abgesehen von den Fällen gesetzlichen Unrechts, Vorrang vor der „außergesetzlichen Rechtsordnung“ haben und daß diese daher nicht in Widerspruch zu jenen treten darf. Zum zweiten legitimiert sich die Heranziehung von außergesetzlichen Kriterien nur aufgrund der ihnen selbst innewohnenden Überzeugungskraft, die demgemäß entsprechend groß sein muß, zumal insoweit häufig nicht mehr als ein bloßes Evidenzurteil möglich ist. Für sie gilt daher der Grundsatz „veritas non auctoritas facit legem“, während für den Bereich des gesetzlichen Rechts genau umgekehrt der Grundsatz „auctoritas non veritas facit legem“ gilt23. (5) Eine andere Frage ist, ob es zusätzlich zu außergesetzlichen rechtlichen Gesichtspunkten und Argumenten im Sinne einer (bloßen) Rechtsgewinnungsquelle auch noch außergesetzliche Rechtsgrundsätze oder Rechtsprinzipien gibt, die den Rang einer Rechtsgeltungsquelle haben. Ich neige seit jeher dazu, das zu bejahen24, kann das hier jedoch nicht näher ausführen, weil das den Rahmen meines Themas vollends sprengen würde. Daher hebe ich lediglich hervor, daß auch und erst recht für solche Rechtsgrundsätze die Maxime „veritas non auctoritas facit legem“ gilt. Sie werden also – jedenfalls der Idee nach – grundsätzlich nicht erfunden sondern gefunden, nicht gesetzt sondern erkannt, mag auch der Prozeß ihrer Konkretisierung hochkomplex, in den Lauf der Geschichte eingebunden und nicht völlig frei von volitiven Elementen sein. Vgl. Canaris (oben N. 7) 37 f. mit N. 95; Neuner (oben N. 18) 47 ff. BVerfG 14.2. 1973, BVerfGE 34, 269 ff. (287). 23 Dieser Satz geht bekanntlich zurück auf Hobbes, Leviathan (1651) Cap. XXVI und bildet seither eines der Leitthemen der Rechts- und Staatsphilosophie. 24 Vgl. Canaris (oben N. 7) 106 ff. 21 22
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c) Beschränkung der Thematik unter dem Gesichtspunkt der innerstaatlichen Anwendbarkeit der UNIDROIT Principles und der European Principles Die Rechtsquellenlehre steht in engster Nähe zur Problematik des Verhältnisses von Rechtsbegriff und Staatlichkeit. Indessen kann und muß ich mich hier auf diese intrikate Thematik nicht einlassen und etwa die Frage erörtern, ob und in welchem Sinn z. B. das Völker- oder das Kirchenrecht „Recht“ darstellen, obgleich ihnen das Element der Staatlichkeit fehlt. Ich klammere die- [13] ses Problem vielmehr aus,
indem ich meine Fragestellung beschränke und lediglich untersuche, ob es sich bei den UP und den EP um innerstaatlich anwendbares Recht handelt. Denn darin liegt ja – jedenfalls nach meinem Verständnis – das relevante Problem, wenn man deren Stellung im System der Rechtsquellen thematisiert: Man will wissen, ob eine rechtsquellentheoretische Grundlage dafür besteht, diese Grundsätze oder Regeln in irgendeiner Weise im innerstaatlichen Recht zur Anwendung zu bringen. 2. Allgemeine Folgerungen für die rechtsquellentheoretische Qualifikation der UNIDROIT Principles und der European Principles Auf der Grundlage dieser begrifflichen und theoretischen Vorabklärungen lassen sich nun ziemlich einfach und kurz einige allgemeine Folgerungen für die Stellung der UP und der EP im System der Rechtsquellen ziehen. a) Das Fehlen der Qualität als Rechtsgeltungsquelle (1) Klar ist zunächst, daß diese Regelwerke nicht den Charakter einer Rechtsgeltungsquelle haben. Hinsichtlich der positivistischen Dimension des Rechtsbegriffs folgt das ohne weiteres daraus, daß sie den sogenannten „test of pedigree“25 nicht bestehen. Sie lassen sich nämlich innerhalb des Stufenbaus der Rechtsordnung26 nicht auf eine Delegation der Befugnis zur Normsetzung durch ein dafür kompetentes Organ in dem dafür vorgesehenen Verfahren zurückführen, so daß der Satz „auctoritas facit legem“ auf sie nicht zutrifft27. Die positivistische Sichtweise bildet dabei auch dann, wenn man wie ich eine „außergesetzliche Rechtsordnung“ anerkennt, den selbstverständlichen AusVgl. dazu Dworkin (oben N. 16) 39 ff. (deutsche Ausgabe 81 ff.). Grundlegend Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 228 ff.; eine gute Darstellung dieser Lehre gibt z. B. Röhl (oben N. 12) 293 ff. 27 Dabei ist mit „auctoritas“ natürlich eine institutionelle Autorität im Sinne einer Kompetenz zur Normsetzung gemeint, die mit der persönlichen und fachlichen Autorität der Verfasser der UP und der EP keinesfalls verwechselt werden darf. 25 26
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gangspunkt; denn letztere ist bei einem normativen Verständnis des Geltungsbegriffs – um das es hier ja geht – wie gesagt28 nur ergänzend und subsidiär, d. h. nachrangig heranzuziehen, zumal wenn wie hier die Frage nach der innerstaatlichen Anwendbarkeit eines Regelwerks im Mittelpunkt der Überlegungen steht. Insoweit aber gibt es zur Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung keine Alternative, die auch nur annähernd die gleiche Leistungsfähigkeit aufweist29. [14] (2) Auch unter dem ergänzenden Aspekt einer nicht-positivistischen Sichtweise bilden die UP und die EP als solche keine Rechtsgeltungsquelle. Zwar mögen in ihnen einzelne Regeln oder Grundsätze von so hoher Überzeugungskraft enthalten sein, daß man ihnen nach dem Satz „veritas facit legem“ den Rang einer voroder außergesetzlichen Rechtsquelle in dem vorhin30 angedeuteten Sinne zusprechen kann, doch wäre das dann allein auf diese Überzeugungskraft selbst und nicht auf die Tatsache, daß sie in eines der beiden Regelwerke aufgenommen worden sind, zurückzuführen und würde außerdem allenfalls für einige wenige Regeln oder Grundsätze, keinesfalls aber für die UP oder die EP im ganzen zutreffen. (3) Ähnliches gilt für deren Verhältnis zur „lex mercatoria“. Dabei lasse ich die Frage, ob diese überhaupt als Rechtsgeltungsquelle in Betracht kommt, hier dahingestellt, um die Thematik nicht unnötig mit dieser Kontroverse zu belasten. Auch wenn man nämlich diese Frage entgegen der (m. E. im Ergebnis zutreffenden) h. L.31 bejahen würde, folgt daraus für die UP und die EP doch wiederum allenfalls, daß sie an dieser – also einer fremden! – Geltung teilhaben, nicht aber, daß sie eine solche aus sich selbst heraus entfalten. Außerdem käme eine derartige – abgeleitete oder mittelbare – Geltung wiederum nicht für die UP oder die EP als ganze, sondern allenfalls für einen Teil der in ihnen enthaltenen Regeln und Grundsätze in Betracht. Zwar mag es sein, daß die UP und die EP wesentliche Anhaltspunkte für den Inhalt der „lex mercatoria“ zu geben vermögen, doch geht es entschieden zu weit, die UP geradezu als „authentischen Ausdruck dessen, was gemeinhin ,lex mercatoria‘ genannt wird,“ zu bezeichnen32; denn eine authentiVgl. oben II 1 b (4). Daß diese Lehre überholt sei, wie jüngst Robbers, Für ein neues Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit: NJW 1998, 935–941 (937 f.) behauptet hat, trifft nicht zu, vgl. dazu näher Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999) 15 N. 18. 30 Vgl. oben II 1 b (5). 31 Vgl. z. B. v. Bar, Internationales Privatrecht I (1987) Rz. 103 ff.; Münchener Kommentar zum BGB3 (-Sonnenberger) X: EGBGB/IPR (1998) Einl. IPR Rz. 230 ff., 241 ff. (zitiert: Münch.Komm.[-Bearb.]); repräsentativ für die Gegenposition etwa U. Stein, Lex mercatoria – Realität und Theorie (1995) 211 ff.; ihr folgend Teubner, Die unmögliche Wirklichkeit der lex mercatoria: Eine Kritik der théorie ludique du droit, in: FS Zöllner (1999) 565–588 (575 ff., 578); vgl. ferner Berger, Formalisierte oder „schleichende“ Kodifizierung des transnationalen Wirtschaftsrechts (1996) 38 ff., 97 ff. 32 So aber Bonell 287; Bonell hat seinen Standpunkt freilich inzwischen abgeschwächt und modifiziert, so daß jetzt kein gravierender Unterschied gegenüber der von mir vertretenen 28 29
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sche Auslegung kann nur von dem Ver- [15] fasser einer Regelung stammen, und das sind die Verfasser der UP hinsichtlich der „lex mercatoria“ zweifellos nicht. Im übrigen besteht zwischen dieser und den beiden Regelwerken insofern ein wesentlicher struktureller Unterschied, als für die „lex mercatoria“ eine erhebliche Unschärfe und eine weitgehende Wandelbarkeit charakteristisch sind – Eigenschaften, welche die UP und die EP gerade nicht aufweisen und die daher deren Identifikation mit der „lex mercatoria“ im Wege stehen33. Wenn also die EP als „a modern formulation of a lex mercatoria“ oder als „a modern European lex mercatoria“ bezeichnet werden34, so mag man darin den Ausdruck des Ziels der Verfasser sehen, daß die EP die Funktionen der „lex mercatoria“ übernehmen könnten und sollten, doch lassen sich daraus keine Konsequenzen für die Beantwortung der Frage nach dem Rechtsquellencharakter der EP ziehen – was mit dieser Bemerkung ersichtlich auch gar nicht beabsichtigt ist. (4) Unter keinem der beiden in Betracht kommenden Aspekte – dem positivistischen und dem (ergänzenden) nicht-positivistischen – haben wir es also mit einer Rechtsgeltungsquelle zu tun. Das war den Verfassern der UP und der EP denn auch durchaus bewußt35. b) Die Tauglichkeit als Rechtserkenntnisquelle und ihre Grenzen Als Rechtserkenntnisquelle lassen sich die beiden Regelwerke dagegen grundsätzlich durchaus heranziehen, weil – und soweit – sie auf rechtsvergleichender Basis erarbeitet worden sind. Allerdings beschränken sie sich nicht darauf, ledigAnsicht bestehen dürfte, vgl. Bonell, Restatement 211–213. Sehr pointiert jüngst demgegenüber Belser, Die Inhaltskontrolle internationaler Handelsverträge durch internationales Recht, Ein Blick auf die Schranken der Vertragsfreiheit nach UNIDROIT Principles: Jb. Junger Zivilrechtswissenschaftler 1998 (1999) 73 ff. (74), die in der lex mercatoria „eine dritte Rechtsordnung jenseits von nationalem Recht und Völkerrecht“ sieht und meint, durch die Veröffentlichung der UP habe sich hinsichtlich der Frage nach „Existenz, Rechtsqualität und Inhalt dieses Rechts des internationalen Handels, [die] lange Zeit umstritten waren, die Situation grundlegend verändert“, obwohl auch sie in den UP lediglich „eine private Zusammenstellung von Vertragsrecht, der an sich keine Rechtskraft zukommt“, sieht (S. 76); wesentlich vorsichtiger, aber auch unbestimmter Lando 578, nach dessen Ansicht „the establishment of general principles of contract law will provide a much needed contribution to the European lex mercatoria“. 33 Vgl. Michaels 616 f.; siehe dazu auch Berger (oben N. 31) 192; dagegen sieht es Bonell gerade als Aufgabe der UP an, den Einwand zu entschärfen, daß es der lex mercatoria an einem hinreichend präzisen Inhalt fehle, vgl. Bonell, Die UNIDROIT-Prinzipien der internationalen Handelsverträge, Eine neue Lex Mercatoria?: ZRvgl. 1996, 152 ff. (157). 34 So Lando/Beale S. XVIII. 35 Vgl. Drobnig 1151 („unverbindliche Grundsätze“); Bonell 282 („keine bindende Kraft“); Lando 585 („non-binding principles“); Hartkamp, Principles of Contract Law, in: Towards a European Civil Code, hrsg. von Hartkamp/Hesselink/Hondius/du Perron/Vranken (1994) 37–50 (40) („neither the UP nor the EP are meant to become binding law“).
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lich rein deskriptiv wiederzugeben, was in allen zur Vergleichung herangezogenen Rechtsordnungen gewissermaßen als gemeinsamer Grundbestand von Regeln gilt. Vielmehr haben die Verfasser mitunter der Lösung einer bestimmten Rechtsordnung oder eines Rechtskreises den Vorzug vor einer anderen gegeben36 und hin und wieder auch eigenständige neuartige Lösungen entwickelt37. Das schränkt zwar die Brauchbarkeit der beiden Regelwerke als Rechtserkenntnisquelle ein, doch sollte man die daraus fol- [16] genden Schwierigkeiten nicht überschätzen. Daß sich die Regelwerke z. B. hinsichtlich des Leistungsstörungsrechts nicht am deutschen Recht orientieren und hinsichtlich des Vertrags zugunsten Dritter mit dem englischen Recht unvereinbar sind, liegt ja auf der Hand. Neuartige Lösungen werden dem halbwegs kundigen Leser allein schon wegen ihrer Neuartigkeit als solche auffallen. Hinsichtlich zahlreicher Lösungen wird man daher in der Tat davon ausgehen können, daß sie so etwas bilden wie den „common core“ derjenigen Rechtsordnungen, auf deren Grundlage die beiden Regelwerke erarbeitet worden sind38. Freilich darf man das wegen der genannten Besonderheiten nicht ohne weiteres unterstellen, sondern muß es im Zweifelsfall überprüfen. Die EP erleichtern das, indem sie jeweils rechtsvergleichende „Notes“ hinzufügen. In den UP ist dagegen bewußt auf jegliche rechtsvergleichenden Hinweise verzichtet worden. Das ist zwar verständlich wegen des Bemühens, deren transnationalen Charakter zu betonen, andererseits aber doch bedauerlich, weil es die Klärung der Frage erschwert, ob und gegebenenfalls in welcher Breite die einzelnen Lösungen eine Entsprechung in nationalen Rechtsordnungen finden und daher auf einem mehr oder weniger breiten faktischen Konsens zwischen diesen beruhen. c) Die Möglichkeit der Qualifikation als Rechtsgewinnungsquelle Keine durchgreifenden rechtsquellentheoretischen Bedenken bestehen bei der hier zugrunde gelegten Konzeption dagegen, die UP und die EP als Rechtsgewinnungsquelle in dem vorhin39 herausgearbeiteten, wenngleich sehr bescheidenen Sinne zu qualifizieren. Denn daß es sich dabei um spezifisch rechtliche Lösungen und Wertungen und damit grundsätzlich um taugliches Material für die Arbeit an der „außergesetzlichen Rechtsordnung“ handelt, steht außer Zweifel. Relevanz erlangen sie dabei freilich wiederum nicht oder allenfalls in geringem Vgl. Drobnig 1152 f.; Lando 579, 584; Lando/Beale S. XVII. Vgl. Drobnig 1151; Bonell 281; Lando 579; Lando/Beale S. XX. 38 Von den EP als „common core of the European Systems“ sprechen ausdrücklich Lando/Beale S. XVIII, freilich mit dem – in gewisser Weise relativierenden – Zusatz „or a progressive development from that common core“; kritisch dazu Michaels 587 f., 614. 39 Vgl. oben II 1 a (2). 36 37
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Maße durch die bloße Tatsache ihrer Zugehörigkeit zu den beiden Regelwerken, sondern im wesentlichen durch die ihnen selbst innewohnende Überzeugungskraft, also nicht durch auctoritas, sondern durch veritas. Das liegt ganz auf der Linie des von Drobnig im Anschluß an Kötz geprägten Satzes, daß sie nicht ratione imperii, sondern vielmehr imperio rationis gelten40. [17] Allerdings sei vorsorglich noch einmal betont, daß sich diese Ansicht nur vertreten läßt, wenn man von einem – teilweise – nicht-positivistischen Rechtsbegriff ausgeht. Aber das tut man zwangsläufig auch schon dann, wenn man der Rechtsvergleichung überhaupt irgendeinen Stellenwert im Rahmen der Arbeit am geltenden Recht zuerkennt41 – und daß sie diesen hat, wird heute zutreffend ganz überwiegend angenommen42, auch wenn höchst umstritten und in der Tat überaus zweifelhaft ist, wie groß ihr Gewicht dabei ist43. Darüber hinaus kann man auch von einem positivistischen Standpunkt aus im vorliegenden Zusammenhang die Anregung Basedows fruchtbar machen, bestimmte Regelungen und Grundwertungen der UP und der EP an das Gemeinschaftsrecht rückzubinden44. Dadurch wird nämlich nicht nur die Wahrscheinlichkeit ihrer faktischen Akzeptanz erhöht, sondern zugleich ein – freilich nur in Grenzen gangbarer – Weg für ihre (mittelbare) Verankerung im geltenden, d. h. positiven Recht aufgezeigt. III. Konsequenzen für die praktische Anwendbarkeit der UNIDROIT Principles und der European Principles Juristische Theorie ist kein Selbstzweck, sondern dient u. a. der Erfüllung praktischer Aufgaben45. Deswegen seien nunmehr einige Konsequenzen für eine eventuelle Anwendung der UP und der EP im Rahmen des geltenden Rechts, also de lege lata gezogen. 40 Vgl. Drobnig 1151; Kötz, Gemeineuropäisches Zivilrecht, in: FS Zweigert (1981) 481 ff. (492); ebenso Hartkamp (oben N. 35) 43; ähnlich auch Bonell 282 f.; Lando 584; Boele-Woelki, Principles and Private International Law, The UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts and the Principles of European Contract Law – How to Apply them to International Contracts: Unif. L. Rev. 1996, 652–678 (657 f.); z. T. kritisch Michaels 617–619. 41 Das wird richtig gesehen von Bydlinski 386. 42 Vgl. nur Bydlinski 385 ff. 43 Zu dem damit angesprochenen Verhältnis von Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik vgl. eingehend Canaris, Theorienrezeption und Theorienstruktur, in: Wege zum japanischen Recht, FS Kitagawa (1992) 59 ff. (74 ff.). 44 Basedow, The Renascence of Uniform Law: European Contract Law and Its Components: Leg. Stud. 18 (1998) 121 ff. (139 ff.). 45 Vgl. dazu eingehend Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien: JZ 1993, 377 ff.
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1. Die Anwendung kraft Vereinbarung der Parteien Dabei ist in erster Linie an eine Anwendung aufgrund einer entsprechenden Parteivereinbarung zu denken. Zwar kommen die beiden Regelwerke von vornherein nicht als objektives Vertragsstatut in Betracht 46, weil sie keine [18] Rechtsgeltungsquelle darstellen, doch hindert das andererseits die Parteien eines Vertrages selbstverständlich grundsätzlich nicht, ihre Geltung zu vereinbaren. Soweit die einschlägige lex lata das zuläßt, bewegt man sich dabei rechtsquellentheoretisch in völlig orthodoxen Bahnen, die auch der strikteste Positivist ohne Bedenken beschreiten kann, ja muß; denn die durch die Privatautonomie eröffneten rechtlichen Regelungsmöglichkeiten fügen sich ohne Schwierigkeiten in die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung ein47, da sie auf einer Kompetenz der Parteien zur Setzung von Rechtsfolgen beruhen48 – sei es, daß man diese auf eine Ermächtigung oder Delegation durch das objektive Recht zurückführt49, oder sei es, daß man mit der herrschenden und vorzugswürdigen Ansicht von einer „Anerkennung“ durch die Rechtsordnung ausgeht50. Diskussionsbedürftig ist demgemäß lediglich, was die vertragliche Einbeziehung der UP oder der EP des näheren bedeutet. a) Die Rechtslage vor staatlichen Gerichten Was insoweit zunächst die Rechtslage vor den staatlichen Gerichten angeht, so wird überwiegend angenommen, daß eine derartige Parteivereinbarung lediglich im Sinne einer materiellrechtlichen Verweisung und nicht im Sinne einer
46 Das dürfte unstreitig sein, vgl. z. B. Boele-Woelki (oben N. 40) 672; Wichard 294; Michaels 603; Drobnig, The UNIDROIT Principles in the Conflict of Laws: Unif. L. Rev. 1998, 385 ff. (392 f.) (zitiert: The UNIDROIT Principles). 47 Das wird zutreffend gesehen z. B. von Röhl (oben N. 12) 297; Adomeit, Gestaltungsrechte, Rechtsgeschäfte, Ansprüche (1969) 17 f. 48 Das kommt treffend in Art. 1134 des französischen Code civil zum Ausdruck, wenn es dort heißt: „Les conventions légalement formées tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faites“; in der deutschen Dogmatik hat dieser Gedanke seine beste theoretische Ausformung in der Lehre vom Rechtsgeschäft als Geltungserklärung gefunden, vgl. grundlegend Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts (1930) 34 ff. 49 Vgl. z. B. Röhl (oben N. 12) 238; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft4 (1956) 413 f.; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts15 (1959) § 49 I mit N. 2; Oftinger, Die Vertragsfreiheit, in: Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht (1948) 322. 50 Vgl. z. B. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts3 II (1979) § 1, 2 a. E.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht: AcP 184 (1984) 201 ff. (218 f.) mit weiteren Nachw.; F. Kirchhof, Private Rechtssetzung (1987) 138 ff. (175 f.); Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen (1995) 6 ff.
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kollisionsrechtlichen Wahl möglich ist51. Das bedeutet im wesentlichen, daß die Parteien sich nicht vollständig der Geltung eines bestimmten nationalen Rechts entziehen können und daß demgemäß die zwingenden [19] Vorschriften derjenigen Rechtsordnung anwendbar bleiben, die nach dem objektiven Vertragsstatut maßgeblich ist. Dieser Ansicht ist zuzustimmen. Für sie spricht schon der Wortlaut von Art. 27 I EGBGB, wonach der Vertrag dem von den Parteien gewählten „Recht“ unterliegt. Denn als „Recht“ wird in der deutschen Gesetzessprache üblicherweise nur objektives Recht im Sinne einer Rechtsgeltungsquelle und nicht auch die Abfassung von Regeln durch Privatpersonen bezeichnet; so geht denn auch Art. 27 EGBGB in seinem Absatz 3 mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß es sich um das Recht eines „Staates“ handelt. Aus dem Wortlaut des zugrunde liegenden EVÜ ergibt sich nichts Gegenteiliges. Vor allem aber erscheint allein diese Auslegung teleologisch gesehen als überzeugend. Man würde nämlich Mißbrauchsgefahren Tor und Tür öffnen, wenn man es den Parteien, die ja immerhin vor einem staatlichen Gericht Rechtsschutz suchen, freistellen würde, ihren Vertrag jeder staatlichen Rechtsordnung zu entziehen und diesen völlig einem rein privaten Regelwerk zu unterstellen. Man darf sich dabei den Blick nicht trüben lassen, indem man ihn auf die beiden hier zur Diskussion stehenden Regelwerke beschränkt. Denn wenn man für diese eine kollisionsrechtliche Wahl eröffnet, muß man das folgerichtig grundsätzlich auch für andere von Privatpersonen verfaßte Regelwerke tun – und nichts gewährleistet, daß diese die gleiche inhaltliche Qualität wie die UP und die EP aufweisen und daß ihre Verfasser über ähnliche fachliche Fähigkeiten wie diejenigen dieser beiden Regelwerke verfügen; zwischen Meisterwerken und Machwerken läßt sich hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 27 I EGBGB nicht differenzieren. Ebensowenig kann man darauf abstellen, ob das fragliche Regelwerk seinem Inhalte nach ein hinreichendes Maß an Ausgewogenheit besitzt oder nicht52. Zum einen geriete man dadurch nämlich zwangsläufig in einen vitiosen Zirkel, weil der Maßstab für eine solche Prüfung durch ein staatliches (!) Gericht folgerichtig nur eine staatliche Rechtsordnung sein könnte und man also im Ergebnis doch wieder bei einer nur materiellrechtlichen Verweisung landen würde; und zum anderen würde eine solche Lösung wegen ihrer auf das jeweilige Regelwerk bezogenen, also nicht abstrakt-generellen, sondern individuell-konkreten 51 Vgl. van Houtte, The UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts: Int. Bus. L.J. 2 (1996) 1 ff. (9); Kropholler, Internationales Privatrecht3 (1997) 413; Drobnig, The UNIDROIT Principles (oben N. 46) 388 f.; Michaels 597; Münch.Komm.(-Sonnenberger) Rz. 234 a. E. (331); Münch.Komm.(-Martiny) Art. 27 Rz. 30 (oben N. 31); a. A. Wichard 282 ff; BoeleWoelki, Die Anwendung der UNIDROIT-Principles auf internationale Handelsverträge: IPRax 1997, 161 ff. (166). 52 In dieser Richtung aber Wichard 286 f.
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Betrachtungsweise zu untragbarer Rechtsunsicherheit führen. Ausschlaggebend kann demgemäß in der Tat allein das Kriterium sein, daß die Verfasser bloße Privatpersonen sind und also keine rechtsquellentheoretisch fundierte Kompetenz zur Normsetzung besitzen. b) Die Rechtslage vor Schiedsgerichten Anders dürfte die Rechtslage vor Schiedsgerichten sein. Allerdings folgt das wohl nicht schon aus § 1051 I ZPO, wonach „das Schiedsgericht die Strei- [20] tigkeit in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften zu entscheiden hat, die von den Parteien als auf den Inhalt des Rechtsstreits anwendbar bezeichnet worden sind“. Denn Regelwerke von bloßen Privatpersonen unterfallen nicht dem Begriff der „Rechtsvorschriften“, und auch nicht dem im zugrunde liegenden Modellgesetz verwendeten Ausdruck „rules of law“. Außerdem gilt auch hier, daß man den Parteien nicht die Wahl einer völlig beliebigen Regelung überlassen kann, weil der Staat an dem Schiedsspruch zumindest durch die Möglichkeit der gerichtlichen Aufhebung und auf der Ebene der Vollstreckung mittelbar beteiligt ist. Allerdings sollen nach der Regierungsbegründung als „Rechtsvorschriften“ im Sinne von § 1051 I ZPO „auch solche, die auf internationaler Ebene erarbeitet worden sind“, anzusehen sein53, womit in der Tat Regelwerke wie z. B. die UP gemeint sein dürften54, doch kann dieser Bemerkung keine ausschlaggebende Bedeutung für die Auslegung des Gesetzes zuerkannt werden, zumal die Verfasser der Regierungsbegründung diese Problematik ersichtlich nicht hinreichend durchdacht haben55, wähnen sie sich doch in Übereinstimmung mit Art. 27 I 1 EGBGB, wo wie soeben dargelegt nur auf staatliches Recht Bezug genommen wird. Indessen können die Parteien das Schiedsgericht gemäß § 1051 III ZPO ermächtigen, „nach Billigkeit zu entscheiden“. Dann muß es ihnen grundsätzlich auch freistehen, dem Schiedsgericht Regeln vorzugeben, an denen es seine Billigkeitsentscheidung ausrichten soll, und dann dürfen dies folgerichtig auch Regeln sein, die von Privatpersonen verfaßt worden sind. Allerdings sind diese dann konsequenterweise für das Schiedsgericht nur verbindlich, sofern und soweit sie der Billigkeit entsprechen, und unterliegen demgemäß einer entsprechenden Kontrolle durch das Schiedsgericht, das dabei freilich nicht die Maßstäbe einer bestimmten nationalen Rechtsordnung anzulegen, sondern auf der Grundlage „allgemeiner“ Rechtsgrundsätze zu entscheiden hat; die UP und die EP haben eine solche InVgl. BT-Drucks. 13/5274, S. 52. So auch Solomon, Das vom Schiedsgericht in der Sache anzuwendende Recht nach dem Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts: RIW 1997, 981 ff. (982). 55 Vgl. auch die Kritik von Solomon (vorige Note) 982 f. 53 54
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haltskontrolle gewiß nicht zu fürchten, doch bleibt deren Möglichkeit unverzichtbar, um zu verhindern, daß sich die Parteien im Wege einer kollisionsrechtlichen Wahl irgendwelchen Machwerken unterwerfen können, die unbillige Regelungen enthalten. Für das Verfahren vor Schiedsgerichten ist somit die Vereinbarung der UP oder der EP im Wege einer rein kollisionsrechtlichen Wahl möglich56. [21] c) Die Problematik einer Anwendbarkeit des AGB-Gesetzes Während demgemäß vor Schiedsgerichten die Vereinbarung der UP oder der EP die Parteien grundsätzlich von den Schranken des nationalen Rechts befreit, ist im Rahmen von Art. 27 I 1 EGBGB wie dargelegt lediglich eine materiellrechtliche Verweisung möglich. Wie gravierend sich dieser Unterschied auswirken kann und welch mißliche Konsequenzen sich im letzteren Falle – und nur in diesem, also nur bei einem Rechtsstreit vor einem staatlichen Gericht – ergeben können, sei an der Problematik einer Anwendbarkeit des AGB-Gesetzes andeutungsweise veranschaulicht (wobei natürlich die Prämisse zu machen ist, daß das deutsche Recht objektives Vertragsstatut ist). (1) Eine (nur) materiellrechtliche Verweisung auf die UP oder die EP führt zu der Möglichkeit bzw. Gefahr ihrer Überprüfung am AGB-Gesetz. Daß diese nicht von einer der Parteien, sondern von neutralen Dritten vorformuliert sind, steht nicht entgegen, da § 1 I AGBG auch in einem solchen Fall anwendbar ist57, wie sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift ergibt. Kommt nun noch hinzu, daß das betreffende Regelwerk von einer der Parteien in den Vertrag eingeführt worden ist, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 1 I AGBG erfüllt. Allerdings wird bei internationalen Handelsverträgen häufig anzunehmen sein, daß sich beide Parteien übereinstimmend auf das Regelwerk bezogen haben und es also an dem Merkmal des einseitigen „Stellen“ fehlt58. Gegenüber Verbrauchern wird nach § 24 a Nr. 1 AGBG allerdings vermutet, daß die Bedingungen vom Unternehmer gestellt sind, was für die EP durchaus praktische Bedeutung erlangen kann, und auch im übrigen kann es selbstverständlich vorkommen, daß eine Partei diese oder die UP einseitig „stellt“, so daß die Voraussetzungen von § 1 I AGBG erfüllt sind. Rechtsquellentheoretisch ergibt sich daraus die bemerkenswerte Einsicht, daß die UP und die EP als Allgemeine Geschäftsbedingungen zu qualifizieren sein können, wenn ihre Geltung von den Parteien vereinbart wird. Sonderlich überra56 Das ist im Ergebnis ganz herrschende Lehre, vgl. z. B. Wichard 276 ff.; van Houtte (oben N. 51) 9 f.; Drobnig, The UNIDROIT Principles (oben N. 46) 89 f.; Michaels 598. 57 Vgl. nur Ulmer/Brandner/Hensen, Kommentar zum AGB-Gesetz8 (1997) § 1 Rz. 21. 58 So mit Recht Stoll 655.
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schend ist das freilich nicht; so werden z. B. auch die von der Internationalen Handelskammer in Paris aufgestellten Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumentenakkreditive von der h. L. mit Recht als Allgemeine Geschäftsbedingungen angesehen59. Freilich können die Konsequenzen praktisch überaus unerfreulich, ja kontraproduktiv sein, ist doch um eine Inhaltskontrolle am Maßstab der §§ 9 ff. AGBG schwerlich herumzukommen, was sicher nicht dem Parteiwillen und ebensowenig dem Sinn und der Funktion dieser beiden Regelwerke entspricht. Der Ausweg, sich nach dem Vorbild der Rechtsprechung des BGH [22] zu den VOB und den ADSp auf eine – im praktischen Ergebnis gewiß harmlose und daher tolerierbare – Kontrolle der Regelwerke im ganzen zu beschränken und diese nicht auf die einzelnen Bestimmungen zu erstrecken, dürfte aus mancherlei Gründen nicht gangbar sein60 und scheidet für die Klauselverbote der §§ 10 und 11 AGBG ohnehin von vornherein aus61. (2) Zu welch mißlichen Ergebnissen eine Inhaltskontrolle am Maßstab des AGB-Gesetzes führen könnte, sei an einigen Beispielen verdeutlicht. So sehen z. B. sowohl die UP als auch die EP für Vertragsverletzungen grundsätzlich eine verschuldensunabhängige Haftung vor, während das BGB insoweit bekanntlich vom Verschuldensprinzip beherrscht wird. Der BGH sieht in diesem einen „wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung“ im Sinne von § 9 II Nr. 1 AGBG62 und läßt demgemäß eine Abweichung z. B. unter dem Gesichtspunkt des Sphärengedankens grundsätzlich nicht zu63. Daß bei internationalen Handelsverträgen eine Leitbildfunktion des dispositiven deutschen Gesetzesrechts überhaupt abzulehnen sei64, wird man schwerlich annehmen können; denn wenn deutsches Recht als Vertragsstatut zur Anwendung kommt – und das ist ja ex praemissione der Fall –, darf man nicht § 9 AGBG von vornherein seines wichtigsten Teils durch eine generelle Außerkraftsetzung von Abs. 2 Nr. 1 berauben, weil sich eine so weitreichende teleologische Reduktion methodologisch nicht überzeugend begründen läßt. Immerhin ist jedoch nach § 9 II AGBG eine Unangemessenheit nur „im Zweifel“ anzunehmen. Ein gesetzeskonformer Ausweg könnte daher darin liegen, hier eine Widerlegung dieser Auslegungsregel im Hinblick auf das Ziel der internationalen Rechtsvereinheitlichung und auf die weitgehende Übereinstimmung der betreffenden Regelungen der UP und der EP mit 59 Vgl. Canaris, Bankvertragsrecht3 (1988) Rz. 927 mit Nachw.; Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch29 (1995) 2. Teil Abschn. (11) Rz. 2. 60 Vgl. näher Canaris (vorige Note) Rz. 929 zum Parallelproblem bei den ERA; a. A. Stoll 654. 61 Vgl. z. B. Palandt(-Heinrichs), Bürgerliches Gesetzbuch58 (1999) § 9 Rz. 11. 62 Vgl. nur BGH 25.6.1991, BGHZ 115, 38 (42). 63 Vgl. BGH 18.3.1997, BGHZ 135, 116 (118 f.). 64 So Stoll 657 und 662.
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dem UN-Kaufrecht anzunehmen und auf diese Weise die Unwirksamkeit zu vermeiden. Noch besser erscheint mir, hier von vornherein das CISG – das ja geltendes deutsches Recht ist – als das maßgebliche Leitbild im Sinne von § 9 II Nr. 1 AGBG anzusehen. Indessen läßt sich nicht prognostizieren, ob der BGH einen dieser Auswege mitgehen oder einen anderen finden wird, der das Problem entschärft. Ein klarer Widerspruch zu einem wesentlichen Grundgedanken des BGB liegt ferner darin, daß sowohl nach Art. 7.4.2 (2) UP als auch nach Art. 9.501 (2) EP im Gegensatz zu § 253 BGB bei einem Vertragsbruch generell auch Ersatz des immateriellen Schadens geschuldet wird. Ob sich das vor § 9 AGBG legitimieren läßt, erscheint mir als höchst zweifelhaft, da das CISG ei- [23] ne derartige Regelung nicht enthält und sich durch den Rückgriff auf dieses also keine argumentative Abhilfe schaffen läßt. Noch schwieriger wird eine Entschärfung des AGBG, wenn man in den Anwendungsbereich der §§ 10 und 11 AGBG gerät. Das ist vor allem bei den EP möglich, weil deren Anwendungsbereich personell nicht begrenzt ist, doch ist auch für die UP, die nur für den internationalen Handelsverkehr gelten wollen und für die daher nach § 24 AGBG die Vorschriften der §§ 10 und 11 AGBG meist nicht unmittelbar anwendbar sein werden, immerhin die sogenannte Indizfunktion dieser Klauselverbote zu beachten. Als heikel könnte insoweit z. B. die ziemlich rigide Regelung über Vertragsstrafen und Schadensersatzpauschalen nach Art. 7.4.13 UP65 und nach Art. 9.508 EP angesehen werden, die einer Prüfung am Maßstab von § 11 Nr. 5 und 6 AGBG schwerlich standhalten dürften und möglicherweise auch mit § 9 AGBG unvereinbar sind, weil der BGH auch im kaufmännischen Verkehr äußerst strenge Anforderungen an die Zulässigkeit von Vertragsstrafen stellt66. Auch hier ist ein Rückgriff auf das Leitbild des CISG nicht möglich, da dieses keine entsprechenden Regelungen enthält. Ein Ausweg könnte in der Entwicklung einer Argumentation liegen, welche für die Einbeziehung von Regelwerken wie den UP und den EP die – vom BGH ohnehin viel zu rigoros gehandhabte – Indizfunktion der §§ 10 f. AGBG entschärft. (3) Teilweise gegenstandslos könnte die Problematik einer Anwendung des AGB-Gesetzes zumindest für die UP werden, wenn die EG-Grundfreiheiten es erforderlich machen würden, die kollisionsrechtliche Wählbarkeit solcher Klauselwerke zuzulassen, die „unter Mitwirkung aller betroffenen Kreise von einer solchermaßen ‚neutralen‘ Stelle formuliert wurden“ oder als „international übliche
Vgl. dazu Belser (oben N.32) 100 f. Vgl. z. B. BGH 18.11.1982, BGHZ 85, 305 (310 ff.); 22.10.1987, ZIP 1988, 169 (170); 19.1.1989, ZIP 1989, 243 (244); kritisch zu dieser Rechtsprechung Stoll 658, der sie bei internationalen Verträgen für „untragbar“ hält; kritisch ferner Canaris, Gesamtunwirksamkeit und Teilgültigkeit rechtsgeschäftlicher Regelungen, in: FS Steindorff (1990) 519 ff. (559). 65 66
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und von neutraler Stelle formulierte Klauselwerke“ anzusehen sind67. Allerdings läge darin von vornherein lediglich eine Teillösung, weil die UP nicht nur für Verträge zwischen Unternehmen der Europäischen Union geschaffen worden sind, sondern weltweit auf internationale Handelsverträge Anwendung finden sollen. Außerdem erscheint es als zweifelhaft, ob die UP die genannten Voraussetzungen überhaupt erfüllen68; denn „unter Mitwirkung aller betroffenen Kreise“ – zu denen doch gewiß die Export- und Importunternehmer gehören – sind sie nicht zustande gekommen, und daß sie ein „international übliches Klauselwerk“ darstellen, kann man zumindest derzeit ebenfalls (noch) nicht sagen. [24] Darüber hinaus kann diese These auch als solche nicht überzeugen. Sie wird im wesentlichen darauf gestützt, daß die Unvereinbarkeit der kollisionsrechtlichen Wahl derartiger privater Klauselwerke mit Art. 27 EGBGB69 grundsätzlich zu den „Maßnahmen gleicher Wirkung“ wie eine mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkung i.S. der Artt. 28 ff. EGV gehöre70. Bekanntlich hat der Europäische Gerichtshof seine zunächst extrem vage und weite Bestimmung dieses Begriffs in der Keck-Entscheidung präzisiert und modifiziert. Danach ist „die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville [...] unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren“; denn bei Erfüllung dieser Voraussetzungen „ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut“71. Selbstverständlich kann im vorliegenden Rahmen nicht die weitläufige Diskussion aufgerollt werden, die dieses Urteil ausgelöst hat. Es ist jedoch zu beachten, daß bei „bestimmten Verkaufsmodalitäten“ die Warenverkehrsfreiheit – abgesehen von den Fällen einer Versperrung des Marktzugangs – für die rechtlichen Rahmenbedingungen grundsätzlich nur als spezielles Diskriminierungsverbot wirkt72 und daß das auch So Grundmann 150 f. bzw. 158. Das scheint Grundmann 154 ff. (158) als selbstverständlich vorauszusetzen. 69 Vgl. dazu oben III 1 a mit Nachw. in N. 51. 70 Vgl. Grundmann 151. 71 EuGH 24.11.1991, Rs. C-267/91 und C-268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I-6126 Rz. 16 und 17. 72 Vgl. dazu Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt: ZHR 159 (1995) 2 ff. (16 ff.); vgl. auch EuGH 10.5.1995, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995, 67 68
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für die Frage nach der Vereinbarkeit internationalprivatrechtlicher Vorschriften mit Art. 28 EGV gilt73. Vor dem Hintergrund der Keck-Entscheidung ist es nicht zu beanstanden, daß Art. 27 EGBGB nur die Wahl einer staatlichen Rechtsordnung, nicht aber eines privaten Regelwerks zuläßt. Der Anbieter einer Leistung wird durch Art. 27 EGBGB nicht gehindert, für alle von ihm geschlossenen Verträge ein und dieselbe Rechtsordnung, insbesondere sein Heimatrecht, zu wählen und ergänzend im Wege einer materiellrechtlichen Verweisung ein [25] privates Regelwerk einzubeziehen, so daß er überall zu den gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen anbieten kann. Allerdings unterliegt dieses Regelwerk der Kontrolle an den Maßstäben des gewählten staatlichen Rechts, doch kann der Anbieter eine Benachteiligung gegenüber innerstaatlichen Konkurrenten verhindern, indem er das am Bestimmungsort geltende Recht wählt, wenn dieses insoweit günstiger ist. Art. 27 EGBGB führt also weder zu einer unzulässigen Behinderung, geschweige denn zu einer Marktzugangssperre, noch zu einer Diskriminierung. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß ein Anbieter nicht beides gleichermaßen erreichen kann: sowohl alle Verträge zu denselben rechtlichen Rahmenbedingungen – etwa denen seines Heimatlandes – abzuschließen als auch an etwa günstigeren Rahmenbedingungen in einem anderen Land – etwa dem Bestimmungsland – zu partizipieren; denn das beruht nicht auf Art. 27 EGBGB, sondern schlicht und einfach darauf, daß es nun einmal unterschiedliche Rechtsordnungen in den einzelnen Mitgliedstaaten gibt. Inwiefern sich aus Art. 28 EGV ein Gebot ergeben soll, den Unternehmern die Möglichkeit zu eröffnen, sich den daraus resultierenden rechtlichen Unterschieden kurzerhand durch die Wahl eines einheitlichen privaten Regelwerks zu entziehen und damit zugleich grundsätzlich den Schranken jeder (!) staatlichen Rechtsordnung zu entrinnen, ist nicht ersichtlich. Das gilt um so mehr, als sie diese Möglichkeit ohnehin bereits jetzt haben, sofern sie zugleich eine Schiedsklausel vereinbaren, da für Schiedsverfahren wie dargelegt die kollisionsrechtliche Wahl eines privaten Regelwerks zulässig ist74. Was im übrigen die – hier zur Diskussion stehende – Frage nach der Kontrolle der UP und der EP an den Maßstäben des AGB-Gesetzes angeht75, so ist zusätzlich darauf hinzuweisen, daß es ein einfaches und probates Mittel gibt, diese zu vermeiden: Der Anbieter braucht lediglich auf ein einseitiges „Stellen“ des betreffenden Regelwerks zu verzichten und zu erreichen, daß der andere Teil sich ebenfalls auf dieses bezieht; denn dann fehlt es trotz der Vorformulierung an einer Voraussetzung von § 1 I AGBG, so daß das AGB-Gesetz gar nicht anI-1141 Rz. 37; z. T. kritisch und mit abweichender Akzentsetzung freilich Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996) 97 ff. 73 So mit Recht Münch.Komm.(-Sonnenberger) (oben N. 31) Rz. 138 und 153. 74 Vgl. oben III 1 b mit Nachw. in N. 56. 75 Auf diese zielt auch Grundmann ab, vgl. 152 f.
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wendbar und die Gefahr einer Inhaltskontrolle von vornherein gebannt ist76. Darin liegt gerade dann, wenn die UP bzw. die EP weitgehende Akzeptanz finden sollten, ein durchaus adäquater Ausweg. Bei diesen ist es nämlich keineswegs faktisch besonders naheliegend oder gar nahezu unausweichlich, daß es typischerweise eine bestimmte Partei – etwa der Exporteur oder der Importeur – ist, welche das Regelwerk in den Vertrag einführt (anders als z. B. bei den Einheitlichen Richtlinien über Dokumentenakkreditive, wo den Banken meist gar nichts anderes übrig bleibt, als diese von sich aus zu „stellen“). [26] Außerdem besteht auch ein vorrangiges Allgemeininteresse im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 28 EGV, welches es legitimiert, daß nach Art. 27 EGBGB nur ein staatliches Recht gewählt werden kann. Dieses liegt darin zu verhindern, daß die Parteien sich einerseits den zwingenden Normen jeder (!) staatlichen Rechtsordnung entziehen, andererseits aber vor einem staatlichen Gericht – und nicht vor einem Schiedsgericht – Rechtsschutz suchen. Darüber hinaus gibt es auch speziell für eine Kontrolle privater Klauselwerke am AGBGesetz ein solches Allgemeininteresse77. Nicht nur Verbraucher, sondern auch berufliche Akteure verdienen nämlich grundsätzlich Schutz gegenüber den Mißbrauchsgefahren, die mit dem einseitigen „Stellen“ von vorformulierten Regelwerken verbunden sind; das sollte angesichts der außerordentlich großen und völlig legitimen Bedeutung, die das AGB-Gesetz im kaufmännischen Verkehr anerkanntermaßen besitzt und die der AGB-Kontrolle bekanntlich auch schon vor dessen Erlaß insoweit zukam, nicht zweifelhaft sein. Man kann nun aber, wie bereits näher dargelegt78, für die Anwendung von Art. 27 EGBGB nicht danach unterscheiden, ob ein privates Regelwerk inhaltlich ausgewogen ist oder nicht. Auch trifft es nicht zu, daß es beim Schutz beruflich Tätiger gegenüber den Gefahren von AGB vor allem um die Kompensation von Informationsasymmetrien zugunsten des Verwenders geht, die bei Regelwerken wie den UP entfallen79. Denn AGB können z. B. auch aus einem einzigen leicht verständlichen Satz bestehen – etwa einer Haftungsbeschränkung oder einer Vertragsstrafenregelung –, und demgemäß ist von zentraler Bedeutung auch die Kompensation der mit der Einseitigkeit des Stellens verbundenen Gefahr einer inhaltlich unausgewogenen Regelung; diese ist um so größer, als der Kunde bei den meisten in Betracht kommenden Klauseln aus naheliegenden psychologischen Gründen nicht damit rechnet, daß sie jemals zur Anwendung kommen werden, weshalb er sich der ihm einseitig „gestellten“ Regelung nicht widersetzt. (4) Insgesamt bleibt es somit dabei, daß Abhilfe nur durch eine vernünftige, d. h. sehr restriktive Handhabung des AGB-Gesetzes bei internationalen VerVgl. oben III 1 c (1) bei N. 58. Anders offenbar Grundmann 152. 78 Vgl. oben III 1 a bei N. 52. 79 So aber Grundmann 152 f. 76 77
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trägen zu schaffen ist. Indessen habe ich ein Referat über die rechtsquellentheoretische Problematik zu halten, und daher ist es nicht meine Aufgabe, die aufgeworfenen Fragen im einzelnen zu vertiefen oder gar eine ausgefeilte Antwort auf sie zu entwickeln. Auf das Sprengpotential, das hier liegen könnte, wollte ich aber doch wenigstens hinweisen, zumal die mögliche Qualifikation der UP und der EP als AGB ja durchaus eine rechtsquellentheoretische Dimension aufweist. [27] d) Die Vereinbarung der Geltung „allgemeiner Rechtsgrundsätze“ oder der „lex mercatoria“ für den Vertrag Nach der Präambel der UP und nach Art. 1.101 (3) EP können diese auch angewandt werden, wenn die Parteien vereinbart haben, daß für den Vertrag „allgemeine Rechtsgrundsätze“, die „lex mercatoria“ oder ähnliche Regeln gelten sollen80. In diesem Zusammenhang geht es nicht um den etwaigen Rechtsquellencharakter „allgemeiner Rechtsgrundsätze“ oder der „lex mercatoria“81. Denn angeknüpft wird hier ja an eine Vereinbarung der Parteien, und daher ist es ein reines Problem der Vertragsauslegung, ob mit dieser die UP und/oder die EP gemeint sind. Das läßt sich nicht abstrakt und generell beantworten82 und hängt vor allem auch von der zukünftigen faktischen Durchsetzungskraft dieser beiden Regelwerke ab. Es wird sicher eher bei einer Verweisung auf „allgemeine Rechtsgrundsätze“ als bei einer solchen auf die „lex mercatoria“ zu bejahen sein, da letztere – wenn es sie denn überhaupt in tatsächlicher Hinsicht gibt – ihrer Natur nach eher fließend und schwerlich in so klaren Bestimmungen formulierbar ist, wie sie die beiden Regelwerke enthalten. Wenn man die Verweisung nicht als vertragliche Einbeziehung der UP oder der EP auslegen kann, vermögen diese doch immerhin u. U. in Einzelheiten wesentliche Anhaltspunkte für den Inhalt der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ oder der „lex mercatoria“ zu geben und dadurch doch noch mittelbar den Vertragsinhalt zu beeinflussen. Daß diese Regelwerke indessen keinesfalls als „authentischer Ausdruck dessen, was gemeinhin ‚lex mercatoria‘ genannt wird“, angesehen werden können, habe ich bereits ausgeführt83.
80 Von ersten Anwendungsfällen berichtet Bonell, The UNIDROIT Principles in Practice, The Experience of the First Two Years: Unif. L. Rev. 1997, 34 ff. (42 ff.). 81 Vgl. dazu oben II 2 a (3). 82 Generell bejahend für Schiedsgerichtsverfahren aber Michaels 602, der indessen anschließend auch die Gegenargumente vorbringt (die m. E. das höhere Gewicht haben) differenzierend und im Ansatz m. E. zutreffend Bonell, Restatement 211 f. 83 Vgl. oben II 2 b (3).
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2. Einflüsse auf die Auslegung und Fortbildung des objektiven Rechts Gewiß wird das Anwendungsgebiet der UP und der EP zumindest in näherer Zukunft in erster Linie von der Vereinbarung durch die Vertragsparteien abhängen. Darüber hinaus können sich jedoch, wie ich im Rahmen meiner allgemeinen Ausführungen bereits angedeutet habe, bei Zugrundelegung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs auch gewisse Einflüsse auf das objektive Recht ergeben. Abschließend sei daher der Versuch unternommen, auch diesen – bisher wissenschaftlich wenig durchdachten – Bereich der Problematik etwas zu vertiefen. [28] a) Einflüsse auf internationales Einheitsrecht Eine gewisse Sonderstellung nimmt insoweit das internationale Einheitsrecht ein, weil es zum einen grundsätzlich in erster Linie „autonom“, d. h. aus sich selbst heraus auszulegen und fortzubilden ist84, und weil es zum anderen nicht selten für die Lösung ungeregelter Fragen auf allgemeine Rechtsgrundsätze verweist. Charakteristisch ist etwa Art. 7 (2) CISG, wonach „Fragen, die in diesem Übereinkommen geregelte Gegenstände betreffen, aber in diesem Übereinkommen nicht ausdrücklich entschieden sind, nach den allgemeinen Grundsätzen, die diesem Übereinkommen zugrunde liegen, zu entscheiden sind“. Da sowohl die UP als auch die EP teilweise ähnliche Regeln wie das UN-Kaufrecht enthalten, jedoch besser ausgearbeitet sind, fragt sich, ob man bei Zweifelsfragen und Lücken auf jene zurückgreifen kann85. Gewiß kann man das nicht einfach deshalb verneinen, weil diese beiden Regelwerke später entstanden sind als das UN-Kaufrecht86; denn das schließt nicht aus, daß deren Verfasser tiefer in manche im UN-Kaufrecht geregelten Probleme eingedrungen sind als dessen Verfasser selbst und dabei die diesem zugrundeliegenden „allgemeinen Grundsätze“ klarer herausgearbeitet oder sogar besser verstanden haben. Ob das so ist, bleibt letztlich freilich eine Frage der Überzeugungskraft, die nicht generell, sondern nur von Problem zu Problem entschieden werden kann. Immerhin dürfte diese m. E. z. B. für den Bereich der Nichterfüllung und ihrer Folgen, d. h. in der Terminologie der deutschen Dogmatik für das Recht der Vertragsverletzungen und der Leistungsstörungen, weitgehend zu bejahen sein. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang ganz allgemein zu berücksichtigen, daß die UP und die EP von Verfassern stammen, die sich mit den einVgl. statt aller Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975) 265 ff. Grundsätzlich bejahend Bonell 285; enger ders., Restatement 78. 86 So mit Recht Basedow, Die UNIDROIT-Prinzipien der Internationalen Handelsverträge und die Übereinkommen des einheitlichen Privatrechts, in: FS Drobnig (1998) 19 ff. (25). 84 85
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schlägigen Problemen äußerst intensiv auseinandergesetzt haben und die dafür eine sehr hohe fachliche Qualifikation mitbringen; demgemäß haben ihre Einsichten hier ein besonderes Gewicht – wie denn überhaupt eine Rechtsgewinnungsquelle, ihrer Funktion als Teil der juristischen Argumentation entsprechend, abstufbar ist87, also mal mehr und mal weniger Gewicht haben kann. Andererseits genügt es nun aber nicht – und darin liegt eine Besonderheit dieser Problematik –, daß die Lösung der UP oder der EP aus sich selbst heraus einleuchtend ist. Vielmehr muß sie sich zugleich als eine Ausformung gerade derjenigen Grundsätze darstellen, die dem UN-Kaufrecht zugrunde liegen88, weil nach Art. 7 (2) CISG nur diese bei der Entscheidung offener Fra- [29] gen herangezogen werden dürfen. Soweit das nicht der Fall ist, entfaltet diese Vorschrift geradezu eine Sperrwirkung gegenüber dem Rückgriff auf die UP und die EP89.
b) Einflüsse auf rein nationales Recht (1) Zum Schluß kehre ich zum Ausgangspunkt zurück. Was ist nun eigentlich von Wiedemanns Ansicht, für die Feststellung einer Lücke im Recht der Willensmängel des BGB könne auf die UP zurückgegriffen werden90, im Lichte meiner rechtsquellentheoretischen Überlegungen zu halten? So „leicht“, wie Wiedemann behauptet, ist eine solche Lückenfeststellung zwar gewiß nicht – er hat das sicher auch nicht wörtlich gemeint –, jedoch ist seine Argumentation andererseits auch keineswegs von vornherein von der Hand zu weisen. Denn jedenfalls dann, wenn man als Maßstab für die Lückenfeststellung nicht lediglich den Plan des Gesetzes sondern – wie ich – die Gesamtrechtsordnung heranzieht91, oder wenn man gar das Spannungsverhältnis zwischen Vertragsaufhebung wegen culpa in contrahendo und § 123 BGB als Problem der Derogation des Gesetzes ansieht92, kann man im Rahmen der dabei erforderlichen Bildung eines leitenden Rechtsprinzips wie z. B. des Schutzes der faktischen Entscheidungsfreiheit auch die UP als Rechtsgewinnungsquelle heranziehen und ihnen ein Argument entnehmen – wenngleich natürlich nicht das einzige, sondern nur eines unter mehreren.
87 Vgl. zur Abstufbarkeit von Argumenten näher Canaris, Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, in: FS Medicus (1999) 25 ff. (58 f.). 88 Zutreffend Bonell, Restatement 78. 89 Zutreffend insoweit Ferrari, Das Verhältnis zwischen den UNIDROIT-Grundsätzen und den allgemeinen Grundsätzen internationaler Einheitsprivatrechtskonventionen: JZ 1998, 9 ff. (16); ähnlich Michaels 606. 90 Vgl. oben I. 91 Vgl. oben N. 7. 92 So Grigoleit (oben N. 8).
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Allerdings dürfte der Rückgriff auf die UP nicht so weit tragen, wie Wiedemann annimmt. Zwar ist in Art. 3.5 (1) Buchst. a in der Tat die Möglichkeit einer Irrtumsanfechtung für den Fall vorgesehen, daß der andere Teil den Irrtum verursacht oder in unredlicher Weise aufrechterhalten hat, doch gilt das nur, wenn der Irrtum so bedeutsam war, daß eine vernünftige Person den Vertrag bei Kenntnis des wahren Sachverhalts nur zu wesentlich anderen Bedingungen oder überhaupt nicht abgeschlossen hätte. Davon ist nun aber die Lösung des BGH nicht sehr weit entfernt. Denn ihm geht es ja nur darum zu gewährleisten, daß nicht schon allein die Eingehung eines unerwünschten Vertrages als solche die Aufhebung nach den Regeln über die culpa in contrahendo ermöglicht, und nur deshalb fügt er das Erfordernis eines Vermögensschadens hinzu. Das mag, wie im Schrifttum gerügt worden ist, schadensersatzrechtlich gesehen nicht konsistent sein93, erscheint mir aber irrtumsrechtlich gesehen insofern sinnvoll, als dadurch immerhin doch noch ein gewisser [30] eigenständiger Anwendungsbereich für § 123 BGB übrigbleibt und dessen Vorsatzerfordernis also nicht völlig obsolet gemacht wird. Daß auch noch dieser Unterschied eingeebnet werden müsse, läßt sich aus dem Vorbild von Art. 3.5 UP gewiß nicht herleiten, zumal dieses, wie noch einmal zu betonen ist, ja nur als Zusatzargument im Rahmen einer breiter angelegten Gesamtargumentation dienen kann. (2) Da sich dieses Beispiel somit letztlich doch nicht als besonders fruchtbar erweist, gebe ich noch ein weiteres, das überdies den Reiz hat, methodologisch ziemlich kühn zu sein94. Artikel 2.16 UP erlegt den Parteien die Verpflichtung auf, vertrauliche Informationen, die sie im Verlauf von Vertragsverhandlungen von dem anderen Teil erhalten haben, weder offenzulegen noch unberechtigt für ihre eigenen Zwecke zu benutzen, unabhängig davon, ob in der Folge ein Vertrag geschlossen wird oder nicht. Satz 2 der Klausel bestimmt dann, daß „der Rechtsbehelf für die Verletzung dieser Pflicht, wenn es angemessen ist, auch Entschädigung für den Vorteil umfassen kann, den die andere Partei erlangt hat“95. Satz 1 dieser Regelung stimmt völlig mit dem deutschen Recht überein, da sich die dort genannten Pflichten ohne weiteres aus dem Institut der culpa in contrahendo ergeben. Satz 2 findet dagegen derzeit im deutschen Recht keine Parallele, da dieses bisher eine Pflicht zur Entschädigung für unbefugt gezogene Gewinne bei der culpa in contrahendo nicht kennt. Daher drängt sich die Frage auf, ob man Vgl. die Nachw. oben N. 3. In der mündlichen Fassung des Vortrags habe ich ein anderes Beispiel gewählt, das mir jetzt nicht mehr hinreichend geeignet erscheint. Anregungen für das folgende Beispiel habe ich auf dem Symposion durch die Diskussion im Anschluß an den Vortrag von J. Hager erhalten und die im Text skizzierte Lösung in meinem Diskussionsbeitrag bereits angedeutet, jedoch nur in rudimentären Ansätzen. 95 Vgl. Principles of International Commercial Contracts, published by the International Institute for the Unification of Private Law (Unidroit) (1994) 52, hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in: ZEuP 1997, 890 (894) = IPRax 1997, 205 (209). 93 94
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das deutsche Recht insoweit in Anlehnung an Art. 2.16 Satz 2 UP fortbilden und eine Pflicht zur Abführung von Gewinnen anerkennen kann, wenn jemand diese unter Bruch einer vorvertraglichen Geheimhaltungspflicht oder eines vorvertraglichen Ausnutzungsverbots erzielt hat. Das kommt zumindest dann in Betracht, wenn eine derartige Gewinnherausgabepflicht eine Stütze in der lex lata findet. Das ist in der Tat der Fall – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang zunächst an die Pflicht zur Abführung von Gewinnen bei angemaßter Führung eines fremden Geschäfts nach §§ 687 II, 681 Satz 2, 667 BGB. Eine ähnliche Pflicht ergibt sich ferner aus § 819 I in Verb. mit § 281 BGB; das gilt nach richtiger, wenngleich umstrittener Ansicht auch für die – im vorliegenden Zusammenhang allein relevante – Eingriffskondiktion96, die bei Proble- [31] men der vorliegenden Art insbesondere auf der Grundlage der §§ 17 f. UWG zur Anwendung kommen könnte97. Allerdings setzt sowohl § 687 II BGB als auch § 819 I BGB voraus, daß der Verletzer vorsätzlich handelt. Das wird jedoch in den Fällen der Mißachtung eines vorvertraglichen Ausnutzungsverbots ebenfalls häufig der Fall sein. Außerdem kennt das geltende Recht eine Pflicht zur Gewinnherausgabe auch bei einer nur fahrlässigen Pflichtverletzung. Eine solche wird nämlich durch § 97 I 2 UrhG für Verletzungen von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten sowie durch die §§ 61 I Halbsatz 2, 113 I Halbsatz 2 HGB für die Verletzung von Wettbewerbsverboten durch Angestellte und Gesellschafter statuiert. Diese Vorschriften kommen im vorliegenden Zusammenhang durchaus als Ausgangspunkt für eine Rechtsfortbildung in Betracht – § 97 UrhG vor allem deshalb, weil es beim Verrat oder der unbefugten Ausnutzung vorvertraglich anvertrauter Informationen häufig um die Verletzung schutzrechtsähnlicher Positionen gehen wird, und die §§ 61, 113 HGB vor allem deshalb, weil sie an die Verletzung von wettbewerbsbezogenen Loyalitätspflichten im Rahmen einer vertraglichen Sonderbeziehung anknüpfen. In Anlehnung hieran die Verletzung von Loyalitätspflichten auch dann, wenn diese dogmatisch als culpa in contrahendo zu qualifizieren ist, durch eine Pflicht zur Gewinnherausgabe zu sanktionieren, erscheint methodologisch keineswegs als ausgeschlossen. Ob man diesen Schritt letztlich wirklich gehen darf und soll, ist hier nicht abschließend zu entscheiden. Er würde aber in dem Hinweis auf Art. 2.16 (2) UP ein wesentliches Zusatzargument finden, das seine Überzeugungskraft stark erhöhen und angesichts der Offenheit und Uneinheitlichkeit, welche die deutsche lex lata hinsichtlich der vorliegenden Problematik aufweist, u. U. geradezu den Ausschlag geben könnte. Das würde zumal dann 96 Vgl. näher Canaris, Gewinnabschöpfung bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, in: FS Deutsch (1999) 85 ff. (91–96) mit Nachw. in N. 37 und 38; a. A. Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung (1983) § 18 I 3 b. 97 97 Vgl. dazu näher Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II/213 (1994) § 69 I 2 f. mit Nachw.
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Die Stellung der „UNIDROIT Principles“
gelten, wenn die Regelung von Art. 2.16 Satz 2 UP auf einem breiten rechtsvergleichenden Fundament beruht und nicht lediglich einem mehr oder weniger singulären Einfall ihrer Verfasser entspringt.
Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre IN: KOZIOL/RUMMEL (HRSG.), FESTSCHRIFT FÜR FRANZ BYDLINSKI, 2002, S. 47–103
Übersicht I.
Der rechtsquellentheoretische Geltungsgrund der richtlinienkonformen Rechtsfindung 1. Die begrenzte Tragfähigkeit eines Rückgriffs auf den Umsetzungswillen des nationalen Gesetzgebers a) Die Schwächen dieses Begründungsansatzes b) Die partielle Bedeutung des Umsetzungswillens des nationalen Gesetzgebers 2. Die grundsätzliche Unhaltbarkeit der Annahme eines „derogatorischen“ Vorrangs der Richtlinie a) Die Unvereinbarkeit eines „derogatorischen“ Vorrangs mit Art. 249 Abs. 3 EG und mit der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung b) Die Sonderproblematik der „unmittelbaren“ Anwendbarkeit einer Richtlinie 3. Die Verpflichtungswirkung der Richtlinie nach Art. 249 Abs. 3 EG als Grundlage des Gebots richtlinienkonformer Auslegung und Rechtsfortbildung a) Die Rechtsprechung als notwendige Ergänzung und Vervollständigung der Gesetzgebung b) Die Wahrung der innerstaatlichen Kompetenzverteilung und -abgrenzung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung und ihre praktischen und dogmatischen Konsequenzen c) Das Erfordernis einer „vollen Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums“ durch die Gerichte d) Die Problematik der Entscheidung des EuGH im Fall „Marleasing“ 4. Die (bloße) Ergänzungsfunktion der Loyalitätspflicht nach Art. 10 EG 5. Ablehnung einer ergänzenden Analogie zu Art. 36 EGBGB
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Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung
II. Das Verhältnis der richtlinienkonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien 1. Die Unterscheidung zwischen interpretatorischer Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel als methodologischer Ausgangspunkt a) Die Auslegungskriterien als Elemente im Rahmen einer argumentativen Gesamtabwägung b) Interpretatorische Vorrangregeln 2. Konsequenzen für die Problematik des Rangverhältnisses zwischen der richtlinienkonformen Auslegung und den „klassischen“ Auslegungskanones a) Das grundsätzliche Bestehen einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung b) Die Wirkungsweise der Vorrangregel c) Die vom Gebot der richtlinienkonformen Auslegung erfaßten Bereiche des nationalen Rechts d) Der für die Geltung des Gebots der richtlinienkonformen Auslegung maßgebliche Zeitpunkt [48] e) Die Bedeutung der Erfordernisse der Unbedingtheit und der ausreichenden Bestimmtheit der Richtlinie 3. Die Unterschiede zwischen den zentralen methodologischen und dogmatischen Kategorien a) Die Unterschiede zwischen interpretatorischer und derogatorischer Vorrangregel b) Die Unterschiede zwischen richtlinienkonformer Auslegung und „unmittelbarer“ Anwendung von Richtlinien 4. Die Stellung der richtlinienkonformen Auslegung im System der juristischen Methodenlehre a) Die Eigenständigkeit der richtlinienkonformen Auslegung als Auslegungskanon b) Das Verhältnis von richtlinien- und verfassungskonformer Auslegung c) Die Mehrstufigkeit des Auslegungsvorgangs III. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung praeter und extra legem 1. Das Erfordernis einer Lücke im Gesetz als methodologischer Ausgangspunkt a) Begriff und Funktion der Gesetzeslücke b) Die Zweckmäßigkeit eines „weiten“ Lückenbegriffs 2. Die Richtlinie als Maßstab der Lückenfeststellung a) Die Rechtslage nach der Umsetzung der Richtlinie b) Die Rechtslage bei Fehlen einer Umsetzung der Richtlinie 3. Die Wirkungsweise der Richtlinie bei der Lückenfüllung IV. Methodologische Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung
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1. Das Verbot des Contra-legem-Judizierens als methodologischer Ausgangspunkt a) Funktion und Begriff des Contra-legem-Judizierens b) Randunschärfen und Präzisierungen 2. Der Vorrang des Verbots des Contra-legem-Judizierens gegenüber dem Gebot der richtlinienkonformen Rechtsfindung a) Rechtstheoretische, europarechtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen b) Die Wirkungsweise des Verbots des Contra-legem-Judizierens gegenüber dem Gebot der richtlinienkonformen Rechtsfindung 3. Mangelnde Anpaßbarkeit des nationalen Rechts als spezifische Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung a) Das Scheitern einer richtlinienkonformen Rechtsfindung an der Unkorrigierbarkeit der richtlinienwidrigen Norm b) Die Unausfüllbarkeit einer Lücke Ein Thema für einen Beitrag zu einer Festschrift für Franz Bydlinski zu finden, das einen Bezug zum wissenschaftlichen Werk des Jubilars besitzt, fällt wegen dessen bewunderungswürdiger Spannweite nicht schwer; ein Thema zu finden, das trotz eines solchen Bezuges nicht vom Jubilar selbst bereits in den zentralen Punkten ausgeschöpft ist, sondern noch genügend eigene Entfaltungsmöglichkeiten offen läßt, ist dagegen angesichts der tiefdringenden Kraft seines Denkens alles andere als einfach. Immerhin weist aber auch die „klassische“ Methodenlehre, zu deren Hauptrepräsentanten Franz Bydlinski zählt, noch einige Felder auf, die bisher nicht hinreichend kultiviert sind. Dazu gehört die Thematik der richtlinienkonformen Auslegung, die erst in den letzten Jahren, in diesen aber mit umso größerer Intensität in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt ist. Zugleich zeichnet sich diese Problematik durch besondere Aktualität und Brisanz aus – nicht nur wegen des rasanten Voranschreitens der europäischen Rechtsangleichung, das inzwischen [49] sogar die Kerngebiete des Privatrechts erreicht hat, sondern auch wegen der Sprengkraft, die eine Überstrapazierung der richtlinienkonformen Auslegung für das Verständnis von Aufgaben und Kompetenzen der Gerichte und damit auch für die juristische Methodenlehre haben könnte. Damit aber berührt sich die Thematik eng mit Problemen, die im Mittelpunkt des Werkes von Franz Bydlinski stehen und zu denen er Grundlegendes und Richtungweisendes gesagt hat, das auch im vorliegenden Zusammenhang als Orientierungsmarke zu dienen vermag.
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Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung
I. Der rechtsquellentheoretische Geltungsgrund der richtlinienkonformen Rechtsfindung Seit der EuGH im Jahr 1984 in den Entscheidungen „von Colson und Kamann“ sowie „Harz“ das Postulat einer richtlinienkonformen Auslegung durch die nationalen Gerichte ausdrücklich ausgesprochen hat1, steht dieses im Grundsatz außer Streit. Zweifelhaft und stark kontrovers sind dagegen dessen Rang, Inhalt und Reichweite. Klarheit hierüber kann man nur gewinnen, wenn man sich zuvor vergewissert, worauf die Verbindlichkeit dieses Gebots in rechtsquellentheoretischer Hinsicht beruht und worin also dessen Geltungsgrund liegt. Das Spektrum der verschiedenen Positionen, die hierzu vertreten werden, im einzelnen zu entfalten, ist nicht das Ziel dieses Beitrags, zumal das im monographischen Schrifttum bereits in vorzüglicher Weise geschehen ist2. Im folgenden geht es daher nur um eine kurze Skizzierung der wichtigsten gedanklichen Ansätze, um ein tragfähiges und klares Fundament für die Entwicklung der eigenen Stellungnahme zu den verschiedenen Problemen der richtlinienkonformen Rechtsfindung zu gewinnen. 1. Die begrenzte Tragfähigkeit eines Rückgriffs auf den Umsetzungswillen des nationalen Gesetzgebers Auf den ersten Blick mag es naheliegen, den Grund für die Bindung der Gerichte – und damit auch jedes anderen Rechtsanwenders – im Willen des Gesetzgebers zur Umsetzung der betreffenden Richtlinie in das jeweilige nationale Recht zu sehen3. In der Tat läßt nämlich der Akt der gesetzgeberischen Umset[50] zung in aller Regel den Willen erkennen, sich gemeinschaftstreu zu verhalten und die Richtlinie korrekt umzusetzen, und dieser Wille ist nach den Regeln der Verfassung und der Methodenlehre für die Gerichte grundsätzlich verbindlich4. 1 EuGH vom 10.4.1984 – Rs 14/83 – Slg. 1984, I-1891, 1909 (von Colson und Kamann); vom 10.4.1984 – Rs 79/83 – Slg. 1984, I-1921, 1942 (Harz). 2 Vgl. Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung (1994) 127 ff; seither vor allem Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft (1999) 292 ff; diese beiden Bücher werden im folgenden nur mit dem Namen ihrer Autoren zitiert. 3 So z. B. Everling, RabelsZ 50 (1986) 224; Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 5 ff; Herber, EuZW 1991, 403; Hommelhoff, AcP 192 (1992) 95; ders. in Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft (2000) II 892; Scherzberg, Jura 1993, 231; E. Klein, FS für Everling (1995) I 646; Ehricke, RabelsZ 59 (1995) 613 f, 643 und EuZW 1999, 554. 4 Im einzelnen ist hier zwar manches streitig, doch kann und muß auf die damit verbundenen Grundsatzprobleme im Rahmen dieser Abhandlung nicht eingegangen werden; vgl. dazu nur Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. (1991) 428 ff; Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1995) 137 ff.
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a) Die Schwächen dieses Begründungsansatzes Indessen vermag dieser Ansatz bei genauerer Prüfung nicht voll zu überzeugen5. Das gilt schon aus rechtsquellentheoretischen Gründen. Denn bei dieser Sichtweise dominiert der nationalrechtliche Aspekt völlig, während die gemeinschaftsrechtliche Dimension gänzlich ausgeblendet wird. Das ist insofern unbefriedigend, als dadurch die Pflicht der Mitgliedstaaten zur korrekten Umsetzung der Richtlinie nach Art. 249 Abs. 3 EG6 im vorliegenden Zusammenhang von vornherein überhaupt nicht in den Blick kommt, obwohl doch gerade sie die Grundlage des angeglichenen Rechts bildet. Außerdem führt es auch zu praktischen Unzuträglichkeiten und Problemverkürzungen, wenn man sich allein auf den Umsetzungswillen des nationalen Gesetzgebers stützt. Das gilt zunächst schon deshalb, weil diese Konzeption nach ihrer inneren Logik im wesentlichen auf solche Normen zugeschnitten ist, die in Umsetzung einer Richtlinie erlassen worden sind. Das aber ist zu eng, ist doch seit der Entscheidung des EuGH im Fall Marleasing7 nahezu unumstritten, daß sich das Postulat der richtlinienkonformen Auslegung auch auf das sonstige nationale Recht erstreckt8. Dieses mit der Behauptung einzubeziehen, auch das Altrecht sei vom Umsetzungswillen des Gesetzgebers mitumfaßt, selbst wenn er es gänzlich unverändert gelassen hat, wird in aller Regel eine reine Fiktion bedeuten und stellt daher keinen befriedigenden Ausweg dar. Erst recht versagt eine solche Hypothese, wenn der Gesetzgeber teilweise oder gar völlig auf eine Umsetzung verzichtet hat, weil er (irrtümlich) geglaubt hat, der bisherige Rechtszustand entspreche bereits voll der Richtlinie. Zwar hatte er hier durchaus einen Umsetzungswillen, doch kommt dieser als Geltungsgrund für die richtlinienkonforme Auslegung nicht in Betracht; denn [51] der Gesetzgeber kann seinen Willen in einer rechtsquellentheoretisch verbindlichen Weise nicht durch ein bloßes Unterlassen – das vielleicht in irgendeiner regierungsamtlichen Verlautbarung oder in einem Protokoll über eine Sitzung eines Parlamentsausschusses, aber jedenfalls nicht in dem für die Verkündung von Gesetzen maßgeblichen Publikationsorgan Niederschlag gefunden hat – zum Ausdruck bringen,
5 Ebenso i. E., wenngleich z. T. aus anderen als den im folgenden angeführten Gründen, z. B. Nettesheim, AöR 1994, 267; Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts (1993) 36 f; Brechmann 231 ff, 289; Gellermann, Beeinflussung des bundesdeutschen Rechts durch Richtlinien der EG (1994) 105; Steindorff; EG-Vertrag und Privatrecht (1996) 435; Franzen 310 ff. 6 Mit dieser Abkürzung wird, dem – wenngleich wenig glücklichen – Vorschlag des EuGH folgend, der EG-Vertrag in seiner derzeit gültigen Fassung bezeichnet, vgl. die Hinweise zur Zitierweise in Slg. 1999, Heft 5, I. 7 EuGH vom 13.11.1990 – Rs 106/89 – Slg. 1990, I-4135, 4159 Rdnr. 8 f (Marleasing). 8 Vgl. näher unten II 2 c aa.
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sondern nur im Rahmen eines Aktes des Gesetzgebung, und an einem solchen fehlt es hier eben gerade9. Vollends ins Leere geht der Rückgriff auf den Umsetzungswillen des nationalen Gesetzgebers schließlich, wenn dieser die Frist für die Umsetzung einer Richtlinie versäumt hat. Gleichwohl gilt das Postulat der richtlinienkonformen Auslegung anerkanntermaßen grundsätzlich auch in einem solchen Fall10. b) Die partielle Bedeutung des Umsetzungswillens des nationalen Gesetzgebers Insgesamt bildet somit der Umsetzungswille des nationalen Gesetzgebers lediglich partiell einen rechtsquellentheoretischen Geltungsgrund für das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung. Damit müßte man sich nur dann bescheiden, wenn es kein weiterreichendes Konzept gäbe, das den soeben vorgetragenen Einwänden nicht ausgesetzt ist. Ein solches läßt sich jedoch, wie alsbald unter 3 zu zeigen sein wird, im Anschluß an die Rechtsprechung des EuGH in dogmatisch und methodologisch überzeugender Weise aus Art. 249 Abs. 3 EG entwickeln. Allerdings hat auch dieser Lösungsansatz seine immanenten Grenzen. So ist er z. B. folgerichtig nicht tragfähig, wenn der nationale Gesetzgeber eine Richtlinie schon vor Ablauf der dafür geltenden Frist umsetzt11. In einem solchen Fall kommt daher allein der Umsetzungswille des nationalen Gesetzgebers als Geltungsgrund für das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung in Betracht, so daß es vorschnell und kurzsichtig wäre, auf diesen Begründungsansatz gänzlich zu verzichten. Außerdem schließen die Einwände gegen den Rückgriff auf den gesetzgeberischen Umsetzungswillen als Geltungsgrund der richtlinienkonformen Auslegung nicht aus, daß er auch dann, wenn er in dieser Funktion nicht herangezogen werden kann, unter anderen Aspekten gleichwohl relevant ist. So kann er z. B. als ein Element im Rahmen der Auslegung eine Rolle spielen12 oder ein Tatbestandsmerkmal für eine etwaige „Horizontalwirkung“ einer Richtlinie bilden13, doch kommt ihm dabei eine andere Funktion und ein anderer – d. h. meist: geringerer – Stellenwert zu, als das bei seiner Heranziehung als Geltungsgrund der Fall ist. [52] 9 Das verkennt z. B. Grundmann, ZEuP 1996, 220; wesentlich besser ist der Begründungsansatz von Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 7, der indessen insoweit die Möglichkeiten der objektiven Auslegungsmethode letztlich doch überstrapaziert, zutreffend gegen ihn Brechmann 231 ff. 10 Vgl. z. B. BGHZ 138, 55, 61. 11 Vgl. dazu näher unten II 2 d aa. 12 Vgl. dazu näher unten II 2 c bb. 13 Vgl. dazu näher unten IV vor 3.
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2. Die grundsätzliche Unhaltbarkeit der Annahme eines „derogatorischen“ Vorrangs der Richtlinie Gewissermaßen den Gegenpol zu dem Rückgriff auf den Umsetzungswillen des nationalen Gesetzgebers bildet die Vorstellung, das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung sei auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht zurückzuführen14. Allerdings ist der Begriff des Vorrangs mehrdeutig, was zu einer Fülle von – meist freilich nur schwer zu fassenden und unterschwelligen – Mißverständnissen in der Diskussion über die vorliegende Problematik geführt hat. Daher ist vorweg klarzustellen, daß es an dieser Stelle nur um solche Konzeptionen geht, die den Vorrang auf den Charakter des Gemeinschaftsrechts als lex superior zurückführen und demgemäß – zumindest implizit – von einer „derogatorischen“ Wirkung der Richtlinie nach der Regel „lex superior derogat legi inferiori“ ausgehen, also von einem Vorrang auf der Ebene der Normen; ob die richtlinienkonforme Auslegung einen „interpretatorischen“ Vorrang in dem Sinne genießt, daß sie den übrigen Auslegungskanones vorgeht, ist eine ganz andere Frage15, die erst an späterer Stelle zu erörtern sein wird16. a) Die Unvereinbarkeit eines „derogatorischen“ Vorrangs mit Art. 249 Abs. 3 EG und mit der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung aa) Ein derogatorischer Vorrang von Richtlinien gegenüber dem nationalen Recht – sei es im Sinne eines bloßen Anwendungs- oder sei es gar im Sinne eines Geltungsvorrangs17 – scheidet grundsätzlich deshalb von vornherein aus, weil 14 Vgl. z. B. Spetzler, RIW 1991, 580; Langenfeld, DÖV 1992, 964; Generalanwalt Cosmas in Slg. 1997-I 6843, 6851 f Rdnr. 22 (Daihatsu); siehe im übrigen die ausführliche Darstellung von Brechmann 131 ff. 15 Am Fehlen einer Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten des Vorrangs krankt leider auch die – ansonsten vorzügliche –Darstellung des Meinungsstandes bei Brechmann 127 ff; so stellt z. B. die von ihm 132 FN 21 referierte Ansicht von Müller-Graff, NJW 1993, 21 lediglich eine – wenn auch zu weit gefaßte – interpretatorische Vorrangregel dar, weil dieser den Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung ausdrücklich unter die Einschränkung stellt, daß sie sich „im Rahmen der Auslegungsfähigkeit und der Auslegungsmethoden des nationalen Rechts“ hält; vgl. zur Bedeutung dieser Grenze näher unten 3 b. 16 Vgl. unten II 2 a sowie die zusammenfassende Darstellung des Unterschieds zwischen derogatorischer und interpretatorischer Vorrangregel unten II 3 a. 17 Diese Unterscheidung spielt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine wesentliche Rolle, wobei das Bundesverfassungsgericht lediglich einen Anwendungsvorrang animmt, vgl. z. B. BVerfGE 73, 339, 375; 75, 223, 244 und dazu Di Fabio, NJW 1990, 950 f. Auch der EuGH geht von einem (bloßen) Anwendungsvorrang aus, vgl. EuGH vom 7.2.1991 – Rs C-1 84/89, Slg. 1991, I-297, 321 (Nimz) und dazu z. B. Ehricke, RabelsZ 59 (1995) 629 f.
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diese nach Art. 249 Abs. 3 EG keine unmittelbare normative Wirkung entfalten, sondern normlogisch gesehen lediglich einen Gesetzgebungsauftrag an die Mitgliedstaaten bzw. eine Verpflichtung derselben zur Umsetzung der [53] Richtlinie durch einen eigenständigen Akt des nationalen Gesetzgebers darstellen. Das ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut von Art. 249 Abs. 3 EG als auch aus dem Unterschied der Richtlinie gegenüber der – in dieser Hinsicht genau entgegengesetzt wirkenden – Verordnung i. S. von Art. 249 Abs. 2 EG und dürfte heute im Ergebnis so gut wie unstreitig sein. Demgemäß wirkt die Richtlinie grundsätzlich nicht „self-executing“ bzw. – zivilrechtlich gesprochen – nicht „dinglich“, sondern nur „obligatorisch“. Folglich kann sie dem nationalen Recht grundsätzlich nicht als lex superior vorgehen. Zwar ist sie gegenüber diesem durchaus „superior“, weil sie am Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht teilhat18, doch stellt sie keine „lex“ dar, sondern bedarf erst noch der Umsetzung in eine solche. bb) Daraus folgt zugleich, daß ein derogatorischer Vorrang von Richtlinien auch mit der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung19 unvereinbar ist. Diese ist durch die Entstehung des Gemeinschaftsrechts der Europäischen Union nicht etwa „falsch“ geworden20, sondern bedarf lediglich einer gewissen Modifikation und Fortbildung, bleibt im übrigen aber nach wie vor aus rechts- und staatstheoretischen Gründen von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der Rechtsordnung und des Verhältnisses ihrer verschiedenen Bestandteile zueinander21, zumal ein überzeugungskräftigeres Alternativkonzept nicht einmal ansatzweise in Sicht ist. Innerhalb der pyramidenförmigen Hierarchie, welche dem Modell des Stufenbaus zugrunde liegt, befindet sich die Richtlinie nun nicht einfach auf einer „Stufe“ oder in einem „Stockwerk“ oberhalb der Normen des nationalen Rechts, sondern – um im Bilde zu bleiben – gewissermaßen in einem anderen Teil des Doppelgebäudes, das aus dem Gemeinschaftsrecht zum einen und der jeweiligen nationalen Rechtsordnung zum anderen besteht. Aus diesem Teil kann die Richtlinie nicht einfach in den anderen Teil hinüberwirken, weil es insoweit an einer gemeinsamen pyramidalen Hierarchie fehlt. Folglich kann sie in der Tat aus normlogischen Gründen grundsätzlich keine derogatorische Wirkung gegenüber dem nationalen Recht entfalten und dieses nicht als lex superior verdrängen. [54] 18 Das ist für den Fall ihrer (sogleich unter b näher zu erörternden) „unmittelbaren“ Wirkung anerkannt, vgl. nur BVerfGE 75, 223, 244; vgl. im übrigen näher unten II 2 a bb. 19 Grundlegend Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 231 ff und Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960) 228 ff; vgl. ferner z. B. Merkl, FS für Kelsen (1931) 252 ff; Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung (1975) 15 ff; vgl. ferner die Darstellung dieser Lehre bei Bydlinski (FN 4) 201 ff; Röhl, Allgemeine Rechtslehre (1994) 293 ff. 20 So aber Robbers, NJW 1998, 937. 21 Treffend die Würdigung dieser Lehre durch Bydlinski (FN 4) 249.
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b) Die Sonderproblematik der „unmittelbaren“ Anwendbarkeit einer Richtlinie aa) Nach der Rechtsprechung des EuGH können sich die Bürger der EU unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbar auf eine Richtlinie berufen, sofern diese nicht ordnungsgemäß oder nicht fristgerecht umgesetzt worden ist22. Darin liegt eine Fortbildung von Art. 249 Abs. 3 EG bzw. des (übereinstimmenden) Art. 189 Abs. 3 EWGV, die sich im Rahmen des durch das deutsche Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag abgesteckten Integrationsprogramms hält und mit dem Grundgesetz vereinbar ist23. Da die Richtlinie insoweit im praktischen Ergebnis wie eine Verordnung wirkt, kommt ihr bei dieser Konstellation in der Tat derogatorische Wirkung gegenüber dem nationalen Recht im Sinne einer lex superior zu, so daß sie dieses verdrängt (wenn auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht im Wege eines Geltungs-, sondern lediglich eines Anwendungsvorrangs24). Dafür macht es keinen Unterschied, ob man hier von einer „unmittelbaren“ Anwendung der Richtlinie spricht oder lediglich davon, daß der Bürger sich auf diese „berufen“ kann. bb) Voraussetzung für eine solche Wirkung ist freilich, daß die Richtlinie unbedingt und genau genug ist, um daraus unmittelbar Rechte abzuleiten, und der Mitgliedstaat es versäumt hat, sie innerhalb der dafür geltenden Frist umzusetzen. Außerdem hat der EuGH diese Rechtsprechung bisher auf Fälle beschränkt, in denen dem Bürger ein öffentlich-rechtliches oder zumindest von der öffentlichen Hand getragenes Rechtssubjekt gegenübersteht, und ihre Erstreckung auf Fälle abgelehnt, in denen auf beiden Seiten reine Privatrechtssubjekte beteiligt sind25. Demgemäß gibt es nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung des EuGH keine sogenannte „Horizontalwirkung“ von Richtlinien. Das dürfte u. a. damit zusammenhängen, daß der EuGH die unmittelbare Wirkung von Richtlinien vor allem aus Rechtsgedanken wie dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens bzw. dem estoppel-Prinzip und dem Verbot der Berufung auf eigenes Unrecht entwickelt hat. Zwar ist diese Begründung nicht uneingeschränkt [55] 22 Grundlegend EuGH vom 19.1.1982 – Rs 8/81 – Slg. 1982, I-53 Rdnr. 57 ff (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt); vgl. ferner die Darstellung bei Steindorff (FN 5) 436 ff; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts (1994) 71 ff; Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts (1998) 44 ff; Franzen 360 ff; den Versuch einer eigenständigen dogmatischen Fundierung unternimmt Ress, DÖV 1994, 494 ff. 23 Vgl. BVerfGE 75, 223, 240 ff. 24 Vgl. die Nachw. oben FN 17. 25 Repräsentativ vor allem EuGH vom 14.7.1994 – Rs C-91/92 – Slg. 1994, I-3325, 3355 Rdnr. 20 ff (Faccini Dori); kritisch dazu z. B. Steindorff (FN 5) 440 ff; Heß, JZ 1995, 151; ebenso z. B. EuGH vom 7.3.1996 – Rs C-192/94 – Slg. 1996, 1281 (El Corte Inglès); vgl. dazu z. B. Klauer (FN 22) 55 f; Franzen 361 ff.
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überzeugungskräftig26, doch begegnet andererseits eine zu starke Ausweitung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und eine weitgehende Anerkennung ihrer „Horizontalwirkung“27 vor allem deshalb starken Bedenken, weil dadurch der – ohnehin schon stark verwässerte – Unterschied zwischen Richtlinie und Verordnung vollends eingeebnet zu werden droht. cc) Für die vorliegende Abhandlung ist diese Thematik nur am Rande relevant, so daß sie weitgehend ausgeklammert bleibt28. Denn soweit Richtlinien „unmittelbar“ anwendbar sind bzw. sich der Bürger „unmittelbar“ auf sie berufen kann, bleibt für eine richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung kein Raum, weil die Richtlinie dann ohnehin vorgeht29; nicht einmal das Problem des contra-legem-Judizierens30 stellt sich dann noch, wird doch entgegenstehendes nationales Recht einfach verdrängt und durch die Richtlinie ersetzt, wenn man mit deren „unmittelbarer“ Anwendung wirklich ernst macht. Demgemäß ist die – im Mittelpunkt dieses Abschnitts stehende –Frage nach dem rechtsquellentheoretischen Geltungsgrund der richtlinienkonformen Auslegung von vornherein obsolet, soweit die Richtlinie „unmittelbar“ anwendbar ist bzw. der Bürger sich „unmittelbar“ auf sie berufen kann. 3. Die Verpflichtungswirkung der Richtlinie nach Art. 249 Abs. 3 EG als Grundlage des Gebots richtlinienkonformer Auslegung und Rechtsfortbildung Der EuGH hat das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung in den Entscheidungen „von Colson und Kamann“ sowie „Harz“ in erster Linie auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten gestützt, das in einer Richtlinie vorgesehene und in Art. 249 Abs. 3 EG genannte Ziel zu erreichen. Das hat er im wesentlichen damit begründet, daß „die Erfüllung dieser Verpflichtung ... allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegt, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten“31. Diese Ansicht hat im Schrifttum im Ergebnis weitgehend Zustimmung gefunden32. In der Tat erscheint die Lösung
Vgl. Steindorff (FN 5) 439. Für eine solche z. B. mit Nachdruck Klauer (FN 22) 47 mit Nachw. in FN 95 und 57 ff; tendenziell ebenso, wenn auch vorsichtig formulierend, Steindorff (FN 5) 443 ff; Ress, DÖV 1994, 494 ff; dezidiert ablehnend z. B. Jarass (FN 22) 79 f. 28 Vgl. aber immerhin die Andeutung unten IV vor 3. 29 Vgl. zusammenfassend unten II 3 b. 30 Vgl. dazu unten IV. 31 EuGH aaO (wie FN 1). 32 Vgl. z. B. Brechmann 247 ff; Jarass (FN 22) 89; Rüffler, ÖJZ 1997, 123; Franzen 296 ff mit umf. Nachw. auch zu den Gegenstimmen 294 FN 19. 26
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des EuGH im Ansatz und in ihren wesentlichen Bestandteilen als voll überzeugend. [56] a) Die Rechtsprechung als notwendige Ergänzung und Vervollständigung der Gesetzgebung Die Verpflichtungswirkung des Art. 249 Abs. 3 EG läßt sich sinnvollerweise nicht auf den Staat als solchen beschränken, sondern ist folgerichtig auf die einzelnen Träger der hoheitlichen Gewalt zu erstrecken, da der Staat nur durch seine Organe zu handeln vermag. Würde man entgegengesetzt entscheiden, wäre die Verpflichtungswirkung des Art. 249 Abs. 3 EG weitgehend zur Ineffizienz verurteilt. Das gilt in besonderem Maße für das Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung33. Denn der Gesetzgeber ist lediglich imstande, ein mehr oder weniger abstraktes und vages Normprogramm zu entwerfen, während dessen Konkretisierung und einzelfallbezogene Umsetzung der Rechtsprechung obliegt. Demgemäß ist es unabhängig von allen Kontroversen um die Frage nach der normativen Qualität von „Richterrecht“34 zumindest faktisch gesehen weitgehend erst die Rechtsprechung, welche die Gesetze mit ihrem vollen Inhalt füllt und also das „law in action“ im Unterschied zum „law in the books“ schafft. Da somit die Anwendung, Auslegung und Fortbildung der Gesetze durch die Gerichte die notwendige Ergänzung und Vervollständigung ihrer Schaffung durch den Gesetzgeber darstellt, wäre die Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien in einem wesentlichen Teilbereich unvollständig und insoweit ineffizient, wenn man in sie nicht auch die Rechtsprechung einbezöge. b) Die Wahrung der innerstaatlichen Kompetenzverteilung und –abgrenzung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung und ihre praktischen und dogmatischen Konsequenzen aa) Von entscheidender Bedeutung für die Überzeugungskraft des vom EuGH entwickelten Lösungsansatzes ist desweiteren, daß dieser eine Pflicht der Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung nur „im Rahmen ihrer Zustän-
33 Anders offenbar Steindorff (FN 5) 445, der von einer „Gleichschaltung der Gerichte mit den übrigen Staatsorganen“ spricht und die Befürchtung äußert, daß diese „die Unabhängigkeit der Gerichte in Frage stellen würde“; demgegenüber ist auf die Einschränkung zu verweisen, daß die Gerichte nur „im Rahmen ihrer Zuständigkeit“ zu einer richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet sind und daß eine solche das Bestehen eines „Beurteilungsspielraums“ voraussetzt, vgl. dazu näher sogleich unter b und c. 34 Vgl. dazu nur Bydlinski (FN 4) 501 ff; Larenz/Canaris (FN 4) 252 ff m. w. N.
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digkeiten“ annimmt35. Das ist nicht etwa lediglich im prozeßrechtlichen, sondern vielmehr im kompetenziellen Sinne zu verstehen36, und daher wird dadurch von vornherein gewährleistet, daß die jeweilige innerstaatliche Kompetenzverteilung und -abgrenzung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung unberührt bleibt. [57] In der Tat stellt Art. 249 Abs. 3 EG evidentermaßen keine Grundlage für deren Verschiebung dar. Falls dadurch das Prinzip vom Vorrang des Gesetzes gegenüber der Rechtsprechung tangiert würde, könnte sich das deutsche Recht überdies einer derartigen Vorgabe des Gemeinschaftsrechts, wenn es sie denn gäbe, gar nicht öffnen37; denn dadurch würde gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstoßen, und Änderungen, durch welche die in dieser Vorschrift niedergelegten Grundsätze berührt werden, sind nach Art. 79 Abs. 3 GG sogar mit verfassungsändernder Mehrheit nicht zulässig38, was nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch im Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht gilt. bb) Zugleich folgt aus der Einschränkung, daß das Gebot richtlinienkonformer Auslegung nur „im Rahmen der Zuständigkeiten“ der Gerichte gilt, implizit die weitere Einschränkung, daß dieses keinesfalls ein Gebot zur richterlichen Umsetzung einer Richtlinie im Wege eines unzulässigen Contra-legemJudizieren einschließt39. Ein solches überstiege nämlich die „Zuständigkeiten“ der Gerichte und verstieße in Deutschland überdies gegen das Prinzip vom Vorrang des Gesetzes und damit gegen Art. 20 Abs. 3 GG. cc) Schließlich tritt in der Wahrung der Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung auch ein zentraler Unterschied des vom EuGH vertretenen Konzepts sowohl gegenüber der soeben unter 2 a erörterten Vorstellung von einem „derogatorischen“ Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung als auch gegenüber der unter 2 b angesprochenen „unmittelbaren“ Wirkung von Richtlinien zu Tage. Denn diese verdrängen nach der Regel von der lex superior entgegenstehendes nationales Recht ohne weiteres, wohingegen dieses nach der vom EuGH aus der Umsetzungsverpflichtung entwickelten Lösung trotz Unvereinbarkeit mit den Anforderungen einer Richtlinie folgerichtig unberührt bleibt, sofern es sich mit den den Gerichten zur Verfügung stehenden Mitteln nicht lege artis überwinden läßt.
EuGH aaO (wie FN 1). Ebenso z. B. Jarass (FN 22) 94; Rüffler, ÖJZ 1997, 126. 37 Zur Notwendigkeit einer solchen Öffnung zutreffend Brechmann 247 ff. 38 In diese Richtung zielt ersichtlich auch der Hinweis von Di Fabio, NJW 1990, 953. 39 Vgl. dazu näher unten IV 2; durch die im Text gewählte Formulierung wird hier vorausgesetzt, daß es sich um einen Fall unzulässigen Contra-legem-Judizierens handelt, weil an dieser Stelle noch nicht dargelegt werden kann, unter welchen Voraussetzungen eine solche Unzulässigkeit vorliegt. 35 36
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c) Das Erfordernis einer „vollen Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums“ durch die Gerichte Allerdings fordert der EuGH einen sehr dezidierten Einsatz dieser Mittel. Er erwartet nämlich, daß „das nationale Gericht das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auslegt und anwendet“40. [58] aa) Vorsorglich sei zunächst hervorgehoben, daß dieser Satz nicht etwa in einem Spannungsverhältnis oder gar in einem Gegensatz zu der Begrenzung des Gebots richtlinienkonformer Auslegung durch den „Rahmen der Zuständigkeiten“ der Gerichte steht. Denn diese können einen „Beurteilungsspielraum“ nur dann „voll ausschöpfen“, wenn sie einen solchen überhaupt haben, und so fügt der EuGH denn auch unmißverständlich die einschränkende Voraussetzung hinzu, daß das nationale Recht einen Beurteilungsspielraum „einräumt“. Demgemäß muß eine richtlinienkonforme Auslegung nach den Maßstäben des einschlägigen nationalen Rechts überhaupt möglich sein. bb) Im übrigen läßt die Formulierung des EuGH jedoch erkennen, daß dieser bei Vorhandensein eines Beurteilungsspielraums tunlichst einen gewissen Vorrang des Kriteriums der richtlinienkonformen Auslegung erwartet. Auch in dieser Hinsicht ist seine Diktion indessen von einer begrüßenswerten Mischung aus Dezidiertheit und Flexibilität gekennzeichnet. Denn „volle Ausschöpfung“ des Beurteilungsspielraums, ja sogar Vorrang – ein Wort, das der EuGH allerdings nicht einmal benutzt hat! – kann mancherlei bedeuten und läßt demgemäß, in Einklang mit der die Beschlüsse „von Colson und Kamann“ sowie „Harz“ tragenden Grundhaltung des EuGH, den nationalen Entscheidungsfindungsmethoden, die ja die Kompetenzverteilung und -abgrenzung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung wesentlich prägen, ihren genuinen Raum. So mag es durchaus sein, daß den Anforderungen an eine richtlinienkonforme Auslegung schon dann Genüge getan ist, wenn ihr im Rahmen einer Gesamtabwägung zwischen den verschiedenen Auslegungskriterien höheres Gewicht als den übrigen zugemessen, aber keineswegs für sich allein ausschlaggebende Bedeutung zugebilligt wird. Außerdem kennt die Methodenlehre zwar bekanntlich kein allgemeingültiges abstraktes Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Auslegungskriterien, wohl aber einzelne Vorrangregeln, die einem einzigen Gesichtspunkt für eine bestimmte Konstellation generell, d. h. unabhängig von einer einzelproblembezogenen Abwägung, den Vorrang einräumen, ohne daß dabei eine lex superior im Spiel zu sein braucht41, und daher ist es trotz der oben 40 41
EuGH aaO (FN 1) 1910 f Leitsatz 3 S. 2 und 1944 Leitsatz S. 2. Vgl. näher unten II 1 b.
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2 a erfolgten Zurückweisung eines „derogatorischen“ Vorrangs des Gebots richtlinienkonformer Auslegung durchaus möglich, daß sich immerhin ein – schwächerer – „interpretatorischer“ Vorrang begründen läßt. Wie diese Fragen zu beantworten sind, richtet sich folgerichtig nach den Maßstäben der jeweiligen nationalen Rechtsordnung42, da diese über die „Zuständigkeiten“ der Gerichte und die Abgrenzung ihrer Kompetenzen gegenüber denen des Gesetzgebers entscheidet, und ist demgemäß in einem gesonderten Abschnitt zu untersuchen, wobei sich eine differenzierende Lösung als richtig erweisen wird43. [59] cc) Insgesamt handelt es sich somit bei der Entwicklung des Gebots der richtlinienkonformen Auslegung durch den EuGH in den grundlegenden Entscheidungen „von Colson und Kamann“ sowie „Harz“ um ein Musterbeispiel einer „geglückten richterlichen Rechtsfortbildung“44. Demgemäß beruhen die Bedenken und Einwände, die im Schrifttum gegen die Herleitung des Gebots richtlinienkonformer Auslegung aus Art. 249 Abs. 3 EG vorgebracht werden45, weitgehend darauf, daß keine hinreichende Klarheit über dessen Inhalt und seine Konsequenzen besteht und insbesondere die Unterscheidung zwischen „derogatorischer“ und „interpretatorischer“ Vorrangregel sowie zwischen letzterer und einem bloßen, wenngleich besonders gewichtigen interpretatorischen Abwägungsgesichtspunkt verkannt wird46. 42 Ebenso z. B. Schön (FN 5) 41; Jarass (FN 22) 93 ff; Steindorff (FN 5) 451; Heinrichs, NJW 1995, 155; Rüffler, ÖJZ 1997, 126; Franzen 341 ff. 43 Vgl. unten II 2. 44 Vgl. dazu Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildung (1965), dessen dort entwickelte Kategorien freilich im vorliegenden Zusammenhang als wenig ergiebig erscheinen. 45 Vgl. z. B. Di Fabio, NJW 1990, 953 und dazu sogleich FN 46; Scherzberg, Jura 1993, 232; der Sache nach auch Hommelhoff, Festgabe (FN 3) 892, nach dessen Ansicht „nicht die nationalen Rechtsanwender die Adressaten des gemeinschaftsrechtlichen Gebots (sind), mitgliedstaatliches Recht richtlinienkonform auszulegen.“ 46 Repräsentativ ist etwa die Stellungnahme von Di Fabio, NJW 1990, 953, der – mit vollem Recht – ein Gebot richtlinienkonformer Auslegung, das zur „Unterwerfung unter einen Geltungsvorrang des Gemeinschaftsrechts unter Hintanstellung des gesamten nationalen Rechts zwingt“ (Hervorhebung hinzugefügt), ablehnt, dabei jedoch nicht berücksichtigt, daß der EuGH diese extreme Position gerade nicht vertritt, sondern das Postulat einer richtlinienkonformen Auslegung durch die Gerichte nur „im Rahmen ihrer Zuständigkeit“ und unter der Voraussetzung und in den Grenzen eines für sie bestehenden „Beurteilungsspielraums“ aufgestellt hat und also keinesfalls von einem „derogatorischen“, sondern allenfalls von einem „interpretatorischen“ Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung ausgeht; auch einen solchen akzeptiert Di Fabio aaO freilich der Sache nach ersichtlich nicht, weil er nur die Möglichkeit anerkennt, daß „Inhalt und Zielsetzung der Richtlinie als Auslegungskriterien eines nationalen Umsetzungsgesetzes herangezogen werden“, und also das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung lediglich – aber immerhin! – in seiner Funktion als interpretatorischer Abwägungsgesichtspunkt heranzieht, während die Funktion einer interpretatorischen Vorrangregel nicht in den Blick kommt – was freilich insofern nicht verwunderlich ist, als diese Unterscheidung seinerzeit in der juristischen Methodenlehre noch so gut wie unbekannt war.
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d) Die Problematik der Entscheidung des EuGH im Fall„Marleasing“ Allerdings hat der EuGH leider die Konsistenz und die Akzeptanz der Konzeption, die er in den Entscheidungen „von Colson und Kammann“ sowie „Harz“ entwickelt hat, durch unglückliche Wendungen in der Entscheidung „Marleasing“ gefährdet. Er hat dort nämlich apodiktisch gesagt, daß das Erfordernis der richtlinienkonformen Auslegung es „verbietet“, die nationalen Rechtsvorschriften in einer bestimmten, mit der einschlägigen Richtlinie unvereinbaren Weise auszulegen, und daß „ein nationales Gericht ... sein nationales Recht unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks dieser [60] Richtlinie auslegen muß (!), um (ein mit dieser unvereinbares Ergebnis) zu verhindern.47“ Daraus könnte man den Schluß ziehen, der EuGH habe die Einschränkung aufgeben wollen, daß eine richtlinienkonforme Auslegung nur geboten ist, wenn das einschlägige nationale Recht die Möglichkeit zu einer solchen durch das Vorhandensein eines entsprechenden „Beurteilungsspielraums“ offen läßt. In der Tat ist im Schrifttum aus diesem Urteil gefolgert worden, die richtlinienkonforme Auslegung könne geradezu zu einem Contra-legem-Judizieren führen48. Dagegen spricht jedoch, daß in der Entscheidung selbst ausdrücklich von der Formulierung ausgegangen wird, die nationalen Gerichte müßten die Auslegung ihres Rechts „soweit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten49. Hinzukommt, daß das betroffene – spanische – Recht offenbar durchaus einen Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung ließ50, wenngleich dafür das bisher in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft etablierte Verständnis der einschlägigen Normen hätte geändert werden müssen51. Insgesamt darf man somit die Bedeutung der Entscheidung – die geradezu eine Flut von literarischen Stellungnahmen ausgelöst hat – nicht überbewerten und kann aus ihr nicht schließen, daß der EuGH eine so dramatische Kehrtwendung vollzogen hat, wie sie in der Aufgabe des Erfordernisses eines „Beurteilungsspielraums“ im nationalen Recht liegen würde. Das gilt umso mehr, als der 47 EuGH vom 13.11.1990 – Rs C-106/89 – Slg. 1990, I-4135, 4159 f Rdnr. 9 und 13 (Marleasing). 48 So Stuyck/Wytinck, CML Rev 1991, 211. 49 AaO 4159 Rdnr. 8. 50 So Iglesias/Riechenberg, FS für Everling (1995) II 1221 f, die vor diesem Hintergrund die vom EuGH verwendeten Formulierungen relativieren wollen; ähnlich insoweit z. B. Prechal, Directives in European Community Law (1995) 221 f, der ebenfalls vor einer Überinterpretation dieser Entscheidung warnt. 51 Vgl. dazu die eingehende Analyse von M. Schwab, ZGR 2000, 467 ff, der freilich letztlich zu dem Ergebnis kommt, daß die vom EuGH geforderte richtlinienkonforme Auslegung „über den Rahmen der nach nationalem Recht denkbaren Auslegungsmöglichkeiten hinausging“ (471 f).
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EuGH weder die rigiden Formulierungen dieser Entscheidung wiederholt noch gar ein weiteres Mal ähnlich tief in den Auslegungsspielraum eines nationalen Gerichts eingegriffen hat wie im Fall „Marleasing“. Was weitergewirkt hat, ist lediglich die Wendung „soweit wie möglich“, die seither in ständiger Rechtsprechung wiederkehrt – und diese bestätigt das Erfordernis eines Auslegungsspielraums eher als daß sie es in Frage stellt. Demgemäß dürfte davon auszugehen sein, daß der EuGH mit den Worten „soweit wie möglich“ nichts wesentlich anderes gemeint hat als das Erfordernis eines „Beurteilungsspielraums“ im nationalen Recht52 und lediglich das Gebot seiner vollen Ausschöpfung schärfer akzentuieren wollte. [61] Sollte die Entscheidung dagegen in dem Sinne zu verstehen sein, daß der EuGH die nationalen Methoden der Rechtsfindung für irrelevant erklären53 und einer autonomen Bestimmung der Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung allein durch das Europarecht das Wort reden wollte54, so hätte er die Kompetenzen der EU überspannt und seine eigenen Befugnisse überschritten – und zwar offenkundig und weitreichend, so daß die Entscheidung insoweit für die deutschen Gerichte nicht bindend wäre55. Zwar kann der EuGH statuieren, daß die nationalen Gerichte die Richtlinie in den Rechtsfindungsvorgang überhaupt einzubeziehen haben56, da es sich dabei noch um eine genuin europarechtliche Konsequenz aus Art. 249 Abs. 3 EG und gewissermaßen um die „Verlängerung“ des in der Richtlinie liegenden Normsetzungsbefehls auf die Ebene des Rechtsprechungsprozesses handelt57, doch kann er sich nicht in die Handhabung der verschiedenen Auslegungskriterien und die daraus folgende Bestimmung der Grenzen einer Rechtsfindung im Rahmen der lex lata einmischen; denn weil (und sofern) der Richtlinie keine „unmittelbare“ Anwendung und also auch kein derogatorischer Vorrang zukommt58, geht es dabei um spezifische Fragen der Anwendung des nationalen Rechts und des Verhältnisses zwischen Gesetzgebung und 52 Ähnlich im Ergebnis mit eingehender Begründung Prechal (FN 50) 236 ff; wie hier ferner z. B. Rüffler, ÖJZ 1997, 126 f. 53 In dieser Richtung z. B. Curtin, The Decentralised Enforcement of Community Law Rights. Judicial Snakes and Ladders, in: Curtin/O'Keefe (Hrsg.), Constitutional Adjudication in European Community and National Law (1992) 40; Snijder, MLR 1993, 43. 54 In diese Richtung geht die Vermutung von Brechmann 73 f. 55 Die an dieser Stelle an sich erforderliche Vertiefung der – ebenso schwierigen wie brisanten – Problematik des Verhältnisses von primärem Europarecht und nationalem Verfassungsrecht kann im Rahmen der vorliegenden Abhandlung naturgemäß nicht erfolgen; vgl. dazu nur BVerfGE 89, 155, 179 ff (Maastricht). 56 Insoweit zutreffend Prechal (FN 50) 235. 57 Vgl. oben 3 a. 58 Nicht ohne Grund wird die Entscheidung des EuGH im Fall „Marleasing“ im Schrifttum nicht selten im Sinne einer unausgesprochenen „Horizontalwirkung“ der Richtlinie interpretiert – was zwar mit dem Text der Entscheidung unvereinbar ist, sie aber immerhin dogmatisch konsistent machen würde.
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Rechtsprechung innerhalb der Mitgliedstaaten. Übrigens besteht für einen so weitreichenden Eingriff in die nationalen Rechtsordnungen auch gar kein Bedürfnis, ist doch die Durchsetzung der Richtlinie ohnehin durch die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EG und die vom EuGH praeter legem entwickelte Staatshaftung bei mangelhafter Umsetzung von Richtlinien59 letztlich mit hinreichender Effizienz gewährleistet. [62] 4. Die (bloße) Ergänzungsfunktion der Loyalitätspflicht nach Art. 10 EG Ergänzend hat der EuGH das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung auf die Pflicht der Mitgliedsstaaten aus Art. 10 EG bzw. Art. 5 EWGV gestützt, alle zur Erfüllung ihrer Pflicht zur Umsetzung einer Richtlinie geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art. zu treffen. Offenkundig sieht er den Schwerpunkt der Begründung jedoch in Art. 249 Abs. 3 EG bzw. Art. 189 Abs. 3 EWGV in Verbindung mit der jeweiligen Richtlinie60. Demgegenüber haben sowohl der österreichische Verfassungsgerichtshof als auch das deutsche Bundesverfassungsgericht Art. 5 EWGV geradezu in den Mittelpunkt gestellt61, und auch im Schrifttum wird die Bedeutung dieser Bestimmung für die vorliegende Problematik häufig stark betont62. Indessen ist die Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie aus Art. 249 Abs. 3 EG und aus dieser selbst wesentlich problemnäher als die sehr allgemein gehaltene Pflicht aus Art. 10 EG, und daher ist es von weitaus größerer Überzeugungskraft, das Gebot richtlinienkonformer Auslegung primär aus ersterer herzuleiten. Ob Art. 10 EG bei dieser Sichtweise geradezu im Wege der Spezialität verdrängt wird63, mag hier dahinstehen; jedenfalls kommt dieser Bestimmung im vorliegenden Zusammenhang lediglich eine argumentative Unterstützungs- und Ergänzungsfunktion, nicht aber die Hauptrolle zu64.
59 Vgl. dazu grundlegend EuGH vom 19.11.1991 – Rs C-6/90 und C-9/90 – Slg. 1991, I-5357 (Francovich); vom 14.7.1994 – Rs C-91/92 – Slg. 1994, I-3325, 3357 Rdnr. 26 f (Faccini Dori); vgl. zu dem sich daraus entwickelnden „europäischen Schadensersatzrecht“ eingehend Krimphove. ÖJZ 1999, 321 ff. 60 EuGH aaO (wie FN 1); deutlich ferner EuGH vom 18.12.1997 – Rs C-129/96 – Slg. 1997, I-7411, 7448 Rdnr. 40 m. w. N. (Inter-Environnement Wallonie). 61 VfGH ÖJZ 1997, 234, 235; BVerfGE 75, 223, 237. 62 Vgl. z. B. Curtin, CMLR 1985, 515; Spetzler, RIW 1991, 580; Lutter, JZ 1992, 604; Nettesheim, AöR 1994, 268 f; Schön (FN 5) 38 ff; Ress, DÖV 1994, 489; Steindorff (FN 5) 449; Zuleeg in Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999) 167 f. 63 So Brechmann 257 f; Franzen 297 f. 64 Ähnlich Rüffler, ÖJZ 1997, 123.
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5. Ablehnung einer ergänzenden Analogie zu Art. 36 EGBGB Im Schrifttum ist vorgeschlagen worden, die Argumentation aus der europarechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien durch eine Analogie zu Art. 36 EGBGB zu ergänzen65. Nach dieser Vorschrift des deutschen Internationalen Privatrechts ist „bei der Auslegung und Anwendung der für vertragliche Schuldverhältnisse geltenden Vorschriften dieses Kapitels ... zu berücksichtigen, daß die ihnen zugrunde liegenden Regelungen des Übereinkommens vom 19.6.1980 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht ... in den Vertragsstaaten einheitlich ausgelegt und angewandt werden sollen.“ [63] Gegen diesen Vorschlag sprechen gravierende Bedenken. Zunächst erhebt sich schon die Frage, wo denn die für eine Analogie erforderliche Lücke ist und wo demgemäß eine dem Art. 36 EGBGB entsprechende Norm über das Gebot richtlinienkonformer Auslegung66 eigentlich im deutschen Recht ihren Platz haben sollte. Ins BGB gehört sie sicher nicht – zum einen, weil dieses, anders als etwa die §§ 6–8 ABGB und Art. 1 Abs. 2 des schweizerischen ZGB, überhaupt keine Regelungen über die richterliche Rechtsfindung enthält, und zum anderen, weil das Gebot richtlinienkonformer Auslegung nicht auf das Privatrecht beschränkt ist, sondern für alle Rechtsgebiete (einschließlich des Verfassungsrechts!67) gilt; in irgendein anderes Gesetz aber würde eine solche Bestimmung noch weniger passen. Es kommt hinzu, daß Art. 36 EGBGB nach seiner ratio legis und seinem Regelungsgehalt keinen hinreichenden Zusammenhang mit der Problematik der richtlinienkonformen Auslegung aufweist. Das folgt schon daraus, daß Art. 36 EGBGB eine Reaktion auf die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers darstellt, die unmittelbare Anwendbarkeit des EVÜ auszuschließen (im Gegensatz zum österreichischen Gesetzgeber, der in § 53 Abs. 2 IPR-Gesetz eine solche Anwendbarkeit statuiert hat), und daß dadurch die Erreichung des in Art. 18 EVÜ proklamierten Ziels einer einheitlichen Auslegung und Anwendung seiner Bestimmungen gefährdet erschien; ein ähnliches gesetzgeberisches Umsetzungsdefizit besteht hinsichtlich des Gebots richtlinienkonformer Auslegung nicht, so daß es schon aus diesem Grund an der für eine Analogie erforderlichen Ähnlichkeit der Problemlage fehlt. Vor allem aber hat Art. 36 EGBGB inhaltlich einen anderen Schwerpunkt als das Gebot richtlinienkonformer Auslegung. Bei dieser geht es nämlich gerade nicht um die internationale Einheitlichkeit der Auslegung und Anwendung der nationalen Normen, sondern lediglich um deren Vereinbarkeit mit der für sie einschlägigen Richtlinie. Letztere kann auch bei unterschiedlicher Franzen 314 ff. Einen Formulierungsvorschlag für eine „Rechtsregel“, die aus der Analogie zu Art. 36 EGBG zu gewinnen sein soll, macht Franzen 320. 67 Vgl. dazu näher unten II 4 b. 65 66
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Auslegung durchaus zu bejahen sein, da nicht selten mehrere Interpretationen mit einer Richtlinie kompatibel sind, zumal ja sogar die Formulierung der nationalen Umsetzungsnormen häufig divergiert. Zwar mag es sein, daß es zusätzlich eine Maxime gibt, das nationale Recht möglichst einheitlich zu interpretieren, soweit ihm eine Richtlinie zugrunde liegt, doch ist dies ein anderes – und hier nicht zur Diskussion stehendes – Problem68. Am Rande sei schließlich noch vermerkt, daß Art. 36 EGBGB seinerseits eine sehr vage und daher hochgradig auslegungsbedürftige Vorschrift darstellt und es als äußerst unzweckmäßig erscheint, die damit verbundenen Schwierigkeiten und deren – vielleicht im Laufe der Zeit gar wechselnde – Lösungen [64] in die Problematik der richtlinienkonformen Auslegung hineinzutragen. Deren sachgerechte Bewältigung könnte durch die Anknüpfung an Art. 36 EGBGB sogar geradezu erschwert werden. Das zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit ausgerechnet bei der zentralen Frage nach dem Verhältnis der richtlinienkonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien; denn die Annahme einer interpretatorischen Vorrangregel, die sich insoweit als angemessen erweisen wird69, dürfte mit dem schwachen Wortlaut von Art. 36 EGBGB („ist zu berücksichtigen“) geradezu unvereinbar sein und erscheint auch im Ergebnis im Rahmen dieser Vorschrift als viel zu weitgehend70. Andererseits lassen sich die daraus allenfalls ableitbaren Folgerungen für die richtlinienkonforme Auslegung71 auch ohne den Rückgriff auf Art. 36 EGBGB begründen, so daß dieser nicht weiterführend ist. Insgesamt vermag somit die Analogie zu Art. 36 EGBGB nicht zu überzeugen. II. Das Verhältnis der richtlinienkonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien Das meistdiskutierte Problem der richtlinienkonformen Auslegung besteht darin, wie diese sich zu den übrigen Auslegungskriterien verhält und ob sie vor diesen grundsätzlich Vorrang hat. Darauf kann nur unter Heranziehung der für das innerstaatliche Recht geltenden Methodenlehre geantwortet werden, da es hierbei um ein Problem der nationalen Rechtsanwendung geht und das Gemeinschaftsrecht diese grundsätzlich unbeeinflußt läßt72.
68 Vgl. dazu näher Canaris in Canaris/Zaccaria (Hrsg.), Die Umsetzung von zivilrechtlichen Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft in Italien und Deutschland (2001) (im Druck). 69 Vgl. unten II 2 a. 70 AA wohl Franzen 336, 343 f. 71 Vgl. dazu eingehend Franzen 337 f. 72 Vgl. oben I 3 c bei FN 42.
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1. Die Unterscheidung zwischen interpretatorischer Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel als methodologischer Ausgangspunkt Die Frage nach dem Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Auslegungskriterien gehört zu den umstrittensten und am wenigsten durchdachten Problemkreisen der heutigen juristischen Methodenlehre. Meist heißt es nur ziemlich lapidar, daß es ein festes Rangverhältnis nicht gibt. Das ist ebenso richtig wie unbefriedigend. Einen Schritt weiter kommt man demgegenüber, wenn man danach differenziert, ob die Auslegungskriterien lediglich als Elemente im Rahmen einer argumentativen Gesamtabwägung fungieren oder ob sie die Grundlage einer Vorrangregel für eine bestimmte Problemkonstellation [65] bilden. Diese Unterscheidung wird zwar bisher fast nie getroffen73, erweist sich aber bei näherer Analyse als durchaus fruchtbar74. a) Die Auslegungskriterien als Elemente im Rahmen einer argumentativen Gesamtabwägung aa) Wenn gesagt wird, daß es kein festes Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Auslegungskriterien gibt, so beruht das in der Sache meist darauf, daß diese grundsätzlich lediglich mehr oder weniger locker miteinander kombiniert werden. Es werden also grammatische, historische, systematische und teleologische Gesichtspunkte – soweit vorhanden – gesammelt, als „stark“ oder „schwach“ qualifiziert und dementsprechend gewichtet sowie schließlich im Konfliktsfalle gegeneinander abgewogen. Das ist genau die Art. und Weise, wie man üblicherweise mit Argumenten umgeht, und bietet daher entgegen einem verbreiteten Mißverständnis75 durchaus keinen Anlaß dazu, die Rationalität des Rechtsgewinnungsvorgangs in Zweifel zu ziehen oder die Heranziehung der verschiedenen Auslegungskriterien, von denen bei einer solchen Vorgehensweise zwangsläufig mal das eine und mal das andere dominiert, als beliebig zu diskreditieren. bb) Es liegt auf der Hand, daß die Auslegungskriterien hier als Elemente im Rahmen einer Abwägungslösung benutzt werden76. Dabei handelt es sich offenkunEine rühmliche Ausnahme bildet Bydlinski (FN 4) 555 ff. Vgl. eingehend Canaris, FS für Medicus (1999) 58 ff mit zahlreichen ausführlich analysierten Beispielen 31 ff und 50 ff. 75 Repräsentativ Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1970) 123; unzutreffend auch Rüthers, Rechtstheorie (1999) Rdnr. 815 (nach FN 746). 76 Zur Begründung und Kritik von Abwägungsurteilen vgl. eingehend Sieckmann, Rechtstheorie 26 (1995) 45 ff; zu ihrer Struktur und Rationalität vgl. Jansen, ARSP Beiheft Nr. 66 (1997) 152 ff, 159 ff und Der Staat 36 (1997) 27 ff; zum – alsbald im Text in den Blick kom73 74
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dig um ein Denkmodell, das Ähnlichkeit mit einem „beweglichen System“ im Sinne Wilburgs hat77. Es kommt nämlich auf das Zusammenspiel der Kriterien je nach Zahl und Gewicht an, diese sind abstufbar – also stärker oder schwächer – und sie stehen, was im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig ist, grundsätzlich auf derselben Rangebene. Unter einem etwas anderen Blickwinkel kann man auch sagen, daß die Auslegungskriterien bei dieser Vorgehensweise ähnlich wie (bloße) „Prinzipien“ fungieren in dem Sinne, in dem man diese heute von „Regeln“ unter- [66] scheidet78. Denn danach ist für Prinzipien charakteristisch, daß sie einer Abstufung und Gewichtung zugänglich und bedürftig sind79 und daß sie demgemäß nicht zu Lösungen nach dem Schema „ja/nein“ bzw. „entweder/oder“ führen, sondern komparative Sätze80 in der Form „je mehr und je gewichtiger desto eher“ bilden. b) Interpretatorische Vorrangregeln aa) Von wesentlich anderer Struktur sind demgegenüber die interpretatorischen Vorrangregeln. Daß es solche gibt, ist nicht ernsthaft zu bezweifeln. Paradigmatisch hierfür ist die verfassungskonforme Auslegung, da diese anerkanntermaßen Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien hat, sofern das – mit deren Hilfe ausgelegte – einfache Recht einen Spielraum für eine mit der Verfassung in Einklang stehende Lösung läßt. Allerdings ist dieses Beispiel im vorliegenden Zusammenhang nicht optimal, weil der Vorrang der verfassungskonformen Auslegung letztlich auf der Qualität der Verfassung als lex superior beruht und die richtlinienkonforme Auslegung sich auf diese Begründung gerade nicht – jedenfalls nicht unmittelbar – stützen läßt81.
menden – Zusammenhang mit der ,,Prinzipientheorie“ vgl. Alexy in Schilcher/Koller/Funk (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts (2000) 35 f, 48 ff; äußerst skeptisch gegenüber der Rationalität von Abwägungsurteilen dagegen Leisner, Der Abwägungsstaat. Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit? (1997) 46 ff, 72 ff, 132 ff, 153 ff. 77 Ebenso mit Recht Bydlinski (FN 4) 555 f, 565; ähnlich Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme (1997) 206 ff; vgl. in diesem Zusammenhang ferner Bydlinski in Schilcher/Koller/Funk (FN 76) 9 ff. 78 Grundlegend Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen (1977) 58 ff; präzisierend und weiterführend Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, ARSP Beiheft 25 (1985) 13 ff, der das „Kollisionstheorem“ Dworkins als Abgrenzungskriterium ablehnt und das Verständnis der Prinzipien als „Optimierungsgebote“ eingeführt hat; vgl. dazu zuletzt dens. in Schilcher/Koller/ Funk (FN 77) 32 ff. 79 Vgl. dazu näher Alexy (FN 76) 15 ff; ähnlich insoweit bereits Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. (1983) 52 ff, 115 f. 80 Grundlegend dazu Otte, Jb für Rechtssoziologie und Rechtstheorie II(1972)301 ff. 81 Vgl. oben I 2 a.
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Es gibt jedoch auch Vorrangregeln, die nichts mit dem Satz von der lex superior zu tun haben82. So lassen sich etwa die folgenden drei Regeln aufstellen und argumentativ absichern: Die „historische“ ratio legis hat Vorrang vor den Vorstellungen der Gesetzesverfasser von Inhalt und Reichweite einer Norm; diejenige ratio legis, welche die Gesetzesverfasser in einer für den „historischen“ Gesetzgeber – d. h. für die Mitglieder des Gesetzgebungsorgans – erkennbaren Weise zugrunde gelegt haben, ist für den Rechtsanwender grundsätzlich verbindlich, sofern sie im Gesetz in irgendeiner Form Ausdruck gefunden hat; und der Wortlaut einer Norm hat Vorrang vor gegenläufigen Zwecken anderer Normen, sofern das Gesetz weder einen Auslegungsspielraum noch eine Lücke aufweist83. [67] bb) Derartige interpretatorische Vorrangregeln unterscheiden sich in struktureller Hinsicht signifikant von einer Abwägungslösung. Denn während bei dieser auch ein schwaches Argument immer noch eine gewisse Relevanz besitzt und umgekehrt ein starkes Argument keineswegs ohne weiteres und für sich allein den Ausschlag zu geben braucht, kann man die genannten Regeln nur entweder anerkennen oder ablehnen, nicht jedoch in einer irgendwie gearteten Abstufung mit größerem oder geringerem Gewicht anwenden. Demgemäß stellen sie in der Tat echte Regeln und nicht bloße Prinzipien im Sinne des oben84 erwähnten Verständnisses dar. Anerkennt man also eine derartige Vorrangregel (und hält man sie bei dem betreffenden Problem für einschlägig), so ist damit die betreffende Kollision der Auslegungskriterien gelöst, ohne daß für eine Abwägung noch Raum oder auch nur Bedürfnis bestünde. Das bedeutet zugleich, daß eine etwaige Vorrangregel einer Abwägung der einzelnen Auslegungskriterien vorgeht. Im Verhältnis zu diesen steht die Vorrangregel somit auf einer Metaebene, und anders als diesen dürfte ihr die Qualität einer echten Rechtsnorm zuzuerkennen sein85.
82 Wesentliche Ansätze für die Entwicklung solcher Regeln finden sich bei Bydlinski (FN 4) 555 ff; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre (1982) 181 f; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992) 112 ff; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung (1996) 192 ff, 316 f; Kramer, Juristische Methodenlehre (1998) 128 f. 83 Vgl. Canaris (FN 74) 51, 55 und 57, jeweils mit näherer Begründung und einem praktischen Beispiel. 84 Vgl. bei FN 78. 85 Vgl. dazu eingehend Gern, VerwArch 80 (1989) 430 ff.
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2. Konsequenzen für die Problematik des Rangverhältnisses zwischen der richtlinienkonformen Auslegung und den „klassischen“ Auslegungskanones Ein irgendwie gearteter Vorrang oder Vorzug der richtlinienkonformen Auslegung vor den übrigen Auslegungskanones wird im Schrifttum oft postuliert86, was angesichts der Forderung des EuGH nach einer vollen Ausschöpfung des „Beurteilungsspielraums“ durch die nationalen Gerichte bzw. der Verwirklichung von Richtlinienkonformität „soweit wie möglich“ in der Tat nahezuliegen scheint. Dabei fehlt es jedoch durchweg an einem hinreichenden methodologischen Fundament und demgemäß oft auch sowohl an der wünschenswerten Präzision wie an den erforderlichen Differenzierungen. Diesem Defizit läßt sich durch die Unterscheidung zwischen interpretatorischer Vorrangregel und interpretatorischer Abwägungslösung sowie durch die weitere –schon zuvor herausgearbeitete87 – Unterscheidung zwischen derogatorischer und interpretatorischer Vorrangregel abhelfen88. Zugleich sind diese Unter- [68] scheidungen geeignet, die Bedenken der Kritiker eines Vorrangs der richtlinienkonformen Auslegung89 weitgehend zu entkräften und Mißverständnissen vorzubeugen90.
86 Vgl. z. B., mit im einzelnen durchaus unterschiedlicher Akzentsetzung und Intensität, Spetzler, RIW 1991, 580; Lutter, JZ 1992, 604 f; Jarass (FN 22) 95 f; Gellermann (FN 5) 113; Ehricke, RabelsZ 59 (1995) 612 ff (bloße „Vorzugsregel“); Grundmann, ZEuP 1996, 412 ff; Rüffler, ÖJZ 1997, 127; Franzen 343 f; Auer, ZBB 1999, 170. 87 Vgl. oben I 2 vor und mit a; vgl. dazu auch sogleich noch einmal in FN 90. 88 Letztere fehlt auch bei Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 8 f, der aber immerhin dem Kern der Problematik ziemlich nahe kommt, auch wenn er keine interpretatorische Vorrangregel, sondern nur ein besonders großes Gewicht der richtlinienkonformen Auslegung im Rahmen einer Abwägungslösung annimmt; vgl. auch dens., DB 1994, 1052 ff. 89 Vgl. z. B. Di Fabio, NJW 1990, 953 und dazu eingehend oben FN 46; Hommelhoff, Festgabe (FN 3) 891. 90 Repräsentativ dazu noch jüngst W.H. Roth in Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/ Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft (2000) II 875, der es als mißverständlich bezeichnet, „im Hinblick auf die Auslegung des nationalen Rechts von einem ‚Vorrang' des Grundsatzes richtlinienkonformer Auslegung zu sprechen, da eine Richtlinie mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nicht mit nationalem Recht kollidieren und daher eine Rangfrage nicht entstehen kann“. Dieses Mißverständnis entfällt, wenn man wie hier zwischen einem derogatorischen Vorrang, der auf der Stufe der Normen besteht, und einem interpretatorischen Vorrang, der lediglich auf der Stufe der Auslegungskriterien besteht, unterscheidet, was nicht nur rechtstheoretisch und methodologisch, sondern auch praktisch von tiefgreifender Bedeutung ist, vgl. näher unten II 3 a. Zu eng ist demgemäß auch der Sprachgebrauch von Brechmann 248 f mit FN 6, der den Terminus „Rangregel“ nur für das Verhältnis zwischen zwei Rechtsquellen innerhalb des Stufenbaus der Rechtsordnung verwenden will; ähnlich auch Ehricke, RabelsZ 59 (1995) 612 ff, der strikt zwischen Vorrang- und Vorzugsregel unterscheidet und hinsichtlich der richtlinienkonformen Auslegung nur eine Vorzugsregel anerkennt.
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a) Das grundsätzliche Bestehen einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung aa) Interpretatorische Vorrangregeln bedürfen einer besonderen argumentativen Legitimation. Diese läßt sich hinsichtlich der richtlinienkonformen Auslegung nicht schon daraus herleiten, daß der EuGH, wie oben I 3 c dargelegt, von den nationalen Gerichten eine „volle Ausschöpfung“ des ihnen zustehenden „Beurteilungsspielraums“ und die Verwirklichung von Richtlinienkonformität „soweit wie möglich“ fordert91. Zwar ist die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH für die nationalen Gerichte grundsätzlich bindend, doch geht es hier um eine Frage der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung und richterlichen Entscheidungsfindung, für deren Regelung die EU keine Kompetenz besitzt und deren Beantwortung daher dem einschlägigen nationalen Recht vorbehalten bleibt92. bb) Indessen gibt es zumindest zwei Argumente, die nachdrücklich für die Anerkennung einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung sprechen. Das erste wurzelt letztlich darin, daß die Richtlinie am Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht93 teilhat. Das ist anerkannt, soweit sie „unmittelbare“ Wirkung entfaltet94, gilt aber folgerichtig, wenngleich in anderer und schwächerer Weise, grundsätz- [69] lich auch für ihre normale, d. h. auf Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber angewiesene Wirkung95; denn immerhin geht ja auch die Verpflichtung zur Umsetzung dem nationalen Recht vor (unter Einschluß des Verfassungsrechts!96), und daher besteht ein Unterschied nicht hinsichtlich des Vorrangs, sondern lediglich hinsichtlich der Wirkungsweise der Richtlinie, so daß diese zwar nicht „lex“, wohl aber in gewissem Sinne „superior“ ist. Nimmt man nun hinzu, daß die EU, in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts gesprochen, zwar kein Bundesstaat, aber doch immerhin ein auf zunehmende Integration angelegter „Staatenverbund“ und damit wesentlich mehr als ein bloßer Staatenbund ist97, so sollte das genügen, um die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung dahingehend auszubauen, daß auch ein bloßer NormsetIn diese Richtung zielt aber die Begründung von Rüffler; ÖJZ 1997, 127. Vgl. oben I 3 c bei FN 42. 93 Grundlegend dazu EuGH vom 15.7.1964 – Rs 6/64 – Slg. 1964, 1251, 1269 (Costa). 94 Vgl. nur BVerfGE 75, 223, 244. 95 Die Problematik ist wenig geklärt, vgl. dazu näher Franzen 255 ff mit Nachw. 96 Vgl. EuGH vom 11.1.2000 – Rs C-285/98 – Slg. 2000, I-69, 103 f Rdnr. 15 ff (Tanja Kreil). 97 Vgl. nur BVerfGE 89, 155 (Maastricht); vertiefend und weiterführend zur Kategorie des Staatenverbunds Di Fabio, Das Recht offener Staaten (1998) 140 ff. 91 92
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zungsbefehl des Gemeinschaftsrechts, als welcher die Richtlinie normlogisch zu qualifizieren ist, immerhin insoweit innerstaatliche Wirkung entfaltet, als er zwar nicht derogierenden Vorrang genießt, wie das der Fall wäre, wenn die Richtlinie eine Norm darstellen würde – dieser Unterschied bleibt also bestehen! –, wohl aber als objektiv-teleologisches Kriterium die Gerichte bindet, soweit diese de lege lata – also secundum, praeter oder extra legem98 – Spielraum für eine Umsetzung haben. Der Hinweis auf den Charakter der EU als Staatenverbund hat dabei umso mehr Gewicht, als diese primär als Rechtsgemeinschaft konzipiert ist und ihre Integration vor allem mit den Mitteln des Rechts erfolgen soll, und hebt außerdem zugleich ins Bewußtsein, daß das Denken in der starren Alternative von dualistischer und monistischer Konzeption des Verhältnisses zwischen dem Gemeinschaftsrecht und den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang nicht angemessen ist99. Normlogisch gesehen könnte hier im übrigen die Unterscheidung zwischen Geltungs- und Anwendungsvorrang weiterhelfen100, indem man zwar ersteren im Einklang mit der herkömmlichen Auffassung vom Stufenbau der Rechtsordnung bei einer nicht umgesetzten und nicht unmittelbar wirkenden Richtlinie verneint, letzteren aber in einer gewissen Anpassung dieser Lehre an die Besonderheiten eines Staatenverbundes101 bejaht, soweit damit die Grenze der lex lata nicht überschritten wird. [70] cc) Diese stark theoretische Argumentation läßt sich durch eine pragmatische Überlegung ergänzen und verstärken. Ohne die Annahme einer interpretatorischen Vorrangregel wäre nämlich der Gesetzgeber zum Eingreifen verpflichtet, um einen richtlinienkonformen Zustand herzustellen, da eine bloße interpretatorische Abwägungslösung diesen nicht generell zu gewährleisten vermag, und bei Unterbleiben einer solchen gesetzgeberischen Aktivität müßte die Kommission gegen den betreffenden Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG anstrengen. Im Vergleich zu dieser umständlichen und langwierigen Prozedur besitzt die Annahme einer interpretatorischen Vorrangregel den Vorzug weitaus größerer Effektivität und Praktikabilität. Außerdem vermeidet sie auch die sonst drohende Gefahr einer Staatshaftung wegen mangelhafter Umsetzung der Richtlinie102. Vgl. zu diesen Begriffen näher unten III 1 b bei FN 163. Derzeit dominiert noch eine im wesentlichen dualistisch geprägte Sichtweise, vgl. z. B. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. (1997) Rdnr. 1087; Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. (1999) Rdnr. 616 ff; Streinz in HdbStR VII (1992) § 182 Rdnr. 7; Franzen 28 f m. w. N. 100 Vgl. dazu die Nachw. oben FN 17. 101 Daß das hierarchische Modell vom Stufenbau der Rechtsordnung durch die Entwicklung der EU geradezu „falsch“ geworden sei, wie Robbers, NJW 1998, 937 behauptet (ohne nähere Begründung und ohne Entwicklung einer Alternative), erscheint denn doch als stark übertrieben. 102 Vgl. dazu die Nachw. oben FN 59. 98 99
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Da man sich im Bereich der Auslegung bewegt und ein Übergriff der Rechtsprechung in die Zuständigkeit des Gesetzgebers somit ex praemissione ausgeschlossen ist103, besteht kein Hindernis, derartigen Zweckmäßigkeitsüberlegungen Raum zu geben. Daß solche einen legitimen Platz in der juristischen Methodenlehre einnehmen, hat Bydlinski in Weiterführung der vor allem von Radbruch entwickelten Trias von Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit überzeugend nachgewiesen104. dd) Nicht tragfähig erscheint demgegenüber der – auf den ersten Blick vielleicht naheliegende – Rückgriff auf die Vorlagepflicht der Gerichte nach Art. 234 Abs. 3 EG. Zwar wäre die Auslegung einer Richtlinie durch den EuGH im Wege einer Vorabentscheidung in der Tat funktions- und sinnlos, wenn sie ohne Einfluß auf die Urteilsfindung durch das vorlegende Gericht bliebe, doch läßt sich diesem Argument – anders als den beiden zuvor ins Feld geführten – schon dadurch Rechnung tragen, daß man das Postulat der Richtlinienkonformität als Gesichtspunkt im Rahmen einer bloßen Abwägungslösung berücksichtigt, und daher kann man hierauf keine Vorrangregel stützen. b) Die Wirkungsweise der Vorrangregel Die Annahme einer interpretatorischen Vorrangregel führt entsprechend ihrer Struktur105 dazu, daß das Gebot richtlinienkonformer Auslegung nicht mit den übrigen Auslegungskriterien abzuwägen ist, sondern ihnen bis zur Grenze des unzulässigen Contra-legem-Judizierens vorgeht. Dadurch werden diese Kriterien nicht etwa ungebührlich hintangesetzt; denn es sind gerade sie selbst – vor allem der Wortlaut und der Zweck des Gesetzes –, die über das Vorliegen eines unzulässigen Contra-legem-Judizierens entscheiden106, und daher setzen [71] sie ihrerseits für bestimmte Problemkonstellationen der richtlinienkonformen Auslegung eine unübersteigbare Schranke107, sodaß sie gegenüber dieser durchaus eine eigenständige, ja zentrale Funktion behalten. aa) Besonders geeignet für die Verwirklichung des interpretatorischen Vorrangs der richtlinienkonformen Auslegung sind wegen ihrer Offenheit und Flexibilität naturgemäß die Generalklauseln108 – ähnlich wie für die verfassungskonforme Auslegung oder auch für die sogenannte mittelbare Drittwirkung der Grundrechte. Allerdings dürfen diese nicht als Zaubermittel oder Wunderwaffe Vgl. dazu im übrigen näher unten IV 2. Bydlinski (FN 4) 291 ff, 311, 317, 330 ff. 105 Vgl. dazu oben II 1 b. 106 Vgl. unten IV 1 b. 107 Vgl. näher unten IV 2 b aa und 3. 108 Vgl. auch Rüffler, ÖJZ 1997, 128. 103 104
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mißbraucht werden, um der richtlinienkonformen Auslegung in jedem Falle zum Durchbruch zu verhelfen. Vielmehr sind sie nur in den Grenzen ihres genuinen Anwendungsbereichs heranzuziehen, weil es sich sonst nicht mehr um ihre Konkretisierung im Lichte der Richtlinie, sondern um eine tatbestandliche Ausweitung handelt und eine solche durch das Gebot richtlinienkonformer Auslegung nicht gedeckt ist109. Ein schönes Beispiel für die Wirkungsweise einer Generalklausel als Mittel zur richtlinienkonformen Auslegung bildet die Rechtslage, die in Deutschland bestand, nachdem am 31.12.1994 die Frist für die Umsetzung der Richtlinie 93/13/EWG über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen vom 5.4.1993 abgelaufen und bevor am 25.7.1996 die zu ihrer Umsetzung erlassene Vorschrift des § 24 a AGBG in Kraft getreten war. Während nach § 1 Abs. 1 AGBG nur „für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen“ unter den Begriff der Allgemeinen Geschäftsbedingungen fallen und demgemäß der Inhaltskontrolle nach den §§ 9–11 AGBG unterlagen, werden von der Richtlinie nach deren Art. 2 lit a i. V. m. Art. 3 Abs. 1 und 2 auch Einzelvertragsklauseln, die nur ein einziges Mal verwandt werden sollen, erfaßt und der Inhaltskontrolle unterworfen. Das dadurch entstandene europarechtswidrige Regelungsdefizit ließ sich zwar nicht im Rahmen von § 9 AGBG beseitigen, da diese Vorschrift nach Wortlaut, Zweck und Systematik des Gesetzes auf AGB i. S. von § 1 Abs. 1 AGBG beschränkt ist, wohl aber durch den Rückgriff auf § 242 BGB110, der seit langem ebenfalls als Grundlage einer Inhaltskontrolle anerkannt ist, durch § 9 AGBG nicht verdrängt wird und also mit dem Inhalt der Richtlinie gefüllt werden konnte und mußte. Hätte dagegen § 9 AGBG abschließenden Charakter in dem Sinne, daß er jede Inhaltskontrolle außerhalb seines Anwendungsbereichs ausschließt – worüber nach den allgemeinen Auslegungskriterien ohne Einbeziehung der richtlinienkonformen Auslegung, jedoch mit stetem Blick auf deren Wünschbarkeit zu entscheiden ist111 –, so wäre eine Behebung des richtlinienwidrigen Rechtszustandes durch die Rechtsprechung nicht möglich gewesen.
bb) In ähnlicher Weise wie bei Generalklauseln beeinflußt die Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung den Inhalt von unbestimmten Rechtsbegriffen. Dabei zeigt sich wieder das spezifische Charakteristikum einer Vorrangregel, das darin besteht, daß es insoweit auf irgendwelche Zusatzüberlegungen oder -argumente nicht ankommt, sondern allein auf den (drohenden) Verstoß gegen die Richtlinie. [72] So hat der EuGH z. B. entschieden, daß es mit Art. 2 Abs. 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie (RL 76/207/EWG) unvereinbar ist, einen Arbeitsvertrag mit einer Frau, der deren Beschäftigung ausschließlich während der Nachtzeit vorsah, als nichtig nach § 134 BGB oder anfechtbar nach § 119 Abs. 2 BGB zu qualifizieren, weil diese bei Vertragsschluß schwanVgl. näher unten IV 2 b bb bei FN 224. So überzeugend Heinrichs, NJW 1995, 156 f. 111 Vgl. näher unten IV 2 b bb. 109 110
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cc) Methodologisch wesentlich interessanter als die richtlinienkonforme Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen ist die richtlinienkonforme Auslegung von tatbestandlich präzisen Normen. Da diese voraussetzt, daß ein Auslegungs- bzw. Beurteilungsspielraum vorhanden ist114, muß hier zwangsläufig ein gewisser Antagonismus, ja u. U. sogar eine Kollision zwischen mehreren Auslegungskriterien vorliegen. Die Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung führt dabei dazu, daß diese sich auch dann durchsetzt, wenn die stärkeren Auslegungskriterien für das entgegengesetzte Ergebnis sprechen und also diesem bei einer bloßen Abwägungslösung der Vorzug zu geben wäre. Ein lehrreiches Beispiel findet sich in der Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs115. Es ging dabei um die Auslegung einer vom Antragsteller als gesetzwidrig angegriffenen Vorschrift einer Verordnung über den Transport von Mineralwasser aus dem Jahre 1994, die das Inkrafttreten einer anderen Vorschrift dieser Verordnung auf den 1.1.1997 hinausschob. Der Antragsteller schloß daraus, daß deshalb bis zu diesem Zeitpunkt insoweit eine Verordnung über den Transport von Mineralwasser aus dem Jahre 1935, nach der ein solcher nur in Glasflaschen erfolgen durfte116, weiterhin in Kraft blieb. Der Verfassungsgerichtshof stellte zunächst fest, daß in der Tat genau dies ausweislich der Entstehungsgeschichte den Zweck der angegriffenen Vorschrift bildete, hielt dem jedoch das Argument entgegen, daß „der sonstige Inhalt“ der Verordnung „erhebliche Zweifel erweckt“, ob durch die angegriffene Vorschrift „die dargelegte Regelungsabsicht ... hinreichend verwirklicht wurde“, was er näher ausführte. Historisch-teleologische und systematische Auslegung standen also in einem Gegensatz zueinander. Der Verfassungsgerichtshof prüfte nun nicht etwa, welchem dieser beiden Kriterien der Vorrang gebührte, sondern verwarf in einer abrupten Wendung „eine Auslegung, die der ... Genese der ... Norm Rechnung tragen würde“, und begründete das damit, daß durch eine solche ein Widerspruch zu der Richtlinie 80/777/EWG vom 15.7.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineralwässern 112 EuGH vom 5.5.1994 – Rs C-42/92 – Slg. 1994, I-1657, 1676 f Rdnr. 24 ff (HabermannBeltermann). 113 Freilich ist zweifelhaft, ob es dafür einer richtlinienkonformen Auslegung überhaupt bedarf, vgl. dazu Franzen 342 FN 131 mit Nachw. 114 Vgl. oben I 3 b und c. 115 VfGH ÖJZ 1997, 234. 116 Diese Begrenzung bildete den eigentlichen Stein des Anstoßes.
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entstehen würde, wobei er sich mit ausführlicher Begründung das Gebot richtlinienkonformer Auslegung zu eigen machte. Gerade diese Abruptheit im Übergang zu letzterer ist bemerkenswert. Denn sie zeigt, daß der Verfassungsgerichtshof der Sache nach von einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung ausgegangen ist und diese nicht etwa gegen das – sehr [73] starke! – historisch-teleologische Kriterium abgewogen hat. Das ist vom hier vertretenen Standpunkt aus völlig zutreffend117, da aufgrund des vom Verfassungsgerichtshof herausgearbeiteten systematischen Arguments, das gegenüber der historisch-teleologischen Auslegung gegenläufig war, ein „Beurteilungsspielraum“ offen blieb. Daß das letztere Kriterium hier wesentlich größeres Gewicht als das erstere gehabt haben dürfte (und wohl auch noch durch die grammatische Interpretation hätte unterstützt werden können), steht nicht entgegen, da es eben nicht um eine Abwägung geht, sondern die Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung lediglich voraussetzt, daß nach Berücksichtigung der übrigen Kriterien noch ein gewisser Spielraum bleibt und die Grenze zu einem unzulässigen Contra-legem-Judizieren nicht überschritten ist118. Wenn gegenüber der – weitgehend geradezu mustergültig begründeten – Entscheidung gleichwohl noch ein Rest von Zweifel bleibt, so deshalb, weil nicht deutlich wird, ob die angegriffene Vorschrift nach der richtlinienkonformen Auslegung überhaupt noch einen sinnvollen praktischen Anwendungsbereich hatte und ob also nicht etwa eine faktische Derogation vorlag, die unzulässig sein dürfte119.
dd) Insgesamt ist die Wirkungsweise der Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung somit dadurch gekennzeichnet, daß diese Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe ohne weiteres, d. h. ohne Abstützung durch zusätzliche Argumente, inhaltlich füllt und sich bei Gegenläufigkeit sonstiger Auslegungskriterien unabhängig von deren Gewicht ohne Abwägung durchsetzt. Das gilt allerdings nur, sofern die – noch zu präzisierende120 – Schwelle zu einem unzulässigen Contra-legem-Judizieren nicht überschritten wird. c) Die vom Gebot der richtlinienkonformen Auslegung erfaßten Bereiche des nationalen Rechts Vollends deutlich werden die Wirkungsweise und die spezifische Eigentümlichkeit der Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung erst, wenn man ihre Reichweite und ihre Voraussetzungen näher analysiert. Zugleich tritt dabei die Fruchtbarkeit der Unterscheidung zwischen Vorrangregel und Abwägungslösung heller ins Licht, spielt doch auch letztere für die richtlinienDem VfGH zustimmend auch Rüffler, ÖJZ 1997, 128. Vgl. dazu unten IV 2 und 3. 119 Vgl. dazu unten IV 1 b bb bei FN 205. 120 Vgl. unten IV 1 und 2. 117 118
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konforme Auslegung eine wichtige, wenngleich nur ergänzende Rolle, wie im folgenden an mehreren Problemfeldern demonstriert werden wird. aa) Anerkanntermaßen gilt das Gebot richtlinienkonformer Auslegung nicht nur für solche Vorschriften, die in Umsetzung einer Richtlinie erlassen worden sind, sondern grundsätzlich auch für das übrige, insbesondere das ältere Recht121. Folgerichtig reicht die Vorrangregel ebenso weit; denn die für diese oben a bb und cc angeführten Gründe passen auch insoweit, weil man sonst zu dem widersinnigen Ergebnis käme, daß der Gesetzgeber das übrige [74] einschlägige Recht neu erlassen müßte, um der Umsetzung der Richtlinie zu voller Effizienz zu verhelfen. bb) Allerdings beschränkt sich die Geltung des Gebots richtlinienkonformer Auslegung zwangsläufig auf den Anwendungsbereich der Richtlinie122, weil es naturgemäß nicht weiter reichen kann als diese selbst. Das bedeutet indessen nicht, daß die Richtlinie außerhalb ihres Anwendungsbereichs ohne jede Bedeutung wäre123. Vielmehr kann sie grundsätzlich eine Art. Ausstrahlungswirkung auf das richtlinienfreie Recht, insbesondere für die Konkretisierung seiner Generalklauseln entfalten, da sie dafür immerhin als – wenn auch meist nur schwache – „Rechtsgewinnungsquelle“ herangezogen werden kann124. Dabei kann das aus der Richtlinie gewonnene Auslegungskriterium jedoch folgerichtig keinen Vorrang vor den übrigen Kriterien beanspruchen, sondern bildet nur eines unter mehreren Elementen im Rahmen einer interpretatorischen Gesamtabwägung. d) Der für die Geltung des Gebots der richtlinienkonformen Auslegung maßgebliche Zeitpunkt Äußerst umstritten ist, von welchem Zeitpunkt an das Gebot richtlinienkonformer Auslegung gilt. Die überwiegende Meinung hält den Ablauf der für die Umsetzung geltenden Frist für maßgeblich125 und will davon nur dann eine Ausnahme machen, wenn die Umsetzung schon vorher erfolgt ist. Nach der Gegen121 Grundlegend EuGH vom 13.11.1990 – Rs C-106/89 – Slg. 1990, I-4135, 4159 Rdnr. 8 (Marleasing). 122 Vgl. EuGH vom 7.11.1989 – Rs 125/88 – Slg. 1989, I-3533, 3546 Rdnr. 7 f (Nijman) und dazu Brechmann 60. 123 Die Problematik ist wenig geklärt, vgl. aber immerhin Hommelhoff, Festgabe (FN 3) 915 ff, der insoweit von einer „quasi-richtlinienkonformen Auslegung“ spricht. 124 Vgl. zu diesem Begriff und seinen Grundlagen näher Canaris in Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000) 8 ff; vgl. dazu auch die Ausführungen unten FN 131, die hier entsprechend gelten. 125 Vgl. z. B. Bach, JZ 1990, 1111; Jarass, EuR 1991, 221 und Grundfragen (FN 22) 92; Langenfeldt, DÖV 1992, 964; Brechmann 264 f; Gellermann (FN 5) 109 f; Nettesheim, AöR 1994, 277; Klein, FS für Everling (1995) 645 f; Ehricke, RabelsZ 59 (1995) 621 f und EuZW 1999, 555 ff; Rüffler, ÖJZ 1997, 125; Zuleeg (FN 62) 169 f.
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meinung soll das Gebot richtlinienkonformer Auslegung dagegen bereits ab deren Inkrafttreten zu berücksichtigen sein, wobei teils angenommen wird, daß die Rechtsprechung dies lediglich tun darf126, teils aber auch, daß sie es grundsätzlich tun muß127. Auch hier hilft die Unterscheidung zwischen interpretatorischer Vorrangregel und interpretatorischem Abwägungsgesichtspunkt weiter. [75] aa) Klar ist zunächst, daß die Richtlinie spätestens mit dem Ablauf der für ihre Umsetzung geltenden Frist ihre volle Wirksamkeit entfaltet und daß also ab diesem Zeitpunkt das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung in seiner „starken“ Form als Vorrangregel eingreift. Gleiches hat zu gelten, wenn der Gesetzgeber die Richtlinie schon vorher umgesetzt hat; zwar läßt sich das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung dann nicht auf die gemeinschaftsrechtliche Umsetzungsverpflichtung aus Art. 249 Abs. 3 EG i. V. mit der betreffenden Richtlinie stützen, weil deren „Fälligkeit“ noch nicht eingetreten ist, doch folgt dieses hier grundsätzlich aus dem durch die Umsetzung dokumentierten Willen des nationalen Gesetzgebers128, der denselben Rechtszustand wie bei einer Umsetzung zum Zeitpunkt des Fristablaufs schon vorzeitig herbeiführen will. bb) Ist dagegen die Frist für die Umsetzung der Richtlinie noch nicht abgelaufen und diese auch nicht bereits vorher erfolgt, so läßt sich eine Pflicht der Rechtsprechung, die Richtlinie vorrangig vor allen anderen Auslegungskriterien zu berücksichtigen und insoweit einen etwaigen „Beurteilungsspielraum“ voll auszuschöpfen, nicht begründen, weil diese dann weder im Gemeinschaftsrecht noch im nationalen Recht eine tragfähige Grundlage findet129. Wohl aber kann die Richtlinie auch hier im Rahmen einer interpretatorischen Gesamtabwägung als eines unter anderen Auslegungselementen berücksichtigt werden, weil sie wie gesagt130 auch schon vor Fristablauf oder Umsetzung eine „Rechtsgewinnungs-
So z. B. Lutter, JZ 1992, 605; wohl auch BGHZ 138, 55, 59 f. So besonders pointiert Franzen 301 f, 372 f (vgl. dazu näher unten FN 129); ähnlich im Ergebnis z. B. Steindorff; AG 1988, 58; Curtin, CML Rev 27 (1990) 719 mit FN 54; W.H. Roth, ZIP 1992, 1057; Basedow, FS für Brandner (1994) 657; Sack, WRP 1998, 242 ff; von diesem Standpunkt geht wohl auch der OGH aus, vgl. SZ 71/174, S. 366, 370. 128 So mit Recht z. B. Ehricke, RabelsZ 59 (1995) 622 und EuZW 1999, 554; Rüffler, ÖJZ 1997, 125; vgl. dazu im übrigen oben I 1 b bei FN 11. 129 Aus der Entscheidung des EuGH vom 18.12.1997 – Rs C-129/96 – Slg. 1997 I-7411 (Inter-Environnement Wallonie) läßt sich entgegen der Ansicht von Franzen 301 f im vorliegenden Zusammenhang nichts gewinnen; denn danach müssen die Mitgliedsstaaten während der Umsetzungsfrist lediglich „den Erlaß von Vorschriften unterlassen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen“ (S. 7449 Rdnr. 45), und gegen dieses Gebot wird evidentermaßen nicht verstoßen, wenn die Rechtsprechung nichts weiter tut als an der bisher für richtig befundenen Auslegung einer bereits geltenden Vorschrift bis zur Umsetzung der Richtlinie festzuhalten. Vgl. zur Interpretation und Würdigung dieser Entscheidung im übrigen eingehend Weiß, DVBl 1998, 568 ff. 130 Vgl. oben bei FN 124. 126 127
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quelle“ darstellt131. Die Frage, ob der Richter das nur tun „darf“ oder ob er es tun „muß“, läßt sich dabei nicht sinnvoll stellen; denn selbstverständlich „muß“ der Richter alle Gesichtspunkte in die Abwägung einbeziehen, die für die Auslegung relevant sind – und eben dies läßt sich für eine noch nicht umgesetzte Richtlinie vor Fristablauf nicht [76] generell und von vornherein bejahen, sondern hängt von verschiedenen Faktoren wie dem Gerechtigkeitsgehalt der Richtlinie, dem Verhalten der Gesetzgebungsorgane und dgl. ab. Stellt der Inhalt der Richtlinie z. B. einen Bruch mit einer bewährten Tradition der nationalen Rechtsordnung dar oder erscheint er gar im Vergleich zu dieser als ein – vielleicht durch einen faulen Kompromiß zustande gekommener – Rückschritt, so sollte der Richter die Richtlinie vor ihrer Umsetzung und dem Ablauf der dafür bestimmten Frist in den Auslegungsprozeß nicht oder allenfalls mit sehr geringem Gewicht einbeziehen. Vollends sollte er davon Abstand nehmen, wenn ein an der Gesetzgebung beteiligtes Organ oder auch nur die insoweit maßgeblichen politischen Kreise zu erkennen gegeben haben, daß sie die Richtlinie so spät wie möglich – oder vielleicht sogar einstweilen überhaupt nicht! – umsetzen wollen; denn zum einen darf die Rechtsprechung aufgrund des Gewaltenteilungsprinzips dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht vorgreifen, und zum anderen stellt die Richtlinie vor Fristablauf und Umsetzung nur eine schwache „Rechtsgewinnungsquelle“ dar. Führt die Richtlinie dagegen zur Überwindung eines Rechtszustandes, der schon bisher unter Gerechtigkeits- und/oder Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten verbreiteter und fundierter Kritik ausgesetzt oder durch einen Wandel des Rechtsbewußtseins weiter Kreise morsch geworden war und stehen keine gegenläufigen gesetzgeberischen oder politischen Absichten im Wege132, so ist die Richtlinie in den Auslegungsvorgang einzubeziehen und kann das „Zünglein an der Waage“ bilden, das den Ausschlag für eine neue Auslegung des Gesetzes, insbesondere einer Generalklausel, schon vor Fristablauf oder Umsetzung der Richtlinie gibt. Mit Recht hat der BGH daher im Hinblick auf die Richtlinie 97/55 EG vom 6.10.1997 über vergleichende Werbung seine bisherige Recht131 Akzeptiert man das Konzept der Rechtsgewinnungsquelle nicht – die weitaus weniger als eine Rechtsgeltungsquelle und etwas anderes als eine Rechtserkenntnisquelle ist – und findet man auch kein Äquivalent für dieses, so dürften die rechtsquellentheoretischen Schwierigkeiten, die der Berücksichtigung der Richtlinie vor Fristablauf bzw. Umsetzung entgegenstehen, kaum zu überwinden sein. Indessen würde eine so rigorose Position der Realität des Rechtsfindungsprozesses nicht gerecht werden, da man in diesen heutzutage auch sonst viele Gesichtspunkte einzubringen pflegt, die geltungstheoretisch alles andere als stringent abgesichert sind, vgl. dazu Canaris (FN 124) 10 f. 132 Die bloße Untätigkeit des Gesetzgebers kann entgegen Rüffler, ÖJZ 1997, 125 für sich allein nicht als Hindernis angesehen werden, weil (und sofern) sie keine spezifische Intention zum Ausdruck bringt, sondern auf mancherlei Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten wie dem Vorrang eiligerer Gesetzgebungsvorhaben, der mangelnden Dringlichkeit einer Umsetzung vor Fristablauf und dgl. zu beruhen pflegt.
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sprechung, nach welcher vergleichende Werbung wegen Verstoßes gegen die Generalklausel des § 1 UWG grundsätzlich als sittenwidrig anzusehen war, unter Heranziehung des Gebots richtlinienkonformer Auslegung aufgegeben133. [77] e) Die Bedeutung der Erfordernisse der Unbedingtheit und der ausreichenden Bestimmtheit der Richtlinie Zweifelhaft und streitig ist schließlich, ob die Erfordernisse der Unbedingtheit und der ausreichenden Bestimmtheit der Richtlinie, die der EuGH primär für die Problematik der „unmittelbaren“ Anwendung entwickelt hat, auch für das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung gelten134. Auch insoweit ist zu differenzieren. aa) Gilt eine Richtlinie oder eine in einer solchen enthaltene Bestimmung nicht unbedingt, sondern lediglich fakultativ – z. B. in Form eines bloßen Regelungsvorschlags oder eines „Hinweises“ –, so kann nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden, ihr von vornherein einen interpretatorischen Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien zuzubilligen. Wohl aber kann sie folgerichtig auch hier wieder als „Rechtsgewinnungsquelle“ verwendet und demgemäß im Rahmen einer interpretatorischen Abwägungslösung als eines unter mehreren Auslegungselementen herangezogen werden. Welches Gewicht ihr dabei zukommt, bestimmt sich u. a. nach der Funktion, die der Richtliniengeber ihr zugedacht hat, und nach der Intensität, mit der sie an die Mitgliedsstaaten adressiert ist. Deshalb kommt z. B. dem Klauselkatalog im Anhang der Richtlinie 93/13/EWG vom 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen so hohes Gewicht zu, daß die darin enthaltenen Bestimmungen geradezu eine Indizfunktion für die Annahme einer Unangemessenheit der betreffenden Klausel i. S. von § 9 Abs. 1 AGBG entfalten135; denn 133 Vgl. BGHZ 138, 55, 59 ff. Nicht ohne weiteres verständlich ist allerdings, daß der BGH seine neue Rechtsprechung uneingeschränkt auf Altfälle anwenden will mit der Begründung, daß „es nicht um eine Rechtsänderung, sondern um eine Rechtsanwendung geht, nämlich die einer Auslegung der Generalklausel des § 1 UWG im Lichte eines gewandelten Verständnisses“ (S. 64). Näher liegt es, die Änderung der Rechtsprechung auf Sachverhalte zu beschränken, die nach dem Inkrafttreten der betreffenden Richtlinie eingetreten sind; denn erst in diesem Zeitpunkt ist doch jener Gesichtspunkt, der den Ausschlag für den Wandel des Verständnisses von § 1 UWG gegeben hat, überhaupt in die Rechtswelt getreten – ganz abgesehen von dem Bedenken, daß die Richtlinie selbst bei ihrer Umsetzung nicht auf diesen Zeitpunkt zurückgewirkt hätte. Möglicherweise bedarf es hier geradezu der Entwicklung einer – ungeschriebenen – intertemporalen Kollisionsregel. 134 Bejahend z. B. Heinrichs, NJW 1995, 155; Rüffler, ÖJZ 1997, 124 f; ablehnend z. B. Jarass (FN 22) 91; Gellermann (FN 5) 107; Steindorff (FN 5) 450. 135 Vgl. dazu z. B. Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Gesetz, 9. Aufl. (2001) § 9 Rdnr. 172 und § 24 a Rdnr. 55 mit Nachw.; ähnlich im Ergebnis Franzen 559 f.
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Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung dieser Katalog hat nach dem Erwägungsgrund Nr. 17 immerhin Beispielscharakter und soll nach Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie als „Hinweis“ für Klauseln dienen, „die als mißbräuchlich erklärt werden können“, woraus der Wille des Richtliniengebers deutlich wird, ihn zwar nicht verbindlich vorzuschreiben, ihm aber andererseits doch eine gewisse Bedeutung im Rahmen des Rechtsfindungsprozesses zu verleihen. Der EuGH hat denn auch im Rahmen der Inhaltskontrolle aus der Unvereinbarkeit einer Gerichtsstandsklausel mit Nr. 1 lit q des Anhangs ohne weiteres auf ihre Mißbräuchlichkeit im Sinne der Generalklausel des Art. 3 der Richtlinie geschlossen und dem nationalen Gericht aufgegeben, derjenigen Auslegung seines Rechts den Vorzug zu geben, die zu dem daraus folgenden richtlinienkonformen Ergebnis führt136.
bb) Anders liegt es bei fehlender Bestimmtheit der Richtlinie. Zwar ist diese dann für eine unmittelbare Anwendung in der Tat unbrauchbar, doch bedeutet das nicht, daß sie auch als Grundlage einer richtlinienkonformen Auslegung von vornherein ausscheidet. Denn wenn sie überhaupt eine Funktion haben soll, muß sie immerhin einen Rahmen oder eine Ober- oder Untergrenze für die Regelung durch das nationale Recht setzen, und daher greift die richtlinien- [78] konforme Auslegung und damit folgerichtig zugleich die für diese geltende Vorrangregel dann immerhin hinsichtlich der Frage ein, ob dieser Rahmen bzw. diese Grenze überschritten ist. Hinsichtlich des offen gelassenen Spielraums kann die Richtlinie dagegen folgerichtig nicht einmal die Rolle eines Auslegungselements im Rahmen einer Abwägungslösung spielen. 3. Die Unterschiede zwischen den zentralen methodologischen und dogmatischen Kategorien a) Die Unterschiede zwischen interpretatorischer und derogatorischer Vorrangregel Zur Vermeidung von Mißverständnissen seien zusammenfassend noch einmal die – an sich schon wiederholt herausgestellten – Unterschiede einer interpretatorischen gegenüber einer derogatorischen Vorrangregel festgehalten. Diese beziehen sich sowohl auf den Gegenstand als auch auf die Wirkung der Vorrangregel: Eine interpretatorische Vorrangregel betrifft das Verhältnis von Auslegungskriterien, eine derogatorische dagegen das Verhältnis von Normen; und eine interpretatorische Vorrangregel läßt die Anwendbarkeit von Normen, die keinen Spielraum für eine (abweichende, d. h. hier eine richtlinienkonforme) Auslegung aufweisen, gänzlich unberührt, wohingegen eine derogatorische Vorrangregel ent136 Vgl. EuGH vom 27.6.2000 – verb Rs C-240/98 bis C-244/98 – ZIP 2000, 1165, 1166 f = Slg. 2000, I-4941, 4972 ff Rdnr. 22, 24, und 32 (Océano Grupo Editorial).
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gegenstehende Normen nach dem Grundsatz von der lex superior verdrängt und sich also gegen diese in jedem Fall durchsetzt (sei es im Wege eines bloßen Anwendungs- oder gar eines Geltungsvorrangs). Demgemäß ist für das Eingreifen einer interpretatorischen Vorrangregel das Vorhandensein eines Auslegungs- oder, wie der EuGH sagt, Beurteilungsspielraums und die Respektierung der lex-lataGrenze, also das Verbot des Contra-legem-Judizierens von essentieller Bedeutung, bei Vorhandensein einer derogatorischen Vorrangregel dagegen ohne Belang. b) Die Unterschiede zwischen richtlinienkonformer Auslegung und „unmittelbarer“ Anwendung von Richtlinien Daraus ergeben sich zugleich ohne weiteres zwei zentrale Unterschiede zwischen der richtlinienkonformen Auslegung und der „unmittelbaren“ Anwendung137 einer Richtlinie: Letztere geht in ihrer Wirkung insofern weiter, als sie entgegenstehendes nationales Recht verdrängt, weil sie am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts teilhat und diesem derogatorischer Charakter zukommt; und sie ist auch in ihren tatbestandlichen Voraussetzungen insofern weiter, als sie folgerichtig nicht davon abhängt, ob die entgegenste- [79] hende nationale Norm einen Beurteilungsspielraum aufweist, so daß sie auch nicht durch das Verbot des Contra-legem-Judizierens berührt wird. In anderer Hinsicht ist die „unmittelbare“ Anwendung einer Richtlinie dagegen enger als das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung. Vor allem versagt ihr der EuGH wie dargelegt eine „Horizontalwirkung“, so daß sie im Verhältnis zwischen zwei (reinen oder echten) Privatrechtssubjekten von vornherein nicht in Betracht kommt, während das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung auch (und gerade!) hier eingreift. Außerdem scheidet eine „unmittelbare“ Anwendung von Richtlinien naturgemäß überall dort aus, wo die richtlinienkonforme Auslegung nicht als Vorrangregel, sondern nur als interpretatorisches Abwägungselement zum Zuge kommen kann wie im Bereich des richtlinienfreien nationalen Rechts, in der Zeit vor Ablauf der für die Umsetzung der Richtlinie bestimmten Frist und in den Fällen fehlender Unbedingtheit der Richtlinie138.
137 138
Vgl. zu dieser näher oben I 2 b. Vgl. zu diesen drei Problemkreisen vorstehend c-e.
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4. Die Stellung der richtlinienkonformen Auslegung im System der juristischen Methodenlehre a) Die Eigenständigkeit der richtlinienkonformen Auslegung als Auslegungskanon Die richtlinienkonforme Auslegung stellt einen eigenständigen Auslegungskanon dar139, der nicht in den „klassischen“ Kanones der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung aufgeht oder in diese zu integrieren ist, sondern neben diesen steht. Denn die richtlinienkonforme Auslegung beruht wegen ihrer gemeinschaftsrechtlichen Fundierung auf einem eigenständigen Geltungsgrund140, ist wegen des Bestrebens nach Vermeidung eines Verstoßes gegen eine Richtlinie auf ein eigenständiges Ziel gerichtet und entfaltet wegen der mit ihr verbundenen interpretatorischen Vorrangregel eine eigenständige Wirkungsweise141, so daß sie sich in mehrfacher Hinsicht signifikant von den anderen Kanones unterscheidet. b) Das Verhältnis von richtlinien- und verfassungskonformer Auslegung Am nächsten verwandt ist die richtlinienkonforme Auslegung, wie immer wieder betont wird und in der Tat geradezu auf der Hand liegt, mit der [80] verfassungskonformen Auslegung. Da zu deren Gunsten ebenfalls eine Vorrangregel gilt142, kann es zu einer Kollision dieser beiden Vorrangregeln kommen. Dabei geht die richtlinienkonforme Auslegung grundsätzlich der verfassungskonformen Auslegung vor; denn da Richtlinien am Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht teilhaben und dieser auch gegenüber der Verfassung Platz greift (in den Grenzen von Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG), treffen die oben II 2 a bb und cc angeführten Gründe für den Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung auch hier zu. Ist also das Ergebnis einer Auslegung des einfachen Rechts zwar verfassungs-, nicht aber richtlinienkonform, so darf man dabei nicht stehen bleiben, sondern muß versuchen, die Verfassung ihrerseits richtlinienkonform auszu139 Ebenso z. B. Lutter JZ 1992, 604 f; Schön (FN 5) 43; Brechmann 247 ff; W.H. Roth, Festgabe (FN 90) 875; a. A. Hommelhoff, AcP 192 (1992) 96 f und Festgabe (FN 3) 891; Langenfeld, DÖV 1992, 964 f; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995) 590 f; Ehricke, RabelsZ 59 (1995) 616 f, 622; Franzen 347. 140 Vgl. oben I 3 a. 141 Vgl. oben II 2. 142 Das dürfte i. E. nahezu allgemeine Ansicht sein und muß deshalb hier nicht näher begründet werden, vgl. daher nur Larenz/Canaris (FN 4) 160 mit Nachw.
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legen143. Gelingt dies, ist das richtlinienkonforme Ergebnis maßgeblich. Mißlingt es, weil die Verfassung keinen hinreichenden Beurteilungsspielraum aufweist oder nur im Wege eines unzulässigen Contra-legem-Judizierens in Einklang mit der Richtlinie gebracht werden könnte, hat es zwar zunächst sein Bewenden bei dem verfassungskonformen, aber richtlinienwidrigen Ergebnis, doch trifft den Verfassungsgeber dann grundsätzlich eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur Änderung der Verfassung, um deren Übereinstimmung mit der Richtlinie herzustellen. Insgesamt gilt hier somit mutatis mutandis letztlich nichts anderes als auch sonst. c) Die Mehrstufigkeit des Auslegungsvorgangs Der Eigenständigkeit der richtlinienkonformen Auslegung gegenüber den „klassischen“ Auslegungskriterien sollte i. d. R. auch im Rahmen des Auslegungsvorgangs Rechnung getragen werden, indem dieser in mehreren Stufen vorgenommen wird. Zunächst ist die Argumentationslage allein mit Hilfe der „klassischen“ Auslegungskriterien (und etwaiger Zusatzkriterien) ohne Rücksicht auf das Gebot richtlinienkonformer Auslegung zu ermitteln und diese dann in einem zweiten Schritt mit den Anforderungen der Richtlinie zu vergleichen144. Das erscheint als zweckmäßig, weil Voraussetzung für eine richtlinienkonforme Auslegung ja das Bestehen eines Auslegungs- bzw. Beurteilungsspielraums und die Respektierung der lex-lata-Grenze ist und darüber folgerichtig grundsätzlich unabhängig von dem Bestreben nach einem richtlinienkonformen Ergebnis geurteilt werden muß. Kommt man dabei freilich zu dem Schluß, daß die lex lata keinen hinreichenden Raum für eine richtlinienkonforme Rechtsfindung zu lassen scheint, so kann grundsätzlich erneut in eine Prüfung der ersten Stufe eingetreten [81] werden, wobei nunmehr im Wege des „Hin-und-Herwandern des Blickes“ zu untersuchen ist, ob die „klassischen“ Auslegungskriterien im Lichte des Gebots richtlinienkonformer Auslegung nicht doch den erforderlichen Spielraum für eine solche hergeben145. Freilich könnte man gegen diese Vorgehensweise einwenden, daß es dann doch zweckmäßiger sei, diesen Schritt von vornherein mit dem ersten zu verbinden146. In der Tat wird das bei einfach gelagerten Problemen meist der Fall sein, doch läuft man andererseits bei einer solchen Kombination der Schritte jedenfalls bei schwierigeren Problemen Gefahr, das nationale Recht vor143 Ebenso i. E. z. B. Lutter; JZ 1992, 605 f; Jarass (FN 22) 93; Brechmann 263 mit FN 39; kritisch Di Fabio, NJW 1990, 949 f. 144 Ähnlich Brechmann 259 m. w. N. 145 Vgl. auch Brechmann 260 f, der Ausnahmen von der Zweistufigkeit des Auslegungsverfahrens anerkennt; siehe im übrigen näher unten IV 2 b bb bei FN 223. 146 So im Ergebnis wohl Franzen 346 f.
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schnell im Sinne einer Offenheit für die Möglichkeit richtlinienkonformer Auslegung zu verbiegen, so daß die Trennung der verschiedenen Schritte ein höheres Maß an Methodenehrlichkeit gewährleistet und daher oft vorzuziehen sein wird. Im übrigen kann mit dem letzten Schritt, der sich grundsätzlich noch im Rahmen der Auslegung i. e. S. hält, erforderlichenfalls bereits der Beginn der Suche nach einer Möglichkeit verbunden werden, ein richtlinienkonformes Ergebnis im Wege einer Rechtsfortbildung zu finden, welche die bloße Auslegung übersteigt. Darauf ist nunmehr näher einzugehen. III. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung praeter und extra legem Im deutschsprachigen Rechtskreis wird von „Auslegung“ i. e. S. meist nur dann gesprochen, wenn das Ergebnis sich noch in den Grenzen des möglichen Wortsinnes hält147. Diese können indessen nicht zugleich die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung sein148. Das folgt schon daraus, daß die Methodenlehre in vielen anderen europäischen Rechtsordnungen den Begriff der Auslegung oder Interpretation nicht in diesem engen Sinne versteht. Demgemäß ist auch der EuGH mit Sicherheit nicht von einem solchen Verständnis ausgegangen, als er das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung entwickelt hat. In der Tat sprechen durchschlagende Sachgründe dafür, dieses über die Grenzen des möglichen Wortsinnes hinaus zu erstrecken. Zum einen trifft nämlich das die richtlinienkonforme Auslegung vornehmlich tragende Argument, daß die Gesetzgebung durch die Rechtsprechung fortgesetzt und vervollständigt wird149, keineswegs nur auf die Auslegung i. e. S., sondern auch auf [82] die Rechtsfortbildung praeter und extra legem zu150; und zum anderen entscheidet über die Grenzen, die der richtlinienkonformen Auslegung gesetzt sind, ohnehin das jeweilige nationale Recht151, sodaß dort, wo man terminologisch zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung trennt wie im deutschsprachigen Rechtskreis, dem Erfordernis einer „vollen Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums durch die Gerichte“152 nur dann Genüge getan ist, wenn auch die Möglichkeiten einer den Wortlaut des
Vgl. z. B. Bydlinski (FN 4) 467 ff; Larenz/Canaris (FN 4) 143 f; Kramer (FN 82) 39 ff. Die Gegenansicht wird zwar verschiedentlich ausdrücklich vertreten, jedoch soweit ersichtlich von niemand näher begründet, vgl. z. B. E. Klein, FS für Everling (1995) I 647; Ehricke, RabelsZ 59 (1995) 643. 149 Vgl. oben I 3 a. 150 Zu diesen Begriffen näher unten bei FN 163. 151 Vgl. oben I 3 c bb bei FN 42. 152 Vgl. oben I 3 c. 147 148
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Gesetzes übersteigenden Rechtsfortbildung einbezogen werden153. Zugleich folgt aus der Maßgeblichkeit des jeweiligen nationalen Rechts für die Weite des den Gerichten zustehenden „Beurteilungsspielraums“ zwangsläufig, daß dieses auch über Voraussetzungen und Grenzen einer über den möglichen Wortsinn hinausgehenden Rechtsfortbildung entscheidet. Damit rückt im vorliegenden Zusammenhang für den deutschsprachigen Rechtskreis das Kriterium der „Gesetzeslücke“ in den Mittelpunkt. 1. Das Erfordernis einer Lücke im Gesetz als methodologischer Ausgangspunkt a) Begriff und Funktion der Gesetzeslücke Voraussetzung für die Zulässigkeit einer den möglichen Wortsinn des Gesetzes überschreitenden Rechtsfortbildung154 ist nach ganz h. L., das Vorliegen einer „Lücke“ im Gesetz155. Von einer solchen spricht man, wenn dieses eine „planwidrige Unvollständigkeit“ aufweist156. „Unvollständig“ in diesem Sinne ist das Gesetz, sofern die vermißte Regelung von seinem möglichen Wortsinn nicht umfaßt wird. Das Kriterium der „Unvollständigkeit“ dient also zur [83] Abgrenzung zwischen Lückenfüllung und Auslegung i. e. S. Daher ergeben sich insoweit für die Problematik der richtlinienkonformen Rechtsfindung keine spezifischen Besonderheiten, weil hierfür, wie soeben dargelegt, gleichgültig ist, ob es (noch) um Auslegung oder (schon) um Lückenfüllung geht. Von zentraler Bedeutung für die vorliegende Thematik ist dagegen das Kriterium der „Planwidrigkeit“. Dessen Funktion besteht vor allem in der Abgrenzung zwischen einer „Lücke“ und einem bloßen „rechtspolitischen Fehler“157. Dabei ist 153 Ebenso i. E. z. B. Spetzler, RIW 1991, 581 f; Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 9 ff und RIW 1991, 755; Jarass (FN 22) 90; Odersky, ZEuP 1998, 486; Möllers, EuR 1998, 44; Franzen 405 ff; W.H. Roth (FN 90) 876; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999) 72 f; kritisch Nettesheim, AöR 1994, 284 f. 154 Selbstverständlich gibt es auch eine Rechtsfortbildung innerhalb des möglichen Wortsinnes – z. B. bei der Konkretisierung von Generalklauseln; das Wort Rechtsfortbildung allein ist daher mehrdeutig und bedarf demgemäß eines Zusatzes wie intra, praeter, extra oder contra legem. 155 Vgl. z. B. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. (1997) 175 ff; Bydlinski (FN 4) 472 ff; Larenz/Canaris (FN 4) 191 ff; Kramer (FN 82) 137 ff; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung (1996) 280 ff; kritisch z. B. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre (1982) 254; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. (1999) Rdnr. 454, 461 f. 156 Vgl. z. B. Engisch (FN 155) 180 f; Bydlinski (FN 4) 473; Larenz/Canaris (FN 4) 194 f; Kramer (FN 82) 137; ausführlich Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. (1983) 31 ff; der Begriff geht zurück auf Elze, Lücken im Gesetz (1916) 3 ff. 157 Vgl. z. B. Engisch (FN 155) 180 f; Bydlinski (FN 4) 473; Larenz/Canaris (FN 4) 195; Kramer (FN 82) 138.
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die Ausfüllung einer „Lücke“ durch den Rechtsanwender ex definitione grundsätzlich zulässig, die Korrektur eines „Fehlers“ dagegen grundsätzlich unzulässig. Demgemäß bestimmt sich der „Plan“, zu dem die Unvollständigkeit des Gesetzes bei Vorliegen einer „Lücke“ in Widerspruch steht, nach einem der Rechtsordnung immanenten Maßstab, wohingegen sich der „rechtspolitische Fehler“ an einem externen Maßstab wie z. B. der Religion, der Weltanschauung oder dem persönlichen Gerechtigkeitsempfinden des Rechtsanwenders orientiert. Der Lückenbegriff ist folglich der juristischen Methodenlehre nicht irgendwie vorgegeben, sondern wird – was seine Kritiker häufig verkennen – rein funktionell durch die Aufgabe bestimmt, einen bestimmten Bereich der Rechtsfindung nach zwei Seiten hin abzugrenzen158: gegenüber der Auslegung zum einen, die sich noch innerhalb der Grenzen des möglichen Wortsinnes hält und deren Zulässigkeit demgemäß grundsätzlich außer Zweifel steht, und gegenüber der Korrektur des Gesetzes auf der Grundlage externer Maßstäbe zum anderen, die mit der Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“ i. S. von Art. 20 Abs. 3 GG grundsätzlich unvereinbar ist. Diese Aufgabe ist sowohl methodologischer als auch verfassungsrechtlicher Art. Denn letztlich geht es um die Kompetenzen der Rechtsprechung, und diese werden zwar im Ansatz von der Verfassung bestimmt, liegen dieser aber aus historischen und vor allem auch aus „sachlogischen“ Gründen zugleich weitgehend schon voraus und werden demgemäß durch die juristische Methodenlehre ausgeformt, die somit teils konkretisiertes Verfassungsrecht darstellt, teils dieses ihrerseits konkretisiert159. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe hat sich der Lückenbegriff gut bewährt. Insbesondere lassen sich mit seiner Hilfe die Prinzipien vom „Vorrang des Gesetzes“ gegenüber der Rechtsprechung und vom „Vorbehalt des Gesetzes“, das mutatis mutandis nicht nur für die Exekutive, sondern auch für die Judikative gilt160, adäquat verwirklichen. [84] b) Die Zweckmäßigkeit eines „weiten“ Lückenbegriffs Zwar besteht Einigkeit darüber, daß der Maßstab, mit dessen Hilfe die „Planwidrigkeit“ festzustellen ist, der Rechtsordnung immanent sein muß, doch ist streitig, ob für die Annahme einer „Lücke“ lediglich der „Plan“ des Gesetzes maßgeblich ist161 oder ob es insoweit auf den „Plan“ der Gesamtrechtsordnung an-
Vgl. näher Canaris (FN 156) 17 f, 21. Diese komplexe Wechselwirkung wird nicht selten verkannt, so z. B. von Koch/Rüßmann (FN 155) 254. 160 Vgl. näher Larenz/Canaris (FN 4) 246 f mit Nachw. zur Gegenmeinung; ebenso, jedoch wesentlich pointierter Hillgruber, JZ 1996, 123. 161 So Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. (1991) 368, 375 ff, 426 f. 158 159
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kommt162. Vorzugswürdig ist die letztere Terminologie. Ihr Ziel ist es, auch solche Rechtsfortbildungen in den Lückenbegriff einzubeziehen, die sich zwar nicht mehr mit hinreichender Überzeugungskraft auf das Gesetz stützen lassen, aber andererseits auch nicht im Widerspruch zu diesem stehen und zugleich durch spezifisch rechtliche – aber eben außergesetzliche – Werte und Prinzipien legitimiert werden. Beispiele bilden etwa die culpa in contrahendo und die Lehre von der Geschäftsgrundlage, die im BGB nur ansatzweise Niederschlag gefunden haben und ihre Legitimationsgrundlage letztlich im Vertrauens- bzw. im Äquivalenzprinzip finden. Terminologisch besteht der Hauptvorzug dieses „weiten“ Lückenbegriffs darin, daß er den gesamten Bereich zwischen der Auslegung i. e. S. einerseits und dem – grundsätzlich unzulässigen – Contra-legem-Judizieren andererseits abdeckt und dadurch die Einführung einer zusätzlichen Unterscheidung überflüssig macht. Zwar kann man dort, wo noch das Gesetz selbst eine hinreichende Basis für die Feststellung einer Lücke bietet, von Rechtsfortbildung praeter legem sprechen und dieser die Fälle, in denen zwar nicht mehr gesetzliche, aber immerhin noch rechtliche Wertungen die Legitimationsgrundlage bilden, als Rechtsfortbildung extra legem an die Seite stellen163, doch handelt es sich dabei lediglich um zwei Teile innerhalb eines grundsätzlich zusammengehörigen Bereichs, die fließend ineinander übergehen und – das ist entscheidend – einer Abgrenzung voneinander nicht bedürfen, weil in beiden eine Rechtsfortbildung zulässig ist. Sachlich spricht für den „weiten“ Lückenbegriff vor allem, daß nicht das Gesetz allein, sondern in der Tat die Gesamtrechtsordnung den letztlich ausschlaggebenden Maßstab für die Rechtsfindung bildet. Das entspricht einem nicht-positivistischen Rechtsbegriff, von dem realistischer- und richtigerweise auszugehen ist164, zumal Art. 20 Abs. 3 GG den Richter an „Gesetz und Recht“ [85] bindet. Demgemäß trägt der „weite“ Lückenbegriff der Einsicht Rechnung, daß Gesetz und Gewohnheitsrecht nicht die einzigen Rechtsgeltungsquellen (im normativen, nicht nur im faktischen Sinne) darstellen. Dafür bildet gerade die Richtlinie einen besonders schlagenden Beleg. So wird sich denn auch zeigen, daß 162 So Canaris (FN 156) 35 ff; Larenz/Canaris (FN 4) 246 f; ebenso oder ähnlich Bydlinski (FN 4) 473 und in Koller/Hager/Junker/Singer/Neuner (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken (1998) 71; P. Koller, Theorie des Rechts, 2. Aufl. (1997) 227 und 230 (Abschnitt b); Kramer (FN 82) 137; Franzen 412 f, 419 f. In einem ähnlich weiten Sinn braucht auch das Bundesverfassungsgericht den Lückenbegriff, vgl. z. B. BVerfGE 34, 269, 287; 49, 304, 321; 65, 182, 191, 193; 82, 6, 12 f. 163 Vgl. Larenz/Canaris (FN 4) 252. 164 Vgl. dazu tiefdringend Bydlinski (FN 4) 277 ff und dens., Fundamentale Rechtsgrundsätze (1988) 1 ff, 26 ff und passim; vgl. ferner z. B. Dworkin, Taking Rights Seriously (1977) 26 ff, 39 ff; Dreien NJW 1986, 800 ff; Alexy, Begriff und Geltung des Rechts (1992) 117 ff; Hruschka, JZ 1992, 429 ff; Canaris in Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsvereinheitlichung (FN 124) 10 f.
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der „weite“ Lückenbegriff sich bei der Bewältigung der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung praeter und extra legem hervorragend bewährt. 2. Die Richtlinie als Maßstab der Lückenfeststellung „Unvollständig“ im Sinne des Lückenbegriffs ist das Gesetz, wenn es nach seinem möglichen Wortsinn keine richtlinienkonforme Regelung enthält165. Das eigentliche Problem liegt demgemäß darin, ob diese Unvollständigkeit auch „planwidrig“ in dem soeben dargelegten Sinne ist. Das hängt, wie ausgeführt, entscheidend davon ab, ob die Unvollständigkeit des Gesetzes den Wertungen und Zielen der Gesamtrechtsordnung widerspricht. Folglich kommt es darauf an, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen man die Richtlinie als Bestandteil der Gesamtrechtsordnung qualifizieren kann. Hierfür spielen vor allem die Umsetzung der Richtlinie und der Ablauf der dafür gesetzten Frist eine zentrale Rolle. a) Die Rechtslage nach der Umsetzung der Richtlinie aa) Nach der Umsetzung der Richtlinie ist es in der Regel unproblematisch, diese als Maßstab der Planwidrigkeit und damit als Mittel der Lückenfeststellung heranzuziehen. Durch die Umsetzung hat der Gesetzgeber die Richtlinie nämlich grundsätzlich in seinen Willen aufgenommen und in das nationale Recht integriert, so daß man sie insoweit ohne Bedenken als Bestandteil der Gesamtrechtsordnung ansehen kann. Die Richtlinie kann hier mit einem dem Gesetz immanenten allgemeinen Rechtsprinzip – dessen Eignung als Maßstab der Lückenfeststellung außer Zweifel steht – auf eine Stufe gestellt werden. Weist also das Gesetz ein richtlinienwidriges Defizit auf, so kann man dieses in der Regel als Lücke qualifizieren und folglich das Gesetz richtlinienkonform ergänzen166. bb) Anders liegt es, wenn der Gesetzgeber die Richtlinie in bestimmter Hinsicht bewußt nicht umgesetzt und ihr also insoweit den Gehorsam verweigert hat. Dann greift das Prinzip vom Vorrang des Gesetzes ein, so daß sich die Annahme einer Lücke und damit zugleich eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung verbietet. Zweifelhaft kann insoweit allenfalls sein, ob dies voraussetzt, daß der Wille des Gesetzgebers zur partiellen Nichtumsetzung der Richtlinie im Wortlaut [86] des Gesetzes Ausdruck gefunden hat. Das ist grundsätzlich zu verneinen167. Denn Ähnlich Franzen 416, 419. Ähnlich Franzen S. 416, 419. 167 AA Franzen S. 417, 420. 165 166
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wenn der Gesetzgeber die Richtlinie überhaupt umgesetzt hat, von dieser aber in einem bestimmten Punkt nachweisbar wissentlich abgewichen ist, ergibt sich seine Regelungsabsicht mit hinreichender Deutlichkeit schon aus dem Zusammenspiel zwischen historischer und systematischer Auslegung, so daß sein Schweigen „beredt“ ist168; außerdem wäre es eine unrealistische Übersteigerung der Anforderungen an die Gesetzgebungstechnik, wenn man erwarten würde, daß der Gesetzgeber die Umsetzungsverweigerung auch noch irgendwie in das Gesetz „hineinschreibt“. Ein Beispiel bildet das Fehlen der Übernahme von Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Handelsvertreterrichtlinie vom 18.12.1986 (86/653/EWG) in das deutsche HGB. Nach diesen Bestimmungen haben sich der Handelsvertreter und der Unternehmer „nach den Geboten von Treu und Glauben zu verhalten.“ Die Verfasser der einschlägigen Gesetzesnovelle von 1989 haben die Übernahme dieser Regelungen ausdrücklich abgelehnt, weil sich die betreffenden Pflichten bereits aus § 242 BGB ergeben169. Man darf daher nicht eine zusätzliche Pflicht, sich „nach den Geboten von Treu und Glauben zu verhalten“, in das deutsche HGB hineinlesen170. Denn dies widerspräche dem Willen des „historischen“ Gesetzgebers, der hier im Fehlen einer derartigen Regelung im Rahmen des Handelsvertreterrechts hinreichenden Niederschlag gefunden hat; was sollte der Gesetzgeber denn insoweit auch anderes tun als zu schweigen, um seinen Willen zum Ausdruck zu bringen, keine eigenständige Regelung von Treu und Glauben im Handelsvertreterrecht vorzunehmen?! Die Problematik hat durchaus praktische Bedeutung. So bestimmt sich folgerichtig die Frage, welche Pflichten im einzelnen aus Treu und Glauben folgen und ob deren Abbedingung zulässig ist, nach den insoweit zu § 242 BGB geltenden Grundsätzen (die zwar natürlich nicht eine Abbedingung dieser Vorschrift als solcher, wohl aber einzelner ihrer Ausprägungen erlauben) und nicht nach den Artikeln 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 bzw. nach Art. 5 der Richtlinie, wonach „die Parteien keine Abreden treffen dürfen, die von den Artikeln 3 und 4 abweichen“. Demgemäß geht es insoweit allein um Probleme des nationalen deutschen Rechts, das sich hier einer Umsetzung der Richtlinie klar verweigert hat. Das hat zur Konsequenz, daß eine Vorlage an den EuGH nach Art. 234 EG nicht in Betracht kommt171,
168 Es handelt sich also um „eine im klaren Fehlen einer bestimmten Rechtsfolgenanordnung objektiv im Gesetz in Erscheinung getretene eindeutige Regelungsabsicht“ des Gesetzgebers im Sinne von Bydlinski (FN 162) 68; ähnlich S. 50 vor FN 58 und S. 72 nach FN 93. 169 Vgl. BT-Drucks 11/3077, 7. 170 Ebenso im Ergebnis Franzen 546 ff, der freilich irrt, wenn er in FN 61 meint, daß der Gesetzgeber die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung „nicht dadurch umgehen kann, daß er eine spezielle legislative Umsetzungsmaßnahme unterläßt“; abgesehen davon, daß diese Pflicht nicht den Gesetzgeber, sondern den Rechtsanwender trifft, vermag jener diesem durchaus auch durch ein „beredtes Schweigen“ eine unübersteigbare Grenze zu setzen, vgl. zuvor im Text bei FN 168. 171 Vgl. Canaris, Handelsrecht, 23. Aufl. (2000) § 17 Rdnr. 21; a. A. Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht (1999) 3.80 Rdnr. 10; Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 30. Aufl. (2000) § 86 Rdnr. 22.
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Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung weil die Auslegung der Richtlinie insoweit keine Rolle für die Auslegung und Fortbildung des deutschen Rechts spielen kann, und daß Divergenzen gegenüber der Rechtslage in anderen Mitgliedstaaten der EU hinzunehmen sind. Es bleibt somit allenfalls die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EG gegen die Bundesrepublik Deutschland, doch hat diese in Wahrheit keine Vertragsverletzung begangen, indem sie die Umsetzung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Handelsvertreterrichtlinie verweigert hat172. [87]
cc) Darüber hinaus kann die Annahme einer Lücke in seltenen Ausnahmefällen auch daran scheitern, daß dem Gesetzgeber die Umsetzung der Richtlinie trotz eines hierauf gerichteten Willens mißlingt und er dabei eine Regelung trifft, die sich lege artis nicht korrigieren läßt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn weder eine Analogie noch eine teleologische Extension oder Reduktion zulässig sind173. Dann kann nur der Gesetzgeber selbst dem richtlinienwidrigen Defizit abhelfen. b) Die Rechtslage bei Fehlen einer Umsetzung der Richtlinie Anders ist die Rechtslage bei Fehlen einer Umsetzung der Richtlinie. Dann kommt es wesentlich darauf an, ob die hierfür gesetzte Frist abgelaufen ist oder nicht. aa) Im letzteren Fall kommt die Annahme einer Lücke unter dem Gesichtspunkt des Gebots der richtlinienkonformen Rechtsfindung von vornherein nicht in Betracht174, weil dann die Richtlinie selbst noch gar keinen Geltungsanspruch erhebt. Allerdings kann die Richtlinie hier immerhin bei einer schon aus anderen Gründen naheliegenden Rechtsfortbildung als verstärkendes – und u. U. letztlich sogar den Ausschlag gebendes – Argument hinzukommen; die Ausführungen oben II 2 d bb gelten hier entsprechend. bb) Im Mittelpunkt des Interesses steht somit die Rechtslage nach Ablauf der Frist. Hier kommt es folgerichtig darauf an, ob die Richtlinie nunmehr einen Bestandteil der Gesamtrechtsordnung bildet und daher als Maßstab der Lückenfeststellung heranzuziehen ist. Wenngleich die Richtlinie normlogisch nicht die Struktur einer „lex“ hat, sondern lediglich einen Gesetzgebungsauftrag darstellt175, dürfte dies zu bejahen sein. Dafür sprechen im wesentlichen dieselben Gründe, die oben II 2 a bb und cc für die Bejahung einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung ins Feld geführt worden sind. 172 Vgl. dazu näher Canaris (FN 171) § 17 Rdnr. 22; zustimmend mit tiefdringender Begründung Franzen 548. 173 Vgl. das Beispiel unten IV 3 a. 174 Ebenso Franzen 416. 175 Vgl. oben 1 2 a aa.
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Denn auch hier ist zu berücksichtigen, daß die Höherrangigkeit der Richtlinie gegenüber dem nationalen Recht und das Vorliegen eines auf zunehmende Integration angelegten Staatenverbundes spezifische Besonderheiten darstellen, die es als angemessen erscheinen lassen, der Richtlinie in Fortentwicklung der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung den Rang eines für die Rechtsprechung bindenden objektiv-teleologischen Kriteriums zuzuerkennen, soweit dieser de lege lata – also ohne Verstoß gegen das Verbot des Contra-legem-Judizierens – ein Spielraum für eine Rechtsfortbildung offensteht; und auch hier trifft die Überlegung zu, daß es weitaus zweckmäßiger ist, der Rechtsprechung eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu gestatten, als die Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EG und einer Staatshaftung wegen Unterbleibens der Umsetzung heraufzubeschwören. [88] Nach Ablauf der Umsetzungsfrist gehört die Richtlinie folglich zur innerstaatlichen Gesamtrechtsordnung und stellt damit einen Maßstab für die „Planwidrigkeit“ eines richtlinienwidrigen Regelungsdefizits dar176. Das hat weitreichende praktische Konsequenzen. Es bedeutet nämlich, daß der Regelungsgehalt der Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist grundsätzlich bereits dann im Wege der Rechtsfortbildung in das nationale Recht zu integrieren ist, wenn es dazu keiner Änderung durch den Gesetzgeber bedarf. Es sind also keineswegs nur die Generalklauseln, die unbestimmten Rechtsbegriffe und die auslegungsfähigen Tatbestände der vorhandenen Normen, die eine Berücksichtigung der Richtlinie ermöglichen177, sondern es genügt dafür schon das schlichte Fehlen einer entgegenstehenden Regelung in der lex lata. Auch hier178 geht es weder um einen derogatorischen Vorrang der Richtlinie noch um deren „unmittelbare“ Anwendung; das wird schlagend durch die Einschränkung belegt, daß eine richtlinienkonforme Lückenergänzung nicht in Betracht kommt, sofern es dazu einer Änderung vorhandener Normen bedürfte. Ebensowenig handelt es sich um einen Verstoß gegen die Normsetzungsprärogative des Gesetzgebers179, da es diesem unbenommen bleibt, die Umsetzung der Richtlinie selbst vorzunehmen; will er das nicht tun oder steht der Umsetzungsvorgang dicht bevor180, so mag darin zwar ein Hindernis liegen, welches eine Lückenfüllung verbietet, doch ist dieses nicht spezifisch gerade für die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, sondern gilt auch für andere Fälle richterlicher 176 AA Franzen 417, 419 und 444, nach dessen Ansicht „es für die Frage der Lückenbestimmung nur auf den Plan und die Regelungsabsicht des innerstaatlichen Gesetzgebers und der nationalen Rechtsordnung ankommen kann“. 177 Vgl. dazu oben II 2 b. 178 Vgl. schon oben II 3. 179 So aber offenbar Franzen 417. 180 Vgl. zur Problematik einer „Sperrwirkung bevorstehender Gesetze“ für die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung Franzen 401 f und 444.
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Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung
Rechtsfortbildung, so daß dieser Problematik im vorliegenden Zusammenhang nicht nachzugehen ist. cc) Beiläufig sei noch erwähnt, daß die im Vorstehenden entwickelte Lösung sich besonders gut bewährt, wenn der Gesetzgeber die Umsetzung einer Richtlinie unterläßt, weil er irrig glaubt, daß das nationale Recht deren Anforderungen ohnehin bereits genügt. Hier drängt sich die Zulässigkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung geradezu auf, weil sie mit größter Wahrscheinlichkeit dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Man kann jedoch auf diesen nicht zurückgreifen, weil er mangels Umsetzung keinerlei gesetzlichen Ausdruck gefunden hat181, und gerät daher in Schwierigkeiten, wenn man als Maßstab für die „Planwidrigkeit“ des Verstoßes gegen die Richtlinie allein das nationale Recht und nicht die Richtlinie selbst heranzieht. Vom hier vertretenen Standpunkt aus, wonach die Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist einen Bestandteil der innerstaatlichen Gesamtrechtsordnung und [89] damit den Maßstab für die Lückenfeststellung bildet, ist die Zulässigkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung dagegen grundsätzlich unproblematisch. dd) In methodologischer Hinsicht sei abschließend festgehalten, daß die Problematik der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung die Leistungsfähigkeit des „weiten“ Lückenbegriffs, wie er oben 1 b dargestellt worden ist, trefflich belegt182. Denn nur wenn man an den „Plan“ der Gesamtrechtsordnung und nicht lediglich an denjenigen des Gesetzes anknüpft, ist es möglich, auch die Richtlinie selbst als Maßstab der Lückenfeststellung heranzuziehen. 3. Die Wirkungsweise der Richtlinie bei der Lückenfüllung Nicht nur hinsichtlich der Feststellung, sondern auch hinsichtlich der Ausfüllung der Lücke ergeben sich bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung spezifische Besonderheiten. Diese beruhen darauf, daß es auch insoweit die Richtlinie selbst ist, welche die Richtung weist. Das hat vor allem zur Folge, daß der Gleichheitssatz hier im Gegensatz zu vielen anderen Fällen der Rechtsfortbildung praeter legem keine Rolle spielt. So beruht z. B. die Analogie und der sie tragende Ähnlichkeitsschluß auf dem Gebot, Gleiches gleich zu behandeln, und die teleologische Reduktion oft auf dem Gebot, Ungleiches ungleich zu behandeln183. Derartige Argumentationsfiguren spielen im Rahmen der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung allenfalls eine periphere Rolle184.
Das verkennt z. B. Grundmann, ZEuP 1996, 420 mit FN 58. Vgl. auch Franzen 419 (trotz des sich aus oben FN 176 ergebenden Gegensatzes). 183 Vgl. näher Canaris (FN 156) 71 ff, 82 ff. 184 Vgl. aber auch sogleich im Text bei FN 188. 181 182
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Demgemäß dürfte der richtlinienkonformen Analogie kaum praktische Bedeutung zukommen185. Denn worauf soll der dieser zugrunde liegende Ähnlichkeitsschluß hier aufbauen? Soweit doch einmal eine Analogie bemüht wird, um ein richtlinienwidriges Ergebnis auszuräumen, wie bei der berühmten Problematik, ob das HausTWG auch auf Bürgen anzuwenden ist, vermag das nur zu überzeugen, weil und sofern ohnehin schon nach dem nationalen Recht ein Ähnlichkeitsschluß möglich ist186, so daß der Rückgriff auf die Richtlinie allenfalls noch als unterstützendes Kriterium hinzukommt oder in Grenzfällen, in denen sich die Argumente für und gegen die Bejahung einer Ähnlichkeit die Waage halten, den Ausschlag geben kann. Immerhin mag es vorkommen, daß ein nicht geregelter Tatbestand (erst) dadurch, daß man ihn [90] im Lichte der Richtlinie beurteilt187, ausnahmsweise einmal die für eine Analogie erforderliche Ähnlichkeit gewinnt188. Praktisch wesentlich ergiebiger als Mittel zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung erscheint die teleologische Extension189. Für diese ist es nämlich gerade charakteristisch, daß sie nicht auf einem Ähnlichkeitsschluß beruhe190, und daher stellt sie i. d. R. ein geeignetes Instrument dar, um die Gebote einer Richtlinie zu verwirklichen, sofern dabei die Grenze des möglichen Wortsinns der Normen des nationalen Rechts überschritten werden muß. Große Bedeutung hat ferner im vorliegenden Zusammenhang die teleologische Reduktion. Zwar dient diese in ihren „klassischen“ Fällen dazu, den Anwendungsbereich einer Norm einzuschränken, wenn deren Wortlaut gemessen an ihrem 185 Vgl. zur Analogie im Europarecht, wenngleich ohne unmittelbaren Bezug auf das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung, Langenbucher, Cambridge Law Journal 57 (1998) 481 ff; dieselbe, Jb Junger Zivilrechtswissenschaftler 1999 (2000) 65 ff. 186 Charakteristisch hierfür ist die Argumentation von Franzen 388 und 418 f. Im übrigen kann hier auf die umfängliche Kontroverse zu dieser Problematik nicht eingegangen werden; zu meinem eigenen Standpunkt vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. (1994) § 60 II 3 a und Canaris, AcP 200 (2000) 353 f. 187 Vgl. zu diesem Erfordernis unten IV 2 b bb bei FN 223. 188 Ein Beispiel hierfür, bei dem es allerdings nicht um eine Richtlinie, sondern um europäisches Primärrecht geht, dürfte die Notwendigkeit einer Erweiterung von § 239 BGB bilden. Nach dieser Vorschrift ist ein Bürge nur dann für eine Sicherheitsleistung tauglich, wenn er seinen allgemeinen Gerichtsstand „im Inland“ hat. Dem ist zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Verbot der Diskriminierung von EU-Ausländern gem. Art. 12 EG und gegen die Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheiten gem Art. 49 ff, 56 ff EG ein Gerichtsstand in einem anderen Mitgliedsstaat der EU gleichzustellen, vgl. z. B. Ehricke, EWS 1994, 259 ff und RabelsZ 59 (1995) 634; Mülbert, ZHR 159 (1995) 29; Palandt/Heinrichs, 60. Aufl. (2001) § 239 Rdnr. 1 mit Nachw. aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte. Hier ist nachträglich eine Lücke in § 239 BGB entstanden, weil es jetzt „im Inland oder in einem anderen Staat der Europäischen Union“ heißen müßte, und man mag hier in der Tat auch sagen, daß „im Lichte des EG-Vertrages“ ein Bürge mit Gerichtsstand in einem anderen EU-Staat einem inländischen Bürgen „ähnlich“ ist; möglich erscheint freilich auch, hier statt von einer Analogie von einer teleologischen Extension zu sprechen, vgl. dazu sogleich im Text. 189 Vgl. dazu Canaris (FN 156) 89 ff. 190 Vgl. Canaris aaO.
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eigenen Zweck zu weit geraten ist – eine Konstellation, die für die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung offenkundig irrelevant ist –, doch hat sie zusätzlich die Funktion, anderen und u. U. sogar gegenläufigen Zwecken, die ihre Grundlage außerhalb der betreffenden Norm haben, zum Durchbruch zu verhelfen191. Daher ist sie als Mittel zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung vorzüglich geeignet. Indessen sollte man sich vor dem Mißverständnis hüten, daß die Aufgaben der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung immer mit den bekannten Argumentationsfiguren wie Analogie, teleologische Extension und teleologische Reduktion zu bewältigen sind. Nicht selten werden diese sich vielmehr allesamt als ungeeignet erweisen. Dann sollte man sie nicht überstrapazieren, um (scheinbar) auf methodologisch gesichertem Boden zu bleiben, sondern ähnlich wie bei einer Lücke, die auf der mangelhaften Verwirklichung eines allgemeinen Rechtsprinzips beruht192, die Lückenfüllung durch den Rückgriff auf die Regelung der Richtlinie selbst oder die dieser zugrunde liegende Wertung vornehmen – sei es in einer an das nationale Recht angepaßten modifizierten Form oder sei es sogar im Wege einer Eins-zuEins-Übernahme. [91] IV. Methodologische Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung Alle Erörterungen im bisherigen Verlauf dieser Abhandlung hatten eine offene Flanke: Sie standen stets unter dem Vorbehalt, daß das Verbot des Contralegem-Judizierens nicht verletzt sein dürfe. Mit diesem Terminus soll diejenige Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung193 thematisiert werden, welche dieser durch das nationale Recht gesetzt wird194. Zusätzlich gibt es auch noch spezifisch gemeinschaftsrechtliche Grenzen wie etwa das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot195, den Konkretisierungsvorrang des nationalen Rechts bei in Richtlinien enthaltenen Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen196 und vielleicht auch eine Art Transparenzgebot bei der Umsetzung von Richtlinien196a, doch ist
Vgl. Larenz/Canaris (FN 4) 214 f. Vgl. zu solchen „Prinziplücken“ näher Canaris (FN 156) 141, 160 ff. 193 Unter diesem Ausdruck werden hier, ebenso wie auch schon oben I, Auslegung und Rechtsfortbildung praeter und extra legem zusammengefaßt. 194 Vgl. dazu auch Brechmann 265 ff; Franzen 373 ff. 195 Vgl. dazu z. B. EuGH vom 8.10.1987 – Rs 80/86 – Slg. I-1987, 3969 (Kolpinghuis Nijmegen); Brechmann 275 ff. 196 Grundlegend dazu W.H. Roth, FS für Drobnig (1998) 134, 141 ff, 145 ff; eingehend und weiterführend ferner Franzen 504 ff, 536 ff. 196a Darauf könnte eine jüngst ergangene Entscheidung des EuGH hindeuten, vgl. EuGH vom 10.5.2001 – Rs 144/99 ZIP 2001, 1373, 1374 f Rdnr. 21 (Kommission/Niederlande); 191 192
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darauf in der vorliegenden Untersuchung nicht einzugehen, weil diese, wie schon aus ihrem Titel deutlich wird, ihren Schwerpunkt in den methodologischen Problemen hat. 1. Das Verbot des Contra-legem-Judizierens als methodologischer Ausgangspunkt a) Funktion und Begriff des Contra-legem-Judizierens Ähnlich wie der Begriff der „Lücke“ im Gesetz durch seine Funktion definiert ist, einen bestimmten Bereich der Rechtsfindung abzustecken – nämlich denjenigen, in dem diese trotz Überschreitung des möglichen Wortsinns des Gesetzes zulässig ist – 197, ist auch der Begriff des Contra-legem-Judizierens funktionell zu verstehen. Demgemäß ist ihm die Aufgabe zuzuweisen, jenen Bereich der Rechtsfindung auszugrenzen, welcher der richterlichen Rechtsanwendung und -fortbildung grundsätzlich, d. h. abgesehen von extremen Ausnahmekonstellationen, verschlossen und in dem eine solche also unzulässig ist. Das entspricht der Bedeutung, welche die meisten Juristen ohnehin intuitiv mit diesem Begriff verbinden, und erweist sich bei näherer Analyse in der Tat als überaus sinnvoll, wie Bydlinski in einer eingehenden, systematisch [92] fundierten Untersuchung überzeugend nachgewiesen hat198. Zwar kann man den Begriff des Contra-legemJudizierens natürlich auch in anderer Weise verwenden199, doch ist hier nicht der Ort, sich mit derartigen abweichenden Konzeptionen auseinanderzusetzen. Wie bei jeder Begriffsbildung empfiehlt es sich, zunächst den „harten“ Kernbereich zu bestimmen. Dieser wird durch die Verbindung von Wortlaut und Zweck des Gesetzes gebildet: Eine Rechtsfindung, die zugleich gegen den Wortsinn und gegen den Zweck des Gesetzes verstößt, ist jedenfalls unzulässig200 und stellt also ein entgegengesetzt freilich die großzügige Tendenz in EuGH vom 29.5.1997 – Rs 300/95 Slg. I – 2649, 2671 f Rdnr. 33 ff (Kommission/Vereinigtes Königreich). 197 Vgl. oben III 1 a bei FN 158. 198 Vgl. Bydlinski, Über die Lex-lata-Grenze der Rechtsfindung, in: Koller/Hager/Junker/ Singer/Neuner (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken (1998) 27 ff; vgl. auch dens., JBI 1997, 617 ff. 199 Vgl. vor allem Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992) 132, 148 ff und dazu kritisch Bydlinski (FN 198) 29 ff, 54 f. 200 So mit Recht Bydlinski (FN 198) 47; ähnlich schon derselbe (FN 4) 569 f, 577 ff; im Kern übereinstimmend z. B. Koch/Rüßmann (FN 82) 255; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. (1983) 119; Looschelders/Roth (FN 82) 258, die zwar nur die Wert- und nicht auch die Regelungsentscheidung des Gesetzgebers für verbindlich halten, damit aber wohl Ähnliches meinen wie mit der Unterscheidung zwischen dem Zweck einer Norm und den Vorstellungen ihrer Verfasser von deren Inhalt, was mit der hier vertretenen Konzeption durchaus vereinbar ist, vgl. Canaris, FS für Medicus (1999) 50 f.
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unerlaubtes Contra-legem-Judizieren dar. Dies beruht darauf, daß Wortlaut und Zweck die beiden konstituierenden Elemente eines Gesetzes bilden; denn zum einen bestehen Ziel und Aufgabe der Gesetzgebung in der Tat in der Setzung von Zwecken bzw. – was im vorliegenden Zusammenhang im wesentlichen auf dasselbe hinauslaufen dürfte – in der Verwirklichung von Werten, und zum anderen muß der Gesetzgeber seine Entscheidungen in der dafür erforderlichen Form promulgieren, also irgendwie wenigstens andeutungsweise sprachlich verlautbaren. Oder wie Bydlinski sehr schön sagt: „Gesetz ist die Einheit von menschlichem Willen als Substanz und von Text als Form.“201 b) Randunschärfen und Präzisierungen Die Tragfähigkeit dieses Doppelkriteriums kann und muß man nun in folgerichtiger Absicherung des zugrunde liegenden Ansatzes nach zwei Richtungen hin überprüfen. Zum ersten ist zu fragen, ob ein unzulässiges Contra-legemJudizieren auch dann vorliegen kann, wenn eine Rechtsfindung zwar mit dem Wortsinn des Gesetzes vereinbar ist, mit dessen Zweck aber nicht; bejaht man [93] das, würde der Zweck möglicherweise das allein ausschlaggebende Abgrenzungskriterium darstellen. Und zum zweiten ist umgekehrt zu untersuchen, ob es vorkommen kann, daß die Rechtsfindung zwar dem Zweck des Gesetzes entspricht, aber eine unübersteigbare Schranke in dessen Wortlaut findet; auch in diesem Fall, in dem es an einem Verstoß der etwaigen Rechtsfortbildung gegen den Zweck des Gesetzes fehlt und sich allein der Wortlaut als entscheidendes Hindernis erweist, ist der Begriff des (unzulässigen) Contra-legem-Judizierens entsprechend zu modifizieren. aa) In der Tat kann eine Rechtsfortbildung unzulässig sein, wenn sie sich zwar in den Grenzen des möglichen Wortsinns einer Norm hält, aber gegen deren Zweck oder den Zweck einer anderen Norm verstößt. So könnte man z. B. unter „Freiheit“ i. S. von § 823 Abs. 1 BGB rein sprachlich gesehen keineswegs nur die Fortbewegungsfreiheit verstehen, wie das die ganz h. L. tut, sondern auch die allgemeine Handlungsfreiheit, doch würde dadurch im praktischen Ergebnis die Grundentscheidung des BGB gegen eine „große“ deliktische Generalklausel, wie sie sich aus der Entstehungsgeschichte und der Systematik des Gesetzes klar 201 AaO (FN 198) 47. Die Parallele zur rechtsgeschäftlichen Willenserklärung liegt auf der Hand; denn auch für diese sind die beiden Elemente des Willens und der Erklärung gleichermaßen konstitutiv, wie schon in dem Begriff als solchem unüberhörbar zum Ausdruck kommt, und auch sie impliziert – ähnlich wie das Gesetz, wenngleich mit geringerer Autorität und nur inter partes – eine Geltungsanordnung, welcher der Verbindlichkeitsanspruch nach ihrem eigenen Aktsinn immanent ist, vgl. dazu näher Canaris in Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/Widmaier, 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft (2000) I 147 ff (unter Herausarbeitung des „performativen“ Charakters des Rechtsgeschäfts).
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ergibt, in ihr Gegenteil verkehrt, so daß es sich in der Tat um ein unzulässiges Contra-legem-Judizieren handeln würde. Das Beispiel zeigt, daß für die lex-lata-Grenze nicht der mögliche Wortsinn des Gesetzes als solcher, sondern nur der lege artis ausgelegte Wortsinn maßgeblich ist202. Als Mittel der Auslegung kommen dabei alle anerkannten Kanones, insbesondere auch der Zweck der betreffenden Norm selbst, sowie alle sonst zulässigen Argumentationsfiguren und Rechtsgewinnungsmittel in Betracht. Entsprechendes gilt für den Zweck selbst. Auch dieser liegt nämlich für den Rechtsanwender häufig nicht unmittelbar und mit Selbstverständlichkeit zu Tage, sondern muß erst noch ermittelt oder zumindest präzisiert werden. Dabei spielen wiederum die anderen Auslegungskanones, insbesondere auch der Wortlaut der betreffenden Norm selbst, eine zentrale Rolle. So ist etwa – um auch hierfür ein Beispiel zu geben – aus der Fassung von § 181 BGB selbst zu entnehmen, daß die ratio legis dieser Vorschrift, wie das heute wohl allgemeine Ansicht ist, in der Vermeidung von Interessenkonflikten und nicht, wie man früher überwiegend angenommen hat, in der Gewährleistung von Rechtsklarheit liegt; denn nur die erstgenannte ratio legis ist damit vereinbar, daß die Vorschrift nach ihrem eigenen – insoweit glasklaren – Wortlaut das Selbstkontrahieren erlaubt, wenn der Vertretene es dem Vertreter gestattet hat oder wenn dieser ausschließlich eine Verbindlichkeit gegenüber dem Vertretenen erfüllt – Fallkonstellationen, in denen Rechtsunklarheit ebenso leicht wie in anderen Fällen des Selbstkontrahierens entstehen kann, ein Interessenkonflikt [94] dagegen in der Tat von vornherein schon bei genereller und abstrakter Sichtweise ausgeschlossen ist. bb) Umgekehrt kann es auch vorkommen, daß eine etwaige Rechtsfortbildung zwar mit dem Zweck des Gesetzes in vollem Einklang steht, aber an dessen Wortlaut scheitert. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ein Analogieverbot wie im Besonderen Teil des Strafrechts oder bei bestimmten taxativen, d. h. abschließenden Regelungen aller einschlägigen Tatbestände203 eingreift. Folgerichtig kann es in Parallele zum Analogieverbot auch ein Verbot der teleologischen Reduktion geben204. Darüber hinaus ist eine solche grundsätzlich auch dann als unzulässig anzusehen, wenn die Folge der teleologischen Argumentation sich nicht darauf beschränkt, aus dem Anwendungsbereich der betreffenden Norm eine bestimmte Teilmenge herauszunehmen, sondern vielmehr darin bestünde, daß die Norm ihren praktischen Anwendungsbereich vollständig oder 202 Das dürfte mit der Konzeption Bydlinskis durchaus übereinstimmen, da dieser in seiner oben zitierten Formel von einem Verstoß „gegen den (insoweit) eindeutigen Wortlaut des (als Einzelnorm und im systematischen Zusammenhang verstandenen) Gesetzes“ ausgeht, aaO (FN 198) 47. 203 Vgl. dazu eingehend und differenzierend Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. (1983) 183 ff. 204 Vgl. dazu näher Canaris (FN 203) 189 ff, 193.
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so gut wie vollständig verlöre205 oder daß eines ihrer Tatbestandsmerkmale im Ergebnis eliminiert würde. Das würde nämlich in der Sache keine echte teleologische Reduktion mehr darstellen, sondern eine faktische Derogation, die nicht in der Kompetenz der Rechtsprechung liegt und insbesondere auch nicht durch den Grundsatz „cessante ratione legis cessat lex ipsa“ gedeckt wird206. Diese Problematik wird noch an je einem Beispiel aus dem deutschen und dem österreichischen Recht veranschaulicht werden207. cc) Zusammenfassend ist das von Bydlinski entwickelte Doppel- und Übereinstimmungskriterium somit, durchaus in Übereinstimmung mit seinem Ansatz, folgendermaßen zu präzisieren: Wortlaut und Zweck des Gesetzes konstituieren in ihrer Kombination die lex-lata-Grenze und markieren damit zugleich die Voraussetzungen eines unzulässigen Contra-legem-Judizierens, nachdem beide zuvor einer Präzisierung im Wege der Auslegung unterzogen worden sind und sofern nicht die durch ein etwaiges Rechtsfortbildungsverbot gesetzten Schranken (Analogie-, Reduktions- oder Derogationsverbot) entgegenstehen. Je für sich allein bilden der Wortlaut und der Zweck des Gesetzes – auch darin ist Bydlinski zu folgen – dagegen grundsätzlich, d. h. abgesehen von Fällen wie einem Analogie- oder Reduktionsverbot, kein zureichendes Kriterium für die Bestimmung der lex-lata-Grenze. Hinsichtlich des Wortlauts ist das eine Selbstverständlichkeit, wie sich schon aus der grundsätzlichen Zulässigkeit von Analogie und teleologischer Reduktion ergibt. Es gilt aber auch für den Zweck des Gesetzes, obwohl diesem natürlich eine weitaus größere Be- [95] deutung als dem Wortlaut und letztlich meist die ausschlaggebende Rolle zukommt. Denn die Zweckvorstellung des Gesetzgebers vermag für sich allein überhaupt nichts zu bewirken, sondern muß zusätzlich einer Äußerung in der dafür vorgesehenen, also textuellen Form – sei es auch nur andeutungsweise, bruchstückhaft oder mittelbar – zu entnehmen sein208, und daher führt die gewisse Relativierung des möglichen Wortsinns als Abgrenzungskriterium, die in dem Erfordernis seiner vorgängigen Auslegung und dem in diesem Zusammenhang meist unerläßlichen Rückgriff auf den Zweck des Gesetzes liegt, nicht etwa dazu, daß sich die lex-lata-Grenze nun immer nur nach dem Zweck des Gesetzes richtet und der Wortlaut dafür gänzlich irrelevant wird.
Vgl. näher Canaris (FN 203) 190 und vor allem in FS für Medicus (1999) 56 f. Auch die Ausführungen von Bydlinski (FN 4) 375, 433, 588 zu diesem Grundsatz decken ihrem Aussagegehalt nach nicht die vorliegende Problematik ab. 207 Vgl. unten 3 a und b. 208 Zutreffend dazu sowie zugleich mit den erforderlichen Nuancierungen Bydlinski aaO 47, 50, 68, 71, 74; vgl. auch, wenngleich mit etwas anderer Zielrichtung, Canaris, FS für Medicus (1999) 55. 205 206
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2. Der Vorrang des Verbots des Contra-legem-Judizierens gegenüber dem Gebot der richtlinienkonformen Rechtsfindung a) Rechtstheoretische, europarechtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen Wenn man das Verbot des Contra-legem-Judizierens so definiert, wie das im Vorstehenden geschehen ist, steht von vornherein fest, daß dieses Vorrang gegenüber dem Gebot der richtlinienkonformen Rechtsfindung hat209. Denn da danach ein Contra-legem-Judizieren im wesentlichen dasselbe bedeutet wie eine Überschreitung der Grenze, welche die lex lata der Rechtsfindung zieht, enthält es ex praemissione einen Verstoß gegen das Prinzip, daß die Rechtsprechung an das Gesetz gebunden ist. Dieses stellt eine rechtstheoretische Selbstverständlichkeit dar, die sich schon vor jeder positivrechtlichen Normierung allein aus den unterschiedlichen Funktionen von Gesetz und Richterspruch ergibt: Da ersteres eine für alle Normadressaten verbindliche abstrakt-generelle Regelung setzt und letzterer diese einzelfallbezogen konkretisiert, kann es in der Tat gar nicht anders sein, als daß die Rechtsprechung den Vorrang des Gesetzes zu respektieren hat, weil dieses sonst ohne praktische Effizienz wäre210. Diese Bindung der Rechtsprechung an das (nationale) Gesetz wird sowohl durch das primäre Europarecht als auch in der einschlägigen Judikatur des EuGH uneingeschränkt respektiert. Das Europarecht bietet nämlich evidentermaßen nicht den geringsten Ansatz für einen Eingriff in die innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, und auch der EuGH [96] läßt diese unangetastet, indem er eine richtlinienkonforme Rechtsfindung von den Gerichten nur im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und nach Maßgabe des „Beurteilungsspielraums“ fordert, den ihnen das nationale Recht läßt211. Außerdem würde und könnte sich das deutsche Recht einer etwaigen Verschiebung der Funktionsabgrenzung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung gar nicht öffnen212. Denn das wäre mit dem Prinzip vom Vorrang des Gesetzes vor der Rechtsprechung unvereinbar, das sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt, und dieses Hindernis ließe sich nach Art. 79 Abs. 3 GG, der nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch im Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht gilt, nicht einmal mit verfassungsändernder Mehrheit überwinden213. 209 Ebenso i. E. z. B. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 9 f; Jarass (FN 22) 95 f; Brechmann 166, 266 ff, 286; Heß, JZ 1995, 151; a. A. vor allem Grundmann, ZEuP 1996, 417 ff (vgl. dazu unten b cc nach FN 230). 210 So völlig überzeugend Bydlinski aaO 41 f. 211 Vgl. näher oben I 3 b-d. 212 Zur Notwendigkeit einer derartigen Öffnung zutreffend Brechmann 247 ff. 213 In diese Richtung zielt ersichtlich auch der Hinweis von Di Fabio, NJW 1990, 953.
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b) Die Wirkungsweise des Verbots des Contra-legem-Judizierens gegenüber dem Gebot der richtlinienkonformen Rechtsfindung aa) Nimmt man nun im vorliegenden Zusammenhang die Ausführungen oben 1 über die Kriterien des Contra-legem-Judizierens hinzu, so wird die Grenze, die das nationale Recht der richtlinienkonformen Rechtsfindung setzt, folgerichtig durch die dort herausgearbeitete Kombination von Wortlaut und Zweck des Gesetzes bestimmt214. Wenn also beide übereinstimmend der Erreichung eines richtlinienkonformen Ergebnisses entgegenstehen, hat das nationale Gericht keinen „Beurteilungsspielraum“, der ihm eine Behebung des Defizits erlaubt. Der Wortlaut allein kann dagegen überwunden werden – vor allem durch eine teleologische Extension oder Reduktion215. Auch der Zweck allein bildet kein unüberwindliches Hindernis, weil er grundsätzlich, d. h. soweit er nicht durch den Wortlaut in unkorrigierbarer Weise fixiert ist, einer richtlinienkonformen Anpassung zugänglich ist216; das folgt nach der hier entwickelten Konzeption daraus, daß die Richtlinie jedenfalls nach ihrer Umsetzung, außerdem aber wohl auch nach Ablauf der für diese gesetzten Frist zu einem Teil der innerstaatlichen Gesamtrechtsordnung wird217 und daher deren Teleologie ergänzen oder sogar modifizieren kann. bb) Eine gewisse Schwierigkeit ergibt sich nun freilich daraus, daß Wortlaut und Zweck des Gesetzes, wie soeben 1 b aa dargelegt, ihrerseits der Auslegung bedürfen, bevor das Verdikt eines unzulässigen Contra-legem-Judizierens [97] gefällt werden kann. Dabei kann der Blick auf die Richtlinie und das Bestreben, das nationale Recht in Übereinstimmung mit dieser zu bringen, zu einem Störfaktor werden. Demgemäß hat die Richtlinie auf dieser Stufe des Rechtsfindungsvorgangs218 zunächst noch ohne privilegierte Bedeutung zu bleiben, so daß insbesondere die Vorrangregel zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung219 nicht anzuwenden220 und die Richtlinie nicht als Maßstab der Lückenfeststellung221 heranzuziehen ist. Anderenfalls liefe man nämlich Gefahr, sowohl die Eigenständigkeit des nationalen Rechts gegenüber der Richtlinie zu mißachten und dieser 214 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen z. B. Brechmann 272 f; Jarass (FN 22) 95; Rüffler, ÖJZ 1997, 127; Klauer (FN 22) 52; anders dagegen Franzen 403 f aufgrund der – oben I 5 abgelehnten – Analogie zu Art. 36 EGBGB. 215 Vgl. dazu oben III 3. 216 Ähnlich z. B. Klauer (FN 22) 52; für die gemeinschaftskonforme, d. h. am europäischen Primärrecht orientierte Auslegung auch Ehricke, RabelsZ 59 (1995) 636 ff. 217 Vgl. oben III 2. 218 Vgl. zu dessen Mehrstufigkeit oben II 4 c. 219 Vgl. oben II 2 a. 220 Insoweit a. A. wohl Jarass (FN 22) 95 f. 221 Vgl. oben III 2.
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eine – ihr nicht zukommende – derogatorische Wirkung222 zuzubilligen als auch sich in einen vitiosen Zirkel zu verstricken, indem man bei der Suche nach der Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung inzident bereits deren Zulässigkeit voraussetzt und diese also vorschnell bejaht. Andererseits kann – wie bei jedem hermeneutischen Vorgang – das angestrebte Ziel bzw. das erkenntnisleitende Interesse nicht einfach völlig außer Betracht bleiben, zumal sonst die maßgeblichen Gesichtspunkte möglicherweise gar nicht in den Blick kämen. Die Suche nach dem Vorhandensein eines „Beurteilungsspielraums“ darf und muß daher durchaus in dem Bewußtsein erfolgen, daß dessen Auffindung im Interesse der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfindung wünschenswert ist. So wird es oft zu einem „Hin-und-HerWandern des Blickes“ zwischen nationalem Recht und Richtlinie kommen, worin indessen kein vitioser, sondern lediglich ein – unvermeidlicher, ja u. U. fruchtbarer – hermeneutischer Zirkel liegt223. Wiederum andererseits darf das Bemühen um eine richtlinienkonforme Rechtsfindung nicht zu einer Verbiegung oder gar Denaturierung von Normen des nationalen Rechts führen224. Demgemäß dürfen diese nicht so interpretiert werden, daß sie Ergebnisse zulassen oder Funktionen übernehmen, die ohne das Bestehen der Richtlinie überhaupt nicht in Betracht kämen. Vielmehr müssen die Auslegung und ihr Ergebnis von solcher Art sein, daß sie auch dann als vertretbar oder zumindest diskutabel erscheinen, wenn man von dem Bestreben nach einer Beseitigung des richtlinienwidrigen Defizits absieht. Ein Beispiel für die Überschreitung dieser Grenze bildet die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 611 a aF BGB, das in dem Bemühen um eine richtlinienkonforme Konkretisierung dieses Diskriminierungsverbots generell in jeder tatbestandlich von dieser Vorschrift erfaßten Ungleichbehandlung eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gesehen hat und auf diesem Wege unabhängig von einer Abwägung der Umstände des Einzelfalles zu einem Anspruch [98] auf Ersatz immateriellen Schadens gelangt ist225. Das ist mit der „offenen“ Struktur des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unvereinbar und fügt sich nicht in dessen spezifische Schutzbereiche ein226, so daß eine derartige Ausweitung seines Anwendungsbereichs bei einer rein nationalrechtlichen Betrachtungsweise von vornherein nicht ernsthaft hätte erwogen werden können und also auch im Rahmen einer richtlinienkonformen Rechtsfindung mangels eines nationalrechtlichen „BeurteilungsspielVgl. dazu oben I 2 a und II 3. Eine philosophische Vertiefung dieses Aspekts muß ich mir hier aus Raum- und Zeitgründen versagen, weshalb ich auch auf jegliche literarischen Hinweise verzichte und darauf baue, daß der kundige Leser das Gemeinte ohne nähere Explikation versteht. 224 Tendenziell ähnlich z. B. Brechmann 273; Jarass (FN 22) 95; Heß, JZ 1995, 151. 225 Vgl. BAG AP Nr. 5 und 6 zu § 611 a BGB. 226 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. (1994) § 80 II 2 d a. E. = S. 502; zustimmend und vertiefend Franzen 409 f, 441 f. 222 223
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Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung raums“ nicht zulässig war. Vollends gesprengt wird die Grundstruktur dieses Rechtsinstituts, wenn das BAG aus ihm ein Recht eines Stellenbewerbers auf Beurteilung nach sachangemessenen Kriterien herleitet227, so daß auch insoweit die Möglichkeiten der richtlinienkonformen Auslegung überspannt worden sind228.
cc) Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei im übrigen noch einmal in Erinnerung gerufen, daß die richtlinienkonforme Rechtsfindung strikt von der „unmittelbaren“ Anwendung und demgemäß auch von der „Horizontalwirkung“ einer Richtlinie zu unterscheiden ist. Diese entfalten, wie dargelegt229, im praktischen Ergebnis derogatorische Wirkung gegenüber dem nationalen Recht und setzen sich demgemäß gegenüber diesem durch, ohne daß es auf das Vorhandensein eines „Beurteilungsspielraums“ ankommt. Folgerichtig spielt insoweit das Verbot des Contra-legem-Judizierens keine Rolle. Viel zu weit geht dagegen die These, daß die Gerichte nach der Umsetzung einer Richtlinie und sogar dann, wenn der Gesetzgeber diese in dem irrigen Glauben unterläßt, das nationale Recht befinde sich bereits in voller Übereinstimmung mit der Richtlinie, „sich bei der Wahl der Auslegungsmethoden und -ergebnisse nicht mehr in den nationalen Beurteilungsspielräumen halten müssen“, wenn „die Ziele, deretwegen man die Richtlinie und nicht die Verordnung als Regelungsinstrument wählt, erreicht werden können“230. Dem ist schon deshalb nicht zu folgen, weil damit der Unterschied zwischen Richtlinie und Verordnung nun auch noch über den – ohnehin bereits hochdelikaten – Bereich der „unmittelbaren“ Anwendung hinaus eingeebnet und der Richtlinie im praktischen Ergebnis derogatorische Wirkung gegenüber dem nationalen Recht zuerkannt würde, obwohl sie eine solche im Gegensatz zur Verordnung eben gerade nicht hat231. Außerdem geht es sowohl aus Gründen der kompetenzrechtlichen Zuständigkeit als auch der Praktikabilität nicht an, daß der Rechtsanwender darüber spekuliert, warum der euro- [99] päische Normgeber das Instrument der Richtlinie und nicht das der Verordnung gewählt hat und ob das mit der Wahl einer Richtlinie verfolgte Ziel auch erreicht wird, wenn man diese wie eine Verordnung behandelt. Schließlich wird auch verkannt, daß die bloße Absicht des nationalen Gesetzgebers, eine Richtlinie umzusetzen, nicht dieselben Wirkungen hat wie die Umsetzung selbst,
Vgl. BAG AP Nr. 5 zu § 611 a BGB unter A II. So mit Recht Franzen 438 mit umf. Nachw. in FN 190; a. A. z. B. Brechmann 270 FN 62, der ausdrücklich zugesteht, daß die Lösung des BAG zu einem „Bruch im gesetzlichen Wertungssystem“ führt, jedoch der Rechtsprechung des BAG gleichwohl zustimmt, ohne indessen auf die Frage nach dem Vorliegen eines hinreichenden „Beurteilungsspielraums“ im deutschen Recht einzugehen. 229 Vgl. oben I 2 b und II 3 b. 230 So Grundmann, ZEuP 1996, 221; ähnlich ders. JZ 1996, 282; ablehnend Möllers, EuR 1998, 44. 231 Vgl. oben I 2 a und II 3 a. 227 228
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da der innere Wille des Gesetzgebers als solcher nichts vermag232 und eine Umsetzung demgemäß trotz eines hierauf gerichteten Willens auch mißlingen kann. Ist ein solches Mißgeschick unterlaufen, kann das nicht dazu führen, daß die Richtlinie nunmehr das nationale Recht einfach beiseite schiebt, wie wenn ihr derogatorische Wirkung nach Art einer Verordnung zukäme, sondern hat vielmehr die Konsequenz, daß der Gesetzgeber nachbessern muß, sofern die Rechtsprechung mangels eines hinreichenden „Beurteilungsspielraums“ keine Kompetenz zu richtlinienkonformer Abhilfe besitzt; die gegenteilige Ansicht läuft darauf hinaus, die bloße Absicht der Umsetzung für die Tat zu nehmen. Eine andere Frage ist, ob in den Fällen, in denen eine Umsetzung der Richtlinie mißglückt oder (lediglich) aufgrund eines Irrtums des Gesetzgebers über die Richtlinienkonformität des vorhandenen Rechts unterblieben ist, eine „unmittelbare“ Anwendung bzw. eine „Horizontalwirkung“ der Richtlinie zu befürworten ist. Dafür lassen sich in der Tat gute Gründe anführen, sofern ein gesetzgeberischer Spielraum bei der Umsetzung nicht besteht und also ohnehin nur eine Eins-zu-Eins-Übernahme der in der Richtlinie vorgesehenen Lösung in Betracht kommt, doch liegt diese Problematik außerhalb der Themenstellung dieser Abhandlung und kann daher hier nicht verfolgt werden. 3. Mangelnde Anpaßbarkeit des nationalen Rechts als spezifische Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung Insgesamt ist somit im Rahmen der richtlinienkonformen Rechtsfindung die Eigenständigkeit des nationalen Rechts gegenüber der Richtlinie zu respektieren. Zum einen bleibt es demgemäß dabei, daß eine richtlinienkonforme Rechtsfindung im Einklang mit der zutreffenden Rechtsprechung des EuGH nur in Betracht kommt, wenn das nationale Recht für diese durch das Vorhandensein eines entsprechenden „Beurteilungsspielraums“ Raum läßt und also die Grenze der lex lata nicht unter Verstoß gegen das Verbot des Contra-legem-Judizierens überschritten, wird; und zum anderen darf der Richtlinie nicht nur normlogisch, sondern grundsätzlich, d. h. abgesehen von den Fällen ihrer „unmittelbaren“ Anwendung oder „Horizontalwirkung“, auch im praktischen Ergebnis kein derogatorischer Vorrang zugestanden werden. Das hat notwendigerweise die Konsequenz, daß sich auch nach der Umsetzung keineswegs alle richtlinienwidrigen Defizite durch die Rechtsprechung beseitigen lassen, [100] sondern mitunter nur durch ein Eingreifen des Gesetzgebers zu beheben sind – nicht anders, als man das mutatis mutandis auch von der verfassungskonformen Rechtsfindung gewöhnt ist. Das kann dazu führen, daß auch dann, wenn der Gesetzgeber die 232
Vgl. oben IV 1 b cc bei FN 208.
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Richtlinie korrekt umsetzen wollte, die Mittel der richtlinienkonformen Rechtsfindung versagen, weil dem nationalen Recht die für deren Einsatz erforderliche Anpaßbarkeit fehlt233. Mag es sich dabei auch um besonders gelagerte Ausnahmekonstellationen handeln, so kommen sie doch durchaus vor, was abschließend noch etwas näher beleuchtet sei. a) Das Scheitern einer richtlinienkonformen Rechtsfindung an der Unkorrigierbarkeit der richtlinienwidrigen Norm Wie dargelegt ist bei dem Versuch einer richtlinienkonformen Rechtsfindung auf einer ersten Stufe zunächst das nationale Recht als solches, also ohne Einbeziehung der Richtlinie, auf das Vorhandensein eines Beurteilungsspielraums zu untersuchen234. Läßt sich ein solcher nicht feststellen, weil Wortlaut und Zweck des Gesetzes übereinstimmend einer Rechtsfortbildung entgegenstehen, ist die Gefahr eines unzulässigen Contra-legem-Judizierens wegen Überschreitung der lex-lata-Grenze indiziert. Bevor jedoch deshalb die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung verworfen wird, ist auf einer zweiten Stufe nunmehr die Richtlinie in den Rechtsfindungsprozeß einzubeziehen und insbesondere der Versuch einer teleologischen Extension oder Reduktion zu unternehmen; denn die Richtlinie bildet nach ihrer Umsetzung und wohl auch ohne eine solche nach Ablauf der dafür bestehenden Frist einen Bestandteil der innerstaatlichen Gesamtrechtsordnung, so daß sie als Mittel der Lückenfeststellung fungieren kann235. Meist wird man auf dieser zweiten Stufe doch noch über das richtlinienwidrige Defizit hinwegkommen, doch kann man dabei auch scheitern wie vor allem dann, wenn sich die betreffende Norm aufgrund der Eigentümlichkeiten ihrer gesetzgeberischen Ausgestaltung einer Korrektur im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung widersetzt. Illustrativ ist die Problematik der Behandlung des Finanzierungsleasing nach dem deutschen VerbrKrG. Dieses bestimmt in § 3 Abs. 2 Nr. 1, daß „§ 4 Abs. 1 Satz 4 und 5, §§ 6, 13 Abs. 3 und § 14 auf Finanzierungsleasingverträge“ keine Anwendung finden. Das verstößt gegen Art. 2 Abs. 1 lit b der Richtlinie über den Verbraucherkredit vom 22.12.1986 (87/102/EWG)236, sofern der Vertrag vorsieht, „daß das Eigentum letzten Endes auf den Mieter übergeht.“ Die ganz h. L. nimmt nun an, daß für diese Fallkonstellation § 3 Abs. 2 Nr. 1 VerbrKrG aufgrund einer richtlinienkonformen teleologischen Reduktion außer Anwendung zu bleiben hat und insoweit also das VerbrKrG in allen seinen Vorschriften, AA Grundmann, ZEuP 1996, 220 f; vgl. dazu soeben 2 b cc nach FN 230. Vgl. näher oben IV 2 b bb. 235 Vgl. oben III 2. 236 Das ist zwar nicht in jeder Hinsicht zweifelsfrei, soll hier aber argumentandi gratia ohne Diskussion unterstellt werden. 233 234
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d. h. einschließlich der unter die Ausnahme des § 3 Abs. 2 [101] Nr. 1 fallenden, anzuwenden ist237. Das erscheint indessen als hochproblematisch. Zwar steht der Wortlaut von § 3 Abs. 2 Nr. 1 VerbrKrG als solcher naturgemäß einer teleologischen Reduktion nicht im Wege, doch gerät man bei der erforderlichen Heranziehung der ratio legis in größte Argumentationsschwierigkeiten. Die Bundesregierung hatte nämlich ursprünglich eine Vorschrift vorgesehen, nach der das VerbrKrG auf Leasingverträge dann anzuwenden war, wenn das Leasinggut seiner Substanz nach endgültig auf den Verbraucher übertragen werden sollte – also eine mit Art. 2 Abs. 1 lit b der Richtlinie eng verwandte Regelung –, doch schlug der Bundesrat die Streichung dieser Vorschrift vor mit der Begründung, der Verbraucher sei in den übrigen Fällen des Finanzierungsleasing nicht weniger schutzwürdig238. Der Rechtsausschuß des Bundestages hat sich der Ansicht des Bundesrats angeschlossen und die jetzige Regelung empfohlen, wobei er den Standpunkt vertreten hat, Finanzierungsleasingverträge sollten grundsätzlich dem VerbrKrG unterfallen mit Ausnahme der in § 3 Abs. 2 Nr. 1 aufgeführten Vorschriften239. Bei subjektiv-teleologischer Betrachungsweise ist also zweifelsfrei eine einheitliche Behandlung aller Finanzierungsleasingverträge und gerade keine Sonderstellung derjenigen Vertragsgestaltungen gewollt, in denen der Leasingnehmer das Eigentum erwirbt. Die Überzeugungskraft dieser Zielsetzung wird bei objektivteleologischer Sicht noch erhöht, da der Leasingnehmer in der Tat eher stärker schutzwürdig ist, wenn er am Ende der Mietzeit nicht einmal das Eigentum an dem Leasinggut erwerben kann, so daß es zu einem eklatanten Wertungswiderspruch führen würde, ihn ausgerechnet für diesen Fall schlechter zu stellen240. Das Kombinationskriterium der Übereinstimmung von Wortlaut und Zweck des Gesetzes steht somit einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung klar entgegen. Darüber ist hier auch im Wege einer teleologischen Reduktion nicht hinwegzukommen. Denn diese auf die Fälle zu beschränken, in denen das Eigentum letztlich auf den Leasingnehmer übergehen soll, würde zu dem genannten Wertungswiderspruch führen und wegen dessen besonderer Schwere den Gleichheitssatz verletzen; und § 3 Abs. 2 Nr. 1 VerbrKrG auch für die übrigen Fälle des Finanzierungsleasing außer Anwendung zu lassen, um diesen Wertungswiderspruch zu vermeiden, würde der Vorschrift jede praktische Bedeutung nehmen und wäre also nicht mehr Reduktion, sondern faktische Derogation. Da die Rechtsprechung weder einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz in Kauf nehmen noch eine Norm ihres gesamten Anwendungsbereichs berauben und sie also de facto abschaffen darf241, kann der Verstoß gegen die Richtlinie hier entgegen der h. L. nicht im Wege einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung, sondern nur durch ein Eingreifen des Gesetzgebers behoben werden, auch 237 Vgl. z. B. OLG Frankfurt NJW-RR 1999, 494; Zahn, DB 1994, 621 f; MünchKomm/Ulmer, 3. Aufl. (1995) § 3 VerbrKrG Rdnr. 25; Franzen 395 f, 419. 238 Vgl. BT-Drucks 11/5462, 34. 239 Vgl. BT-Drucks 11/8274, 20 f. 240 Vgl. schon Canaris, Bankvertragsrecht, 2. Aufl. (1981) Rdnr. 1729 und 1730 Abs. 2 zur Rechtslage vor Erlaß des Verbraucherkreditgesetzes. 241 Vgl. oben IV 1 b bb bei FN 205.
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Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung wenn dieser sich bei der Schaffung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 VerbrKrG des Verstoßes gegen die Richtlinie offenkundig nicht bewußt war und also eine uneingeschränkt korrekte Umsetzung anstrebte. Das erscheint auch als völlig sachgerecht, weil es unterschiedliche Möglichkeiten für eine richtlinienkonforme Lösung gibt, wobei ausgerechnet die Privilegierung der in Art. 2 Abs. 1 lit b der Richtlinie genannten Fallkonstellation aus dem dargelegten Grund von vornherein nicht in Betracht kommt und also eine einheitliche Lösung für alle Formen des Finanzierungsleasing gefunden werden muß. Ob auch durch die Bejahung einer „unmittelbaren“ Anwendung oder „Horizontalwirkung“ der Richtlinie Abhilfe geschaffen werden kann242, steht hier nicht zur Erörterung. [102]
b) Die Unausfüllbarkeit einer Lücke Daß eine Lücke im Gesetz sich zwar feststellen, aber nicht lege artis ausfüllen läßt, ist zwar theoretisch denkbar, kommt aber praktisch äußerst selten vor243. Anerkennt man die Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen als Teil der innerstaatlichen Gesamtrechtsordnung und zieht man sie demgemäß als Maßstab für die Feststellung einer Lücke heran244, so wächst damit die Möglichkeit, daß sich eine solche als unausfüllbar erweist. Denn durch die Richtlinie können Anforderungen an das nationale Recht herangetragen werden, die diesem fremd sind und denen es daher aufgrund seiner Eigenständigkeit nicht von sich aus Genüge tun kann. Auch hier bleibt als Ausweg nur die Korrektur durch einen Eingriff des Gesetzgebers, wobei sich freilich die Problematik nur – aber immerhin! – dann stellen kann, wenn dieser bei seiner Entscheidung über die Umsetzung der Richtlinie deren Anforderungen nicht richtig verstanden hat. Ein charakteristisches Beispiel hierfür bildet die Schwierigkeit, die Gleichbehandlungsrichtlinie (76/207/EWG) für den Fall der Diskriminierung eines Bewerbers um einen Arbeitsplatz adäquat in das deutsche Recht umzusetzen245. Die Vorschrift des § 611 a aF BGB, durch die der Gesetzgeber dies versucht hatte, enthielt gemessen an den Anforderungen der Richtlinie eine Lücke246, weil sie keine zureichende Sanktion für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aufwies. Da eine solche nach Ansicht des EuGH unabhängig von Verschulden eingreifen muß247, fand sich im deutschen Recht kein hinreichen-
242 Dafür tritt Steindorf (FN 5) 444 f ein, der die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung mit Recht im Hinblick auf die tatbestandliche Klarheit von § 3 Abs. 2 Nr. 1 VerbrKrG verneint. 243 Vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. (1983) 172 ff. 244 Vgl. oben III 2. 245 Vgl. dazu schon oben IV 2 b bb bei FN 225. 246 Ebenso Hommelhoff AcP 192 (1992) 97 f; Franzen 418. 247 EuGH vom 8.11.1990 – Rs C-I 77/88 – Slg. 1990, I-3941 Rdnr. 22 (Dekker); vom 22.4.1997 – Rs C-180/95 – Slg. 1997 I-2195 (Draempaehl).
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der Anknüpfungspunkt für eine richtlinienkonforme Sanktion, weil dieses nach § 276 Abs. 1 BGB grundsätzlich vom Verschuldensprinzip ausgeht, so daß die Lücke unausfüllbar war248. So hat schließlich der Gesetzgeber durch die Schaffung der Regelungen von § 611 a Abs. 2–5 BGB für Abhilfe gesorgt. Anders ist – und das macht einen zusätzlichen Reiz dieses Beispiels aus – die Rechtslage in Österreich: Da § 2 a GleichbG lediglich eine „vom Arbeitgeber zu vertretende“ Verletzung des Gleichbehandlungsgebots voraussetzt, hat es der OGH als unproblematisch angesehen, diese Bestimmung richtlinienkonform in dem Sinne auszulegen, daß es auf ein Verschulden des Arbeitgebers nicht ankommt249. Dagegen hat der OGH die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung dahingehend, daß auch einem Bewerber, der zwar diskriminiert worden ist, die Stelle aber wegen besserer Qualifikation des tatsächlich eingestellten Bewerbers ohnehin nicht erhalten hätte, ein Schadensersatzanspruch zusteht, mangels des erforderlichen Auslegungsspielraums (im Gegensatz zum Berufungsgericht) abgelehnt, weil § 2 a Abs. 1 GleichbG einen solchen nur gewährt, wenn das Arbeitsverhältnis „wegen (!) einer vom Arbeitgeber zu vertretenden Verletzung des Gleichbehandlungsgebots des § 2 Abs. 1 Z 1 nicht begründet“ wurde250. Hier setzt die lex lata durch ihre Ausformung in der Tat einer richtlinienkonformen Auslegung eine unübersteigbare Schranke – wobei man eine besonders schöne Illustration der Bedeutung des Gesetzeswortlauts für die lex-lataGrenze vor Augen hat; denn der Wortlaut von § 2 a Abs. 1 GleichbG läßt sich inso- [103] weit nicht im Wege einer teleologischen Reduktion korrigieren, weil eine solche nicht nur eine Einschränkung des fraglichen Tatbestandsmerkmals, sondern dessen vollständige Eliminierung zur Folge hätte251. Demgegenüber gewährt übrigens § 611 a Abs. 3 BGB ausdrücklich auch einem Bewerber, der „auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre“, einen Schadensersatzanspruch. Das Beispiel des § 611 a BGB zeigt freilich zugleich, daß es auch im Rahmen der richtlinienkonformen Rechtsfindung nur in besonders gelagerten Ausnahmesituationen zu einer unausfüllbaren Lücke kommen kann: Die Vorgaben der Gleichbehandlungsrichtlinie sind hinsichtlich der Sanktion so vage, daß der nationale Gesetzgeber ihre angemessene Umsetzung in der Tat ziemlich leicht verfehlen kann, und deren Auslegung durch den EuGH ist andererseits von einer so einseitigen Überbetonung seiner Konzeption des „effet utile“ und einer solchen Unsensibilität für die Spezifika nationaler Privatrechte geprägt252, daß letztlich erst dadurch die – eigentlich vermeidbare – Kollision mit den Grundwertungen des deutschen Privatrechts herbeigeführt wurde.
AA z. B. Möllers, EuR 1998, 45 f. OGH SZ 71/174, 366, 370. 250 OGH aaO 370 f. 251 Es handelt sich also um ein Parallelproblem zu der soeben a behandelten Konstellation. 252 Kritik an der Dekker-Entscheidung des EuGH üben mit Recht z. B. Mosler, JBl 1997, 366 f; Franzen 459 f mit Nachw. 248 249
Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre IN: HONSELL/ZÄCH/HASENBÖHLER/HARRER/RHINOW (HRSG.), FESTSCHRIFT FÜR ERNST A. KRAMER, 2004, S. 141–159
Zu den Gemeinsamkeiten und Vorzügen der Rechtskultur in der Schweiz, Österreich und Deutschland gehört ein besonders hoher Grad an methodologischer Reflexion. Das schlägt sich u. a. in einer Fülle methodologischer Literatur nieder, deren Breite und Vielfalt im internationalen Vergleich kaum ihresgleichen findet. Auch der Jubilar hat hierzu bekanntlich wichtige Beiträge geleistet, und so sei ihm, einem gemeinsamen Grundzug unserer wissenschaftlichen Interessen folgend, eine Abhandlung aus diesem Gebiet gewidmet. Als deren Gegenstand die verfassungskonforme Rechtsfindung zu wählen, ist insofern von besonderem Reiz, als diese in der Schweiz und in Deutschland gleichermassen anerkannt ist und, wie sich zeigen wird, auch in grundsätzlich ähnlicher Weise gehandhabt wird. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Juristische Methodenlehre erschöpft sich nämlich nicht darin, allgemeine hermeneutische Einsichten und Techniken für die Jurisprudenz fruchtbar zu machen, sondern weist stets auch einen – mehr oder weniger intensiven – Bezug zum positiven Recht auf, weil (und sofern) sie die Entwicklung von Regeln für die korrekte Rechtsanwendung und -findung zum Ziel hat; denn diese werden massgeblich durch die Kompetenzen der Rechtsprechung geprägt, die ihrerseits von deren verfassungsrechtlicher Stellung abhängen. Die grundsätzliche Übereinstimmung hinsichtlich der verfassungskonformen Auslegung ist daher umso bemerkenswerter, als die verfassungsrechtliche Ausgangslage in beiden Ländern in einem wesentlichen Punkt verschieden ist: Während die Gerichte in Deutschland Normen grundsätzlich uneingeschränkt wegen Unvereinbarkeit mit der Verfassung verwerfen dürfen und dabei lediglich das – auf nachkonstitutionelle Gesetze beschränkte – Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts gemäss Art. 100 GG respektieren müssen, haben sie in der Schweiz gemäss Art. 191 BV Bundesgesetze auch dann anzuwenden, wenn diese der Verfassung widersprechen. Der Beitrag zu dieser Festschrift bietet daher einen willkommenen Anlass, der Frage nachzugehen, worin eigentlich die tragenden Grundlagen der verfassungskonformen Auslegung zu sehen sind und wie diese sich in das System der Methodenlehre einfügt. [142]
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Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung
I. Das Verhältnis der verfassungskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien Als Erstes stellt sich naturgemäss das Problem, wie sich die verfassungskonforme Auslegung zu den allgemeinen Kanones der Auslegung verhält: Lässt sie sich in die vier anerkannten Kategorien der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung einordnen oder beansprucht sie diesen gegenüber eine Sonderstellung? Herkömmlicher Ansicht entspricht es, sie der systematischen Auslegung zuzurechnen1, und auch der Jubilar geht von diesem Ansatz aus2. Indessen gibt es im deutschen verfassungsrechtlichen Schrifttum eine Tendenz, die Eigenständigkeit der verfassungskonformen Auslegung stärker zu betonen und diese von der „verfassungsorientierten“ Auslegung zu unterscheiden3. Es ist daher nicht von vornherein klar, was mit verfassungskonformer Auslegung gemeint ist, und daher bedarf es zunächst einer Präzisierung der Problemstellung. 1. Präzisierung der Problemstellung a) Unterscheidung zwischen verfassungskonformer und verfassungsorientierter Auslegung? Die Unterscheidung zwischen verfassungskonformer und verfassungsorientierter Auslegung setzt bei der elementaren Einsicht an, dass das Verständnis aller Normen der Rechtsordnung durch die Verfassung beeinflusst werden kann, weil diese wegen ihrer Höherrangigkeit und ihrer Verbindlichkeit eine „Ausstrahlungswirkung“ auf das einfache Recht hat, wie eine berühmte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts im so genannten Lüth-Urteil lautet4. Demgemäss „resultiert die verfassungsorientierte Auslegung aus der Bedeutung der Verfassung für die gesamte Rechtsordnung (und) ist jedem [143] rechtsanwendenden Organ aufgegeben“, wohingegen „die verfassungskonforme Auslegung ein spezi1 Vgl. z. B. Harald Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, 1966, S. 25 f.; Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. 1997, S. 102; Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., 1999, Rn. 430. 2 Vgl. Ernst A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 75 f. 3 Vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., 1984, § 4 III 8 d; Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 6. Aufl., 2004, Rn. 436; Jörn Lüdemann, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, JuS 2004, 27, 28; im Grundsatz auch Andreas Vosskuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, AöR 125 (2000) 177, 180, der die verfassungskonforme Auslegung als einen „eigenständigen ... Unterfall“ der verfassungsorientierten Auslegung ansieht. 4 Vgl. BVerfGE 7, 198, 207.
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fisches Instrument der Verfassungsgerichte im Normüberprüfungsverfahren“ sei5. Nur wenig anders wird der Akzent gesetzt, wenn man den Begriff der verfassungskonformen Auslegung dadurch bestimmt, dass dann, wenn von mehreren Deutungsmöglichkeiten einer Norm eine zu einem verfassungswidrigen, eine andere dagegen zu einem verfassungsmässigen Ergebnis führt, Letzterer der Vorzug zu geben ist, und man also als „das eigentliche Charakteristikum verfassungskonformer Auslegung das Gebot zur Aufrechterhaltung der Norm“ ansieht6. Es liegt auf der Hand, dass die Unterscheidung zwischen verfassungsorientierter und verfassungskonformer Auslegung zumindest in terminologischer Hinsicht überaus unglücklich ist; denn auch eine verfassungsorientierte Auslegung führt natürlich zu einem verfassungskonformen Ergebnis, und umgekehrt ist eine verfassungskonforme Auslegung zwangsläufig zugleich verfassungsorientiert. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Unterscheidung nicht trotzdem in der Sache sinnvoll sein7 oder zumindest einen richtigen Kern haben könnte. Immerhin bringt sie nämlich zwei Eigentümlichkeiten der verfassungskonformen Auslegung zur Sprache, die diese gegenüber anderen Arten der Auslegung herausheben: Ihr kommt offenbar unter bestimmten Voraussetzungen Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien zu, und dies dient dem Ziel der Vermeidung eines Verfassungsverstosses. Damit geht die Problematik in eine andere, berühmt-berüchtigte Fragestellung über: die nach einem etwaigen Rangverhältnis zwischen den Kanones der Auslegung8. b) Die Unterscheidung zwischen interpretatorischer Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel aa) Üblicherweise handhabt man die verschiedenen Auslegungskriterien so, dass man sie ziemlich locker miteinander kombiniert und sich schliesslich nach einem gewissen Hin und Her für eine bestimmte Lösung entscheidet9. Man sammelt also grammatische, historische, systematische und teleologische [144] Gesichtspunkte, soweit man ihrer habhaft werden kann, gewichtet jeden von ihnen als „stark“, „schwach“ oder dgl. und wägt sie schliesslich im Konfliktsfalle gegeneinander ab. Meist wird dabei einem Kriterium wie vor allem dem Wortlaut So Stern aaO (wie Fn. 3); übereinstimmend Schlaich/Korioth aaO (wie Fn. 3). So Lüdemann aaO (wie Fn. 3); übereinstimmend Vosskuhle aaO (wie Fn. 3). 7 Es wird sich freilich herausstellen, dass sie das nicht ist, vgl. unten 13 bei Fn. 41. 8 Vgl. dazu z. B. Kramer (Fn. 2) S. 127 ff.; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 553 ff.; Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1995, S. 163 ff. 9 Vgl. zum Folgenden eingehend Claus-Wilhelm Canaris, Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht, Festschrift für Dieter Medicus, 1999, S. 25, 58 ff. 5 6
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oder dem Zweck des Gesetzes eine besonders hohe Bedeutung zugebilligt, doch hat dieses deshalb nicht etwa generell Vorrang, sondern kann durch die übrigen Kriterien überwogen werden, wenn deren Gewicht sich bei der einschlägigen Problemkonstellation als grösser erweist. In dieser Handhabung der Auslegungskanones liegt entgegen einem verbreiteten Missverständnis10 keineswegs eine irrationale Vorgehensweise, welche die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz in einem zentralen Punkt in Frage zu stellen geeignet wäre oder gar ein Einfallstor für Willkür darstellen würde. Vielmehr ist das genau die Art, wie man mit Argumenten umzugehen pflegt: Man sammelt und gewichtet sie und wägt sodann das Für und Wider gegeneinander ab. In der Tat stellen die grammatische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung in erster Linie Argumente dar11 oder genauer gesagt Sammelbezeichnungen für bestimmte Typen von Argumenten, die im Rahmen der Rechtsfindung und -gewinnung eine besonders wichtige Rolle spielen. Eine generelle Rangfolge kann es daher zwischen den „klassischen“ Auslegungskanones so wenig geben wie sonst zwischen Argumentationstypen, da zwangsläufig mal der eine und mal der andere eine grössere Überzeugungskraft und daher ein höheres Gewicht im Abwägungsprozess besitzt. Andererseits geht es aber auch nicht um eine völlig diffuse, rein einzelfallbezogene Abwägung, da die Auslegungskanones – und darin liegt ihre wesentliche methodologische Funktion – dafür sorgen, dass grundsätzlich nur bestimmte Arten von Argumenten zugelassen und dass diese überdies vor Eintritt in den Abwägungsprozess vorstrukturiert werden. Die „klassischen“ Auslegungskanones vermögen daher zwar nicht die Stabilität zu gewährleisten, die eine feste Rangfolge böte, erfüllen aber doch immerhin eine ähnliche Funktion wie die Elemente eines „beweglichen“ Systems im Sinne Walter Wilburgs12 und erschöpfen sich daher keineswegs in einem rein additiven [145] Katalog blosser Topoi, sondern sind einem solchen sowohl an Kohärenz als auch an Präzision weit überlegen. bb) Damit ist indessen die Frage nach einem Rangverhältnis zwischen den Auslegungskriterien noch nicht abschliessend und vollständig beantwortet. Die interpretatorische Abwägungslösung, in die der Rückgriff auf die „klassischen“ Auslegungskanones zu münden pflegt, kann nämlich durch das Eingreifen einer Vorrangregel zugunsten eines Auslegungskriteriums korrigiert oder verdrängt
10 Repräsentativ für dieses sind etwa die Ausführungen von Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 123. 11 Ähnlich z. B. Robert Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 78, 83; verfehlt ist es demgegenüber, die herkömmlichen Kanones der Auslegung in einen Gegensatz zur Argumentationstheorie zu bringen, so aber Arthur Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, 1994, S. 46 mit Fn. 25; ihm folgend Walter Grasnick, Argumentation versus Interpretation, JZ 2004, 232, 234. 12 Ähnlich Bydlinski (Fn. 8) S. 555 f., 565.
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werden. Eine solche schreibt vor, dass einem Auslegungskriterium unter bestimmten Voraussetzungen der Vorzug vor den übrigen zu geben ist. Die Anwendung einer Vorrangregel unterscheidet sich in signifikanter Weise von einer Abwägungslösung. Denn während sich bei dieser auch ein starkes Argument keineswegs ohne weiteres und immer durchsetzt, sondern z. B. durch das Zusammenwirken mehrerer Gegenargumente, die je für sich genommen schwächer sind, überwogen werden kann, besteht bei einer Vorrangregel für eine Abstufung, Gewichtung oder Abwägung weder Bedürfnis noch auch nur Raum. Vielmehr handelt es sich um eine Ja-Nein-Entscheidung: Man kann eine Vorrangregel nur entweder anerkennen oder ablehnen, entweder gilt sie und ist dann gegebenenfalls anzuwenden oder sie gilt nicht und ist also für die Lösung der fraglichen Kollision zwischen gegenläufigen Auslegungskriterien ohne Belang. Eine Vorrangregel hat also die Struktur einer echten „Regel“ in dem Sinne, in dem dieser Begriff im rechtstheoretischen Schrifttum heute gebraucht zu werden pflegt13, während die Auslegungskanones ähnlich wirken wie „Prinzipien“14. Die charakteristische Wirkung einer Vorrangregel besteht somit darin, dass das Auslegungskriterium, zu dessen Gunsten sie eingreift, sich auch dann durchsetzt, wenn es bei einer Abwägung mit den anderen einschlägigen Auslegungskriterien zurückträte; darin liegt sogar geradezu die Eigenschaft, an der zu testen ist, ob man es wirklich mit einer Vorrangregel zu tun hat oder nicht. Ausserdem schneidet eine Vorrangregel die Abwägung mit den übrigen Auslegungskriterien grundsätzlich von vornherein ab, indem sie diese auch dann überflüssig und gegenstandslos macht, wenn sie zu demselben Ergebnis führen würde und also in Wahrheit gar kein Kollisionsfall vorliegt. Andererseits nimmt sie ihnen durchaus nicht jede Bedeutung. Denn da der Rechtsanwender [146] sich auch beim Eingreifen einer Vorrangregel immerhin noch im Rahmen einer zulässigen Auslegung oder zumindest Rechtsfortbildung halten muss, ist diese Voraussetzung jeweils zu präzisieren und dazu bedarf es grundsätzlich des Rückgriffs auf die übrigen Auslegungskriterien; diese bestimmen also zwar nicht mehr positiv das Ergebnis der Auslegung, beschränken aber immerhin negativ deren Möglichkeiten, indem sie dazu beitragen, das Anwendungsfeld der Vorrangregel zu begrenzen. Nimmt man z. B. eine Vorrangregel zugunsten des „eindeutigen“ Wortlauts einer Norm an, so bleiben deren Geschichte und Zweck doch für die Beantwortung der Frage relevant, ob der Wortlaut wirklich eindeutig ist. cc) Wendet man sich nunmehr wieder der Unterscheidung zwischen verfassungsorientierter und verfassungskonformer Auslegung zu 15, so sieht man so13 Grundlegend Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernst genommen, 1977, S. 58 ff.; präzisierend und weiterführend Robert Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, ARSP Beiheft 25, 1985, S. 13 ff. 14 Vgl. näher Canaris (Fn. 9) S. 59 f. 15 Vgl. die Darstellung oben a.
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gleich, dass sich in ihr die Unterscheidung zwischen interpretatorischer Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel widerspiegelt. Denn bei der verfassungsorientierten Auslegung spielt die betreffende Norm oder Wertung der Verfassung ersichtlich nur als eines von mehreren Elementen eine Rolle, ohne notwendigerweise immer den Ausschlag zu geben, wohingegen bei der verfassungskonformen Auslegung (im engen oder strikten Sinne) der verfassungsgemässen Auslegungsmöglichkeit auch dann der Vorzug vor der verfassungswidrigen zu geben ist, wenn die besseren Argumente eigentlich für Letztere sprechen, Erstere aber immerhin interpretatorisch möglich ist. Die Frage nach der Stellung der verfassungskonformen Auslegung im System der juristischen Methodenlehre konkretisiert sich somit dahin, ob es eine Vorrangregel zu deren Gunsten gibt und wie sich diese gegebenenfalls zu den „klassischen“ Auslegungskanones verhält. 2. Die Vorrangregel zugunsten der verfassungskonformen Auslegung und ihre argumentative Legitimierung Da eine Vorrangregel den – auf den Einsichten der Hermeneutik und der Argumentationstheorie basierenden – Grundsatz durchbricht, dass es bei abstrakter Betrachtung keine Rangordnung zwischen den Auslegungskriterien gibt, bedarf sie einer besonderen argumentativen Legitimierung. Demgemäss verdient diese Problematik hinsichtlich der verfassungskonformen Auslegung eine vertiefte Erörterung, zumal deren dogmatisches Fundament als unsicher gilt 16. Im Einzelnen sind dabei mehrere Lösungsansätze zu unterscheiden. [147] a) Die mangelnde Tragfähigkeit der Annahme einer „Vermutung“ In seiner Ausgangsentscheidung zur verfassungskonformen Auslegung hat sich das Bundesverfassungsgericht auf eine „Vermutung“ gestützt, die dafür spreche, „dass ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist“, und ein „in dieser Vermutung zum Ausdruck kommendes Prinzip“ postuliert, das „im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes verlangt“17. Von einer ähnlichen Vermutung ist auch das Bundesgericht ausgegangen18.
So ausdrücklich Vosskuhle (Fn. 3) S. 182 ff. Vgl. BVerfGE 2, 266, 282. 18 Vgl. z. B. BGE 95 I 330, 332; 107 V 214, 216. 16 17
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Im Schrifttum ist diese Begründung überwiegend auf Kritik gestossen19. In der Tat erscheint sie für sich allein nicht als tragfähig, auch wenn ein richtiger Gedanke in ihr anklingen mag. Denn für eine Vermutung in tatsächlicher Hinsicht fehlt es an der erforderlichen empirischen Basis, und eine Vermutung rechtlicher Art hat keinen Argumentationswert, weil sie sofort die Frage aufwirft, worin sie ihrerseits ihre Legitimation findet, so dass das Problem nicht gelöst, sondern lediglich verschoben wird. b) Die Bedeutung des Gedankens der Einheit der Rechtsordnung und der Höherrangigkeit der Verfassung Ein anderer Ansatz besteht in dem Rückgriff auf den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung in Verbindung mit der Höherrangigkeit der Verfassung20, wobei Letztere häufig explizit mit der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung in Zusammenhang gebracht wird. Damit kommen zweifellos wichtige Gesichtspunkte, ja tragende Elemente in den Blick; denn wenn die Rechtsordnung nicht als Einheit zu denken wäre oder die Verfassung nicht den Charakter [148] einer lex superior hätte, bestünde von vornherein kein Raum für eine Vorrangregel zugunsten der verfassungskonformen Auslegung. Ausserdem wird bei dieser Sichtweise zutreffend deutlich, dass es sich bei der verfassungskonformen Auslegung nicht um einen atypischen oder gar isolierten Sonderfall, sondern um einen Unterfall einer allgemeinen hermeneutischen Regel handelt, nach der die rangniedrigere Norm grundsätzlich im Einklang mit der ranghöheren Norm – also z. B. Landesrecht gegebenenfalls im Einklang mit Bundesrecht – zu interpretieren ist21. Gleichwohl befriedigt dieser Erklärungsansatz nicht voll, weil er die Antwort auf zwei zentrale Fragen schuldig bleibt und also (zumindest) ergänzungsbedürftig ist. Zunächst ist einzuwenden, dass der Einheit der Rechtsordnung und 19 Vgl. z. B. Detlef Christoph Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 45; Ulrich Häfelin, Die verfassungskonforme Auslegung und ihre Grenzen, Festschrift für Hans Huber zum 80. Geburtsstag, 1981, S. 241, 243; Johannes Hager, Gesetzes- und sittenkonforme Auslegung und Aufrechterhaltung von Rechtsgeschäften, 1983, S. 10 ff.; Karl August Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, 1986, S. 241. 20 Vgl. Engisch (Fn. 1) S. 102 mit Fn. 50; Bogs (Fn. 1) S. 22 f, 25 f; Max Imboden, Normkontrolle und Norminterpretation, Festschrift für Hans Huber zum 60. Geburtstag, 1961, S. 142 f.; Reinhold Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, in Christain Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, S. 108, 109; Stern (Fn. 3) Band III/2, 1994, § 90 II 3 a; Winfried Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 28 f.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1999, Rn. 81. 21 So mit Recht Imboden (Fn. 20) S. 142; Bettermann (Fn. 19) S. 20; Bydlinski (Fn. 8) S. 233, 456; Stern (Fn. 20) § 90 II 3 a a. E.
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der Höherrangigkeit der Verfassung auch mit einer interpretatorischen Abwägungslösung, in welche die Übereinstimmung einer Auslegungsvariante mit der Verfassung mit besonders hohem, aber nicht unbedingt ausschlaggebendem Gewicht einginge, Rechnung getragen werden könnte. Eine darüber noch hinausgehende interpretatorische Vorrangregel, bei der die Verfassungskonformität das allein entscheidende Kriterium bis zur äussersten Grenze des interpretatorisch (oder rechtsfortbildend) gerade noch Zulässigen darstellt, lässt sich daher durch den Hinweis auf den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung und die Höherrangigkeit der Verfassung nicht überzeugend legitimieren. Zum Zweiten kann man die Einheit der Rechtsordnung und die Höherrangigkeit der Verfassung auch wahren, indem man die Norm für verfassungswidrig erklärt und also kassiert22 (soweit die Gerichte dazu die Kompetenz haben) – und doch ist es gerade dieses Ergebnis, das durch die verfassungskonforme Auslegung tunlichst vermieden werden soll. c) Der „Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt“ und die Sicherung ihres Vorranges vor der Rechtsprechung Somit bedarf es einer zusätzlichen Erklärung dafür, dass die verfassungskonforme Auslegung zur Vermeidung eines Verfassungsverstosses führt und daher grundsätzlich, d. h. von einem Fall wie Art. 191 BV abgesehen23, geltungserhaltende Wirkung entfaltet. [149] aa) Um die Überzeugungskraft dieser Lösung darzutun, ist es zweckmässig. in einem Gedankenexperiment zunächst einmal von ihrem Gegenteil auszugehen. Dann würde schon die blosse Möglichkeit, eine Norm so auszulegen, dass sie einen verfassungswidrigen Inhalt hat, zu ihrer Verfassungswidrigkeit und damit gegebenenfalls zu ihrer Nichtigkeit führen. In einer solchen Weise wird im deutschen Recht bekanntlich in der Tat bei der Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen verfahren: Die zu prüfende Klausel wird nach dem Prinzip der (scheinbar) „kundenfeindlichsten Auslegung“ so interpretiert, wie es für den Kunden am ungünstigsten, aber interpretatorisch noch möglich ist, sodann wird sie mit diesem Inhalt auf ihre Wirksamkeit kontrolliert, und wenn sie diesen Test nicht besteht, aufgrund des Verbots einer geltungserhaltenden Reduktion zur Gänze kassiert24. Hinter dieser Vorgehensweise steht in erster Linie der Gedanke 22 Vgl. Häfelin (Fn. 19) S. 247 f.; Hager (Fn. 19) S. 15 f.; Bettermann (Fn. 19) S. 25 f.; Vosskuhle (Fn. 3) S. 183; Wassilios Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, 1973, S. 101; Rolf Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 106. 23 Vgl. dazu unten dd bei Fn. 38. 24 Vgl. nur Helmut Heinrichs in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 63. Aufl., 2004, § 305 c Rn. 19 und Vorb. vor § 307 Rn. 8.
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der Prävention: Der Verwender von Allgemeinen Geschäftsbedingungen soll davon abgeschreckt werden, das Risiko der Unwirksamkeit einer Klausel einzugehen, und dazu angehalten werden, von sich aus für die Rechtmässigkeit seiner Klauseln zu sorgen. Es liegt auf der Hand, dass die Übertragung dieses Modells auf das Verhältnis von Gesetz und Verfassung bzw. von Gesetzgeber und Rechtsprechung ganz unangemessen, ja geradezu ungehörig gegenüber dem Gesetzgeber wäre. Denn während die Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, also von durch Privatpersonen einseitig aufgestellten rechtsgeschäftlichen Regelungen mit Selbstverständlichkeit zu den genuinen Aufgaben der Gerichte gehört, ist die gerichtliche Kontrolle von Gesetzen von vornherein ein heikles Unterfangen, weil der Gesetzgeber bei deren Schaffung ja seine ureigenste Aufgabe erfüllt. Damit tritt ein zentrales Argument deutlich ins Licht: Das Gebot der verfassungskonformen Auslegung soll die Autorität und die Autonomie des Gesetzgebers vor Übergriffen der Rechtsprechung schützen 25 und dient damit letztlich einer funktionsgerechten Abgrenzung der Kompetenzen dieser beiden Staatsgewalten. Dem entspricht es, dass das Bundesverfassungsgericht als Grundlage der verfassungskonformen Auslegung mitunter den „Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt“ bezeichnet26. [150] bb) Vertieft wird diese Sichtweise, wenn man sich den normalen Interpretationsvorgang vergegenwärtigt. Eine Abwägung der einschlägigen Auslegungskriterien – bei der ja die verfassungsrechtlichen Vorgaben einzubeziehen sind, da sie im Rahmen der systematischen und der objektiv-teleologischen Auslegung auch bei dieser Vorgehensweise relevant sind – würde nämlich in einer Vielzahl, ja vermutlich sogar in der grossen Mehrzahl der Fälle ebenfalls zu einem verfassungskonformen Ergebnis führen, ohne dass es dazu des Rückgriffs auf den Vorrang der verfassungskonformen Auslegung bedürfte. Gängige Beispiele für eine solche sind im deutschen Recht etwa die rechtliche Behandlung der Spontan- und der Eilversammlung. Grundsätzlich bedarf eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel nach § 14 VersammlG einer Anmeldung bei der zuständigen Behörde spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe, widrigenfalls die Versammlung nach § 15 Abs. 2 VersammlG aufgelöst werden kann und ihr Veranstalter oder Leiter sich nach § 26 Ziff. 2 VersammlG strafbar macht. Nun hat jedoch das Bundesverfassungsgericht für Spontanversammlungen, d. h. für Versammlungen, die sich aus einem momentanen Anlass ungeplant und ohne Veranstalter bilden, im Hinblick auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gemäss Art. 8 GG entschieden, dass eine Anmeldungspflicht nicht besteht27. Zu diesem Ergebnis kommt man mit Selbstverständ25 Ähnliche Ansätze finden sich z. B. bei Hager (Fn. 19) S. 17 f.; Brechmann (Fn. 20) S. 29; Lüdemann (Fn. 3) S. 29; Friedrich Mueller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, Rn. 101 f. 26 Vgl. BVerfGE 86, 288, 320; 90, 263, 275; BVerfG NJW 2004,1305,1311 unter 4 a. 27 BVerfGE 69, 315, 350 f.
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lichkeit schon auf der Basis der allgemeinen Auslegungskriterien – zum einen, weil die Vorschrift des § 14 VersammlG von der „Absicht, eine öffentliche Versammlung ... zu veranstalten“ sowie von deren „Bekanntgabe“ spricht und somit hier schon nach ihren Wortlaut nicht passt, und zum Zweiten, weil eine Pflicht zur Anmeldung einer Spontanversammlung aus tatsächlichen Gründen gar nicht erfüllbar wäre und daher sinnvollerweise aus objektiv-teleologischen Gründen auch nicht statuiert werden kann, zumal sie sonst zwangsläufig immer verletzt wäre und darin eine übermässige Beeinträchtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit läge. In Fortführung dieses Ansatzes hat das Bundesverfassungsgericht für Eilversammlungen, d. h. für Versammlungen, die im Unterschied zu Spontanversammlungen zwar geplant sind und einen Veranstalter haben, aber ohne Gefährdung ihres Zwecks nicht 48 Stunden vorher angemeldet werden können – z. B., weil sie eine Reaktion auf einen aktuellen Anlass darstellen und sinnvoll nur vor einem kurz bevor stehenden Ereignis durchgeführt werden können –, in verfassungskonformer Auslegung von § 14 VersammlG angenommen, dass sie anzumelden sind, sobald die Möglichkeit dazu besteht28. Auch diese Frage würde man nach [151] den allgemeinen Regeln der Methodenlehre ebenso entscheiden – wenn auch nicht im Wege der Auslegung i. e. S. so doch im Wege einer teleologischen Reduktion29; denn da die Eilversammlung praktisch gar nicht stattfinden dürfte, wenn auch sie 48 Stunden vorher angemeldet werden müsste, unterscheidet sie sich vom Normaltypus der Versammlung im Hinblick auf die Anmeldepflicht so stark, dass der negative Gleichheitssatz, wonach Ungleiches verschieden zu behandeln ist, eine differenzierende Behandlung fordert. Für diesen engen Zusammenhang zwischen den allgemeinen Auslegungskriterien und dem spezifischen Gebot verfassungskonformer Auslegung zeigen die Gerichte meist ein gutes Gespür, und so diskutieren sowohl das Bundesgericht30 als auch das Bundesverfassungsgericht 31 Erstere häufig mit einer Überzeugungskraft, dass man annehmen könnte, sie gäben allein schon den Ausschlag und es komme auf eine echte Vorrangregel zugunsten der verfassungskonformen Auslegung eigentlich gar nicht mehr an. Andere Entscheidungen belegen jedoch, dass sehr wohl eine solche gemeint ist, indem sie eine verfassungskonforme Lösung unter starker Anspannung der Auslegungs- und Rechtsfortbildungsmöglichkeiten auch dort noch annehmen, wo man zu einer solchen nach den allgemeinen Regeln der Methodenlehre nicht mehr käme32. BVerfGE 85, 69, 75 f. Vgl. dazu näher unten II 2 b. 30 Vgl. z. B. BGE 95 I 330, 332 f.; 99 Ia 630, 636; 102 IV 153, 155. 31 Vgl. z. B. BVerfGE 2, 266, 282 f.; 32, 373, 383 f.; 54, 251, 274 f.; 59, 360, 386 f.; 64. 227, 241 f; 97, 169, 184 f. 32 Vgl. z. B. BVerfGE 33, 52, 69 f.; 35, 263, 278 ff.; 49, 148, 166; 54, 277, 297 f.; 83, 130, 144; BVerfG NJW 2004, 1305, 1311 f. 28 29
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Diese Beobachtung öffnet den Blick für den eigentlichen Kern der Problematik: Sollen die Gerichte das Verdikt der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes schon dann aussprechen dürfen, wenn eine blosse Abwägung der einschlägigen Auslegungskriterien zu einer verfassungswidrigen Lösung führt, oder erst dann, wenn die äussersten Grenzen von Auslegung und Rechtsfortbildung erreicht sind und sich trotzdem kein verfassungsgemässes Ergebnis erreichen lässt? Die Annahme einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der verfassungskonformen Auslegung bedeutet letztlich nicht mehr (aber auch nicht weniger) als dass die Frage im letzteren Sinne zu beantworten ist. Das hat den Vorzug, dass der Vorrang der Gesetzgebung gegenüber der Rechtsprechung, der in Art. 20 Abs. 3 GG ausdrücklich niedergelegt ist und der Sache nach auch für das schweizerische Recht gilt 33, optimal gewahrt und ein Übergriff der Rechtsprechung in die Kompetenzen der Gesetzgebung so weit wie irgend möglich [152] hintangehalten wird. Darin liegt die eigentliche Fundierung des Gebots verfassungskonformer Auslegung, verstanden als interpretatorische Vorrangregel. cc) Man kann diese Argumentation zusätzlich gewissermassen von der anderen Seite her durch den Gedanken absichern, dass ein Verstoss gegen die Verfassung nur insoweit angenommen werden darf, als es erforderlich ist, um ihren Vorrang gegenüber einem Gesetz durchzusetzen. In der Tat wäre es z. B. grob unverhältnismässig, wenn man § 14 VersammlG – um dieses Beispiel fortzuführen – nur deshalb zur Gänze für verfassungswidrig erklären oder gar als nichtig kassieren würde, weil die Vorschrift nach ihrem Wortlaut auch so genannte Eilversammlungen uneingeschränkt erfasst und dies mit Art. 8 GG unvereinbar ist. Insofern hat es einen gewissen Sinn, (auch) im vorliegenden Zusammenhang von einem „Übermassverbot“ zu sprechen34. Jedenfalls ist es eine vernünftige und bewährte Maxime, die Folgen eines Verstosses gegen höherrangiges Recht durch den Anlass zu begrenzen und also in den Rechtswirkungen nicht über das hinauszugehen, was dieser gebietet. Allerdings könnte man einwenden, dass der Autonomie des Gesetzgebers besser Rechnung getragen werde, wenn die Rechtsprechung eine partiell verfassungswidrige Norm zur Gänze für nichtig erklärt als wenn sie deren Rest aufrechterhält35. Für den deutschen Privatrechtler klingt diese Argumentation vertraut, beruht doch auf genau diesem Gedanken, bezogen auf die Privatautonomie, die Regelung des § 139 BGB, wonach die Nichtigkeit eines Teils eines Rechtsgeschäfts im Zweifel zu dessen Gesamtnichtigkeit führt. Diese Parallele gibt indessen zugleich Anlass zu Misstrauen gegenüber der Tauglichkeit einer Totalkassation als Mittel zur Respektierung der Autonomic, da § 139 BGB sich nicht bewährt Vgl. nur Giovanni Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991, S. 289 ff. mit Nachw. So Zippelius (Fn. 20) S. 111; ihm folgend Lüdemann (Fn. 3) S. 29. 35 In diese Richtung tendiert vor allem Bettermann (Fn. 19) S. 46 ff., 55; sehr zurückhaltend ferner Vosskuhle (Fn. 3) S. 183 f., jedoch ohne klare Alternative. 33 34
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hat36 und in der Praxis häufig mehr oder weniger gewaltsam in sein Gegenteil verkehrt werden muss, um zu einem angemessenen Ergebnis zu gelangen. So enthält ja denn auch Art. 20 Abs. 2 OR aus gutem Grund die entgegengesetzte Lösung. In der Tat stellt diese das überlegene Modell dar, und es war daher ein Fehler der Verfasser des BGB, dass sie sich in § 139 BGB von der gesunden gemeinrechtlichen Maxime ,,utile per inutile non viciatur“ abgekehrt haben. Es wäre daher erst recht ein schwerer Fehler, die geltungserhaltende Funktion der verfassungskonformen Auslegung zurückzudrängen oder gar aufzugeben und durch die Annahme von Totalnichtigkeit zu ersetzen. Dem Ziel, die Autonomie des Gesetzgebers nicht zu beeinträchti- [153] gen, indem man seine Lösung im Wege einer verfassungskonformen Auslegung geradezu deformiert, ist vielmehr durch eine entsprechende Bestimmung ihrer Grenzen Rechnung zu tragen37. dd) Ergänzend sei ein kurzes Wort zur schweizerischen Rechtslage erlaubt. Soweit die Gerichte auch nach dieser die Kompetenz zur Kontrolle und Verwerfung verfassungswidriger Normen haben, dürften sich keine Besonderheiten gegenüber der soeben entwickelten Begründung für eine Legitimation der verfassungskonformen Auslegung ergeben. Allerdings steht ihnen diese Kompetenz gegenüber Bundesgesetzen nicht zu, wie sich aus Art. 191 BV ergibt. Gleichwohl wird auch insoweit eine verfassungskonforme Auslegung als zulässig und geboten angesehen 38. Das überzeugt voll. Denn auch, ja sogar gerade wenn den Gerichten die Kompetenz zur Verwerfung einer Norm fehlt, besteht ein dringendes Bedürfnis für eine verfassungskonforme Auslegung, weil anderenfalls ja nur die Alternative bestünde, sie mit verfassungswidrigem Inhalt anzuwenden – und das sollte in der Tat vermieden werden, sofern es mit den der Rechtsprechung zur Verfügung stehenden Mitteln, also im Wege der Auslegung oder Rechtsfortbildung irgendwie möglich ist. Hier ist es also nicht nur der Respekt vor dem (einfachen) Gesetzgeber, sondern auch der vor der Verfassung, der die verfassungskonforme Auslegung legitimiert. Ob freilich auch eine verfassungskonforme teleologische Reduktion – im Unterschied zu einer blossen einschränkenden Auslegung – mit Art. 191 BV vereinbar ist39, kann hier nicht erörtert werden, weil es ausserhalb der auf Fragen der Methodenlehre konzentrierten Thematik dieses Beitrags liegt und dem Verfasser überdies die wissenschaftliche Kompetenz für diese Frage fehlt.
36 Vgl. nur Theo Mayer-Maly/Jan Busche, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl. 2001, § 139 Rn. 2. 37 Vgl. dazu unten 111. 38 Vgl. z. B. BGE 99 I a 630, 636; 102 IV 153, 155; Imboden (Fn. 20) S. 143; Walter Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, § 74 Rn. 28. 39 Vgl. dazu auch noch unten II 2 b a. E.
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3. Funktion, Begriff und methodologische Qualifikation der verfassungskonformen Auslegung Begriffe der juristischen Methodenlehre sollten tunlichst so gebildet werden, dass man ihnen eine bestimmte Funktion zuweist und sie von dieser her definiert. Als Funktion der verfassungskonformen Auslegung hat sich die Aufgabe herausgestellt, die Verfassungswidrigkeit einer Norm zu vermeiden, sofern das mit den der Rechtsprechung zur Verfügung stehenden Mitteln möglich ist. [154] Für den Begriff der verfassungskonformen Auslegung bedeutet das, dass mann von einer solchen nur dann und immer dann sprechen sollte, wenn es eine verfassungswidrige Auslegungsvariante gibt und es also um die Entscheidung zwischen dieser und einer verfassungsgemässen Auslegungsvariante geht 40. Dagegen gehört die geltungserhaltende Wirkung der verfassungskonformen Auslegung nicht zu deren Begriff, sondern ist ihr Ergebnis und stellt also kein Merkmal derselben, sondern eine Aussage über sie dar. Gleiches gilt für ihren Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien. Auf den Begriff der verfassungsorientierten Auslegung 41 sollte man verzichten. Für diesen blieben nur die Fälle übrig, in denen es um die Entscheidung zwischen Auslegungsvarianten geht, die alle mit der Verfassung vereinbar sind. Zwar kann man sich auch dabei an der Verfassung „orientieren“ und derjenigen Lösung den Vorzug geben, die näher bei deren Geboten liegt oder diese besser verwirklicht, doch handelt es sich dabei dann lediglich um ein Auslegungselement unter anderen, das keinerlei Vorzug geniesst, sondern allenfalls bei bestimmten Konstellationen, aber keineswegs immer mit besonderem Gewicht in den interpretatorischen Abwägungsprozess eingeht; denn natürlich darf der Gesetzgeber z. B. auch eine Lösung wählen, die „gerade noch“ den Anforderungen der Verfassung genügt. Da sich somit über diese Art der Auslegung keine einzige spezifische Aussage methodologischen oder verfassungsrechtlichen Inhalts machen lässt, verdient sie auch keinen eigenen Begriff; im Gegenteil stiftet ein solcher nur Verwirrung, weil er eine Sonderstellung insinuiert, wo es diese nicht gibt. Was die Stellung der verfassungskonformen Auslegung im System der juristischen Methodenlehre angeht, so steht sie nicht auf einer Stufe mit den „klassischen“ Kanones und tritt also nicht etwa als ein weiterer Kanon neben diese. Vielmehr handelt es sich, wie man seit jeher richtig gesehen hat, um eine besondere Erscheinungsform der systematischen und der objektiv-teleologischen Auslegung, deren Sonderstellung darin besteht, dass sie Vorrang vor den übrigen 40 Ausdrücklich a. A. Göldner (Fn. 19) S. 47: ,,Verfassungskonforme Auslegung ... ist jede auf judizielle Vermittlung von Verfassung und gesetzlicher Rechtsordnung gerichtete Interpretation, gleichviel (!), ob sie der Konservierung einer verfassungsrechtlich zweifelhaften Norm dient oder nicht.“ 41 Vgl. dazu oben 1 a.
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Auslegungskriterien geniesst und also nicht mit diesen abzuwägen ist. Deren Prüfung wird dadurch zwar nicht überflüssig, erhält aber insofern eine wesentlich schwächere Funktion , als sie nicht das Ergebnis der Auslegung bestimmen, sondern lediglich für die Ziehung ihrer Grenzen von Bedeutung sind42. [155] II. Die verfassungskonforme Rechtsfortbildung praeter legem 1. Die Zulässigkeit der verfassungskonformen Rechtsfortbildung praeter legem Auf die Auslegung folgt in der Methodenlehre mit Selbstverständlichkeit die Rechtsfortbildung praeter legem, wobei die Grenze nach herkömmlicher und immer noch vorherrschender Ansicht durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes gebildet wird43. Da das Ziel der verfassungskonformen Auslegung darin besteht, einen Verfassungsverstoss mit den Mitteln der Rechtsprechung zu vermeiden44, und dieser nicht nur die Auslegung, sondern grundsätzlich auch die Rechtsfortbildung praeter legem zu Gebote steht, erscheint es ebenfalls als Selbstverständlichkeit, dass auch Letztere zu dessen Erreichung eingesetzt werden darf. Es ist daher erstaunlich, dass die Zulässigkeit einer verfassungskonformen Rechtsfortbildung praeter legem nur selten ausdrücklich bejaht wird 45. An ihr ist jedoch nicht zu zweifeln, und ein solches Vorgehen wird von den Gerichten, wie sogleich zu belegen sein wird, auch praktiziert. Demgemäss trifft es entgegen einem verbreiteten Missverständnis nicht zu, dass die verfassungskonforme Rechtsfindung ihre Grenze stets am möglichen Wortsinn des Normtextes findet. 2. Die Mittel der verfassungskonformen Rechtsfortbildung a) Die verfassungskonforme Analogie Mit Hilfe einer Analogie kann die Verfassungskonformität einer Regelung dann erreicht werden, wenn das Gesetz zwar keine Norm enthält, die schon nach ihrem Wortlaut zur Vermeidung des Verfassungsverstosses geeignet ist, wohl aber eine solche, die immerhin nach ihrem Sinn und Zweck auch für den nicht verfassungskonform geregelten Fall passt. So hat das Bundesverfassungsgericht z. B. Vgl. schon oben l b bb a. E. und unten III. Vgl. z. B. Kramer (Fn. 2) S. 39 ff., 131 f.; Bydlinski (Fn. 8) S. 467 ff.; Larenz/Canaris (Fn. 8) S. 143 f. 44 Vgl. oben I 2 c, insbesondere unter bb. 45 Vgl. aber immerhin Zippelius (Fn. 20) S. 121 ff.; Göldner (Fn. 19) S. 73 ff; Larenz/Canaris (Fn. 8) S. 161; Jörg Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 130. 42 43
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schon früh entschieden, dass die im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit der Haftverschonung bei der Verhängung von Untersuchungshaft wegen des Verdachts eines Verbrechens wider das Leben „in entsprechender Anwendung“ der für die Haft wegen Flucht- oder Verdun- [156] kelungsgefahr geltenden Verschonungsregelung gemäss § 116 StPO anzuerkennen sei, um einen Verstoss gegen Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu vermeiden, und dabei ausdrücklich betont, dass „Bedenken aus dem Wortlaut des § 116 StPO zurücktreten können“46. Ähnlich hat es einen Verstoss gegen Art. 3 Abs. 1 GG verhindert, indem es „unter entsprechender Anwendung der §§ 114 ff. ZPO“ die Beiordnung eines Armenanwalts im strafrechtlichen Klageerzwingungsverfahren zugelassen hat 47. Hier tritt allerdings das bisher noch nicht befriedigend gelöste Zusatzproblem auf, ob bei einem solchen Argumentationsansatz nicht letztlich jede Analogie auf die Ebene der verfassungskonformen Rechtsfortbildung gehoben werden kann, weil es bei ihr stets um das Gebot der Gleichbehandlung von rechtsähnlichenTatbeständen geht48. Besonders spektakulär ist, dass das Bundesverfassungsgericht sogar eine Zuständigkeitsregelung analog angewandt hat, um eine Lücke zu schliessen, die sich daraus ergab, dass es die eigentlich vom Gesetz vorgesehene Zuständigkeitsregelung für verfassungswidrig hielt49. Methodologisch handelt es sich dabei um den interessanten Fall einer nur „möglichen“ – im Unterschied zu einer „notwendigen“ – Analogie50. Allerdings wird an diesem Beispiel besonders klar deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht nicht selten der Gefahr erliegt, sich in die Kompetenz der Fachgerichte einzumischen. Sofern nicht ausnahmsweise die Verfassung selbst eine ganz bestimmte Regelung fordert, dürfte das Bundesverfassungsgericht die von ihm ausersehene verfassungskonforme Lösung eigentlich nur als einen Vorschlag oder eine Anregung an die Fachgerichte verstehen 51 und müsste es diesen überlassen, ob sie den gewiesenen Weg gehen oder eine andere verfassungskonforme Lösung finden52, doch gehört diese Problematik nicht zur Thematik der vorliegenden Abhandlung. [157]
Vgl. BVerfGE 19, 342, 351 f. Vgl. BVerfGE 2, 336, 340 f. 48 Darauf weist Bydlinski (Fn. 8) S. 456 zutreffend hin. 49 Vgl. BVerfGE 86, 288, 320 f. 50 Vgl. zu diesen beiden Arten der Analogic näher Claus-Wilhelm Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl., 1983, S. 144 ff. 51 Vorbildlich BVerfGE 84, 197, 203, wo lediglich die Verfassungswidrigkeit des Fehlens einer bestimmten Regelung festgestellt und die Ausfüllung der darin liegenden Lücke dann ausdrücklich den Fachgerichten überantwortet wird. 52 Vgl. auch Vosskuhle (Fn. 3) S. 197 f., der dem Bundesverfassungsgericht jede Befugnis zu verfassungskonformer Rechtsfortbildung abspricht. 46 47
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b) Die verfassungskonforme teleologische Reduktion Ebenso wie die Analogie stellt auch die – nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz grundsätzlich anerkannte 53 – teleologische Reduktion ein zulässiges Mittel zur Erreichung einer verfassungskonformen Normanwendung dar. Gegenüber dem „klassischen“ Fall einer solchen ergibt sich hier allerdings eine gewisse Besonderheit insofern, als es nicht der Zweck der Norm selbst ist, der die Reduktion erforderlich macht, sondern ein ausserhalb ihrer – nämlich auf der Ebene der Verfassung liegender – Zweck. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Figur der teleologischen Reduktion methodologisch ein geeignetes Mittel zur Erreichung einer verfassungskonformen Lösung darstellt; denn es gibt auch sonst Fälle, in denen die Reduktion einer Norm nicht durch deren eigenen Zweck, sondern durch den einer anderen Norm veranlasst wird 54. Der Sache nach findet sich die verfassungskonforme teleologische Reduktion schon lange in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So handelt es sich um eine solche z. B. bei der oben55 erörterten Einschränkung von § 14 VersammlG in den Fällen der Eilversammlung, da diese sich nicht mehr innerhalb des möglichen Wortsinnes dieser Norm bewegt. Jüngst hat das Gericht sogar erstmals explizit den Terminus verfassungskonforme Reduktion verwendet – und zwar in einer Entscheidung, in der es die Strafbarkeit von Strafverteidigern wegen „Geldwäsche“ gemäss § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB bei Annahme ihres Honorars auf die Fälle beschränkt hat, in denen sie „sichere Kenntnis“ von dessen Herkunft hatten56; da das Gesetz nach seinem zweifelsfreien Wortlaut auch bedingten Vorsatz und Leichtfertigkeit genügen lässt – wobei es natürlich für andere Personen als Strafverteidiger bleibt –, handelt es sich hier in der Tat nicht mehr um eine blosse restriktive Auslegung, sondern um eine echte Reduktion. Unbefriedigend ist freilich, dass das Bundesverfassungsgericht ausserdem auch noch das Instrument der „Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung” kennt57. Methodologisch unterscheidet diese sich in nichts von einer teleologischen Reduktion58, und auch verfassungsrechtlich ist ein einleuch- [158] tender Unterschied nicht erkennbar, so dass sehr zweifelhaft ist, ob an dieser Figur überhaupt festgehalten werden kann. Indessen handelt es sich hier erneut um eine Problematik, die ausserhalb der Thematik dieser Abhandlung liegt und auf die Vgl. Kramer (Fn. 2) S. 164 f. Vgl. Larenz/Canaris (Fn. 8) S. 214 f. 55 Vgl. I 2 c bb bei Fn. 28. 56 Vgl. BVerfG NJW 2004, 1305, 1310 unter 3; vgl. auch schon BVerfGE 97, 186, 196 („teleologische Reduktion“). 57 Vgl. dazu nur Schlaich/Korioth (Fn. 3) Rn. 386 ff. mit Nachw. 58 Vgl. Larenz/Canaris (Fn. 8) S. 161. 53 54
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daher nur am Rande hingewiesen sei. Wenigstens einen solchen Hinweis zu geben, mag aber auch deshalb erlaubt sein, weil die funktionelle Äquivalenz von verfassungskonformer teleologischer Reduktion und Teilnichtigerklärung eine gewisse Rolle im Rahmen der Frage spielen könnte, ob eine echte Reduktion – im Unterschied zu einer blossen restriktiven Auslegung – mit Art. 191 BV vereinbar ist. III. Das Verbot des Contra-legem-Judizierens als Schranke der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung Nach herkömmlicher Ansicht ist dem Richter ein Contra-legem-Judizieren grundsätzlich verboten59. Das muss folgerichtig auch für die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung gelten; denn diese dienen der Aufrechterhaltung von Normen mit den Mitteln der Rechtsprechung und dürfen daher nur angewendet werden, soweit diese Mittel reichen. Die im Verbot des Contra-legem-Judizierens liegende Schranke richterlicher Rechtsfortbildung bestimmt daher zugleich die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung. Das Bundesgericht und das Bundesverfassungsgericht haben diese Grenzen freilich ohne ausdrücklichen Rückgriff auf das Verbot des Contra-legemJudizierens herausgearbeitet60. Im Mittelpunkt ihrer Judikatur steht dabei das Bestreben, eine Missachtung von Wortlaut und Zweck des Gesetzes zu verhindern61. Dieses Doppelkriterium markiert zugleich den Kernbereich des Verbots des Contra-legem-Judizierens62, wobei lediglich präzisierend hinzuzufügen ist, dass grundsätzlich auch die Missachtung der ratio legis allein unter [159] (scheinbarer) Respektierung des Wortlauts unzulässig ist63. Eine wesentliche Rolle spielt sodann, dass der betroffenen Norm trotz der verfassungskonformen Auslegung noch ein sinnvoller Anwendungsbereich verbleiben muss64. Zum selben Ergebnis kommt man auch mit Hilfe des Verbots des Contra-legem-Judizierens; denn dieses ist auch dann verletzt, wenn ein Gericht sich nicht darauf beschränkt, eine 59 Vgl. nur Kramer (Fn. 2) S. 169 ff.; Franz Bydlinski, Über die lex-lata-Grenze der Rechtsfindung, in Ingo Koller/Johannes Hager/Michael Junker/Reinhard Singer/Jörg Neuner (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken, 1998, S. 22, 27 ff.; Claus-Wilhelm Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, Festschrift für Franz Bydlinski, 2002, S. 47, 91 ff. 60 Beiläufig erwähnt wird dieses immerhin in BVerfGE 8, 210, 220; 35, 263, 280. 61 Vgl. z. B. BGE 99 I a 630, 636; 107 V 214, 216; 102 IV 153, 155; BVerfGE 54, 277, 299 f.; 63, 131, 147 f.; 64, 229, 241; 71, 81, 105; 90, 263, 275; 99, 341, 358. 62 Überzeugend Bydlinski (Fn. 59) S. 47. 63 So mit Recht ausdrücklich Kramer (Fn. 2) S. 170; ebenso Canaris (Fn. 59) S. 93. 64 Vgl. z. B. BVerfGE 9, 194, 200; 33, 52, 69; 59, 360, 387; 101, 312, 329.
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bestimmte Teilmenge von Fällen bzw. ein abgrenzbares Sonder- oder Teilproblem aus dem Anwendungsbereich einer Norm herauszunehmen, wie es bei einer korrekten teleologischen Reduktion geschieht, sondern die Norm praktisch ihres wesentlichen oder gar nahezu ihres gesamten Anwendungsbereichs beraubt und so von der Reduktion zur faktischen Derogation übergeht65. Unzulässig ist eine verfassungskonforme Auslegung schliesslich, wenn sie eine tiefgreifende Veränderung des Sinnes der betreffenden Norm zur Folge hätte 66 und damit zu deren Deformierung führen würde; das Ergebnis der geltungserhaltenden Reduktion darf grundsätzlich nicht ein aliud, sondern nur ein minus gegenüber dem ursprünglichen Gesetzesinhalt darstellen67. Auch diese Maxime wird vom Verbot des Contra-legem-Judizierens umfasst68. Insgesamt bestehen somit zwischen diesem und den anerkannten Grenzen der verfassungskonformen Auslegung in den wesentlichen Punkten exakte Parallelen, so dass es sich wohl in der Tat um dieselbe Problematik handelt, die lediglich von unterschiedlichen Blickpunkten aus betrachtet wird. Unberührt vom Verbot des Contra-legem-Judizierens bleibt selbstverständlich die derogierende Kraft der Verfassung bzw. ihre Wirkung als lex superior (soweit ihre Berücksichtigung nicht mit Art. 191 BV unvereinbar ist, was hier nicht erörtert werden kann). Einer verfassungskonformen teleologischen Reduktion steht daher das Verbot des Contra-legem-Judizierens ebenso wenig entgegen wie der Möglichkeit, dass durch die Kassation einer Einzelnorm – etwa einer Zuständigkeitsvorschrift – innerhalb eines grösseren Regelungskomplexes eine Lücke entsteht, die u. U. durch eine Analogie zu einer anderen Norm in verfassungskonformer Weise ausgefüllt werden kann.
Vgl. näher Canaris (Fn. 59) S. 94. Vgl. z. B. BVerfGE 8, 28, 34; 54, 277, 299 f.; 71, 81, 105; 90, 263, 275. 67 So treffend Hesse (Fn. 20) Rn. 83. 68 Vgl. näher Canaris (Fn. 59) S. 97. 65 66
Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung IN: BAUER/CZYBULKA/KAHL/VOßKUHLE (HRSG.), FESTSCHRIFT FÜR REINER SCHMIDT, 2006, S. 41–60
Vergleiche zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Auslegung finden sich im Schrifttum häufig. Mal werden dabei eher die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund gerückt,1 mal vor allem die Unterschiede betont.2 Solche Hinweise bleiben jedoch, soweit ersichtlich, durchweg ziemlich beiläufig und kursorisch. Inzwischen sind indessen beide Formen der Rechtsfindung sowohl theoretisch so gut durchdrungen als auch praktisch durch eine solche Fülle von Anschauungsmaterial verdeutlicht, dass eine eingehendere Analyse möglich und lohnend erscheint. Dabei soll im Folgenden das Augenmerk weniger auf die Unterschiede als vielmehr auf die Gemeinsamkeiten gerichtet werden, weil diese Perspektive, wie sich zeigen wird, eine Reihe methodologischer und rechtstheoretischer Probleme in den Blick rückt, deren Dimension über den unmittelbaren Untersuchungsgegenstand hinausreicht und daher von allgemeinerem Interesse ist. A. Die teleologische Legitimationsgrundlage Schon auf den ersten Blick drängt sich die Annahme auf, dass sowohl die verfassungs- als auch die richtlinienkonforme Auslegung mit dem Rangverhältnis zwischen der Verfassung bzw. der Richtlinie und dem darunter stehenden Recht zusammenhängen und also auf den Vorrang der lex superior zurückgehen. Bei genauerer Analyse zeigt sich indessen, dass mit diesem Aspekt allein nicht auszukommen ist, sondern gewichtige Zusatzüberlegungen erforderlich sind, um die teleologische Grundlage der verfassungs- und der richtlinienkonformen Auslegung herauszuarbeiten.
1 Vgl. aus jüngerer Zeit z. B. Schnorbus, Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im nationalen Privatrecht, AcP 201 (2001) S. 885. 2 So z. B. von Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 283; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 329; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 96 f.
600 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung I. Die verfassungskonforme Auslegung als Mittel zur Normerhaltung In der Tat gibt es im Schrifttum eine verbreitete Ansicht, welche die verfassungskonforme Auslegung in erster Linie auf die Höherrangigkeit der Verfas[42] sung in Verbindung mit dem Gedanken der Einheit der Rechtsordnung zurückführt.3 Darin steckt gewiss ein richtiger Ansatz. Denn schon hermeneutisch gesehen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Verfassung die Auslegung des einfachen Rechts beeinflusst, weil sie zu dessen rechtlichem Kontext gehört, und dass ihr dabei besonderes Gewicht zukommt, weil sie innerhalb der Hierarchie der Normen den höchsten Platz einnimmt. Gleiches gilt aus verfassungsrechtlichen Gründen, weil die Verfassung wegen ihrer Höherrangigkeit eine „Ausstrahlungswirkung“ auf das einfache Recht hat, wie die berühmte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts im Lüth-Urteil lautet.4 Damit ist der Kern der Problematik indessen noch nicht sichtbar geworden. Das wird schon daraus deutlich, dass sich die verfassungskonforme Auslegung nicht in einer bloßen „Ausstrahlungswirkung“ erschöpft. Sie ist nämlich dadurch gekennzeichnet, dass dann, wenn das einfache Recht mehrere Möglichkeiten der Auslegung zulässt, von denen eine verfassungswidrig, (mindestens) eine andere dagegen verfassungsgemäß ist, jene zu verwerfen und dieser der Vorzug zu geben ist.5 Die verfassungskonforme Auslegung genießt also ersichtlich einen gewissen – noch zu präzisierenden – Vorrang vor den sonstigen Mitteln der Auslegung, so dass sie über eine bloße „Ausstrahlungswirkung“ hinausgeht. Vor allem aber lässt sich aus der Höherrangigkeit der Verfassung nicht herleiten, dass nicht die verfassungswidrige Auslegungsmöglichkeit zugrunde gelegt werden darf, selbst wenn für diese auf der Ebene des einfachen Rechts die wesentlich stärkeren Gründe sprechen. Denn der Höherrangigkeit der Verfassung wäre ja auch dann uneingeschränkt Rechnung getragen, wenn man diesen Weg ginge mit der Konsequenz, dass die betreffende Norm als verfassungswidrig zu kassieren wäre.6
3 Vgl. z. B. Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, 1966, S. 22 f., 25 f.; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, S. 108 (109); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, § 90 II 3 a; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 81. 4 BVerfGE 7, 198 (207). 5 Vgl. z. B. BVerfGE 19, 1 (5); 30, 129 (148); 32, 373 (383 f.); 49, 148 (157); 69, 1 (55). 6 Vgl. Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, 1973, S. 101; Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, 1986, S. 25 f.; Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, AöR 125 (2000) 177 (183).
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Die verfassungskonforme Auslegung wird daher nur verständlich, wenn man in ihr ein Mittel zur Normerhaltung sieht.7 Daher bedarf es zu ihrer teleologischen Legitimierung einer zusätzlichen Begründung dafür, dass die Höherrangigkeit der Verfassung nicht durch Kassation der Norm, sondern durch deren verfassungskonforme Aufrechterhaltung gewahrt wird. Diese liegt nach der zutreffenden Ansicht des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie darin, dass es der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt gebietet, dem Willen des (einfachen) Gesetzgebers im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen so weit wie [43] möglich Rechnung zu tragen.8 Es geht also letztlich um eine funktionsgerechte Abgrenzung der Kompetenzen von Legislative und Judikative: Das Gebot der verfassungskonformen Auslegung mit dem Ziel der Normerhaltung soll den Gesetzgeber davor bewahren, dass seine Autorität durch den Vorwurf eines Verfassungsverstoßes durch die Rechtsprechung beschädigt und überdies sein Entscheidungsspielraum eingeschränkt wird, obwohl sich dies durch eine andere Auslegung der betreffenden Norm vermeiden ließe. Praktikabilitätserwägungen kommen ergänzend und unterstützend hinzu; denn es wäre höchst unzweckmäßig, wenn der Gesetzgeber zum Neuerlass oder zur Nachbesserung von Normen gezwungen würde, obgleich der drohende Verfassungsverstoß mit den wesentlich weniger aufwändigen Mitteln der Rechtsprechung zu verhindern ist.9 II. Die richtlinienkonforme Auslegung als Mittel zur Normdurchsetzung Die Grundlage des Gebots der richtlinienkonformen Auslegung sieht der EuGH seit den Entscheidungen „von Colson und Kamann“ sowie „Harz“ darin, dass die Erfüllung der Verpflichtung zur Umsetzung des Normsetzungsbefehls, den eine Richtlinie gemäß Art. 249 Abs. 3 EG darstellt, „allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedsstaaten obliegt, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten“.10 Dieser Ansatz ist grundsätzlich überzeugend. Demgemäß ist der Ansicht, das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung finde seine Legitimation in dem jeweiligen Umsetzungsgesetz und damit im Willen des
7 So ausdrücklich z. B. BVerfGE 69, 1 (55); vgl. ferner z. B. Voßkuhle (Fn. 6), S. 183; Lüdemann, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, JuS 2004, 27 (29); Canaris, Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, Festschrift für Kramer, 2004, S. 141 (148 ff.). 8 Vgl. BVerfGE 86, 288 (320); 90, 263 (275); 110, 226 (267). 9 Ähnlich Voßkuhle (Fn. 6), S. 183; Lüdemann (Fn. 7), S. 29. 10 EuGH vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Slg. 1984, I-1891 (1909); vom 10.4.1984, Rs. 79/83, Slg. 1984, I-1921 (1942).
602 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung nationalen Gesetzgebers,11 grundsätzlich nicht zu folgen.12 Zum einen nimmt sie nämlich zu Unrecht die gemeinschaftsrechtliche Dimension der Problematik nicht hinreichend in den Blick, und zum anderen kann sie auch die praktische Reichweite dieses Gebots nicht voll erklären; vor allem versagt sie, wenn es an einem Umsetzungsgesetz fehlt – so z. B., wenn der nationale Gesetzgeber den bisherigen Rechtszustand auch ohne ein solches als richtlinienkonform angesehen oder wenn er die Umsetzungsfrist versäumt hat –, obwohl auch in solchen Fällen anerkanntermaßen das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung gilt.13 Eines Rückgriffs auf den Willen des nationalen [44] Gesetzgebers bedarf es daher nur in Sonderfällen wie vor allem dann, wenn dieser eine Richtlinie vor Ablauf der dafür gesetzten Frist umgesetzt hat, doch handelt es sich dabei um eine Ausnahmeerscheinung und ein Randproblem, die als solche für die vorliegende Thematik peripher sind und daher hier außer Betracht gelassen werden sollen. Stützt sich somit das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung auf die Richtlinie selbst bzw. auf den Umsetzungsbefehl gemäß Art. 249 Abs. 3 EG, so legitimiert sich dieses im Ansatz aus dem Gesichtspunkt der Höherrangigkeit der Richtlinie gegenüber dem nationalen Recht, so dass insoweit in der Tat eine Gemeinsamkeit mit der verfassungskonformen Auslegung besteht. Dass es sich hier anders als im Verhältnis von Verfassung und einfachem Recht nicht um einen Geltungs-, sondern nur um einen Anwendungsvorrang handelt,14 bildet im vorliegenden Zusammenhang nur einen marginalen Unterschied. Ein wesentlicher Unterschied gegenüber der verfassungskonformen Auslegung liegt indessen darin, dass es bei der richtlinienkonformen Auslegung nicht um Normerhaltung, sondern um Normdurchsetzung geht. Denn richtlinienwidriges nationales Recht unterliegt nicht der Kassation oder der Suspendierung, da eine Richtlinie im Gegensatz zu einer Verordnung nach Art. 249 Abs. 3 EG lediglich an die Mitgliedstaaten als solche adressiert ist und daher grundsätzlich, d. h. abgesehen von dem hier nicht zur Diskussion stehenden Sonderfall ihrer „unmittelbaren“ Anwendbarkeit, nicht für und gegen die Bürger und Unternehmen wirkt. Als Sanktionsmöglichkeiten gegenüber einem richtlinienwidrigen Rechtszustand kommen daher insoweit nur eine Klage der Kommission gegen 11 Vgl. z. B. Everling, Rechtsvereinheitlichung durch Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, RabelsZ 50 (1986) 193 (224); Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftskonforme Auslegung nationalen Rechts, RabelsZ 59 (1995) 553 (613 f., 643); Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: Canaris/ Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. II S. 889 (892). 12 Vgl. näher Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, Festschrift für Bydlinski, 2002, S. 47 (55 ff.). 13 Vgl. nur EuGH vom 13.11.1990, Rs. 106/89, Slg. 1990, I-4135 (4159), Marleasing; BGHZ 138, 55 (61). 14 Vgl. BVerfGE 73, 339 (357); 75, 223 (244).
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den betreffenden Mitgliedstaat nach Art. 226 EG und der vom EuGH in der Entscheidung „Faccini Dori“15 entwickelte Schadensersatzanspruch des benachteiligten Rechtsubjekts gegen den Mitgliedstaat in Betracht. Da richtlinienwidriges Recht somit in seiner Anwendbarkeit oder gar in seiner Geltung nicht bedroht ist, besteht für seine Erhaltung weder Bedürfnis noch Raum, so dass die richtlinienkonforme Auslegung anders als die verfassungskonforme Auslegung dieser Funktion nicht dienen kann. Anders wäre dies freilich zu sehen, wenn man mit der Lehre von der „negativen unmittelbaren Wirkung“ annähme, dass das nationale Recht umfassend suspendiert wird, soweit es einer nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie widerspricht.16 Indessen ist dieser Ansicht nicht zu folgen;17 denn sie findet in Art. 249 Abs. 3 EG keine Grundlage, würde den Weg eines Verfahrens nach Art. 226 EG weitgehend obsolet machen und ist überdies höchst unpraktikabel, weil sie das Entstehen großflächiger Regelungslücken und entsprechend komplexer Erfordernisse der Rechtsfortbildung zur Folge haben kann. [45] B. Die interpretatorische Vorrangregel Sowohl hinsichtlich der verfassungs- als auch hinsichtlich der richtlinienkonformen Auslegung besteht das methodologisch und praktisch wichtigste Sachproblem darin, wie diese sich zu den herkömmlichen Mitteln der Auslegung, also der grammatischen, der historischen, der systematischen und der teleologischen Auslegung verhalten, oder genauer gesagt, ob sie gegenüber diesen in irgendeiner Weise einen Vorrang genießen. Bei der Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, zwischen mehreren Arten von Vorrangregeln zu unterscheiden. I. Die verschiedenen Arten der Vorrangregeln 1. Die Unterscheidung zwischen Gewichtungsvorrang und striktem Interpretationsvorrang a) Bekanntlich gibt es zwischen den herkömmlichen Auslegungsmitteln kein striktes Rangverhältnis in dem Sinne, dass einem von ihnen grundsätzlich der
Vgl. EuGH vom 14.7.1994, Rs. C 91/92, Slg. 1994, I-3325. In diesem Sinne z. B. Herrmann (Fn. 2), S. 78 ff. 17 Überzeugend Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 78 ff. 15 16
604 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung Vorrang zukommt.18 Sie stellen nämlich lediglich zusammenfassende Kurzbezeichnungen für bestimmte Arten von Argumenten dar, deren grundsätzliche Legitimität zwar anerkannt und daher nicht jeweils erneut zu begründen ist – was immerhin einen großen Vorteil darstellt, der viel zu selten betont wird –, bedürfen aber wie alle Argumente grundsätzlich der Gewichtung und Abwägung, wenn sie bei einer bestimmten Problematik zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dabei gibt es zwei Stufen18. Auf der ersten kann man einem Auslegungsmittel abstrakt ein prinzipiell höheres oder niedrigeres Gewicht als einem anderen zuerkennen, auf der zweiten ist dann das konkrete Gewicht zu bestimmen, das dem betreffenden Kriterium nach dem Grad seiner jeweiligen Überzeugungskraft im Rahmen der fraglichen Problemlösung zukommt, wobei in die abschließende Abwägung sowohl das abstrakte als auch das konkrete Gewicht eingeht. So hat z. B. ein Argument aus dem „äußeren“ System des Gesetzes als solches anerkanntermaßen nur ein sehr geringes Gewicht, und doch ist vorstellbar, dass es in einer bestimmten Konstellation besondere Überzeugungskraft besitzt und als Zünglein an der Waage den Ausschlag gibt. Umgekehrt kommt dem Wortlaut des Gesetzes grundsätzlich ein besonders hohes Gewicht zu, doch tritt dieser meist zurück, wenn dessen Sinn und Zweck klar in die entgegengesetzte Richtung weisen. Man kann in derartigen Fällen von einem Gewichtungsvorrang bzw. -nachrang eines Kriteriums gegenüber einem anderen sprechen. Für diesen ist essen[46] tiell, dass er bei der Gesamtabwägung durch gegenläufige Kriterien überwogen werden kann. Wenn im vorliegenden Zusammenhang im Schrifttum – freilich wenig plastisch – von einem „prima-facie-Vorrang“ gesprochen wird,19 so ist diese Art von Vorrang gemeint.20 b) Davon zu unterscheiden ist ein strikter interpretatorischer Vorrang. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Auslegungskriterium den übrigen unter bestimmten Voraussetzungen allein aufgrund einer entsprechenden Interpretationsregel vorgeht und eine Gesamtabwägung somit gar nicht mehr stattfindet.21 Allerdings muss das Ergebnis im Rahmen dessen liegen, was interpretatorisch überhaupt möglich ist; denn eine Interpretationsregel, die etwas interpretatorisch Unsinniges oder Unzulässiges vorschreiben würde, stellt in Wahrheit keine solche dar, sondern wäre eine Falschbezeichnung für eine Regel anderer Art, die zwar 18 Vgl. dazu und zum Folgenden eingehend Canaris, Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht, Festschrift für Medicus, 1999, S. 25 (58 ff.). 19 So Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 89 f.; ihm folgend Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S.50 f. 20 Zutreffend Langenbucher in: dieselbe (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2005, § 1 Rn. 83. 21 Vgl. dazu näher Canaris (Fn. 18), S. 59 f.; übereinstimmend Kuhlmann, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 2 Domröse in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 144.
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(im günstigen Falle) ebenfalls Geltung haben kann, aber den Bereich der Interpretation überschreitet und also anders zu benennen ist. Demgemäß verlieren die übrigen Auslegungsmittel hier nicht etwa jede Bedeutung, sondern wechseln lediglich ihre Funktion: Sie wirken zwar nicht mehr auf die Gewinnung des Ergebnisses der Interpretation als solches ein, sind aber unerlässlich für die Beantwortung der Frage, ob dieses noch im Rahmen des interpretatorisch Möglichen und Zulässigen liegt, und haben daher maßgeblichen Einfluss auf die Bestimmung der Grenzen einer derartigen Interpretation. Bezeichnet man deren Überschreitung mit der herkömmlichen Terminologie als unzulässiges Contra-legem-Judizieren22 (und bezieht man dabei die unter C. näher zu erörternde Rechtsfortbildung praeter legem ein), so lässt sich als weiteres Charakteristikum einer strikten interpretatorischen Vorrangregel formulieren, dass diese ihre Grenze grundsätzlich am Verbot des Contra-legem-Judizierens findet. 2. Die Unterscheidung zwischen interpretatorischem und derogatorischem Vorrang a) Daraus wird zugleich deutlich, dass es noch einer zweiten Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Arten von Vorrangregeln bedarf. Eine interpretatorische Vorrangregel betrifft nämlich ihrem Begriff entsprechend lediglich eine [47] Kollision auf der Ebene der Interpretation (im weiteren Sinne, d. h. einschließlich der Rechtsfortbildung praeter legem) und bezieht sich somit auf das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Mitteln der Auslegung (und der Rechtsfortbildung praeter legem). Zusätzlich gibt es aber auch Kollisionen auf der Ebene der Normen selbst. Diese sind grundsätzlich nach anderen Regeln aufzulösen wie z. B. mit Hilfe des Satzes „lex specialis derogat legi generali“ oder des Satzes „lex superior derogat legi inferiori“. Dieser althergebrachten Terminologie entsprechend kann man hier von derogatorischem Vorrang sprechen. Letzterer unterscheidet sich von einem bloßen interpretatorischen Vorrang außer durch die Unterschiedlichkeit der kollidierenden Elemente dadurch, dass er seine Grenze im Gegensatz zu diesem nicht am Verbot des Contra-legemJudizierens findet. Denn wenn eine Norm einer anderen im Wege der Derogation vorgeht, verdrängt sie diese eben, so dass sich die Frage, ob darin eine unzulässige Rechtsfortbildung contra legem liegen könne, nicht mehr stellt.
22 Vgl. eingehend F. Bydlinski, Über die lex-lata-Grenze der Rechtsfindung, in: Koller/ Hager/Junker/Singer/Neuner (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken, 1998, S. 22 (27 ff.); ihm folgend Canaris (Fn. 12), S. 91 ff.; vgl. ferner z. B. Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 203 f.; auf die zum Teil abweichende Position von Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005, S. 132, 148 ff. kann hier nicht eingegangen werden.
606 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung b) Was die Wirkung der Derogation angeht, so kann diese entweder ersetzend oder kassierend bzw. suspendierend sein. Ersteres trifft im Falle der lex specialis zu, da diese ihrerseits eine Regelung des betreffenden Problems enthält und also diejenige der lex generalis ersetzt. Letzteres ist typisch für die Fälle der lex superior, weil und sofern dem (einfachen) Gesetzgeber mehrere unterschiedliche Möglichkeiten zur Behebung des Verstoßes gegen die höherrangige Norm – wie z. B. gegen Art. 3 Abs. 1 GG – zu Gebote stehen. Kommt dagegen nur eine einzige Lösung in Betracht, die mit der lex superior vereinbar ist, so hat die Derogation auch hier ersetzende Wirkung. Die Rechtsprechung hat dann grundsätzlich diesen Weg zu gehen, ohne daran durch das Verbot des Contralegem-Judizierens gehindert zu sein, worauf unter D. III. noch einmal zurückzukommen sein wird. II. Folgerungen für die vorliegende Problematik 1. Das Bestehen einer interpretatorischen Vorrangregel bei der verfassungskonformen Auslegung a) Dass die Wertungen der Verfassung bei der verfassungskonformen Auslegung in irgendeiner Weise Vorrang vor den auf der Ebene des einfachen Rechts angesiedelten Auslegungsgesichtspunkten haben, wird selbstverständlich allgemein gesehen. Ob dies indessen ein bloßer Gewichtungsvorrang oder ein strikter Interpretationsvorrang im Sinne der oben herausgearbeiteten Unterscheidung ist, wird nicht mit hinreichender Klarheit diskutiert. Ersichtlich wird nicht selten von einem bloßen Gewichtungsvorrang ausgegangen. Das gilt etwa für die Formulierung, dass „der Gesichtspunkt verfassungskonformer Auslegung methodisch nur eines unter mehreren Konkretisierungskriterien bleibt, das die herkömmlichen nicht im Sinne einer Rangabstufung vergewaltigt,“ und dass „der Aspekt verfassungskonformer Gesetzesauslegung nicht ein eigentliches Konkretisierungskriterium darstellt, sondern eine Vorzugsregel für die Entscheidung zwischen verschiedenen, mit den üblichen Konkretisierungshilfen [48] erarbeiteten alternativen Ergebnissen“.23 Auch wenn man die verfassungskonforme Auslegung als Unterfall der verfassungsorientierten Auslegung qualifiziert,24 kann man ihr schwerlich mehr als einen bloßen Gewichtungsvorrang zugestehen; denn über einen solchen kann man bei den übrigen Fällen der verfassungsorientierten Auslegung keinesfalls hinausgehen, und daher kann man der verfassungskonformen
23 24
So Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 9. Aufl. 2004, Rn. 100. So z. B. Voßkuhle (Fn. 6), S. 180 f.
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Auslegung bei dieser Sichtweise folgerichtig wohl auch keine striktere Wirkung zumessen. Richtig erscheint demgegenüber, den verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht lediglich ein höheres Gewicht im Rahmen einer Gesamtabwägung mit den übrigen – auf der Ebene des einfachen Rechts liegenden – Argumenten zuzubilligen, sondern von einer strikten interpretatorischen Vorrangregel auszugehen, bei der eine solche Abwägung unterbleibt und lediglich zu prüfen ist, ob die verfassungskonforme Lösung mit dem einfachen Recht interpretatorisch überhaupt vereinbar ist oder ob insoweit die – noch zu präzisierenden – Grenzen einer möglichen Auslegung und Rechtsfortbildung überschritten sind. Denn zum einen sind die verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte in der Normenhierarchie auf einer höheren Ebene angesiedelt, so dass ihnen nicht lediglich ein größeres Gewicht, sondern auch ein qualitativ anderer Rang zukommt, wie es in dem Satz von der lex superior zum Ausdruck kommt; und zum anderen werden durch die hier vertretene Konzeption die mit der verfassungskonformen Auslegung verfolgten Ziele, die Respektierung der Legislative durch die Judikative zu wahren und jener überdies vermeidbare Nachbesserungsarbeiten zu ersparen,25 weitaus effizienter verwirklicht als durch die Annahme eines bloßen Gewichtungsvorrangs, der lediglich zu einer argumentativen Abwägungslösung mit allen ihren Unsicherheitsfaktoren führt. b) Die hier vertretene Konzeption entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zwar diskutiert dieses nicht selten die herkömmlichen, auf der Ebene des einfachen Rechts liegenden Auslegungsmittel mit einer Sorgfalt und Überzeugungskraft, dass man meinen könnte, es komme auf eine echte Vorrangregel zugunsten der verfassungskonformen Auslegung eigentlich gar nicht mehr an,26 doch belegen andere Entscheidungen, dass sehr wohl eine solche gemeint ist, weil in ihnen eine verfassungskonforme Auslegung unter äußerster Anspannung der Interpretation- und Rechtsfortbildungsmöglichkeiten auch dort noch bejaht wird, wo man sie verneinen müsste, wenn man lediglich die Argumente abwöge und dabei den verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ein erhöhtes Gewicht zumäße.27 Geradezu exemplarisch hierfür ist die Entscheidung, wonach die Vorschrift des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB über die Strafbarkeit der Geldwäsche auf einen Strafverteidiger nur anwendbar ist, wenn dieser im Zeitpunkt der Annahme sei[49] nes Honorars sichere Kenntnis davon hatte, dass dieses aus einer der in § 261 Abs. 1 S. 2 StGB aufgeführten Vortaten stammt.28 Das BundesverfassungsVgl. oben bei und nach Fn. 8. Vgl. z. B. BVerfGE 2, 266 (282 f.); 32, 373 (383 f.); 35, 263 (279 f.); 54, 251 (274 f.); 59, 360 (386 f.); 64, 227 (241 f.); 97, 169 (184 f.). 27 Vgl. z. B. BVerfGE 33, 52 (69 f.); 49, 148 (166); 54, 277 (297 f.); 83, 130 (144). 28 Vgl. BVerfGE 110, 226 (262 ff.). 25 26
608 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung gericht prüft zunächst eingehend die „Anwendung der herkömmlichen Auslegungsmethoden“ und kommt zu dem Ergebnis, dass danach auch Strafverteidiger von der Regelung des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB – die das Merkmal der sicheren Kenntnis nicht enthält, sondern nach Abs. 5 auch leichtfertige Unkenntnis genügen lässt – erfasst werden. Sodann stellt es in einem zweiten Gedankengang fest, dass dieses Ergebnis zu einem Eingriff in die Berufsfreiheit der Strafverteidiger führen würde, der „ohne verfassungskonforme Reduktion gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieße“, und tritt nun nicht etwa in eine Abwägung zwischen diesem Gesichtspunkt und den zuvor herausgearbeiteten – sehr gewichtigen – gegenläufigen Argumenten auf der Ebene des einfachen Rechts ein, sondern geht sofort zur Prüfung der Frage über, ob eine „verfassungskonform einengende Auslegung des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB ... zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde“ und also die „Grenzen der verfassungskonformen Auslegung“ überschritte, was es in einer erneuten, anders angelegten Interpretation von § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB verneint. Das ist genau die Vorgehensweise, bei der hier von einem strikten Interpretationsvorrang im Gegensatz zu einem bloßen Gewichtungsvorrang (oder prima-facie-Vorrang) und von einer interpretatorischen Vorrangregel im Gegensatz zu einer interpretatorischen Abwägungslösung gesprochen wird. 2. Das Bestehen einer interpretatorischen Vorrangregel bei der richtlinienkonformen Auslegung a) Auch hinsichtlich der richtlinienkonformen Auslegung ist anerkannt, dass diese den herkömmlichen Auslegungsmitteln grundsätzlich vorgeht, doch bedarf es hier ebenfalls der Präzisierung, in welcher Weise das geschieht. Wiederum findet sich dabei die Ansicht, dass lediglich eine Vorzugs- und nicht eine Vorrangregel anzunehmen sei.29 Dahinter steht indessen ersichtlich das Missverständnis, dass ein Vorrang stets derogatorisch wirke und daher auf der Ebene der Interpretation nicht in Betracht komme.30 Richtig ist demgegenüber, dass es ebenso wie bei der verfassungskonformen Auslegung um die – anders geartete und soeben noch einmal verdeutlichte – Alternative zwischen einem bloßen Gewichtungsvorrang und einer strikten Vorrangregel geht. Dabei kann heute kaum noch zweifelhaft sein, dass die letztere Alternative jedenfalls für diejenigen – im Mittelpunkt des Interesses stehenden – Fälle zu-
29 So vor allem Ehricke (Fn. 11), S. 612 ff.; ihm folgend W. H. Roth, Die richtlinienkonforme Auslegung, EWS 2005, 385 (389). 30 Vgl. dazu und zum Folgenden eingehend Canaris (Fn. 12), S. 68 ff. mit Fn. 90.
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trifft, in denen die Frist für die Umsetzung einer Richtlinie abgelaufen ist.31 [50] Das folgt wohl schon daraus, dass nur so der Forderung des EuGH Rechnung getragen wird, dass die nationalen Gerichte ihren ,,Beurteilungsspielraum voll auszuschöpfen“ und die Richtlinienkonformität „soweit wie mögliche zu verwirklichen haben.32 Denn wie das Beispiel der verfassungskonformen Auslegung zeigt, kennt die deutsche Rechtsordnung das methodologische Mittel der interpretatorischen Vorrangregel, und daher ist nicht einzusehen, warum es hier nicht zum Einsatz kommen soll. Das gilt umso mehr, als die Richtlinie gegenüber dem nationalen Recht höherrangig ist und es also auch insoweit um eine ähnliche Konstellation wie bei der verfassungskonformen Auslegung geht; dass die Richtlinie nur an die Mitgliedstaaten gerichtet ist und also grundsätzlich der Umsetzung bedarf, bildet im vorliegenden Zusammenhang keinen ausschlaggebenden Unterschied. Außerdem würde die richtlinienkonforme Auslegung bei Annahme eines bloßen Gewichtungsvorrangs nur ein höchst unsicheres Mittel zur Durchsetzung der Richtlinie darstellen, weil für den Bürger nicht vorhersehbar ist, ob die Gerichte bei einer bloßen Abwägungslösung nun der richtlinienkonformen Auslegung oder den anderen Auslegungselementen den Vorzug geben werden. Da ein solches Maß an Rechtsunklarheit mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar wäre, müsste der Gesetzgeber die Umsetzung letztlich doch selbst in die Hand nehmen, worauf die Kommission den betreffenden Mitgliedstaat erforderlichenfalls nach Art. 226 EG zu verklagen hätte. Das aber bedeutet, dass die richtlinienkonforme Auslegung ihre Funktion praktisch nicht hinreichend erfüllen könnte, und daher umfasst ihre Fundierung in Art. 249 Abs. 3 EG folgerichtig auch die Anerkennung einer interpretatorischen Vorrangregel, zumal im Hinblick auf die vom EuGH praktizierte Auslegungsmaxime des effet utile. b) Die Wirkungsweise der Vorrangregel ist dieselbe wie im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung. Das sei an einem Beispiel aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts veranschaulicht. In dem zugrunde liegenden Fall hatte die Klägerin als Putzfrau bei einem Unternehmen gearbeitet, dem die Reinigung eines Universitätsgebäudes übertragen worden war. Dessen Verwaltung kündigte den Reinigungsauftrag und vergab ihn an ein anderes Unternehmen, die Beklagte. Diese stellte 60 Reinigungskräfte einschließlich der Vorarbeiterin ein, die bisher für das erste Unternehmen bei der Reinigung des Universitätsgebäudes beschäftigt waren, nicht jedoch die Klägerin. Diese klagte daraufhin auf Feststellung, dass 31 Übereinstimmend Langenbucher (Fn. 20) § 1 Rn. 85; Doehner, Die Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie, 2004, S. 101; Unberath, Die richtlinienkonforme Auslegung am Beispiel der Kaufrechts-Richtlinie, ZEuP 2005, 5 (7); Habersack/Mayer in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 296. 32 Grundlegend sind auch insoweit die Entscheidungen von Colson und Kamann (Fn. 10) sowie Marleasing (Fn. 13).
610 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung auch ihr Arbeitsverhältnis übergegangen sei, und berief sich dabei auf § 613 a Abs. 1 BGB. Das BAG sah in der Putzkolonne einen Betriebsteil im Sinne von § 613 a BGB und stand nun vor der Frage, ob dieser „durch Rechtsgeschäft“ auf die Beklagte übergegangen war, wie das § 613 a BGB ausdrücklich voraussetzt. Dies bejahte das BAG aufgrund „der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des § 613 a BGB“.33 Im Hintergrund stand dabei eine Entscheidung des EuGH, die einen ganz ähnlichen Fall betraf und in der der EuGH das Vorliegen einer ,,vertraglichen Übertragung“ im [51] Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen vom 14.2.1977 (77/187/EWG) bejaht hatte. Da der EuGH die Prärogative für die Auslegung von Richtlinien hat, stand damit für das BAG fest, dass jedenfalls, im Sinne der Richtlinie ein vertraglicher Übergang vorlag, und es blieb nur die Frage, ob gleichwohl ein rechtsgeschäftlicher Übergang i. S. von § 613 a BGB zu verneinen war. Das hatte das BAG in seiner bisherigen Rechtsprechung in derartigen Fällen durchweg getan, und in der Tat sprechen die weitaus besseren Argumente für diese frühere Ansicht, wonach das Rechtsgeschäft über den Übergang grundsätzlich zwischen dem neuen und dem alten Arbeitgeber gegeben sein muss. Das BAG hat indessen im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH seine ursprüngliche Position einfach aufgegeben, ohne auch nur mit einem einzigen Wort zu prüfen, ob die für diese sprechenden, überaus triftigen Gründe nicht doch schwerer wiegen als das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung, und daher ist es der Sache nach von einer Vorrangregel zugunsten der Letzteren und nicht von einem bloßen Gewichtungsvorrang ausgegangen. Das erscheint im Ergebnis als zutreffend. Sprachlich und teleologisch irgendwie vertretbar ist die Bejahung eines Rechtsgeschäfts nämlich immerhin, so dass kein Contra-legem-Judizieren vorliegt; denn irgendeine Art von Einverständnis zwischen dem neuen und dem alten Arbeitgeber über die Weiterbeschäftigung des Personals muss es ja gegeben haben, und die Abrede mit den Arbeitnehmern, dass sie nun für den neuen Arbeitgeber tätig sein sollten, hatte jedenfalls rechtsgeschäftlichen Charakter, was auch immer die Parteien sich dabei im einzelnen gedacht haben mögen.34 Im Übrigen ist dieses Beispiel auch deshalb sehr illustrativ, weil es exemplarisch zeigt, wie die interpretatorische Vorrangregel im Verhältnis zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten wirkt: Diese haben sich ohne weiteres an die – für sie bindende – Auslegung der Richtlinie durch den EuGH zu halten und lediglich noch zu prüfen, ob durch eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfindung überschritten werden.
BAG NZA 1998, 534 (536). Verfehlt ist es dagegen, dass das BAG den Reinigungsauftrag (!) als „Grundlage“ eines rechtsgeschäftlichen Übergangs ansieht. 33 34
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C. Die Rechtsfortbildung praeter legen Der Terminus der verfassungs- bzw. richtlinienkonformen Auslegung könnte so verstanden werden, als ginge es nur um ,,Auslegung“ im engeren Sinne, die ihre Grenze bekanntlich nach ganz überwiegender Ansicht am „möglichen Wortsinn“ des Gesetzes findet. Das wäre indessen ein – freilich auch heute noch mitunter anzutreffendes35 – Missverständnis. [52] I. Die Zulässigkeit und Gebotenheit einer verfassungsund einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung praeter legem Dass auch eine Rechtsfortbildung praeter legem als Mittel einer verfassungskonformen Rechtsfindung zulässig und geboten ist, folgt ohne weiteres daraus, dass sie anerkanntermaßen in der Kompetenz der Rechtsprechung liegt. Da sie zur Normerhaltung und damit zur Erreichung des Ziels der verfassungskonformen Auslegung genauso geeignet ist wie die Auslegung im engeren Sinne, muss auch sie gleichermaßen zum Einsatz kommen. In der Tat verfährt das Bundesverfassungsgericht mit Selbstverständlichkeit in diesem Sinne. So hat es in der oben36 analysierten Entscheidung zur Anwendung des Geldwäscheverbots nach § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB auf Strafverteidiger ausdrücklich von einer „verfassungskonformen Reduktion“ gesprochen;37 zwar ist an späterer Stelle dann doch nur von einer „verfassungskonform einengenden Auslegung“ die Rede,38 doch handelt es sich der Sache nach zweifelsfrei um eine echte Reduktion,38a da die Strafbarkeit nach § 261 Abs. 5 StGB auch bei leichtfertiger Unkenntnis eintritt und die Vorschrift, wie das Bundesverfassungsgericht selbst zuvor ausführlich dargelegt hat, keinen Ansatz für eine Beschränkung auf „sichere Kenntnis“ bei Strafverteidigern bietet. Wiederholt hat sich das Bundesverfassungsgericht auch der Analogie bedient, um einen drohenden Verfassungsverstoß zu vermeiden.39
Vgl. z. B. Lüdemann (Fn. 7), S. 30 bei Fn. 26; Ehricke (Fn. 11), S. 643. Vgl. bei Fn. 28. 37 Vgl. BVerfGE 110, 220 (262); vgl. ferner z. B. BGHSt 30, 105 (121), wo ausdrücklich von ,,verfassungskonformer Rechtsfortbildung“ und der Behebung einer „Lücke“ im Gesetz die Rede ist. 38 Vgl. BVerfGE 110, 220 (267). 38a Ebenso mit eingehender Begründung jüngst Kuhlmann (Fn. 21), S. 57 ff. 39 Vgl. z. B. BVerfGE 2, 336 (340 f.); 19, 342 (351 f.); 86, 288 (320 f.). 35 36
612 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung Auch bei der richtlinienkonformen Auslegung stellt die Einbeziehung der Rechtsfortbildung praeter legem im Grunde eine Selbstverständlichkeit dar 40 – sei es, dass man den Begriff der „Auslegung“ in einem entsprechend weiten Sinne versteht, oder sei es, dass man einer im engen Sinne verstandenen, d. h. durch den „möglichen Wortsinn“ begrenzten Auslegung die Rechtsfortbildung praeter legem an die Seite stellt. Das folgt – ähnlich wie bezüglich der Annahme einer interpretatorischen Vorrangregel – zum einen schon daraus, dass nur so dem vom EuGH aufgestellten Erfordernis einer vollen Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums durch die Gerichte uneingeschränkt Rechnung getragen wird, und zum anderen auch schlicht und einfach daraus, dass es kein auch nur ansatzweise nachvollziehbares Argument dafür gibt, die Mitwirkung der Rechtsprechung bei der Durchsetzung von Richtlinien ausgerechnet an der – bekanntlich ohnehin heiklen – Grenze des „möglichen Wortsinns“ enden zu lassen. [53] II. Die verfassungs- und die richtlinienkonforme Lückenergänzung Voraussetzung einer Rechtsfortbildung praeter legem ist nach überwiegender Ansicht das Vorliegen einer Lücke im Gesetz. Dabei ist dieser Begriff richtigerweise in dem Sinne weit zu verstehen, dass als Maßstab für die Feststellung der „planwidrigen Unvollständigkeit“, als welche die Lücke zu definieren ist, nicht lediglich das Gesetz, sondern die Gesamtrechtsordnung heranzuziehen ist. Das kann hier nicht näher dargelegt werden, so dass insoweit eine Verweisung auf Ausführungen an anderer Stelle genügen muss.41 Im vorliegenden Zusammenhang zu erörtern sind dagegen die spezifischen Probleme, die sich bei der Anknüpfung an den Lückenbegriff für die verfassungs- und die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung praeter legem ergeben. 1. Der Maßstab der Lückenfeststellung a) Bei der verfassungskonformen Rechtsfortbildung ist es zwar mit Selbstverständlichkeit in erster Linie die Verfassung, an der das einfache Recht gemessen und gegebenenfalls als unvollständig erkannt wird, doch erschöpft sich der Vorgang der Lückenfeststellung darin nicht. Zur Illustration sei wieder die oben 42 40 Vgl. näher Canaris (Fn. 12), S. 81 ff; vgl. ferner z. B. Schnorbus (Fn. 1), S. 886 ff.; Herrmann (Fn. 2), S. 143 ff.; W. H. Roth (Fn. 29), S. 393 ff.; vertiefend und weiterführend jüngst Herresthal (Fn. 17), S. 233 ff., 255 ff. 41 Vgl. eingehend Canaris (Fn. 12), S. 82 ff. mit Nachw. 42 Vgl. bei Fn. 28.
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referierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit der Geldwäsche nach § 261 StGB herangezogen. Dort arbeitet das Bundesverfassungsgericht zunächst heraus, dass nach den allgemeinen Auslegungskriterien auch Strafverteidiger uneingeschränkt von dieser Vorschrift erfasst werden, misst dieses Ergebnis dann am Grundgesetz und stellt seine Unvereinbarkeit mit diesem fest. Damit ist geklärt, dass § 261 StGB einer einschränkenden Ergänzung bedarf, um vor den Anforderungen des Grundgesetzes Bestand zu haben. Das Bundesverfassungsgericht lässt dann jedoch noch die weitere Prüfung folgen, ob § 261 StGB einer solchen Einschränkung überhaupt zugänglich ist. Zur Ergänzungsbedürftigkeit, die am Maßstab der Verfassung festzustellen ist, muss also die Ergänzungsfähigkeit hinzutreten, die am Maßstab des einfachen Rechts festzustellen ist. Nur wenn auch diese zu bejahen ist, kann man sinnvoll sagen, dass das Gesetz eine Lücke aufweist. Maßstab der Lückenfeststellung sind also die Verfassung und das einfache Recht in einem spezifischen Zusammenwirken. b) Versucht man dieses Denkmodell auf die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu übertragen, so führt das zu der Konsequenz, dass Maßstab der Lückenfeststellung im Sinne der Ergänzungsbedürftigkeit des nationalen Rechts die Richtlinie selbst ist.43 Das kann man grundsätzlich ohne Bedenken bejahen, sobald diese umgesetzt ist, da sie dann jedenfalls einen Bestandteil der gelten- [54] den Gesamtrechtsordnung darstellt. Ebenso ist aber grundsätzlich auch bei Fehlen einer Umsetzung zu entscheiden, wenn die Frist für diese abgelaufen ist. Dafür sprechen ganz ähnliche Gründe, wie sie oben 44 für die Annahme einer interpretatorischen Vorrangregel angeführt worden sind. Auch hier ist also von wesentlicher Bedeutung, dass die Richtlinie im Vergleich zum nationalen Recht höherrangig ist. Man kann sie auch unschwer als Teil der Gesamtrechtsordnung qualifizieren, da sie einen verbindlichen Normsetzungsbefehl enthält, der sich auch an die Rechtsprechung richtet. Und auch hier gilt das pragmatische Argument, dass es weitaus zweckmäßiger ist, der Rechtsprechung eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu gestatten, als die Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EG und einer Staatshaftung nach der Faccini DoriDoktrin heraufzubeschwören. Auch die zweite Stufe des zur verfassungskonformen Rechtsfortbildung entwickelten Denkmodells lässt sich bruchlos übernehmen. Bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung stellt sich nämlich ebenfalls die – alsbald noch zu vertiefende – Frage, ob das nationale Recht überhaupt ergänzungsfähig ist. Nur wenn das zu bejahen ist, liegen die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung praeter 43 Vgl. zum Folgenden näher Canaris (Fn. 12), S. 86 ff.; ebenso Unberath (Fn. 31), S. 8; stark vertiefend und teilweise noch weitergehend Herresthal (Fn. 17), S. 221 ff.; a. A. Schnorbus (Fn. 1), S. 891 f., der auf das Transformationsgesetz abstellt. 44 Vgl. bei und nach Fn. 32.
614 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung legem vor, so dass auch hier der Maßstab der Lückenfeststellung ein doppelter ist: die Richtlinie und das nationale Recht in ihrem spezifischen Zusammenwirken, wobei jene über dessen Ergänzungsbedürftigkeit und dieses über seine Ergänzungsfähigkeit entscheidet. Ein aktuelles Beispiel für eine derartige richtlinienbedingte Lücke bildet der Rechtszustand, der durch die mangelnde Umsetzung der Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse und der ethnischen Herkunft nach Ablauf der dafür vorgesehenen Frist entstanden ist. Da das geltende Recht den Anforderungen der Richtlinie in mehrfacher Hinsicht nicht genügt, ist es ergänzungsbedürftig, und da es andererseits keine Regelungen enthält, die einer solchen Ergänzung generell entgegenstehen, ist es grundsätzlich – wenngleich vielleicht nicht in jeder Hinsicht – auch ergänzungsfähig. Folglich weist es Lücken auf. Ob sich diese lege artis schließen lassen, ist eine ganz andere Frage, auf die sogleich zurückzukommen sein wird. 2. Die Mittel der Lückenergänzung und das Verhältnis von Lückenfeststellung und -ausfüllung Als Mittel der Lückenergänzung kommen ebenso wie sonst Analogie, teleologische Reduktion und teleologische Extension in Betracht. Das gilt für die verfassungs- und die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung in prinzipiell gleicher Weise.45 Die Analogie spielt dabei naturgemäß dann eine besonders große Rolle, wenn es um die Vermeidung von Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG [55] geht. Im Übrigen kommt der teleologischen Reduktion hier anders als sonst größere praktische Bedeutung zu als der Analogie. Denn jene hat den Vorteil, dass mit der Reduktion der betreffenden Norm in der Regel zugleich das verfassungs- bzw. richtlinienkonforme Ergebnis erreicht ist, wohingegen man für diese darauf angewiesen ist, eine passende Norm zu finden, was meist stark von Zufälligkeiten der lex lata abhängt. Immerhin kann man durchaus fündig werden. So hat das Bundesverfassungsgericht z. B. angenommen, dass die im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit der Haftverschonung bei der Verhängung von Untersuchungshaft wegen des Verdachts eines Verbrechens wider das Leben „in entsprechender Anwendung“ der für die Haft wegen Flucht- oder Verdunkelungsgefahr geltenden Verschonungsregelung gemäß § 116 StPO anzuerkennen sei, um einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vermeiden, und dabei ausdrücklich betont, dass „Be-
45 Vgl. zur verfassungskonformen Rechtsfortbildung Canaris (Fn. 7), S. 155 ff; zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung Canaris (Fn. 12), S. 89 f.; Schnorbus (Fn. 1), S. 890 ff.; Hermann, (Fn. 2), S. 145 ff.; W. H. Roth (Fn. 29), S. 394; Herresthal (Fn. 17), S. 239 ff.
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denken aus dem Wortlaut des § 116 StPO zurücktreten können.“46 Zur Schließung der durch die mangelnde Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie entstandenen Lücken kann man die Beweislastregelung des § 611 a Abs. 1 S. 3 BGB analog anwenden47 und für den Bereich des Arbeitsrechts – aber nur für diesen – wohl auch § 611 a Abs. 2 und 3 BGB.48 Eine vollständige Schließung der Lücken gelingt auf diese Weise jedoch nicht, so dass insoweit nur der Gesetzgeber Abhilfe schaffen kann. Bei der teleologischen Reduktion bilden Lückenfeststellung und -ausfüllung ebenso wie sonst in der Regel einen einheitlichen Vorgang. So steht bei der – schon mehrfach als Beispiel herangezogenen – verfassungskonformen Reduktion von § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB das Ergebnis der Lückenausfüllung fest, wenn man die Lückenfeststellung in der oben C. II. 1. a) vorgesehenen Weise vorgenommen hat. Ein zweites Beispiel: Sieht man das Erfordernis der Fristsetzung durch den Gläubiger beim Rücktritt nach § 323 Abs. 1 BGB als unvereinbar mit der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf an und nimmt man daher für die Fälle, in denen der Gläubiger ein Verbraucher ist, insoweit eine richtlinienkonforme Reduktion vor,49 so gelangt man ohne weiteres zu dem Ergebnis, dass es der Setzung einer angemessenen Frist nicht bedarf und diese somit ipso iure von dem Augenblick an läuft, in dem der Gläubiger die Nacherfüllung verlangt hat. Demgegenüber bilden bei der Analogie hier Lückenfeststellung und -ausfüllung typischerweise zwei unterschiedliche Vorgänge, weil die Unvollständigkeit des Gesetzes ja zunächst am Maßstab der Verfassung bzw. der Richtlinie ermittelt werden muss und erst anschließend nach einer passenden Norm für ihre Beseitigung gesucht wird, doch stellt das kein Spezifikum der vorliegenden Problematik dar, sondern kommt auch sonst vor.50 [56] D. Die Unzulässigkeit einer Rechtsfortbildung contra legem I. Die Grenzen der verfassungskonformen Rechtsfindung Das Bundesverfassungsgericht betont immer wieder, dass der verfassungskonformen Auslegung Grenzen gezogen sind, und prüft regelmäßig, ob diese
Vgl. BVerfGE 19, 342 (351 f.). So mit Recht Herresthal (Fn. 17), S. 337. 48 So Palandt/Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Anh. nach § 319 Rn. 11. 49 Vgl. nur Soergel/Gsell, Bürgerliches Gesetzbuch, 13. Aufl. 2005, § 323 Rn. 85. 50 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 144 ff., wo insoweit zwischen „notwendiger“ und „nur möglicher“ Analogie unterschieden wird. 46 47
616 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung überschritten sind. Dabei zeichnen sich seit langem verhältnismäßig klare Konturen ab. 1. Das Doppelkriterium von Wortsinn und Zweck des Gesetzes Im Vordergrund steht das Doppelkriterium von Wortsinn und Zweck des Gesetzes. So lautet eine repräsentative Formulierung: „Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzes in Widerspruch treten würde.“51 In der Tat wird dadurch die wichtigste Grenze markiert, die der Judikative gegenüber der Legislative aufgrund des Prinzips der Gewaltenteilung gesetzt ist. Demgemäß wird sie von denjenigen Autoren, die den Begriff des Contralegem-Judizierens zur Abgrenzung der zulässigen von der unzulässigen richterlichen Rechtsfortbildung verwenden, ebenfalls als das zentrale Kriterium angesehen.52 Die Konkretisierung der Grenzen der verfassungskonformen Rechtsfindung durch das Bundesverfassungsgericht stellt somit zugleich eine Konkretisierung des Verbots des Contra-legem-Judizierens dar, was das Gericht übrigens gelegentlich selbst ausdrücklich ausspricht.53 2. Die Unzulässigkeit einer wesentlichen Umstrukturierung einer Norm Als wichtigstes Zusatzkriterium kommt hinzu, dass „der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden darf“.54 Demgemäß darf grundsätzlich nicht ein Tatbestandsmerkmal durch ein anderes ersetzt und z. B. der Beginn des Laufs einer Frist abweichend von der gesetzlichen Regelung bestimmt werden.55 Eine wesentliche Umstrukturierung oder gar Deformierung einer Norm ist somit unzulässig, da die Judikative dadurch die Autonomie der Legislative missachten und also contra legem judizieren würde. Man kann das auch dahin formulieren, dass das Ergebnis der verfassungskonformen Rechtsfindung nicht ein aliud, sondern nur ein minus gegen- [57] über dem ursprünglichen 51 So BVerfGE 71, 81 (105); ähnlich z. B. BVerfGE 18, 97 (111); 54, 277 (299); 90, 263 (275); 93, 37 (81); 95, 64 (93); 110, 226 (267). 52 Repräsentativ F. Bydlinski (Fn. 22), S. 47; ihm mit gewissen Modifikationen folgend Canaris (Fn. 12), S. 91 ff. 53 Vgl. z. B. BVerfGE 35, 263 (280). 54 So BVerfGE 71, 81 (105); ähnlich z. B. BVerfGE 8, 28 (34); 35, 263 (280); 54, 277 (299). 55 Vgl. BVerfGE 63, 131 (174 f.); 90, 263 (275 f.).
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Gesetzesinhalt darstellen darf,56 wobei diese Begriffe allerdings nicht zu eng verstanden werden dürfen und gewisse Modifikationen durchaus als zulässig anzusehen sind. Im Grunde handelt es sich um eine ganz ähnliche Problematik wie bei der Bestimmung der Grenze, bis zu der die Umdeutung eines nichtigen Rechtsgeschäfts nach § 140 BGB zulässig ist,57 wo es ja ebenfalls um das Spannungsverhältnis zwischen der Erhaltung einer in der gegebenen Form unwirksamen Regelung und der Respektierung der Autonomie ihres Schöpfers geht. 3. Die Unzulässigkeit einer teleologischen Reduktion „auf Null“ Ein weiteres Zusatzkriterium liegt darin, dass einer Norm nicht ihre „wesentlichste und vom Gesetzgeber gewollte praktische Bedeutung genommen werden darf“.58 Die verfassungskonforme Rechtsfindung darf also grundsätzlich nicht dazu führen, dass eine Norm keinen nennenswerten praktischen Anwendungsbereich mehr hat, und daher ist eine teleologische Reduktion „auf Null“ unzulässig. Dabei handelt es sich letztlich wohl nur um einen Unterfall des soeben behandelten Verbots, „den normativen Gehalt der auszulegenden Norm grundlegend neu zu bestimmen“, doch verdient diese Problematik gleichwohl eine gesonderte Hervorhebung, weil der (nahezu) vollständige Funktionsverlust einer Norm eine eigenständige Konstellation mit klarer Kontur darstellt und demgemäß in der methodologischen Literatur gesondert thematisiert zu werden pflegt. In der Tat geht es dabei methodologisch gesehen nicht mehr um Interpretation oder Rechtsfortbildung praeter legem, sondern im praktischen Ergebnis um Derogation einer Norm, die der Rechtsprechung grundsätzlich verschlossen und dem Gesetzgeber vorbehalten ist. Die Problematik ist unlängst in einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts praktisch geworden, in der dieses § 85 c HessBG, wonach Beamte unter bestimmten Voraussetzungen in Teilzeitbeschäftigung eingestellt werden können, im Hinblick auf Art. 33 Abs. 5 GG dahingehend verfassungskonform eingeschränkt hat, dass dies nur zulässig sei, wenn dem Bewerber die Möglichkeit zur Wahl der vollen Beschäftigung eingeräumt worden ist.59 Da sich damit indessen fast derselbe Rechtszustand wie gemäß der Vorgängerregelung ergibt, ist mit gutem Grund der Einwand erhoben worden, hier seien die Grenzen der verfas-
So Hesse (Fn. 3), Rn. 83. Vgl. dazu nur MünchKomm.-BGB-Mayer-Maly/Busche, 4. Aufl. 2001, § 140 Rn. 15, wo ebenfalls die Kategorie des aliud verwendet wird. 58 So BVerfGE 18, 97 (111). 59 Vgl. BVerwGE 110, 363 (368 ff.). 56 57
618 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung sungskonformen Auslegung überschritten, weil dadurch die Neuregelung praktisch leer laufe.60 [58] II. Die Übertragbarkeit der Grenzen der verfassungskonformen Rechtsfindung auf die richtlinienkonforme Rechtsfindung Was nun die Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung angeht, so können diese keinesfalls enger sein als diejenigen der verfassungskonformen Rechtsfindung, weil sonst die gebotene volle Ausschöpfung der den Gerichten zustehenden Kompetenzen unterbliebe. Sie können andererseits grundsätzlich auch nicht weiter sein, weil die richtlinienkonforme Rechtsfindung nur im Rahmen dieser Kompetenzen erfolgt und diese hier – jedenfalls nach der ganz vorherrschenden Ansicht – keine anderen sind als sonst.61 Folglich gelten auch für die richtlinienkonforme Rechtsfindung grundsätzlich die Schranken der Bindung an das Doppelkriterium von Wortsinn und Zweck des Gesetzes sowie der Unzulässigkeit einer wesentlichen Umstrukturierung der richtlinienwidrigen Norm und der Reduktion auf Null. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass das Bundesarbeitsgericht es abgelehnt hat, Bereitschaftsdienst im Wege der richtlinienkonformen Auslegung als Arbeit i. S. des ArbeitszeitG anzuerkennen, weil dies mit dessen – aus seiner Systematik präzisierten – Wortsinn und dem Willen des Gesetzgebers nicht vereinbar sei.62 Der Vorschlag, dieses Ergebnis zu korrigieren, indem man hier eine Rechtsfortbildung contra legem zulässt,63 verdient keine Zustimmung. Dagegen spricht vor allem, dass man dadurch im praktischen Ergebnis zu einer unmittelbaren Wirkung der Richtlinie gelangen und so den Unterschied zwischen dieser und einer Verordnung vollends einebnen würde. Außerdem würde man massive Rückwirkungsprobleme heraufbeschwören, weil dann ja folgerichtig grundsätzlich alle in der Vergangenheit liegenden Fälle ebenfalls richtlinienkonform zu behandeln wären; die Funktion des Gesetzestextes als Vertrauensgrundlage würde übermäßig beeinträchtigt, wenn auf diesen auch bei Übereinstimmung von Wortsinn und gesetzgeberischem Willen kein Verlass mehr wäre. Es ist daher keinesVgl. Rieger, Grenzen verfassungskonformer Auslegung, NVwZ 2003, 17 (20 f.). Demgegenüber nimmt Herresthal (Fn. 17), S. 183 ff., 212 ff. aufgrund des von ihm aus Art. 23 GG entwickelten „neuen Strukturprinzips der integrierten Staatlichkeit“ an, dass sich die Zuständigkeiten der Rechtsprechung ausgeweitet haben; im Ansatz ähnlich, wenngleich sehr knapp und mit z. T. anderer Begründung Herrmann (Fn. 2), S. 141 f., 172. Auf diese Konzeptionen kann hier nicht eingegangen werden. 62 Vgl. BAG NZA 2003, 742 (747 f.). 63 So Riesenhuber/Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre, RIW 2005, 47 (52). 60 61
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wegs ein leerer Formalismus, sondern hat einen guten Sinn, in derartigen Fällen ein Eingreifen des Gesetzgebers zu fordern und die betroffenen Rechtssubjekte auf die Staatshaftung nach der Faccini Dori-Doktrin zu verweisen. Eine kurze Erwähnung verdient im vorliegenden Zusammenhang schließlich die zweite Heininger-Entscheidung des BGH. Darin hat dieser das Argument, die von ihm vorgenommene richtlinienkonforme Reduktion von § 5 Abs. 2 Haustür WiG führe zu einer „methodisch bedenklichen Sinnentleerung bzw. Derogation“ der Vorschrift,64 mit der näher begründeten Replik zurückgewie- [59] sen, dass für die Vorschrift trotz der Reduktion „ein Anwendungsbereich erhalten bleibt“.65 Ob das zutrifft, steht hier nicht zur Diskussion. Bemerkenswert ist aber, dass der BGH den Einwand nicht etwa als irrelevant abgetan, sondern zu entkräften versucht und so zu erkennen gegeben hat, dass auch er grundsätzlich von der Unzulässigkeit einer Derogation bzw. einer Reduktion auf Null ausgeht. III. Die Unanwendbarkeit des Verbots des Contra-legem-Judizierens auf die ersetzende Derogation Von der verfassungs- und der richtlinienkonformen Rechtsfindung zu unterscheiden ist die Derogation einer Norm durch eine andere, bei der diese jene verdrängt.66 Dabei kann es nicht nur zur Kassation oder Suspendierung, sondern auch zur Ersetzung der verdrängten durch die verdrängende Norm kommen. In derartigen Fällen gelten das Verbot des Contra-legem-Judizierens und daher auch die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grenzen der verfassungskonformen Auslegung nicht, weil diese mit der verdrängenden Wirkung der derogierenden Norm unvereinbar sind und deren Vorrang die Frage, ob ein unzulässiges Contra-legem-Judizieren vorliegt, gar nicht erst aufkommen lässt. Ein berühmtes Beispiel hierfür bildet die Anerkennung eines Anspruchs auf Ersatz des immateriellen Schadens bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den BGH. Diese ist bekanntlich häufig als unzulässiges Contra-legem-Judizieren kritisiert worden, weil der BGH sich über die Sperre des § 253 a.F. BGB hinweggesetzt hat, wonach eine Entschädigung in Geld wegen eines Nichtvermögensschadens „nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden“ konnte. Dieser Vorwurf geht jedoch ins Leere, wenn man der Argumentation des BGH folgt, die Vorschrift des § 253 a.F. BGB sei wegen Verstoßes gegen die Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungswidrig gewesen, soweit sie So Hochleitner/Wolf/Großerichter, Teleologische Reduktion auf Null?, WM 2002, 529 (534). Vgl. BGHZ 150, 248 (259). 66 Vgl. oben B. I. 2. b. 64 65
620 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung auch bei dessen Verletzung einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens verbot;67 denn dann kommt von Verfassungs wegen nur die Zulassung eines solchen Anspruchs in Betracht, so dass die Voraussetzungen einer ersetzenden Derogation gegeben waren. Um eine verfassungskonforme Interpretation oder Reduktion handelte es sich bei dieser Sichtweise nicht, da der Vorwurf des Contra-legem-Judizierens zwangsläufig impliziert, dass § 253 a.F. BGB einer solchen nicht zugänglich war – was man freilich mit guten Gründen bezweifeln kann68 –, und dann der Bereich der zulässigen verfassungskonformen Rechtsfindung überschritten ist, wie soeben dargelegt wurde. [60] Auch dem Gemeinschaftsrecht kommt ein derogatorischer Vorrang gegenüber dem nationalen Recht zu, soweit es unmittelbar anwendbar ist, und auch dieser kann nicht nur suspendierende, sondern auch ersetzende Wirkung haben.69 Das sei abschließend an einem letzten Beispiel veranschaulicht. Der Europäische Gerichtshof hat aus Art. 10 EG, wonach die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu treffen haben, die Konsequenz hergeleitet, dass die deutschen Behörden Verwaltungsakte, die sie in Durchführung einer Verordnung der EU erlassen, für sofort vollziehbar zu erklären haben, und – darin liegt im vorliegenden Zusammenhang die Pointe – den Einwand der Bundesregierung, die dafür in § 80 Abs. 2 VwGO aufgestellten Voraussetzungen seien nicht erfüllt gewesen, als unerheblich zurückgewiesen.70 Das erscheint als zutreffend. Denn zum einen muss die deutsche Rechtsordnung dem Durchsetzungsgebot von Art. 10 EG nachkommen, und zum anderen ist auf der Ebene des nationalen deutschen Rechts nun einmal die Erklärung sofortiger Vollziehbarkeit von Verwaltungsakten dafür das systemkonforme Mittel. § 80 Abs. 2 VwGO ist also aufgrund der ersetzenden Wirkung des Gemeinschaftsrechts so zu lesen, als enthielte die Vorschrift eine weitere – ungeschriebene – Möglichkeit zur Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit, soweit eine solche europarechtlich geboten ist. Ein Verstoß gegen das Verbot des Contra-legemJudizierens kann in einer solchen Rechtsfortbildung von vornherein nicht liegen, weil diese sich aus einer unmittelbar anwendbaren Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ergibt und diesem ein derogatorischer Vorrang vor dem nationalen Recht zukommt.
Vgl. BGHZ 35, 363 (367 f.). Vgl. näher Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts Bd. II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 I 4 a. 69 Herresthal (Fn. 17), S. 267 ff. spricht in diesen Fällen von „deklaratorischer Adaption“. 70 Vgl. EuGH vom 10.7.1990, Rs. 217/88 (Kommission/Deutschland) Slg. 1990, I-2879, Rn. 26 und 34. 67 68
Die Europäische Union als Gemeinschaft des Rechts – von Athen und Rom über Bologna nach Brüssel IN: JAHRBUCH DER BAYERISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
2009, 2010, S. 179–196 Herr Präsident, hochverehrte Festversammlung, mir „ist die Ehre widerfahren“ – um mich dieser schönen Wendung Hugo von Hofmannsthals aus dem „Rosenkavalier“ zu bedienen –, den heutigen Festvortrag halten zu dürfen. „Widerfahren“ ist sie mir buchstäblich und wortwörtlich. Nichts lag mir nämlich ferner als die Vermutung, dass der Vorstand unserer Akademie ausgerechnet mir diese Aufgabe antragen könnte. So habe ich denn auch auf Ihre Anfrage, lieber Herr Willoweit, zunächst schroff ablehnend reagiert und zurückgefragt: Warum soll das ausgerechnet ein Jurist übernehmen, und wenn schon ein Jurist, warum dann nicht lieber ein Verfassungs- oder ein Strafrechtler, denen stehen doch die schönen Themen von allgemeinem Interesse zur Verfügung, nicht aber einem Privatrechtler wie mir, dessen Fachgebiet wegen der Abstraktionshöhe unseres Denkens keine Themen hergibt, die auch ein nicht-juristisches Auditorium interessieren können? Dann aber habe ich mich am porte-épée gefasst, und daraufhin ist mir der rettende Gedanke gekommen, dass ich nicht unbedingt einen Vortrag aus meinem Fachgebiet halten muss, sondern auch ein Thema wählen könnte, das nicht spezifisch privatrechtlicher Art ist, wohl aber mich als Privatrechtler betrifft und auch Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, angeht, und zwar in durchaus dramatischer Weise. Das aber ist das Europarecht. So ist es dazu gekommen, dass Sie jetzt den Vortrag eines Nicht-Europarechtlers über eine europarechtliche Thematik hören werden, und dass ich mir überdies auch noch erlauben werde, entsprechend dem Untertitel meines Vortrags als Nicht-Rechtshistoriker einen Ausflug in die Vergangenheit zu unternehmen. I. Nach dieser captatio benevolentiae darf ich Sie sogleich mit zentralen Thesen meines Vortrags konfrontieren. Spätestens seit dem 11. September 2001, „nine eleven“, dem Angriff also auf die „Twin Towers“ in [180] New York, fragt man sich immer wieder, was denn nun eigentlich die spezifischen Besonderheiten des „Westens“ ausmache. Eine Antwort darauf, die als ein Grundgedanke meinen
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Vortrag durchziehen wird, lautet: die außerordentliche Rolle, die ,,das Recht“ hier in Staat und Gesellschaft spielt, und die besondere Art und Weise, in der wir „Recht“ zu denken pflegen. Diese hat sich in einem jahrhundertelangen evolutionären Prozess herausgebildet und ist durch eine Reihe von Charakteristika gekennzeichnet, die sich ziemlich präzise angeben lassen. Einen neuen, überaus erstaunlichen Höhepunkt dieser Entwicklung bildet die Europäische Union, die ohne das spezifisch „westliche“ Verständnis von Recht gar nicht denkbar wäre. Eine erste Vorstellung von dem, was ich damit meine, vermittelt ein Brief des berühmten österreichisch-englischen Philosophen Sir Karl Popper aus dem Jahr 1992 an die russischen Leser seines Buches „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, den er auch dessen deutscher Neuauflage vorangestellt hat. Darin antwortet er auf die Frage, wie Russland auf den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes reagieren solle, in dreifacher Weise: durch die Einführung eines Privatrechts, wie Europa es seit den Zeiten der Römer entwickelt hat; durch die Übernahme des demokratischen Rechtsstaats nach „westlichem“ Muster; und drittens durch die Herausbildung eines eigenständigen Standes von Juristen, die diese Institutionen mit Leben erfüllen. Dass diese Desiderate alles andere als trivial sind, zeigt etwa der Vergleich mit dem im vergangenen Jahr erschienenen letzten Band der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ von Hans-Ulrich Wehler. Wie schon in den früheren Bänden legt er seiner Darstellung vier so genannte „Achsen“ zugrunde: die Wirtschaft, die soziale Schichtung, die politische Herrschaft und die Kultur. Was fehlt, ist das Recht. Indessen hat Wehler selbst dies in einem „Epilog“ als Defizit anerkannt und für die Zukunft die Aufwertung des Rechts zu einer fünften „Achse“ gefordert, weil die letzten Jahrhunderte „im Zeichen einer geradezu übermächtigen Verrechtlichung des gesellschaftlichen Lebens stehen“. In der Tat sind Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ohne die Berücksichtigung des immensen Einflusses von „Recht“ heutzutage überhaupt nicht mehr zu begreifen. Das ist für die Gesetzgebung eine blanke Selbstverständlichkeit, gilt aber auch für die Rechtsprechung. Man stelle sich nur vor, welches Erdbeben es bedeuten würde, wenn das Bundesverfassungsgericht am kommenden Dienstag verkünden würde, dass das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon, durch den die Europäische Union teilweise auf eine neue Grundlage gestellt wird, verfassungswidrig sei! [181] II. Worin also liegen die Charakteristika europäischen oder – wie man besser sagen sollte, um vor allem auch die USA einzubeziehen – „westlichen“ Rechtsdenkens?
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1. Ich beginne mit einer Interpretation des Theaterstücks „Die Eumeniden“ von Aischylos und biete also zunächst eine Lektion in „Iaw and literature“ – was übrigens durchaus dem juristischen Zeitgeist entspricht. Ich werde mir dafür weit überproportional viel Zeit nehmen, weil ich dieses Werk geradezu für so etwas wie eine Gründungsurkunde europäischen Rechtsdenkens halte. „Die Eumeniden“ bilden den Schlussteil der Trilogie „Die Orestie“, die um das Jahr 458 v. Chr. entstanden ist. Sie wird auch in der Gegenwart noch erstaunlich häufig gespielt – legendär ist mit Recht die Inszenierung von Peter Stein an der Berliner „Schaubühne“ aus dem Jahr 1980. Orestes hat seine Mutter Klytemnästra getötet, die ihrerseits seinen Vater Agamemnon nach dessen Rückkehr von Troja umgebracht hatte, wofür ein wesentliches Motiv war, dass er ihre gemeinsame Tochter Iphigenie der Göttin Artemis auf dem Altar geopfert hatte. Wegen dieses Totschlags wird Orestes jetzt von den Erinnyen, d. h. von Rachegöttinnen verfolgt. Schließlich wird er durch ein Gericht, das die Göttin Athene eingesetzt hat, freigesprochen. a) Es ist leicht zu sehen, dass es hier um die Ablösung von Rache durch Recht geht. Das ist indessen eine allgemeine Funktion von Recht und kann daher nicht als Charakteristikum gerade des europäischen Rechtsdenkens gelten. Entscheidend ist insoweit vielmehr, wie es zu dem Freispruch des Orestes gekommen ist. Das beginnt nun damit, dass Athene die Erinnyen in eine Diskussion darüber verwickelt, warum sie Orestes so unerbittlich verfolgen. Diese beschränken sich dabei im Wesentlichen auf die Behauptung, dass dies ihr selbstverständliches Recht sei. Die Frage Athenes, ob Orestes seine Mutter unter dem Einfluss von Zwang oder Furcht getötet habe, erscheint ihnen als völlig irrelevant. In Wahrheit spielt Athene damit jedoch darauf an, dass Apoll dem Orestes den Muttermord unter Androhung schwerster Strafen befohlen hatte. Demgemäß repliziert sie, dass möglicherweise auch die andere Seite – also Orestes – triftige Gründe für die Tat geltend machen könne. Bezeichnenderweise resignieren die Erinnyen argumentativ genau an diesem Punkt und übertragen Athene die Entscheidung. Was wir hier in höchster dichterischer Verknappung miterleben, ist die Entstehung des Rechts aus dem Geiste des rationalen Diskurses: Wer, wie die Erinnyen, für sich selbst Recht in Anspruch nimmt, gesteht damit zwangsläufig implizit immer schon zu, dass er auch Unrecht und also die Gegenseite Recht haben könnte – anderenfalls wäre die Berufung auf Recht unsinnig; die heutige Philosophie würde hier wohl von einem „performativen“ Selbstwiderspruch sprechen. [182] Athene geht nun aber noch einen wesentlichen Schritt weiter: Sie entscheidet nicht selbst, wie von den Erinnyen gewünscht, sondern setzt ein Gericht ein, das aus Bürgern Athens besteht – den Areopag. Spätestens hier wird in der Tat eines der Fundamente europäischen Rechtsdenkens sichtbar: Das Recht emanzipiert sich gegenüber der Religion. Man braucht sich nur kurz das in dieser Hinsicht völlig andersartige Rechtsverständnis der islamischen Welt zu vergegenwärtigen, um die
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spezifische Besonderheit dieser Denkhaltung und zugleich die unverminderte Aktualität dieser Differenz zu erkennen. Dabei beschränkt sich die Emanzipation nicht auf die Organisation der Gerichtsbarkeit, sondern umfasst vor allem auch die Art der Argumentation. Denn die beiden Gründe, die Athene vorgebracht hat, kann man nur als spezifisch juristisch qualifizieren: Sie hat auf die Notwendigkeit hingewiesen, auch auf Seiten des Orestes etwaige Gegenargumente zu prüfen (was nicht nur „audiatur et altera pars“, sondern vor allem auch Argumentieren „in utramque partem“ bedeutet); und sie hat auf dessen Zwangslage aufgrund des Befehls Apolls und damit, wie wir heute sagen würden, auf die Möglichkeit einer Entschuldigung von Orestes’ Handeln durch einen Notstand hingewiesen. Das sind auch nicht etwa Gesichtspunkte irgendeiner Sozialmoral oder dergleichen, sondern in der Tat genuin juridische Argumente, so dass uns das Recht klar als eine Ordnung von Sollenssätzen eigenständiger Art auf der Grundlage einer spezifischen Rationalität vor Augen tritt. b) Den eigentlichen Höhepunkt der Emanzipation des Rechts aber bildet das Urteil des Areopag: Orestes wird deshalb und nur deshalb frei gesprochen, weil es zu einem Gleichstand, einem Patt der Stimmen kommt. Das hat entgegen einer verbreiteten Fehlinterpretation nicht das Mindeste mit dem Grundsatz „in dubio pro reo“ („Im Zweifel für den Angeklagten“) zu tun; denn dieser gilt nur dann, wenn unklar ist, ob der Angeklagte die Tat überhaupt begangen hat – was hier ja völlig außer Zweifel steht –, nicht aber auch dann, wenn zweifelhaft ist, wie diese Tat rechtlich zu bewerten ist. Vielmehr liegt darin der Triumph des Verfahrensgedankens über die Verabsolutierung materialer Gerechtigkeitsvorstellungen: Material haben zwar beide Seiten – die Erinnyen und Orestes – gleichermaßen Recht erhalten, wie sich gerade in der Parität der Stimmen widerspiegelt, doch formal hat die Sache des Orestes obsiegt, weil sich in einem Verfahren grundsätzlich nur durchsetzt, wer die Mehrheit der Stimmberechtigten für sich gewinnt. Das ist für den Unterliegenden nicht nur bitter, sondern oft kaum zu ertragen – und die Erinnyen fangen denn auch zunächst einmal wieder an zu toben –, aber für europäisches Rechtsdenken hat diese Mediatisierung von Gerechtigkeitsfragen durch Verfahrenslösungen schlechthin zentrale Bedeutung. Es liegt nämlich auf der Hand, dass es von dieser Einsicht z. B. nur ein kurzer Schritt zur Staatsform der Demokratie ist – den die Athener zur Zeit des Aischylos ja auch bereits getan hatten – oder, dass Europa die Geißel der Religionskriege nur [183] mit Hilfe dieses Regelungsmechanismus zu überwinden vermocht hat. So wäre denn auch eine so „luftige“ Konstruktion wie die der Europäischen Union ohne den grundsätzlichen Vorrang prozeduraler vor materialen Rechtsvorstellungen keinesfalls lebensfähig – worauf ich noch zurückkommen werde. 2. Gleichwohl hatte das Modell Athenes einen tödlichen Konstruktionsfehler. Dieser bestand darin, dass sie Bürger als Richter eingesetzt hatte. „Ihr Männer von Athen“ beginnt Sokrates seine „Apologie“ in der von Platon überlieferten Fassung,
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also seine Verteidigungsrede gegen die Anklage wegen Missachtung der Religion und Verführung der Jugend. Man stelle sich vor, ein Angeklagter würde heutzutage das Gericht mit den Worten ansprechen „Ihr Männer von München“ oder „Ihr Männer von Oberammergau“! Und doch war diese Anrede des Sokrates völlig korrekt. Seine Richter waren nämlich nach dem Zufallsprinzip ermittelte Laien, Athen war damals eine Radikaldemokratie ohne Gewaltenteilung, die Gerichtsbarkeit war also Volksjustiz im schlimmsten Sinne des Wortes, ein Rechtsgespräch mit den Richtern fand nicht statt, die Verteidigungsrede des Sokrates hatte folgerichtig ebenfalls einen durchaus unjuristischen Charakter. Obgleich aus dem Geiste des Diskurses geboren, genügte die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens den Anforderungen an einen Diskurs somit noch nicht einmal ansatzweise. Die Konsequenz war fürchterlich: Sokrates wurde bekanntlich zum Tode verurteilt, und das war nichts anderes als ein Justizmord. Zutreffend wird das altgriechische Recht demgemäß als „Recht ohne Juristen“ gekennzeichnet. Was immer man Abfälliges über unseren Stand sagen mag: Ohne uns geht es in Dingen des Rechts noch viel schlimmer zu! Was aber dieses Defizit bei weitem übertraf und vollends desaströs war: In der radikalen Durchführung des demokratischen Prinzips und dem damit verbundenen Verzicht auf Gewaltenteilung – gipfelnd etwa im gänzlich rechtsstaatswidrigen System des „Ostrakismus“, d. h. des „Scherbengerichts“ – lag zugleich die Wurzel für das vollständige Scheitern der Demokratie in Athen, weil eine solche allenfalls dann auf Dauer lebensfähig ist, wenn die in ihr angelegten zerstörerischen Gefahren durch ein System von „countervailing powers“ und die Gewährleistung von Grundrechten entschärft werden. 3. Dem Missstand des altgriechischen Rechts, der in der Überlassung der Rechtsanwendung an Laien bestand, haben die Römer gründlich abgeholfen. Eine ihrer nicht genug zu preisenden Großtaten bestand nämlich darin, dass sie den Juristen „erfunden“ haben. Schon allein dadurch haben sie dem rechtlichen, ja ich wage zu sagen: dem menschlichen Denken neue Dimensionen eröffnet. Allerdings kann ich nun nicht länger so ausführlich bleiben wie bisher und muss also (noch) stärker verkürzen. [184] a) Gewiss war auch das römische Recht ursprünglich der Religion verhaftet und gewiss lag auch hier die Rechtsprechung – und erst recht die Gesetzgebung, soweit es sie gab – primär in den Händen von juristischen Laien. Aber es waren nicht mehr wie z. B. im Prozess gegen Sokrates hunderte, sondern es war grundsätzlich nur einer, der Recht sprach: vor allem der (so genannte) „Prätor“. Dieser war zwar in aller Regel auch kein Berufsjurist, sondern z. B. ein Politiker, aber hier waren immerhin die institutionellen Voraussetzungen für einen rationalen Diskurs gegeben, eben weil der Rechtssuchende es grundsätzlich mit einer Instanz zu tun hatte, die nur durch eine einzige Person repräsentiert wurde. Darin dürfte ein wesentlicher Grund dafür liegen, dass sich ein Stand von Rechtskundigen bilden konnte, die als „iuris consulti“ sowohl dem Richter als auch den rechtssuchenden
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Parteien mit professionellem – übrigens zunächst nahezu durchweg unentgeltlichem – Rat zur Seite stehen konnten. In dieser Professionalisierung der Jurisprudenz sehe ich ein weiteres zentrales Charakteristikum europäischer bzw. „westlicher“ Rechtskultur. Wo Recht und Religion untrennbar miteinander verbunden sind wie z. B. – jedenfalls der Grundidee nach – im Islam, kann es einen eigenständigen Stand von Juristen ohnehin von vornherein nicht geben, weil diese immer zugleich auch Religionsgelehrte zu sein haben. Aber auch weniger oder gar nicht religiös geprägten Rechtskulturen ist der professionelle Jurist grundsätzlich fremd. Sogar in Japan, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zuge seiner „Modernisierung“ in großem Umfang europäisches, vor allem französisches und deutsches Recht übernommen hat, ist es außerhalb der urbanen Zentren noch heute alles andere als selbstverständlich, dass man in einer Rechtsfrage einfach einen Rechtsanwalt beiziehen kann, versteht sich dieser dort doch anders als bei uns keineswegs immer als normaler „Dienstleister“. Und der „Rechtsstaatsdialog“ mit China leidet nach den Erfahrungen, die ich damit gemacht habe, u. a. massiv unter der Schwierigkeit, dass China über keine gefestigte Tradition in der Ausbildung von professionellen Juristen verfügt, wenngleich die Chinesen inzwischen natürlich deren Nützlichkeit in der heutigen globalisierten Welt bestens verstanden haben und intensiv mit dem Aufbau eines entsprechenden „Rechtsstabs“ beschäftigt sind. b) Mit dieser Professionalisierung der Jurisprudenz korrespondiert eine Argumentationskultur, die den Umgang mit dem Recht auf eine völlig neue Stufe der Rationalität gestellt hat und m. E. zu den bedeutendsten und erstaunlichsten Durchbrüchen menschlichen Denkens gehört. Dabei wird in der Fachliteratur auch für das römische Recht zutreffend immer wieder die Eigenständigkeit der Argumentationsfiguren gegenüber anderen normativen Ordnungen wie denen der Religion oder der Sozialmoral betont. So verdanken wir den Römern z. B. auch unsere grundlegenden Begriffe wie den des Rechtssubjekts oder den des Vertrages und damit [185] zugleich genau jene Kategorien, mit deren Hilfe wir ein so neuartiges Gebilde wie die Europäische Union zu verstehen versuchen. Und um nur ein einziges Beispiel für die inhaltliche Fruchtbarkeit römischen Rechtsdenkens zu geben: Wir haben bis heute noch keinen einzigen (Schuld)Vertragstypus gefunden, den die Römer nicht auch schon gekannt haben; auch „moderne“ Vertragstypen wie Factoring, Leasing und Franchising qualifizieren wir immer noch mit römischrechtlichen Begriffen. c) Allerdings beschränken sich die Großleistungen des römischen Rechts auf das Privatrecht, während dieses im Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie im Strafrecht – um insoweit der Einfachheit halber unsere heutigen Kategorien zu verwenden – nicht annähernd dieselbe Höhe erreicht hat. Gleichwohl liegt sogar darin mittelbar eine zukunftsweisende Perspektive. Nach ganz überwiegender und zutreffender Ansicht wird nämlich unser heutiges soziales Leben in einem so starken Maße gerade vom Privatrecht geprägt, dass es (zumindest in ganz wesent-
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lichen Teilen) als „Privatrechtsgesellschaft“ zu charakterisieren ist. Das muss zwar hier aus Zeit- bzw. Raumgründen bloße These bleiben, doch sei immerhin zweierlei hervorgehoben: Auch hierfür haben die Römer den Grund gelegt, indem sie das Recht in erster Linie vom Individuum her und als Beziehung zwischen Individuen dachten; und – mein Zentralthema ist mir nicht aus dem Blick geraten – die europäische Integration hat ihren Ausgang vom Prinzip der Wettbewerbsfreiheit zwischen Privatrechtssubjekten genommen und findet auch heute noch darin ihre wichtigste Grundlage, so dass ihr ebenfalls der Gedanke der „Privatrechtsgesellschaft“ zugrunde liegt. 4. Zum Glück Europas veranlasste der oströmische Kaiser Justinian Mitte des 6. Jahrhundert n. Chr. eine Zusammenfassung römischer Rechtsdokumente in einer Art von Kodifikation, dem so genannten „Corpus iuris Iustiniani“. Dieses wurde um die Mitte des 12. Jahrhunderts, als sich in West- und Mitteleuropa mit der „Scholastik“ eine Bewegung der Intellektualisierung ausbreitete, revitalisiert – und zwar ausgehend vor allem von einer Juristenschule in Bologna. Was hat das mit der Europäischen Union zu tun? In grober Verkürzung möchte ich sagen: zumindest dreierlei. Aus der Rezeption des „Corpus iuris“ ergab sich – in Verbindung mit dem kirchlichen Recht, wie es vor allem im „Corpus iuris Gratiani“ niedergelegt war – ein gemeinsames Recht für Kontinentaleuropa, das „ius commune“, das allerdings nur subsidiär – und auch das ist aus heutiger europarechtlicher Sicht von Bedeutung –, d. h. nachrangig nach den jeweiligen lokalen Rechten, galt; es existierte also in Europa einst eine gemeinsame, auf Tradition aufbauende Rechtsgrundlage (wobei umstritten ist, inwieweit diese auch England umfasste), und sogar deren Subsidiarität findet im Europarecht eine gewisse Parallele, weil die Rechtssetzungskompetenz der Europäischen Union grundsätzlich ebenfalls dem Subsidiaritätsprinzip unterliegt. Zweitens: Der Rechtsunterricht in Bo- [186] logna wurde vorbildlich für nahezu ganz Europa; es gab somit schon einmal das, was wir uns heute sehnlich wünschen: den europäischen „Einheitsjuristen“ mit einer umfassenden beruflichen Kompetenz, die von seiner nationalen Herkunft weitgehend unabhängig war. Drittens und vor allem: Noch wichtiger als die inhaltliche Rezeption des römischen Rechts war die damit verbundene Verwissenschaftlichung der Jurisprudenz, die vor allem darin zutage trat, dass diese nunmehr an den Universitäten betrieben wurde. Hier stehen wir somit vor einem weiteren zentralen Charakteristikum europäischen Rechtsdenkens: Die Professionalisierung der Jurisprudenz, die jetzt erneut mit Macht einsetzte,wird nunmehr zusätzlich unter den höchstmöglichen Anspruch von Rationalität und Objektivität gestellt: den der Wissenschaftlichkeit. Zwar bin ich weit entfernt davon, dem römischen Recht dieses Charakteristikum abzusprechen, doch ist andererseits schwerlich zu leugnen, dass erst das ius commune nach und nach einen Grad der Systematisierung erreichte, welcher dem Anspruch von Wissenschaft einigermaßen genügt. Wenn das altgriechische Recht ein „Recht ohne Juristen“ war, so war das römische Recht immerhin noch ein „Recht
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ohne Professoren“; ganz perfekt war es also trotz seines überragenden Ranges doch nicht! Zugleich erreicht mit der Verwissenschaftlichung der Jurisprudenz die Emanzipation und Eigenständigkeit des Rechts und des Rechtsdenkens gegenüber anderen Normordnungen und den ihnen entsprechenden Denkweisen ihre äußerste Konsequenz und ihr (potentiell) höchstes Entwicklungsstadium. Wieder handelt es sich dabei um eine Erscheinungsform spezifisch europäischen bzw. westlichen Denkens und seines Rationalismus. Denn zu dessen Essentialia gehört, dass die Wissenschaft (im heutigen Verständnis) als eigenständige, ja in Teilbereichen dominante Form des menschlichen Zugangs zur „Welt“ neben Mythos, Religion, Kunst usw. fungiert. Das spiegelt sich auch in der Verwissenschaftlichung der Jurisprudenz wider. Dabei wurde die Emanzipation des Rechts gegenüber der Religion seit dem Mittelalter zusätzlich gefördert durch den Dualismus von weltlicher und geistlicher Macht, wie er schon in dem Wort Jesu anklingt: ,,Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Math. 22, 21). 5. Das „ius commune“ wurde im 18. und 19. Jahrhundert ergänzt und teilweise abgelöst durch das „Vernunftrecht“ der Aufklärung und die darauf aufbauenden nationalen Gesetzeskodifikationen. Erst jetzt entwickelte Europa von Hobbes und Locke über Rousseau und Montesquieu bis zu Kant seine wirklich überragenden juristischen Errungenschaften: Repräsentative Demokratie, gewaltenteilende Rechtsstaatlichkeit und richterliche Unabhängigkeit, Menschen- und Bürgerrechte sowie Völkerrecht. Es versteht sich von selbst, dass ich das nur kurz in Erinnerung rufen, aber nicht näher ausführen kann und muss. [187] 6. Nimmt man alle diese Kriterien in einer Gesamtschau in den Blick, so ist es geradezu verblüffend, welche Fülle von spezifischen Charakteristika europäischen bzw. „westlichen“ Rechts und Rechtsdenkens sich ausmachen lässt. Die meisten davon finden sich in keinem einzigen der anderen großen Rechtskreise, in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenspiel kommen sie nirgendwo sonst vor. In der Tat liefern das Recht und das Rechtsdenken somit einen überaus wichtigen Beitrag zu dem, was die Identität Europas bzw. des „Westens“ ausmacht. III. Nach diesem Rückblick, der gewissermaßen unter Odo Marquards schönem Motto „Zukunft braucht Herkunft“ stand, lassen Sie mich nun näher darauf eingehen, was es bedeutet, dass die Europäische Union eine Gemeinschaft „des Rechts“ darstellt. Dabei werde ich die Thematik, dem heutigen Anlass entsprechend, weniger unter positivrechtlichen, d. h. vor allem verfassungs- und völker-
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rechtlichen, als vielmehr unter allgemein-rechtstheoretischen Aspekten behandeln. 1. Als erstes stellt sich die Frage, welchen Zusammenhang die Qualifizierung der Europäischen Union als einer Gemeinschaft „des Rechts“ überhaupt mit den soeben herausgearbeiteten spezifischen Charakteristika europäischen Rechts und Rechtsdenkens hat. a) Eine erste Teilantwort liegt darin, dass die Europäische Union in der Tat eine Gemeinschaft „des Rechts“ in einem überaus anspruchsvollen Sinn des Wortes ist, nämlich in dem Sinn, dass sie aus nichts als Recht besteht: Sie beruht lediglich auf Verträgen und verwirklicht sich allein durch Normen und andere Rechtsakte, ohne dass dem irgendein materielles Substrat jenseits dessen, was ihre Mitgliedstaaten beitragen, zugrunde liegt. Insbesondere ist sie also nicht durch einen Akt physischer Gewalt wie z. B. eine Revolution zustande gekommen und verfügt auch nicht über eigene physische Zwangsmittel nach außen oder innen, also weder über Militär noch über Polizei, Gerichtsvollzieher oder dergleichen. Das mag trivial klingen, ist aber in Wahrheit sensationell. Denn eine solche Entität, die weit über den altbekannten bloßen Staatenbund hinausgeht, stellt ein völlig neuartiges Gebilde dar, das weltgeschichtlich nicht seinesgleichen hat, andererseits aber mittel- und langfristig gesehen wegen des Auseinanderfallens von rechtlicher und physischer Potenz sowie der extrem komplexen Verflechtung der Kompetenzen hochriskant ist. Hierauf können sich nur Völker und Staaten einlassen, für die „Recht“ eine so fundamentale Rolle spielt wie für Europa. b) Zugleich erweist sich hier die von mir an den Anfang gestellte Eigenständigkeit des Rechts gegenüber anderen Normenordnungen wie Religion, Sozialmoral oder dergleichen und seine spezifische Rationalität einmal mehr als schlechterdings konstitutiv. Nur in der daraus resultierenden Neutralität finden nämlich Völker, Nationen und [188] Staaten von so unterschiedlicher Geschichte, Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft usw. eine einigermaßen tragfähige Grundlage für einen Zusammenschluss, der eine immer mehr zunehmende Integration zum Ziel hat. In dieselbe Richtung weist die ebenfalls eingangs herausgearbeitete Mediatisierung materialer Gerechtigkeitsvorstellungen durch den Gedanken rechtsstaatlicher Verfahrensgerechtigkeit; die Konsensfindung durch Verfahren stellt geradezu ein Lebenselixier der Europäischen Union dar. Kaum braucht man hinzuzufügen, dass ein so komplexes Rechtsgebilde sich nur auf der Grundlage höchster juristischer Professionalität entwickeln und einigermaßen verlässlich steuern lässt. Demgemäß stellt die Europäische Union nicht nur ein Produkt der politischen Eliten, sondern auch der Juristen dar – was freilich ihrer Akzeptanz bei den Völkern der Mitgliedstaaten eher abträglich sein dürfte. 2. a) Diese Gesichtspunkte basieren unmittelbar auf den historischen Gründen, in welchen die Europäische Union wurzelt. Geschaffen worden sind deren Vorgängerorganisationen nämlich zweifellos zum Zweck der Sicherung des Friedens
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zwischen den europäischen Staaten. Wie am Anfang europäischen Rechtsdenkens die Überwindung von Rache durch ein Verfahren des Rechts gestanden hatte – um den Grundgedanken der „Eumeniden“ des Aischylos in Erinnerung zu rufen –, so stand auch am Anfang der europäischen Integration bekanntlich das Bemühen um eine Institution, welche Kriege zwischen europäischen Staaten durch die Einbindung in eine gemeinsame Organisation des Rechts von vornherein verhindern sollte. Das hat sinnfälligen Ausdruck in der Montanunion gefunden, deren Ziel u. a. darin bestand, die Rüstungsindustrien Deutschlands und Frankreichs zu vergemeinschaften und so die Möglichkeit eines neuen Krieges zwischen diesen Ländern im Keim zu ersticken. Dieser Gedanke der Friedenssicherung wirkt entgegen manchen Stimmen auch nach der „Osterweiterung“ fort. Für diese war es nämlich essentiell, die Bundesrepublik Deutschland, die durch den Beitritt der ehemaligen DDR wesentlich bevölkerungsreicher und, wie man seinerzeit glaubte, wirtschaftlich potenter geworden war, durch die Einbindung in einen größeren Verbund von Staaten einzuhegen und zu „zähmen“. Auch war allen betroffenen Staaten die Erwartung gemeinsam, sich der Gefährdung durch einen Hegemon – in diesem Fall Russland – durch einen Zusammenschluss und die damit verbundene Bündelung der Kräfte besser widersetzen zu können. b) Als Mittel zur Sicherung des Friedens fungiert dabei die Handelsfreiheit. Das entspricht insbesondere dem Gedanken Kants aus seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“, dass Staaten, die durch Handel miteinander verflochten sind, schon aus purem Eigennutz keinen Krieg gegeneinander führen würden, weil sie sich bzw. ihre Bürger dadurch zwangsläufig schwer schädigen würden. [189] Demgemäß dürfen die vier berühmten Grundfreiheiten der Europäischen Verträge – die Freiheit des Warenverkehrs, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Freiheit der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs sowie die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs – auch heute nicht als bloßer Selbstzweck, sondern müssen immer auch als Mittel der Friedenssicherung verstanden werden. Wie aktuell diese Funktion ist, erleben wir im Zeichen der Finanzmarktkrise, können doch „Kriege“ nicht nur mit militärischen, sondern auch mit ökonomischen Mitteln geführt werden, wogegen die spezifisch rechtlichen Vorkehrungen der Europäischen Verträge einen wirksamen Wall aufrichten. Zugleich zeigt sich an den Grundfreiheiten und an der starken Betonung der Wettbewerbsfreiheit, die den Europäischen Verträgen seit jeher zugrunde gelegen hat, dass auch die Europäische Union trotz ihres Charakters als Verbindung von Staaten im Kern von den Bürgern her gedacht und also, wenngleich wohl eher unreflektiert, vom Modell der „Privatrechtsgesellschaft“ inspiriert ist. c) Im Übrigen sehe ich im historischen Rückblick eine zwar vielleicht etwas gewagte, aber gleichwohl aufschlussreiche Verbindung zum Westfälischen Frieden von 1648. Damals überwand Kontinentaleuropa – und wenig später auf ähnliche Weise auch Großbritannien – die Geißel der Religionskriege, indem es einerseits
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im Inneren der Staaten durch klare Rechtsregeln Ruhe schuf, andererseits aber den Preis zahlte, dass durch die Prinzipien der Souveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten das Verhältnis zwischen diesen ungeregelt blieb. Religiös bedingten Kriegen war somit zwar vorgebeugt, die Furie nationalistischer Kriege konnte aber umso ungehemmter toben. 3. Da ich die Neuartigkeit der Europäischen Union als Rechtsgebilde scharf betont habe, stellt sich nun die Frage, wie diese begrifflich zu qualifizieren ist. Handelt es sich um einen Staatenbund, einen Bundesstaat oder worum sonst? Juristen pflegen dies als die Frage nach der „Rechtsnatur“ der Europäischen Union zu formulieren. Diese ist m. E. keineswegs von vordergründig-begrifflicher Art, sondern von fundamentaler Bedeutung, weil in derartigen Kategorien sowohl elementare rechtliche Wertungen als auch eine Fülle hoher juristischer Intelligenz kondensiert sind. a) Ein bloßer Staatenbund wie z. B. die NATO oder eine Internationale Einrichtung wie z. B. die UNO ist die Europäische Union mit Sicherheit nicht. Zur Begründung genügt der Hinweis auf ihre besondere Rechtssetzungskompetenz. Sie hat nämlich, ebenso wie ihre Vorgänger, die Befugnis, in der Form der „Verordnung“ Rechtsnormen zu erlassen, [190] welche sowohl ihre Mitgliedstaaten als auch deren Bürger unmittelbar binden.1 Darin liegt eine spezifisch hoheitliche, also eigentlich staatliche Kompetenz. Mit Recht hat der Europäische Gerichtshof darüber hinaus entschieden, dass auch die „Verträge“ und damit vor allem die in diesen enthaltenen vier Grundfreiheiten für die Mitgliedstaaten und deren Bürger unmittelbar geltendes Recht darstellen. Das hat zwar seinerzeit viel Aufregung verursacht, scheint mir aber letztlich ziemlich unproblematisch zu sein. Denn wenn die Gemeinschaft sogar auf der Ebene des so genannten Sekundärrechts, d. h. der Verordnungen, unmittelbar bindende Rechtswirkungen setzen kann, dann muss das erst recht auf der Ebene des Primärrechts, also der „Verträge“ gelten. Desgleichen hat der Europäische Gerichtshof zutreffend entschieden, dass das Recht der Gemeinschaft – sei es Primärrecht, also aus den Verträgen selbst hervorgehendes Recht, oder Sekundärrecht, also auf der Grundlage der Verträge gesetztes Recht – grundsätzlich Vorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten hat. Auch das folgt letztlich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit aus der Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft, da diese leer liefe, wenn die Mitgliedstaaten einfach abweichende Normen erlassen könnten.
1 Das ergibt sich heute aus Art. 288 Abs. 1 und 2 des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ in der Fassung von Lissabon. Die Regelung lautet: „(1) Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an. (2) Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.“
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b) Andererseits ist ebenso sicher, dass die Europäische Union kein Bundesstaat wie z. B. die Bundesrepublik Deutschland oder die USA ist. Darüber besteht im Ergebnis allgemeine Einigkeit, doch ist die Begründung umstritten. Nach meiner Ansicht ist sie indessen leicht zu geben. Es genügt der Hinweis, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union unzweifelhaft und unbestrittenermaßen rechtswirksam beschließen könnten, die Europäische Union aufzulösen oder einen Mitgliedstaat (mit dessen Einverständnis) aus dieser zu entlassen. Die Mitgliedstaaten sind und bleiben also in diesem Sinne – um eine oft gebrauchte und in der Tat zentrale – Formulierung zu verwenden, die „Herren der Verträge“. Würden demgegenüber, um im Beispiel zu bleiben, alle Länder der Bundesrepublik oder alle Staaten der USA deren Auflösung beschließen, so würde das jedenfalls so lange für die Herbeiführung einer entsprechenden Rechtsfolge keinesfalls ausreichen, als nicht die Zustimmung der jeweiligen Zentralgewalt hinzukäme – von der hier m. E. unerlässlichen Mitwirkung des Volkssouveräns ganz abgesehen. Lassen Sie mich hilfsweise zwei weitere plastische Argumente hinzufügen. Die Europäische Union ist unbestrittenermaßen nicht befugt, ihre Mitgliedstaaten nach außen mit verdrängender Wirkung zu vertreten und also z. B. deren Stimme in der UNO abzugeben. Außer- [191] dem kann jeder Mitgliedstaat aus der Europäischen Union austreten, was in Art. 50 des Vertrags von Lissabon ausdrücklich festgeschrieben ist. Beides ist mit der Konstruktion eines Bundesstaates unvereinbar, sofern man diesen Begriff nicht seines tradierten Sinnes gänzlich berauben will. c) Welche Rechtsnatur hat die Europäische Union also dann? Da sie weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat ist, nennt das Bundesverfassungsgericht sie einen Staatenverbund. Dieser Ausdruck hat mehrere Vorzüge: Er hält die Mitte zwischen den beiden anderen Begriffen, ist von eleganter Unklarheit und weist damit eine hohe inhaltiche Anreicherungsfähigkeit auf, und erinnert überdies sprachlich stark an Kants Begriff der „Staatenverbindung“, den dieser in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ verwendet. Statt dessen kann man die Europäische Union auch als Rechtsgebilde sui generis bezeichnen. Im Unterschied zu vielen anderen Fällen stellt das hier keine bloße Verlegenheitskategorie dar, da darin gut die Erstmaligkeit und völlige Neuartigkeit dieses Zusammenschlusses von Staaten zum Ausdruck kommt. Zur Lösung der rechtlichen Probleme, die sich aus der Zwischenstellung der Europäischen Union zwischen Staatenbund und Bundesstaat ergeben, ist diese begriffliche Qualifizierung freilich nicht geeignet. Die drei wichtigsten greife ich auf. 4. Die erste Frage, die in diesen Zusammenhang gehört, ist die nach dem Rang- und Anwendungsverhältnis zwischen europäischen und nationalen Normen. Bei einem bloßen Staatenbund stellt sie sich von vornherein nicht, da ein solcher ex praemissione keine Kompetenz zur Normsetzung gegenüber den Mitgliedstaaten oder gar deren Angehörigen hat. Umgekehrt erscheint es bei einem Bundesstaat als ein
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Gebot sowohl der Effizienz wie auch der Normlogik, dass die bundesstaatliche Norm grundsätzlich Vorrang vor der einzelstaatlichen Norm hat, wie das etwa der Regel von Art. 31 des Grundgesetzes „Bundesrecht bricht Landesrecht“ entspricht. Bei der Mischform des Staatenverbundes ist die Lösung dieser Problematik ungleich schwieriger. Sie hat zwei Seiten. a) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die heute insoweit allgemeine Akzeptanz findet, kommt europarechtlichen Normen grundsätzlich (Anwendungs)Vorrang vor den Normen der Mitgliedstaaten zu, so dass die Rechtslage im Ergebnis insoweit ganz ähnlich ist wie in einem Bundesstaat. Auf die Stellung der betreffenden Norm in der jeweiligen Normenhierarchie kommt es dabei nicht an. Demgemäß hat z. B. eine bloße „Verordnung“ der Europäischen Union, also eine Norm des europäischen „Sekundärrechts“, Vorrang sogar vor einer Norm des nationalen Verfassungsrechts. Rechtsquellentheoretisch legitimiert sich dieses – auf den ersten Blick vielleicht gewöhnungsbedürftige – Ergebnis daraus, dass der Gemeinschaft von den Mitgliedstaaten in den „Verträgen“ entspre- [192] chende Hoheitsrechte übertragen werden; in Art. 23 Absatz i Satz 2 des Grundgesetzes wird das ausdrücklich ausgesprochen. Räumen die Mitgliedstaaten also der Gemeinschaft eine Kompetenz zur Normsetzung ein, dann liegt darin die Übertragung eines Teils ihrer Hoheitsgewalt, so dass es nur folgerichtig ist, wenn sie diese Kompetenz in Zukunft nicht mehr mit kollidierender Wirkung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht ausüben können und dieses insoweit in der Tat Vorrang hat. b) Umgekehrt ist es freilich rechtsquellentheoretisch ebenso folgerichtig – und das ist die andere Seite der Problematik –, dass dieser Vorrang grundsätzlich nur eingreift, wenn und soweit der Gemeinschaft wirklich die von dieser in Anspruch genommene Normsetzungskompetenz übertragen worden ist. Das aber geschieht durch das jeweilige nationale Zustimmungsgesetz zu dem betreffenden Vertrag – und dieses unterliegt, eben weil es ein nationales Gesetz ist, in Deutschland der Kontrolle auf seine Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Rechtslage somit grundlegend von derjenigen in einem Bundesstaat. Für die – höchst kontroverse – Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof bedeutet das, dass bei Divergenzen ersterem grundsätzlich die Letztentscheidungsbefugnis zukommt, wie das auch seinem Selbstverständnis und seiner Rechtsprechung entspricht. Rechtsquellentheoretisch folgt das wieder daraus, dass die Kompetenzen der Europäischen Union im Wege der vertraglichen Übertragung von ihren Mitgliedsstaaten abgeleitet, also lediglich derivativ und nicht originär sind. Für die Europäische Union gilt also der Satz Wotans aus Richard Wagners „Walküre“: „Der durch Verträge ich Herr, den Verträgen bin ich nun Knecht.“ Im Übrigen kann die Europäische Union auch aus demokratietheoretischen Gründen gar keine
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originären Kompetenzen haben, weil es kein gesamteuropäisches Staatsvolk und damit keinen entsprechenden Volkssouverän gibt. 5. Damit habe ich schon das zweite Großproblem berührt, das in den vorliegenden Zusammenhang gehört: die Frage nach der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrem oft beklagten Demokratiedefizit. Zu unterscheiden sind dabei zwei unterschiedliche Legitimationsketten. Beide haben gemeinsam, dass sie von den Wahlvölkern der Mitgliedstaaten ausgehen. a) Die erste Kette setzt in Deutschland am Deutschen Bundestag an, der dem/der Bundeskanzlerin durch dessen Wahl und damit mittelbar auch den von diesem/dieser vorgeschlagenen Bundesministerinnen demokratische Legitimation vermittelt. Der/die Bundeskanzlerin ist kraft Amtes Mitglied des Europäischen Rates, die Bundesminister/Innen sind Mitglieder des (Minister)Rates. Beide Organe werden zusammen mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig; der Europäische Rat schlägt überdies dem Europäischen Parlament den [193] Präsidenten der Europäischen Kommission vor, die das Exekutivorgan der Europäischen Union darstellt. Es liegt auf der Hand, dass diese Legitimationskette verhältnismäßig schwach ist. Das gilt schon deshalb, weil sie mehrfach vermittelt ist und überdies auf eine Wahl zurückgeht, die auf die Bestimmung eines nationalen Organs – des Deutschen Bundestags – und die Beeinflussung nationaler Politik, nicht aber auf europäische Zielsetzungen gerichtet ist. Außerdem sind im Europäischen Rat und im (Minister) Rat alle Mitgliedstaaten mit prinzipiell gleichem Stimmgewicht vertreten, was trotz der Abschwächung dieses Grundsatzes durch das Prinzip der „doppelten Mehrheit“ nach Art. 16 Absatz 4 des Vertrags von Lissabon dem Gebot der Gleichheit aller Wahlbürger widerspricht. Schließlich irritiert sowohl unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten als auch im Hinblick auf das Prinzip der Gewaltenteilung, dass der Europäische Rat und der (Minister)Rat aus Mitgliedern der (nationalen) Exekutive zusammengesetzt sind, obwohl sie ein Organ der Gesetzgebung darstellen. Der tiefere rechtsquellentheoretische Grund für diese ungewöhnliche Konstruktion liegt wiederum darin, dass die Europäische Union ihre rechtliche Grundlage lediglich aus Verträgen mit ihren Mitgliedstaaten erlangt und also in diesen ihre Träger hat, was sich folgerichtig auch in der Zusammensetzung ihrer Organe widerspiegelt. b) Die zweite Legitimationskette läuft unmittelbar vom Wahlvolk zum Europäischen Parlament. Auch durch diese wird jedoch das Demokratiedefizit keineswegs vollständig behoben. Das folgt schon daraus, dass (auch) diese Wahl getrennt nach Nationen und nicht durch ein europäisches Staatsvolk – das es nicht gibt – erfolgt. Vor allem aber ist den einzelnen Nationen im Parlament jeweils eine bestimmte Anzahl von Sitzen zugeteilt, die nicht unmittelbar mit der Zahl der Einwohner korreliert, sondern den „kleinen“ Staaten relativ gesehen wesentlich mehr Abgeordnete zuspricht als den „großen“; demgemäß kann das Gewicht der Stimme des Angehörigen eines bevölkerungsschwachen Mitgliedstaats wie
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z. B. Luxemburg oder Malta etwa das Zehn- oder Zwölffache des Gewichts der Stimme des Angehörigen eines bevölkerungsstarken Mitgliedstaats wie z. B. Deutschland oder Frankreich haben. Das verstößt gegen das demokratische Gebot der Gleichheit der Wahlbürger,2 wonach jede Stimme grundsätzlich eine gleich große Einflusschance haben soll. [194] Dieses Defizit ist entgegen vielen – sich meist europaenthusiastisch gebenden – Äußerungen nicht behebbar. Ein entsprechender Versuch wäre wohl schon aus praktischen Gründen zum Scheitern verurteilt; denn die Zahl der Abgeordneten würde zu einer unpraktikablen Größenordnung anschwellen, wenn man diese exakt nach der Bevölkerungszahl bemessen und dabei nicht die – gänzlich inakzeptable – Konsequenz in Kauf nehmen würde, dass manche Länder wie z. B. Luxemburg nicht einmal einen einzigen Abgeordneten erhielten. Vor allem aber wäre ein rigoroser Stimmrechtsegalitarismus unvereinbar mit einer der Grundintentionen der europäischen Integration, nach der die „kleinen“ Staaten in einem „gemeinsamen“ Europa auch einen gewissen Schutz vor der Übermacht der „großen“ finden und ihre Eigenständigkeit nicht de facto einbüßen sollen. Dass sie immerhin noch im Europäischen Rat und im (Minister)Rat repräsentiert blieben, genügt hierfür m. E. nicht, da diesen demokratietheoretisch lediglich die Funktion einer „Zweiten Kammer“ (wie dem deutschen Bundesrat oder dem USamerikanischen Senat) zukommt. Somit kollidiert hier das Demokratieprinzip („one man, one vote“) mit dem Prinzip des europäischen Föderalismus („ein Staat, eine Stimme“), so dass ersteres um des letzteren willen eine Einschränkung hinnehmen muss. Ändern ließe sich diese Konsequenz allenfalls dann, wenn es zur Umgründung der Europäischen Union in einen echten Bundesstaat käme. c) Eine gewisse zusätzliche Legitimation erhält die Europäische Union durch das in Art. 50 des Vertrags von Lissabon ausdrücklich anerkannte Recht der Mitgliedstaaten zu einem (einseitig vollziehbaren) Austritt. Dadurch haben diese also immerhin eine Exit-Option; auch hat schon Sokrates in Platons Dialog „Kriton“ seine Pflicht zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen und dem auf deren Grundlage ergangenen (auch von ihm selbst als ungerecht angesehenen) Todesurteil u. a. damit begründet, dass er ja die Möglichkeit zur Auswanderung aus Athen gehabt habe. Natürlich ist das in der Austrittsmöglichkeit liegende Element demokratischer Legitimation besonders schwach, doch sollte man es nicht gänzlich vernachlässigen; immerhin könnte ja z. B. eine Partei einen (nationalen) Wahlkampf 2 Darin liegt ein Kerngedanke des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 30.6.2009 (2 BvE 2/08) zum Vertrag von Lissabon, vgl. Rn. 279–297. Dieses ist z. B. in NJW (= Neue Juristische Wochenschrift) 2009, 2267 ff. abgedruckt und im Internet abrufbar unter www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html. Das Urteil ist unglücklicherund unerwarteter Weise erst ergangen, nachdem der vorliegende Vortrag gehalten worden war. Es ist in dessen schriftlicher Fassung durch gewisse Modfikationen und Ergänzungen berücksichtigt, ohne dass jedoch an der inhaltlichen Substanz Wesentliches geändert worden ist.
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mit dem Versprechen führen, sie werde bei einem Obsiegen den Austritt des betreffenden Staates aus der Europäischen Union herbeiführen (wobei das deutsche Grundgesetz dieser Möglichkeit freilich enge Grenzen setzt). d) Das Demokratiedefizit der Union ist vor allem deshalb misslich, weil es dazu führt, dass deren Entscheidungen fast nie bestimmten politischen Parteien, Politikern oder Funktionsträgern zugeordnet und daher auch nicht bei Wahlen sanktioniert werden können. Darin liegt ein wesentlicher Grund für die verbreitete Klage über die Intransparenz und Bürgerferne der Union. Andererseits folgt aus deren Demokratiedefizit aber in keiner Weise, dass es ihr an der erforderlichen demokratischen Legitimation fehlt. Das liegt wiederum daran, dass sie [195] eben kein (Bundes)Staat, sondern lediglich ein Verbund von Staaten ist. Denn da dessen Kompetenzen nicht umfassend sind und überdies auf einer Übertragung durch die Mitgliedstaaten beruhen, die ihrerseits dem Demokratieprinzip voll genügen, sind folgerichtig an die demokratische Legitimation der Europäischen Union entsprechend verminderte Anforderungen zu stellen. Dass sie diesen nicht hinreichend entspricht, lässt sich angesichts der ja immerhin vorhandenen und keineswegs geringfügigen Elemente demokratischer Legitimation nicht überzeugend begründen. 6. Daraus ergibt sich freilich das nächste Großproblem – und dieses ist praktisch sowohl das schwierigste als auch das bei weitem wichtigste. Es besteht darin, dass die Europäische Union sich in ihrer derzeitigen Struktur nicht zu einem Bundesstaat entwickeln darf. Das folgt nicht nur daraus, dass ihr die dafür erforderliche volle demokratische Legitimation fehlt, sondern auch daraus, dass ihre Mitgliedstaaten dadurch ihre rechtliche Selbständigkeit und damit ihre Identität verlören. Eine solch grundstürzende Veränderung aber wäre nicht ohne Mitwirkung des Volkssouveräns, also nicht allein durch eine Entscheidung der nationalen Parlamente, sondern nur auf der Grundlage einer Volksabstimmung möglich.3 Rechtsquellentheoretisch entspricht das dem rechtstheoretisch unmittelbar einleuchtenden (und im Privatrecht in der Tat allgemein anerkannten und praktizierten) Grundsatz, dass ein bloßer „Repräsentant“ – und ein solcher ist das Parlament – nicht die Befugnis hat, das Fundament seiner Repräsentationsaufgabe zu zerstören und damit seinen „Prinzipal“ gewissermaßen zu entmündigen, ja seiner rechtlichen Existenz zu berauben. Nun besteht das eigentliche Problem natürlich nicht darin, dass eine Umwandlung der Europäischen Union in einen Bundesstaat offen, also durch eine Vertragsänderung, die explizit hierauf gerichtet ist, angestrebt werden könnte, da dafür auf unabsehbare Zeit keine politische Verwirklichungschance in Sicht ist. Vielmehr liegt die Gefahr darin, dass die – unzulässige! – Umwandlung sich nach 3 Zu diesem Ergebnis gelangte auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon (Fn. 2), wenngleich auf einem anderen, primär am geltenden deutschen Verfassungsrecht orientierten Weg, vgl. unter Rn. 179 der Begründung.
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und nach schleichend entwickelt. Wie das verhindert werden kann, ist eine äußerst intrikate Frage. Dass sich ein wirklich überzeugungskräftiger Katalog von Rechtsmaterien aufstellen lässt, die strikt den Mitgliedstaaten vorbehalten und also einer Vergemeinschaftung von vornherein entzogen sind,4 halte ich für äußerst zweifelhaft. Größeren Erfolg scheint mir insoweit vielmehr eine Vitalisierung des Subsidiaritätsprinzips zu versprechen, nach welchem die Union, wie es in Art. 5 Absatz 3 des [196] Vertrags von Lissabon heißt, grundsätzlich „nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler noch auf lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“. Hierauf näher einzugehen, würde nun freilich in Tiefen und Untiefen des Europarechts führen, in die einzutauchen den Rahmen eines Festvortrags bei weitem sprengen würde. IV. Die Unklarheiten über die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der Union sowie über die Voraussetzungen und Grenzen ihrer Übertragbarkeit stellen neben den misslichen Konsequenzen des Demokratiedefizits eine gefährliche Achillesferse der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts dar. Vor allem hieran liegt es nämlich, dass ihre Akzeptanz bei den Bürgern schwach ist und offenbar immer schwächer wird. Ohne hinreichende (faktische) Anerkennung kann aber auf Dauer kein staatliches oder überstaatliches Gemeinwesen existieren, weil ihm dann die erforderliche Legitimität fehlt. Andererseits liegt in diesen Schwächen lediglich die im Ansatz – nicht allerdings in den Einzelheiten der konkreten Ausgestaltung – unvermeidliche Kehrseite einer so singulären und zugleich zukunftsträchtigen rechtlichen Innovation wie der einer Staatenverbindung nach Art der Europäischen Union. Erstmals in der Geschichte hat sich in dieser ein Gebilde entwickelt, das dem nahe kommt, welches Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795 vorschwebte: eine „föderative Vereinigung“ oder „Verbindung“ demokratischer Rechtsstaaten – Kant spricht statt dessen von „Republiken“ –, keineswegs „Staaten von Engeln“ darstellen, sondern vielmehr durch „wechselseitigen Eigennutz“ und den „Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann“ miteinander verbunden sind. Bei allen ärgerlichen Unvollkommenheiten, welche die Europäische Union in ihrem heutigen Zustand aufweist, ist es daher ein Ziel von wohl gerade4 Einen solchen Ansatz hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon (Fn. 2) zu entwickeln versucht, vgl. unter Rn. 249–260 der Gründe.
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zu welthistorischer Bedeutung, mit aller Kraft zu ihrer Stabilisierung und Verbesserung beizutragen und, um noch einmal Kant zu zitieren, eine „Pflicht, zu diesem ... Zwecke hinzuarbeiten“.
Grundrechte und Privatrecht
Grundrechte und Privatrecht – eine Zwischenbilanz – SCHRIFTENREIHE DER JURISTISCHEN GESELLSCHAFT ZU BERLIN, HEFT 159, 1999, S. 5–7, 9–98 Übersicht* I. II.
III.
Einleitung .............................................................................................................. 9 1. Die Aktualität der Problematik .................................................................... 9 2. Die Internationalität der Problematik .......................................................10 Die Einwirkung der Grundrechte auf die Gesetze des Privatrechts ...........11 1. Die Geltung von Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG für die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Privatrechts .......................11 a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 3 GG .........11 b) Eingriffe in Grundrechte durch Normen des Privatrechts..............12 c) Das Zusatzargument aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG .......................14 d) Der Gedanke der Normenhierarchie ..................................................15 2. Die „Unmittelbarkeit“ der Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte und ihre Geltung als Eingriffsverbote und Schutzgebote ........................................................................................16 a) Ablehnung einer nur „mittelbaren“ Geltung der Grundrechte für die Gesetze des Privatrechts ..............................................16 b) Ablehnung einer Beschränkung der Grundrechtsgeltung auf bestimmte Funktionen und die Problematik grundrechtsprägender Privatrechtsnormen ............................................................19 c) Zwischenergebnis ..................................................................................21 3. Modifikationen der Wirkungen der Grundrechte ...................................22 Die Einwirkung der Grundrechte auf die Anwendung und Fortbildung des Privatrechts ..................................................................................................23 1. Die Geltung von Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG für die Rechtsprechung auf dem Gebiete des Privatrechts ............23 a) Art. 1 Abs. 3 GG als Ausgangspunkt .................................................24
* Anm. d. Hrsg.: Die Übersicht wurde aus dem Original übernommen, die Seitenzahlen beziehen sich folglich auf das Original.
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IV.
V.
Grundrechte und Privatrecht
b) Das Argument aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG ..................................25 c) Die als Norm gedachte ratio decidendi als Gegenstand der Grundrechtsbindung und -kontrolle...................................................26 2. Versuch einer „kritischen Rekonstruktion“ des Lüth-Urteils ................27 a) Die Notwendigkeit einer strikten Trennung zwi- [6] schen „Ausstrahlungswirkung“ und „Superrevisionsproblematik“ ...........27 b) Die Ersetzung der „Ausstrahlungswirkung“ durch den Rückgriff auf die Eingriffsverbots- und die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte ....................................................................30 c) Praktische Unterschiede .......................................................................32 Die Einwirkung der Grundrechte auf das Verhalten der Privatrechtssubjekte .....................................................................................................33 1. Die Unterscheidung nach dem Normadressaten der Grundrechte: unmittelbare und mittelbare „Drittwirkung“ ..............................34 a) Ablehnung der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ ........34 b) Die Unterscheidung zwischen „unmittelbarer Drittwirkung“ und „unmittelbarer Geltung“ der Grundrechte ................................35 2. Die Unterscheidung nach dem Gegenstand der Prüfung an den Grundrechten: Akte des Staates und Akte von Privatrechtssubjekten .......................................................................................................36 3. Die Unterscheidung nach der Funktion der Grundrechte: Eingriffsverbote und Schutzgebote ...........................................................37 a) Möglichkeiten und Grenzen des „Eingriffsdenkens“ und seine Ergänzung durch die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte .......37 b) Die argumentative und dogmatische Eigenständigkeit der Schutzgebots- gegenüber der Eingriffsverbotsfunktion, demonstriert an der „Umkehrung“ des Lüth-Falles .........................39 c) Die schwächere Wirkung von Schutzgebotsfunktion und Untermaßverbot ....................................................................................43 d) Einwände: Austauschbarkeit der Grundrechtsfunktionen und Asymmetrie des Grundrechtsschutzes .......................................45 e) Die Geltung der Schutzgebotsfunktion auch gegenüber der Selbstbindung durch Verträge .............................................................47 Einige praktische Konsequenzen .....................................................................51 1. Privatrechtliche Normen und grundrechtliche Eingriffsverbote: zur Frage einer schadensersatzrechtlichen Reduktionsklausel ...............51 2. Gerichtsentscheidungen und grundrechtliche Eingriffsverbote: der Einfluß des Lüth-Urteils auf die Photokina-Entscheidung des BGH .......................................................................................................53
[7] 3. Schutzgebotsfunktion und Untermaßverbot am Beispiel von Art. 5 Abs. 1 GG .........................................................................................55
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VI.
VII. [9]
643
a) Das Fehlen eines Schutzgebots: die Wahlplakat-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ............................................................55 b) Das Bestehen eines Schutzgebots: die Blinkfüer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ............................................................56 c) Schutzgebotsfunktion und einzelfallbezogene Abwägung in zweistufiger Argumentation: die Parabolantennen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts .........................................60 4. Kollidierende Grundrechte und die Weite des Spielraums bei der Konkretisierung von Schutzgeboten am Beispiel des Grundrechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung ............................62 a) Zum Verhältnis von Verfassung und einfachem Recht: der Anspruch eines nichtehelichen Kindes gegen seine Mutter auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters ...............62 b) Zum Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung: die Problematik eines Anspruchs des Kindes auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters bei heterologer Insemination ..........................................................................................65 Ansätze zu einer dogmatischen Präzisierung der Schutzgebotsfunktion und des Untermaßverbots im Privatrecht.......................................................71 1. Die Unterscheidung zwischen dem „Ob“ und dem „Wie“ des Schutzes ........................................................................................................71 2. Voraussetzungen für die Annahme eines Schutzgebots .........................72 a) Die tatbestandliche Einschlägigkeit eines Grundrechts ...................72 b) Das Schutzbedürfnis und seine Indikatoren: Rechtswidrigkeit, Gefährdung, Angewiesenheit...............................................................74 c) Das „bewegliche Zusammenspiel“ der Kriterien ..............................78 3. Schutzgebotsfunktion und einfaches Recht ............................................80 a) Die Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion mit Hilfe des einfachen Rechts....................................................................................81 b) Der Spielraum des einfachen Gesetzgebers zwischen Überund Untermaßverbot und die eigenständige Bedeutung des Untermaßverbots bei der Verwirklichung einer Schutzpflicht ..........................................................................................83 c) Die Bedeutung der Gesetzesvorbehalte im Rahmen der Schutzgebotsfunktion ...........................................................................88 Zusammenfassung .............................................................................................91
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Grundrechte und Privatrecht
I. Einleitung 1. Die Aktualität der Problematik Als ich vor 15 Jahren auf der Tagung der Zivilrechtslehrervereinigung in Aachen einen Vortrag über das Thema „Grundrechte und Privatrecht“ ankündigte1, wurde ich von manchen Kollegen irritiert gefragt, warum ich mir ausgerechnet diesen Gegenstand ausgewählt hätte; die wissenschaftliche Diskussion darüber sei doch wohl endgültig abgeschlossen. Seither hat sich die Lage grundlegend geändert: Die Problematik ist nachgerade in aller Munde. Dafür hat u. a. eine Reihe spektakulärer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gesorgt; ich nenne einstweilen nur den Handelsvertreterbeschluß aus dem Jahre 1990, in dem das Bundesverfassungsgericht § 90 a Abs. 2 S. 2 HGB wegen Verstoßes gegen Art. 12 GG für verfassungswidrig erklärt hat2, und den Bürgschaftsbeschluß aus dem Jahre 1993, durch den das Bundesverfassungsgericht die rigide Rechtsprechung des BGH zu Bürgschaften von vermögens- und einkommensschwachen Angehörigen des Hauptschuldners korrigiert hat3. In der Wissenschaft ist es zu einer wahren Publikationsflut gekommen; so haben sich z. B. allein drei der Hauptreferate auf der Zivilrechtslehrertagung in den letzten Jahren mit dieser Thematik befaßt4. Repräsentativ für die Bedeutung, die diesem Fragenkreis derzeit zugemessen wird, dürfte eine Bemerkung sein, die unlängst Fezer gemacht hat: Die – so sagt er – „Gretchenfrage an jeden Juristen: Wie hältst Du es mit dem Verhältnis der Verfassung zum Privatrecht?“ stelle geradezu eine „Jahrhundertproblematik“ dar5. Im Verlauf der Diskussion haben sich inzwischen eine solche Fülle von Anschauungsmaterial und ein so großer Vorrat von Denk- und Ar- [10] gumentationsmustern angesammelt, daß es mir an der Zeit zu sein scheint, den Versuch einer Bilanzierung zu wagen. Bei einer „Jahrhundertproblematik“ kann das freilich naturgemäß nur eine Zwischenbilanz sein, und so habe ich sehr bewußt diese Charakterisierung in den Titel meines Vortrags aufgenommen.
AcP 184 (1984) 202. BVerfGE 81, 242, 252 ff. = AP Nr. 65 zu Art. 12 GG mit Anm. von Canaris. 3 BVerfGE 89, 214, 232 ff. 4 Vgl. Medicus Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Privatrecht, AcP 192 (1992) 35, 43 ff.; Zöllner Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht – Bemerkungen zur Grundrechtsanwendung im Privatrecht und zu den sogenannten Ungleichgewichtslagen, AcP 196 (1996) 1 ff.; Diederichsen Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht – ein Lehrstück der juristischen Methodenlehre, AcP 198 (1998) 171 ff. 5 JZ 1998, 267. 1 2
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2. Die Internationalität der Problematik Eine zusätzliche Dimension gewinnt die Thematik dadurch, daß es sich keineswegs um ein rein deutsches Phänomen handelt. So spricht etwa der englische Rechtsvergleicher Markesinis geradezu von einer „constitutionalisation of private law“6 und hat dabei eine weit über den deutschen Rechtskreis hinausgehende Tendenz im Auge; genau denselben Ausdruck habe ich in der Tat bei Trabucchi für das italienische Recht gefunden7. Das schweizerische Bundesgericht hat ausgesprochen, daß „zumindest die indirekte Drittwirkung im Sinn des Gebots grundrechtskonformer Auslegung privatrechtlicher Normen beinahe durchwegs anerkannt ist“, und sich diese Ansicht zueigen gemacht8. Von Bar glaubt aufgrund seiner rechtsvergleichenden Untersuchungen sogar feststellen zu können, daß „das Deliktsrecht im heutigen Europa mehr und mehr als eine Form der Konkretisierung der verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsrechte begriffen wird“9. Auch in den USA gibt es unter dem Stichwort der „state action doctrine“ seit langem eine intensive Diskussion der Thematik10. Es handelt sich hier also keineswegs um einen deutschen „Sonderweg“, wie man aufgrund man- [11] cher besorgter Stimmen gerade aus der jüngsten Vergangenheit vielleicht befürchten könnte. Doch Schluß mit der captatio benevolentiae für meine Themenstellung, die einer solchen wohl ohnehin nicht bedarf! Ich komme zur Sache selbst. Dabei beginne ich naheliegender Weise mit der Frage nach der Einwirkung der Grundrechte auf die Gesetze des Privatrechts.
6 Markesinis 53 (1990) Modern Law Review 1, 10; die gleiche Formulierung verwendet unabhängig davon Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 281 im Anschluß an eine ähnliche Wendung von Ossenbühl DVBl. 1995, 910. 7 Trabucchi Istituzioni di Diritto Civile, 35. Aufl. 1994, S. 14: „costituzionalizzazione anche del diritto privato“. 8 BGE 111 II 245, 255. Im Anschluß an diese Entscheidung hat es im Schrifttum eine lebhafte Diskussion über das Verhältnis von Verfassung und Privatrecht gegeben, vgl. Bucher SJZ 1987, 37 ff.; Sandoz SJZ 1987, 214 ff.; Saladin SJZ 1988, 373 ff.; Zäch SJZ 1989, 1 ff. und 25 ff. 9 von Bar Gemeineuropäisches Deliktsrecht Bd. I, 1996, Rdn. 554; auf der gleichen Linie liegt (für den von ihm behandelten Teilbereich des Deliktsrechts) weitgehend Beater Zivilrechtlicher Schutz vor der Presse als konkretisiertes Verfassungsrecht, 1996, S. 80 ff. mit rechtsvergleichenden Untersuchungen zum englischen, US-amerikanischen und deutschen Recht. 10 Vgl. dazu Giegerich Privatwirkung der Grundrechte in den USA, 1992, der in seiner kritischen Würdigung S. 457 für die USA eine ähnliche Lösung als vorzugswürdig erachtet wie sie in Deutschland entwickelt worden ist (und unten IV 3 näher erörtert wird).
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Grundrechte und Privatrecht
II. Die Einwirkung der Grundrechte auf die Gesetze des Privatrechts 1. Die Geltung von Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG für die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Privatrechts a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 3 GG Auszugehen ist nach den anerkannten Regeln der Methodenlehre vom Wortlaut der Verfassung. Einschlägig könnte hier in erster Linie Art. 1 Abs. 3 GG sein. Dort heißt es bekanntlich, daß „die nachfolgenden Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden“. Dem Sprachsinne nach, also bei grammatischer Auslegung kann nicht zweifelhaft sein, daß unter den Begriff der „Gesetzgebung“ auch diejenige auf dem Gebiete des Privatrechts fällt. Indessen hat jüngst Diederichsen versucht, diesen Ansatz unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift zu erschüttern11. Dazu verweist er im wesentlichen darauf, daß deren Funktion historisch gesehen lediglich in einer Abkehr von der für die Weimarer Verfassung vorherrschenden Ansicht liege, wonach die Grundrechte nur als bloße „Programmsätze“ zu qualifizieren seien; statt dessen sollten sie durch das Grundgesetz in den Rang von „unmittelbar geltendem Recht“ erhoben werden. Nun ist natürlich nicht zu bestreiten, daß hierauf in der Tat der Hauptakzent von Art. 1 Abs. 3 GG liegt, doch ändert das nichts daran, daß dort von der Bindung der „Gesetzgebung“ schlechthin die Rede ist und darunter sprachlich auch die Privatrechtsgesetzgebung zu verstehen ist. Wer das Gegenteil annimmt, muß Art. 1 Abs. 3 GG daher insoweit einer teleologischen Reduktion unterziehen12 und trägt hierfür folgerichtig die Argumentationslast. [12] Dieser kann man nicht schon dadurch nachkommen, daß man wie Diederichsen vorbringt, mit Art. 1 Abs. 3 GG sei „historisch lediglich eine Umqualifizierung der Rechtsfolge gemeint“, und daraus den Schluß zieht, „wer in der Formulierung 11
225 f.
Diederichsen in Starck (Hrsg.) Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 48f. und AcP 198 (1998),
12 Das leugnet Diederichsen in Starck aaO. S. 66 Fn. 147 mit der Begründung, daß „nach der ursprünglichen Konzeption des Verfassungsgebers die Grundrechte nur eine Abwehrfunktion hatten (und) dann das Grundrechtssystem im Sinne einer Grundwerteordnung erweitert wurde, (so daß) gerade umgekehrt die Erweiterung der Funktion von Art. 1 Abs. 3 GG ihrerseits begründet werden muß“. Das steht m. E. mit den Regeln der juristischen Methodenlehre nicht in Einklang, da nach diesen der „mögliche Wortsinn“ die Grenze der Auslegung bildet und jenseits ihrer anerkanntermaßen der Bereich von Analogie und teleologischer Reduktion beginnt, vgl. nur Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 391. Bei einer am Wortsinn orientierten Auslegung ist aber schlechterdings nicht daran vorbeizukommen, daß auch die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Privatrechts „Gesetzgebung“ ist und man diesen Ausgangspunkt also nur durch eine teleologische Reduktion korrigieren kann.
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(sc.: von Art. 1 Abs. 3 GG) eine Erweiterung des Kreises der Normadressaten und damit eine Änderung des Tatbestandes sehen will, begehe somit logisch eine Begriffsvertauschung oder müsse die Uminterpretation sachlich begründen“13. Daß „lediglich eine Umqualifizierung der Rechtsfolge gemeint“ war, ist zwar wie gesagt zutreffend, doch stellt es keineswegs „eine Erweiterung des Kreises der Normadressaten“ dar, wenn man als Gesetzgeber i.S. von Art. 1 Abs. 3 GG auch den Privatrechtsgesetzgeber ansieht14. Denn natürlich gehörte dieser auch bereits unter der Weimarer Verfassung zu den Normadressaten, und daher hat sich insoweit durch Art. 1 Abs. 3 GG überhaupt nichts geändert: Während die Grundrechte früher (auch) für den Privatrechtsgesetzgeber lediglich „Programmsätze“ oder dgl. darstellten, sind sie heute auch für ihn „unmittelbar geltendes Recht“. So ergibt sich denn auch, entgegen Diederichsens Ansicht, für diese Frage aus den Materialien zu Art. 1 Abs. 3 GG nichts, weil sie dort als solche gar nicht behandelt ist. b) Eingriffe in Grundrechte durch Normen des Privatrechts Außerdem ist die von Diederichsen geforderte „sachliche Begründung“ für eine Anwendung von Art. 1 Abs. 3 GG auf den Privatrechtsgesetzgeber schon wiederholt gegeben worden (und das, obwohl die Argumentationslast wie gesagt angesichts des Wortlauts der Vorschrift eigentlich die Vertreter der Gegenansicht trifft!). Sie liegt vor allem dar- [13] in, daß Gesetze des Privatrechts für den Bürger ganz ähnliche Eingriffswirkungen haben können15 wie solche des öffentlichen Rechts.
So Diederichsen in Starck aaO. S. 49 (Hervorhebungen im Orig.). Nur um diesen geht es im vorliegenden Zusammenhang. Möglicherweise meint Diederichsen hier allerdings mit Normadressaten die Subjekte des Privatrechts. Das wäre dann jedoch eine Verkennung meiner Position, für die es gerade essentiell ist, daß diese nicht Adressaten der Grundrechte sind, vgl. AcP 184 (1984) 202 ff. sowie unten IV 1 a. 15 Natürlich gilt das nicht für alle Normen des Privatrechts; vielmehr ist deren Eingriffscharakter grundsätzlich jeweils durch entsprechende Argumente darzutun, sofern man sich insoweit nicht – wie freilich häufig – mit einem Evidenzurteil begnügen kann. Es beruht daher auf einem Mißverständnis, wenn Diederichsen AcP 198 (1998) 212 mir unterstellt, ich ginge von einer „generellen (!) Qualifizierung der Normen des Privatrechts als Grundrechtseingriffe“ aus; im Gegenteil habe ich ausdrücklich herausgearbeitet, daß Privatrechtsnormen z. B. auch der Verwirklichung grundrechtlicher Schutzgebote dienen können, vgl. Canaris AcP 184 (1984) 223 zu § 624 BGB und S. 228f. zu § 74 ff. HGB. Beachtet man das, so fällt das Schreckbeispiel von Diederichsen aaO. S. 213 f. sofort in sich zusammen; denn die Norm des § 985 BGB beinhaltet als solche keinen Grundrechtseingriff, und daher ist hier von meinem Standpunkt aus nur zu prüfen, ob dem Hausbesetzer ein grundrechtliches Schutzgebot zur Seite steht, was bei allen von Diederichsen gebildeten Varianten von vornherein – d. h. schon an der „ersten Argumentationshürde“ und somit ohne einzelfallbezogene Abwägung (vgl. dazu näher unten IV 3 c und V 3 a) – zu verneinen ist. 13 14
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Grundrechte und Privatrecht
Ob z. B. eine nachbarschützende Regelung in einer Bauordnung oder im Nachbarrecht des BGB steht, ob umweltschützende Ziele mit einer Norm des öffentlichen Rechts oder mit Hilfe von § 1004 BGB verfolgt werden usw., darf für die Anwendbarkeit der Grundrechte keinen prinzipiellen Unterschied machen. Der privatrechtliche Immissionsschutz – etwa nach § 906 BGB, der ja vom Privatrechtsgesetzgeber grundsätzlich dramatisch verschärft werden könnte, oder auch nach der Generalklausel des § 1004 BGB – kann ohne weiteres ein Unternehmen ruinieren und beeinträchtigt dessen Inhaber daher oft schwerer in seinem Eigentum als manche immissionsrechtliche Verwaltungsvorschrift. Ähnlich können Einschränkungen der Meinungs- oder der Kunstfreiheit auf der Grundlage von § 823 BGB in Verbindung mit dem negatorischen Rechtsschutz für den Betroffenen Wirkungen haben, im Vergleich zu denen eine Geldstrafe eine Bagatelle sein kann; denn diese wiegt für ihn oft weit weniger schwer als das – rein privatrechtlich begründete! – Verbot, ein Buch zu publizieren, oder gar das Gebot, es aus dem Handel zurückzuziehen. Und sollen etwa die massiven Einschränkungen der Kündigungs- und Befristungsmöglichkeit zum Schutze des Wohnungsmieters nach §§ 564b f. BGB nur deshalb nicht an den Grundrechten des Vermieters zu messen sein16, weil es der Privatrechtsgesetzgeber ist, der sie erlassen hat, während der Vermieter gegenüber ähnlich wirkenden wohnungswirtschaftlichen Gesetzen des öffentlichen Rechts vollen Grundrechtsschutz genösse?! Und ein letztes Beispiel: Würde zur Lösung der Problematik der Entgeltfortzah- [14] lung im Krankheitsfalle dem Arbeitgeber eine Pflicht zur Abführung von Beiträgen an eine öffentlichrechtliche Einrichtung auferlegt, welche dann die Entrichtung des Entgelts an kranke Arbeitnehmer übernimmt, so wäre die unmittelbare Grundrechtsbindung des Gesetzgebers nicht zu bezweifeln; wird nun statt dessen der Arbeitgeber selbst zur Entgeltfortzahlung an den Arbeitnehmer verpflichtet wie durch die Vorschrift des § 3 EFZG, so kann die Grundrechtsbindung nicht entfallen oder prinzipiell schwächer sein, da diese Norm trotz ihres privatrechtlichen Charakters den Arbeitgeber (mindestens) ebenso stark in seiner Vertrags- bzw. Berufsausübungsfreiheit beeinträchtigt wie eine öffentlichrechtliche Beitragspflicht17. Insgesamt belegt die Fülle dieser Beispiele, die sich leicht vermehren lassen, daß das Argument aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 GG durch eine außerordentlich starke objektiv-teleologische Argumentation bestätigt und bekräftigt wird.
Vgl. dazu näher unten II 2 a bei Fn. 25. Vgl. zur verfassungsrechtlichen Überprüfung von § 3 EFZG eingehend Canaris Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 115 ff. 16 17
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c) Das Zusatzargument aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG Hinzukommt ein systematisches Argument, das bisher in der Diskussion, soweit ersichtlich, keine Rolle gespielt hat. Es liegt in dem Hinweis auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, wonach jedermann die Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung erheben kann, „durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein“. Soll etwa unter „öffentlicher Gewalt“ in diesem Sinne nicht auch der Privatrechtsgesetzgeber zu verstehen sein und soll also auch hier eine teleologische Reduktion erfolgen mit dem Ziel, ihn aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift auszuklammern?! Die Frage stellen heißt sie verneinen. Die Regelung ist nämlich erst im Jahre 1969 und daher mehr als ein Jahrzehnt nach dem für das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht grundlegenden Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts in das Grundgesetz aufgenommen worden, so daß hier eine historische Argumentation der von Diederichsen vorgetragenen Art von vornherein nicht in Betracht kommt. Wenn man aber demnach mit der Verfassungsbeschwerde rügen kann, durch den Privatrechtsgesetzgeber „in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein“, dann muß dieser logischerweise an die Grundrechte gebunden sein, weil er sie ja sonst gar nicht verletzen könnte. [15] d) Der Gedanke der Normenhierarchie Bisher habe ich im wesentlichen „positivistisch“ argumentiert, indem ich mich auf zwei explizite Regelungen der Verfassung – nämlich Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG – gestützt und dargetan habe, daß und warum unter sie auch der Privatrechtsgesetzgeber fällt. Natürlich kann und sollte man noch einen weiteren Schritt tun und zusätzlich den Gedanken der Normenhierarchie heranziehen. Das Privatrecht ist nämlich „einfaches“ Recht und steht als solches im Stufenbau der Rechtsordnung im Range unter der Verfassung18. Es ist 18 Nach Robbers NJW 1998, 937 f. soll freilich die Vorstellung vom Stufenbau der Rechtsordnung überholt sein, doch will er gleichwohl am „Vorrang der Verfassung“ und an der „Unterscheidung zwischen Verfassung und Gesetz“ festhalten. Welches Modell dasjenige vom Stufenbau ersetzen soll, läßt er indessen nahezu völlig im Dunkeln. Daß „die Grundrechte dem einfachen Recht immanent sind“ und daß „Verfassung im materiellen Sinne ... sich inzwischen auch im einfachen Gesetz im formellen Sinne ... zeigt“, trifft zwar zu, verdunkelt aber im vorliegenden Zusammenhang die Problematik eher als daß es sie erhellt; denn diese besteht ja gerade darin, den Grundrechten zur Durchsetzung zu verhelfen, wenn sie dem einfachen Recht (noch) nicht immanent sind und die Verfassung sich im einfachen Recht nicht zeigt. Im Grunde bleibt (abgesehen von dem in anderer Richtung liegenden Problem, das Verhältnis des Verfassungsrechts zum Europarecht mit der Lehre vom Stufenbau in Einklang zu bringen) nur die bekannte Schwierigkeit der Trennbarkeit zwischen Verfassung und einfachem Recht, die man als „ein Stück Fiktion“ oder (was ich bevorzuge) als regulative Idee im Sinne Kants bezeichnen
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Grundrechte und Privatrecht
also auch ein Gebot der Normlogik, daß die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Privatrechts nach dem Grundsatz vom Vorrang der lex superior an die Grundrechte gebunden ist19. Damit habe ich zugleich schon den nächsten Fragenkreis berührt. Bisher ging es nämlich im wesentlichen nur darum, ob der Privatrechtsgesetzgeber überhaupt an die Grundrechte gebunden ist. Nunmehr wende ich mich dem Problem zu, in welcher Weise er gebunden ist. Immerhin folgt ja aus dem Gedanken der Normenhierarchie nicht ohne weiteres, daß diese Bindung von genau derselben Art sein müßte wie die des Gesetzgebers auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts, und sogar Art. 1 Abs. 3 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG lassen in dieser Hinsicht vielleicht Raum für gewisse Modifikationen. [16] 2. Die „Unmittelbarkeit“ der Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte und ihre Geltung als Eingriffsverbote und Schutzgebote a) Ablehnung einer nur „mittelbaren“ Geltung der Grundrechte für die Gesetze des Privatrechts Früher wurde in der Tat nicht selten die Ansicht vertreten, die Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte gelte auch für den Gesetzgeber auf dem Gebiete des Privatrechts. So hat sogar der Hauptrepräsentant dieser Lehre Günther Dürig ausdrücklich von einer nur „mittelbaren Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht“ und von einer nur „mittelbaren Anwendung der Grundrechte im Privatrecht“ gesprochen20. Geht man demgegenüber von Art. 1 Abs. 3 GG aus, so kann das nicht richtig sein, weil diese Vorschrift ja gerade eine unmittelbare Geltung der Grundrechte anordnet. Außerdem habe ich nie begriffen, was mit dieser Variante der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung eigentlich gemeint ist und sie daher als geradezu „mysteriös“ bezeichnet21. Liegt dieser Ansicht etwa die Vorstellung zugrunde, daß (auch) der Gesetzgeber auf dem kann, vgl. Lerche in Koller/Hager/Junker/Singer/Neuner (Hrsg.) Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken, Symposion zum 60. Geburtstag von C. W. Canaris, 1998, S. 14 f. 19 Auch das leugnet freilich Diederichsen, vgl. bei Starck aaO. S. 70 ff. und AcP 198 (1998) 234; daraus kann dann nur folgen, daß der Privatrechtsgesetzgeber entweder überhaupt nicht oder nur „mittelbar“ an die Grundrechte gebunden ist, vgl. dazu sogleich unter 2 a. 20 So Dürig in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz 1994, Art. 3 I Rdn. 510; ähnlich sehr klar Kopp 2. Festschr. für Wilburg, 1975, 149, nach dessen Ansicht „für die Gesetzgebung (!) im Bereich des Zivilrechts nicht die Grundrechte als solche Bedeutung erlangen, sondern nur die hinter ihnen stehenden und in ihnen erkennbar werdenden allgemeinen Grundentscheidungen“; ablehnend Canaris AcP 184 (1984) 212 f. 21 Canaris AcP 184 (1984) 212; zustimmend Lerche Festschr. für Steindorff, 1990, S. 905 Fn. 30; Singer JZ 1995, 1136.
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Gebiete des Privatrechts nur „durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften“ an die Grundrechte gebunden ist, wie eine berühmte Formulierung im Lüth-Urteil lautet22? Es ist das Verdienst von Diederichsen, daß er diese Frage klipp und klar bejaht hat – und zwar in ausdrücklicher Übernahme der soeben zitierten Wendung aus dem Lüth-Urteil und in ausdrücklicher Wiederaufnahme der Ansicht Dürigs23. Erst dadurch hat die Lehre von der mittelbaren Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers über- [17] haupt einen faßbaren Inhalt erhalten. Zugleich wird sie dadurch freilich auch leichter kritisierbar. M. E. ist sie schon aus rechtslogischen Gründen nicht zu halten. Es erscheint mir nämlich als geradezu denkunmöglich, eine Norm des Privatrechts dadurch auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten zu prüfen, daß man sie an einer anderen Norm des Privatrechts mißt. Denn diese beiden Normen stehen normlogisch zwangsläufig auf derselben Stufe und daher kann die eine nicht den Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der anderen bilden, da ein solcher notwendigerweise den Status einer lex superior haben und also in der Hierarchie der Normen auf einer höheren Stufe angesiedelt sein muß. Das kann man auch nicht etwa dadurch ändern, daß man eine der beiden privatrechtlichen Normen verfassungsrechtlich anreichert, also insbesondere eine Generalklausel „im Lichte“ der Grundrechte interpretiert24. Entweder bleibt sie dabei nämlich eine Norm des einfachen Rechts – dann fehlt ihr nach wie vor die Höherrangigkeit, deren sie als Prüfungsmaßstab bedarf; oder sie wird auf die Stufe des Verfassungsrechts angehoben – dann kommt man zu der widersinnigen Konsequenz, daß ihr Gehalt auch insoweit, als er eigentlich dem einfachen Recht zugehört, nun plötzlich Verfassungsrang erlangt. Darüber hinaus ist die Vorstellung, daß die Normen des Privatrechts nur „durch das Medium“ der Normen des Privatrechts auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten zu prüfen sind, auch praktisch nicht sinnvoll durchführbar. Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen. Nach § 564b Abs. 1 BGB kann der Vermieter ein Mietverhältnis über Wohnraum nur kündigen, wenn er ein berechBVerfGE 7, 198 Leitsatz 2 und S. 205. Diederichsen AcP 198 (1998) 234-236 i. V. mit S. 231, wonach „sich die Beeinflussung des Privatrechts durch die Grundrechte über das ‚Medium‘ der unbestimmten Rechtsbegriffe und Generalklauseln sowohl auf die Privatrechtsnormen (!) als auch auf Rechtsgeschäfte bezieht“ und „auch die mit der Anwendung von Art. 1 Abs. 3 GG automatisch verbundene Bindung des Zivilrechtsgesetzgebers an die Grundrechte entfällt“. 24 So aber offenbar Diederichsen AcP 198 (1998) 213, wonach „das Privatrecht ... mittelbar über die mit dem Wertgehalt der Grundrechte aufzuladenden unbestimmten Rechtsbegriffe und Generalklauseln auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft wird“; Diederichsen spricht an dieser Stelle zwar noch alternativ von einer Prüfung „unmittelbar anhand der Grundrechtsartikel“, doch sind seine späteren Ausführungen (vgl. vorige Fn.) ersichtlich dahin zu verstehen, daß er diese Alternative ablehnt, zumal sonst geklärt werden müßte, wann welche der beiden Alternativen zur Anwendung gelangt, was nicht geschieht. 22 23
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tigtes Interesse an dessen Beendigung hat. Ob diese Regelung gegen Grundrechte des Vermieters verstößt, hat das Bundesverfassungsgericht geprüft, indem es sie ohne Umschweife unmittelbar an Art. 14 GG gemessen und in diesem Rahmen eine Verhältnismäßigkeitsabwägung vorgenommen hat25. Würde man statt dessen die Lehre von der nur mittelbaren Bin- [18] dung des Privatrechtsgesetzgebers anwenden, müßte man eine Norm des einfachen Rechts suchen, durch deren „Medium“ Art. 14 GG auf § 564b BGB einwirken könnte. Dafür käme wohl nur die Generalklausel des § 903 BGB in Betracht, wonach der Eigentümer einer Sache mit dieser nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen kann. Diese Vorschrift enthält nun aber die ausdrückliche Einschränkung, daß sie nur gilt, „soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen“. Genau das ist hier der Fall, da § 564b BGB natürlich ein „Gesetz“ in diesem Sinne ist. Man müßte also diese Einschränkung erst einmal hinweginterpretieren oder irgendwie relativieren, indem man sie „im Lichte“ von Art. 14 GG liest26. Eine solche Vorgehensweise würde sich m.E. geradezu selbst widerlegen. Bezeichnenderweise veranschaulichen die Anhänger einer nur mittelbaren Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers denn auch soweit ersichtlich durch kein einziges detailliertes Beispiel, wie ihre Theorie eigentlich praktisch zu handhaben sein soll. Insgesamt ist somit die Ansicht, daß der Privatrechtsgesetzgeber an die Grundrechte nur mittelbar, d. h. „durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften“ gebunden sei, sowohl aus normlogischen als auch aus praktischen Gründen uneingeschränkt abzulehnen. Mir scheint es sich dabei um eine Art Münchhausentheorem zu handeln, das den Privatrechtlern die Möglichkeit verschaffen soll, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Verfassungsrechts herauszuziehen. Letztlich läuft diese Konzeption auf eine „Grundrechtsfreiheit des Privatrechts“27 hinaus. [19]
25 Grundlegend BVerfGE 68, 361, 368 ff. Verneint man die Einschlägigkeit von Art. 14 GG (so vor allem Roellecke NJW 1992, 1652), so ändert das an der im Text vorgetragenen Argumentation nichts, da sich die Schwierigkeiten dann lediglich verlagern. Denn dann ist statt dessen die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie durch Art. 2 Abs. 1 GG heranzuziehen (vgl. dazu auch unten Fn. 34), so daß deren bürgerlichrechtliche Anerkennung (die nach verbreiteter Ansicht mittelbar in § 305 BGB Ausdruck gefunden hat) ganz ähnlich in Bezug zu Art. 2 Abs. 1 GG gesetzt werden müßte wie § 903 BGB zu Art. 14 GG; m. E. bestehen freilich gegen eine Anwendung von Art. 14 GG ohnehin keine durchgreifenden Bedenken, weil (und sofern) der Vermieter zugleich Eigentümer ist und Vermietung tatbestandlich eine von Art. 14 GG gedeckte Ausübung der aus dem Eigentum fließenden Befugnisse darstellt. 26 Vgl. die Forderung von Diederichsen aaO. (Fn. 24), die bürgerlichrechtlichen Generalklauseln „mit dem Wertgehalt der Grundrechte aufzuladen“. 27 So die Charakterisierung der Positionen von Diederichsen und Zöllner durch V. Schmidt in Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentags, 1996, O 44.
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b) Ablehnung einer Beschränkung der Grundrechtsgeltung auf bestimmte Funktionen und die Problematik grundrechtsprägender Privatrechtsnormen aa) Eine andere Frage ist, ob die Grundrechte für die Normen des Privatrechts in ihrer klassischen Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte gelten oder lediglich in ihrer Funktion als „objektive Grundsatznormen“ Wirkung entfalten, wie vor allem Zöllner und Medicus erwägen28. In eine ähnliche Richtung weist die Ansicht, daß den Grundrechten gegenüber dem Privatrechtsgesetzgeber nur die Funktion von Schutzgeboten zukommt29. Diesen Positionen ist dreierlei gemeinsam. Sie wollen zum ersten dem altbekannten Argument Rechnung tragen, daß sich im Privatrecht typischerweise auf beiden Seiten Grundrechtsträger gegenüberstehen; deshalb tendieren sie zum zweiten dazu, Privatrechtsnormen nicht an den scharfen Maßstäben des „Übermaßverbots“ zu kontrollieren, sondern insoweit milderen Anforderungen zu unterwerfen; und sie sind zum dritten von einer starken Skepsis gegenüber der Annahme geprägt, daß das Verständnis der Grundrechte als Eingriffsverbote im vorliegenden Zusammenhang tragfähig ist. Indessen zeigt die Fülle der Beispiele, die ich vorhin vorgetragen habe30, daß Gesetze des Privatrechts in zahlreichen Fällen31 durchaus Eingriffscharakter haben – und zwar u. U. in höchst massiver Weise. Dann ist es ein Gebot der Folgerichtigkeit, sie insoweit grundsätzlich auch am Übermaßverbot zu messen. Daß auf der anderen Seite ebenfalls ein Grundrechtsträger steht und das privatrechtliche Gesetz häufig seinem Schutz dient, kann daran schon deshalb nichts ändern, weil auch öffentlichrechtliche Normen – etwa solche des Straf-, Bau- oder Umweltrechts – häufig auch oder sogar primär den individuellen Schutz anderer Personen und keineswegs immer nur die Wahrung von Gemeinwohlinteressen bezwecken. Das – mitunter freilich generell [20] kritisierte32 – „Eingriffsdenken“ kann also auch gegenüber privatrechtlichen Normen grundsätzlich seinen legitimen Platz beanspruchen.
28 Vgl. Zöllner RDV 1985, 8 f., der freilich von vornherein einräumt, daß die praktischen Unterschiede gegenüber der Anwendung der Grundrechte in ihrer Funktion als Eingriffsverbote nur gering sein dürften; Medicus AcP 192 (1992) 45 f. unter Bezugnahme auf die – m. E. freilich wenig klaren – Ausführungen von Böckenförde Der Staat 29 (1990) 2 f.; vgl. zu Böckenfördes Konzeption des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht auch die treffende Kritik von Lerche Festschr. für Odersky, 1996, S. 223 f. 29 So Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 301; ähnlich Bleckmann DVBl. 1988, 942. 30 Vgl. oben II 1 b. 31 Keineswegs in allen, vgl. dazu oben Fn. 15. 32 Vgl. dazu statt aller Isensee in Isensee/Kirchhof Handbuch des Staatsrechts Bd. V, 1992, § 111 Rdn. 48 f. und Lerche ebenda § 121 Rdn. 52, die diese Kritik würdigen und angemessen in die Schranken weisen.
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Allerdings ist einzuräumen, daß Privatrechtsnormen auch der Verwirklichung grundrechtlicher Schutzgebote dienen können, ja daß sie häufig beides zugleich darstellen: Eingriffe in Grundrechte der einen Partei und Gewährleistungen des Schutzes der Grundrechte der anderen Partei. So hat das Bundesverfassungsgericht unlängst – m.E. mit Recht – ausgesprochen, daß das KSchG der Erfüllung des aus Art. 12 GG folgenden Gebots dient, den Arbeitnehmer vor einem Verlust seines Arbeitsplatzes zu schützen33; auf der anderen Seite liegt in einem solchen Kündigungsschutz aber zugleich eine Einschränkung der gegenläufigen Grundrechte des Arbeitgebers, insbesondere seiner Privatautonomie34. Daraus kann man jedoch nicht folgern, daß nun die Eingriffsverbotsfunktion zurückzutreten hat. Vielmehr ist folgerichtig beides zu prüfen: Zum einen, ob der Eingriff in die Grundrechte der einen Seite diese in einer Weise belastet, die gegen das „Übermaßverbot“ verstößt, und zum anderen, ob das Gesetz etwa hinter jenem Minimum zurückbleibt, welches die Verfassung zum Schutz der anderen Partei gebietet. Dazwischen liegt i. d. R. ein breiter Spielraum, in welchem die Lösung verfassungsrechtlich nicht determiniert ist und dessen Ausfüllung daher allein dem einfachen Recht überlassen bleibt. Ich werde darauf zurückkommen. bb) Ein anderer Einwand geht dahin, daß Privatrechtsnormen häufig nicht eingreifenden, sondern lediglich grundrechtsprägenden oder -konkretisierenden Charakter haben35. Das trifft gewiß im Ansatz zu. [21] So stellt etwa die Festlegung einer Altersgrenze für die Erlangung der vollen Geschäftsfähigkeit grundsätzlich eine bloße Ausgestaltung der Privatautonomie und nicht einen Eingriff in diese dar. Schon früh hat Lerche die Ansicht vertreten, daß für derartige grundrechtsprägende Normen das Übermaßverbot grundsätzlich nicht gelte36. Ich kann mich dem indessen nicht anschließen37, weil dadurch der (einfache) Gesetzgeber BVerfG NJW 1998, 1475. Das Recht zur ordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen hat wohl schon deshalb an der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie durch Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 12 GG teil, weil es zur Verhinderung einer „ewigen“ Bindung durch solche Verträge und der damit verbundenen „Versteinerungsgefahr“ erforderlich ist und also ein essentielles Mittel zur Wahrung der Privatautonomie des Kündigungsberechtigten darstellt, vgl. dazu grundlegend Ulmer Festschr. für Möhring, 1975, S. 304. Im übrigen stellt jeder zwingende Kündigungsschutz zumindest deshalb einen Eingriff in die Vertragsfreiheit dar, weil er entgegenstehende Abreden der Parteien und im praktischen Ergebnis weitgehend auch eine vertragliche Befristung ausschließt. 35 Vgl. zu dieser Funktion der Grundrechte statt aller Lerche HbdStR aaO. § 121 Rdn. 37 ff.; allgemein zur Konkretisierung von Verfassungsrecht und den vielfältigen Facetten dieses Ausdrucks ders. in Koller/Hager/Junker/Singer/Neuner (Hrsg.) Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken, Symposion zum 60. Geburtstag von C. W. Canaris, 1998, S. 7 ff. 36 Lerche Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, 140, 153; vgl. aber auch dens. HbdStR aaO. § 121 Rdn. 17, 31. 37 Vgl. Canaris JZ 1987, 995; der Sache nach übereinstimmend z. B. Isensee HbdStR aaO. § 111 Rdn. 51, der auch gegenüber prägenden und ausgestaltenden Normen die Grundrechte 33 34
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hier ohne zwingenden Grund von der rechtsstaatlichen Legitimationskontrolle seiner Akte weitgehend – nämlich wohl bis zur Grenze eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG – entbunden würde. Entließe der Gesetzgeber z. B. die Menschen erst mit 25 Jahren in die volle Geschäftsfähigkeit, so schlüge dadurch die Ausgestaltung in einen Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie um, der wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot verfassungswidrig wäre – so wie umgekehrt eine generelle Herabsetzung der Altersgrenze auf 14 Jahre gegen das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum verstieße. Demgemäß stellen die grundrechtsprägenden und -ausgestaltenden Normen zwar eine gewisse Trübung des Eingriffsdenkens dar, setzen es jedoch nicht außer Kraft38. c) Zwischenergebnis Insgesamt komme ich somit zu folgendem Zwischenergebnis: Die Grundrechte gelten gegenüber privatrechtlichen Normen unmittelbar. Das ist heute i. E. ganz h. L.39. Dabei entfalten die Grundrechte ihre „normalen“ Funktionen als Eingriffsverbote und Schutzgebote. Diese Sichtweise dürfte der Sache nach auch mit der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts übereinstimmen. Wie schon erwähnt hat dieses nämlich zum einen privatrechtliche Normen wie § 564 b BGB und § 90 a [22] Abs. 2 S. 2 HGB – und übrigens auch noch eine Reihe weiterer Vorschriften des Privatrechts wie etwa § 1629 BGB und § 1596 BGB40 – ohne Einschränkung an den Grundrechten gemessen und dabei einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen, also das Übermaßverbot angewendet; und zum anderen hat es unlängst § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG, wonach die Arbeitnehmer bestimmter Kleinbetriebe vom Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes ausgenommen sind, am Maßstab von Art. 12 GG geprüft und diesem Grundrecht dabei explizit ein Schutzgebot zugunsten der Arbeitnehmer entnommen (welches
uneingeschränkt in ihrer Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte zur Anwendung bringen will. 38 Ähnlich Pietzcker Festschr. für Dürig, 1990, S. 353. 39 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 212 ff.; Bydlinski in Rack (Hrsg.) Grundrechtsreform, 1985, S. 174 mit Fn. 2; Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. III/1 1988, § 76 IV 2 a und 3; Hesse Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 27 mit Fn. 42; Badura Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, Rdn. C 23; Lerche HbdStR aaO. § 121 Rdn. 42 und Festschr. für Odersky, 1996, S. 230 f.; Larenz/Wolf Allg. Teil des Bürg. Rechts, 8. Aufl. 1997, § 4 Rdn. 46; J. Hager JZ 1994, 375; Dreier Jura 1994, 509; Looschelders/Roth JZ 1995, 1037f.; Singer JZ 1995, 1136; Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 283 f.; Isensee Festschr. für Kriele, 1997, S. 32. 40
Vgl. BVerfGE 72, 155, 173; 79, 256, 272 f.
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freilich bei verfassungskonformer Auslegung durch die Ausnahme für Kleinbetriebe nicht verletzt ist)41. 3. Modifikationen der Wirkungen der Grundrechte In einem Punkte ist den Kritikern eines allzu unbedenklichen Rückgriffs auf Art. 1 Abs. 3 GG freilich recht zu geben: Aus der Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf den Privatrechtsgesetzgeber folgt nicht, daß die Grundrechte für das Verhältnis zwischen Privatrechtssubjekten stets genau denselben Inhalt und dieselbe Reichweite haben wie im Verhältnis zwischen dem Bürger und dem Staat42. Vielmehr kann ihr konkreter Geltungsanspruch insoweit durchaus unterschiedlich zu bestimmen sein43 – sei es, daß er inhaltlich anders ausgestaltet ist, oder sei es gar, daß er in besonders gelagerten Ausnahmekonstellationen gänzlich zurücktritt. So spielen z. B. Belange des Gemeinwohls oder des öffentlichen Interesses für die Regelung des Verhältnisses zwischen den Privatrechtssubjekten regelmäßig keine Rolle. Demgemäß wäre es verfehlt, bei der verfassungsrechtlichen Prüfung von privatrechtlichen Normen, welche die Berufsfreiheit einschränken – etwa durch ein vertragsergänzendes Wettbewerbsverbot nach §§ 60, 112 HGB –, im Rahmen der Anwendung von Art. 12 GG auf Aspekte des Gemeinwohls abzuheben44, wie [23] man es nach der „Stufentheorie“ gewöhnt ist45. Auch auf das Vorhandensein bzw. die Grenzen eines Gesetzesvorbehalts kommt es bei privatrechtlichen Normen nicht immer in derselben Weise an wie bei öffentlichrechtlichen46. Andererseits sind diese hier nicht etwa generell irrelevant; beispielsweise wirkt sich das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts in Art. 5 Abs. 3 GG dahingehend aus, daß eine Einschränkung der Kunstfreiheit im Wege des Deliktsrechts und des negatorischen Rechtsschutzes nur zulässig ist, wenn sie von Verfassungs wegen zum BVerfG NJW 1998, 1475. Vgl. vor allem Lerche Festschr. für Steindorff, 1990, S. 905 Fn. 30 und Festschr. für Odersky, 1996, S. 215, 230 f., der im übrigen aber anerkennt, daß der Rückgriff auf Art. 1 Abs. 3 GG eine „im Ansatz völlig einleuchtende Konstruktion“ ist und einen „erheblichen Fortschritt“ gegenüber der Ausstrahlungslehre des Bundesverfassungsgerichts mit ihren „Vagheiten“ darstellt; ähnlich wie die Vorbehalte von Lerche sind wohl auch diejenigen von Pietzcker Festschr. für Dürig, 1990, S. 352 zu verstehen. 43 Vgl. auch unten VI 2 a a. E. = S. 74 zur „Umkehrung“ des Lüth-Falles. 44 Erst recht kommt es auf dieses Kriterium nicht an, wenn es um den Einfluß der Grundrechte auf die Wirksamkeit einer rechtsgeschäftlichen Regelung geht; nicht zutreffend daher in der Begründung insoweit BAG AP Nr. 12 zu § 611 BGB Berufssport unter II 4 e und g, vgl. dazu die überzeugende Kritik von Singer in der Anmerkung aaO. unter II 1 c. 45 Vgl. dazu näher Canaris AcP 184 (1984) 215. 46 Vgl. das Beispiel bei Canaris aaO. S. 214; ein anderes Problem ist, welche Rolle die Gesetzesvorbehalte bei der Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion spielen, vgl. dazu unten VI 3 c. 41 42
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Schutze eines kollidierenden Grundrechts wie insbesondere des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geboten ist47. Schließlich kann sich bei Grundrechtseingriffen durch Privatrechtsnormen eine Besonderheit auch insofern ergeben, als mit Rücksicht auf ein kollidierendes Grundrecht eines anderen Privatrechtssubjekts eine Abschwächung der Anforderungen im Rahmen der Übermaßprüfung und eine Intensivierung im Rahmen der Schutzgebotsverwirklichung in Betracht kommen kann; das gilt zwar nicht generell, sondern nur problembezogen oder allenfalls bereichsspezifisch, stellt jedoch das adäquate Mittel dar, um erforderlichenfalls dem – in der wissenschaftlichen Diskussion immer wieder betonten – Gesichtspunkt Rechnung zu tragen, daß sich bei privatrechtlichen Konflikten regelmäßig auf beiden Seiten Grundrechtsträger gegenüberstehen. III. Die Einwirkung der Grundrechte auf die Anwendung und Fortbildung des Privatrechts 1. Die Geltung von Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG für die Rechtsprechung auf dem Gebiete des Privatrechts Bisher war die Rede von der Bindung des Privatrechtsgesetzgebers und der von ihm erlassenen Normen an die Grundrechte. Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, ob und gegebenenfalls in welcher Weise auch die Anwendung und Fortbildung des Privatrechts und damit vor allem die Rechtsprechung auf diesem Gebiete an die Grundrechte gebunden sind. [24] a) Art. 1 Abs. 3 GG als Ausgangspunkt Ausgangspunkt hat folgerichtig wiederum Art 1 Abs. 3 GG zu sein, nach dessen klarem Wortlaut die Grundrechte nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Rechtsprechung „als unmittelbar geltendes Recht binden“. Allerdings käme es einer unzulässigen petitio principii nahe, hieraus ohne weiteres zu schließen, daß die Grundrechte bei der Anwendung und Fortbildung des Privatrechts durch die Rechtsprechung schon deshalb „unmittelbar“ gelten, weil diese in Art. 1 Abs. 3 GG ebenfalls genannt und mit der Gesetzgebung auf eine Stufe gestellt ist48; denn zum einen erläßt der Richter anders als der Gesetzgeber grundsätzlich 47 Vgl. näher Canaris JuS 1989, 172 und Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 V 2. 48 Vgl. auch die Kritik von Lerche Festschr. für Odersky, 1996, S. 231 Fn. 38 an meinen Ausführungen JuS 1989, 162 f., die freilich der Sache nach im wesentlichen bereits ebenso gemeint waren wie die im folgenden vorgetragene Argumentation.
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keine Normen, sondern entscheidet konkrete Fälle mit Rechtskraftwirkung nur für die davon betroffenen Beteiligten, so daß die Gleichbehandlung hinsichtlich der Grundrechtsbindung in der Tat keine Selbstverständlichkeit ist, und zum anderen ist es auch durchaus zutreffend, wenn im vorliegenden Zusammenhang gesagt wird, es komme für die Grundrechtsbindung nicht auf die Stellung der Gerichte als staatlicher Organe, sondern „auf das materielle Rechtsverhältnis an, in welchem die Parteien des Rechtsstreits sich befinden“49. Indessen kann mit der Einbeziehung der Rechtsprechung in Art. 1 Abs. 3 GG nicht lediglich gemeint sein, daß diese nur im Rahmen ihrer verfahrensrechtlichen Tätigkeit, nicht aber auch in materiellrechtlicher Hinsicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist. Die daraus folgende Konsequenz, daß zwar der Erlaß der Gesetze, nicht aber deren Anwendung und Fortbildung der unmittelbaren Bindung an die Grundrechte unterliegen, kann nämlich schon deshalb nicht richtig [25] sein, weil deren Effektivität dadurch massiv beeinträchtigt würde. Denn unabhängig von allen Kontroversen um die Frage nach der normativen Qualität von „Richterrecht“50 ist es zumindest faktisch gesehen weitgehend erst die Rechtsprechung, welche die Gesetze mit ihrem vollen Inhalt füllt, also das „law in action“ im Unterschied zum „law in the books“ schafft und dadurch deren praktische Auswirkungen auf die grundrechtlichen Positionen der Bürger maßgeblich beeinflußt. Außerdem käme man sonst zu der ganz ungereimten Konsequenz, daß der Grundrechtsschutz von den Zufälligkeiten der Gesetzgebungstechnik abhinge und z. B. bei einer tatbestandlich präzisen Norm widersinnigerweise weitaus intensiver wäre als bei einer Generalklausel. Nicht weil die Gerichte staatliche Organe sind – privatrechtliche Schiedsgerichte sind übrigens nicht einmal das! –, wohl aber weil die Anwendung und Fortbildung der Gesetze die notwendige Ergänzung und Vervollständigung ihrer Schaffung durch den Gesetzgeber darstellt, unterliegt somit auch die Rechtsprechung auf dem Gebiet des Privatrechts der unmittelbaren Bindung an die Grundrechte, die dabei folgerichtig
49 So Starck JuS 1981, 244; ähnlich z. B. Stern aaO. § 76 III 1; E. Klein NJW 1989, 1640; Rüfner in Isensee/Kirchhof HbdStR Bd V § 117 Rdn. 60. Wenn Starck freilich anschließend zu der Schlußfolgerung gelangt, daß „sich eine unmittelbare Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht weder verfassungsrechtlich zureichend begründen noch in ihren Konsequenzen durchhalten läßt“, so ist ihm nicht zu folgen. Denn zum einen ist schon die – häufig anzutreffende – Redeweise von der unmittelbaren Einwirkung der Grundrechte auf „das Privatrecht“ wegen ihrer Ungenauigkeit zurückzuweisen, weil Starck im vorliegenden Zusammenhang primär die Lehren von der „Drittwirkung“ im Auge hat und diese also nicht klar von der Frage nach der unmittelbaren Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte trennt (vgl. dazu auch unten IV 2 b); und zum anderen erfolgt die erforderliche Bezugnahme auf das „materielle Rechtsverhältnis“ zwischen den Prozeßparteien durch die Sätze, welche das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legt, vgl. unten c (insbesondere bei Fn. 53). 50 Vgl. dazu statt aller Larenz/Canaris Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 252 ff. mit Nachw.
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wiederum in ihren „normalen“ Funktionen als Eingriffsverbote und Schutzgebote anzuwenden sind51. b) Das Argument aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG Ergänzend ist im übrigen auch in diesem Zusammenhang wieder auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG hinzuweisen. Nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift fällt darunter unzweifelhaft auch die Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen der Gerichte und insbesondere auch gegen solche der Zivilgerichte wegen einer verfassungswidrigen Handhabung des materiellen Privatrechts, was sich angesichts der Aufnahme dieser Regelung in das Grundgesetz zehn Jahre nach dem insoweit grundlegenden Lüth-Urteil schlechterdings nicht leugnen läßt. Stellt aber demnach die Rechtsprechung auf dem Gebiete des Privatrechts „öffentliche Gewalt“ i.S. von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG dar und können somit deren Entscheidungen durch eine falsche Anwendung des Privatrechts die Grundrechte verletzen, so folgt daraus mit zwingender Logik, daß die Zivilgerichte auch in materiellrechtlicher Hinsicht der Bindung an die Grundrechte unterliegen. [26] c) Die als Norm gedachte ratio decidendi als Gegenstand der Grundrechtsbindung und -kontrolle Die Konsequenz dieser Überlegungen, die insoweit auf einen Parallelismus von Gesetzgebung und Rechtsprechung hinauslaufen, kann folgerichtig nur darin bestehen, daß die Sätze, welche die Gerichte im Wege der Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung ihren Entscheidungen zugrunde legen, grundsätzlich in derselben Weise unmittelbar an den Grundrechten zu messen sind, als stünden sie ausdrücklich im Gesetz52. Man muß sie also als Norm formulieren und dann wie eine solche auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen. Dabei wird der die Gerichtsentscheidung tragende Satz also als Teil des materiellen Rechts gedacht und aus den genannten Gründen wie dieses der Grundrechtsbindung unterworfen, so daß letztere nicht etwa aus einem Eingriff des Gerichts als solchem, sondern aus dem von ihm zugrunde gelegten Satz gefolgert wird53.
Zustimmend Hillgruber AcP 191 (1991) 71 f. So schon Canaris JuS 1989, 162 nach Fn. 8; übereinstimmend z. B. J. Hager JZ 1994, 377. 53 Das verkennt z. B. Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 287, wenn er im Lüth-Urteil einen Eingriff ablehnt; vgl. in diesem Zusammenhang ferner oben bei und mit Fn. 49. 51 52
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Was mit dieser Sichtweise gemeint ist, kann man sich gut klar machen, indem man die sogenannte Schumann’sche Formel54 mit Fikentschers Lehre von der Fallnorm55 verbindet. Nach jener Formel – von der übrigens das Bundesverfassungsgericht nicht selten ausgeht56 – ist die Entscheidung eines Gerichts jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn die sie tragende Rechtsansicht ein Grundrecht verletzen würde, sofern sie explizit im Gesetz stünde, also den Charakter einer Gesetzesnorm trüge. Das paßt insofern gut mit Fikentschers Lehre von der Fallnorm zusammen, als danach denjenigen Sätzen Normqualität zuzuerkennen ist, unter die der Richter unmittelbar subsumiert, nachdem er sie zuvor im Wege der Auslegung und Konkretisierung hinreichend präzisiert und auf den aufbereiteten Sachverhalt abgestimmt hat. Ob dieser Lehre zu folgen ist, steht hier nicht zur Diskussion. Es geht vielmehr nur darum, daß sie im vorliegenden Zusammenhang eine gute gedankliche Hilfe bildet: Man stellt sich – etwas vereinfachend gespro- [27] chen – die ratio decidendi einer Gerichtsentscheidung als Norm vor und prüft, ob diese ein Grundrecht verletzen würde, wobei von dessen unmittelbarer Anwendung auszugehen ist – nicht anders als gegenüber dem Privatrechtsgesetzgeber. Das ist die folgerichtige Konsequenz daraus, daß die Anwendung und Fortbildung des Gesetzes dessen notwendige Konkretisierung darstellt und diesem also hinsichtlich des Grundrechtsschutzes gleichzustellen ist. 2. Versuch einer „kritischen Rekonstruktion“ des Lüth-Urteils Diese Konzeption steht in einem gewissen Gegensatz zum Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und wesentlichen Teilen seiner seitherigen Rechtsprechung. Denn darin wird lediglich von einer „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte auf das bürgerliche Recht ausgegangen57. Demgemäß nimmt das Bundesverfassungsgericht an, daß „eine Bindung des Richters an die Grundrechte bei der streitentscheidenden Tätigkeit auf dem Gebiet des Privatrechts nicht unmittelbar, (sondern nur) insoweit in Betracht kommt, als das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente einer objektiven Ordnung aufgerichtet hat, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Ge-
54 Vgl. E. Schumann Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, 1963, S. 207, 334; vgl. dazu aus jüngster Zeit z. B. Starck JZ 1996, 1039; Berkemann DVBl. 1996, 1032 ff.; Robbers NJW 1998, 936. 55 Vgl. Fikentscher Methoden des Rechts Bd. IV, 1977, S. 202 ff. 56 Vgl. z. B. BVerfGE 79, 283, 290; 81, 29, 31 f.; Berkemann DVBl. 1996, 1033 schätzt, daß das Bundesverfassungsgericht vier Fünftel aller Urteilsverfassungsbeschwerden der Sache nach mit der Schumann’schen Formel bewältigt. 57 BVerfGE 7, 198, 207.
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ltung haben, mithin auch das Privatrecht beeinflussen“58. Ich werde mich daher im folgenden näher mit dem Lüth-Urteil auseinandersetzen. Dazu besteht im übrigen auch deshalb besonderer Anlaß, weil dieses neuerdings aus zivilrechtsdogmatischer Sicht unter starken Beschuß geraten und von Diederichsen geradezu als „methodologischer Staatsstreich“ bezeichnet worden ist59. In der Tat weist es erhebliche Schwächen auf, doch lassen sich diese m.E. im Wege einer – wie man in der modernen Wissenschaftstheorie zu sagen pflegt – „kritischen Rekonstruktion“ beseitigen. a) Die Notwendigkeit einer strikten Trennung zwischen „Ausstrahlungswirkung“ und „Superrevisionsproblematik“ Ein erster gravierender Mangel des Lüth-Urteils besteht darin, daß es den Gedanken der (bloßen) „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte auf das bürgerliche Recht in Zusammenhang mit der Problematik der „Superrevision“ bringt. Gerade und nur bei deren Erörterung fällt das Wort „Ausstrahlungswirkung“60, und man gewinnt dabei den [28] Eindruck, daß diese Sichtweise auch und nicht zuletzt dazu dienen soll, die Gefahr einer „Superrevision“ zu bannen. Diese ist indessen keineswegs spezifisch für Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen der Zivilgerichte, sondern besteht in prinzipiell gleicher Weise in allen Rechtsgebieten. Denn auch wenn gegen das Urteil eines Straf-, Verwaltungsoder Finanzgerichts eine Verfassungsbeschwerde eingelegt wird, eröffnet diese eine zusätzliche Instanz, so daß das Bundesverfassungsgericht auch hier Vorkehrungen treffen muß, um nicht in die Rolle eines Superrevisionsgerichts zu geraten. In diesen Rechtsgebieten steht es aber außer Zweifel, daß die Grundrechte unmittelbar gelten. Also kann es keinen adäquaten Ausweg darstellen zu versuchen, diese Problematik im Privatrecht – und folgerichtig dann nur in diesem – dadurch zu entschärfen, daß man den Geltungsanspruch der Grundrechte zu einer bloßen „Ausstrahlungswirkung“ herabstuft. Diese hat vielmehr mit der Superrevisionsproblematik nicht das mindeste zu tun und ist daher davon entgegen den Ausführungen im Lüth-Urteil und vielen durch dieses insoweit hervorgerufenen Mißverständnissen strikt zu trennen61. In Wahrheit stellt die Superrevisionsproblematik eine rein verfassungsprozessuale Frage dar62. Diese kann m.E. dogmatisch korrekt nur dadurch gelöst So BVerfGE 73, 261 (Hervorhebung hinzugefügt). Diederichsen AcP 198 (1998) 226. 60 BVerfGE 7, 198, 207. 61 Anders z. B. noch jüngst Badura Festschr. für Odersky, 1996, S. 175. 62 Vgl. zum Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten aus jüngster Zeit die Beiträge von Seidl, Starck, Schmidt und Niehues in Verhandlungen des 61. Deut58 59
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werden, daß man Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG für die Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen einschränkend auslegt; ihre methodologische Legitimation findet eine solche Vorgehensweise wohl darin, daß diese Entscheidungen – anders als Gesetze – nicht abstrakt und generell gelten, sondern Rechtskraft nur für den streitgegenständlichen Fall entfalten. Indessen liegt diese Frage außerhalb meiner Themenstellung, so daß ich sie hier nicht vertiefen kann. Immerhin sei beiläufig angemerkt, daß schon sehr viel gewonnen wäre, wenn man klarer als bisher zwischen der Begründung und dem Ergebnis der vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfenden fachgerichtlichen Entscheidung unterscheiden würde. So ließe sich die Superrevisionsproblematik möglicherweise weitgehend entschärfen, wenn das Bundesverfassungsgericht jeweils strikt darauf abstellen würde, ob die angegriffene Entscheidung von Verfassungs wegen ein anderes Ergeb- [29] nis haben müßte63 und es nicht genügen ließe, daß sie bei richtigem Grundrechtsverständnis ein solches haben könnte; es erscheint mir zumindest erwägenswert, daß sich gerade in diesem Punkt eine spezifisch verfassungsprozessuale von einer spezifisch revisionsrechtlichen Sichtweise unterscheidet. Darin läge allerdings ein ziemlich radikaler Neuansatz, weil verfassungsrechtliche Fehler in der Begründung eines Urteils dann grundsätzlich nicht mehr für einen Erfolg der Verfassungsbeschwerde ausreichen würden. Hält man deshalb diesen Weg für ungangbar – und dafür sprechen gute Gründe –, so sollte in denjenigen Fällen, in denen sich die Aufhebung einer fachgerichtlichen Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nur auf die verfassungsrechtliche Fehlerhaftigkeit ihrer Begründung – wie etwa die Verkennung der tatbestandlichen Reichweite eines Grundrechts – stützt, doch immerhin weitaus intensiver als bisher üblich berücksichtigt werden, daß das zuständige Fachgericht bei seiner erneuten Entscheidung durchaus zu demselben Ergebnis wie vorher kommen kann, sofern nunmehr die Begründung von verfassungsrechtlichen Mängeln frei ist64; das Bundesverfassungsgericht suggeriert leider allzu oft eine ergebnisorientierte Bindung des Fachgerichts auch dann, wenn sich eine solche aus der Verfassung nicht herleiten läßt, und dieses glaubt sich ebenfalls allzu oft verpflichtet, sein bisheriges Ergebnis nunmehr umstoßen zu müssen, statt einfach nur seine Entscheidung im Lichte der Vorgaben des Bundesverfassungsgericht erneut zu überdenken und sich gegebenenfalls auf die Eliminierung der verfassungsrechtlichen Mängel unter Aufrecht-
schen Juristentags, 1996, O 9 ff.; ferner z. B. Starck JZ 1996, 1033 ff.; Berkemann DVBl. 1996, 1028 ff.; Robbers NJW 1998, 935 ff. 63 Darauf läuft möglicherweise der Vorschlag von Starck JZ 1996, 1039 f. hinaus, der das Ergebnis (!) der fachgerichtlichen Entscheidung im Sinne der Schumann’schen Formel als Norm verallgemeinern will. 64 Vgl. als Beispiel die unten V 4 a näher erörterte Entscheidung zum Auskunftsanspruch eines Kindes gegen seine Mutter über die Person seines biologischen Vaters.
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erhaltung des Ergebnisses zu beschränken65. Auch ansonsten ist ein wesentlicher Teil der einschlägigen Schwierig- [30] keiten „hausgemacht“ und ließe sich schon dadurch vermeiden, daß sich das Bundesverfassungsgericht, seinen eigenen Prämissen folgend, keinesfalls in die Lösung von Fragen einmischt, die unterhalb der Ebene der Verfassung liegen und also allein in die Kompetenz der Fachgerichte fallen66. b) Die Ersetzung der „Ausstrahlungswirkung“ durch den Rückgriff auf die Eingriffsverbots- und die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte Der zweite Hauptmangel des Lüth-Urteils liegt auf verfassungsdogmatischer Ebene und besteht darin, daß das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte hier nicht schlicht und einfach in ihrer Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte angewendet, sondern statt dessen den Ausdruck von der „Ausstrahlungswirkung“ gebraucht hat. Dieser bildet schon deshalb nicht mehr als eine Verlegenheitslösung, weil er keinen juristischen Begriff, sondern lediglich eine bildhafte Wendung aus der Umgangssprache darstellt und entsprechend vage ist67. Der Ansatz bei Art. 1 Abs. 3 GG hat demgegenüber den Vorzug, sowohl dogmatisch weitaus klarer und einfacher als auch tatbestandlich präziser zu sein68. 65 Ein krasses Beispiel für einen solchen überschießenden Gehorsam, ja geradezu für eine Überreaktion bildet die zweite Entscheidung des BGH im Fall Böll/Walden NJW 1982, 635, wo der BGH das Ergebnis seines ersten, vom Bundesverfassungsgericht aufgehobenen Urteils durchaus hätte aufrechterhalten können, statt dessen aber ins entgegengesetzte Extrem verfallen ist und dem Beklagten im Rahmen des Verschuldenserfordernisses, welches für den geltend gemachten Anspruch auf Ersatz immateriellen Schadens gilt, das Risiko eines Rechtsirrtums aufgebürdet hat, den derselbe Senat in derselben Sache zuvor (vgl. BGH NJW 1978, 1797) selbst begangen hatte; mit Recht bezeichnet Medicus Schuldrecht II, 8. Aufl. 1997, § 141 II 3 daher die zweite Entscheidung des BGH als „evident unrichtig“. 66 Ein ärgerliches Beispiel für eine solche Einmischung bildet etwa BVerfGE 85, 1, 21 („Coordination gegen Bayer“), wo das Bundesverfassungsgericht sich angemaßt hat, selbst zu entscheiden, daß das Wort „bespitzeln“ eine Tatsachenbehauptung lediglich hinsichtlich des Elements der Beobachtung, nicht aber auch hinsichtlich des Elements der Heimlichkeit enthalte; abgesehen davon ist auch der Grundsatz der „verletzerfreundlichen Auslegung“ von Äußerungen, von dem das Bundesverfassungsgericht hier ausgeht, unzutreffend, vgl. Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 V 1 a = S. 524 f. Übrigens ist die Neigung des Bundesverfassungsgerichts zu derartigen Einmischungen besonders ausgeprägt, wenn es darum geht, ob die Meinungsfreiheit verletzt ist, vgl. dazu die treffende Kritik von Isensee Festschr. für Kriele, 1997, S. 43 f. 67 Treffende Kritik an der Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ ferner bei Lerche Festschr. für Odersky, 1996, S. 216 f., 223, 227 f. 68 Zustimmend Lerche aaO. S. 215, 230 f. (zu den – berechtigten – Einschränkungen, die Lerche insoweit macht, vgl. oben II 3); Hillgruber AcP 191 (1991) 71 f. und Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 128 f.; Singer JZ 1995, 1136; Oldiges Festschr. für Friauf, 1996,
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Danach braucht man nämlich, wie soeben ausge- [31] führt69, lediglich die ratio decidendi, die der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung des Zivilgerichts zugrunde liegt, als Norm zu formulieren und unmittelbar an den Grundrechten zu messen. Diese hätte im Fall Lüth etwa folgendermaßen gelautet: „Ein Aufruf zum Boykott eines Films verpflichtet auch dann, wenn er von einer Privatperson ohne den Einsatz wirtschaftlicher oder ähnlicher Druckmittel und ohne Wettbewerbsabsicht ausgesprochen wird, zum Schadensersatz gegenüber den Inhabern der betroffenen Kinos und kann von diesen bei Wiederholungsgefahr im Wege der Unterlassungsklage verboten werden“. Es scheint mir auf der Hand zu liegen, daß eine solche Norm einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 5 Abs. 1 GG darstelle70 (wenn man einmal von dem im vorliegenden Zusammenhang irrelevanten Zusatzproblem absieht, ob Boykottaufrufe überhaupt in den tatbestandlichen Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG fallen71); und es scheint mir zumindest nicht fernzuliegen, daß eine solche Norm bei einer Verhältnismäßigkeitsprüfung – wie sie das Bundesverfassungsgericht im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 GG der Sache nach unter dem Stichwort der Wechselwirkungstheorie vornimmt72 – ohne größeren Begründungsaufwand als verfassungswidrig zu verwerfen ist. Das Bundesverfassungsgericht hätte im Fall Lüth somit ohne Schwierigkeiten mit der herkömmlichen Funktion der Grundrechte als Eingriffsverbote auskomS. 300, 303; im Ansatz auch Jarass AöR 120 (1995) 352 f., der jedoch offenbar die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ gleichwohl beibehalten und nur entsprechend präzisieren will; wenn freilich Oldiges und Jarass im vorliegenden Zusammenhang nur die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte heranziehen wollen, so entspricht das nicht dem hier vertretenen Standpunkt, da danach die Eingriffsverbotsfunktion gleichermaßen relevant ist, wie sogleich im Text ausgeführt werden wird – und zwar gerade am Fall Lüth. 69 Vgl. oben III 1 c. 70 Vgl. Canaris AcP 185 (1985) 10 f. und JuS 1989, 167; insoweit ähnlich Lübbe-Wolff Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 165 f.; Oeter AöR 119 (1994) 535 f. Das Bundesverfassungsgericht kommt dieser Sichtweise ganz nahe, wenn es in dem Beschluß E 42, 143, 149 („Deutschland-Magazin“) über ein von einem Zivilgericht im Rahmen einer Unterlassungsklage ausgesprochenes Verbot, eine bestimmte Äußerung zu wiederholen, sagt: „Ein solches Verbot ist stets, gleichgültig, ob es im staatlichen Interesse oder zugunsten Privater erfolgt, ein empfindlicher Eingriff (!), an dessen Verfassungsmäßigkeit strenge Anforderungen zu stellen sind.“ 71 Das hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bejaht, vgl. BVerfGE 7, 198, 210; in dieser Hinsicht ist dem Urteil m. E. uneingeschränkt zuzustimmen, vgl. eingehend Canaris JuS 1989, 167 mit Nachw. zur Gegenmeinung. 72 Vgl. zur Interpretation der Wechselwirkungstheorie als einer Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips näher Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 V 1 vor a; ähnlich, wenngleich mit entgegengesetzter dogmatischer Akzentuierung Schmidt-Jortzig in HbdStR Bd. VI, 1989, § 141 Rdn. 43. Mit Recht weist freilich Lerche in HbdStR Bd. V, 1992, § 122 Rdn. 21 auf die Gefahr hin, daß sich wegen der mit der Wechselwirkungstheorie verbundenen Einzelfallprüfung „der Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes im Effekt zu einem Urteilsvorbehalt für den ganz konkreten Einzelfall verkehrt“.
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men können. Es hätte sich hier daher sowohl [32] die These von der „objektiven Wertordnung“, welche die Verfassung angeblich in ihrem Grundrechtsabschnitt aufgerichtet hat, als auch den Rückgriff auf die Grundrechte als „objektive Normen“ ohne weiteres ersparen können. Bekanntlich ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Hinsicht vielfältiger und z. T. sehr heftiger Kritik ausgesetzt. Ob diese berechtigt ist, kann hier dahinstehen. Denn relevant ist im vorliegenden Zusammenhang nur, daß das Lüth-Urteil auch ohne diese Kategorien hätte auskommen können und sich mit Hilfe der herkömmlichen Eingriffsverbotsfunktion der Grundrechte hätte begründen lassen73. Von einem „methodologischen Staatsstreich“ oder dgl. kann daher keine Rede sein. Bei anderen Problemen praktiziert das Bundesverfassungsgericht denn auch eine Vorgehensweise, welche der hier vertretenen Ansicht sehr nahe- oder sogar gleichkommt. So prüft es z. B. die Anwendung und Auslegung von § 564b BGB durch die Zivilgerichte darauf, ob sie sich innerhalb der Grenzen hält, welche dem Gesetzgeber durch Art. 14 GG gezogen sind74. Von diesem Ansatz aus dürfte es nur noch ein kleiner Schritt zu der oben 1 c verfochtenen These sein, daß die ratio decidendi einer Gerichtsentscheidung als Norm zu formulieren und dann wie eine solche unmittelbar an den Grundrechten zu messen ist. c) Praktische Unterschiede Außerdem hätte die Anwendung der Grundrechte als Eingriffsverbote an Stelle der dunklen Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ noch den weiteren Vorzug gehabt, daß es auf mehrere Umstände des Einzelfalles, auf die das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil abgestellt hat, sowie auf die dazu entwickelten Kriterien von vornherein nicht angekommen wäre. Das gilt vor allem für das höchst angreifbare Erfordernis, daß es sich „um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten handelt“75. Darauf werde ich noch zurückkommen76. [33] Unmittelbar auf das Ergebnis durchschlagen kann im übrigen, daß vom hier vertretenen Standpunkt aus das Übermaßverbot und insbesondere das Verhältnismä73 Entgegen Diederichsen AcP 198 (1998) 217f. trifft es daher nicht zu, daß ohne das Verständnis der Grundrechte als Wertordnung „ein Übergreifen der Abwehrrechte auf das Privatrecht – schon wegen ihrer Staatsgerichtetheit – methodisch von Anfang an ausgeschlossen gewesen wäre“. 74 Vgl. z. B. BVerfGE 79, 283, 289 f.; 79, 292, 303; 81, 29, 32 f.; 82, 6, 16; vgl. ferner die Darstellung in MünchKomm.-Voelskow 3. Aufl. 1995, § 564b Rdn. 9. 75 BVerfGE 7, 198, 212. 76 Vgl. unten V 2 und 3 a.
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ßigkeitsprinzip i.e.S. auf die den zivilgerichtlichen Entscheidungen zugrunde liegenden Sätze anzuwenden ist, sofern diese ein Grundrecht einschränken. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht in der Mephisto-Entscheidung lediglich das Willkürverbot herangezogen77. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich dabei gegen ein Urteil des BGH, durch welches dieser einer Klage gegen die Verbreitung des Romans „Mephisto“ von Klaus Mann mit der Begründung stattgegeben hatte, in diesem werde in wenngleich verschlüsselter Weise das Lebensbild des – damals schon verstorbenen – Schauspielers Gründgens entstellt, was mit dessen postmortalem Persönlichkeitsschutz unvereinbar sei. Darin liegt tatbestandlich ein Eingriff in die Kunstfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG durch eine (ungeschriebene) Norm des Privatrechts und ihre richterliche Konkretisierung. Folglich hätte die verfassungsrechtliche Prüfung nicht lediglich am Maßstab des Willkürverbots, sondern an demjenigen des Übermaßverbots erfolgen müssen78. Da Art. 5 Abs. 3 GG keinen Gesetzesvorbehalt aufweist, hätte außerdem berücksichtigt werden müssen, daß dieses Grundrecht nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur aus Gründen eingeschränkt werden darf, die ihrerseits ebenfalls Verfassungsrang haben. Die richtige Fragestellung wäre daher gewesen, ob es zum Schutze der – durch Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten – Persönlichkeit von Gründgens von Verfassungs wegen geboten war, die Verbreitung des Buches zu untersagen, obwohl dieser bereits tot und die durch die Verschlüsselung erfolgte künstlerische Verfremdung ziemlich ausgeprägt war. Stellt man die Frage so, kann man sie nur verneinen, so daß der Verfassungsbeschwerde entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stattzugeben gewesen wäre79. IV. Die Einwirkung der Grundrechte auf das Verhalten der Privatrechtssubjekte Bisher war von der Einwirkung der Grundrechte auf die Normen des Privatrechts sowie auf deren Anwendung und Fortbildung die Rede. Nicht thematisiert worden ist dagegen bisher die Frage, ob und [34] wie die Privatrechtssubjekte selbst an die Grundrechte gebunden sind. Diese – und nach richtiger Ansicht nur diese – Problematik bildet den Gegenstand der Diskussion um die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte. Deren Verständnis wird ungemein erleichtert, wenn man drei Fragen klar voneinander trennt und jeweils explizit beantwortet. Erstens: Wer ist Adressat der Grundrechte – nur der Staat und seine Organe oder BVerfGE 30, 173, 199. Ausdrücklich a. A. Rüfner in HbdStR Bd. V, 1992, § 117 Rdn. 70 bei Fn. 207. 79 Vgl. näher Canaris JuS 1989, 172 und Larenz/Canaris aaO. § 80 V 2 a. 77 78
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auch die Subjekte des Privatrechts? Zweitens: Wessen Verhalten ist Gegenstand der Prüfung an den Grundrechten – das Verhalten eines staatlichen Organs oder eines privatrechtlichen Subjekts? Und drittens: In welcher Funktion finden die Grundrechte Anwendung – als Eingriffsverbote oder als Schutzgebote? 1. Die Unterscheidung nach dem Normadressaten der Grundrechte: unmittelbare und mittelbare „Drittwirkung“ a) Ablehnung der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ Die Frage nach dem Adressaten der Grundrechte steht hinter dem berühmten Streit zwischen der Lehre von der unmittelbaren und derjenigen von der mittelbaren Drittwirkung. Versteht man erstere richtig80, so richten sich die Grundrechte nach dieser Konzeption nicht nur gegen den Staat, sondern außerdem auch gegen die (jeweils anderen) Privatrechtssubjekte. Die Grundrechte bedürfen danach also grundsätzlich keiner Transformation in das privatrechtliche Regelungssystem, sondern führen ohne weiteres zu Eingriffsverboten im Privatrechtsverkehr und zu Abwehrrechten gegenüber anderen Privatrechtssubjekten. Bei konsequenter Durchführung dieser Sichtweise enthält somit jedes Grundrecht ein gesetzliches Verbot i.S. von § 134 BGB, welches seine Einschränkung durch ein Rechtsgeschäft grundsätzlich verbietet, und ein subjektives Recht i.S. von § 823 Abs. 1 BGB, dessen Verletzung grundsätzlich zum Schadensersatz verpflichtet. Selbstverständlich ist es rechtslogisch gesehen möglich, die Grundrechte in dieser Weise zu verstehen. Auch rechtspraktisch gesehen ist das keineswegs völlig ausgeschlossen. Das zeigt z. B. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, wo ausdrücklich bestimmt ist, daß Abreden, welche die Koalitionsfreiheit einschränken oder zu behindern suchen, nichtig und hierauf gerichtete Maßnahmen rechtswidrig sind. Wenn man diesen Ansatz jedoch verallgemeinert, führt er zu untragbaren dogmatischen Konsequenzen, da dann weite Teile des Privatrechts, insbesondere des Vertrags- und des Deliktsrechts auf die Ebene des Verfassungsrechts geho- [35] ben und ihrer Eigenständigkeit beraubt würden. Außerdem gerät man in große praktische Schwierigkeiten, weil man die meisten Rechtsfolgen, zu denen diese Konzeption bei folgerichtiger Durchführung gelangen müßte wie etwa die Nichtigkeit grundrechtseinschränkender Verträge, wegen ihrer offenkundigen Unhaltbarkeit wieder hinweginterpretieren muß. Mit Recht hat sich die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung daher nicht durchgesetzt, was heutzutage keiner näheren Ausführung mehr bedarf. 80
Vgl. hierzu und zum folgenden eingehend Canaris AcP 184 (1984) 202 ff.
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b) Die Unterscheidung zwischen „unmittelbarer Drittwirkung“ und „unmittelbarer Geltung“ der Grundrechte Allerdings herrscht hier mancherlei terminologische Verwirrung. So könnte man z. B. auf den ersten Blick meinen, daß Hager sich zur Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung bekennt81. Sieht man genauer hin, so stellt man indessen fest, daß er sich mit der Frage nach dem Adressaten der Grundrechte gar nicht befaßt und nur die Unmittelbarkeit ihrer Geltung meint. Man sollte daher m.E. zur Vermeidung von Mißverständnissen zwischen unmittelbarer Drittwirkung und unmittelbarer Geltung der Grundrechte unterscheiden. Das empfiehlt sich nicht zuletzt deshalb, weil sonst auch die unmittelbare Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte als unmittelbare Drittwirkung bezeichnet werden könnte, was in der Tat mitunter geschieht, jedoch widersinnig ist82. Von unmittelbarer Drittwirkung sollte man demgemäß nur dann sprechen, wenn sich die Grundrechte wie im Falle von Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG unmittelbar gegen Subjekte des Privatrechts richten83. [36] Als ein erstes Zwischenergebnis läßt sich somit festhalten: Normadressaten der Grundrechte sind grundsätzlich nur der Staat und seine Organe, nicht dagegen die Subjekte des Privatrechts.
Hager JZ 1994, 383. Ungenau und z. T. irreführend ist daher in dieser Hinsicht die Darstellung meiner Position durch Diederichsen AcP 198 (1998) 201 mit Fn. 119, wo von einem „flexiblen Alternieren zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung“ gesprochen wird, während ich in Wahrheit die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ generell ablehne, wohl aber eine unmittelbare Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte bejahe; auf diesem abweichenden Gebrauch des Wortes „Drittwirkung“ beruht auch die Darstellung bei Diederichsen aaO. S. 224 mit Fn 248. 83 Ausdrücklich abgelehnt wird eine derartige terminologische Festlegung von Alexy Theorie der Grundrechte, 1985, S. 489 f. Damit wird er jedoch m. E. dem Anliegen der Anhänger der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung, wenn man dieses in eine rechtstheoretisch konsistente Formulierung umsetzt, nicht gerecht, sondern übt in Wahrheit bereits – berechtigte – Kritik an einer solchen Konzeption; außerdem führt Alexys eigene Definition der unmittelbaren Drittwirkung, wonach diese dadurch gekennzeichnet ist, daß „aus grundrechtlichen Gründen bestimmte Rechte und Nicht-Rechte ... in der Bürger/Bürger-Relation bestehen, die ohne diese Gründe nicht bestehen würden“ (aaO. S. 490) zu der zwar folgerichtigen, aber terminologisch unzweckmäßigen, weil die Unterschiede einebnenden Konsequenz, daß „die Theorie der mittelbaren Drittwirkung zwingend eine unmittelbare Drittwirkung zur Folge hat“ (aaO. S. 490); vgl. dazu auch noch unten V 3 b bei und mit Fn. 181 zur Interpretation des Blinkfüer-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts. 81 82
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2. Die Unterscheidung nach dem Gegenstand der Prüfung an den Grundrechten: Akte des Staates und Akte von Privatrechtssubjekten Daraus folgt ohne weiteres das zweite Zwischenergebnis: Gegenstand der Prüfung an den Grundrechten sind grundsätzlich nur staatliche Regelungen und Akte, also vor allem Gesetze und Gerichtsentscheidungen, nicht dagegen auch solche von Privatrechtssubjekten, also vor allem Rechtsgeschäfte und Delikte84. Denn wenn – und soweit – diese Subjekte gar nicht Adressaten der Grundrechte sind, kann ihr Verhalten logischerweise auch nicht unmittelbar am Maßstab der Grundrechte gemessen werden. Wenn das nun aber gleichwohl in irgendeiner Weise „mittelbar“ geschieht – und das entspricht i.E. bekanntlich nahezu allgemeiner Ansicht –, muß es noch eine gedankliche Brücke geben, die das in dogmatisch konsistenter Weise ermöglicht. Diese findet man, wenn man fragt, in welcher Funktion die Grundrechte hier einschlägig sind: als Eingriffsverbote oder als Schutzgebote. [37] 3. Die Unterscheidung nach der Funktion der Grundrechte: Eingriffsverbote und Schutzgebote a) Möglichkeiten und Grenzen des „Eingriffsdenkens“ und seine Ergänzung durch die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte Wie ich am Beispiel des Lüth-Urteils klarzumachen versucht habe, läßt sich ein Teil der einschlägigen Fälle bereits mit Hilfe der Eingriffsverbotsfunktion der Grundrechte angemessen erfassen. Um es noch einmal zu verdeutlichen: Wenn einem Privatrechtssubjekt nach § 826 BGB ein Boykottaufruf verboten wird, ist die vom Gericht zugrunde gelegte ratio decidendi als Norm zu formulieren und wie eine solche an Art. 5 Abs. 1 GG in seiner Funktion als Eingriffsverbot i. V. mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu messen85. 84 Vgl. zu dieser Unterscheidung eingehend Canaris AcP 184 (1984) 202 ff., AcP 185 (1985) 9 f. und JuS 1989, 161; zustimmend z. B. Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. III/1, 1988, § 76 IV 2 a; der Sache nach ablehnend Schwabe AcP 185 (1985) 1 ff. mit Erwiderung von mir aaO. S. 9 ff.; ausdrücklich ablehnend Diederichsen AcP 198 (1998) 203 f., 207 f., 213, nach dessen Ansicht „das Privatrecht für die Grundrechtskontrolle unabhängig davon, ob die jeweils zu prüfende Rechtsfolge auf einer Rechtsnorm oder auf einem privatautonomen Akt beruht, eine homogene Masse gleichartigen Rechtsstoffs darstellt ...“, was indessen schon deshalb nicht richtig sein kann, weil danach (u. a.) zwingendes Gesetzesrecht auf einer Stufe mit rechtsgeschäftlichen Regelungen stünde. 85 Vgl. oben III 1 c und 2 b.
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Eine solche Sichtweise ist indessen keineswegs immer möglich. Man denke etwa an die Bürgschaftsfälle86. Indem der BGH den Bürgen zur Zahlung verurteilt hat, hat er lediglich der aus dem Bürgschaftsvertrag folgenden Rechtsbindung zur Anerkennung verholfen. Nicht eine Norm oder die Entscheidung des Gerichts sind es, die hier in ein Grundrecht des Bürgen – nämlich seine durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie – eingreifen87; vielmehr sind es die Parteien und insbesondere der Bürge selbst, die das Grundrecht eingeschränkt haben, doch kommt diese Einschränkung, wie soeben dargelegt, als solche von vornherein nicht als Gegenstand der grundrechtlichen Prüfung in Betracht, weil sie nicht durch einen staatlichen, sondern einen privatautonomen Akt erfolgt ist. Worum es in Wahrheit geht, ist ein Unterlassen des BGH; denn dieser hat sich geweigert, den Bürgen von seiner vertraglichen Verpflichtung zu entlasten – etwa mit Hilfe von § 138 BGB, § 242 BGB oder der Lehre von der culpa in contrahendo. Das „Eingriffsdenken“ stößt hier somit offenkundig an seine Grenzen. Ähnliche Konstellationen können sich auch im außervertraglichen Bereich ergeben. Man denke etwa an den Fall Böll/Walden. In diesem hatte der Journalist Walden eine Äußerung des Schriftstellers Heinrich Böll so verwendet, als handele es sich um ein wörtliches Zitat, obgleich er sie abgewandelt und dadurch entstellt hatte. Zwar lag darin ein Eingriff Waldens in das allgemeine Persönlichkeitsrecht Bölls, doch [38] kommt es darauf wie dargelegt entgegen der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ im vorliegenden Zusammenhang wiederum nicht an, weil Walden als Privatrechtssubjekt nicht Adressat der Grundrechte ist und sein Handeln als solches daher nicht den Gegenstand der Prüfung an diesen bildet. Die Abweisung von Bölls Schadensersatzklage gegen Walden durch den BGH88 stellte nun aber ebenfalls keinen Eingriff in dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht dar89, der ja schon durch Walden erfolgt war, sondern erschöpfte sich in der Weigerung, dieses zu schützen. Damit ist das entscheidende Stichwort gefallen: Hier hilft die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte weiter. Diese bildet in der Tat eine überzeugende dogmatische Erklärung für die „mittelbare Drittwirkung“ der Grundrechte, um die es im vorliegenden Zusammenhang der Sache nach geht (wenn man den Terminus nicht überhaupt verabschieden will, wofür manches spricht). Zum einen bleibt es
Vgl. dazu oben I 1 sowie näher unten IV 3 e. Vgl. hierzu und zu der zugrunde liegenden „Anerkennungstheorie“ eingehend Canaris AcP 184 (1984) 217 ff. in Auseinandersetzung mit der abweichenden Position von Schwabe. 88 BGH NJW 1978, 1797; aufgehoben durch BVerfGE 54, 208. 89 Das könnte man freilich problematisieren und vertiefen; es gelten dann mutatis mutandis die Ausführungen sogleich unten b zur Variation des Falles Lüth. 86 87
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nämlich bei der Einsicht, daß Adressat der Grundrechte nur der Staat ist90, weil ja auch die Verpflichtung zu ihrem Schutz diesen trifft; und zum anderen wird zugleich klar, warum dadurch andere Bürger betroffen werden und die Grundrechte – gewissermaßen auf einem Umweg – auch ihnen gegenüber Wirkungen entfalten: eben deshalb, weil der Staat bzw. die Rechtsordnung auch im Privatrechtsverkehr grundsätzlich verpflichtet ist, den einen Bürger vor dem anderen Bürger zu schützen. Diese Sichtweise entspricht inzwischen der ganz h. L.91, liegt erkennbar der neue- [39] ren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, wie sie sich in der Handelsvertreter- und vor allem in der Bürgschaftsentscheidung sowie jüngst in dem Kammerbeschluß zum Auskunftsanspruch eines Kindes gegen seine Mutter über die Person seines leiblichen Vaters92 manifestiert, und ist unlängst vom Bundesarbeitsgericht ausdrücklich rezipiert worden93. b) Die argumentative und dogmatische Eigenständigkeit der Schutzgebotsgegenüber der Eingriffsverbotsfunktion, demonstriert an der „Umkehrung“ des Lüth-Falles Voll verständlich wird dieses Konzept freilich erst, wenn man hinzunimmt, daß die Verfassung lediglich verbietet, ein gewisses Minimum an Schutz zu unter-
90 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 227; Stern aaO. § 76 IV 5 c; Isensee in HbdStR Bd. V, 1992, § 111 Rdn. 3 und 5; insoweit abweichend, jedoch m. E. nicht folgerichtig, Bleckmann DVBl. 1988, 942 vor II. 91 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 225 ff. und JuS 1989, 163 f.; Bydlinski in Rack (Hrsg.) Grundrechtsreform, 1985, S. 183 f.; Stern aaO. § 76 III 4 b und 5; Badura Festschr. für Molitor, 1988, S. 9; Bleckmann DVBl. 1988, 942 und Staatsrecht Bd. II, 4. Aufl. 1997, § 10 Rdn. 127; Hermes NJW 1990, 1765; Höfling Vertragsfreiheit, 1991, S. 53; Rüfner in HbdStR Bd. V, 1992, § 117 Rdn. 60 mit Fn. 180; H.H. Klein DVBl. 1994, 492; J. Hager JZ 1994, 378 ff; Oeter AöR 119 (1994) 536 f., 549 f.; Spieß DVBl. 1994, 1225; Starck Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 67 f.; Jarass AöR 120 (1995) 352 f.; Singer JZ 1995, 1136 ff.; Lerche Festschr. für Odersky, 1996, S. 230 f. (mit berechtigten Einschränkungen, vgl. dazu oben II 3); Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 299 ff.; Unruh Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 71 ff.; Isensee Festschr. für Kriele, 1997, S. 32 und mit Einschränkungen auch schon in HbdStR aaO. § 111 Rdn. 134 ff.; ablehnend vor allem Zöllner AcP 196 (1996) 11 f., 36; Diederichsen AcP 198 (1998) 249 ff.; einen merkwürdigen Sonderweg geht Giegerich Privatwirkung der Grundrechte in den USA, 1992, S. 27, 34, der die Schutzgebote nicht aus den einzelnen Grundrechten selbst, sondern aus einem gegenüber diesen selbständigen gesonderten Grundrecht auf Sicherheit ableiten will. 92 BVerfGE 96, 56, 64, wo es für ein geradezu klassisches Drittwirkungsproblem heißt, daß „die Zivilgerichte mangels einer Entscheidung des Gesetzgebers im Wege der Rechtsfortbildung oder der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe die Schutzpflicht wahrnehmen“; vgl. im übrigen zu dieser Entscheidung näher unten V 4 a. 93 BAG NZA 1998, 715; 1998, 716.
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schreiten94. Das habe ich seinerzeit „Untermaßverbot“ getauft95 – ein Ausdruck, den sich das Bundesverfassungsgericht inzwischen zueigen gemacht hat96. Analysiert man die einschlägigen privatrechtlichen Probleme genauer, so zeigt sich, daß die Argumentationsweise in wesentlichen Punkten eine andere ist als bei der Anwendung der Grundrechte als Eingriffsverbote i. V. mit dem Übermaßverbot und daß die Schutzgebotsfunktion i. V. mit dem Untermaßverbot demgemäß in der Tat eine eigenständige dogmatische Figur darstellt. Worum es hier geht, läßt sich gut an einer lehrreichen Variation des LüthUrteils97 verdeutlichen. Nimmt man an, das Zivilgericht hätte die Unterlassungsklage der Kinounternehmer oder eine solche des Regisseurs Veit Harlan abgewiesen, so befänden sich diese in Umkehrung der Prozeßrollen nunmehr ihrerseits in der Position des Beschwerdeführers vor dem Bundesverfassungsgericht. Natürlich kann sich das [40] Ergebnis dadurch nicht ändern, doch ändern sich Konstruktion und Begründung. Von einem Eingriff durch das Zivilgericht bzw. durch die von diesem zugrunde gelegte „Fallnorm“ in Grundrechte der Beschwerdeführer kann dann nämlich nicht die Rede sein. Vielmehr handelt es sich lediglich darum, daß die Rechtsordnung diesen keinen Schutz vor dem Boykottaufruf gewährt98, also um die Problematik des Untermaßverbots99. Zwar mag es sein, daß Lüth die Kunstfreiheit Veit Harlans beeinträchtigt hat (obwohl ich sogar das ablehnen würde, weil die Kunstfreiheit hier schon tatbestandlich gar nicht berührt ist100), doch kann man dieses Verhalten grundsätzlich nicht dem Staat zurechnen. Denn in einer freiheitlichen Rechtsordnung, wie sie sowohl dem GG als auch dem BGB als Leitbild zugrunde liegt, besteht die rechtliche Ausgangslage darin, daß der Staat das Verhältnis seiner Bürger untereinander grundsätzlich nicht durch Ge- und Verbote regelt; demgemäß ist zwischen diesen zulässig101,
94 Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht daher in seiner Entscheidung zu § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG die verfassungsrechtliche Prüfung darauf beschränkt, ob der „durch Art. 12 Abs. 1 GG gebotene Mindestschutz der Arbeitnehmer“ gewährleistet ist, vgl. BVerfG NJW 1998, 1475 Leits. 2 und S. 1476 unter 3 b cc (Hervorhebung hinzugefügt). 95 Canaris AcP 184 (1984) 228 und 245 sowie JuS 1989, 163. 96 BVerfGE 88, 203, 254 ff. 97 Vgl. zu diesem eingehend oben III 2. 98 Ähnlich Oeter AöR 119 (1994) 536; insoweit übereinstimmend auch Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 287. Dieser schüttet jedoch das Kind mit dem Bade aus, indem er daraus auch im umgekehrten Falle – also bei dem Unterliegen Lüths vor dem Zivilgericht – schließt, daß man dabei nicht von einem Eingriff sprechen könne; insbesondere verkennt er, daß dieser nicht in dem zivilgerichtlichen Urteil als solchem, sondern in dessen – als Norm zu denkender – ratio decidendi liegt, vgl. oben III 1 c. 99 Im Ansatz übereinstimmend Isensee Festschr. für Kriele, 1997, S. 32. 100 Vgl. näher unten VI 2 a. 101 Nicht selten wird statt dessen „erlaubt“ gesagt, doch führt das leicht zu Mißverständnissen, weil dieses Wort mehrdeutig ist: es kann sowohl als Synonym für „nicht verboten“ als auch
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was nicht verboten ist. Wenn also der Staat den einen Bürger gegenüber dem anderen unreglementiert gewähren läßt, so liegt darin grundsätzlich nicht etwa die Erteilung einer Erlaubnis zu einem Eingriff in die Gütersphäre des anderen – welche überdies auch erst noch als rechtlich geschützt tatbestandlich definiert werden müßte!102 –, sondern schlicht und einfach das Unterbleiben einer Einmischung103. [41] Die gegenteilige Ansicht, wie sie von den Anhängern der „etatistischen Konvergenztheorie“104 vertreten wird105, läuft letztlich darauf hinaus, daß jede (!) zulässige Beeinträchtigung des einen Bürgers durch einen anderen entweder auf einem Akt staatlicher Delegation an den ersteren oder auf einer rechtlichen Duldungspflicht des letzteren beruht bzw. daß alles menschliche Handeln grundsätzlich einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterliegt. Eine solche Konzeption ist als generelles Denkmodell wegen ihrer prinzipiellen Freiheitswidrigkeit unhaltbar und wird von der h. L. mit Recht abgelehnt106. Wenn also Lüth die Kunstfreiheit Veit Harlans beeinträchtigt und das ohne rechtliche Sanktion bleibt, so handelt er dabei nicht in Ausübung irgendeiner besonderen Befugnis, sondern in Wahrnehmung seiner allgemeinen Freiheit, wie sie im Verhältnis der Bürger untereinander grundsätzlich als Ausgangslage gegeben ist. Gleiches gilt folgerichtig auch gegenüber den Kinounternehmern, ohne daß es in diesem Zusammenhang darauf ankommt, ob deren Recht am Gewerbe-
für „auf einer Erlaubnis beruhend“ verwendet werden; vgl. auch die Unterscheidung zwischen „negativer“ und „positiver“ Erlaubnis bei Kelsen Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 16. 102 Per se versteht sich das wohl nur für die Anwendung von physischer Gewalt durch Privatpersonen und für Lügen im Rechtsverkehr (sowie für etwaige sonstige vergleichbare Elementarverstöße), weil deren grundsätzliche Unzulässigkeit geradezu die Grundlage aller staatlichen und rechtlichen Ordnung bildet und für deren Funktionsfähigkeit schlechthin unerläßlich ist; vgl. dazu auch Isensee in HbdStR Bd. V, 1992, § 111 Rdn. 98 sowie im übrigen auch unten Fn. 108. 103 Natürlich ist zuzugeben, daß es Abgrenzungsschwierigkeiten und Ausnahmen gibt, doch ändern diese nichts daran, daß die hier vertretene Sichtweise im Grundsätzlichen zutrifft, vgl. näher sogleich unter c. 104 Der Terminus stammt, soweit ersichtlich, von Isensee aaO. § 111 Rdn. 118. 105 Hauptrepräsentanten sind Schwabe Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 26 ff., 62 ff. und Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213 ff. sowie Murswiek Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 63 ff., 91 ff. 106 Vgl., mit im einzelnen unterschiedlichen Akzentsetzungen, Canaris AcP 184 (1984) 217– 219, 230 f. und AcP 185 (1985) 11 f.; Alexy Theorie der Grundrechte, 1985, S. 415 ff.; Robbers Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 128 f.; Hermes Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 95 ff.; Lübbe-Wolff Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 168 ff.; Stern aaO. § 66 III 2 b, § 67 V 2 a und § 69 IV 5 b; E. Klein NJW 1989, 1639; Höfling Vertragsfreiheit, 1991, S. 50 ff.; Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, 39 ff.; Sass Art. 14 GG und das Entschädigungserfordernis, 1992, S. 407 ff.; Isensee aaO. § 111 Rdn. 119; Starck aaO. S. 73 f.; Unruh aaO. S. 46 f.; Baston-Vogt Der sachliche Schutzbereich des zivilrechtlichen allgemeinen Persönlichkeitsrechts, 1997, S. 68 ff.
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betrieb durch Art. 14 GG geschützt ist107. Ebenso wenig kann etwa von einer Rechtspflicht Veit Harlans und/oder der Kinounternehmer zur Hinnahme des Boykottaufrufs die Rede sein. Vielmehr steht es diesen völlig frei, sich im Meinungskampf ihrerseits zu wehren – z. B. durch Gegendarstellungen, Reklame, Kritik an Lüth usw.; daß sie nicht zu phy- [42] sischer Gewalt gegen ihn greifen dürfen, hat nichts mit einer Duldungspflicht zu tun108, sondern schließt nur eines unter mehreren denkbaren Mitteln der Gegenwehr wegen seiner prinzipiellen Inakzeptabilität109 aus. Weisen die Zivilgerichte also eine Unterlassungsklage gegen Lüth ab, so handelt es sich demgemäß in der Tat von vornherein nicht um einen staatlichen Eingriff in Grundrechte, sondern lediglich um die Unterlassung ihres Schutzes durch die Rechtsordnung. Das wird vollends offenkundig, wenn man auch hier die ratio decidendi als Norm formuliert110. Sie könnte in etwa lauten: Ein gegen einen Film gerichteter Boykottaufruf, der ohne wirtschaftlichen Druck und ohne Wettbewerbsabsicht erfolgt, verletzt den Regisseur und die Inhaber von Kinos, in denen der Film gespielt wird, nicht (!) in einem sonstigen Recht i.S. von § 823 Abs. 1 BGB und verstößt nicht (!) gegen die guten Sitten i.S. von § 826 BGB, so daß diesen kein (!) Unterlassungsanspruch gegen den Aufrufer zusteht – eine Formulierung, die 107 Anders insoweit wohl Pietzcker Festschr. für Dürig, 1990, S. 359; auch wenn man die „Freiheit vom Boykottaufruf“ grundsätzlich zum notwendigen Inhalt des Unternehmensschutzes nach Art. 14 GG zählen würde, wie Pietzcker aaO. erwägt, so würde es sich doch jedenfalls nicht um einen Verstoß gegen das Verbot von Gewalt, Lüge und dgl. handeln, was insoweit ausschlaggebend ist, vgl. dazu oben Fn. 102. 108 Das verkennt Murswiek aaO. S. 92. Unzutreffend sind demgemäß auch seine – für ihn essentiellen – Thesen: „Was nicht verboten ist, daran darf man nicht gehindert werden“ und ,,Wer in seinem unverbotenen Verhalten von Dritten gestört wird, hat einen gerichtlich durchsetzbaren Abwehranspruch“, aaO. S. 66. Man darf einen anderen z. B. grundsätzlich an der Wahrnehmung von Chancen hindern, indem man sie selbst ausnutzt – etwa indem man im Wettbewerb ein günstigeres Angebot macht, indem man sich vor einem anderen auf einen freien Platz im Zug setzt, indem man ihm bei der Aneignung einer herrenlosen Sache zuvorkommt usw.; nur wenn man sich dabei rechtlich mißbilligter Mittel bedient oder die Chance sich rechtlich „verdichtet“ hat (zum subjektiven Recht oder zum Besitz i. S. von § 858 BGB), ist man einem Abwehranspruch ausgesetzt. Soweit es nicht um das Verbot von Gewalt, Lüge und ähnlich elementaren Verstößen geht (vgl. dazu auch oben Fn. 102), bedarf es somit grundsätzlich einer rechtlichen Festlegung des unzulässigen Verhaltens bzw. der geschützten Rechtsposition. Das gilt weitgehend sogar für so fundamentale Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Sacheigentum. Entgegen der Ansicht von Murswiek aaO. S. 63 (im Anschluß an Schwabe) kann sich nämlich derjenige, der einem Risiko ausgesetzt ist, welches „ohne Erlaubnis verursacht“ worden ist, gegen dieses keineswegs immer „rechtlich zur Wehr setzen“; denn die Schaffung eines Gefahrenherdes ist bekanntlich nicht per se rechtswidrig, sondern nur dann, wenn sie gegen eine – jeweils „positiv“ festzustellende – Verkehrspflicht verstößt, und auch der Gefährdungshaftung liegt kein Rechtswidrigkeitsurteil zugrunde, vgl. dazu näher Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 75 II 3 und § 76 III 1 bzw. § 84 I 3 a. 109 Vgl. oben Fn. 102. 110 Vgl. zu dieser Vorgehensweise näher oben III 1 c.
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durch ihre negative Fassung sehr gut deutlich werden läßt, daß es um eine Verweigerung von Rechtsschutz geht. Um eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde abzuweisen, bedarf es nun nicht einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung wie bei [43] derjenigen von Lüth selbst, sondern nur des schlichten Hinweises darauf, daß die Verfassung gegenüber einem Boykottaufrufer, der sich allein der Kraft des Wortes und nicht – wie im ganz anders gelagerten Fall Blinkfüer111 – wirtschaftlichen Druckes bedient, keinerlei Anlaß zu einem Schutz des Boykottierten hat; auch, ja gerade Kunst muß sich im freien Meinungskampf aus eigener Kraft durchsetzen und darf nicht erwarten, daß ihr der Staat dabei schützend zu Hilfe eilt! Auch wenn man hier Art. 14 GG bzw. Art. 5 Abs. 3 GG als „berührt“ ansieht112, scheitern die Beschwerdeführer somit bei dieser Konstellation schon daran, daß sich eine grundrechtliche Pflicht zu ihrem Schutz nicht begründen läßt, und kommen also bereits über diese erste Argumentationsschwelle nicht hinweg, so daß man gar nicht erst bis zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung und der damit verbundenen Abwägungslösung gelangt. c) Die schwächere Wirkung von Schutzgebotsfunktion und Untermaßverbot In dieser Unterschiedlichkeit der Argumentation tritt eine Eigentümlichkeit zu Tage, aus der sich eine wesentliche Pointe der hier vertretenen Konzeption ergibt. Diese besteht darin, daß die Wirkungskraft der Schutzgebotsfunktion i. V. mit dem Untermaßverbot grundsätzlich schwächer ist als die der Eingriffsverbotsfunktion i. V. mit dem Übermaßverbot. Das beruht auf mehreren Gründen. Von zentraler Bedeutung ist zunächst, daß es um die Problematik des Unterlassens geht113. Bei einem solchen bedarf es, wie wir sowohl aus dem Strafrecht als auch aus dem Zivilrecht gewöhnt sind, grundsätzlich der Überwindung einer spezifischen Argumentationsschwelle, um überhaupt eine Rechtspflicht zum Handeln zu begründen. Das gilt auch für das Verfassungsrecht114, weil sonst der strukturtheoretische Unterschied zwischen Abwehr- und Leistungsrechten115 ausgehöhlt wür-
Vgl. dazu unten V 3 b. Vgl. dazu näher unten VI 2 a. 113 Vgl. Canaris JuS 1989, 163; zustimmend Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 306; ähnlich z. B. E. Klein NJW 1989, 1639. 114 Ähnlich Isensee aaO. § 111 Rdn. 99, der eine „positive Feststellung der Rechtswidrigkeit“ und ein entsprechendes „positives Unwerturteil“ fordert. 115 Diesen hat vor allem Alexy aaO. S. 420 ff. überzeugend herausgearbeitet, auf dessen Ausführungen der Kürze halber verwiesen sei. 111 112
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de116. Insbesondere geht es grundsätzlich nicht an, dem Staat im Bereich des Unterlassens dieselbe Legitimations- und Begründungslast [44] aufzuerlegen wie im Bereich des Eingriffshandelns. Denn während er diese hier nur hinsichtlich einer einzigen Maßnahme – nämlich der jeweils ergriffenen – zu tragen hat, müßte er sich dort u. U. für eine Vielzahl unterlassener Schutzmaßnahmen, ja sogar dafür entlasten, daß er überhaupt untätig geblieben ist117; das wäre umso weniger akzeptabel, als die Zulässigkeit einer solchen Untätigkeit häufig der rechtlichen Ausgangslage entspricht, weil ein umfassender Schutz der Bürger faktisch gar nicht möglich ist und überdies zu einer untragbaren Bevormundung sowie zu ebenso untragbaren Eingriffen in Grundrechte Dritter führen würde. Um ein Problem des Unterlassens geht es dabei folgerichtig nicht nur hinsichtlich des Gesetzgebers, sondern auch hinsichtlich der Rechtsprechung; zwar gehört zu deren legitimen Aufgaben auch die Verwirklichung grundrechtlicher Schutzgebote im Wege der Auslegung und lückenfüllenden Rechtsfortbildung118, doch reicht ihre Kompetenz insoweit keinesfalls weiter als diejenige des Gesetzgebers und hängt daher entscheidend davon ab, ob diesen eine entsprechende Schutzpflicht trifft (welche die Rechtsprechung dann statt seiner erfüllt). Hinzu kommt, daß die Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion i. d. R. nur mit den Mitteln des einfachen Rechts möglich und dieses keineswegs zur Gänze verfassungsdeterminiert ist, soweit es den Schutz von Grundrechten der Bürger zum Gegenstand hat119. Vielmehr steht dem Gesetzgeber hier regelmäßig ein weiter Gestaltungsfreiraum offen120. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts121 und das hat dieses vor kurzem in einer Entscheidung, auf die ich noch näher eingehen werde, auch für die Wirkung der Schutzgebotsfunktion im Privatrecht nachdrücklich bekräftigt122. Eine [45] unmodifizierte Übertragung des strikten Verhältnismäßigkeitsprinzips, wie es im Rahmen des Übermaßverbots entwickelt worden ist, auf die Konkretisierung des 116 Vgl. auch BVerfGE 96, 56, 64; Badura Festschr. für Odersky, 1996, S. 180; Baston-Vogt aaO. S. 69 f. mit weiteren Nachw. 117 Letzteres berücksichtigt J. Hager JZ 1994, 381 unter IV 1 a nicht hinreichend; außerdem setzt er hier bezeichnenderweise voraus, daß der Gesetzgeber „bei einem nicht hinreichenden (!) Schutz“ untätig geblieben ist, obwohl es doch gerade darum geht, überhaupt erst zu begründen, daß der Schutz nicht hinreichend ist und deshalb ein verfassungsrechtliches Schutzgebot besteht. 118 Vgl. z. B. Stern aaO. § 69 IV 6 c; Isensee aaO. § 111 Rdn. 156. 119 Vgl. dazu vertiefend und zusammenfassend unten VI 3 a. 120 Vgl. vertiefend und zusammenfassend unten VI 3 b; völlig berechtigt ist daher jedenfalls für die im vorliegenden Zusammenhang zur Diskussion stehenden Probleme die Forderung von Medicus AcP 192 (1992) 60, „mit dem oft proklamierten Spielraum des einfachen Gesetzgebers gerade für das Privatrecht Ernst zu machen“. 121 Vgl. z. B. (mit z. T. unterschiedlichen Formulierungen) BVerfGE 39, 1, 44 f.; 46, 160, 164 f.; 56, 54, 80 f.; 77, 170, 214 f.; 79, 174, 202; 88, 203, 254, 262; 89, 214, 234; 92, 26, 46; 96, 56, 64 f. 122 Vgl. BVerfGE 96, 56, 64 und dazu näher unten V 4 a.
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Untermaßverbots kommt daher grundsätzlich nicht in Betracht123, auch wenn natürlich Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte hier ebenfalls eine Rolle spielen wie bei allen Abwägungslösungen124. Aus der Sicht der vorliegenden Problematik ist schließlich hinzuzufügen, daß man auf die bohrende Frage, wie sich denn eigentlich der Respekt vor der Eigenständigkeit des Privatrechts und insbesondere vor der Privatautonomie vom Boden der hier vertretenen, von der h. L. prinzipiell geteilten Konzeption aus praktisch auswirke125, keine adäquate Antwort geben kann, wenn man nicht sagen kann: eben durch die schwächere Wirkungskraft von Schutzgebotsfunktion und Untermaßverbot!126 Bezeichnenderweise spielen denn auch die Kriterien, die für die Begründung einer Schutzpflicht maßgeblich sind127, im Rahmen der Eingriffsverbotsfunktion und des Übermaßverbots keine oder zumindest keine ähnlich gewichtige Rolle128, was mittelbar die dogmatische und inhaltliche Eigenständigkeit von Schutzgebotsfunktion und Untermaßverbot bestätigt und bekräftigt. d) Einwände: Austauschbarkeit der Grundrechtsfunktionen und Asymmetrie des Grundrechtsschutzes aa) Gegen die These von der schwächeren Wirkungskraft der Schutzgebotsfunktion hat nun freilich Hager gewichtige Einwände erhoben. Einer liegt darin, daß Eingriffsverbots- und Schutzgebotsfunk- [46] tion häufig austauschbar seien129. Indessen habe ich bei der Auseinandersetzung mit der Kritik von Diederichsen an der Anwendbarkeit von Art. 1 Abs. 3 GG eine Fülle von Beispielen ins Feld geführt, bei denen es sich um klare Eingriffstatbestände handelt130. Desgleichen habe ich vorhin ebenso klare Beispiele der Schutzgebotsfunktion genannt – nämlich die Bürgschaftsfälle und den Fall Böll/Walden – und soeben an Hand 123 Vgl. auch Robbers aaO. S. 170 ff; Baston-Vogt aaO. S. 70 mit weiteren Nachw.; a. A. z. B. Dietlein aaO. S. 116; der Sache nach wohl auch J. Hager JZ 1994, 382 f. mit Fn. 111. 124 Zutreffend dazu Medicus AcP 192 (1992) 52 f. 125 Vgl., im Ansatz völlig berechtigt, Diederichsen AcP 198 (1998) 205, 207 f. und öfter. 126 Darin scheint mir insbesondere gegenüber der – sogleich noch näher zu behandelnden – Ansicht von J. Hager JZ 1994, 381 ff., wonach „es für die Reichweite der Grundrechte im Privatrecht keine Rolle spielt, ob sie unter ihrem Abwehr- oder unter ihrem Schutzaspekt zum Tragen kommen“ (S. 383), und „die Kriterien von Über- und Untermaßverbot identisch sein dürften“ (S. 382 Fn. 111), ein gewichtiger Einwand zu liegen; ich halte es nicht einmal für ausgeschlossen, daß gegen die Konzeption von Hager sogar das Schreckbeispiel von Diederichsen AcP 198 (1998) 213 f., welches gegenüber meiner Position nicht verfängt (vgl. oben Fn. 15), ins Feld geführt werden könnte. 127 Vgl. zu diesen eingehend unten VI 2 b und c. 128 Auch das spricht m. E. gegen die Identitätsthese von J. Hager aaO. (wie oben Fn. 126 ). 129 J. Hager JZ 1994, 381 f. 130 Vgl. oben II 1 b.
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des Lüth-Urteils demonstriert, daß man auch innerhalb ein und desselben Falles die beiden Seiten der Eingriffsverbots- und der Schutzgebotsfunktion deutlich trennen kann (und muß). Natürlich gibt es Grenzfälle und zu diesen gehören alle Beispiele, die Hager mir entgegenhält. Denn dabei geht es teils um Normen, durch die Grundrechte lediglich ausgestaltet werden, und teils um solche, durch die Privatrechtssubjekten bestimmte Kompetenzen oder Befugnisse erteilt werden. Daß auch für ausgestaltende Normen das Übermaßverbot und nicht lediglich das Untermaßverbot gilt, habe ich in anderem Zusammenhang bereits ausgeführt131; für die Erteilung von Kompetenzen und Befugnissen an Privatrechtssubjekte ist m.E. ebenso zu entscheiden132 – wie überhaupt die Faustregel gilt, daß im Zweifel von der Abwehrfunktion eines Grundrechts und damit vom Übermaßverbot auszugehen ist133. Außerdem schrecken mich Abgrenzungsschwierigkeiten hier nicht. Wir sind doch sattsam daran gewöhnt, daß Tun und Unterlassen fast bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander übergehen können. Solange die Kernbereiche in klarem Kontrast stehen und hinreichend groß bleiben, ändern Grenzfälle nichts an der Sinnhaftigkeit einer Unterscheidung. Schließlich leugnet ja auch niemand den Unterschied zwischen Tag und Nacht unter Hinweis auf die Dämmerung. Im übrigen kann man etwaigen Wertungswidersprüchen erforderlichenfalls dadurch vorbeugen, daß man in Grau- und Grenzzonen die Handhabung des Übermaßverbots abschwächt und diejenige des Untermaßverbots verschärft. Diesen Unterschied aber gänzlich zu nivellieren, wie es letztlich in der Konsequenz der Austauschbarkeitsthese [47] liegen dürfte134, geht nicht an, weil man sich dabei zwangsläufig in die – bereits kritisierten135 – Mängel und Fehlvorstellungen der „etatistischen Konvergenztheorie“ verstricken würde. bb) Ein zweiter Einwand liegt in einer Asymmetrie zugunsten desjenigen, der in die Sphäre des anderen eingreift136. Diese Beobachtung trifft als solche im Ansatz zu. Wenn z. B. Lüth zu einem Boykott eines Films von Veit Harlan aufruft, so kommt er gegenüber dessen etwaigem Unterlassungsanspruch in den Genuß des starken Schutzes aus Art. 5 Abs. 1 GG i. V. mit dem Übermaßverbot; letzterem steht dagegen wie oben b) dargelegt nur der schwächere Schutz des Vgl. oben II 2 b. Vgl. Canaris AcP 185 (1985) 11 f. und Anm. zu BVerfG AP Nr. 65 zu Art. 12 GG Bl. 460 Rückseite, u. a. unter Bezugnahme auf die Problematik der Entziehung des Pflichtteils gemäß § 2333 BGB und die verfassungsrechtliche Behandlung dieser Problematik in BGHZ 109, 306, 313 = BGH JZ 1990, 697, 699 mit Anm. von Leipold, die auch Hager aaO. S. 382 unter 2 a als Beispiel heranzieht. 133 So mit Recht Isensee aaO. § 111 Rdn. 117 a. E. 134 So meint Hager JZ 1994, 382 Fn. 111 in der Tat, daß „die Kriterien von Über- und Untermaßverbot identisch sein dürften“. 135 Vgl. oben b. 136 Vgl. J. Hager JZ 1994, 381. 131 132
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Untermaßverbots zur Verfügung, wenn er sich seinerseits gegenüber Lüth auf sein Grundrecht der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG beruft. Diese Asymmetrie – die übrigens in ähnlicher Weise in der Diskussion um Rauchverbote zum Schutze von Passivrauchern eine Rolle spielt – stellt jedoch keine Schwäche, sondern im Gegenteil eine Stärke meiner Lösung dar. Darin spiegelt sich nämlich lediglich das Prinzip vom Vorrang der Gesellschaft gegenüber dem Staat adäquat wider, wonach der Verkehr der Bürger untereinander grundsätzlich von staatlichen Eingriffen frei ist und solche daher jeweils einer besonderen Legitimation bedürfen. Verbietet also der Staat Herrn Lüth eine Meinungsäußerung, um die Kinoinhaber vor einem Boykott zu bewahren, so muß er sich dafür legitimieren und demgemäß den Anforderungen des Übermaßverbots Rechnung tragen; verlangen die Kinoinhaber oder Veit Harlan ihrerseits den Schutz des Staates, so muß dieser sich für sein etwaiges Eingreifen ebenfalls legitimieren, indem er die besonderen Argumentationshürden von Schutzgebotsbegründung und Untermaßverbot überwindet. Das sind lediglich zwei kongruente Ausprägungen ein und desselben Grundgedankens. Bei genauerem Überdenken verwandelt sich somit der Asymmetrieeinwand letztlich geradezu in sein Gegenteil – in ein Symmetrieargument, weil der Staat bei beiden Konstellationen gleichermaßen einer besonderen Legitimationslast unterliegt. e) Die Geltung der Schutzgebotsfunktion auch gegenüber der Selbstbindung durch Verträge aa) Die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte entfaltet ihre Wirkungen grundsätzlich auch gegenüber der Selbstbindung der Parteien [48] durch Verträge137. Dagegen läßt sich nicht einwenden, daß diese auf der Ausübung von Privatautonomie beruht, die ihrerseits verfassungsrechtlich gewährleistet ist, und ein „Grundrechtsschutz vor sich selbst“ nicht in das liberale Konzept der Grundrechte passe138. Rechtstheoretisch und verfassungsdogmatisch ist das schon deshalb nicht überzeugend, weil die Vertragsbindung zwar in der Tat ihren primären Grund in der Privatautonomie der Parteien hat139, jedoch positivrechtliche Ge137 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 232 ff. und JuS 1989, 164 ff.; übereinstimmend z. B. Rüfner in HbdStR Bd. V, 1992, § 117 Rdn. 64; J. Hager JZ 1994, 378 ff.; Singer JZ 1995, 1136 ff.; Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 304 ff.; Enderlein Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 172. 138 So aber Isensee in HbdStR Bd. V, 1992, § 111 Rdn. 113 f. und 128 ff.; im wesentlichen übereinstimmend Hillgruber Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 149 ff. mit weitreichenden privatrechtlichen Konsequenzen; im Ansatz und in den Folgerungen ähnlich Zöllner AcP 196 (1996) 7 f., 12f., 36; kritisch zu Isensee und Hillgruber insoweit J. Hager JZ 1994, 379; Singer JZ 1995, 1137f. 139 Vgl. auch BVerfGE 81, 242, 253 f. („nicht primär in staatlichem Handeln“).
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ltung erst durch die „Anerkennung“ von Seiten des Staates und der Rechtsordnung erlangt140 und von diesen außerdem mit Sanktionen bewehrt wird bis hin zur Zwangsvollstreckung. Wichtiger noch ist, daß sich auch von der Sachproblematik her genuine Schutzaufgaben stellen, deren Erfüllung mit einem liberalen Grundrechtsverständnis durchaus in Einklang steht. Das gilt schon deshalb, weil es Grundrechte gibt, die wie z. B. die Religionsfreiheit wegen ihres höchstpersönlichen Charakters überhaupt nicht zur Disposition ihres Trägers stehen und deren Ausübung demgemäß von vornherein nicht als Gegenstand vertraglicher Selbsteinschränkung in Betracht kommt oder die gegenüber einer solchen wegen ihres starken personalen Gehalts besonders „sensibel“ sind wie z. B. die körperliche Integrität und die Freizügigkeit. Hier der Privatautonomie Schranken zu setzen, entspricht geradezu altliberalem Gedankengut, und daher ist kein durchschlagender Einwand dagegen ersichtlich, hier erforderlichenfalls141 auf eine verfassungsrechtliche Fundierung in der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte zurückzugreifen142. Im übrigen führt [49] die Heranziehung der Verfassung in diesem Zusammenhang, entgegen vielen Mißverständnissen, keineswegs immer zur Nichtigkeit des betreffenden Vertrags nach § 138 BGB, sondern zu einem abgestuften Repertoire von Rechtsfolgen mit unterschiedlicher Eingriffstiefe bis hin zum bloßen Ausschluß der Zwangsvollstreckung gemäß oder analog § 888 Abs. 2 ZPO143. Eine zweite genuine Schutzaufgabe besteht darin, möglichst weitgehend zu gewährleisten, daß der privatautonome Akt, durch den ein Grundrecht eingeschränkt wird, nicht nur formal, d. h. rechtlich, sondern auch material, d. h. faktisch auf einer freien Entscheidung der betreffenden Vertragspartei beruht144. Darin liegt ebenfalls ein altbekanntes Elementarproblem des Vertragsrechts, über dessen Triftigkeit und Lösungsbedürftigkeit auch vom Boden einer liberalen Grundhaltung aus im Prinzip seit jeher Einigkeit herrscht, und daher bestehen auch insoweit keine grundsätzlichen Bedenken gegen einen Rückgriff auf die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte145. In diesen Zusammenhang gehört die Vgl. zu dieser „Anerkennungstheorie“ näher Canaris AcP 184 (1984) 218 f. mit Nachw. Vgl. dazu näher sogleich im Text. 142 Ebenso i. E. Singer JZ 1995, 1138 ff.; anders Hillgruber aaO. S. 151 ff. zu Art. 11 GG, doch geht es entgegen seiner Ansicht hier nicht um „Schutz vor sich selbst“ (S. 153), sondern um einen – auch mit liberalem Grundrechtsverständnis durchaus zu vereinbarenden – Schutz des Grundrechts gegenüber seinem Träger, der sich seiner Ausübung wegen der der Freiheit immanenten Bindungen nicht nach Belieben vertraglich begeben kann. 143 Vgl. eingehend Canaris AcP 184 (1984) 232-234 und JuS 1989, 164–166; zustimmend hinsichtlich der Analogie zu § 888 ZPO z. B. Schlechtriem in 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 48 f.; Spieß DVBl. 1994, 1229; J. Hager JZ 1994, 382; Oldiges aaO. S. 307. 144 Vgl. auch Grimm Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 212. 145 Vgl. eingehend Singer JZ 1995, 1137 f.; ähnlich z. B. E. Klein NJW 1989,1640; insoweit übereinstimmend auch Hillgruber AcP 191 (1991) 75 f. 140 141
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vieldiskutierte Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts146; denn deren Kerngedanke liegt darin, daß die – verfassungsrechtlich gewährleistete – Privatautonomie nicht nur formal, sondern auch material zu verstehen ist und daß eine Vertragspartei daher unter bestimmten Voraussetzungen vor der Bindung an einen für sie nachteiligen oder gefährlichen Vertrag geschützt werden muß, sofern sie bei dessen Abschluß in ihrer faktischen Möglichkeit zu privatautonomer Selbstbestimmung erheblich beeinträchtigt war147. [50] bb) Eine ganz andere Frage ist, ob diese Schutzaufgaben sich nicht auch ohne Rückgriff auf die Verfassung allein mit den Mitteln des Privatrechts lösen lassen, zumal sie ja wie gesagt seit langem zu dessen elementarem Problembestand gehören. Das dürfte zwar in der Tat so gut wie immer zu bejahen sein – wie etwa hinsichtlich der Bürgschaftsfälle oft genug betont worden ist –, ändert jedoch nichts daran, daß die Problematik auch eine verfassungsrechtliche Dimension aufweist. Sofern nämlich einer Partei durch das Privatrecht bzw. durch dessen Anwendung seitens der Gerichte jenes Minimum an Schutz vorenthalten wird, welches von Verfassungs wegen geboten ist, liegt auch hier eine Verletzung des Untermaßverbots vor. Dieses auf das Deliktsrecht zu beschränken148, entbehrt einer zureichenden inneren Rechtfertigung, da das bloße Einverständnis einer Partei mit dem Abschluß des Vertrags wie dargelegt nicht jeden Grundrechtsschutz für sie entbehrlich macht. Insbesondere erscheint es als ungereimt, bei Defiziten des Vertragsrechts den Parteien von vornherein die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde vorzuenthalten, wie das die Konsequenz einer generellen Unanwendbarkeit des Untermaßverbots wäre149, während diese ihnen bei Defiziten des Deliktsrechts ohne weiteres offensteht. Freilich sollte die Verfassungsbeschwerde folgerichtig nur erfolgreich sein, wenn wirklich das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum unterschritten oder offenkundig nicht in Betracht gezogen worden ist. Das ist nicht schon deshalb der Fall, weil das Zivilgericht zu Unrecht von der Anwendung des § 138 BGB (oder von einer Analogie zu § 888 Abs. 2 ZPO oder dgl.) abgesehen hat; BVerfGE 89, 214, 232 ff. Nicht überzeugend ist die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts freilich insofern, als es in diesem Zusammenhang dem Kriterium eines „strukturellen Ungleichgewichts“ zwischen den Vertragsparteien eine zentrale Rolle zuerkennt. Insoweit ist die Position von Zöllner, der statt dessen – bewährter privatrechtlicher Tradition folgend – primär auf die Beeinträchtigung der faktischen Entscheidungsfreiheit abstellt, durchaus vorzugswürdig, vgl. AcP 196 (1996) 28 ff. und Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996, S. 42 ff. Bezeichnenderweise hat denn auch das Kriterium des „strukturellen Ungleichgewichts“ für die seitherige Behandlung der Bürgschaftsfälle durch den BGH keine nennenswerte Rolle gespielt, vgl. z. B. BGHZ 125, 206, 210 f.; 128, 230, 232f.; BGH NJW 1996, 1274, 1277 (gebilligt durch BVerfG NJW 1996, 2021). 148 So Isensee aaO. § 111 Rdn. 129, der bei Defiziten des Vertragsrechts offenbar nur das Sozialstaatsprinzip heranziehen will, aaO. Rdn. 131 a. E. 149 Zutreffend Oldiges aaO. S. 305. 146 147
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denn dem einfachen Recht steht hier wie ausgeführt150 ein breiter Spielraum offen, und daher liegt nicht in jeder Ablehnung rechtlichen Schutzes, mag sie zivilrechtlich auch unzutreffend sein, ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Untermaßverbot151. Allerdings können die Grundrechte auch dort, wo sie nicht in ihrer spezifisch verfassungsrechtlichen Dimension eingreifen und eine Verletzung von Überoder Untermaßverbot nicht in Rede steht, für die Auslegung des Privatrechts und insbesondere für die Konkretisierung seiner Generalklauseln relevant sein. Denn dann können sie immer noch als allgemeine Rechtsprinzipien im Rang unterhalb der Verfassung wirken – so wie andere allgemeine Rechtsprinzipien auch (und [51] mit der Konsequenz, daß ihre Mißachtung dann keinesfalls mit der Verfassungsbeschwerde erfolgreich angegriffen werden kann)152. V. Einige praktische Konsequenzen Eine wesentliche Aufgabe juristischer Theorien besteht darin, die Lösung praktischer Probleme zu erleichtern153. Demgemäß möchte ich im nächsten Teil meines Vortrags an Hand einiger Beispiele zu demonstrieren suchen, daß und wie sich meine theoretischen Überlegungen in dieser Hinsicht auswirken können. 1. Privatrechtliche Normen und grundrechtliche Eingriffsverbote: zur Frage einer schadensersatzrechtlichen Reduktionsklausel Als erstes greife ich noch einmal die These auf, daß die Grundrechte und das Übermaßverbot für die Normen des Privatrechts unmittelbar gelten. Daraus habe ich seinerzeit die Konsequenz gezogen, daß eine Schadensersatzpflicht unter bestimmten Voraussetzungen verfassungswidrig sein kann, wenn sie den Schädiger in den wirtschaftlichen Ruin treibt154. Darauf hat Diederichsen erwidert, auf die Frage, was man insoweit aus der Verfassung ableiten könne, sei ohne weiteres „Gar nichts!“ zu antworten, wenn „man bei der Konzeption der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat stehengeblieben wäre“155. Das ist indessen ein Mißverständnis. Ich bin nämlich ausdrückVgl. oben c. Vgl. auch unten IV 4 a zu BVerfGE 96, 56. 152 Vgl. näher Canaris JuS 1989, 164 vor III. 153 Vgl. dazu eingehend Canaris JZ 1993, 377 ff. 154 Canaris JZ 1987, 1001 f.; im Ansatz zustimmend Bydlinski System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 226 mit Fn. 236. 155 Diederichsen AcP 198 (1998) 257. 150 151
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lich davon ausgegangen, daß die Auferlegung einer Schadensersatzpflicht einen Eingriff in Grundrechte des Schädigers – zumindest in seine Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG – darstellt und daß demgemäß hier das Übermaßverbot heranzuziehen ist156, und tue damit genau das, was Diederichsen leugnet: ich wende die Grundrechte in ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte gegen den Staat an. Der Unterschied gegenüber seiner Position liegt daher in Wahrheit gar nicht in diesem Punkt, sondern vielmehr in der Antwort auf die – logisch vorrangige – Frage, ob Gesetzgebung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GG auch die Setzung privatrechtlicher Normen einschließt oder nicht. Wenn man das verneint wie Diederichsen [52] und insoweit nur von einer „mittelbaren“ Grundrechtswirkung ausgeht157, ist natürlich der Rückgriff auf die Funktion der Grundrechte als Eingriffsverbote und Abwehrrechte von vornherein versperrt. Wenn man es dagegen mit der ganz h. L.158 bejaht, steht dieser Weg grundsätzlich offen. Denn schadensersatzrechtliche Normen wie z. B. § 833 S. 2 BGB, § 22 WHG, aber auch § 823 BGB stellen Eingriffe (zumindest) in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Handlungsfreiheit dar – ob schon als solche oder erst im Stadium ihrer Aktualisierung159, kann hier offen bleiben –, und gleiches gilt auch und erst recht für die daraus entspringenden Zahlungspflichten des Schädigers160 in Verbindung mit der starren Anordnung von Totalersatz durch § 249 BGB. Den nächsten Schritt bildet folgerichtig die Anwendung des Übermaßverbots und damit vor allem eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Insoweit habe ich nun den ruinösen Wirkungen für den Schädiger vor allem das Bedürfnis des Geschädigten nach Ausgleich für den erlittenen Schaden (sowie den Präventionsgedanken) gegenübergestellt und bin so zu einer Lösung gelangt, welche danach differenziert, ob dem Geschädigten eine Einschränkung der Ausgleichszahlung wirtschaftlich zumutbar ist oder nicht. Nur für den ersteren Fall – also sozusagen den des „reichen“ Geschädigten – habe ich eine Reduktion der Schadensersatzpflicht überhaupt in Betracht gezogen161, weil nur unter dieser Voraussetzung die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsabwägung zugunsten des Schädigers ausfallen kann. Das Übermaßverbot gibt insoweit somit die wesentlichen Parameter weitgehend vor, und daher darf man diese Differenzierung und
Vgl. JZ 1987, 1001 Sp. 2 sowie auch S. 995 f. Vgl. dazu oben II 1 a und 2 a. 158 Vgl. die Nachweise oben Fn. 39. 159 Zur Problematik der „Aktualisierungsschwelle“ vgl. nur Lübbe-Wolff Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 163 f. i. V. mit S. 50 ff. 160 Vgl. dazu näher Canaris JZ 1987, 995 f. 161 Vgl. JZ 1987, 1002 Sp. 1. 156 157
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die damit verbundene Begrenzung nicht einfach außer Betracht lassen162, wenn man sich mit diesem Lösungsvorschlag kritisch auseinandersetzt. Die Problematik veranschaulicht geradezu drastisch, welch weitreichende praktische Folgen die unmittelbare Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers auch in Kernbereichen des Bürgerlichen Rechts haben kann. Ob diese hier schon vom Richter im Rahmen von § 242 BGB verwirklicht werden können oder ob es dazu eines Auftrags an den Gesetzgeber (mit zwischenzeitlicher Aussetzung des Rechts- [53] streits) bedarf163, stellt ein Zusatzproblem dar, welches hier nicht vertieft werden soll. Immerhin sei angemerkt, daß mein Vorschlag nur einen Teilbereich der Thematik einer schadensersatzrechtlichen Reduktionsklausel betrifft – nämlich die Konstellation der ruinösen Ersatzpflicht gegenüber einem „reichen“ Geschädigten; die Problematik in ihrer Gesamtheit zu bewältigen, bleibt selbstverständlich dem Gesetzgeber vorbehalten, doch schließt das nicht aus, daß man für die hier erörterte Fallgestaltung schon de lege lata eine Lösung finden kann. 2. Gerichtsentscheidungen und grundrechtliche Eingriffsverbote: der Einfluß des Lüth-Urteils auf die Photokina-Entscheidung des BGH Die diffuse Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte verführt in besonderem Maße dazu, Zuflucht bei einer sehr stark einzelfallbezogenen Abwägungslösung zu suchen. In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil eine Reihe von spezifischen Umständen des konkreten Falles berücksichtigt, deren Relevanz überaus fragwürdig ist. Demgemäß hat es auch Kriterien entwickelt, die bei näherer Analyse der Kritik nicht standhalten. Dazu gehört vor allem das Erfordernis, daß es sich um „einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten“ handeln müsse164. Ersetzt man die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ entsprechend meinem Vorschlag durch den Rückgriff auf die Eingriffsverbotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG165, so wird sogleich deutlich, daß es sich dabei um Merkmale handelt, die zwar für den Fall Lüth charakteristisch waren, jedoch nicht in dem Sinne verallgemeinerungsfähig sind, daß von
162 Das tun jedoch von Bar Gemeineuropäisches Deliktsrecht Bd. I, 1996, Rdn. 596 und Diederichsen AcP 198 (1998) 256 f; zutreffend demgegenüber die Darstellung von Medicus AcP 192 (1992) 65 f. 163 Im ersteren Sinne Canaris JZ 1987, 1002, im letzteren Medicus aaO. S. 66 f. und von Bar aaO.
Rdn. 596. 164 BVerfGE 7, 198, 212. 165 Vgl. oben III 2 b.
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ihrer Erfüllung generell die Zulässigkeit kritischer Meinungsäußerungen von Privatrechtssubjekten übereinander abhängt. Das gilt mit Sicherheit für das Erfordernis einer besonderen „Legitimation“ dessen, der die Meinungsäußerung abgibt. Dieses Merkmal mag zwar in der Person von Lüth aufgrund besonderer Umstände des Falles erfüllt gewesen sein, doch weist die Meinungsfreiheit ihrer „Natur“ nach einen ausgesprochen egalitaristischen Grundzug auf, mit dem es grundsätzlich unvereinbar ist, bestimmte Personen wegen einer besonderen „Legitimation“ zu privilegieren und andere demgemäß [54] mangels einer solchen insoweit zu diskriminieren; die Meinungsfreiheit von „Lieschen Müller“ hat keinen niedrigeren Rang als die von Herrn Lüth, weil es nun einmal ein Spezifikum von „Meinung“ darstellt, daß jeder sie gleichermaßen haben kann, und weil die Rechtsordnung es daher der freien Konkurrenz des Streits der Meinungen überlassen muß, welche sich durchsetzt. Nicht tragfähig ist desweiteren auch das Erfordernis einer „die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage“166. Das gilt jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang, wo der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite – nämlich auf derjenigen der Kinoinhaber167 – lediglich bloße Vermögensinteressen gegenüberstanden168. Denn angesichts des außerordentlich hohen Ranges, welcher der Meinungsfreiheit nach der zutreffenden Ansicht des Bundesverfassungsgerichts – die dieses gerade im LüthUrteil geäußert hat! – in der Demokratie und, wie nachdrücklich hinzuzufügen ist, desgleichen in einer freiheitlichen Privatrechts- und Wirtschaftsordnung zukommt, läßt sich eine so restriktive Handhabung dieses Grundrechts bei seinem Verständnis als Eingriffsverbot im vorliegenden Zusammenhang, d. h. bei der Kollision mit bloßen Vermögensinteressen, schlechterdings nicht legitimieren169. Wohin eine wortgetreue Übernahme der Grundsätze des Lüth-Urteils in dieser Hinsicht führen kann, zeigt plastisch die Photokina-Entscheidung des BGH170. Hier hatte ein Unternehmen, das wegen Differenzen über seinen Standplatz nicht zu einer Messe zugelassen worden war, ein Zeitungsinserat mit dem Text verbreitet: „Suchen Sie uns nicht auf der Photokina! Wir verlassen diese aus 166 Vgl. die überzeugende Kritik von Lerche Festschr. für G. Müller, 1970, S. 213; Schmitt Glaeser AöR 97 (1972) 290 ff, JZ 1983, 98 und AöR 113 (1988) 54 f.; Stern Festschr. für Hübner, 1984, S. 818. 167 Der Regisseur Veit Harlan hatte nicht geklagt; außerdem ist es geradezu selbstverständlich, daß sich Kunst im freien Meinungskampf aus eigener Kraft behaupten muß und also hier schon tatbestandlich gar nicht berührt ist, vgl. oben IV 3 b bei Fn. 111 und unten VI 2 a. 168 Ob der Öffentlichkeitsbezug eine berechtigte Funktion erfüllt, wenn die Meinungsfreiheit mit dem Ehren- und Persönlichkeitsschutz kollidiert (vgl. dazu z. B. Herzog in Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz, 1997, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rdn. 10a unter cc mit Nachw. aus der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts), kann im vorliegenden Zusammenhang offen bleiben. 169 Vgl. näher Canaris JuS 1969, 167 f. sowie im übrigen die Nachw. oben Fn. 166. 170 Vgl. BGH NJW 1983, 2195, 2196 und dazu näher Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 81 III 2 a = S. 549.
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Protest, weil die Kölner Messegesellschaft unseren festen Stand (1960–1976) anderweitig vergeben hat“. Der BGH verurteilte das Unternehmen zur Unterlassung [55] wegen eines rechtswidrigen Eingriffs in den Gewerbebetrieb der Messegesellschaft und lehnte die Heranziehung von Art. 5 Abs. 1 GG zugunsten des Unternehmens ab, weil es sich nicht um eine „die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage“ handele. Letzteres traf zwar natürlich zu, doch erkennt man daran zugleich, wie sachwidrig dieses Kriterium ist. Denn es gibt keinen nachvollziehbaren Grund dafür, dem betroffenen Unternehmen zu verbieten, seinen Streit mit der Messegesellschaft publik zu machen und seine Kunden über die Gründe für sein Fernbleiben von der Messe zu informieren. M.E. ist die Entscheidung des BGH daher evident unrichtig, weil sie einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Meinungsfreiheit des betroffenen Unternehmens beinhaltet. 3. Schutzgebotsfunktion und Untermaßverbot am Beispiel von Art. 5 Abs. 1 GG a) Das Fehlen eines Schutzgebots: die Wahlplakat-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Am selben Tage wie das Lüth-Urteil und unter ausdrücklichem Bezug auf dieses hat das Bundesverfassungsgericht noch ein weiteres Urteil erlassen. In diesem ging es um die Verfassungsbeschwerde eines Mieters gegen eine zivilgerichtliche Entscheidung, durch welche ihm auf Klage des Vermieters nach § 1004 BGB untersagt wurde, an der Außenwand des Hauses ein Plakat mit Wahlpropaganda anzubringen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen171. Zwar ist das Ergebnis zutreffend, doch kann die Begründung nicht überzeugen. Auch hier hat nämlich die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte dazu geführt, daß das Bundesverfassungsgericht eine umfassende Interessenabwägung vorgenommen und dabei Umstände berücksichtigt hat, auf die es in Wahrheit nicht ankommen kann172. Das gilt vor allem für die Gesichtspunkte, daß der Vermieter nur zur Erhaltung des Friedens innerhalb der Hausgemeinschaft gehandelt habe und daß dem Mieter andere Möglichkeiten der Wahlpropaganda zur Verfügung gestanden hätten, weil er für eine große Partei kandidierte und deren Apparat nutzen konnte. [56] Aus heutiger Sicht geht es hier – anders als im Lüth-Urteil selbst und im soeben erörterten Photokina-Urteil – um die Verwirklichung der Schutzgebotsfunk171 172
BVerfGE 7, 230. Zutreffend insoweit die Kritik von Diederichsen AcP 198 (1998) 180 ff., 232.
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tion von Art. 5 Abs. 1 GG und die Problematik des Untermaßverbots; denn eine Verletzung von Grundrechten des Mieters konnte allenfalls darin liegen, daß ihm das Zivilgericht ein Gegenrecht gegen den Anspruch des Vermieters aus § 1004 BGB abgesprochen und ihm also insoweit den Schutz verweigert hatte. Ist es nun von Verfassungs wegen geboten, dem Mieter die Möglichkeit zur Reklame an der Außenwand des Mietshauses zu geben? Die Frage stellen heißt sie verneinen. Hier ist nämlich von vornherein schlechterdings kein Kriterium ersichtlich, das eine solche Schutzpflicht des Staates begründen könnte, die ja wie dargelegt nicht per se besteht, sondern einer besonderen Legitimation bedarf, und daher scheitert der Mieter hier schon an der ersten Argumentationshürde, die es für eine Anwendung der Schutzgebotsfunktion und des Untermaßverbots zu überwinden gilt173. Der Fall veranschaulicht somit sehr schön, daß man nicht einfach unvermittelt beginnen darf, „drauf los“ abzuwägen, sondern erst einmal die Frage beantworten muß, warum denn überhaupt ein Schutzgebot in Betracht kommt. Demgemäß wäre der Fall entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht anders zu entscheiden gewesen, wenn der Vermieter aus anderen Motiven gehandelt hätte – z. B. einfach deshalb, weil er kraft seiner Privatautonomie keine Wahlreklame an seinem Haus haben wollte – oder wenn der Mieter einer kleinen oder gar keiner Partei angehört hätte. Schließlich gibt es ja noch zahlreiche andere Möglichkeiten als die Anbringung von Wahlplakaten an Hauswänden, um für eine politische Partei oder für sich selbst Propaganda zu machen! Bis zu einer einzelfallbezogenen Abwägung gelangt man hier somit von vornherein gar nicht. b) Das Bestehen eines Schutzgebots: die Blinkfüer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Mit diesem Fall kontrastiert in lehrreicher Weise die Blinkfüer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Hier ging es darum, daß der Springer-Verlag (im August 1961 kurz nach dem Bau der Mauer in Berlin) Zeitungshändler zum Boykott der Zeitschrift „Blinkfüer“ aufgerufen hatte, weil in dieser die Rundfunkund Fernsehprogramme der Sender der DDR abgedruckt waren, und damit die Drohung verbunden hatte, die Geschäftsbeziehungen zu solchen Händlern abzubrechen, die sich dem Boykott nicht anschließen würden. Der BGH hat [57] die Schadensersatzklage des Blinkfüer-Herausgebers abgewiesen174. Auf dessen Beschwerde hat das Bundesverfassungsgericht dieses Urteil aufgehoben175.
Vgl. oben IV 3 c. BGH NJW 1964, 29. 175 BVerfGE 25, 256. 173 174
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Aus heutiger Sicht handelt es sich hier um die erste Entscheidung, in welcher das Bundesverfassungsgericht der Sache nach die Schutzgebotsfunktion eines Grundrechts anerkannt und mit deren Hilfe ein Drittwirkungsproblem gelöst hat176. Weil diese Funktion damals indessen noch nicht (wieder)entdeckt war, ist der Gedankengang der Entscheidung verschlungen und z. T. inkonsistent. Der Bundesminister der Justiz hatte sich für eine Abweisung der Beschwerde ausgesprochen mit der Begründung, daß „das Grundrecht der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit nicht durch die öffentliche Gewalt beeinträchtigt worden sei, weil der Bundesgerichtshof dem Beschwerdeführer keine Meinungsäußerung untersagt, sondern es lediglich abgelehnt habe, einen anderen zum Schadensersatz wegen einer Boykottandrohung zu verurteilen“177. Diese Argumentation ist in sich selbst zutreffend178 und entspricht genau der oben IV 3 a und b zum Fall Böll/Walden und zur „Umkehrung“ des Falles Lüth vertretenen Position. Das Bundesverfassungsgericht ist auf sie jedoch leider mit keinem Wort eingegangen. Statt dessen hat es zunächst ausführlich dargelegt, daß und warum der Springer-Verlag sich hier nicht auf Art. 5 Abs. 1 GG und die dazu im LüthUrteil entwickelten Grundsätze berufen kann. Diese Art der Gedankenführung befremdet; denn es ist unerfindlich, warum daraus, daß das Vorgehen von Springer nicht in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 GG fällt, die Verletzung eines Grundrechts des Blinkfüer-Herausgebers folgen soll. Insoweit tragend sind vielmehr erst die Ausführungen gegen Ende der Entscheidung, wo das Bundesverfassungsgericht auf die Pressefreiheit des letzteren zu sprechen kommt und sagt: „Zum Schutz (!) des Instituts der freien Presse muß aber die Unabhängigkeit von Presseorganen gegenüber Eingriffen [58] wirtschaftlicher Machtgruppen mit unangemessenen Mitteln auf Gestaltung und Verbreitung von Presseerzeugnissen gesichert werden (...). Das Ziel der Pressefreiheit, die Bildung einer freien öffentlichen Meinung zu erleichtern und zu gewährleisten, erfordert deshalb den Schutz (!) der Presse gegenüber Versuchen, den Wettbewerb der Meinungen durch wirtschaftliche Druckmittel auszuschalten“179. Hier klingt in der Tat unüberhörbar die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG an, und hier wird der Sache nach zugleich auch schon deren subjektiv-rechtliche Seite anerkannt –
176 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 229 f.; zustimmend Oeter AöR 119 (1994) 536; Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 303; insoweit übereinstimmend auch Alexy Theorie der Grundrechte, 1985, S. 487 f. 177 BVerfGE 25, 262. 178 A.A., nach seiner Grundkonzeption folgerichtig, Schwabe AöR 100 (1975) 459, ähnlich S. 453, 467 und ders. Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 177; gegen ihn eingehend Canaris aaO. S. 250 f. und Alexy aaO. S. 487 f.; ihm insoweit folgend dagegen Lübbe-Wolff Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 175. Hier geht es wieder um die oben IV 3 b eingehend behandelte Problematik der „etatistischen Konvergenztheorie“. 179 BVerfGE 25, 268.
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wenngleich nur inzident und ganz unreflektiert180 –, da ohne diese die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde des Blinkfüer-Herausgebers nicht zu denken ist. Gleich anschließend weicht das Bundesverfassungsgericht jedoch wieder von seinem richtigen Ansatz ab, indem es fortfährt: „Der Boykott der Wochenzeitung ,Blinkfüer‘ verstieß gegen diese verfassungskräftig gewährleistete Freiheit“. Diese Sichtweise ist dogmatisch unzutreffend, weil der Boykott als solcher nur dann gegen eine „verfassungskräftig gewährleistete Freiheit“ verstoßen könnte, wenn der Boykotteur überhaupt Normadressat der Verfassung wäre, was er jedoch entgegen der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung gerade nicht ist181. Gegen die Pressefreiheit des Blinkfüer-Herausgebers verstieß vielmehr der BGH bzw. die seiner Entscheidung zugrunde liegende „Fallnorm“182, wonach einem Presseunternehmen kein Schutz gegen einen mit wirtschaftlichem Druck verbundenen Boykottaufruf gewährt wurde. Trotz dieser Ungereimtheiten verdient die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nachdrückliche Zustimmung. Denn in dogmatischer Hinsicht läßt sie sich, wie schon betont, mit Hilfe der Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG auf ein tragfähiges Fundament stellen. Im Ergebnis und in der Begründung zutreffend ist auch, daß das Bundesverfassungsgericht hier der Sache nach das Bestehen einer Schutzpflicht bejaht hat. In der Tat wäre es nämlich mit Sinn und Funktion der Pressefreiheit unvereinbar, wenn die Auseinandersetzung der Meinungen nicht nur mit den für sie spezifischen Mitteln – also mit [59] Worten und anderen vergleichbaren Bekundungen – geführt, sondern durch den mit ihrem Wesen unvereinbaren, weil „ungeistigen“ Einsatz von wirtschaftlichem Druck verfremdet werden dürfte. Dabei geht es, wie auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich anklingt, nicht nur um Individual-, sondern auch und wohl sogar primär um Institutionenschutz, d. h. um die Funktionsfähigkeit des Pressewesens und des Meinungskampfes als solchen. Damit steht das Ergebnis im wesentlichen fest. Einer einzelfallbezogenen Abwägung bedarf es hier somit grundsätzlich nicht – wobei es insoweit genau umgekehrt liegt wie im Wahlplakat-Fall: Während man dort gar nicht bis zu einer Abwägung kommt, weil das Bestehen einer Schutzpflicht schon a limine zu verneinen ist, bleibt hier für eine solche kein Raum mehr, weil die Schutzpflicht generell zu bejahen ist. Denn die Ausübung von wirtschaftlichem Druck ist im 180 Unmißverständlich, wenngleich immer noch nur inzident hat das Bundesverfassungsgericht diesen Schritt erst im Fall Schleyer getan, vgl. BVerfGE 46, 160, 163, ausdrücklich wohl erst in BVerfGE 77, 140, 214. 181 Vgl. oben IV 1 a. Anders die Sichtweise von Alexy aaO. S. 493, der die Terminologie insoweit offenhalten will, was indessen wegen der damit verbundenen hochgradigen Gefahr von Mißverständnissen – insbesondere auch hinsichtlich der Abgrenzung gegenüber der (von Alexy selbst abgelehnten) „etatistischen Konvergenztheorie“ – nicht zweckmäßig ist. 182 Vgl. zu dieser Sichtweise oben III 1 c.
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Meinungskampf per se ein unzulässiges Mittel, und daher stand Springer kein schutzwürdiges Gegeninteresse zur Seite; unter diesem – aber auch nur unter diesem – Aspekt wird somit relevant, daß das Vorgehen von Springer schon tatbestandlich nicht durch das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt war. Darauf, daß Springer überdies eine marktbeherrschende Stellung innehatte, kam es dagegen folgerichtig nicht entscheidend an, sondern allenfalls insoweit, als deshalb wirklich „Druck“ und nicht nur eine leere und also harmlose Drohgebärde vorlag. Privatrechtlich ist das Schutzgebot unschwer umzusetzen – sei es mit Hilfe des Rechts am Gewerbebetrieb im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB oder sei es durch die Anwendung von § 826 BGB183. Sieht man keinen dieser beiden Wege als gangbar an, wäre nicht anders zu entscheiden, sondern die Presse- und Meinungsfreiheit von Verfassungs wegen in § 823 Abs. 1 BGB zu integrieren – ähnlich wie das hinsichtlich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geschehen ist. Für einen eigenständigen Beitrag des Privatrechts zur Lösung der Problematik ist hier – im Gegensatz zu vielen anderen Konstellationen – kein Ansatz ersichtlich, so daß der bei der Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion grundsätzlich bestehende Spielraum hier wohl „auf Null geschrumpft“ ist; ausschlaggebend ist auch insoweit wieder, daß hier ein Gegenrecht des Boykottaufrufers wegen der Unzulässigkeit des von diesem eingesetzten Mittels von vornherein nicht in Betracht kommt. [60] c) Schutzgebotsfunktion und einzelfallbezogene Abwägung in zweistufiger Argumentation: die Parabolantennen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts In den beiden bisher erörterten Fällen steht das Ergebnis bereits mit der Beantwortung der Frage nach dem Bestehen eines Schutzgebots fest: In der Wahlplakat-Entscheidung ist diese von vornherein generell zu verneinen, in der Blinkfüer-Entscheidung dagegen ebenso generell zu bejahen, so daß bzw. weil für eine einzelfallbezogene Abwägung mit gegenläufigen Rechten oder Interessen der anderen Partei kein Raum bleibt. Selbstverständlich ist das nicht immer so. Häufig ist vielmehr statt dieser einstufigen Argumentation eine zweistufige erforderlich. Repräsentativ hierfür ist etwa die Rechtsprechung zu der Frage, ob der Mieter einer Wohnung vom Vermieter verlangen kann, daß dieser auf dem Mietshaus die Anbringung einer Parabolantenne zum Empfang von Rundfunk- und Fernsehprogrammen dulden muß. Das ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich zu bejahen, wenn kein Kabelanschluß besteht oder der Mieter
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Vgl. dazu näher Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 81 III 3 b.
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– als Ausländer – mit dessen Hilfe seine heimatlichen Sender nicht oder nur in ganz geringfügiger Zahl empfangen kann184. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen. Der Rundfunk- und Fernsehempfang ist nämlich der normale, ja fast der einzige praktikable Weg, um insoweit das Grundrecht der Informationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 GG wahrzunehmen. Der Mieter ist hier also – ganz anders als im Wahlplakatfall – i. d. R. auf die Duldung des Vermieters geradezu angewiesen, um dieses Grundrecht überhaupt ausüben zu können. In der „Angewiesenheit“ aber liegt ein besonders starkes pflichtenbegründendes Kriterium185. Hinzukommt, daß die Wohnraumwirtschaft in Deutschland derzeit nun einmal privatrechtlich organisiert ist186 und man von seinem Grundrecht, sich mit Hilfe von Rundfunk und Fernsehen zu informieren, daher im wesentlichen nur im Rahmen des Privatrechts Gebrauch machen kann; ein „Preis“ für diese privatrechtliche Verfaßtheit der Wirtschaftsordnung liegt in einer gewissen Sozialpflichtigkeit der Privatautonomie187, die daher jedenfalls dann grundsätzlich zurückzutreten hat, wenn ohne ihre Einschränkung die [61] Ausübung eines Grundrechts faktisch auf das schwerste beeinträchtigt wäre – und zwar nicht nur punktuell in mehr oder weniger zufälligen Einzelfällen, sondern strukturell in weiten Bereichen aufgrund der typischen Gegebenheiten dieser Problemkonstellation. Daher ist hier ein verfassungsrechtliches Schutzgebot grundsätzlich zu bejahen188. Auf der nächsten Argumentationsstufe – aber in der Tat erst auf dieser – setzt dann die Einzelabwägung ein. Hier kommt es z. B. darauf an, ob die Anbringung der Antenne ausnahmsweise wegen einer besonderen Gestaltung des Gebäudes dem Eigentümer nicht zuzumuten ist oder ob der Mieter ausnahmsweise doch auch ohne die Antenne über hinreichende InformationsmöglichkeiGrundlegend BVerfGE 90, 27, 33 ff. Grundlegend dazu, wenngleich in ganz anderem Zusammenhang, Traeger Marburger Festgabe für Enneccerus, 1913, S. 107 ff. 186 Zur Vermeidung von Mißverständnissen füge ich hinzu: glücklicherweise! 187 Vgl. zu dieser Argumentation, in verwandtem Zusammenhang, auch Canaris Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 119 f., 127. 188 Die Problematik läßt sich nicht etwa bereits mit Hilfe der Eingriffsverbotsfunktion lösen, indem man die Durchsetzung des Unterlassungsanspruchs des Eigentümers aus § 1004 BGB als Eingriff in das Grundrecht der Informationsfreiheit qualifiziert. Dieses gewährt nämlich schon tatbestandlich nicht die Befugnis, sich fremdes Eigentum zunutze zu machen – so wenig wie z. B. die Kunstfreiheit die Befugnis einschließt, fremde Leinwände zu bemalen oder fremde Hausmauern zu besprayen, vgl. (zum „Sprayer von Zürich“) EKMR EuRGZ 1984, 259; BVerfG NJW 1984, 1293; eingehend dazu Canaris öJBl 1991, 215. Daher greift die Anwendung von § 1004 BGB nicht in das Recht auf Informationsfreiheit ein. Wohl aber ist hier das entsprechende Gut tatbestandlich „berührt“, so daß nicht etwa auch die Bejahung eines Schutzgebots am Fehlen der tatbestandlichen Einschlägigkeit von Art. 5 Abs. 1 Halbs. 2 GG scheitert. Hier wird deutlich, daß es bei der Eingriffsverbotsfunktion um die rechtliche Dimension, bei der Schutzgebotsfunktion dagegen primär um die tatsächlichen Grundlagen des grundrechtlich gewährleisteten Gutes geht, vgl. dazu allgemein unten VI 2 b. 184 185
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ten verfügt189. Freilich können diese beiden Stufen nahezu nahtlos ineinander übergehen; auch ist nicht immer leicht zu sagen, auf welcher von ihnen ein bestimmtes Kriterium anzusiedeln ist. Gleichwohl sollte man sie gedanklich und dogmatisch von einander unterscheiden. Denn es ist eine andere Frage, ob bei einer bestimmten Problematik prinzipiell ein verfassungsrechtliches Schutzgebot besteht, oder ob im Einzelfall dessen Voraussetzungen gegeben sind und etwaige Gegeninteressen der anderen Partei zurückzutreten haben – eine Zweiteilung, die sich auch sonst bei der Konkretisierung von Pflichten regelmäßig findet. Praktische Bedeutung kann diese Unterscheidung vor allem deshalb erlangen, weil die Beantwortung der ersten Frage mit Sicherheit voll in die Überprüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts fällt, während die einzelfallbezogene Abwägung weitgehend unterhalb der verfassungsrechtlichen Ebe- [62] ne zu erfolgen hat und daher insoweit allein den Fachgerichten zukommt190. Dogmatisch interessant ist im übrigen, daß die Zivilgerichte und ihnen folgend das Bundesverfassungsgericht die Einrichtung der Antenne als „vertragsgemäßen Gebrauch“ i.S. von § 536 BGB konstruieren und so den Beseitigungsanspruch des Eigentümers aus § 1004 BGB einschränken. Das erscheint schon deshalb als problematisch, weil bei dieser Sichtweise die Kosten für die Installierung und Unterhaltung der Antenne eigentlich dem Vermieter zur Last fallen müßten, obwohl Einigkeit darüber besteht, daß sie der Mieter zu tragen hat. Außerdem bestimmt sich nun einmal nach dem Vertrag, was vertragsgemäßer Gebrauch ist191. Ist also das Recht auf die Anbringung der Antenne abdingbar – zumindest durch Individualvereinbarung? Ich kann diese Frage, die ein Sonderund Zusatzproblem darstellt, hier nicht vertiefen, weil sie aus dem Gesamtduktus meines Gedankengangs herausragt, möchte aber wenigstens andeuten, daß der Rückgriff auf § 536 BGB vielleicht doch nicht der adäquate Weg ist, sondern hier vielmehr einer jener – zugegebenermaßen seltenen, aber immerhin denkbaren – Fälle vorliegen könnte, in denen die privatrechtliche Umsetzung verfassungsrechtlicher Gebote nicht im Rahmen der vorhandenen Generalklauseln und unbestimmten Tatbestandsmerkmale, sondern nur durch die rechtsfortbildende Entwicklung einer ungeschriebenen privatrechtlichen Norm – hier des Mietrechts – möglich ist192.
189 Eine Übersicht über die relevanten Abwägungsgesichtspunkte findet sich bei Mehrings NJW 1997, 2275. 190 Vgl. dazu auch alsbald unten 4 a. 191 Insoweit trifft die Kritik von Diederichsen AcP 198 (1998) 182 in der Tat einen Schwachpunkt, doch ist daraus entgegen Diederichsen nicht die Konsequenz zu ziehen, daß die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts unzutreffend ist, sondern vielmehr, daß sie folgerichtig zu Ende gedacht werden muß. 192 Diese Problematik wird von der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ zu Unrecht nahezu völlig vernachlässigt, vgl. dazu näher Canaris AcP 184 (1984) 222 f.
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4. Kollidierende Grundrechte und die Weite des Spielraums bei der Konkretisierung von Schutzgeboten am Beispiel des Grundrechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung a) Zum Verhältnis von Verfassung und einfachem Recht: der Anspruch eines nichtehelichen Kindes gegen seine Mutter auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters Bisher habe ich die Bedeutung der Eingriffsverbotsfunktion sowie das Fehlen und das Bestehen grundrechtlicher Schutzgebote durch [63] Beispiele illustriert. Was noch aussteht, ist eine Konstellation, an der sich die Weite des Spielraums veranschaulichen läßt, der dem einfachen Recht bei der Konkretisierung von Schutzgeboten offensteht. Hierzu hat sich das Bundesverfassungsgericht vor etwa einem Jahr in sehr pointierter Weise in einem Fall geäußert, der das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht betrifft und daher exakt in den vorliegenden Zusammenhang paßt. Es ging dabei um die Klage eines nichtehelichen Kindes gegen seine Mutter auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters. Das Landgericht hatte dieser stattgegeben. Es hatte dabei jedoch (nach der Interpretation seines Urteils durch das Bundesverfassungsgericht) angenommen, daß die einschlägigen Grundrechte des Kindes – also vor allem dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG und sein Eigentumsrecht aus Art. 14 GG – eine Abwägung mit den gegenläufigen Grundrechten der Mutter allenfalls in sehr geringem Umfang zuließen. Es war somit davon ausgegangen, daß seine Entscheidung nahezu zur Gänze verfassungsdeterminiert sei. Darin sah das Bundesverfassungsgericht eine Verkennung des Spielraums, der dem einfachen Recht bei der Konkretisierung der Schutzgebotsfunktion zukommt, und hob aus diesem Grunde – also nicht etwa, weil es das Ergebnis der Abwägung durch das Landgericht mißbilligte – das Urteil auf193. Den Ausführungen, die es in diesem Zusammenhang macht, ist uneingeschränkt zuzustimmen. Es betont nämlich nachdrücklich, daß „die primär aus den Grundrechten folgenden subjektiven Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe einerseits und die ... Schutzpflichten andererseits sich insofern grundlegend voneinander unterscheiden, als das Abwehrrecht in Zielsetzung und Inhalt 193 BVerfGE 96, 56 = JZ 1997, 777 mit Anm. von Starck. Die entgegengesetzte Interpretation des Beschlusses durch Starck, wonach das Bundesverfassungsgericht „die volle Abwägungskontrolle im Einzelfall, ungeachtet zivilrechtlicher Strukturen, beansprucht“ (S. 780) vermag ich nicht zu teilen. Das Gegenteil trifft zu: Das Bundesverfassungsgericht hat das Fachgericht gerade auf eine Abwägung unterhalb der verfassungsrechtlichen Ebene verwiesen und dessen Urteil nur deshalb aufgehoben, weil „nicht ausgeschlossen (!) werden kann, daß das Landgericht bei Ausschöpfung seines (!) Abwägungsspielraums zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre“ (S. 66).
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ein bestimmtes staatliches Verhalten fordert, während die Schutzpflicht grundsätzlich unbestimmt ist. Wie die staatlichen Organe ihre Schutzpflicht erfüllen, ist von ihnen in eigener Verantwortung zu entscheiden“. Demgemäß sei „die Aufstellung und normative Umsetzung des Schutzkonzepts Sache des (einfachen) Gesetzgebers“ und gleiches gelte auch, „wenn die Zivilgerichte mangels einer Entscheidung des Gesetzgebers im Wege der [64] Rechtsfortbildung oder der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe die Schutzpflicht wahrnehmen. Nur ausnahmsweise lassen sich aus den Grundrechten konkrete Regelungspflichten ableiten“194. Dem habe ich nichts hinzuzufügen, da dies im wesentlichen der oben IV 3 c vertretenen Position entspricht. Zu betonen bleibt lediglich, daß das Landgericht bei der erneuten Entscheidung wieder zu demselben Ergebnis gelangen darf195, nur müssen die dafür maßgeblichen – möglicherweise sogar weitgehend inhaltsgleichen – Erwägungen dann auf der Ebene des bürgerlichen Rechts statt auf derjenigen des Verfassungsrechts liegen196. Aus den – vom Landgericht in den Mittelpunkt seiner Argumentation gerückten – Gesichtspunkten, daß die Eltern die Unkenntnis des Kindes von der Person seines Vaters „zu vertreten“ oder wohl besser gesagt „veranlaßt“ haben und daß dieses auf die Auskunft seiner Mutter „angewiesen“ ist – insbesondere auch zur Durchsetzung seiner finanziellen Ansprüche gegen seinen Vater – folgt dabei allerdings lediglich, daß überhaupt eine grundrechtliche Schutzpflicht in Betracht kommt. Hieran schließt dann auf einer zweiten Argumentationsstufe die Einzelabwägung auf der Ebene des bürgerlichen Rechts an. Bei dieser könnte im vorliegenden Fall z. B. berücksichtigt werden, daß die Mutter während der Empfängniszeit mit mehreren Männern geschlechtlich verkehrt hatte und diese nunmehr in intakten Ehen lebten; dieses Interesse ihrer früheren Partner (!) darf die Mutter grundsätzlich mitwahrnehmen. Zu ihren Gunsten kann auch ins Gewicht fallen, daß die – für sie u. U. sehr peinliche – Tatsache des Mehrverkehrs nunmehr über den Kreis der an dem Prozeß mit ihrer Tochter Beteiligten hinaus, insbesondere ihren früheren Partnern, bekannt werden würde. Wenn das Landgericht diese Gesichtspunkte für irrelevant oder für nicht gewichtig genug hält und auch sonst keine triftigen Argumente zugunsten der Mutter findet, darf es seine bisherige Entscheidung im Ergebnis bestätigen. Doch will ich hier nicht darlegen, wie der Fall nach meiner Ansicht letztlich zu entscheiden ist, sondern lediglich herausarbeiten, daß und in welchem Umfang das Ergebnis von 194 195
richts.
AaO. S. 64. Das ergibt sich klar aus der in Fn. 193 zitierten Formulierung des Bundesverfassungsge-
196 Unter dieser Voraussetzung bleibt daher auch die Entwicklung einer Argumentationslastregel zulässig, vgl. dazu Eidenmüller JuS 1998, 791 f., der die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts freilich dahin versteht, daß eine solche unzulässig sei, und sie unter diesem Aspekt – folgerichtig – kritisiert.
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Erwägungen auf der Ebene des bürgerlichen Rechts und nicht von einer spezifisch verfassungsrechtlichen Grundrechtsabwägung abhängt. [65] b) Zum Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung: die Problematik eines Anspruchs des Kindes auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters bei heterologer Insemination Schließlich möchte ich noch ein verwandtes Problem aufgreifen, zu dem es bisher keine Rechtsprechung gibt: die Frage nach dem Anspruch des Kindes auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters bei heterologer Insemination. Im Schrifttum wird aus der Anerkennung des Grundrechts eines Menschen auf Kenntnis seiner Abstammung z. T. geschlossen, daß die Samenbank und/oder der Arzt die Pflicht haben, die Person des Samenspenders zu dokumentieren und dem Kind auf dessen Verlangen bekanntzugeben197. Zunächst fragt sich, worin hier die bürgerlichrechtliche Anspruchsgrundlage zu sehen ist. § 810 BGB kommt als solche allenfalls dann in Betracht, wenn eine Dokumentation über den Spender vorhanden ist198, und gibt daher nichts für die Beantwortung der Vorfrage her, ob eine Pflicht zu deren Anlegung besteht; außerdem ist im Rahmen von § 810 BGB grundsätzlich eine Interessenabwägung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten vorzunehmen199, so daß mit dem Hinweis auf diese Vorschrift die eigentlichen Probleme auch bei Existenz einer Dokumentation noch längst nicht gelöst sind. Vorzugswürdig, weil wesentlich problemnäher erscheint daher der Rückgriff auf das (bürgerlichrechtliche) allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes in Verbindung mit dem negatorischen Anspruch analog § 1004 BGB. Dieses Recht wird nämlich durch die Unkenntnis von der Person des biologischen Vaters beeinträchtigt, und die Samenbank bzw. der Arzt haben diese Beeinträchtigung durch die Vornahme der heterologen Insemination auch in zurechenbarer Weise veranlaßt200. Inhaltlich ist der negatorische Anspruch hier auf Auskunft gerichtet, da nur durch eine solche die Beeinträchtigung beseitigt werden kann, und zur Sicherung seiner Erfüllung muß eine 197 Vgl. R. Zimmermann FamRZ 1981, 932; Starck Verhandlungen des 56. Deutschen Juristentages, 1986, A 23 ff.; Coester-Waltjen ebenda B 68 f.; Giesen JZ 1989, 368 f.; ders. Familienrecht, 2. Aufl. 1997, Rdn. 611. 198 Für eine Lösung mit Hilfe von § 810 BGB R. Zimmermann FamRZ 1981, 932; einschlägig wäre wohl die 2. Alt. von § 810 BGB, da zwischen dem Kind und seinem biologischen Vater ein Rechtsverhältnis familienrechtlicher Art besteht und § 810 Alt. 2 BGB seinem klaren Wortlaut nach generell für „Rechtsverhältnisse“, also nicht nur für solche aus Rechtsgeschäften gilt. 199 Vgl. nur Palandt/Thomas 57. Aufl. 1998, § 810 Rdn. 2. 200 Vgl. zu diesem Erfordernis im Rahmen von § 1004 BGB näher Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 86 V 1 und 3.
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Dokumentation angelegt werden, da sich die Sa- [66] menbank bzw. der Arzt die Erfüllung ihrer Pflicht sonst selbst unmöglich machen würden – ganz abgesehen davon, daß aus anderen Gründen ohnehin eine Dokumentationspflicht besteht201. Läßt sich somit eine bürgerlichrechtliche Anspruchsgrundlage durchaus konstruieren, so ist damit doch die entscheidende Frage noch nicht beantwortet, ob überhaupt ein Auskunftsanspruch des Kindes anzuerkennen ist. Dieser kollidiert nämlich mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Spenders bzw. – präziser gesprochen – mit dessen Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Spender hat hier vor allem deshalb ein massives Interesse an Anonymität, weil er dem Kind u. U. nach § 1615a, 1601 BGB unterhaltspflichtig werden kann und überdies seine Erben oder eventuell auch er selbst ihm nach §§ 1934 a, 1934 b, 1934 d BGB zu einem Geldausgleich als Ersatz für sein Erbrecht verpflichtet sind202. Diese Risiken sind umso gravierender, als aus einer einzigen Samenspende mehrere Kinder hervorgehen können – angeblich bis zu zehn. Selbstverständlich müssen die Samenbank oder der Arzt den Spender über die Möglichkeit dieser juristischen Konsequenzen aufklären203. Dann wird dieser entweder einen sicheren Schutz vor ihnen verlangen oder die Samenspende verweigern. Dem versucht man, wie Hager vor einem Jahr vor dieser Gesellschaft dargetan hat, durch einen Vertrag mit dem Ehemann der Mutter abzuhelfen, durch welchen dieser den Spender von seinen Rechtspflichten gegenüber dem Kind freistellt204. Diese Konstruktion versagt jedoch in wichtigen Fällen – z. B. wenn der Ehemann zahlungsunfähig ist oder die Insemination bei einer unverheirateten Frau vorgenommen wird. Vernünftigerweise wird sich der Spender daher bei der gegenwärtigen unterhaltsund erbrechtlichen Lage zu der Spende nur bereitfin- [67] den, wenn grundsätzlich205 seine Anonymität gewährleistet ist. Diese bildet somit faktisch geradezu die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das Kind überhaupt ins Leben treten kann, und darf daher m.E. nicht durch einen generellen Anspruch auf Auskunft über die Identi201 Sie ist z. B. erforderlich für den Fall, daß zur Behandlung einer Krankheit des Kindes die Kenntnis von biologischen Daten seines Vaters benötigt wird, und folgt insoweit aus dem Schutz der Gesundheit nach § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit einer entsprechenden Verkehrspflicht; auch im Hinblick auf die Möglichkeit einer Heirat des Kindes mit einem engen Verwandten des Spenders oder gar mit diesem selbst muß eine Dokumentation angelegt werden, wobei insoweit das allgemeine Persönlichkeitsrecht als pflichtenbegründende Grundlage heranzuziehen ist. 202 Entsprechend dem Zeitpunkt des Vortrags wird hier noch von der bis zum 30.6.1998 geltenden Rechtslage ausgegangen; das ist deshalb unbedenklich, weil sich durch die zum 1.7.1998 in Kraft getretenen Änderungen für die Dimension der vorliegenden Problematik nichts Wesentliches verändert hat. 203 Zutreffend insoweit R. Zimmermann FamRZ 1981, 933; Coester-Waltjen aaO. B 68. 204 J. Hager Die Stellung des Kindes nach heterologer Insemination, 1997, S. 9 ff. 205 Zu Ausnahmen vgl. Fn. 201; die dort genannten Probleme werden sich nicht selten sogar lösen lassen, ohne die Anonymität zu durchbrechen.
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tät des Spenders auf das schwerste beeinträchtigt oder gar gänzlich hinfällig gemacht werden206; das Informationsinteresse des Kindes einschränkungslos als vorrangig anzuerkennen, liefe letztlich auf die unhaltbare Ansicht hinaus, es sei besser, gar nicht zu leben, als in Unkenntnis von der Person seines biologischen Vaters zu leben207. Demgemäß hat das Bedürfnis des Kindes, diese Kenntnis zu erlangen, bei der heterologen Insemination keinesfalls ein so großes Gewicht, daß das grundrechtliche Schutzgebot sich ohne weiteres gegenüber dem gegenläufigen Recht auf informationelle Selbstbestimmung durchsetzen müßte. Ob die Zusage, die Anonymität des Spenders zu wahren, nach § 138 BGB nichtig ist – wie im Schrifttum ganz überwiegend angenommen wird – ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Hier geht es [68] nämlich nicht um einen vertraglichen Geheimhaltungsanspruch des Spenders, sondern um dessen davon völlig unabhängiges Recht auf informationelle Selbstbestimmung – und zwar in einem elementaren Bereich, der seine Intimsphäre betrifft. In dieses Recht wird durch die Zuerkennung eines Auskunftsanspruchs in massiver Weise eingegriffen, so daß es zu einer Kollision der beiderseitigen Grundrechte kommt. Dabei kann man nicht sagen, daß das Recht des Spenders auf informationelle Selbstbestimmung von vornherein gar nicht oder evident geringer schutzwürdig ist als das Interesse des Kindes an der Kenntnis seines biologischen Vaters. Zwar geht es hier um die Mitteilung einer wahren Tatsache im legitimen Interesse eines Dritten, doch hat die Samenbank bzw. der Arzt die Samenspende und die Kenntnis von der Identi206 Es handelt sich hier also um eine Art von („pragmatischem“ oder sogar „performativem“, vgl. dazu Canaris JuS 1996, 579 f.) Selbstwiderspruch, durch den gewissermaßen die Basis rückwirkend hinfällig gemacht wird, auf welcher die Möglichkeit zur Geltendmachung des Auskunftsanspruchs überhaupt beruht; mit dem Argument, die Rechtsordnung dürfe nicht faktisch verhindern, daß in Zukunft noch Samenspenden vorgenommen werden, hat das nichts zu tun. 207 Eine ähnliche Argumentation spielt bekanntlich eine zentrale Rolle für die Ansicht der h. L., daß ein mit einer schweren Krankheit geborener Mensch („wrongful life“) keinen Schadensersatzanspruch gegen denjenigen hat, ohne dessen Fehlverhalten (z. B. falsche Beratung der Mutter über das Krankheitsrisiko, fehlgeschlagene Sterilisation usw.) er gar nicht zur Welt gekommen wäre, vgl. dazu z. B. BGHZ 86, 240, 254 (mit etwas anderer, im wesentlichen aber doch ganz ähnlicher Begründung); Medicus Zivilrecht und werdendes Leben, 1985, S. 13 f.; umfassend und tiefdringend mit eigenem Lösungsansatz Picker Schadensersatz für das unerwünschte Leben „Wrongful Life“, 1995. Daher kann die Zurückweisung dieser Argumentation durch R. Zimmermann FamRZ 1981, 934 nicht überzeugen. Außerdem liegt die hier zur Erörterung stehende Problematik ohnehin insofern noch krasser, als die Unkenntnis von der Person des Samenspenders – auch wenn sie für das Kind eine Belastung darstellt – wertungsmäßig grundsätzlich nicht mit einer Gesundheitsschädigung auf eine Stufe gestellt werden kann; einem kranken Menschen entgegenzuhalten, daß er ohne die Krankheitsursache gar nicht leben würde, kann man durchaus als unangemessene, ja fast zynische Argumentation zurückweisen, während bei der vorliegenden Problematik von einer derartigen Unangemessenheit nicht die Rede sein kann (sondern eher das Auskunftsbegehren des Kindes als problematisch erscheint, weil es damit den seinerzeitigen Entscheidungen sowohl seiner Mutter als auch seines biologischen Vaters die Grundlage entzieht).
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tät des Spenders nur unter der Prämisse der Geheimhaltung erlangt und beginge daher durch deren Aufdeckung einen schweren Vertrauensbruch; das gilt unabhängig von einer Anonymitätszusicherung, da auch ohne eine solche das Geheimhaltungsinteresse des Spenders offenkundig ist. Bei einer derartigen Konstellation ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung grundsätzlich durchaus schutzwürdig. Daß der Spender über die rechtlichen Risiken aufzuklären ist, ändert daran auch dann nichts, wenn dies geschehen ist. Denn Klarheit kann nur hinsichtlich der unterhalts- und erbrechtlichen Lage geschaffen werden, nicht dagegen hinsichtlich des Bestehens eines Auskunftsanspruchs über die Identität des Spenders, da dieser schließlich nicht im Gesetz steht und bisher auch nicht höchstrichterlich anerkannt ist, sondern im vorliegenden Zusammenhang gerade das „thema probandum“ darstellt – ganz abgesehen von den „Altfällen“ einer Samenspende, die vor der (ohnehin nicht auf die vorliegende Problematik bezogenen) Anerkennung des Rechts auf Kenntnis des biologischen Vaters durch das Bundesverfassungsgericht erfolgt ist. Daher ist die Erwartung des Spenders, seine Anonymität werde gewahrt werden, zwar riskant, aber keineswegs illegitim. Die Interessenlage ist insoweit völlig anders als in den Fällen, in denen ein nichteheliches Kind durch Geschlechtsverkehr gezeugt worden ist. Denn in diesen spielt die Anonymitätserwartung überhaupt keine Rolle, und daher muß der Vater hier ohne weiteres mit den vollen rechtlichen Konsequenzen seines Verhaltens rechnen. Wenn aber die Mutter sogar in einem solchen Fall nach der soeben erörterten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts u. U. die Auskunft über die Person des Vaters verweigern darf, dann muß gleiches im Prinzip auch für die Samenbank und den Arzt im Falle der heterologen Insemination gelten. Demgemäß ist auch hier von einem weiten Gestaltungsspielraum des einfachen Rechts bei der Verwirklichung des grundrechtlichen Schutz- [69] gebots auszugehen. Sucht man nun nach einer „mittleren“ Lösung im Sinne praktischer Konkordanz, durch welche die Interessen beider Seiten gewahrt werden, so liegt es im Hinblick auf die Besonderheiten der heterologen Insemination nahe, dem Kind die finanziellen Ansprüche gegen seinen biologischen Vater und dessen Erben abzusprechen und ihm dann den – dadurch erheblich „entschärften“ – persönlichkeitsrechtlichen Anspruch auf Auskunft über dessen Person grundsätzlich zuzuerkennen. Im Vergleich zu der Alternative einer Versagung dieses Anspruchs spricht für diesen Ausweg, daß er das mildere Mittel zur Auflösung der Grundrechtskollision darstellt; denn wenn man den Auskunftsanspruch verneint, verliert das Kind damit de facto zugleich die finanziellen Ansprüche, weil es keine Kenntnis von deren Adressaten erlangen kann. Im Vergleich zur Bejahung eines Auskunftsanspruchs auf der Grundlage der derzeitigen unterhalts- und erbrechtlichen Lage verdient deren Korrektur für die Fälle heterologer Insemination ebenfalls den Vorzug, weil anderenfalls das Grundrecht des Spenders auf informationelle Selbstbestimmung gänzlich hintangestellt und also auf praktische Konkordanz verzichtet würde. Das wäre unvereinbar mit dem Erfordernis, „die
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kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst wirksam werden“208. Allerdings könnte der hier vorgeschlagene Ausweg durch das Gebot der Gleichstellung von nichtehelichen mit ehelichen Kindern gemäß Art. 6 Abs. 5 GG versperrt werden, doch wird man diese Bestimmung insoweit im Wege einer teleologischen Reduktion außer Anwendung lassen können, weil sie auf diese spezifische Sonderproblematik der heterologen Insemination nicht zugeschnitten ist. Gleichwohl stößt man hier an die Grenze der Möglichkeiten richterlicher Rechtsfortbildung, so daß ein Eingreifen des Gesetzgebers erforderlich wird. Zwar gehört die Verwirklichung von Schutzgeboten zu den genuinen Aufgaben der Rechtsprechung und kann demgemäß nicht etwa nur im Rahmen der Auslegung, sondern auch im Wege der Lückenfüllung erfolgen209, doch ginge die Außerkraftsetzung der unterhalts- und erbrechtlichen Vorschriften über eine solche wohl hinaus, weil sie mehr sein dürfte als eine bloße teleologische Reduktion. Für die Notwendigkeit einer gesetzgeberischen Entscheidung spricht im übrigen wohl auch das Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes im Sinne der Wesentlichkeitstheorie210. [70] Zum einen stellt nämlich die Problematik der heterologen Insemination eine Frage von elementarer Bedeutung dar, bei deren Lösung es um die Abwägung zwischen grundlegenden rechtsethischen Werten geht. Und zum anderen gibt es hierüber keine wirkliche Entscheidung des Parlaments. Denn angesichts der Neuartigkeit und Eigenständigkeit dieser Problematik stellt die Anwendung der Vorschriften des BGB über nichteheliche Kinder nicht mehr als eine scheinlogische Subsumtion dar, und hinsichtlich des Auskunftsanspruchs fehlt es vollends an einer gesetzlichen Grundlage. Es ist daher auch unter diesem Aspekt verfassungsrechtlich gesehen nicht befriedigend, einfach die unterhaltsund erbrechtlichen Regelungen über nichteheliche Kinder mit dem Auskunftsanspruch zu kombinieren und es als – vielleicht sogar rechtspolitisch erwünschte – Konsequenz hinzunehmen, daß der Samenspender dadurch einem dramatischen rechtlichen Risiko ausgesetzt wird211; das gilt umso mehr, als dessen Verwirklichung typischerweise von einer Reihe von rein äußerlichen Zufälligkeiten abhängt und außerdem die Beteiligten zur Entwicklung von Vermeidungs- und Umgehungsstrategien geradezu herausgefordert werden. Verfahrensmäßig läßt sich die Einschaltung des Gesetzgebers jedenfalls dadurch erreichen, daß die im Zivilprozeß unterlegene Partei Verfassungsbeschwerde einlegt und das Bundesverfassungsgericht dann das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Gesetzgebers aussetzt. Auch der Weg über eine NormenSo BVerfGE 89, 214, 232; BVerfG NJW 1998, 1475, 1476. Vgl. z. B. Stern aaO. § 69 IV 6 c; Isensee aaO. § 111 Rdn. 156. 210 Grundlegend BVerfGE 49, 89, 124 ff. 211 So aber die Tendenz von R. Zimmermann FamRZ 1981, 935, wenngleich nicht aus verfassungsrechtlicher, sondern aus rechtspolitischer Sicht. 208 209
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kontrolle gemäß Art. 100 GG erscheint als gangbar. Unproblematisch ist das, wenn das Gericht den Auskunftsanspruch als de lege lata gegeben, aber wegen der damit verbundenen unterhalts- und erbrechtlichen Konsequenzen als verfassungswidriges Übermaß ansieht. Hält es umgekehrt den Auskunftsanspruch im Hinblick auf diese für unvereinbar mit der lex lata und sieht es in dessen Versagung zugleich einen Verstoß gegen das Untermaßverbot, so rügt es damit ein gesetzgeberisches Schutzdefizit, worauf Art. 100 GG zwar nach seinem Wortlaut nicht zugeschnitten ist, aber sinngemäß angewendet werden sollte212. [71] VI. Ansätze zu einer dogmatischen Präzisierung der Schutzgebotsfunktion und des Untermaßverbots im Privatrecht Blickt man auf die Ausführungen über die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte und das Untermaßverbot im letzten Abschnitt zurück, so liegt es nahe, einige Gedanken zu verallgemeinern und dadurch den Versuch zu wagen, einen gewissen Beitrag zu der – noch in den Anfängen steckenden – dogmatischen Präzisierung dieses neuartigen rechtlichen Instrumentariums zu leisten. 1. Die Unterscheidung zwischen dem „Ob“ und dem „Wie“ des Schutzes Dabei empfiehlt es sich zunächst, zwei Fragen zu unterscheiden – nämlich erstens, ob ein Grundrecht überhaupt für die betreffende Beeinträchtigung ein Schutzgebot enthält, und zweitens, wie bejahendenfalls der Schutz auszusehen hat. Daß diese Unterscheidung in der Tat elementar ist, zeigt sich sofort, wenn man sie auf die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs anwendet: Hier ist zunächst zu klären, ob aus Art. 2 Abs. 2 GG überhaupt eine Pflicht des Staates zum Schutz ungeborenen Lebens folgt, und sodann die – weitaus diffizilere – Frage zu lösen, auf welche Weise der Staat dieser Pflicht nachzukommen hat, insbesondere ob das mit den Mitteln des Strafrechts oder nur mit denjenigen des Sozialrechts und/oder des Privatrechts zu erfolgen hat213. 212 Das ist sehr streitig; die gegenteilige Ansicht ist wohl noch h. L., vgl. z. B. Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer BVerfGG, 1998, § 80 Rdn. 27; Schenke VerwArch 82 (1991) 319 ff.; die vorzugswürdige Gegenmeinung ist jedoch offenbar im Vordringen begriffen, vgl. z. B. Berkemann EuGRZ 1985, 137 ff.; Kloepfer Festschr. für Lerche, 1993, S. 768 mit weiteren Nachw. 213 Diese Zweiteilung prägt denn auch deutlich die einschlägige Entscheidung BVerfGE 88, 203.
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Auch im Privatrecht gilt grundsätzlich diese Zweiteilung. Selbstverständlich kann schon die Frage nach dem Bestehen einer Schutzpflicht für eine bestimmte Problemstellung zu verneinen sein – und zwar a limine und nicht etwa nur aufgrund einer Abwägung der Umstände des einzelnen Falles; das habe ich oben V 3 a an der Wahlplakatentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu demonstrieren versucht: einen Rechtssatz des Inhalts, daß der Vermieter an der Außenwand des Mietshauses Wahlreklame seines Mieters zu dulden hat, gibt es ganz generell nicht. Andererseits steht mit der Bejahung einer Schutzpflicht nicht ohne weiteres fest, daß diese immer, d. h. unabhängig von den Besonderheiten des Einzelfalles durchgreift. So folgt zwar aus dem Recht auf Informationsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 GG grundsätzlich, daß dem Vermieter eine Pflicht zur Duldung der Anbringung einer Parabolantenne aufzuerlegen ist, wenn der Mieter auf eine solche [72] mangels hinreichender sonstiger Empfangsmöglichkeiten angewiesen ist, doch kann diese Pflicht im Einzelfall gleichwohl zu verneinen sein wie z. B., wenn sie aufgrund besonderer Umstände mit den schutzwürdigen Interessen des Vermieters unvereinbar ist (vgl. oben V 3 c). Ähnlich folgt zwar aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht eines nichtehelichen Kindes gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie wohl auch aus Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 5 GG, daß dieses grundsätzlich einen Anspruch gegen seine Mutter auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters hat, doch tritt dieser u. U. hinter dem gegenläufigen Persönlichkeitsrecht und den schutzwürdigen Interessen der Mutter zurück (vgl. oben V 4 a). Auch auf der Rechtsfolgenseite kann es Konkretisierungsbedürfnisse und -spielräume geben. Beispielsweise läßt sich aus Art. 11 GG das Gebot herleiten, die Freizügigkeit wegen ihres personalen Charakters vor der Beeinträchtigung durch vertragliche Einschränkungen zu schützen, doch bedeutet das keineswegs ohne weiteres, daß ein Vertrag über die Verlegung des Wohnsitzes nach § 138 BGB nichtig ist, sondern führt nach richtiger Ansicht lediglich dazu, daß die entsprechende Pflicht analog § 888 Abs. 2 ZPO nicht im Wege der Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden kann214. 2. Voraussetzungen für die Annahme eines Schutzgebots Anders als ein Eingriffsverbot setzt ein Schutzgebot eine spezifische Begründung voraus. Das ist oben IV 3 c eingehend dargelegt worden und soll hier nicht wiederholt werden. Vielmehr geht es an dieser Stelle darum, die Voraussetzungen für die Annahme eines Schutzgebots etwas näher zu entfalten.
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Vgl. näher Canaris JuS 1989, 164 sowie die Nachw. oben Fn. 143.
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a) Die tatbestandliche Einschlägigkeit eines Grundrechts Selbstverständlich ist, daß ein Schutzgebot von vornherein nur in Betracht kommt, wenn das betreffende Grundrecht tatbestandlich überhaupt einschlägig ist. Geht man z. B. davon aus, daß bloße Erwerbschancen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 14 GG fallen, so scheidet schon aus diesem Grund ein verfassungsrechtliches Gebot zu ihrem Schutz ohne weiteres aus. Diese Selbstverständlichkeit stellt indessen nicht immer eine Trivialität dar. Das zeigt sich etwa an der oben IV 3 b erörterten „Umkehrung“ des Lüth-Falles, in der es (u. a.) darum ging, ob die Abweisung einer [73] Unterlassungsklage des Filmregisseurs Veit Harlan gegen Lüth ersteren in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG verletzen würde. Das dürfte richtigerweise bereits auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit zu verneinen sein, so daß schon aus diesem Grund ein verfassungsrechtliches Gebot zum Schutz Veit Harlans vor dem Boykottaufruf Lüths von vornherein nicht in Betracht kommt. In einer freien Gesellschaft, wie sie durch das Grundgesetz und das geltende Privatrecht konstituiert wird, muß sich Kunst nämlich gegenüber kritischen Äußerungen von Privatpersonen aus eigener Kraft behaupten und durchsetzen, gerade weil sie „frei“, also keine „Staatskunst“ und der Ruf nach staatlichem Schutz vor Kritik daher ihrer unwürdig ist. Folglich ist ihre Freiheit schon tatbestandlich gar nicht „berührt“ – um einen im Verfassungsrecht gängigen, methodologisch freilich nicht unbedenklichen Ausdruck zu benutzen –, wenn eine Privatperson allein mit Worten (also nicht unter Einsatz wirtschaftlichen Drucks wie im Fall Blinkfüer215) und nur auf der Ebene der Meinungsauseinandersetzung (also nicht im wettbewerblichen Bereich) gegen sie kämpft. Das gilt auch dann, wenn jene bis zu einem Boykottaufruf geht, da auch dieser sich nach zutreffender, obgleich nicht unumstrittener Ansicht noch im Rahmen einer bloßen Meinungsäußerung hält216. Dabei handelt es sich indessen, wie zur Vermeidung falscher Argumentationsfronten vorsorglich hinzugefügt sei, im vorliegenden Zusammenhang lediglich um ein Zusatz- und Randproblem, auf das es hier nicht entscheidend ankommt; denn demonstriert werden soll ja nur, daß es dogmatisch sinnvoll ist, noch vor der Frage nach dem Bestehen eines Schutzgebots die tatbestandliche Einschlägigkeit des in Betracht kommenden Grundrechts zu prüfen – und daß bloße Kunstkritik von Privatpersonen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 3 GG fällt, wird gewiß auch akzeptieren, wer hinsichtlich des – über Kritik erheblich hinausgehenden – Boykottaufrufs anderer Ansicht ist.
Vgl. dazu oben V 3 b. Vgl. BVerfGE 7, 198, 210 und dazu eingehend Canaris JuS 1989, 167 mit Nachw. zur Gegenmeinung. 215 216
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Es ist somit nicht etwa die Meinungsfreiheit Lüths gegen die Kunstfreiheit Veit Harlans abzuwägen, da Art. 5 Abs. 3 GG hier von vornherein nicht eingreift und es somit gar nicht zu einer Kollision der beiden Grundrechte kommt. Diese Einsicht ist dogmatisch und methodologisch wichtig, kann sie doch dazu beitragen, der vorschnellen Flucht in die Abwägung und der immer mehr um sich greifenden Abwä- [74] gungshypertrophie217 entgegenzuwirken. Außerdem ist die Problematik auch insofern von besonderem dogmatischen Interesse, als sie ein Beispiel für die oben II 3 skizzierte Möglichkeit bildet, daß der tatbestandliche Anwendungsbereich eines Grundrechts im Verhältnis zwischen den Bürgern untereinander anders – d. h. hier enger – zu bestimmen sein kann als im Verhältnis des Bürgers zum Staat218. Würden nämlich staatliche Organe (als solche) Kritik an einem Film üben oder gar zu dessen Boykott aufrufen, so wäre Art. 5 Abs. 3 GG durchaus „berührt“ – und zwar in seiner Funktion als Abwehrrecht und Eingriffsverbot219. b) Das Schutzbedürfnis und seine Indikatoren: Rechtswidrigkeit, Gefährdung, Angewiesenheit Erst wenn die tatbestandliche Einschlägigkeit eines Grundrechts bejaht ist, geht es um die eigentliche Frage nach der Schutzpflicht. Deren Bestehen kann dabei auch dann generell zu verneinen sein, wenn ein Grundrecht tatbestandlich durchaus „berührt“ ist – was noch einmal die Zweckmäßigkeit einer Trennung zwischen diesen beiden Problemen unterstreicht. So wird man z. B. schwerlich leugnen können, daß die Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG „berührt“ ist, wenn der Vermieter dem Mieter (mit Hilfe von § 1004 BGB) verbietet, an der Außenwand seiner Mietwohnung Wahlreklame zu machen, und doch läßt sich, wie oben V 3 a dargelegt, aus der Verfassung kein Gebot herleiten, daß die Privatrechtsordnung dem Mieter eine derartige Möglichkeit zu eröffnen habe. Als wesentlicher Grund dafür hat sich herausgestellt, daß man hier von vornherein gar keinen Ansatzpunkt für die Annahme einer grundrechtlichen Schutzpflicht findet, weil ein Mieter über hinreichende andere Möglichkeiten zu politischer Propaganda verfügt.
217 Vgl. dazu die berechtigte Kritik von Leisner NJW 1997, 636 ff.; grundlegend ders. Der Abwägungsstaat, 1997. 218 Zutreffend dazu, speziell im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG, Lerche Festschr. für Odersky, 1996, S. 217 Fn. 7. 219 Entgegen Isensee HbdStR Bd. V, 1992, § 111 Rdn. 93 wird man daher schwerlich einschränkungslos die Ansicht verfechten können, daß „die Schutzpflicht in ihrer thematischen Reichweite dem Abwehrrecht entspricht“.
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Damit kommt ein elementares Kriterium für die Annahme einer Schutzpflicht in den Blick: es muß ein gewichtiges Bedürfnis für den Schutz des betreffenden Grundrechts bestehen. Dabei geht es primär um die tatsächlichen Grundlagen des grundrechtlich gewährleisteten Gutes und nicht um dessen rechtliche Dimension. In diese kann näm- [75] lich grundsätzlich nur der Staat durch Hoheitsakte wie Gesetze, Verwaltungsakte und dgl. eingreifen, während das den Privatrechtssubjekten mangels einer entsprechenden Kompetenz in der Regel – d. h. abgesehen von verhältnismäßig seltenen Ausnahmefällen wie Kündigungsund Weisungsrechten, wirksamen Verfügungen eines Nichtberechtigten und dgl. – gar nicht möglich ist. Auch für Verträge gilt nichts anderes, da bei diesen rechtlich gesehen nicht Fremdbestimmung, sondern Selbsteinschränkung vorliegt; es ist daher ganz folgerichtig, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner Bürgschaftsentscheidung die Privatautonomie, um deren Schutz es dort ging, nicht im formalen, sondern im materialen Sinn verstanden und also auf die faktischen Voraussetzungen ihrer Ausübung abgestellt hat220. Hauptziel der Schutzgebotsfunktion im Verhältnis zwischen Privatrechtssubjekten ist es demnach, die grundrechtlichen Güter vor tatsächlichen Beeinträchtigungen durch andere Privatrechtssubjekte zu bewahren und ihre tatsächliche Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. aa) Ein Bedürfnis zum Schutz vor Beeinträchtigungen kann vor allem dann zu bejahen sein, wenn diese rechtswidrig sind221. Dieses Urteil kann sich aus der Verfassung selbst ergeben; ein Beispiel hierfür bildet der Fall Blinkfüer, weil der Einsatz von wirtschaftlichem Druck im Meinungskampf, also das angewandte Mittel222 in der Tat schon von Verfassungs wegen nicht hingenommen werden kann, wie oben V 3 b dargelegt. Gleiches gilt im Hinblick auf das allgemeine Gewaltverbot auch für physische Eingriffe in Leben, Gesundheit, Fortbewegungsfreiheit und Sacheigentum223. Anders liegt es dagegen etwa hinsichtlich des privatrechtlichen Persönlichkeitsschutzes. Hier kann man nur sagen, daß dessen Ausgestaltung in der dem BGB ursprünglich zugrunde liegenden engen Konzep- [76] tion in ihrer Gesamtheit hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutzminimum zurückbleibt Vgl. dazu näher oben IV 3 e aa a.E. bei Fn. 146. Vgl. auch Isensee aaO. § 111 Rdn. 99, der dieses Kriterium jedoch wohl überbetont, vgl. dazu alsbald im Text; zur Bedeutung der Rechtswidrigkeit für die Schutzpflicht vgl. ferner z. B. Hermes Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 65 ff.; Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rdn. 350. 222 Auf die Unzulässigkeit des Mittels abzustellen, ist bekanntlich eine altbewährte Argumentationsfigur bei der Ermittlung der Rechtswidrigkeit. 223 Im Ansatz zutreffend Isensee aaO. § 111 Rdn. 98. Allerdings ist die äußerst schwierige Frage, wann das Verhalten eines Privatrechtssubjekts gegenüber einem anderen in einer verfassungsrechtlich relevanten, also dem (einfachen) Gesetz vorgelagerten Weise rechtswidrig ist, bisher nahezu völlig ungeklärt; eine Vertiefung ist im Rahmen dieser Abhandlung nicht möglich, vgl. aber immerhin die Andeutungen oben Fn. 102 und 108. 220 221
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und also das Untermaßverbot verletzt, weil sie weder dem verfassungsrechtlichen Rang des durch Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts noch dem immensen Zunehmen seiner Gefährdung durch die Entwicklung von Technik, Wirtschaft und Gesellschaft in einigermaßen effizienter Weise Rechnung trägt224. Die Schutzlücke als solche, die hier auf der Ebene des einfachen Rechts bestand (vor dessen Fortbildung durch Rechtsprechung und Wissenschaft), ist also als verfassungswidrig zu qualifizieren. Ob auch die einzelnen Persönlichkeitsbeeinträchtigungen – wie z. B. die Veröffentlichung eines Anwaltsschreibens als Leserbrief oder die Verwendung eines Photos zu Reklamezwecken ohne Zustimmung des Abgebildeten225 – geradezu von Verfassungs wegen zu mißbilligen sind, kann hier dagegen schwerlich den Ausschlag geben. Entscheidend ist vielmehr das Schutzdefizit in seiner Gesamtheit, wobei man allenfalls fordern kann, daß zu den Eingriffen, die dadurch sanktionslos bleiben, auch einige gehören müssen, bei denen sich das Unwerturteil schon auf der Ebene der Verfassung fällen läßt; im übrigen bleibt das Rechtswidrigkeitsurteil hier jedoch primär dem einfachen Recht überlassen und taugt daher nicht als Element für die Begründung der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht226. Statt dessen ist insoweit das Erfordernis der Effektivität des Grundrechtsschutzes von zentraler Bedeutung. bb) Ähnliches gilt für Gefährdungen grundrechtlich geschützter Güter227. Diese können auch dann, wenn sie so elementare und hochrangige Güter wie Leben und Gesundheit betreffen, grundsätzlich228 nicht ohne weiteres auf eine Stufe mit Eingriffen gestellt werden229, da [77] ihnen gegenüber die Argumentation mit Hilfe des Gewaltverbots versagt. Denn zum einen ist die bloße Schaffung einer Gefahrenquelle grundsätzlich nicht als Ausübung physischer Gewalt zu qualifizieren; und zum anderen kann auch keine Rede davon sein, daß der Bürger sich gegen alle Gefährdungen durch andere Bürger „eigentlich“ stets mit Gewalt wehren dürfte, geriete er dadurch doch seinerseits in Konflikt mit dem Gewaltverbot, eben weil Gefährdungen nicht per se mit Gewalt gleichgestellt werden können und er also nicht lediglich Gegengewalt, sondern primäre Gewalt üben würde. Vgl. näher Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 I 2 und 3. So die Fallgestaltung in den beiden grundlegenden Entscheidungen BGHZ 13, 334 („Schachtbrief“) und BGHZ 26, 349 („Herrenreiter“). 226 Anders wohl Isensee aaO. § 111 Rdn. 99, nach dessen Ansicht „nur der rechtswidrige Eingriff, genauer: der mit der Verfassung unvereinbare Eingriff tatbestandlich relevant ist“. 227 Vgl. zur Relevanz dieses Kriteriums auch Isensee aaO. § 111 Rdn. 106; Hesse aaO. Rdn. 350; Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. III/1, 1988, S. 740 ff.; Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 113 f. 228 Zu Ausnahmen vgl. BVerfGE 53, 30, 58. 229 Aus der Sicht der Zivilrechtsdogmatik besteht hier eine deutliche Parallele zu der Unterscheidung zwischen unmittelbaren Eingriffen und mittelbaren Beeinträchtigungen im Deliktsrecht, vgl. dazu näher Larenz/Canaris aaO. § 75 II 3 b. 224 225
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Andererseits bliebe der Grundrechtsschutz in wesentlichen Bereichen unvollständig, wenn man ihn nicht auf erhebliche Gefährdungen erstrecken würde. Auch hier geht es somit wieder um das Erfordernis praktischer Effizienz, und auch hier ist grundsätzlich wieder eine weitgehend generalisierende Betrachtungsweise angezeigt: Die Rechtsordnung muß ein Instrumentarium bereitstellen, welches insgesamt gesehen und für typische Gefahrenlagen einen effizienten Schutz der grundrechtlichen Güter gewährleistet, ohne daß dabei die Schaffung jeder einzelnen konkreten Gefahrenquelle verfassungsrechtlich unter dem Gesichtspunkt des Untermaßverbots zu thematisieren ist. Das geltende Deliktsrecht kommt dieser Aufgabe vor allem durch die sogenannten Verkehrspflichten230 nach231, deren Hauptfunktion im Schutz vor Gefährdungen liegt. Ergänzend treten die Gefährdungs- und teilweise auch die Aufopferungshaftung hinzu. Da diese bekanntlich nicht an ein Rechtswidrigkeitsurteil anknüpfen, steht man hier vor der Frage, ob ein Schutz des Bürgers auch gegenüber solchen Gefährdungen durch andere Bürger verfassungsrechtlich geboten sein kann, die nicht rechtswidrig sind, bzw. ob der Staat die Eingehung bestimmter Risiken nur erlauben darf, wenn er als Kompensation zugleich einen von Rechtswidrigkeit – und also auch und erst recht von Verschulden – unabhängigen Ausgleichsanspruch schafft. Das kann man keinesfalls a limine verneinen und daher ist, wenngleich das hier nicht vertieft werden kann, einmal mehr zu konstatieren, daß mit der Kategorie der Rechtswidrigkeit die Problematik der Schutzgebotsfunktion nicht vollständig in den Griff zu bekommen ist. [78] cc) Besonders deutlich zeigt sich das in Fällen, in welchen einem Privatrechtssubjekt Pflichten auferlegt werden, um einem anderen Privatrechtssubjekt die – faktische – Wahrnehmung eines Grundrechts zu ermöglichen. Paradigmatisch sind die Pflicht des Eigentümers eines Mietshauses zur Duldung der Anbringung einer Parabolantenne und die Pflicht der Mutter gegenüber ihrem Kind zur Auskunft über die Person seines biologischen Vaters. In beiden Fällen spielt das Kriterium der Angewiesenheit des Grundrechtsträgers auf das betreffende Verhalten des anderen Privatrechtssubjekts eine zentrale Rolle: Wenn der Eigentümer die Installierung der Parabolantenne nicht hinnimmt, kann der Mieter in den einschlägigen Fällen sein Grundrecht auf Informationsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 GG faktisch nicht in effizienter Weise ausüben (vgl. oben V 3 c); und wenn die Mutter dem Kind seinen Vater nicht nennt, kann dieses weder sein durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Vgl. zu diesen eingehend Larenz/Canaris aaO. § 76 III mit umf. Nachw. Deren Entwicklung erfährt somit durch die Schutzgebotsfunktion von Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 14 GG geradezu eine verfassungsrechtliche Legitimation; freilich bedarf es einer solchen nicht, weil die Verkehrspflichten entgegen hartnäckiger Kritik schon bürgerlichrechtlich hinreichend legitimiert sind und das auch von allem Anfang an waren, vgl. Larenz/Canaris aaO. § 76 III 2 a. 230 231
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Art. 1 Abs. 1 GG verbürgtes Recht auf Kenntnis von der Person seines Erzeugers noch seine wohl durch Art. 14 GG geschützten etwaigen finanziellen Ansprüche gegen diesen durchsetzen (vgl. oben V 4 a). Das Kriterium der Rechtswidrigkeit führt hier dagegen nicht weiter, weil es ja erst zu begründen gilt, daß die Verweigerung der Duldung bzw. der Auskunft überhaupt rechtswidrig ist, und man daher bei einem Rückgriff auf diese Kategorie Gefahr liefe, sich in einen vitiosen Zirkel zu verstricken. Daß zusätzlich zu dem Gedanken der Angewiesenheit noch andere Gesichtspunkte wie vor allem die privatrechtliche Verfaßtheit der Wohnungswirtschaft bzw. die „Veranlassung“ des Schutzbedürfnisses durch die Mutter heranzuziehen sind, um das Bestehen eines Schutzgebots zu bejahen (vgl. oben aaO), ändert daran nichts; denn diese Kriterien übernehmen hier lediglich die Funktion des Zurechnungselements, welches bei Eingriffen und Gefährdungen grundsätzlich unproblematisch ist, taugen aber nicht für die Begründung eines Rechtswidrigkeitsurteils. Daß die Verletzung der Duldungs- bzw. Auskunftspflicht dann ihrerseits rechtswidrig ist, hat natürlich mit der vorliegenden Problematik nichts zu tun, weil es insoweit nicht um die Begründung, sondern um die Rechtsfolgen der Schutzpflicht geht. c) Das „bewegliche Zusammenspiel“ der Kriterien aa) Es versteht sich von selbst, daß sich eine grundrechtliche Schutzpflicht i. d. R. nicht allein mit Hilfe der Kriterien des rechtswidrigen Eingriffs, der Gefährdung und der Angewiesenheit begründen läßt, sondern zusätzlich auf weitere Gesichtspunkte gestützt werden muß. Von wesentlicher Bedeutung sind insoweit zunächst „die Art und der [79] Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts“232. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Problematik schon allein mit Hilfe der Rangordnung bzw. einer etwa korrespondierenden festen Hierarchie der Werte gelöst werden könnte. Vielmehr sind – wie meist bei Argumentationen mit Hilfe eines Rangkriteriums – zwei Schritte zu unterscheiden233: Die Berücksichtigung des abstrakten Rangverhältnisses zum einen und das konkrete Gewicht der involvierten Güter und Interessen zum anderen. So haben Leben und Gesundheit zweifellos einen höheren Rang als Handlungsfreiheit und Eigentum, und doch kann eine schwache Gefährdung des Lebens u. U. hinter einer massiven Einschränkung der Handlungsfreiheit und des Eigentums zurückzutreten haben, wie trivialerweise z. B. schon die Zulassung des Autoverkehrs belegt. Andererseits ist deshalb die Ranghöhe des Schutzguts jedoch nicht etwa belanglos. Denn eine So BVerfGE 49, 89, 142; vgl. ferner BVerfGE 39, 1, 42. Das verkennt Dietlein aaO. S. 86 f. bei seiner Kritik an der Berücksichtigung des Rangkriteriums. 232 233
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Schutzpflicht ist folgerichtig umso eher zu bejahen, je höher das zu schützende Gut steht, so daß sie bei einer Gefährdung von Leben und Gesundheit grundsätzlich leichter zu begründen ist als bei einer solchen von Handlungsfreiheit oder Eigentum. Das Rangverhältnis hängt dabei ersichtlich eng mit der Art des betreffenden Rechtsguts zusammen: Das Leben steht deshalb am höchsten, weil es die physische Grundlage jeder Grundrechtsträgerschaft ist; Gesundheit und Fortbewegungsfreiheit haben bei genereller Betrachtungsweise Vorrang vor der allgemeinen Handlungsfreiheit, weil sie nach der „Natur der Sache“ gegenüber Eingriffen weitaus empfindlicher sind als diese, die aufgrund ihres extrem weiten Tatbestandsbereichs Einschränkungen sowohl besser verträgt als auch häufiger erforderlich macht und überdies – ganz anders als jene beiden Güter – geradezu auf wechselseitige Interaktion und damit zugleich Begrenzung angelegt ist. Im übrigen aber geht es hier nicht etwa um die – im einzelnen äußerst schwierige – Herausarbeitung der Rangordnung als solcher, sondern lediglich um die Einsicht, daß sich überhaupt abstrakte Vorrangregeln aufstellen lassen und daß diese bei der argumentativen Begründung von Schutzpflichten eine Rolle spielen können. Im Rahmen der bisherigen Ausführungen sind bereits zwei weitere wesentliche Kriterien in den Blick gekommen: die Schwere des Eingriffs und die Intensität der Gefährdung. Allgemeine Aussagen lassen sich hierüber freilich kaum treffen. Vielmehr kann man nur – aber immerhin – sagen, daß eine Schutzpflicht umso eher in Betracht kommt, [80] je gravierender der drohende Eingriff und je größer die Gefahr ist. Von Bedeutung ist dabei außerdem die Möglichkeit zum Selbstschutz des betroffenen Grundrechtsträgers, da die Schutzpflicht wie dargelegt234 einer besonderen Legitimation bedarf und zu einem schützenden Eingreifen der Rechtsordnung daher jedenfalls von Verfassungs wegen kein Anlaß besteht, wenn jener sich selbst helfen kann. bb) Neben den Kriterien der Rechtswidrigkeit des Eingriffs in das grundrechtliche Gut, seiner Gefährdung und der Angewiesenheit seines Inhabers auf die Mitwirkung anderer Privatrechtssubjekte bei dessen Ausübung erweisen sich somit einige wenige weitere Wertungsgesichtspunkte als generell relevant wie vor allem Rang und Art des betroffenen Grundrechts, die Schwere des drohenden Eingriffs und die Intensität der Gefährdung, die Möglichkeit seines Trägers zu effizientem Selbstschutz sowie das Gewicht gegenläufiger Grundrechte und Interessen235. Diese sind dabei – ähnlich wie Prinzipien – der Abstufung und Gewichtung zugänglich und bedürftig, so daß es grundsätzlich nicht um Lösungen nach dem Schema „ja/nein“ bzw. „entweder/oder“, sondern um komparatiVgl. oben IV 3 c und d a.E. Vgl. schon Canaris JuS 1989, 163; ähnlich BVerfGE 49, 89, 142; Isensee aaO. § 111 Rdn. 90 unter (c) und Rdn. 141 f. 234 235
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ve Sätze236 mit der Struktur „je mehr und je stärker desto eher“ geht: Je höher der Rang des betroffenen Grundrechts, je schwerer der drohende Eingriff, je intensiver die Gefahr, je geringer die Möglichkeit seines Trägers zu effizientem Selbstschutz und je schwächer das Gewicht gegenläufiger Grundrechte und Interessen ist, desto eher ist eine verfassungsrechtliche Schutzpflicht zu bejahen. Man gelangt also – was aus der Sicht der zivilrechtlichen Dogmatik alles andere als überraschend ist – zu einem Zusammenspiel der Kriterien nach Art eines „beweglichen Systems“ im Sinne Wilburgs237. Es versteht sich freilich, daß damit allenfalls das vorletzte Wort gesprochen ist und die bereichsspezifische Feinarbeit am jeweiligen Problem noch hinzukommen muß. 3. Schutzgebotsfunktion und einfaches Recht Die vorstehenden Ausführungen betrafen im wesentlichen die Frage, ob überhaupt eine grundrechtliche Schutzpflicht besteht. Wie be- [81] reits oben 1 dargelegt, sind in aller Regel zusätzliche Überlegungen erforderlich, um zu klären, wie eine solche gegebenenfalls zu verwirklichen ist. a) Die Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion mit Hilfe des einfachen Rechts aa) Dazu bedarf das verfassungsrechtliche Schutzgebot grundsätzlich der Ergänzung durch das einfache Recht. Denn dessen Aufgabe und nicht diejenige der Verfassung ist es grundsätzlich, das Schutzinstrumentarium – das vom Strafrecht über das Verwaltungs-, Steuer- und Sozialrecht bis zum Privatrecht reicht – bereitzustellen, da die Verfassung damit sowohl überfordert wäre als auch überstrapaziert würde. Hier wirkt sich somit erneut der oben IV 3 c bereits erwähnte strukturtheoretische Unterschied zwischen der Schutzgebots- und der Eingriffsverbotsfunktion aus: Während es bei letzterer lediglich darum geht, eine bestimmte bereits gegebene Regelung, d. h. eine Norm, einen Verwaltungsakt oder dgl. an den Grundrechten zu messen, steht bei der Schutzgebotsfunktion genau umgekehrt das Fehlen einer solchen Regelung – also ein staatliches Unterlassen im Gegensatz zu einem Eingriff238 – auf dem Prüfstand mit der Konsequenz, daß mehrere unterschiedliche Möglichkeiten in Betracht zu ziehen sind, die grundsätzlich 236 Grundlegend dazu Otte Jb. für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. II, 1972, S. 301 ff. 237 Grundlegend Wilburg Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, 1950. 238 Zur auch hier wieder relevanten Ablehnung der „etatistischen Konvergenztheorie“ vgl. oben IV 3 b.
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zwischen den Polen einer völligen Versagung des Schutzes und der Notwendigkeit des Erlasses von Strafnormen liegen. Bezüglich der Schutzgebotsfunktion könnte man daher sagen, daß sie „durch das Medium“ oder zumindest „im Medium“ des einfachen Rechts verwirklicht und also durch dieses „mediatisiert“ wird239. Indessen empfiehlt sich ein solcher Sprachgebrauch nicht. Zwar ist er hier nicht so widersinnig wie hinsichtlich der Eingriffsverbotsfunktion240, doch ist er gleichwohl sehr anfällig für Mißverständnisse. Er kann nämlich den Blick dafür verstellen, daß die dirigierende Kraft nach wie vor von der Verfassung als der lex superior ausgeht und daß das einfache Recht demgemäß eben fortgebildet werden muß, wenn es den grundrechtlichen Schutzgeboten nicht genügt – erforderlichenfalls sogar durch einen Akt der Gesetzgebung, wenn die Verwirklichung des Schutzgebots durch die Rechtsprechung die Zulässigkeitsgrenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschreiten würde. [82] bb) Andererseits trifft es aber in der Tat zu, daß sich das einfache Recht in wesentlichen Teilen als Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte verstehen läßt241. Das gilt insbesondere für das Deliktsrecht242, die Gefährdungshaftung und die negatorischen Ansprüche, welche aus verfassungsrechtlicher Sicht grundrechtliche Schutzpflichten auf der Ebene des Privatrechts umsetzen243. Auch das Vertragsrecht kennt Normen, welche diese Funktion erfüllen. So ist z. B. das KSchG als Verwirklichung des aus Art. 12 GG folgenden Gebots anzusehen, dem Arbeitnehmer Schutz vor einem grundlosen Verlust seines Arbeitsplatzes zu gewähren244. Dem Schutz der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG dienen ferner z. B. § 624 BGB, wonach der Dienstverpflichtete sein Dienstverhältnis nach Ablauf von fünf Jahren stets kündigen kann, die § 74 ff, 90a HGB, 239 So in der Tat z. B. Isensee Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 44; Stern aaO. § 69 IV 6 c ß. 240 Vgl. dazu oben II 2 a. 241 Zutreffend bemerkt Lerche Festschr. für Odersky, 1996, S. 228: „In aller Regel ist dem grundrechtlichen Schutzauftrag durch die Rechtsordnung schon entsprochen, und zwar speziell durch Abschirmung grundrechtsrelevanter Positionen des Bürgers gegen Drittstörungen durch die – gegebenenfalls beiderseitig ausgleichende – einfachgesetzliche Rechtsordnung“; ähnlich z. B. Grimm Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 212. 242 Vgl. auch BVerfGE 49, 304, 319; Isensee aaO. § 111 Rdn. 128; Larenz/Canaris aaO. § 75 I 1 mit Fn. 1; von Bar Gemeineuropäisches Deliktsrecht Bd. I, 1996, Rdn. 410 und 556 ff. 243 Daß diese Regelungen auch unabhängig von den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten Legitimität und Dignität besitzen und dem Grundgesetz historisch gesehen vorausliegen, wird damit selbstverständlich nicht in Abrede gestellt; den spezifisch verfassungsrechtlichen Blickwinkel verkennt wohl Diederichsen Jura 1997, 60 Fn. 29, wenn er eine Formulierung von Isensee aaO. § 111 Rdn. 128, die fast genauso lautet wie die im Text verwendete, mit der Begründung kritisiert, daß sie „vor dem Hintergrund des tatsächlichen Geschichtsverlaufs merkwürdig anmaßend klingt“. 244 Vgl. BVerfG NJW 1998, 1475 unter B I 1.
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wonach nachvertragliche Wettbewerbsverbote einem Schriftform- und einem Entgeltserfordernis unterliegen, sowie § 888 Abs. 2 ZPO, wonach im Falle der Verurteilung zur Leistung von Diensten eine Zwangsvollstreckung durch Zwangsgeld oder Zwangshaft nicht erfolgt245. Die letzten Beispiele verdeutlichen besonders gut, daß nicht jede Regelung des einfachen Rechts, die der Verwirklichung eines Schutzgebots dient, deshalb auch schon von Verfassungs wegen geboten ist. Dem einfachen Recht steht vielmehr grundsätzlich ein weites Spektrum unterschiedlicher Instrumente zur Verfügung, die lediglich in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenwirken einen effizienten Grundrechtsschutz gewährleisten müssen. Demgemäß wäre es verfehlt [83] anzunehmen, daß eine Vorschrift nur deshalb, weil sie aus verfassungsrechtlicher Sicht als Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion zu verstehen ist, der Disposition des einfachen Gesetzgebers entzogen wäre und also nur noch nach Maßgabe von Art. 79 GG geändert werden könnte. Vielmehr kann der Gesetzgeber grundsätzlich in weitem Umfang in das einfache Recht eingreifen und insbesondere auch einen einmal erreichten Schutzstandard reduzieren oder sogar gänzlich beseitigen, ohne hinter das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum zurückzufallen und das Untermaßverbot zu verletzen. Das folgt aus dessen oben IV 3 c eingehend begründeter „Schwäche“ und der soeben VI 2 b und c herausgearbeiteten schwer zu überwindenden Argumentationshürde bei der Annahme einer grundrechtlichen Schutzpflicht sowie aus dem sogleich noch einmal zu erörternden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Demgemäß könnte dieser z. B. den deliktsrechtlichen Schutz von Leben, Gesundheit und Eigentum nicht unerheblich zugunsten der allgemeinen Handlungsfreiheit verringern, ohne dadurch einen Verfassungsverstoß zu begehen. Natürlich könnte er auch das Deliktsrecht und die Gefährdungshaftung weitgehend durch eine versicherungsrechtliche Lösung ersetzen, sofern diese so ausgestaltet wäre, daß sie dem Geschädigten einen effizienten Schutz böte. Andererseits gibt es aber selbstverständlich auch Grenzen, jenseits derer eine Verletzung des Untermaßverbots vorliegt. Eine solche wäre z. B. sicher anzunehmen, wenn der Gesetzgeber auf den – freilich fernliegenden – Gedanken käme, die negatorischen Rechtsbehelfe ersatzlos abzuschaffen; denn dadurch entstünde eine so massive Schutzlücke, daß insoweit dem Erfordernis einer effizienten Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion nicht mehr Rechnung getragen wäre. Auch einer völligen Beseitigung der Gefährdungshaftung und einer Rückkehr zum reinen Verschuldensprinzip stünde wohl beim heutigen Stand des Gefährdungspotentials der Technik die Schutzgebotsfunktion von Art. 2 Abs. 2 GG entgegen.
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Vgl. zum Vorstehenden näher Canaris AcP 184 (1984) 223 f.
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b) Der Spielraum des einfachen Gesetzgebers zwischen Über- und Untermaßverbot und die eigenständige Bedeutung des Untermaßverbots bei der Verwirklichung einer Schutzpflicht aa) Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der einfache Gesetzgeber bei der Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion grundsätzlich einen großen Spielraum246. Dieser wird auch nicht etwa von der anderen Seite her, d. h. durch das Über- [84] maßverbot so weit reduziert, daß sich dessen Anforderungen mit denjenigen des Untermaßverbots decken. Die Vertreter der Gegenansicht247 verkennen sowohl den Inhalt des Untermaßverbots als auch die Funktionsweise des Übermaßverbots. Ersteres fordert nämlich, wie soeben noch einmal verdeutlicht, lediglich, daß das einfache Recht insgesamt einen effizienten Schutz bietet, läßt aber oft mehrere Variationsmöglichkeiten dafür offen, wie dieser im einzelnen auszugestalten ist. Und das Übermaßverbot beschränkt den Gesetzgeber grundsätzlich nicht in der Wahl seiner Zwecke und Ziele, die nach der st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts – auf einer gedanklich der Übermaßkontrolle vorausliegenden Stufe – lediglich darauf zu überprüfen sind, ob sie verfassungsrechtlich „legitim“248 bzw. „verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden“249 sind und also der Verfassung nicht widersprechen250. Demnach steht dem Gesetzgeber zwar nicht die Verwirklichung jedes beliebigen Zwecks frei251, doch muß diese andererseits selbstverständlich nicht geradezu von Verfassungs wegen geboten sein. Folglich kann keine Rede davon sein, daß eine Regelung, die nicht zum Schutze der einen Partei verfassungsrechtlich geboten ist, deshalb der „Erforderlichkeit“ im Sinne des Übermaßverbots entbehrt und daher die andere Partei zwangsläufig in ihren Grundrechten verletzt252. Vielmehr darf der Gesetzgeber sich grundsätzlich das Ziel setzen, ein über dem grundrechtlichen Minimum liegendes Schutzniveau zu erreichen – also z. B. mehr Mutter-, ArbeitnehmerVgl. oben IV 3 c m. Nachw. in Fn. 121 und V 4 a. Vgl. Hain DVBl. 1993, 983 f.; Starck JZ 1993, 817; Unruh Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 85 ff.; im wesentlichen auch Erichsen Jura 1997, 88; zutreffend gegen diese Ansicht Dietlein ZG 1995, 134 ff.; nicht überzeugend die Replik von Hain ZG 1996, 75 ff. 248 So z. B. die Formulierung in BVerfGE 77, 84, 106 f. 249 So z. B. die Formulierung in BVerfGE 68, 360, 370. 250 Vgl. dazu z. B. Herzog in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz 18. Lfg. 1980, Art. 20 VII Rdn. 51; Stern aaO. Bd. III/2 § 84 II 2 a = S. 777; Bleckmann Staatsrecht II, 4. Aufl. 1996, § 12 Rdn. 114; Pieroth/Schlink Grundrechte – Staatsrecht II, 13. Aufl. 1997, Rdn. 279 f.; Dreier GG-Komm. Bd. I, 1996, Vorbem. 91. 251 Vgl. dazu die von Grabitz AöR 98 (1973) 602 ff. herausgearbeitete „Typik legislatorischer Zwecksetzungskompetenz“. 252 So aber Hain DVBl. 1993, 983 f., der zwei verschiedene Arten der Erforderlichkeit (unausgesprochen) vermengt, weil er nicht sieht, daß sie einen unterschiedlichen Bezugspunkt haben; denselben Fehler begeht Erichsen Jura 1997, 88. 246 247
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oder Wohnungsmieterschutz zu schaffen als ihm von Verfassungs wegen obliegt –, und dann ist Maßstab für die Erforderlichkeitsprüfung folgerichtig dieses Ziel und nicht etwa der grundrechtliche Minimalschutz; man wird sogar davon ausgehen können, daß sich die Verwirklichung von Schutzgeboten durch das einfache Recht – die ja zu dessen ebenso elementaren wie [85] „alltäglichen“ Aufgaben gehört253 – in der Regel nicht auf die Umsetzung des verfassungsrechtlich erforderlichen Schutzminimums beschränkt. Weil (und soweit) dessen Überschreitung verfassungsrechtlich legitim ist, darf der Gesetzgeber entsprechende Zwecke verfolgen und gerät dadurch folglich keineswegs zwangsläufig in die Fänge des Übermaßverbots. Um das soeben genannte Beispiel des Mieterschutzes zur Veranschaulichung zu verwenden: Bei der Schaffung von § 564b BGB durfte sich der Gesetzgeber zum Ziel setzen, den Mieter davor zu schützen, daß er durch eine ohne besonderen Anlaß ausgesprochene Kündigung seine Wohnung und damit seinen räumlichen Lebensmittelpunkt verliert sowie den Belastungen eines Umzugs ausgesetzt wird, und daher durfte er die Kündigung an das Erfordernis eines „berechtigten Interesses“ des Vermieters knüpfen, ohne daß er dadurch unter Verstoß gegen das Übermaßverbot in dessen Eigentum eingegriffen und damit Art. 14 Abs. 1 GG verletzt hätte254. Andererseits ist auch dann, wenn man die Stellung des Mieters im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht ebenfalls in den Schutzbereich von Art. 14 GG einbezieht255 (eine Ansicht, die ich zwar nicht teile, hier aber demonstrandi causa einmal zugrunde lege), nicht ernsthaft zu erwägen, daß die – äußerst rigide und zu manchen widersinnigen Konsequenzen führende256 – Regelung des § 564b BGB in ihrer derzeitigen Ausgestaltung von Verfassungs wegen geboten ist. Der Gesetzgeber bewegt sich hier vielmehr im „freien“ Raum zwischen Über- und Untermaßverbot und könnte § 564b BGB daher abschwächen (ja m.E. sogar ersatzlos abschaffen257), ohne gegen ein grundrechtliches Schutzgebot zu verstoßen. Oder ein anderes Beispiel: Wenn der Gesetzgeber die Haftung eines Sachverständigen für seine Aussagen im Prozeß auf grobe Fahrlässigkeit beschränkt, so verletzt er damit auch dann nicht die Schutzgebotsfunktion von Art. 2 Abs. 2 GG und das Untermaßverbot, wenn die Regelung auch für die Herbeiführung einer Freiheitsentziehung durch auf einfacher Fahrlässigkeit beruhende Fehler des
Vgl. dazu auch oben VI 3 a bb und die in Fn. 241 zitierte Bemerkung von Lerche. Vgl. BVerfGE 68, 361, 370 f. 255 So BVerfGE 89, 1, 9 ff. 256 Grundlegend dazu die Kritik von H. Honsell AcP 186 (1986) 134 ff., 159 ff. 257 Der (etwaigen) Schutzpflicht des Gesetzgebers ist schon durch die Härteklausel des § 556 a BGB und das allgemeine Rechtsmißbrauchsverbot gemäß § 242 BGB hinreichend Rechnung getragen. 253 254
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Sachverständigen gilt258. [86] Ebensowenig verstößt der Gesetzgeber aber andererseits gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Übermaßverbot, wenn er es auch für Aussagen eines Sachverständigen im Prozeß bei der allgemeinen Regelung des § 823 Abs. 1 BGB bewenden und diesen also für jeden Grad von Fahrlässigkeit haften läßt. Insgesamt bleibt es somit dabei, daß dem einfachen Recht grundsätzlich ein ziemlich breiter Raum der Gestaltungsfreiheit zwischen Über- und Untermaßverbot offensteht, der nur in Ausnahmefällen „auf Null schrumpft“259. bb) Das Untermaßverbot fällt auch nicht etwa mit der Schutzpflicht zusammen, so daß es gegenüber dieser keinerlei eigenständige Funktion hätte260. Wer dies annimmt, verkennt die Bedeutung, welche dem einfachen Recht bei der Verwirklichung von grundrechtlichen Schutzgeboten zukommt. Etwas vereinfachend gesprochen geht es bei der Frage nach der Schutzpflicht um das „Ob“ des Schutzes, während das Untermaßverbot die Frage nach dem „Wie“ thematisiert261. Denn „die Verfassung gibt (nur) den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im einzelnen“262. Demgemäß ist in einem ersten Schritt das Bestehen der Schutzpflicht als solcher zu begründen und in einem zweiten Schritt zu überprüfen, ob das einfache Recht dieser hinreichend Rechnung trägt oder insoweit ein Defizit aufweist. Daß es sich dabei in der Tat um zwei verschiedene Argumentationsgänge handelt, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die oben VI 2 b und c herausgearbeiteten Kriterien nur für den ersten Schritt eine Rolle spielen, während beim zweiten zusätzliche und andersartige Gesichtspunkte heranzuziehen sind. Mit Recht hat daher das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob zum Schutz der Leibesfrucht vor einem Schwangerschaftsabbruch der Einsatz des Strafrechts erforderlich ist oder man mit anderen Mitteln auskommen kann, nicht schon unter dem Gesichtspunkt der Schutzpflicht als solcher, sondern erst unter dem des Untermaßverbots erörtert263. [87] In dessen Rahmen ist demgemäß zu untersuchen, ob der Schutz des einfachen Rechts wirksam und angemessen ist264. Dabei geht es nicht etwa darum, das – 258 Vgl. auch BVerfGE 49, 304, 324; die Entscheidung ist freilich im vorliegenden Zusammenhang nur mit Zurückhaltung verwendbar, weil es in ihr nicht primär um die Schutzgebotsfunktion von Art. 2 Abs. 2 GG als solche, sondern vielmehr um die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung ging. 259 Vgl. näher Canaris JuS 1989, 163 f.; zustimmend Lerche Festschr. für Odersky, 1996, S. 229 Fn. 33; ähnlich z. B. Isensee aaO. § 111 Rdn. 90 unter (g); vgl. im übrigen die Nachw. aus der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts oben Fn. 121. 260 So aber die These von Hain DVBl. 1993, 983 f.; ähnlich Starck JZ 1993, 817. 261 Vgl. zu dieser Unterscheidung oben VI 1; zur Entstehung des Ausdrucks „Untermaßverbot“ vgl. die Nachw. oben Fn. 95 und 96. 262 BVerfGE 88, 203, 254. 263 BVerfGE 88, 203, 257. 264 BVerfGE 88, 203, 254.
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etwaige – Schutzdefizit bzw. das Unterlassen des Gesetzgebers in der gleichen Weise wie bei einem Eingriff in ein Grundrecht am Übermaßverbot zu messen265. Vielmehr ist zu prüfen, ob der Schutz den Minimalanforderungen an seine Effizienz genügt und ob gegenläufige Rechtsgüter und Interessen nicht überbewertet sind. Allerdings gehört die Wirksamkeit des Schutzes grundsätzlich bereits zum Inhalt der Schutzpflicht selbst, weil eine Pflicht, unwirksame Maßnahmen zu ergreifen, widersinnig wäre266, doch trifft das nur bei einer sehr abstrakten Sichtweise zu und ändert nichts daran, daß es jeweils zusätzlich einer problemspezifischen Prüfung der Effizienz bedarf; denn diese stellt ein abstufbares Kriterium dar, weil es darauf ankommt, ob der Schutz hinreichend effizient ist – und darin liegt eine gegenüber der Begründung der Schutzpflicht eigenständige Fragestellung, die demgemäß in der Tat sinnvollerweise unter dem Begriff des Untermaßverbots gesondert zu thematisieren ist. In dessen Rahmen kommt es dann, wie sich im Verlauf der Ausführungen oben V wiederholt gezeigt hat267, häufig zu einer „zweiten Argumentationsschwelle“ und einer erneuten Abwägung mit gegenläufigen Rechtsgütern und Interessen, weil diese nicht nur bei der Begründung der Schutzpflicht, sondern auch bei deren Verwirklichung durch das einfache Recht und der dabei erforderlichen Feinabstimmung eine wesentliche Rolle spielen. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei hinzugefügt, daß das Untermaßverbot nicht nur bei der (expliziten) verfassungsrechtlichen Überprüfung eines gesetzgeberischen Unterlassens einschlägig ist, sondern desgleichen bei den entsprechenden Problemen im Rahmen der richterlichen Rechtsanwendung und -fortbildung. Denn da die grundrechtliche Schutzgebotsfunktion bei einer Verwirklichung durch die Rechtsprechung keinesfalls weiter reicht als bei einer solchen durch den Gesetzgeber, ist der Richter zur Erfüllung dieser Aufgabe nur befugt, weil und soweit anderenfalls ein verfassungswidriges Schutzdefizit entstünde und also ein Verstoß gegen das Untermaßverbot vorläge. Eine andere Frage ist selbstverständlich, ob die Rechtsprechung nicht u. U. über das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum hinausgehen darf, weil und sofern das auch der (einfache) Gesetzgeber dürfte; [88] das ist grundsätzlich zu bejahen, hat jedoch mit der vorliegenden Problematik nichts zu tun, sondern gehört zur Thematik der richterlichen Rechtsfortbildung und ihrer Grenzen. Nur wenn der Inhalt des Schutzes zur Gänze verfassungsdeterminiert ist, kommt dem Untermaßverbot keine eigenständige Funktion zu, doch wird das kaum je der Fall sein, da die Verwirklichung der Schutzpflicht in aller Regel in irgendeiner Weise mit Hilfe des einfachen Rechts erfolgt. Selbst wenn es dabei ausnahmsweise nicht des Rückgriffs auf zusätzliche Wertungskriterien bedarf – 265 Durchschlagend insoweit die Analyse und Begründung von Robbers Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 170–172; vgl. im übrigen auch oben IV 3 c. 266 So Hesse Festschr. für Mahrenholz, 1994, S. 545. 267 Vgl. insbesondere unter V 3 c und 4 a.
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wie z. B. im Fall Blinkfüer268 –, ist doch eine Einpassung in das System des einfachen Rechts erforderlich, welche dann die Frage aufwirft, ob dessen Instrumentarium – wie z. B. die §§ 823 Abs. 1, 826 BGB – einen ausreichenden Schutz ermöglicht oder dafür erst erweitert werden muß; genau das aber ist wiederum das Problem des Untermaßes. c) Die Bedeutung der Gesetzesvorbehalte im Rahmen der Schutzgebotsfunktion Zum Abschluß sei noch kurz auf die Frage eingegangen, welche Bedeutung den Gesetzesvorbehalten im Rahmen der Schutzgebotsfunktion zukommt. Dabei ist zu unterscheiden, ob es um das Grundrecht geht, welches geschützt wird, oder um ein anderes gegenläufiges Grundrecht, in welches zu diesem Zweck eingegriffen wird. aa) Hinsichtlich des ersteren spielt der Gesetzesvorbehalt keine Rolle. Entweder weist nämlich das zu schützende Grundrecht einen Gesetzesvorbehalt auf – dann ist nicht ersichtlich, worin insoweit ein Problem liegen könnte; oder es weist keinen Gesetzesvorbehalt auf wie z. B. die Kunstfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG – dann wäre es geradezu widersinnig, daraus zu schließen, daß dieses Grundrecht keine Schutzgebotsfunktion entfalten könnte. In der Tat besteht ja die Funktion der Gesetzesvorbehalte darin, Eingriffe in ein Grundrecht zu erlauben und zu begrenzen, und daher nimmt es nicht wunder, daß sie als Kompetenzgrundlage für dessen Schutz weder erforderlich noch tauglich sind269. Man kann auch nicht generell sagen, daß Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt eine schwächere Schutzgebotsfunktion zukommt als Grundrechten ohne einen solchen270. Denn das System der Gesetzesvorbehalte läßt keinen zwingenden Rückschluß auf den Rang der [89] Grundrechte zu, weil es nicht primär durch diesen sondern durch andere Gesichtspunkte geprägt ist. bb) Das eigentliche Problem liegt somit in der Frage, ob es eines Gesetzesvorbehalts bedarf, wenn zur Verwirklichung des Schutzes eines Grundrechts in ein anderes eingegriffen werden soll. Auch das dürfte indessen grundsätzlich zu verneinen sein. Die Kollision mit dem gegenläufigen Grundrecht ist nämlich i. d. R. schon bei der Frage nach dem Bestehen einer grundrechtlichen Schutzpflicht zu berücksichtigen. Wird diese wegen der Kollision verneint, entfällt das Problem, wird sie dagegen trotz dieser bejaht, ist es inzident bereits gelöst. Denn dann ist der Eingriff ja von Verfassungs wegen geboten und dann ist er Vgl. dazu oben V 3 b. Vgl. auch Jarass AöR 120 (1995) 374 f. 270 So aber offenbar Pietrzak JuS 1994, 751. 268 269
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zugleich auch zulässig, da nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte eingeschränkt werden dürfen, sofern und soweit das zum Schutz anderer Grundrechte erforderlich ist271, und dies für unter einem Gesetzesvorbehalt stehende Grundrechte auch und erst recht gilt272. Die Gesetzesvorbehalte spielen somit auch insoweit in der Tat letztlich keine wesentliche Rolle273. Ähnliches gilt für das Übermaßverbot: Beschränkt man sich bei der Umsetzung der Schutzgebotsfunktion wirklich darauf, nur das verfassungsrechtlich gebotene Minimum des Grundrechtsschutzes zu realisieren, und ist dazu ein Eingriff in ein kollidierendes Grundrecht notwendig, so kann durch diesen folgerichtig das Übermaßverbot gar nicht verletzt sein, so daß dessen Prüfung hier obsolet wird. Allerdings wird es häufig zweckmäßig sein, als gedanklichen Test und argumentative Abrundung zusätzlich eine Übermaßkontrolle vorzunehmen, um – gewissermaßen von der anderen Seite her – sicherzustellen, daß man nicht doch über das unerläßliche Schutzminimum hinausgegangen ist274. Relevant werden die Gesetzesvorbehalte und das Übermaßverbot somit erst dann, wenn der Gesetzgeber (oder an seiner Stelle der das [90] Gesetz konkretisierende und fortbildende Richter) einer Partei mehr Schutz gewährt als grundrechtlich geboten ist. Dies grundsätzlich zuzulassen, ist im vorliegenden Zusammenhang die relevante Funktion der Gesetzesvorbehalte. So erlaubt z. B. der GesetzesSvorbehalt zugunsten der persönlichen Ehre gemäß Art. 5 Abs. 2 GG dem einfachen Recht, die Meinungsfreiheit stärker einzuschränken als das von Verfassungs wegen aufgrund der Schutzgebotsfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG erforderlich ist; denn anderenfalls wäre ja der Gesetzesvorbehalt überflüssig – eine Einsicht, der freilich das Bundesverfassungsgericht bei seiner Rechtsprechung zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz leider nicht hinreichend Rechnung trägt (worauf wegen der Komplexität dieser Materie hier nicht näher eingegangen werden kann). cc) Wieder ein anderes Problem liegt darin, ob die Gesetzesvorbehalte im Rahmen der Schutzgebotsfunktion deshalb von Bedeutung sind, weil Eingriffe in Grundrechte zum Schutze anderer Grundrechte nur auf (einfach-)gesetzlicher
Grundlegend BVerfGE 30, 173, 193 f. Vgl. BVerfGE 66, 116, 136; 72, 122, 137; 73, 301, 315; Lerche in HbdStR Bd. V. 1992, § 122 Rdn. 23. 273 Vgl. auch Di Fabio JZ 1993, 691 f., der eine „Auflösung des Gesetzesvorbehalts in einer tripolaren Grundrechtsrelation“ konstatiert; anders wohl Isensee aaO. § 111 Rdn. 91. 274 Zumindest schief daher Hesse Festschr. für Mahrenholz, 1994, S. 556 f., nach dessen Ansicht „Eignung und Erforderlichkeit des Eingriffs in die abwehrrechtliche Grundrechtsposition“ schon dann bejaht sind, wenn „die Schutzvorkehrung zwecktauglich und ausreichend ist“; das ist zu wenig, weil das eben noch nicht bedeutet, daß sie grundrechtlich geboten ist. 271 272
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Grundlage zulässig sind275. Das mag hier dahinstehen. Zum einen sind im Privatrecht nämlich ohnehin nahezu immer derartige Gesetze vorhanden wie z. B. die §§ 138, 823 Abs. 1, 826, 1004 BGB, und zum anderen bleibt dort, wo ausnahmsweise eine solche gesetzliche Anknüpfungsmöglichkeit doch einmal fehlt, grundsätzlich die Möglichkeit einer verfassungskonformen Lückenfüllung276. Besteht eine solche nicht – etwa deshalb, weil mehrere unterschiedliche Möglichkeiten zur Verwirklichung des Grundrechtsschutzes gleichermaßen in Betracht kommen –, muß ohnehin der Gesetzgeber eingeschaltet werden, wobei diesem bekanntlich unter zwischenzeitlicher Aussetzung des Rechtsstreits erforderlichenfalls durch das Bundesverfassungsgericht eine Frist zur Schaffung einer Regelung gesetzt werden kann. [91] VII. Zusammenfassung 1. Die Grundrechte sind auf privatrechtliche Gesetze als unmittelbar geltendes Recht anzuwenden. a) Das entspricht dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 GG, der keine Ausnahme für den Gesetzgeber auf dem Gebiet des Privatrechts erkennen läßt, und das ist auch teleologisch gesehen gerechtfertigt, da privatrechtliche Normen genauso intensiv in Grundrechte eingreifen können wie öffentlichrechtliche; aus der Entstehungsgeschichte und der historischen Funktion von Art. 1 Abs. 3 GG ergeben sich keine Gegenargumente (vgl. II 1 a und b = S. 11 f. und S. 12 ff.). Die Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers folgt außerdem aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, da nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift die Verfassungsbeschwerde auch gegen privatrechtliche Normen erhoben werden kann (vgl. II 1 c = S. 14). Darüber hinaus spricht für deren Bindung an die Grundrechte der Gedanke der Normenhierarchie, weil die Verfassung auch gegenüber dem Privatrecht uneingeschränkt den Rang der lex superior besitzt (vgl. II 1 d = S. 15). b) Die Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte ist „unmittelbar“. Das folgt nicht nur aus der Anwendbarkeit von Art. 1 Abs. 3 GG und der Vergleichbarkeit von privatrechtlichen Grundrechtseingriffen mit öffentlichrechtlichen, sondern ist auch allein sachgerecht. Eine nur „mittelbare“ Bindung des Privatrechtsgesetzgebers in dem Sinne, daß die Grundrechte auf das Privatrecht erst „durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften“ einwirken, scheidet aus normlogischen Gründen aus; denn die
275
In diesem Sinne ist wohl Isensee Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 42 f. zu verste-
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Vgl. z. B. Stern aaO. § 69 IV 6 c; Isensee aaO. § 111 Rdn. 156.
hen.
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Geltung einer Norm kann nur an einer ranghöheren Norm i.S. einer lex superior gemessen werden, und daher ist die verfassungsrechtliche Kontrolle von privatrechtlichen Vorschriften an anderen Vorschriften desselben Rechtsgebiets und daher gleichen Ranges normlogisch gesehen widersinnig; außerdem stößt eine solche Vorgehensweise auch unter praktischen Gesichtspunkten auf unüberwindliche Hindernisse (vgl. II 2 a = S.16 ff.). Die Grundrechte gelten gegenüber den Vorschriften des Privatrechts auch nicht lediglich in ihrer Funktion als objektive Grundsatznormen, sondern in ihren „normalen“ Funktionen als Eingriffsverbote und Schutzgebote (vgl. II 2 b und c = S. 19 ff. und S. 21 f.). Allerdings haben sie für das Verhältnis zwischen den Privatrechtssubjekten nicht notwendigerweise immer denselben Inhalt und dieselbe Reichweite wie im Verhältnis zwischen dem Bürger und dem Staat, so daß insoweit gewisse Modifikationen in Betracht kommen; das gilt insbesondere für die [92] Bedeutung von Gemeinwohlinteressen und die Funktion der Gesetzesvorbehalte (vgl. II 3 = S. 22 f.). 2. Die Grundrechte gelten auch für die richterliche Anwendung und Fortbildung des Privatrechts unmittelbar. a) Das folgt allerdings nicht schon allein daraus, daß auch die Rechtsprechung nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden ist. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß die Gesetze faktisch weitgehend erst durch die Rechtsprechung mit konkretem Inhalt gefüllt werden277 und der Grundrechtsschutz daher in einem Bereich von elementarer praktischer Bedeutung der Effektivität entbehren würde, wenn nur der Erlaß der Gesetze und nicht auch deren Anwendung und Fortbildung der Bindung an die Grundrechte unterläge. Aus der Einsicht, daß diese für den Gesetzgeber auf dem Gebiete des Privatrechts unmittelbar gelten, folgt daher in einem zweiten Schritt die Konsequenz, daß für dessen Anwendung und Fortbildung grundsätzlich nicht anders entschieden werden kann (vgl. III 1 a = S. 24 f.). Die Richtigkeit dieser Konzeption wird wiederum durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG bestätigt und bekräftigt. Denn nach dieser Vorschrift kann auch das Urteil eines Zivilgerichts mit der Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung eines Grundrechts angegriffen werden; das setzt logischerweise voraus, daß eine solche auf einer falschen Anwendung des Privatrechts beruhen kann, und impliziert folglich, daß auch für diese die Bindung an die Grundrechte gilt (vgl. III 1 b = S. 25). Gegenstand der Grundrechtsbindung und -kontrolle ist dabei nicht die richterliche Entscheidung als solche, sondern vielmehr der Satz, der ihr zugrunde liegt und sie trägt; dieser ist daher als Norm zu formulieren und dann wie eine solche auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen (vgl. III 1 c = S. 26 f.). Die als Norm gedachte ratio decidendi unterliegt demgemäß der Bindung an die Grund277
Auf die Frage nach der normativen Qualität von „Richterrecht“ kommt es hier also nicht an.
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rechte in ihren „normalen“ Funktionen als Eingriffsverbote und Schutzgebote – und zwar grundsätzlich in der gleichen Weise wie ein entsprechender Satz des Gesetzes. Das ist die folgerichtige Konsequenz daraus, daß die Anwendung und Fortbildung des Gesetzes dessen notwendige Konkretisierung und Komplettierung darstellt und diesem also hinsichtlich des Grundrechtsschutzes gleichzustellen ist. [93] b) Die hier vertretene Ansicht steht in einem gewissen Gegensatz zum LüthUrteil des Bundesverfassungsgerichts und seiner daran anknüpfenden Rechtsprechung, wonach lediglich von einer „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte auf das Privatrecht auszugehen ist. In der Tat bedarf die im Lüth-Urteil entwickelte Konzeption aus heutiger Sicht einer „kritischen Rekonstruktion“. Das gilt zunächst insofern, als entgegen dem Ansatz des Lüth-Urteils strikt zwischen „Ausstrahlungswirkung“ und „Superrevisionsproblematik“ zu trennen ist: Letztere ist kein Spezifikum des Verhältnisses zwischen Grundrechten und Privatrecht, sondern tritt in allen Rechtsgebieten bei der Überprüfung von Entscheidungen der Fachgerichte durch das Bundesverfassungsgericht in prinzipiell gleicher Weise auf, so daß sie keinesfalls mit Hilfe der – nur auf das Privatrecht bezogenen – Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ in sachgerechter Weise entschärft werden kann; es handelt sich vielmehr um eine rein verfassungsprozessuale Schwierigkeit, die demgemäß allein mit den Mitteln des Prozeßrechts zu bewältigen ist (vgl. III 2 a = S. 27 f.). Darüber hinaus vermag die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ heute auch in materiellrechtlicher Hinsicht nicht mehr zu befriedigen. Das gilt schon deshalb, weil dieser Ausdruck keinen juristischen Begriff, sondern lediglich eine bildhafte Wendung aus der Umgangssprache darstellt und wegen der damit verbundenen Vagheit dogmatisch gesehen nicht mehr als eine Verlegenheitslösung bildet. Außerdem ist die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ beim heutigen Stand der verfassungsrechtlichen Dogmatik überflüssig, weil sich alle einschlägigen Probleme schon mit Hilfe der „normalen“ Funktionen der Grundrechte als Eingriffsverbote und Schutzgebote sachgerecht und zugleich präziser lösen lassen. So lag im Fall Lüth in Wahrheit ein Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 GG vor, weil der vom BGH zugrunde gelegte Satz über die Unzulässigkeit des Boykottaufrufs eine Einschränkung der Meinungsfreiheit beinhaltete (vgl. III 2 b = S. 30 ff.). Bei anderen Problemen wie z. B. der Kontrolle der Anwendung von § 564b BGB durch die Zivilgerichte am Maßstab von Art. 14 GG zieht das Bundesverfassungsgericht denn auch nicht die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ heran, sondern verfährt schon jetzt im wesentlichen in der hier vorgeschlagenen Weise. 3. Im Gegensatz zu den Gesetzen des Privatrechts sowie ihrer Anwendung und Fortbildung durch die Rechtsprechung unterliegen die Subjekte des Privatrechts und ihr Verhalten grundsätzlich nicht der unmittelbaren Bindung an die
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Grundrechte. Diese entfalten ihre Wirkung insoweit jedoch auf dem Wege über ihre Funktion als Schutzgebote. [94] a) Normadressaten der Grundrechte sind grundsätzlich nur der Staat und seine Organe, nicht aber die Subjekte des Privatrechts. Ausnahmen sind zwar möglich, wie vor allem Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG zeigt, bedürfen jedoch entgegen der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ einer besonderen Begründung, die sich nur sehr selten geben läßt (vgl. IV 1 a = S. 34 f.). Von „unmittelbarer Drittwirkung“ sollte demgemäß nur dann gesprochen werden, wenn sich Grundrechte gegen Privatrechtssubjekte als Normadressaten richten wie im Falle von Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG bzw. wenn eine dementsprechende Konzeption der Grundrechtswirkung vertreten wird; die unmittelbare Geltung der Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG für die Normen des Privatrechts und für deren Anwendung und Fortbildung hat mit „unmittelbarer Drittwirkung“ nichts zu tun (vgl. IV 1 b = S. 35). b) Gegenstand der Prüfung an den Grundrechten sind folgerichtig grundsätzlich nur staatliche Regelungen und Verhaltensweisen, nicht aber solche von Privatrechtssubjekten, also Rechtsgeschäfte, Delikte usw. (vgl. IV 2 = S. 36). c) Daß die Grundrechte dennoch auch auf diese einwirken, erklärt sich aus ihrer Funktion als Schutzgebote. Denn die Pflicht des Staates, den einen Bürger gegenüber dem anderen Bürger vor einer Verletzung seiner grundrechtlich gewährleisteten Güter zu schützen, ist auch – und gerade – auf der Ebene des Privatrechts zu erfüllen. Diese Konzeption hat den Vorzug, zum einen an der Einsicht festzuhalten, daß Adressat der Grundrechte grundsätzlich nur der Staat und nicht der Bürger ist, zum anderen aber gleichwohl eine dogmatische Erklärung dafür zu bieten, daß und warum auch das Verhalten von Privatrechtssubjekten dem Einfluß der Grundrechte unterliegt (vgl. IV 3 a = S. 37 ff.). Der Versuch, mit Hilfe der „etatistischen Konvergenztheorie“ jedes Verhalten von Privatrechtssubjekten dem Staat zuzurechnen und demgemäß mit der Eingriffsverbotsfunktion der Grundrechte zu erfassen, so daß für die Heranziehung der Schutzgebotsfunktion weder Raum noch Bedürfnis bleibt, ist als gescheitert anzusehen; so wäre z. B. nur letztere als Prüfungsgrundlage in Betracht gekommen, wenn im Fall Lüth die Kinoinhaber oder der Regisseur vor dem Zivilgericht unterlegen wären und gegen ein solches Urteil Verfassungsbeschwerde eingelegt hätten (vgl. IV 3 b = S. 39 ff.). Die Schutzgebotsfunktion und das sie flankierende Untermaßverbot haben eine schwächere Wirkungskraft als die Eingriffsverbotsfunktion und das Übermaßverbot; das folgt zum einen daraus, daß ein Schutzgebot sich gegen ein Unterlassen des Staates richtet und seine Begründung daher eines besonderen Argumentationsaufwandes bedarf (was [95] von der Unterlassensproblematik im Straf- und Zivilrecht sattsam bekannt ist), und zum anderen auch daraus, daß dem einfachen Recht bei seiner Erfüllung grundsätzlich ein weiter Spielraum offensteht (vgl. IV 3 c = S. 43 ff.). Daß es Grenzfälle gibt, in denen es schwerfällt, zwi-
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schen Schutzgebots- und Eingriffsverbotsfunktion zu unterscheiden, ändert daran nichts; im Zweifel ist letztere heranzuziehen (vgl. IV 3 d = S. 45 ff.). Daß die schwächere Wirkungskraft von Schutzgebotsfunktion und Untermaßverbot zu einer Asymmetrie zugunsten desjenigen führt, der in die Sphäre des anderen eingreift, trifft zwar zu, stellt jedoch keinen Einwand, sondern im Gegenteil einen Vorzug der hier vertretenen Ansicht dar; denn darin spiegelt sich das Prinzip wider, daß der Verkehr der Bürger untereinander grundsätzlich von staatlicher Einwirkung frei ist und diese also einer besonderen Legitimation bedarf (vgl. IV 3 d = S. 47). Die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte greift grundsätzlich auch gegenüber der Selbstbindung durch Vertrag Platz. Besondere Bedeutung hat sie hier zum einen, wenn das grundrechtlich geschützte Gut, dessen Ausübung vertraglich eingeschränkt wird, aufgrund seines höchstpersönlichen Charakters überhaupt nicht zur Disposition seines Trägers steht oder aufgrund seines starken personalen Gehalts besonders sensibel gegenüber einer rechtlichen Bindung ist, und zum anderen, wenn die faktischen Möglichkeiten einer Vertragspartei zu freier Entscheidung erheblich beeinträchtigt sind (vgl. IV 3 e aa = S. 48 ff.). Daß derartige Probleme in aller Regel auch rein privatrechtlich gelöst werden können, ändert nichts daran, daß sie bei Unterschreiten des grundrechtlich gebotenen Schutzminimums eine verfassungsrechtliche Dimension haben und man dem Betroffenen insbesondere nicht von vornherein die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde abschneiden darf (vgl. IV 3 e bb = S. 50). 4. Die praktischen Konsequenzen der hier vertretenen Konzeption lassen sich an einer Reihe von Beispielen verdeutlichen. a) Anerkennt man die Geltung der Grundrechte als Eingriffsverbote gegenüber den Normen des Privatrechts, so ergibt sich aus dieser Funktion – und nicht etwa erst aus der Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ oder der Schutzgebotsfunktion –, daß die Auferlegung einer ruinösen Schadensersatzpflicht grundsätzlich verfassungswidrig ist, sofern der Geschädigte „reich“ ist und also durch eine höhenmäßige Einschränkung der Ausgleichszahlung nicht unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. V 1 = S. 51 f.). [96] b) Ersetzt man im Fall Lüth das Bild von der „Ausstrahlungswirkung“ durch die Kategorie des Eingriffsverbots, so zeigt sich, daß es auf das Kriterium des „Beitrags zum geistigen Meinungskampfs in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten“ nicht entscheidend ankommt; daher hätte z. B. der Photokina-Fall durch den BGH entgegengesetzt entschieden werden müssen (vgl. V 2 = S. 53 f.). c) Die dem Bild von der „Ausstrahlungswirkung“ innewohnende Tendenz zu einer umfassenden Berücksichtigung der Umstände des einzelnen Falles führt auch sonst zur Heranziehung von Kriterien, die in Wahrheit unerheblich sind. Daher hat das Bundesverfassungsgericht z. B. in der – am gleichen Tage wie das Lüth-Urteil ergangenen – Entscheidung der Frage, ob der Vermieter die Anbrin-
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gung eines Wahlplakats des Mieters an der Außenwand des Mietshauses dulden muß, auf Umstände abgestellt, auf die es keinesfalls ankommen kann. Außerdem wäre hier aus heutiger Sicht als Kontrollmaßstab nur die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG in Betracht gekommen, bei deren Heranziehung die Unbegründetheit der Verfassungsbeschwerde sofort ins Auge springt (vgl. V 3 a = S. 55 f.). Um die Schutzgebotsfunktion ging es dogmatisch gesehen auch im Fall Blinkfüer, wo diese vom Bundesverfassungsgericht der Sache nach erstmals anerkannt worden ist – und zwar bereits einschließlich ihrer subjektivrechtlichen Komponente. Zutreffend hat dieses hier im Ergebnis ein Schutzgebot aus Art. 5 Abs. 1 GG bejaht, weil der Einsatz von wirtschaftlichem Druck im Meinungskampf ein rechtswidriges Mittel darstellt (vgl. V 3 b = S. 56 ff.). Auf die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG zurückzuführen ist ferner die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Pflicht des Vermieters, u. U. dem Mieter die Anbringung einer Parabolantenne zu gestatten. Diese Pflicht gilt jedoch nur im Grundsatz und bedarf der Konkretisierung im Einzelfall, so daß es zu einer zweistufigen Argumentation kommt: Zunächst ist das Bestehen eines Schutzgebots als solches zu begründen und dann ist dessen Umsetzung auf den konkreten Fall vorzunehmen, wobei diese im wesentlichen auf der Ebene des einfachen Rechts erfolgt (vgl. V 3 c = S. 60 ff.). d) Aus der Schutzgebotsfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG folgt, daß ein nichteheliches Kind grundsätzlich einen Anspruch gegen seine Mutter auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters hat. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht jedoch entschieden, daß das nicht ausnahmslos gilt und daß bei der Abwägung mit dem gegenläufigen Per- [97] sönlichkeitsrecht der Mutter ein weiter Spielraum auf der Ebene des einfachen Rechts besteht, dessen Ausfüllung grundsätzlich den Zivilgerichten obliegt; diese hält sich bei der vorliegenden Problematik noch innerhalb der Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung (vgl. V 4 a = S. 62 ff.). Ein entsprechendes Schutzgebot besteht grundsätzlich auch bei der heterologen Insemination. Die Gewährung eines Anspruchs gegen die Samenbank und/oder den behandelnden Arzt auf Auskunft über die Person des Spenders stellt jedoch einen gravierenden Eingriff in dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, durch das grundsätzlich sein Interesse an der Wahrung seiner Anonymität gedeckt wird. Der Gestaltungsspielraum des einfachen Rechts bei der Verwirklichung von Schutzgeboten könnte hier zur Erreichung praktischer Konkordanz mit dem gegenläufigen Recht des Spenders durch eine Lösung genutzt werden, bei der dem Kind zwar grundsätzlich ein Auskunftsanspruch zuerkannt, dieser jedoch zugleich durch die Versagung jeglicher unterhalts- und erbrechtlicher Ansprüche gegen den Spender entschärft wird. Dieser Ausweg dürfte indessen nicht der Rechtsprechung offenstehen, sondern ein Eingreifen des Gesetzgebers erforderlich machen (vgl. V 4 b = S. 65 ff.).
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5. Dogmatische Grundlagen für eine inhaltliche Präzisierung der grundrechtlichen Schutzgebotsfunktion im Privatrecht sind bisher erst in Ansätzen zu erkennen. a) Ebenso wie bei der Anwendung der Grundrechte in ihrer Funktion als Eingriffsverbote bedarf es auch hier zunächst der Prüfung, ob das betreffende Grundrecht tatbestandlich überhaupt „berührt“ ist (vgl. VI 2 a = S. 72 f.). Anders als dort ist dann jedoch eine zusätzliche Argumentationsstufe zu überwinden, deren Bedeutung bisher in Rechtsprechung und Wissenschaft oft nicht hinreichend berücksichtigt wird: Da es bei der Verwirklichung von Schutzgeboten um die verfassungsrechtliche Prüfung eines gesetzgeberischen Unterlassens oder dessen verfassungskonforme Kompensation durch die Rechtsprechung geht, muß jeweils eine spezifische Begründung dafür gegeben werden, daß aus dem „berührten“ Grundrecht überhaupt eine Schutzpflicht bezüglich der betreffenden Problemkonstellation folgt (vgl. IV 3 c = S. 43 ff.). Als pflichtenbegründende Faktoren kommen dabei vor allem die Rechtswidrigkeit des Eingriffs durch ein Privatrechtssubjekt in das grundrechtlich gewährleistete Gut, dessen Gefährdung durch ein anderes Privatrechtssubjekt sowie die Angewiesenheit des Grundrechtsträgers auf die Mitwirkung oder Duldung anderer Privatrechtssubjekte bei der Ausübung seines Grundrechts in Betracht (vgl. VI 2 b = S. 74 ff.). Wesentliche Kri- [98] terien bilden außerdem Rang und Art des zu schützenden Grundrechts, die Schwere des drohenden Eingriffs und die Intensität der Gefährdung, die Möglichkeit seines Trägers zu effizientem Selbstschutz sowie das Gewicht gegenläufiger Grundrechte und Interessen; diese wirken in der Form komparativer Sätze von der Struktur „je mehr und je stärker desto eher“ nach Art eines „beweglichen Systems“ im Sinne Wilburgs zusammen (vgl. VI 2 c = S. 78 ff.). b) Die grundrechtliche Schutzgebotsfunktion bedarf zu ihrer Verwirklichung grundsätzlich der Umsetzung durch das einfache Recht. Dieses wird dadurch jedoch grundsätzlich nicht der Disposition durch den einfachen Gesetzgeber entzogen, da es lediglich in seiner Gesamtheit einen wirksamen Grundrechtsschutz bieten muß und die einzelnen Regelungen als solche demgemäß nicht verfassungsdeterminiert sind (vgl. VI 3 a = S. 81 ff.). Dem einfachen Gesetzgeber steht dabei grundsätzlich ein breiter Spielraum zwischen Über- und Untermaßverbot offen (vgl. VI 3 b aa = S. 83 ff.). c) Das Untermaßverbot fällt nicht mit der Schutzpflicht zusammen, sondern hat dieser gegenüber eine eigenständige Funktion. Denn es sind zwei verschiedene Argumentationsgänge, in denen zunächst geprüft wird, ob überhaupt eine Schutzpflicht besteht, und sodann, wie diese durch das einfache Recht zu verwirklichen ist, ohne das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum zu unterschreiten. Bei der Untermaßkontrolle geht es demgemäß darum zu gewährleisten, daß der Schutz den Mindestanforderungen an seine Effizienz genügt und daß gegenläufige Rechtsgüter und Interessen nicht überbewertet werden (vgl. VI 3 b bb = S. 86 ff.).
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d) Die Gesetzesvorbehalte spielen für die Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion im Privatrecht keine wesentliche Rolle (vgl. VI 3 c = S. 88 ff.).
Grundrechte und Privatrecht* ACP 184 (1984), S. 201–246 UND ACP 185 (1985), S. 9–12 Übersicht** I.
Die Grundrechte als Eingriffsverbote gegenüber Privatrechtssubjekten: zur Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ ........................ 202 1. Charakteristika der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“......... 202 2. Kritik der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ ......................... 203 a) Wortlaut, Systematik und Geschichte des Grundgesetzes ................ 203 b) Die teleologische Funktion der Grundrechte...................................... 205 c) Die Problematik der „sozialen Macht“................................................. 206 3. Die praktischen Folgen der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ ........................................................................................................... 208 a) Im deliktischen Bereich ........................................................................... 208 b) Im rechtsgeschäftlichen Bereich ............................................................ 208 II. Die Grundrechte als Eingriffsverbote gegenüber Privatrechtsnormen sowie als Auslegungsrichtlinien und Grundsatznormen: zur Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ .................................................................. 210 1. Grundrechte und Normen des Privatrechts............................................... 210 a) Die Position der Lehre von der ,,mittelbaren Drittwirkung“ und des Bundesverfassungsgerichts ...................................................... 210 b) Die Geltung der Grundrechte als Eingriffsverbote gegenüber den Normen des Privatrechts ................................................................ 212 c) Besonderheiten der Schrankenproblematik bei vertragsergänzenden dispositiven Normen ................................................................. 213 d) Die „ergänzende Auslegung“ als Grenzfall ......................................... 216 e) Die Unzulässigkeit einer generellen Gleichstellung von privatautonomer Regelung und Privatrechtsnorm ....................................... 217 2. Grundrechte und Verhalten von Privatrechtssubjekten .......................... 221 a) Grundrechte und Generalklauseln ........................................................ 222
* Ergänzte Fassung des Vortrags, den der Verf. im September 1983 vor der Zivilrechtslehrertagung in Aachen gehalten hat. Die Nachweise in den Fußnoten streben keine Vollständigkeit an. ** Anm. d. Hrsg.: Die Übersicht wurde aus dem Original übernommen, die Seitenzahlen beziehen sich folglich auf das Original.
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Grundrechte und Privatrecht
b) Die Fragwürdigkeit der These von den Grundrechten als Auslegungsrichtlinien und „wertentscheidenden Grundsatznormen“ ..................................................................................................... 224 III. Die Grundrechte als Schutzgebote .................................................................... 225 1. Dogmatische Grundlagen.............................................................................. 225 2. Privatrechtliche Schutzinstrumente ............................................................ 229 a) Deliktsrecht und grundrechtliche Schutzgebotsfunktion .................. 229 b) Rechtsgeschäftslehre und grundrechtliche Schutzgebotsfunktion ...................................................................................................... 232 c) Tarifvertrag und grundrechtliche Schutzgebotsfunktion .................. 243 IV. Zusammenfassung der wichtigsten dogmatischen Aussagen ........................ 245 [202] Das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht im allgemeinen und von Grundrechten und Privatautonomie im besonderen ist bekanntlich Gegenstand eines nun schon Jahrzehnte andauernden Theorienstreits, der meist mit den Stichworten der „unmittelbaren“ und der „mittelbaren Drittwirkung“ gekennzeichnet wird. Es scheint sich um eines der immerwährenden, kaum je abschließend zu lösenden Grundlagenprobleme zu handeln. Das mag es rechtfertigen, dieses Thema erneut aufzugreifen. Dabei ist es im Rahmen eines Vortrags nicht sinnvoll, die kaum zu überschauende Fülle der einschlägigen Einzelfragen auszubreiten. Ich konzentriere mich daher auf die grundsätzliche rechts- und verfassungstheoretische Seite der Problematik. Für diese erweisen sich zwei allgemeine Kategorien als grundlegend für eine Präzisierung der Fragestellung: Normadressat und Normstruktur. Mit dem ersten Begriff ist das Problem angesprochen, ob die Grundrechte nur den Staat oder auch die Subjekte des Privatrechts verpflichten; bei dem zweiten geht es um die Frage, in welcher ihrer verschiedenen Funktionen die Grundrechte auf das Privatrecht einwirken: als Eingriffsverbote, Auslegungsrichtlinien, Grundsatznormen, institutionelle Garantien oder Schutzgebote. I. Die Grundrechte als Eingriffsverbote gegenüber Privatrechtssubjekten: zur Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ 1. Charakteristika der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ Für die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ ist charakteristisch, daß sie als Adressaten der Grundrechte nicht nur den Staat, sondern auch die Subjekte des Privatrechts ansieht und die Grundrechte dabei in ihrer herkömmlichen Funktion als Eingriffsverbote bzw. Abwehrrechte anwendet. Zivilrechtsdogma-
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tisch wirkt sich das dahin aus, daß die Grundrechte im rechtsgeschäftlichen Bereich zu gesetzlichen Verboten im Sinne von § 134 BGB und im deliktischen Bereich zu absoluten Rechten im Sinne von § 823 I oder zu Schutzgesetzen im Sinne von § 823 II BGB werden. Mit Recht wird daher das Bundesarbeitsgericht als Anhänger der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ angesehen. Denn es hat in ständiger Rechtsprechung sowohl die Diskriminierungsverbote des Art. 3 GG als auch eine Reihe von Freiheitsrechten als gesetzliche Ver- [203] bote im Sinne von § 134 BGB qualifiziert1. Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht hat der Sache nach ihre Grundlage in der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“, da er in diesem Zusammenhang das Gebot der „Achtung“ der Menschenwürde, also deren Abwehrfunktion unmittelbar auf das Verhältnis der Privatrechtssubjekte untereinander angewandt und daraus ohne weiteres den Schluß auf die Einordnung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als „sonstiges Recht“ im Sinne von § 823 I BGB gezogen hat2. Aus dem Schrifttum sind als profilierteste Vertreter dieser Lehre außer ihrem Begründer Nipperdey3 vor allem Leisner4, Ramm5, Gamillscheg6 und, wenngleich auf einem wesentlich anderen dogmatischen Fundament, Schwabe7 zu nennen. Sie ist trotz mannigfacher Kritik auch heute keineswegs tot. So hält das Bundesarbeitsgericht bekanntlich in ständiger Rechtsprechung an ihr fest, und aus dem Schrifttum hat sich z. B. noch jüngst Steindorff zu ihr bekannt8. Daher erscheint eine nähere Auseinandersetzung mit ihr keineswegs überflüssig, auch wenn die Einwände gegen sie alles andere als neu sind.
1 Grundlegend BAG AP Nr. 1 zu Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie = BAGE 4, 274; vgl. ferner z. B. BAG AP Nr. 4, 6, 77, 87 und 110 zu Art. 3 GG; Nr. 25 zu Art. 12 GG; Nr. 26 zu § 1 KSchG; Nr. 2 zu § 134 BGB. 2 Vgl. BGHZ 13, 334, 338; 24, 72, 76 f.; 27, 284, 285; vgl. dazu im übrigen auch unten III 2 a bb nach Fn. 98. 3 Vgl. Enneccerus-Nipperdey, 15. Aufl., 1959, § 15 IV 4; Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961 = Festschr. für Molitor, 1962, S. 17 ff.; derselbe in Bettermann/Nipperdey, Die Grundrechte Bd. IV 2, 1962, S. 747 ff. 4 Vgl. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 356 ff.; vgl. dazu die vorzügliche Rezensionsabhandlung von Bydlinski österr. ZföffR XII (1963), S. 423 ff. 5 Vgl. Ramm, Die Freiheit der Willensbildung – Zur Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte und der Rechtsstruktur der Vereinigung, 1960, S. 38 ff., 56 ff. 6 Vgl. Gamillscheg, AcP 164 (1964), 386 ff., insbesondere S. 419 ff. 7 Vgl. Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971. 8 Vgl. Steindorff, Persönlichkeitsschutz im Zivilrecht, 1983, S. 12.
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Grundrechte und Privatrecht
2. Kritik der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ a) Wortlaut, Systematik und Geschichte des Grundgesetzes Daß die Grundrechte grundsätzlich nur den Staat und nicht auch die Privatrechtssubjekte verpflichten, macht schon der Wortlaut des Grundgesetzes deutlich. So wird in Art. 1 I 2 GG die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde ausdrücklich „aller [204] staatlichen Gewalt“ und nicht etwa „jedermann“ auferlegt. Ähnlich wird in Art. 1 III GG die „Bindung“ an die Grundrechte nur für „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“, nicht aber auch für die Privatrechtssubjekte statuiert. Nichts anderes gilt für Art. 3 I GG, da diese Vorschrift nur von der Gleichheit „vor dem Gesetz“ spricht. In dieselbe Richtung weist die Systematik der Gesetzesvorbehalte. Diese sind nämlich unzweifelhaft an den Staat, weil an den Gesetzgeber gerichtet. Die Einschränkbarkeit der Grundrechte durch Privatrechtssubjekte, insbesondere durch Rechtsgeschäft, ist also im Grundgesetz überhaupt nicht geregelt, obwohl das grundsätzlich erforderlich wäre, wenn dieses Geltung unmittelbar zwischen Privatrechtssubjekten beanspruchen würde. Manche Anhänger der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ haben daher versucht, die Systematik der Gesetzesvorbehalte auf das Privatrecht zu übertragen9. Sie wollen demgemäß die rechtsgeschäftliche Einschränkung von Grundrechten nur zulassen, sofern und soweit ein Gesetzesvorbehalt besteht. Die Ergebnisse sind indessen höchst befremdlich. Soll z. B. ein Vertrag, in dem ein Maler seinem Auftraggeber bestimmte Zusagen über die Gestaltung eines Bildes macht10, in dem sich ein Musiker gegenüber einer Konzertdirektion zum Spielen eines bestimmten Stückes, ein Schauspieler gegenüber einem Theater zur Übernahme einer Rolle verpflichtet, oder in dem ein Schriftsteller einer Fernsehanstalt gewisse Mitspracherechte bei der Ausgestaltung eines Drehbuchs einräumt11, wirklich nur deshalb ausnahmslos nichtig sein, weil Art. 5 III GG keinen Gesetzesvorbehalt hat?! Und wie läßt sich von diesem Standpunkt aus die vertragliche Verpflichtung eines Christen zu Sonntagsarbeit – man denke an Kellner, Zimmermädchen usw. – mit dem vorbe9 Vgl. Leisner aaO (Fn. 4) S. 330, 332, 384 ff.; Ramm aaO (Fn. 5) S. 64 f und Einführung in das Privatrecht/Allg. Teil des BGB, 2. Aufl. 1974, Bd. II § 43 II; ähnlich auch Nipperdey, Die Grundrechte IV 2, S. 755; ablehnend Gamillscheg aaO (Fn. 6) S. 428 ff. 10 Vgl. als Beispiel den illustrativen Fall BGHZ 19, 382, wo es u. a. heißt: „Der Künstler kann seine Gestaltungsfreiheit vertraglich beschränken und sich verpflichten, ein Werk nach einem von ihm gefertigten, vom Besteller genehmigten Entwurf herzustellen“ (3. Leitsatz). 11 Vgl. dazu BGH LM Nr. 32 zu § 138 (Bb) BGB: „Daß es grundsätzlich nicht zu beanstanden ist, wenn ein Autor sich verpflichtet, ein Werk nach Weisung seines Vertragspartners fertigzustellen, ergibt sich aus dem Grundsatz der Vertragsfreiheit, insbesondere aber aus der in § 47 VerlG zum sogen. Bestellvertrag getroffenen Regelung.“
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haltlos gewährleisteten Grundrecht der Religionsausübung gemäß Art. 4 II GG vereinbaren?! Hier wird zu- [205] gleich zum ersten Mal deutlich, daß der – vor allem von Dürig erhobene – Vorwurf, die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ gefährde die Privatautonomie 12, nicht ohne Berechtigung ist. Mit Recht ist schließlich auch auf die besondere Entstehungssituation des Grundgesetzes hingewiesen worden. Diese ist durch die scharfe Absage an die nationalsozialistische Diktatur, nicht aber durch das Bemühen um eine Umgestaltung des Privatrechts gekennzeichnet. Die Anhänger der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ haben sich demgegenüber um den Nachweis bemüht, daß die Grund- und Menschenrechte ihrer historischen Entstehung nach auch und nicht zuletzt auf das Verhältnis von Privatrechtssubjekten untereinander gemünzt waren13. Das führt jedoch im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter. Denn daraus läßt sich nur herleiten, daß die Grundrechte überhaupt Privatrechtswirkung entfalten – was heute unbestritten ist –, nicht aber auch, daß dies gerade in der spezifischen Form der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ geschehen muß. b) Die teleologische Funktion der Grundrechte Sprechen somit grammatische, systematische und historische Interpretation des Grundgesetzes übereinstimmend gegen die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“, so wäre dabei doch nicht stehen zu bleiben, wenn für diese durchschlagende teleologische Gesichtspunkte ins Feld zu führen wären. Das ist indessen nicht der Fall. Schwach ist allerdings das Argument Dürigs und anderer Anhänger der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“, daß sich auf der Privatrechtsebene stets auf beiden Seiten Grundrechtsträger gegenüberstehen14 oder daß es hier um „das Verhältnis von bürgerlicher Freiheit zu bürgerlicher Freiheit“ geht15. Das gilt nämlich nicht nur für das Verhalten der Privatrechtssubjekte als solcher, sondern auch für die gesetzliche Regelung ihrer Beziehungen und könnte daher zu der Konsequenz führen, nicht nur die Subjekte, sondern auch die Normen des Privatrechts von der „unmittelbaren“ Grundrechtsbindung freizustellen – eine Schlußfolgerung, die in der Tat viele Anhänger der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ gezogen haben, die jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, irrig ist.
Grundlegend Dürig, Festschr. für Nawiasky, 1956, S. 158 ff., 167 ff. Vgl. Leisner aaO (Fn. 4) S. 22 ff.; Ramm aaO (Fn. 5) S. 42 ff.; ähnlich Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz, 1982, S. 44 ff. 14 Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Komm. zum Grundgesetz Art. 3 I Rdnr. 513. 15 So Rupp, AöR 101 (1976), 169. 12 13
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Ausschlaggebend ist vielmehr die simple Tatsache, daß zwischen Pri- [206] vatrechtssubjekten grundsätzlich nicht dasselbe Machtgefälle besteht wie zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Nur dem Staat stehen nämlich Zwangsmittel wie Normerlaß, Verwaltungsakt oder Strafverhängung zu Gebote, während sich die Privatrechtssubjekte mit gleichen Rechten gegenüberstehen. Was speziell den Bereich der Privatautonomie betrifft, so kommt hinzu, daß es dabei vorwiegend um die Einschränkung von Grundrechten durch deren Träger selbst geht; staatliche Fremdbestimmung und privatautonome Selbstbestimmung sind aber grundsätzlich nicht vergleichbar. Die Problematik stellt sich auch nicht grundlegend anders dar, wenn man nicht allein auf die rechtliche Seite abhebt, sondern die faktischen Gegebenheiten einbezieht; denn daß die Privatrechtssubjekte gegen einander die gleiche Macht hätten wie der Staat, läßt sich so allgemein auch dann nicht sagen, wenn man die tatsächliche und nicht die rechtliche Macht für ausschlaggebend hält. c) Die Problematik der „sozialen Macht“ Damit ist allerdings ein Aspekt berührt, unter dem der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ wesentliche Verdienste zuzubilligen sind: sie hat dazu beigetragen, das Bewußtsein dafür zu schärfen, daß das Privatrecht auf faktische Ungleichgewichtslagen grundsätzlich mit einer Intensivierung des Schutzes des Schwächeren reagieren muß. Manche ihrer Anhänger wie vor allem Gamillscheg haben daher geradezu versucht, die „unmittelbare“ Bindung von Privatrechtssubjekten an die Grundrechte mit der Notwendigkeit einer Bändigung der sozialen Macht zu begründen und sie zugleich auf derartige Fälle zu beschränken16. Auch in dieser Variante überzeugt die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ indessen nicht. Das gilt schon deshalb, weil die Drittwirkungsproblematik in Wahrheit nicht nur bei Vorliegen von sozialer Macht auftritt17. So hat der Bundesgerichtshof z. B. die Verpflichtung eines geschiedenen Ehepartners zur Wohnsitzverlegung im Hinblick auf die Gewährleistung der Freizügigkeit durch Art. 11 GG für nichtig erklärt18, obwohl zwischen den Parteien offenkundig kein soziales Machtgefälle bestand; auch die viel erörterte Problematik des Verhältnisses von Gewissensfreiheit und Vertragsbindung reicht über die Fälle eines sozialen Machtgefälles weit hinaus.
16 Vgl. Gamillscheg aaO (Fn. 6) S. 407 ff., wo es programmatisch heißt: ,,Der Begriff soziale Macht, soziale Gewalt ist der Schlüssel des Problems der Drittwirkung“; ähnlich auch schon Nipperdey, Die Grundrechte, IV 2, S. 753 f. und 756. 17 So mit Recht auch Schwabe, AöR 100 (1975), 461 f. 18 Vgl. BGH NJW 1972, 1414.
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Auf der anderen Seite kann das Vorliegen sozialer Macht für sich [207] allein keinesfalls genügen, um die Grundrechte unmittelbar anwendbar zu machen. Denn das Machtgefälle allein führt noch nicht zu einer Störung der faktischen Freiheit des Aushandeln von Verträgen. So ist z. B. der „kleine“ Konsument gegenüber dem „großen“ Warenhauskonzern oder der „kleine“ Autor gegenüber dem „großen“ Verlag in der faktischen Wahrnehmung seiner Privatautonomie nicht nennenswert beeinträchtigt, sofern ein einigermaßen funktionierender Wettbewerb besteht19. Der Hinweis auf diesen macht zugleich deutlich, daß das Vorliegen sozialer Macht in Wahrheit kein eigenständiges Problem, sondern nur ein unselbständiger Ausschnitt des viel allgemeineren Fragenkreises der gestörten Vertragsparität ist und daß das Recht zu dessen Bewältigung ein vielfältiges Instrumentarium bereithält: vom Schutz des Wettbewerbs durch das GWB, von Tarifvertrag und Arbeitskampf über die Inhaltskontrolle bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen und die klassischen privatrechtlichen Instrumente wie § 134 und § 138 BGB bis hin zu öffentlichrechtlichen Instituten wie der Bank- und Versicherungsaufsicht20. Gibt es aber demnach keinen selbständigen Problemkreis der Bewältigung sozialer Macht im Privatrecht, so kann dieses Kriterium folgerichtig auch nicht zum Anknüpfungspunkt für die unmittelbare Geltung der Grundrechte gemacht werden – ganz abgesehen davon, daß der Begriff der sozialen Macht sich für die Entscheidung einer so grundlegenden Frage auch wegen seiner außerordentlichen Unbestimmtheit sehr schlecht eignet21. [208]
19 Treffend Flume, Allg. Teil des Bürg. Rechts, 3. Aufl. 1979, § 1, 7 = S. 10: „Beim Verkehr mit Gütern und Leistungen stehen sich im allgemeinen wirtschaftlich ungleich starke Partner gegenüber. Dadurch allein wird aber die Macht der Selbstbestimmung nicht beeinträchtigt, wenn nur kraft der auf dem Prinzip der Privatautonomie beruhenden Wirtschaftsordnung die wirtschaftliche Macht des an sich Stärkeren durch den Markt aufgehoben wird“ (ähnlich z. B. Schmidt-Rimpler, Festschr. für Raiser, 1974, S. 14). Noch weitergehend definiert Franz Böhm „ökonomische Macht“ geradezu als den „Bewegungsspielraum eines Anbieters oder Nachfragers, der keinem Wettbewerb oder nur einem abgeschwächten Wettbewerb ausgesetzt ist“ (vgl. Kartelle und Monopole im modernen Recht, 1961, S. 5). Wenn Böhm freilich darüber hinaus „das Problem der privaten Macht“ und „das Problem der ökonomischen Macht“ kurzerhand als „gleichbedeutend“ bezeichnet (aaO S. 12), so ist das denn doch übertrieben, wie etwa die Beispiele der intellektuellen Überlegenheit eines Vertragspartners oder der familiären Abhängigkeit und dgl. zeigen. 20 Vgl. dazu eingehend Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982. 21 Charakteristisch hierfür ist die Vielfalt vager Kriterien, die Gamillscheg aaO (Fn. 6) S. 411 ff. heranziehen will. So hebt er u. a. ab auf die industrielle Erschließung der betreffenden Gegend, die Art des Berufs, die Vergabe von Werkswohnungen, den Familienstand, den „Grad geistiger Regsamkeit“ des Arbeitnehmers und dgl.
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3. Die praktischen Folgen der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ a) Im deliktischen Bereich Ist somit das theoretische Fundament der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ wenig tragfähig, so haben sich doch ihre praktischen Konsequenzen teilweise durchgesetzt. Das gilt jedenfalls für den deliktischen Bereich. Denn da heute das allgemeine Persönlichkeitsrecht als „sonstiges Recht“ im Sinne von § 823 I BGB anerkannt ist, genießen im Ergebnis alle personalen Freiheitsrechte des Grundrechtskataloges den Schutz eines absoluten Rechts – und genau das ist ja seit jeher die These der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“. Auch ist die mit dieser verbundene einzelfallbezogene Güter- und Interessenabwägung bekanntlich das entscheidende Mittel zur Tatbestands- und Rechtswidrigkeitsbestimmung bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. b) Im rechtsgeschäftlichen Bereich Differenzierter liegt es im rechtsgeschäftlichen Bereich. Hier hat die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ einen wesentlichen Teil ihrer praktischen Brisanz dadurch von vornherein zurückgenommen, daß sie den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG nicht zur Grundlage eines Kontrahierungszwangs gemacht, sondern insoweit der Vertragsfreiheit grundsätzlich den Vorrang eingeräumt hat. Was andererseits die Freiheitsrechte betrifft, so ist es eine reine Selbstverständlichkeit und entspricht alter Privatrechtstradition, daß diese vor übermäßigen rechtsgeschäftlichen Einschränkungen – insbesondere, aber nicht nur bei gestörter Vertragsparität – geschützt werden und daß demgemäß Grundrechte wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit und Berufsfreiheit nicht beliebig zur Disposition der Parteien stehen22. Hier würde man nun freilich zu einer nicht unerheblichen Verschärfung der privatrechtlichen Schranken kommen, wenn man Einschränkungen von Freiheitsrechten nur zuließe, sofern sie einem Gesetzesvorbehalt unterliegen; daß das in der Tat von manchen Anhängern der Lehre von der „unmit- [209] telbaren Drittwirkung“ vertreten wird, jedoch zu unhaltbaren praktischen Konsequenzen führt, wurde bereits ausgeführt.
22 Das war anerkannt, lange bevor die Drittwirkungsproblematik aktuell wurde, und wurde im Schrifttum in z. T. höchst pointierter Weise auch schon unter der Geltung der Verfassung des Kaiserreichs vertreten, obwohl diese keinen Grundrechtskatalog enthielt; vgl. zum Schutz der Freiheitsrechte vor vertraglichen Einschränkungen aus dem damaligen Schrifttum z. B. Hellwig, AcP 86 (1896), 223 ff., 226 f.; Eckstein, ArchBürgR 38 (1913), 197 ff., 198 und 200; von Tuhr, Allg. Teil des Deutschen Bürg. Rechts, 1918, Bd. II 2, S. 32.
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Was bleibt, ist die Frage nach dem Ausmaß zulässiger Einschränkungen von Freiheitsrechten durch Rechtsgeschäft. Nach der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ müßte sich dieses folgerichtig nach dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot, also nach den Prinzipien der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit bestimmen23. In der Tat haben z. B. das Bundesarbeitsgericht und Leisner diese Konsequenz im Rahmen von Art. 12 GG gezogen24. Nach der Gegenansicht von der „mittelbaren Drittwirkung“ sind dagegen die spezifisch privatrechtlichen Übermaßverbote wie vor allem §§ 138, 242 und 315 BGB heranzuziehen25. Hier liegt daher auch unter praktischen Gesichtspunkten ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Theorien. Dabei erweist sich die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ wiederum als sehr bedenklich. Denn da bei allen Rechtsgeschäften Grundrechte im Spiel sind – zumindest das des Art. 2 I oder des Art. 14 GG –, würde § 138 BGB der Sache nach außer Kraft gesetzt und zur Gänze durch die wesentlich schärfere Kontrolle an den Prinzipien der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit ersetzt26. Von dem Grundsatz [210] „stat pro ratione voluntas“27, der die Möglichkeit zu unvernünftigen und unverhältnismäßigen Selbstbindungen einschließt, bliebe dann nichts mehr 23 Terminologisch wird hier Lerche gefolgt, der die Prinzipien der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit unter diesem Oberbegriff zusammenfaßt, vgl. Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 19 ff. Demgegenüber verwendet das Bundesverfassungsgericht i. d. R. die Verhältnismäßigkeit als Oberbegriff und ordnet diesem die Eignung, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit i. e. S. oder auch Zumutbarkeit unter, vgl. näher Grabitz, AöR 98 (1973), 570 f. m. Nachw. Im Schrifttum hat sich der Sprachgebrauch Lerches weitgehend durchgesetzt, vgl. z. B. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 671 ff.; Wendt, AöR 104 (1979), 415 mit weiteren Nachw. in Fn. 2. 24 Vgl. BAG AP Nr. 25 zu Art. 12 GG unter II 3; Leisner aaO (Fn. 4) S. 388 mit Fn. 213 a. 25 Der Begriff Übermaßverbot enthält keine Aussage über den Maßstab, nach dem sich das Vorliegen eines Übermaßes bestimmt. Privatrechtliche Übermaßverbote sind daher im Bereich der Rechtsgeschäftsordnung vor allem die §§ 138, 242, 315 BGB, 9 ff. AGBG, vgl. schon Canaris Anm. zu BAG AP Nr. 7 zu § 611 BGB Treuepflicht unter I 1; anders, jedoch unzweckmäßig, die Terminologie von Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 153 ff., der offenbar nur bei einer verschärften Inhaltskontrolle von einem privatrechtlichen Übermaßverbot sprechen will. 26 Diese gelten insbesondere auch im Rahmen von Art. 2 I GG, vgl. z. B. BVerfGE 17, 306, 314 ff.; 20, 150, 155; 35, 382, 401; 38, 281, 302; 44, 353, 373. Im Schrifttum ist allerdings die Ansicht vertreten worden, daß das Bundesverfassungsgericht bei Eingriffen, die lediglich die wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit betreffen, nicht das Verhältnismäßigkeitsprinzip, sondern nur das Willkürverbot heranziehe, vgl. Grabitz, AöR 98 (1973), 591, 603 sowie Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 89 f., 97; zustimmend Scholz, AöR 100 (1975), 273 f., 280 f. Das ist jedoch mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu vereinbaren (vgl. BVerfGE 38, 281, 302 f.; 44, 353, 373) und wäre im übrigen auch sachlich nicht haltbar, vgl. näher Canaris, WM 1978, 693. 27 Vgl. Flume aaO (Fn. 19) § 1, 5 = S. 6. Der Sache nach gleichbedeutend ist es, wenn – wie meist – von „willkürlicher“ Selbstbestimmung gesprochen wird, vgl. z. B. Heinrich Stoll, Vertragsfreiheit, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 1930, Bd. III S. 175 f.; Fritz von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, 1936, S. 57 ff., 62.
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übrig. Der oft erhobene Vorwurf, daß die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ die Privatautonomie aushöhle28, erweist sich daher in diesem Punkte als berechtigt. II. Die Grundrechte als Eingriffsverbote gegenüber Privatrechtsnormen sowie als Auslegungsrichtlinien und Grundsatznormen: zur Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ Im Gegensatz zur Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ sieht die Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ als Normverpflichteten der Grundrechte nicht die Subjekte des Privatrechts, sondern nur den Staat, insbesondere den Gesetzgeber und den Richter an. Darin ist ihr nach dem Gesagten voll zuzustimmen. Indessen ist auch diese Theorie nicht frei von Schwächen. 1. Grundrechte und Normen des Privatrechts a) Die Position der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ und des Bundesverfassungsgerichts Vor allem sieht sie, was häufig unbemerkt bleibt, das Verhältnis von Grundrechten und Normen des Privatrechts nicht richtig, weil sie nicht scharf genug zwischen dem Verhalten der Privatrechtssubjekte und dem Privatrecht selbst unterscheidet. Demgemäß will sie den Freiheitsrechten nicht nur gegenüber Rechtsgeschäften und anderen Akten von Privatrechtssubjekten, sondern auch gegenüber den Normen des Privatrechts lediglich eine „mittelbare“ Wirkung zuerkennen. So spricht z. B. Dürig ausdrücklich von einer „mittelbaren Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht“ oder von der „mittelbaren Anwendung der Grundrechte im Privatrecht“29 und pointiert dies dahin, daß „das Privatrechtsgesetz konstitutionell ein aliud im Verhältnis zu öffentlich-rechtlichen Gestattungen und Anordnungen ist“ und daß es ein „Unding“ sei, „ein Polizeigesetz und etwa das HGB nur deshalb in denselben [211] Kasten der Begrifflichkeit und der Problemsicht zu zwängen, weil sie beide auf staatlicher Normsetzung beruhen“30. Ähnlich meint Rupp, daß „eine unbesehene Übertragung staatsgerichteter Grundrechte auf die Privatrechtsordnung“ – also wiederum nicht nur auf das Verhalten von Privatrechtssubjekten! – zu einem „untragbaren Abbau von Freiheit führt“31. BesonGrundlegend Dürig, Festschr. für Nawiasky, 1956, S. 158 ff., 167 ff. Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 I Rdnr. 510. 30 Vgl. Dürig aaO Rdnr. 506. 31 Vgl. Rupp, AöR 101 (1976), 169. 28 29
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ders prägnant ist schließlich die Formulierung von Kopp, daß „für die Gesetzgebung (!) im Bereich des Zivilrechts nicht die Grundrechte als solche Bedeutung erlangen, sondern nur die hinter ihnen stehenden und in ihnen erkennbar werdenden allgemeinen Grundentscheidungen32. Auf der gleichen Linie liegt erstaunlicherweise eine Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. So hat es schon im Lüth-Urteil wörtlich gesagt, daß sich „im bürgerlichen Recht (!) der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften entfaltet“ bzw. sich „durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften entfaltet“33. Der Sache nach ging es dabei darum, daß dem Beschwerdeführer Lüth eine Meinungsäußerung durch § 826 BGB bzw. die daraus im Wege richterlicher Konkretisierung gewonnene „Fallnorm“34 verboten worden war. Man sollte also annehmen, daß darin ein Eingriff in das Grundrecht des Art. 5 I GG zu sehen ist. Gleichwohl hat das BVerfG Art. 5 GG nicht in seiner herkömmlichen Funktion als Eingriffsverbot und Abwehrrecht angewendet, sondern lediglich eine „,Ausstrahlungswirkung‘ der Grundrechte auf das bürgerliche Recht“ angenommen35. Einen gewissen Höhepunkt und zugleich auch eine wesentliche praktische Konsequenz hat diese Rechtsprechung im Mephistobeschluß gefunden. Obwohl hier die Veröffentlichung eines Romans nach § 823 I BGB verboten wurde, hat das BVerfG ausdrücklich das Vorliegen eines „Eingriffs der öffentlichen Gewalt“ in die Kunstfreiheit verneint und das betreffende Urteil des BGH bzw. die darin vorgenommene Anwendung von § 823 I BGB nicht am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern nur an dem – weniger strengen – Willkürverbot des Art. 3 I GG gemessen36. [212] b) Die Geltung der Grundrechte als Eingriffsverbote gegenüber den Normen des Privatrechts Dieser Ansicht ist nicht zu folgen37. Denn auch der Privatrechtsgesetzgeber ist Gesetzgeber und daher nach Art. 1 III GG unmittelbar und nicht nur auf eine – überdies ziemlich mysteriöse – mittelbare Weise an die Grundrechte gebunden. Dabei gelten diese in ihrer herkömmlichen Funktion als Eingriffsverbote und Vgl. Kopp, 2. Festschr. für Wilburg, 1975, S. 149. Vgl. BVerfGE 7, 198, Leitsatz 2 und S. 205. 34 Zur „Fallnorm“ grundlegend Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, 1977, S. 202 ff.; kritisch dazu z. B. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 140; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 518 ff. 35 Vgl. aaO S. 207. 36 Vgl. BVerfGE 30, 173, 199 f. 37 Vgl. auch die Kritik von Schwabe, AöR 100 (1975), 442 ff. 32 33
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Abwehrrechte, da auch durch Normen des Privatrechts der Staat in Freiheitsrechte eingreifen kann, wie die erwähnten Beispiele des Verbots einer Meinungsäußerung durch § 826 BGB oder einer Buchpublikation durch § 823 I BGB drastisch veranschaulichen. Daß die Grundrechte auch sogenannte „Grundsatznormen“ enthalten, wie das BVerfG in diesem Zusammenhang immer wieder betont, mag richtig sein, steht aber nicht entgegen, weil sie dadurch lediglich eine zusätzliche Dimension gewinnen, nicht aber ihren Charakter als Eingriffsverbote für das Privatrecht verlieren. Auch daß sich ,,zwei Privatrechtssubjekte gegenüberstehen, die sich beide auf ihre Grundrechte berufen“ rechtfertigt entgegen der Ansicht Dürigs nicht die These von einer „qualitativ anderen Bedeutung der Grundrechte in ... Rechtsbeziehungen unter Privaten“38. Ein Konflikt zwischen Privaten kann nämlich nicht nur mit Hilfe des Privatrechts, sondern auch mit Hilfe des Strafrechts, des Baurechts usw. gelöst werden, und daher ist die Kollision von Grundrechten kein Spezifikum der Privatrechtsnormen, sondern eine allgemeinere Erscheinung39, so daß hieraus eine verfassungsrechtliche Sonderstellung der Privatrechtsnormen nicht hergeleitet werden kann. Das BVerfG hat denn auch in anderen Entscheidungen wie z. B. im Feldmühlefall, im Spanierfall und im Mitbestimmungsurteil Normen des Privatrechts ohne weiteres unmittelbar an den als Eingriffsverboten verstandenen Grundrechten gemessen40. Warum es bei Normen des Deliktsrechts bzw. bei deren richterlicher Konkretisierung durch die Zivilgerichte anders verfährt, ist nicht einzusehen. Eine ganz andere Frage ist selbstverständlich, ob die Rechtsanwendung der ordentlichen Gerichte in vollem Umfang durch das BVerfG nachgeprüft werden kann; das hat [213] mit der Wirkungsweise der Grundrechte im Privatrecht nichts zu tun, sondern ist die Problematik einer „Superrevision“ durch das BVerfG, die bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen aller Gerichte – nicht nur der für das Privatrecht zuständigen – in prinzipiell gleicher Weise auftritt. Grundrechtseingriffe durch eine Privatrechtsnorm können nicht nur im Deliktsrecht, sondern grundsätzlich in allen Bereichen des Privatrechts, insbesondere auch im Vertragsrecht, vorkommen. Wird beispielsweise einem Arbeitnehmer wegen einer Meinungsäußerung gekündigt, so haben die Gerichte bei der Überprüfung der Kündigung auf ihre Sozialwidrigkeit nach § 1 KSchG bzw. auf das Vorliegen eines wichtigen Grundes nach § 626 BGB das Eingriffsverbot des Art. 5 I GG unmittelbar zu beachten. Der einschlägigen Judikatur des BundesarVgl. Dürig aaO Art. 3 I Rdnr. 513. Vgl. zur Kollisionsproblematik z. B. Lerche aaO (Fn. 23) S. 125 ff.; Rüfner, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Bd. II S. 453, 461 ff.; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 2 ff., 133 ff., 256 ff. und passim; Starck, JuS 1981, 245 f. 40 Vgl. BVerfGE 14, 263 bzw. 31, 58 bzw. 50, 290. 38 39
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beitsgerichts41 ist daher im Ergebnis durchaus zuzustimmen, auch wenn seiner Konstruktion nicht gefolgt werden kann: entgegen der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ ist nicht das Rechtsgeschäft Kündigung an Art. 5 I GG zu messen, sondern der im Wege der Auslegung aus § 1 KSchG oder § 626 BGB zu gewinnende Rechtssatz über das Vorliegen eines Kündigungsgrundes. Dabei ergibt die Güter- und Interessenabwägung dann, daß nur bei einer konkreten Gefährdung des Betriebsfriedens ein Kündigungsgrund gegeben sein kann, wohingegen die Zulassung der Kündigung ohne diese Voraussetzung gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstieße und daher Art. 5 I GG unmittelbar verletzen würde. Nur wenn dem Arbeitgeber ausnahmsweise das Recht zu einer keines Grundes bedürftigen ordentlichen Kündigung zusteht – also außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG –, stellt sich die Frage, ob und wie die Kündigung selbst an den Grundrechten zu messen ist. c) Besonderheiten der Schrankenproblematik bei vertragsergänzenden dispositiven Normen Im Rahmen eines Vortrags kann die Problematik der Einwirkung des Grundgesetzes auf die Normen des Privatrechts nicht in voller Breite behandelt werden42. Etwas vertieft sei sie jedoch für eine Art von Normen, die mit der Privatautonomie besonders eng zusammenhängt und für die daher möglicherweise gewisse Besonderheiten gelten: das vertragsergänzende dispositive Recht. [214] In der Tat dürfte hier eine Besonderheit jedenfalls insofern bestehen, als Grundrechtseinschränkungen durch dispositives Recht nicht unbedingt das Bestehen eines entsprechenden Gesetzesvorbehalts voraussetzen. Würde der Gesetzgeber z. B. das Recht des Vermieters zur Besichtigung der Mietwohnung durch eine ergänzende Vertragsnorm regeln, so wäre er dazu zweifellos befugt, obwohl der Gesetzesvorbehalt des Art. 13 III GG seinem Wortlaut nach eine solche Vorschrift nicht deckt. Denn man sollte Grundrechtseinschränkungen durch dispositives Recht unabhängig vom Vorhandensein eines Gesetzesvorbehalts immer dann zulassen, wenn sie durch Vertrag möglich wären. Durch das dispositive Recht wird nämlich weitgehend lediglich typisiert, was redliche und vernünftige Parteien normalerweise verabreden würden. Daß aber für Grundrechtseinschränkungen durch die Parteien selbst die Gesetzesvorbehalte weder 41 Vgl. z. B. BAG AP Nr. 1 zu Art. 5 GG Meinungsfreiheit; Nr. 57 und 58 zu § 626 BGB; Nr. 4 zu § 13 KSchG. 42 Insoweit dürften Spezialuntersuchungen zu den verschiedenen Normenkomplexen erforderlich sein; eine solche bietet für die Frage der Eigentumsaufopferung L. Schulze-Osterloh, Das Prinzip der Eigentumsopferentschädigung im Zivilrecht und im öffentlichen Recht, 1980, insbesondere S. 295 ff.
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unmittelbar einschlägig sind noch im Wege der Analogie herangezogen werden können, habe ich bereits ausgeführt. Auf der anderen Seite ist aber auch zu beachten, daß die Schaffung dispositiven Rechts heteronome Normsetzung durch den Staat und nicht autonome Regelung durch die Privatrechtssubjekte ist43. Folglich gilt grundsätzlich das verfassungsrechtliche Übermaßverbot, also das Erforderlichkeits- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip44. Mit Recht hat [215] daher das BAG z. B. das gesetzliche Wettbewerbsverbot des § 60 HGB unmittelbar an Art. 12 GG gemessen und im Wege verfassungskonformer Auslegung entgegen seinem zu weiten Wortlaut auf Wettbewerbstätigkeiten im Handelszweige des Arbeitgebers beschränkt45. Bemerkenswerterweise bezieht sich das BAG dabei allerdings nicht auf die vom BVerfG zu Art. 12 GG entwickelte „Stufentheorie“. Das ist um so auffallender, als es in § 60 HGB nicht lediglich eine Regelung der Berufsausübung, sondern – wohl mit Recht – eine solche der Berufswahl sieht. § 60 HGB könnte also bei unmodifizierter Anwendung der „Stufentheorie“ nur Bestand haben, wenn sich dartun ließe, daß das handelsrechtliche Wettbewerbsverbot „zum Schutz besonders wichtiger (überragender) Gemeinschaftsgüter zwingend erforderlich ist“46. Daß das BAG hierauf nicht abstellt, ist indessen im Ergebnis durch43 Nicht zu folgen ist der Ansicht von Beuthien, daß dispositive Normen „kraft privatautonomer Gestaltung gelten“ (ZHR 142, 264 Fn. 10) und daß daher z. B. das Wettbewerbsverbot des § 112 HGB „jeweils Gesellschaftsvertragsinhalt wird“ (aaO S. 264) oder daß „sämtliche Wirkungen des Gesellschaftsvertrags einschließlich Treuepflicht der Gesellschafter als vertraglich vereinbarte Rechtsfolgen zu begreifen sind“ (aaO S. 274 f.). Zwar mag dispositives Recht im Hinblick auf § 1 GWB, auf den die Ausführungen Beuthiens bezogen sind, einer vertraglichen Vereinbarung gleichzustellen sein, doch gehen die Formulierungen Beuthiens in ihrer Allgemeinheit viel zu weit. Würde man mit ihnen Ernst machen, so müßte z. B. ein Irrtum über den Inhalt des dispositiven Rechts zur Anfechtung nach § 119 I BGB berechtigen, was indessen unzweifelhaft nicht der Fall ist. Dispositive Normen sind demgemäß nicht autonom, sondern heteronom gesetzt, wenn auch in Anknüpfung an eine autonome Regelung und in Typisierung des üblicher- und/oder vernünftigerweise gewollten Vertragsinhalts. – Erst recht ist demgemäß die Behauptung des BGH unhaltbar, die Wettbewerbsbeschränkungen der §§ 112 f. HGB könnten „jeweils nur dann wirksam (!) werden, wenn sie mit den gemeinsamen Vorstellungen der Gesellschafter übereinstimmen, also von dem gemeinsamen Willen der Gesellschafter getragen werden“ und daher handele es sich dabei „immer um ein vertragliches, nämlich auf dem gemeinsamen Willen der Gesellschafter beruhendes Wettbewerbsverbot ...“ (vgl. BGHZ 38, 306, 316). Demgegenüber steht außer Zweifel, daß das Wettbewerbsverbot der §§ 112 f. HGB auch dann „wirksam wird“, wenn die Parteien daran überhaupt nicht gedacht haben. Auch die Ausführungen des BGH sind freilich auf § 1 GWB ausgerichtet und mögen insoweit, zumal angesichts der Relativität der Rechtsbegriffe, einen richtigen Kern haben. 44 Der abweichenden Ansicht, die das BVerfG im Mephistobeschluß sogar für den Bereich des Deliktsrechts geäußert hat (vgl. BVerfGE 30, 173, 199), ist nicht zu folgen, da es sich dabei lediglich um eine Konsequenz aus der hier abgelehnten Lehre handelt, daß Privatrechtsnormen nicht unmittelbar an den Freiheitsrechten zu messen seien. 45 Grundlegend BAGE 22, 344 = AP Nr. 4 zu § 60 HGB; seither st. Rspr., vgl. etwa BAG AP Nr. 68 zu § 626 BGB m. umf. Nachw. 46 So die Formulierung von BVerfGE 7, 377, 405.
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aus sachgerecht. Wiederum ist nämlich zu bedenken, daß § 60 HGB dem dispositiven Vertragsrecht angehört und lediglich den redlichen Parteiwillen sowie die aus § 242 BGB folgenden Loyalitätspflichten typisierend konkretisiert. Demgemäß muß statt des Schutzes eines überragenden Gemeinschaftsguts auch der Schutz eines privaten Individualinteresses die Grundrechtseinschränkung legitimieren können. Man wird sogar noch einen Schritt weiter gehen und die These wagen können, daß bei privatrechtlichen Einschränkungen von Grundrechten ganz allgemein das schutzwürdige Privatinteresse an die Stelle des Gemeinschaftsinteresses treten kann. Denn allein das entspricht der spezifischen Aufgabe der Privatrechtsnormen. Auch ist es mehr als zweifelhaft, ob eine grundsätzliche Höherordnung des Gemeinschaftsinteresses gegenüber dem Privatinteresse überhaupt mit der Wertordnung des Grundgesetzes vereinbar wäre47. Im übrigen ist ohnehin anerkannt, daß das verfassungsrechtliche Übermaßverbot – als dessen Unterfall die „Stufentheorie“ anzusehen ist – nicht starr gehandhabt werden darf, sondern den Besonderheiten der jeweiligen Regelungsmaterie angepaßt werden muß48. [216] d) Die „ergänzende Auslegung“ als Grenzfall Vom dispositiven Recht ist es nur ein Schritt zur ergänzenden Auslegung. Sind also auch deren Ergebnisse unmittelbar an den Grundrechten zu messen? Das hat der BGH in der Tat getan – und zwar in der berühmten Entscheidung, in der er bei einem Praxistausch zwischen zwei Ärzten ein ungeschriebenes Rückkehrverbot angenommen hat49. Dieses hat er auf seine Vereinbarkeit mit Art. 12 GG geprüft, sich dabei jedoch die herbe Kritik zugezogen, schon die Stellung der Frage sei „abwegig“ gewesen50. M. E. ist dem BGH grundsätzlich zu folgen. Die ergänzende Auslegung steht nämlich in einem Fall wie dem vorliegenden funktionell auf einer Stufe mit dem dispositiven Recht. Denn durch sie wird hier nicht der Vertrag aus seinen individuellen Besonderheiten heraus ergänzt, sondern lediglich bestimmt, was bei einer vollständigen gesetzlichen Regelung im dispositiven Recht stünde, was also nicht nur für diesen, sondern für einen solchen Vertrag rechtens ist. Es handelt sich daher um eine heteronome und nicht um eine 47 Vgl. dazu statt aller Rüfner, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Bd. II S. 463 m. w. N. in Fn. 51. 48 Vgl. dazu etwa die subtilen Differenzierungen bei Lerche aaO (Fn. 23) S. 106 ff., 134 ff. Das BVerfG hat sich diese zwar nicht zueigen gemacht, handhabt jedoch das Verhältnismäßigkeitsprinzip ebenfalls in flexibler und differenzierender Weise, vgl. dazu Grabitz, AöR (1973), 590 ff., 600 und Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 89 ff.; kritisch Wendt, AöR 104 (1979), 450 ff. 49 Vgl. BGHZ 16, 71, 80. 50 Vgl. Geiger, Die Grundrechte in der Privatrechtsordnung, 1960, S. 27.
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autonome Regelung. Das wird auch daraus deutlich, daß das Ergebnis der ergänzenden Auslegung nicht im Wege der Anfechtung wegen Inhaltsirrtums nach § 119 BGB korrigiert werden kann51 und demnach auch in dieser Hinsicht einer Norm des dispositiven Rechts gleichsteht. Folgerichtig ist die Gleichstellung mit diesem auch für die Frage der Grundrechtsbindung vorzunehmen. Insbesondere ist das verfassungsrechtliche Übermaßverbot anzuwenden. Die Grundrechtseinschränkung im Wege der ergänzenden Auslegung darf daher nicht weiter gehen, als es zum Schutze des anderen Teils erforderlich ist, und darf den betroffenen Teil nicht unverhältnismäßig belasten – ein Ergebnis, das wohl ohnehin schon aus den Geboten von Treu und Glauben gemäß § 157 BGB folgt. Abzulehnen ist eine unmittelbare Grundrechtsbindung allerdings, wenn die ergänzende Auslegung aus den spezifischen Besonderheiten des betreffenden Vertrages heraus erfolgt und also im wesentlichen autonome Züge trägt52. [217] e) Die Unzulässigkeit einer generellen Gleichstellung von privatautonomer Regelung und Privatrechtsnorm Geht man so weit, die ergänzende Auslegung von Rechtsgeschäften (teilweise) in die unmittelbare Grundrechtsbindung einzubeziehen, so scheint es auf den ersten Blick nahezuliegen, noch einen letzten Schritt zu tun und insoweit die rechtsgeschäftliche Regelung überhaupt der Privatrechtsnorm gleichzustellen. Diesen Weg ist in der Tat Schwabe gegangen53 und hat damit eine eigene Spielart der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ begründet, auf die an dieser Stelle daher noch einmal zurückzukommen ist. aa) Einen ersten Begründungsansatz sieht Schwabe darin, daß er Ansprüche aus Vertrag als „vertraglich bedingte“ Gesetzesbefehle deutet. Damit wird eine Theorie wieder aufgegriffen, die schon im 19. Jahrhundert vertreten wurde54, sich 51 Vgl. z. B. Flume aaO (Fn. 19) § 16, 4 c; Larenz, Allg. Teil des deutschen Bürg. Rechts, 6. Aufl. 1983, § 29 I a. E. = S. 537 f.; Soergel/Siebert/Knopp, 11. Aufl. 1978, § 157 Rdnr. 102 m. w. N. 52 Es gibt also zwei Typen ergänzender Auslegung: diese kann entweder für „einen solchen“ oder gerade für „diesen“ Vertrag erfolgen, je nachdem, ob sie wie im Falle des Praxistauschs an der typischen Interessenlage orientiert ist oder sich auf die individuellen Besonderheiten des betreffenden Vertrages stützt, vgl. dazu auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 53 f. Die gegensätzlichen Ansichten von Flume, der die ergänzende Auslegung für „einen solchen“ Vertrag vornehmen will (vgl. aaO § 16, 4 b) und Larenz, der auf „gerade diesen“ Vertrag abstellt (vgl. aaO S. 531), enthalten demnach jeweils (nur) eine Teilwahrheit. 53 Vgl. Schwabe aaO (Fn. 7) S. 69 ff. 54 Ihr wichtigster Repräsentant ist Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, S. 350 ff. Ebenso wie Schwabe ist Thon ein dezidierter Anhänger der Imperativentheorie. Um diese streng durchführen zu können, leugnet er die eigenständige Bedeutung gewährender Rechtssätze und
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jedoch ebenso wie die eng verwandte „Tatbestandstheorie“, nach der das Rechtsgeschäft nicht mehr ist als ein tatbestandliches Merkmal des Gesetzes55, mit Recht nicht durchgesetzt hat. In der Tat wird durch eine solche Sichtweise das Essentiale des Rechtsgeschäfts verfehlt, das darin liegt, daß die schöpferische Gestaltung von Rechtsfolgen durch die Privatrechtssubjekte selbst erfolgt. Demgemäß befriedigt die Bedingungstheorie auch „normlogisch“ nicht56, ja sie stellt das Verhältnis von Gesetz und Rechtsgeschäft geradezu auf [218] den Kopf; denn die Geltungsanordnung, also der Satz „ita ius esto“, wird von den Parteien des Rechtsgeschäfts ausgesprochen57, nicht aber vom Gesetzgeber, der den Privatrechtssubjekten lediglich eine Kompetenznorm zur Verfügung stellt. Zusätzlich zieht Schwabe die Kategorie der „Ermächtigung“ heran und folgert, daß die rechtsgeschäftliche Regelung unmittelbar an den Grundrechten gemessen werden müsse, weil sie „letztlich von der staatlichen Rechtsmacht herrührt“58. Auch das überzeugt indessen nicht. Das gilt wohl schon deshalb, weil die Figur der Ermächtigung, die auch von anderen Autoren zur Erklärung der Privatautonomie herangezogen wird59, in Wahrheit nicht paßt. Mit der Zulassung der Privatautonomie überträgt der Gesetzgeber nämlich nicht eine „eigentlich“ ihm selbst obliegende Aufgabe auf die Privatrechtssubjekte, sondern übernimmt lediglich eine allem positiven Recht vorausliegende Gestaltungsmöglichkeit und stattet spricht demgemäß dem Rechtsgeschäft „lediglich die Funktion zu, eine Vorbedingung für den Eintritt oder die Aufhebung einzelner Imperative zu sein“ (aaO S. 350; ähnlich S. 357, 358, 363 ff.). 55 Mit diesem Terminus soll die Ansicht gekennzeichnet werden, nach der das Rechtsgeschäft nicht mehr ist als ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes, an den der Eintritt der Rechtsfolge geknüpft ist. Repräsentanten dieser Lehre sind z. B. Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, 1879, S. 280 und Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Aufl. 1906, Bd. I § 68, insbesondere Fn. 1 = S. 308 f. Mit großer Klarheit wird die Problematik herausgearbeitet von Enneccerus, Rechtsgeschäft, Bedingung und Anfangstermin, 1889, S. 152 ff., nach dessen Ansicht es um die Alternative geht, ob „wir sagen: ,Das Gesetz schafft die Wirkung, wenn der Wille da ist‘ oder umgekehrt: ,Der Wille schafft die Rechtswirkung, wenn ihn das Gesetz dazu ermächtigt‘“ (aaO S. 154). Enneccerus selbst schließt sich dabei im Gegensatz zu Zitelmann und Windscheid (mit denen er sich freilich nicht auseinandersetzt) der zweiten Alternative an, vgl. aaO S. 154 ff. 56 Erstaunlicherweise scheint ihr gleichwohl Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 261 f. anzuhängen, doch läßt sich das angesichts der Dunkelheit dieser – an „klassisches“ Kanzleideutsch erinnernden – Passage nicht mit Sicherheit sagen. Dagegen vertritt z. B. Adomeit in seiner der „reinen Rechtslehre in mancher Hinsicht nahestehenden Schrift Gestaltungsrechte, Rechtsgeschäfte, Ansprüche, 1969, S. 17 ff. (19 f.) unmißverständlich die Theorie der Kompetenzzuweisung. 57 Vgl. z. B. Larenz aaO (Fn. 51) § 2 II e; Flume aaO (Fn. 19) § 4, 7 (zumindest mißverständlich freilich § 1, 3 a). 58 Vgl. aaO S. 70 ff.; ähnlich schon Leisner aaO (Fn. 4) S. 328 ff. 59 Vgl. z. B. Enneccerus aaO (Fn. 55) S. 154; Enneccerus-Nipperdey, Allg. Teil des Bürg. Rechts, 15. Aufl. 1959, § 49 I mit Fn. 2; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl. 1956, S. 413 f.; Manigk, Die Privatautonomie im Aufbau der Rechtsqullen, 1935, S. 127 f.
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sie mit Rechtszwang aus60. Nicht mit der Kategorie der Ermächtigung oder der Delegation61, sondern mit der der Anerkennung62 [219] ist daher die Kompetenz der Privatrechtssubjekte zur Setzung rechtsgeschäftlicher Regelungen zu erklären. Selbst wenn man aber der Ermächtigungstheorie folgen würde, ergäbe sich daraus nicht ohne weiteres die unmittelbare Geltung der Grundrechte für das Rechtsgeschäft. Denn auch dadurch kann der grundlegende Unterschied zwischen diesem und dem Gesetz nicht überwunden werden: autonome Selbsteinschränkung von Grundrechten durch Rechtsgeschäft und heteronomer Eingriff durch den Staat sind zu weit von einander entfernt, als daß die Gleichstellung sachlich überzeugen könnte. Insbesondere ist auch in diesem Zusammenhang an die oben63 herausgearbeitete Erkenntnis zu erinnern, daß eine unmittelbare Grundrechtsgeltung folgerichtig zur generellen Anwendung der Prinzipien der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit auf das Rechtsgeschäft führen und dadurch eine Aushöhlung der Privatautonomie durch eine umfassende Inhaltskontrolle bewirken würde. Es bleibt somit allenfalls noch das Argument, im Zwangsvollstreckungsverfahren greife der Staat selbst ein64. Auch das überzeugt jedoch nicht65. Denn die Voll60 Vgl zu diesem äußerst schwierigen und immer noch weitgehend ungeklärten Problem, das an Grundfragen der Rechts- und Staatsentstehung rührt, Pernice, Rechtsgeschäft und Rechtsordnung, GrünhutsZ 7 (1880) 465 ff., insbesondere S. 474 ff. und S. 486 ff.; W. Burckhardt, Methode und System des Rechts, 1936, S. 190 ff.; F. von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, 1936, S. 57 ff., 74 ff. und 91 ff.; L. Raiser, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, DJT-Festschr., 1960, S. 105 und 114 ff.; Gysin, Rechtsphilosophie und Grundlagen des Privatrechts, 1969, S. 300 f.; Flume aaO § 1, 2. 61 Ausdrückliche Bekenntnisse zur Delegationstheorie finden sich selten; eine Ausnahme bildet Oftinger, der pointiert, jedoch ohne Begründung sagt: „Die in der Privatautonomie liegende Machtbefugnis ist den Privaten kraft Delegation verliehen“ (vgl. Die Vertragsfreiheit, in: Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht, 1948, S. 322; Hervorhebung im Original). Keinesfalls können die Anhänger der Ermächtigungstheorie (vgl. die Nachw. oben Fn. 59) ohne weiteres zugleich der Delegationstheorie zugerechnet werden; so wird diese z. B. von Manigk aaO S. 119 f. ausdrücklich abgelehnt, während andere Autoren die Ausdrücke Delegation und Ermächtigung synonym verwenden, vgl. z. B. H. P. Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften, 1970, S. 26 f. 62 Dieser Ausdruck ist verbreitet, ohne daß freilich die „Anerkennungstheorie“ bisher eine wesentliche dogmatische Vertiefung erfahren hat. Ansätze zu einer solchen finden sich allenfalls bei Pernice aaO S. 488 f. und bei Gysin aaO S. 301. Im übrigen wird die Kategorie der „Anerkennung“ meist eher beiläufig verwandt; vgl. z. B. Stoll, Vertragsfreiheit, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 1930, Bd. III, S. 175 f.; von Hippel aaO S. 57 (vgl. demgegenüber aber auch S. 103 f.); Raiser aaO S. 105 und S. 115; Merz, Privatautonomie heute, 1970, S. 3; Flume aaO § 1, 2 a. E.; Larenz aaO § 2 II e a. E.; Lehmann-Hübner, Allg. Teil des Bürg. Rechts, 16. Aufl. 1966, § 24 II vor 1. Im Hinblick auf die Tarifautonomie spricht auch das BVerfG von „Anerkennung“, vgl. BVerfGE 44, 322, 349. 63 Vgl. I 3 b bei Fn. 23. 64 Vgl. Schwabe, AöR 100 (1975), 446 Fn. 12 und NJW 1973, 230. 65 Vgl. auch Bethge aaO (Fn. 39), S. 400 f. mit Fn. 531.
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streckung eines auf verfassungsgemäßen Normen beruhenden Zivilurteils stellt als solche keine eigenständige Grundrechtseinschränkung dar – ähnlich wie z. B. der Vollzug einer Gefängnisstrafe als solcher nicht eine selbständige verfassungsrechtliche Beschwer gegenüber dem sie androhenden Gesetz und/oder dem sie verhängenden Urteil enthält. Grundrechtsverstöße kommen im Rahmen der Zwangsvollstrekkung vielmehr grundsätzlich nur insoweit in Betracht, als durch die Art und Weise der Verfahrensgestaltung oder -durchführung ein gegenüber dem zu vollstreckenden Urteil eigenständiger Eingriff (bzw. eine diesem gleichzustellende konkrete Grundrechtsgefährdung) stattfindet66. [220] bb) Sofern allerdings der Gesetzgeber den originären Bereich der Privatautonomie überschreitet und das Rechtsgeschäft als ein Mittel der Fremdbestimmung einsetzt, sollte man in der Tat eine unmittelbare Grundrechtsgeltung bejahen und auch die Prinzipien der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit anwenden. Ein Beispiel hierfür ist m. E. die im Umwandlungsgesetz vorgesehene Möglichkeit, daß die (qualifizierte) Mehrheit einer Kapitalgesellschaft die Übertragung von deren Vermögen auf den Mehrheitsgesellschafter beschließen und die Minderheit grundsätzlich67 auf eine Barabfindung verweisen kann. Hier werden die Rechte der Minderheit von Gesetzes wegen der Mehrheitsherrschaft unterworfen, ohne daß dafür eine Legitimation im Gedanken der Privatautonomie – die eben Selbst- und nicht Fremdbestimmung ist! – gefunden werden kann. Daher ist Art. 14 GG unmittelbar anzuwenden – und zwar sowohl auf die einschlägigen Vorschriften des Umwandlungsgesetzes als auch auf den Umwandlungsbeschluß. Hierbei ist das BVerfG im Feldmühle-Fall m. E. nicht konsequent verfahren68. Vor allem ist es eine reine petitio principii, daß eine Ent66 Mit Recht sieht das BVerfG daher die Problematik des Verhältnisses von Grundrechten und Zwangsvollstreckung in erster Linie unter dem Gesichtspunkt einer rechtsstaatlichen, „fairen“ Verfahrensführung, vgl. BVerfGE 46, 325, 334 f.; 49, 220, 225; 51, 150, 156; der Sache nach ähnlich auch schon BVerfGE 42, 64, 76 ff. Dagegen wird die Problematik im Sondervotum des Richters Böhmer in entscheidenden Punkten verfehlt, vgl. BVerfGE 49, 228 ff. Unzutreffend ist es vor allem, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nur auf die Relation zwischen dem durch die Vollstreckung drohenden Vermögensverlust für den Schuldner und der Höhe der durchzusetzenden Forderung abzustellen; denn dabei wird zu Unrecht nicht berücksichtigt, daß die Zwangsvollstreckung nicht nur dem individuellen Vermögensinteresse des Gläubigers, sondern auch institutionellen Zwecken wie der Wahrung des Rechtsfriedens und der Bewährung der Rechtsordnung dient. Außerdem unterschätzt Böhmer die Bedeutung der Verfahrensbeteiligung des Schuldners und der darin liegenden Möglichkeiten des Selbstschutzes (die im vorliegenden Fall vor allem in einer freiwilligen Bezahlung der Bagatellforderung lag). – Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ist dagegen vorzunehmen, soweit durch die Vollstreckung des Urteils eine über dessen Inhalt hinausgehende Grundrechtsverletzung oder -gefährdung wie z. B. eine schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigung für den Schuldner droht, vgl. dazu BVerfGE 52, 214, 220. 67 Siehe aber auch die Ausnahme in § 15 I 2 UmwG. 68 Vgl. BVerfGE 14, 253; vgl. dazu z. B. Fechner/Schneider, Verfassungswidrigkeit und Rechtsmißbrauch im Aktienrecht, 1960; dieselben, Nochmals: Verfassungswidrigkeit und Rechts-
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eignung nicht gegeben sei, weil diese nur vom Staat ausgehen könne 69. Zu fragen wäre vielmehr umgekehrt gewesen, ob die Entziehung der Mitgliedschaftsrechte der Minderheit materiell eine Enteignung darstellt, was m. E. wegen des vollständigen Rechtsverlusts zu bejahen ist, und ob die Befugnis zur Vornahme einer solchen Enteignung auf ein Privatrechtssubjekt übertragen werden kann, was ich für zumindest höchst zweifelhaft halte. Zu prüfen wäre dann weiterhin gewesen, wie es mit dem Erfordernis von Art. 14 III GG steht, daß eine Enteignung nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist69a. Wenn diese Klippe umschifft werden [221] könnte, wäre schließlich der Umwandlungsbeschluß an den – auch im Rahmen von Art. 14 GG geltenden70 – Prinzipien der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit zu messen gewesen. Es hätte also geprüft werden müssen, ob ein Wechsel der Rechtsform für die umzuwandelnde Gesellschaft erforderlich war und ob deren Interesse daran in einem angemessenen Verhältnis zum Interesse der auszuschließenden Minderheit stand – eine Frage, die im Feldmühle-Fall, wo die Mehrheit lediglich ihr eigenes, als solches illegitimes Interesse an der Ausbootung der Minderheit geltend machen konnte, mit Sicherheit zu verneinen gewesen wäre. Anders liegt es bezüglich der Kündigung. Zwar stellt sich auch diese für den Gekündigten als Akt der Fremdbestimmung dar, doch ist die Kündigungsmöglichkeit den Dauerschuldverhältnissen ihrer Natur nach von vornherein immanent, da kein vernünftiger Mensch erwarten kann, daß z. B. eine Mietsache nie zurückgegeben, ein Darlehen nie zurückgezahlt werden muß. Daher läßt derjenige, der einen solchen Vertrag abschließt, sich damit auf die Gefahr der Kündigung ein, so daß noch eine – wenn auch abgeschwächte – privatautonome Legi-
mißbrauch im Aktienrecht, 1962; Fechner, Die AG 1962, 229 ff.; Schwabe aaO (Fn. 7) S. 118 ff.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, § 12 III 2 und § 8 III 2 a. 69 Vgl. die Argumentation des BVerfG aaO S. 277: „Eine Enteignung muß stets vom Staat oder doch von dem mit staatlichen Zwangsrechten beliehenen Unternehmer ausgehen“. Dem folgt die h. L., vgl. z. B. L. Schulze-Osterloh aaO (Fn. 42) S. 43 f. m. Nachw.; Schwabe, JZ 1983, 275: „Es ist bislang ganz herrschende Meinung, daß Zivilrecht nie unter Art. 14 III GG fallen kann“. 69a In der Ausschaltung dieses Erfordernisses liegt eingestandenermaßen das Ziel der Ansicht, wonach Zivilrecht nicht unter Art. 14 III GG fällt, vgl. Schwabe aaO, wonach „man in der Tat zivilrechtliche ‚Enteignungen‘ nicht von einer Beförderung des ‚Allgemeinwohls‘ abhängig machen kann“. Warum man das nicht kann, bedürfte indessen der Begründung. Insbesondere sollte man sich vor dem Mißverständnis hüten, daß Privatrecht grundsätzlich nur Individualinteressen und nicht auch Gemeinwohlinteressen diene; so dient z. B. die Zulassung des – ebenfalls enteignungsverdächtigen – gutgläubigen Erwerbs keineswegs nur dem Individualinteresse des jeweiligen Erwerbers, sondern auch dem Gemeinwohlinteresse an einem flüssigen Geschäftsverkehr und Güterumsatz. 70 Vgl. statt aller Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 14 Rdnr. 109 und 110 a mit Nachw. aus der Rspr. des BVerfG.
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timation vorliegt71. Eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Kündigung besteht daher nicht. Immerhin ist es aber kein Zufall, sondern hängt mit der Einseitigkeit der Kündigung zusammen, daß diese im Arbeits- und Mietrecht weitgehend an den Prinzipien der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit geprüft wird und auch dort, wo sie an sich frei ist, noch einer gewissen Verhältnismäßigkeitskontrolle am Maßstab von § 242 BGB und nicht nur den weiten Schranken von § 138 BGB unterliegt72. 2. Grundrechte und Verhalten von Privatrechtssubjekten Keine unmittelbare Grundrechtsgeltung für die Kündigung, sondern Kontrolle am Maßstab von § 242 BGB, also einer Generalklausel – [222] damit bin ich wieder bei der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“. Was ist das Fazit der bisherigen Ausführungen zu dieser Theorie? Sie ist abzulehnen, soweit sie die „Mittelbarkeit“ der Grundrechtsgeltung für das Privatrecht schlechthin, also auch für dessen Normen behauptet; diese unterliegen vielmehr der unmittelbaren Bindung an die Grundrechte – und zwar einschließlich des dispositiven Rechts. Im Ansatzpunkt richtig ist die Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ dagegen, soweit es um das Verhalten der Privatrechtssubjekte, insbesondere um die Vornahme von Rechtsgeschäften geht; denn diese sind, wie ausführlich dargelegt, entgegen der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ nicht Normadressaten der Grundrechte. a) Grundrechte und Generalklauseln Hier zeigt sich indessen eine andere Schwäche der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“, nämlich die strikte Verbindung, die viele ihrer Anhänger zu den Generalklauseln und den ausfüllungsbedürftigen Begriffen des Privatrechts herstellen. So behauptet z. B. Flume, daß „die Grundrechtsnormen als ‚Verbotsgesetze‘ gegenüber Rechtsgeschäften nur (!) über den § 138 BGB zur Geltung kommen können“73. Ähnlich sagt Mikat im Anschluß an Dürig, die „einzige(!) Möglichkeit, das durch die Grundrechte geschaffene und ... für das ganze Rechts71 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Kündigungsfreiheit und Privatautonomie näher P. Ulmer, Festschr. f. Möhring, 1975, S. 304; Canaris, ZHR 143 (1979), 122. 72 Vgl. näher Canaris aaO (Fn. 71) S. 130 f. 73 Vgl. Flume aaO (Fn. 19) S. 342; ähnlich S. 22: „Wenn eine rechtsgeschäftliche Regelung wegen Mißachtung der Grundrechtswerte gegen die guten Sitten verstößt, ist das Rechtsgeschäft nach § 138 nichtig. Darüber hinaus ist für eine unmittelbare Geltung der Grundrechtsnormen im Bereich der Lehre vom Rechtsgeschäft kein Raum“.
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leben gültige Wertsystem im Rahmen der Privatrechtsordnung zu realisieren, (sei) in einer entsprechenden Interpretation und Anwendung der ,wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Begriffe und Generalklauseln des Privatrechts‘“ zu sehen74. Auch im öffentlich-rechtlichen Schrifttum finden sich derartige Äußerungen. Beispielsweise heißt es bei Hesse: „Verwendet der Gesetzgeber bei seinen Regelungen ... unbestimmte Begriffe oder Generalklauseln, so können Grundrechte für deren Interpretation im Einzelfalle bedeutsam werden (mittelbare Drittwirkung)“75. Bleckmann bezeichnet die „mittelbare Drittwirkung“ als „auf die Generalklauseln beschränkte Wirkung der Grundrechte“76, und ebenso verfährt Scholz, indem er die „mittelbare Drittwirkung“ geradezu als „Drittwirkung kraft Vermittlung durch die bürgerlich-rechtlichen Generalklauseln“ definiert77. [223] In allen solchen Äußerungen kommt eine fehlerhafte Vereinseitigung der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ zum Ausdruck. In Wahrheit ist nämlich nicht einzusehen, warum die Grundrechte nur über unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln auf das Privatrecht einwirken sollen. Denn zum einen ist es denkbar, daß auch Normen mit festen Tatbeständen zur Verwirklichung von Grundrechten dienen, und zum anderen steht auch nicht von vornherein fest, daß immer eine geeignete Generalklausel vorhanden ist. Insbesondere ist keineswegs von vornherein sicher, daß der sehr großzügige Maßstab der guten Sitten, mit dem bei korrekter Handhabung nur Extremfälle zu erfassen sind, stets einen ausreichenden Schutz der Grundrechte bietet. Das sei am Beispiel der Berufsfreiheit veranschaulicht. Deren privatrechtlicher Schutz wird gewissermaßen in der ersten Auffanglinie durch die Norm des § 888 II ZPO verwirklicht, wonach im Falle der Verurteilung zur Leistung von Diensten eine Zwangsvollstreckung durch Zwangsgeld oder Zwangshaft nicht stattfindet – eine Vorschrift, die das genaue Gegenteil einer Generalklausel darstellt, dennoch aber grundrechtsschützend wirkt. Eine weitere Bestimmung zum Schutze der Berufsfreiheit, die ebenfalls weder generalklauselartigen noch auch nur wertausfüllungsbedürftigen Charakter hat, ist § 624 BGB, wonach der Dienstverpflichtete sein Dienstverhältnis nach dem Ablauf von fünf Jahren stets kündigen kann. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang ferner § 74 HGB, wonach ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot der Schriftform bedarf und nur Vgl. Mikat, Festschr. für Nipperdey, 1965, Bd. I, S. 587. Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 1982, Rdnr. 356. 76 Vgl. Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren, 1979, S. 153. 77 Vgl. Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, 1981, Art. 12 Rdnr. 73. Siehe ferner auch noch Achterberg, JZ 1976, 440 Sp. 2, wonach „das Auffinden von Transformationsnormen in (privaten) Rechtsverhältnissen unerläßlich ist, um eine Erstreckung der Grundrechtsgeltung zu ermöglichen“ und „diese Transformation in Privatrechtsverhältnissen eben durch die wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln und Ermessenssätze geschieht“. 74 75
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verbindlich ist, wenn sich der Arbeitgeber zur Zahlung einer Karenzentschädigung verpflichtet, die mindestens die Hälfte der von dem Arbeitnehmer zuletzt bezogenen vertragsmäßigen Leistungen erreicht. Man sieht also, daß die Grundrechtsverwirklichung durch andere Normen als Generalklauseln und wertausfüllungsbedürftige Tatbestände nichts Ungewöhnliches ist. Daß es auf der anderen Seite auch Schutzlücken gibt, für die keine Generalklauseln zu Gebote stehen, wird ebenfalls am Beispiel der Berufsfreiheit deutlich. Erinnert sei vor allem an die Rechtsprechung des BAG zu den Grenzen der Rückzahlungsklauseln bei Gratifikationen, Ausbildungskostenerstattungen und Umzugsbeihilfen. Diese verdient m. E. als eine sachgerechte privatrechtliche Umsetzung von Art. 12 GG im Grundsatz – wenn auch nicht in allen [224] Einzelheiten – durchaus Beifall, ohne daß man sie doch auf § 138 BGB zurückführen oder durch die unmittelbare Anwendung einer anderen Generalklausel legitimieren könnte78. b) Die Fragwürdigkeit der These von den Grundrechten als Auslegungsrichtlinien und „wertentscheidenden Grundsatznormen“ Wenn auch Normen wie §§ 888 II ZPO, 624 BGB und 74 HGB eine grundrechtsverwirklichende Funktion haben – und daran ist m. E. nicht zu zweifeln –, dann ist auch das dogmatische Fundament der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“, wonach die Grundrechte im Privatrecht lediglich als Auslegungsrichtlinien und Konkretisierungsmaßstäbe oder dgl. wirken, in Frage zu stellen. Gewiß sind sie das auch; insbesondere ist es zutreffend, daß sie für die Konkretisierung von Generalklauseln herangezogen werden können. Ersichtlich erschöpft sich aber die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht darin nicht; denn in Fällen wie den genannten geht es eben nicht um Auslegung des Privatrechts, sondern um dessen schlichte Anwendung, und daher muß wohl noch eine andere Dimension als die der Auslegungsrichtlinien im Spiel sein. Es kommt hinzu, daß ein falsches Grundrechtsverständnis des Zivilgerichts nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich die Verfassungsbeschwerde eröffnet79. Diese kann aber nach Art. 93 Ziff. 4 a GG in Verbindung mit § 90 BVerfGG nur auf die Verletzung eines subjektiven Rechts gestützt werden79a. 78 Vgl. zu den verschiedenen Begründungsversuchen z. B. die Darstellungen bei Buchner/Blomeyer, Rückzahlungsklauseln im Arbeitsrecht, 1969, und Westhoff, Die Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, 1975, sowie auch unten bei Fn. 125. 79 Seit BVerfGE 7, 198, 206 f. st. Rspr.; die Gegenstimmen sind vereinzelt geblieben, vgl. aber immerhin Merten, NJW 1972, 1799. 79a Vgl. z. B. BVerfGE 4, 205, 210; 6, 445, 448; 15, 298, 301; 33, 247, 258; 45, 63, 74 f.; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, 3. Aufl. 1982, S. 51 f.
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Auch das spricht dafür, daß die Grundrechte in Wahrheit nicht nur als – rein objektive – Auslegungsrichtlinien, sondern als solche, d. h. als echte subjektive Rechte des Bürgers ins Spiel kommen. Demgemäß läßt sich die Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ auch nicht dadurch auf ein voll tragfähiges verfassungstheoretisches Fundament stellen, daß man auf den Charakter der Grundrechte als sogenannter „wertentscheidender Grundsatznormen“ abstellt80. Auch diese Grundrechtsfunktion erklärt nämlich nicht die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, weil sie ja gerade nicht die subjektiv-rechtliche, [225] sondern die objektiv-rechtliche Seite der Grundrechte betrifft. Im übrigen sollte man Tragweite und Fruchtbarkeit der Kategorie der „wertentscheidenden Grundsatznorm“ ohnehin nicht überschätzen. Insbesondere ist es entgegen einem offenbar verbreiteten Mißverständnis 81 eine Trivialität, daß die Grundrechtsbestimmungen nicht nur subjektive Rechte, sondern auch objektive Normen enthalten. Denn jedes subjektive Recht hat seine Grundlage mit Selbstverständlichkeit in einer objektiv-rechtlichen Norm; problematisch kann allenfalls der umgekehrte Schluß von einer Norm auf ein subjektives Recht sein. Fragt man aber, was die objektiv-rechtliche Seite der als Abwehrrechte verstandenen Grundrechte ist, so kann die Antwort nur lauten: ein Eingriffsverbot bezüglich der Freiheitsrechte und ein Diskriminierungsverbot bezüglich des Art. 3 GG – womit man so weit ist wie zuvor. Nicht weniger trivial ist der Zusatz „wertentscheidend“, da zahllose Normen auf jeder Stufe der Normenhierarchie eine Wertung enthalten und zwischen widerstreitenden Werten, Interesse und dgl. entscheiden. Es bleibt also allenfalls der Hinweis auf den Grundsatzcharakter der Grundrechte, doch dürfte auch dieser nicht viel mehr beinhalten als eine Umschreibung der besonderen Ranghöhe der Grundrechte und ihres weit ausgreifenden, generalklauselartigen Anwendungsbereichs. III. Die Grundrechte als Schutzgebote 1. Dogmatische Grundlagen Die entscheidende Grundlage für die Einwirkung der Grundrechte auf das Verhalten der Privatrechtssubjekte liegt m. E. vielmehr in einer anderen Funktion der Grundrechte, die das Bundesverfassungsgericht aus ihrem Charakter als Grundsatznormen hergeleitet hat. Wie es erstmals in seiner Entscheidung zur Grundlegend BVerfGE 7, 198, 205 ff.; vgl. dazu z. B. Ossenbühl, NJW 1976, 2101. Vgl. z. B. Ossenbühl, NJW 1976, 2101 f. und Rupp, AöR 101 (1976), 170 f., die ersichtlich der objektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte große Bedeutung zumessen; kritisch gegenüber deren Überschätzung und gegenüber dem dabei verbreiteten diffusen Sprachgebrauch mit Recht Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 286 ff. 80 81
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Reform des § 218 StGB ausgeführt hat, haben die Grundrechte nämlich zusätzlich zu ihrer Funktion als Eingriffsverbote gegen den Staat auch die Funktion von Schutzgeboten an den Staat82: Dieser ist verpflichtet, die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Werte und Rechtsgüter gegen Verletzungen zu schüt[226] zen. Dabei geht es nicht um Verletzungen aus der Staatsrichtung, da dafür ja bereits die Dimension der Grundrechte als Eingriffsverbote und Abwehrrechte zur Verfügung steht, sondern um Verletzungen durch andere Bürger, also in der Tat um die Problematik der Drittwirkung83. Daß die Grundrechte auch Schutzgebote beinhalten, ist auch dann überzeugend, wenn man die Berufung des BVerfG auf die Lehre von den „Grundsatznormen“ nicht für durchschlagend hält, sondern darin eine petitio principii sieht84. Einen wichtigen Anhaltspunkt liefert schon der Wortlaut des Grundgesetzes, indem dieses in Art. 1 I 2 bestimmt, daß die staatliche Gewalt die Menschenwürde nicht nur zu „achten“, sondern auch zu „schützen“ hat. Die Bedrohung, vor der geschützt werden soll, kann dabei nur von anderen Bürgern ausgehen, weil Verletzungen der Menschenwürde durch den Staat selbst schon vom Gebot des „Achtens“, also der Abwehrfunktion, erfaßt werden. Was aber für die Würde des Menschen gilt, muß im Prinzip für die nachfolgenden Freiheitsrechte ebenfalls gelten; denn diese hängen, wie in Art. 1 II GG ausdrücklich hervorgehoben wird, auf das engste mit der Würde des Menschen zusammen und können geradezu als „spezifische Ausprägungen der Fundamentalnorm des Art 1 I GG“ bezeichnet werden85. Objektiv-teleologische Aspekte bestätigen und bestärken diese Auslegung voll, gehört doch der Schutz der Bürger vor einander – vor Mord und Diebstahl, Vergewaltigung und Brandschatzung – sowohl historisch als auch funktionell gesehen zu den primären Aufgaben von Staat und Recht86. Es ist 82 Vgl. BVerfGE 39, 1, 42 ff.; seither st. Rspr., vgl. BVerfGE 46, 160, 164; 49, 89, 142; 53, 30, 57; 56, 54, 73. 83 Dieser Zusammenhang wird im heutigen Schrifttum z. T. ausdrücklich geleugnet, vgl. z. B. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit – Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, S. 35: „Das Konzept der grundrechtlichen Schutz- und Eingriffsbeziehungen hat nichts zu tun mit der Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte“; ähnlich Hesse aaO (Fn. 75) Rdnr. 351: „eine andere Problemstellung“. Demgegenüber hat Dürig schon früh im Zusammenhang mit der Drittwirkungsproblematik auf Art. 1 I 2 GG hingewiesen, vgl. Festschr. für Nawiasky, 1956, S. 176 und in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 1 Abs. III Rdnr. 102 und 131. 84 In diesem Punkt trifft daher die Kritik von Denninger, JZ 1975, 545 ff. und Roellecke, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Bd. II, S. 41 f. zu. 85 So Rupp, AöR 101 (1976), 166. 86 Das ist Gemeingut der Rechtsphilosophie, vgl. etwa Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1976, S. 134: „Unter den Aufgaben, die Recht und ‚Regierung‘ gestellt sind, steht die Wahrung von Frieden und Ordnung, die Unterdrückung von Gewalt und Rechtsbruch an erster Stelle“. Vgl. dazu ferner z. B. Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 228; Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 282 f.; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 167 ff.; Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 33 ff. und 47.
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daher nur folgerichtig, daß auch die Verfassung als die [227] oberste Grundlage der Staats- und Rechtsordnung diese Dimension in sich aufgenommen hat. Daraus wird zugleich deutlich, daß es sich um eine besonders elementare und eigenständige Funktion der Grundrechte handelt, die mit deren – umstrittener – Eigenschaft als Teilhaberechte oder als Förderaufträge nicht identisch ist. Es geht dabei auch nicht etwa lediglich um die rein objektiv-rechtliche Seite der Grundrechte, sondern nicht anders als bei der Abwehrfunktion auch um deren subjektiv-rechtliche Verfaßtheit. Die Grundrechte sind nämlich in erster Linie als subjektive Rechte konzipiert, und daher besteht kein Anlaß, davon bezüglich der Schutzgebotsfunktion eine Ausnahme zu machen87; der Sache nach entspricht das ersichtlich der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, das im Fall Schleyer einen auf die Schutzgebotsfunktion gestützten Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ausdrücklich als zulässig bezeichnet und damit implizit deren subjektiv-rechtliche Seite anerkannt hat88. Was die Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion angeht, so ist diese im wesentlichen Aufgabe des einfachen Rechts. Der Schutz ist dabei auch mit den Mitteln des Privatrechts zu bewirken. Denn wenn der Gesetzgeber sogar zum Erlaß grundrechtsschützender Strafnormen verpflichtet sein kann, wie das BVerfG zu § 218 StGB entschieden hat, dann muß gleiches auch und erst recht für das weniger stark einschneidende Privatrecht gelten. Insbesondere muß der Gesetzgeber oder an seiner Stelle der Richter auf die Grundrechtsgefährdungen, die durch die Zulassung der Privatautonomie entstehen, mit der Schaffung ausreichender Schutzbestimmungen reagieren. Dabei besteht ein sehr weiter Gestaltungs- und Konkretisierungsspielraum. Demgemäß wird durch die Heranziehung der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte nicht doch noch der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ das Wort geredet. Dogmatisch ergibt sich das daraus, daß die Schutzgebotsfunktion nur den Staat und nicht die Privatrechtssubjekte zu Normadressaten hat; und praktisch tritt es darin in Erscheinung, daß der Weg einer unmittelbaren Ableitung der Ergebnisse aus den Grundrechten weitgehend vermieden und die Erfüllung der Schutzaufgabe im wesentlichen als Sache des einfachen Rechts angesehen wird. Wenn man so will, kann man also auch bei dieser Konzeption von [228] „mittelbarer Drittwirkung“ sprechen, zumal natürlich ein großer Teil des privatrechtlichen Schutzes von den Generalklauseln wahrgenommen wird. Besser erscheint es freilich, diese Terminologie zu vermeiden und sie nur noch zur Kennzeichnung bestimmter dogmengeschichtlicher Positionen zu benutzen. Vor allem 87 Vgl. dazu eingehend und differenzierend Isensee aaO (Fn. 83) S. 49 ff. Daß häufig kein Anspruch des Bürgers auf ein bestimmtes staatliches Handeln gegeben ist, steht der subjektivrechtlichen Seite der Schutzgebotsfunktion nicht entgegen, sondern führt lediglich zur Abweisung der Verfassungsbeschwerde als unbegründet. 88 Vgl. BVerfGE 46, 160, 163.
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ist zu beachten, daß vom hier vertretenen Standpunkt aus die Einwirkung der Grundrechte auf die Normen des Privatrechts – seien sie geschrieben oder im Wege richterlicher Rechtskonkretisierung und -fortbildung gewonnen – eine unmittelbare ist. Die Problematik des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht ist demgemäß nur durch eine Verbindung verschiedener Grundrechtsfunktionen zu bewältigen: soweit die Normen des Privatrechts an den Grundrechten gemessen werden, kommen diese in ihrer klassischen Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte „unmittelbar“ zur Anwendung; soweit dagegen Akte von Privatrechtssubjekten, insbesondere Rechtsgeschäfte auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten geprüft werden, ist deren Funktion als Schutzgebote einschlägig – und da diese regelmäßig der Umsetzung durch einfaches Recht bedürfen, ist die Einwirkung der Grundrechte insoweit nur eine „mittelbare“. Verfassungswidrig ist das Fehlen von Schutzvorschriften dann, wenn das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum unterschritten ist. Wann das der Fall ist, läßt sich nicht generell sagen, sondern hängt wesentlich von der Art des betroffenen Rechtsguts und der Möglichkeit zu privatautonomem Selbstschutz ab. Ein dem Übermaßverbot entsprechendes handliches Untermaßverbot ist bisher als generelles Instrument nicht entwickelt worden – wie denn überhaupt die Lehre von der Schutzgebotsfunktion und vom damit eng zusammenhängenden gesetzgeberischen Unterlassen dogmatisch noch wenig konturiert ist. Schon die richtige Art der Fragestellung kann aber höchst förderlich sein. So ist z. B. im öffentlich-rechtlichen Schrifttum allen Ernstes die These aufgestellt worden, die §§ 74 ff. HGB, die dem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot gewisse Schranken setzen, seien verfassungswidrig, weil sie mit Art. 12 GG und der vom BVerfG entwickelten Stufentheorie nicht in Einklang ständen89. Das ist vom hier vertretenen Standpunkt aus abwegig. Richtig ist statt dessen, zunächst zu fragen, was an Art. 12 GG zu messen ist: das Wettbewerbsverbot oder die §§ 74 ff. HGB. Entgegen der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ ist das im letzteren Sinne zu beantworten, da Rechtsgeschäfte als solche nicht den Grundrechten unterliegen. Sodann ist weiter zu [229] fragen, ob die §§ 74 ff. HGB in die Berufsfreiheit eingreifen und Art. 12 GG folglich als Eingriffsverbot zum Zuge kommt. Das ist zu verneinen, da nicht die Regelung der §§ 74 ff., sondern das Wettbewerbsverbot die Berufsfreiheit einschränkt. Die §§ 74 ff. HGB dienen im Gegenteil zu deren Schutz. Die richtige Fragestellung geht daher dahin, ob die §§ 74 ff. HGB hinter dem von Art. 12 GG gebotenen Schutzminimum zurückbleiben. So gestellt, kann man die Frage und damit die Verfassungswidrigkeit der §§ 74 ff. HGB nur verneinen, weil anderenfalls die Verfas-
89 Vgl. Achterberg, JZ 1975, 713 ff.; kritisch dazu Schwabe, JZ 1976, 439 f. und Westhoff, RdA 1976, 360 ff., deren Ausführungen jedoch die richtige Fragestellung ebenfalls nicht treffen.
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sung überstrapaziert und der dem einfachen Recht einzuräumende Gestaltungsspielraum untragbar eingeschränkt würde. 2. Privatrechtliche Schutzinstrumente Damit bin ich beim privatrechtlichen Schutzinstrumentarium angelangt. Lassen Sie mich zum Schluß darauf noch einen Blick werfen, wobei ich mich auf das Delikts- und das Vertragsrecht konzentriere. a) Deliktsrecht und grundrechtliche Schutzgebotsfunktion Soweit deliktsrechtliche Normen in Grundrechte eingreifen, kommen diese in ihrer herkömmlichen Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte zur Anwendung, wie ich am Beispiel des Lüth- und des Mephistourteils darzulegen versucht habe90. Raum und Bedürfnis für die Schutzgebotsfunktion besteht daher nur dort, wo der Eingriff von einem Privatrechtssubjekt ausgeht. aa) Paradigmatisch ist die Blinkfüer-Entscheidung des BVerfG. In dem vorangegangenen Rechtsstreit hatte der Bundesgerichtshof die gegen einen Boykottaufruf gerichtete Klage eines Zeitungsherausgebers gegen das Verlagshaus Springer als unbegründet abgewiesen. Es ging hier also nicht darum, daß ein staatliches Organ oder eine (zivilrechtliche) Norm in das Presseunternehmen des Beschwerdeführers eingegriffen hatte, sondern vielmehr darum, daß der BGH diesem den zivilrechtlichen Schutz versagt hatte. Das BVerfG hob dieses Urteil auf, weil „das Ziel der Pressefreiheit, die Bildung einer freien öffentlichen Meinung zu erleichtern und zu gewährleisten, den Schutz (!) der Presse gegenüber Versuchen erfordert, den Wettbewerb der Meinungen durch wirtschaftliche Druckmittel auszuschalten“91. Dadurch ist die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 I GG und deren privatrechtliche Auswirkung unmißverständlich anerkannt92. [230] Einen andersartigen Lösungsansatz hat Schwabe vorgeschlagen. Nach seiner Ansicht ging es im Blinkfüer-Fall nicht darum, daß dem Beschwerdeführer der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von den Zivilgerichten versagt worden war, sondern vielmehr darum, daß „eine abstrakt-generelle normative Befugnis zum Eingriff in den Gewerbebetrieb und zur
Vgl. oben II 1 b. Vgl. BVerfGE 25, 256, 268 unter Bezugnahme auf ein – nicht näher begründetes – obiter dictum in BVerfGE 20, 162, 175 f. 92 Zugleich ist im Hinblick auf die subjektiv-rechtliche Seite der Schutzgebotsfunktion (vgl. oben bei Fn. 87) eine Grundlage für die Verfassungsbeschwerde geschaffen. Allerdings wird diese Frage vom BVerfG zu Unrecht nicht näher erörtert. 90 91
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wirtschaftlichen Schädigung im konkreten Fall durch Richterspruch bestätigt“ wurde93. Nach Schwabe sind also auch hier die Grundrechte in ihrer Funktion als Eingriffsverbote anwendbar. Diese Sichtweise ist indessen aus mehreren Gründen sowohl rechtstheoretisch als auch privatrechtsdogmatisch unhaltbar. Zunächst ist schon – ähnlich wie bereits in anderem Zusammenhang94 – einzuwenden, daß die Erteilung einer Eingriffsbefugnis an Privatrechtssubjekte nicht ohne weiteres einem Eingriff durch die staatliche Gewalt gleichgestellt werden kann. Dieser Schluß ist hier um so brüchiger, als das betreffende Privatrechtssubjekt bei seinem (angeblichen) Eingriff – anders als bei der Durchsetzung eines vertraglichen Anspruchs – in keiner Weise auf staatlichen Gerichtsschutz angewiesen ist. Zum zweiten und vor allem aber ist es verfehlt, hier überhaupt von einer Eingriffsbefugnis des Schädigers auszugehen. Das würde nämlich voraussetzen, daß sich die Beziehungen zwischen den Privatrechtssubjekten vollständig in beiderseitige Herrschaftssphären oder dgl. aufteilen lassen oder daß jede Beeinträchtigung eines Privatrechtssubjekts, die nicht besonders gestattet ist, verboten ist. Eine solche Voraussetzung aber wäre unhaltbar. Richtig ist vielmehr, daß es im Privatrecht einen weiten Bereich allgemeiner Handlungsfreiheit gibt, der rechtlich nicht besetzt ist und in dem rechtswidrige Verletzungen anderer Privatrechtssubjekte daher a priori nicht in Betracht kommen95. Oder in den Kategorien der deliktsrechtlichen Dogmatik gesprochen: Die Zuerkennung einer „Befugnis“ zu Eingriffen ist nur dort sinnvoll vorstellbar, wo die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit indiziert wie bei unmittelbaren Eingriffen in die „klassischen“ Rechtsgüter des § 823 I BGB96 – und in der Tat lassen sich ja die echten Rechtfertigungsgründe wie Notwehr usw., die bei indizierter Rechtswidrigkeit allein das Rechtswidrigkeitsurteil ausschließen können, als Eingriffsbefugnisse begreifen. Wo dagegen die Rechtswidrigkeit nicht indiziert wird, sondern durch eine Güter- und Interessenabwägung im jeweiligen Einzelfall positiv begründet werden muß, wie das beim Recht am Gewerbebetrieb und beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Fall ist97, kann mangels einer tatbestandlich fest umrissenen Schutzsphäre nicht von der Erteilung einer „Befugnis“ zu Eingriffen die Rede sein, sondern nur von einer Verweigerung des Deliktsschutzes – sei es auf der Ebene der Rechtswidrigkeit oder sei es sogar schon auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit. Man wende nicht ein, diese privatrechtsdogmatische [231] Sichtweise sei für das Verfassungsrecht nicht bindend. Denn abgesehen davon, daß sie durch die auch dem Verfassungsrecht vorgegebene Sachstruktur bedingt ist, würde ein solcher Einwand einen Zirkelschluß darstellen: Er würde voraussetzen, daß be-
93 Vgl. Schwabe, AöR 100 (1975), 459; ähnlich S. 453 und S. 467 sowie Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213. 94 Vgl. oben II 1 e aa. 95 Demgemäß dürfte entgegen der Ansicht von Schwabe aaO S. 460 der Tenor eines Feststellungsurteils nicht lauten: „Es wird festgestellt, daß der Kläger von Rechts wegen befugt ist ...“, sondern allenfalls „... daß dem Kläger nicht verboten ist ...“ oder „... daß der Kläger keine Rechte des Beklagten verletzt“. 96 Vgl. dazu statt aller Larenz, Schuldrecht B. T., 12. Aufl. 1981, § 72 I c m. Nachw. 97 Vgl. wiederum Larenz aaO § 72 III a und b m. Nachw.
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Grundrechte und Privatrecht stimmte Güter grundsätzlich in bestimmtem Umfang gegenüber anderen Privatrechtssubjekten von Verfassungs wegen geschützt sind – und gerade das gilt es ja erst zu beweisen.
bb) Um die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte ging es ferner bei der Frage, ob das Grundgesetz eine Verstärkung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes erforderlich macht. Das hat der BGH anfangs verkannt. Er ist nämlich ursprünglich davon ausgegangen, daß ,,das Grundgesetz das Recht des Menschen auf Achtung seiner Würde und auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit auch als privates (!), von jedermann (!) zu achtendes Recht anerkennt“ und daß Art. 1 und 2 GG „nicht nur den Staat und seine Organe binden, sondern auch von jedermann (!) im Privatrechtsverkehr zu achten sind“98; das ist „unmittelbare Drittwirkung“ im oben definierten und kritisierten Sinne, da der BGH unmißverständlich das Gebot der „Achtung“ der Menschenwürde „jedermann“ auferlegt und so die Grundrechte in ihrer Funktion als Abwehrrechte auf das Verhältnis von Privatrechtssubjekten untereinander erstreckt. Später hat der BGH dagegen die Notwendigkeit, den Persönlichkeitsschutz auszubauen, ausdrücklich, wenn auch ohne dogmatische Vertiefung, auf die Verpflichtung der staatlichen Gewalt zum Schutz der Menschenwürde gestützt99. Dieser Ansatz ist zutreffend, da die Grundrechte nur die staatliche Gewalt binden und da es hier nicht um Einschränkungen von Grundrechten durch diese, sondern um das Fehlen eines hinreichenden Schutzes gegenüber anderen Privatrechtssubjekten, also nicht um die Funktion der Grundrechte als Eingriffsverbote, sondern als Schutzgebote geht. Was der BGH freilich durchweg verkannt hat, ist der Gestaltungsspielraum und -primat des einfachen Gesetzgebers; dieser hätte sowohl in der Frage, ob der Persönlichkeitsschutz nur durch die Anerkennung eines „allgemeinen“ Persönlichkeitsrechts oder auch auf andere Weise erfolgen kann100, als auch in der Frage, ob der Schutz die Gewährung von Schmerzensgeld einschließt101, respektiert werden müssen. Dem- [232] gemäß kann die Verfassungsbeschwerde nur darauf gestützt werden, daß dem Beschwerdeführer das von Verfassungs wegen gebotene Minimum an Persönlichkeitsschutz vorenthalten worden ist. Daher überzeugt es m. E. nicht, daß das BVerfG im Fall Böll das Urteil, durch das der BGH die Schmerzensgeldklage abgewiesen hat, wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben hat102; denn es mag zwar auf der Ebene des einfachen Rechts ein Gebot der Konsequenz und Effizienz sein, Persönlichkeitsverletzungen durch Schmerzensgeld Vgl. BGHZ 13, 334, 338 unter Berufung auf Nipperdey bzw. BGHZ 27, 284, 285. Vgl. BGHZ 35, 363, 367 f.; 39, 124, 131 f.; ebenso beiläufig BVerfGE 30, 173, 194. 100 Dazu unübertroffen Dürig, Festschr. für Nawiasky, 1956, S. 180 f., der den Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers mit voller Klarheit herausarbeitet. 101 Vgl. dazu besonders eindringlich und überzeugend Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 147 und S. 227 ff. 102 Vgl. BVerfGE 54, 208. 98 99
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zu ahnden, doch läßt sich m. E. nicht dartun – und das BVerfG hat das auch gar nicht versucht –, daß diese Rechtsfolge vom Grundgesetz geboten ist und der einfache Gesetzgeber die Frage demgemäß nicht anders entscheiden könnte. b) Rechtsgeschäftslehre und grundrechtliche Schutzgebotsfunktion Im rechtsgeschäftlichen Bereich steht unter dem Einfluß der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ § 138 BGB ganz im Vordergrund. Dadurch wird leicht übersehen, daß es auch noch andere Schutzinstrumente gibt. Auf diese sei daher im folgenden in erster Linie das Augenmerk gerichtet. aa) Unter diesem Gesichtspunkt ist die bereits erwähnte Entscheidung des BGH zu kritisieren, in der dieser eine Abrede zwischen geschiedenen Eheleuten, durch die der eine Teil sich zur Verlegung seines Wohnsitzes verpflichtet hatte, wegen Verstoßes gegen § 138 BGB in Verbindung mit dem Recht auf Freizügigkeit gemäß Art. 11 I GG für nichtig erklärt hat103. Das überzeugt nicht, weil ein legitimes Interesse daran bestehen kann, daß der eine Partner dem anderen nicht mehr begegnen will. Der BGH hat denn auch lediglich ausgeführt, die Klägerin wolle „mit staatlichem Zwang (Androhung von Geld- und Haftstrafen) erreichen, daß der Beklagte die Stadt verläßt“ und „die Anwendung eines solchen Zwanges wäre im vorliegenden Fall mit Art. 11 I GG unvereinbar“. Das trifft wohl zu, doch hätte sich dem bereits durch den Ausschluß der Vollstreckung mit Hilfe einer Analogie zu § 888 II ZPO Rechnung tragen lassen. Daß das Grundgesetz hier mehr Schutz gebietet, als er durch [233] den Ausschluß der Zwangsvollstreckung gewährleistet wird, läßt sich m. E. nicht überzeugend dartun. Man wird im übrigen noch einen Schritt weitergehen und § 888 II ZPO auch auf Einschränkungen anderer personaler Freiheitsrechte wie der Gewissensfreiheit, der Meinungsfreiheit und der Kunstfreiheit analog anwenden können, da diese wegen ihres personalen Gehalts nicht weniger „sensibel“ gegenüber staatlichen Vollstreckungsmaßnahmen sind als die Berufsfreiheit. In der Tat würde es einen untragbaren Eingriff in den Kernbereich der Persönlichkeit bedeuten, wollte man mit Geld- und Haftstrafen etwa einen Journalisten zu einer bestimmten Meinungsäußerung oder einen Künstler zum Malen eines Bildes zu zwingen suchen. Auch Verpflichtungen zum Wechsel der Staatsangehörigkeit dürften in diesen Zusammenhang gehören: der Fußballspieler, der entgegen seiner Zusage 103 Vgl. BGH NJW 1972, 1414; vgl. dazu einerseits Merten, NJW 1972, 1799, andererseits Schwabe, NJW 1973, 229 f. Die Kontroverse zwischen den beiden Autoren ist charakteristisch für den Stand der Drittwirkungsdiskussion: beide stellen nicht die richtige Frage (welches Schutzgebot enthält Art. 11 GG für die privat-rechtliche Rechtsgeschäftsordnung?), und beide ziehen als Rechtsfolge ebenso wie der BGH nur Nichtigkeit des Vertrages in Betracht, wodurch sie die privatrechtlichen Lösungsmöglichkeiten vorschnell verkürzen.
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keinen Antrag auf Einbürgerung stellt104, kann dazu analog § 888 II ZPO nicht im Wege der Zwangsvollstreckung gezwungen werden; wohl aber kann er u. U. auf Zahlung einer Vertragsstrafe in Anspruch genommen oder wegen Vertragsbruchs gekündigt werden, weil ein legitimes Interesse an einer derartigen Vereinbarung bestehen kann – vor allem bei Bestehen eines „Ausländerkontingents“ – und diese daher nicht in jedem Fall von § 138 BGB erfaßt wird. Zu weit ginge eine generelle Anwendung von § 138 BGB auch bei Verträgen, die eine Einschränkung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit im Sinne von Art. 2 II GG zum Gegenstand haben. So ist z. B. kein Grund dafür ersichtlich, einem Vertrag über eine Blut- oder Organspende oder über eine lebensgefährliche Tätigkeit – etwa eines Artisten – von vornherein die Wirksamkeit zu versagen. Andererseits ist aber auch nicht zu verkennen, daß die Freiheit der Entscheidung über die Integrität des Körpers zu den elementarsten Rechten der Person gehört und daher nach der Wertung von Art. 1 und 2 II GG eines besonderen Schutzes auch gegenüber privatautonomer Selbstbeschränkung bedarf. Der Ausschluß der Zwangsvollstreckung analog § 888 II ZPO dürfte dafür kaum ausreichen, da er den Anspruch auf das positive Interesse sowie wohl auch etwaige Vertragsstrafeversprechen unberührt läßt105 und daher nur einen vergleichsweise geringfügigen Freiheitsschutz bietet. Sachgerecht erscheint vielmehr die Gewährung eines freien Widerrufs- [234] rechts in Verbindung mit der Pflicht zum Ersatz des Vertrauensschadens analog § 122 BGB. Dadurch wird einerseits die Freiheit der Entscheidung über den eigenen Körper weitgehend aufrecht erhalten, andererseits aber auch den schutzwürdigen Interessen des anderen Teils Raum gegeben. Ein verwandtes Regelungsmodell enthalten für die Ehefreiheit die §§ 1297 f. BGB und für die Kunstfreiheit das Rückrufsrecht wegen gewandelter Überzeugung gemäß § 42 UrhG. Im Einzelfall kommt ausnahmsweise auch ein Ausschluß des Widerrufsrechts wegen Rechtsmißbrauchs in Betracht – so z. B., wenn der Inhaber einer seltenen Blutgruppe nach Beginn der Operation ohne hinreichenden Grund die vereinbarte Spende verweigert. bb) Geht die Anwendung von § 138 BGB somit in manchen Fällen zu weit, so geht sie in anderen nicht weit genug. Unangemessen erscheint die Annahme eines Verstoßes gegen die guten Sitten z. B. bei Verträgen über solche Freiheitsrechte, die einer rechtsgeschäftlichen Einschränkung ihrer Natur nach von vornherein nicht zugänglich sind. Das gilt etwa für die Freiheit der Religionswahl. So ist ein Vertrag, durch den sich ein Verlobter gegenüber dem anderen zum Wechsel der Konfession verpflichtet, als nichtig anzusehen, ohne daß es des Rückgriffs 104 Auch bezüglich der Staatsangehörigkeit können sich also „Drittwirkungsprobleme“ stellen, anders wohl Hesse aaO (Fn. 75) Rdnr. 351. 105 Das ist bezüglich der Vertragsstrafe zweifelhaft und streitig; für deren Wirksamkeit trotz § 888 II ZPO die h. L., vgl. z. B. RG SeuffArch. 66 Nr. 46 S. 93; BAG NJW 1964, 123; dagegen Lindacher, Phänomenologie der ‚Vertragsstrafe‘, 1972, S. 72 ff. m. w. N. zur h. L.
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auf § 138 BGB bedarf. Die gleiche Wertung liegt § 4 RelKErzG zugrunde, wonach Verträge über die religiöse Erziehung eines Kindes „ohne bürgerliche Wirkung“ sind. Auch Einschränkungen der Ehe- und Familienfreiheit sind kein möglicher Gegenstand der Privatautonomie. In diesem Sinne dürfte § 1297 BGB zu verstehen sein106, wonach aus einem Verlöbnis nicht auf Eingehung der Ehe geklagt werden kann. Erst recht kann die Ehe- und Familienfreiheit nicht durch Verträge mit Dritten irgendwelchen Einschränkungen oder Beeinträchtigungen unterworfen werden, mögen für eine solche Abrede auch im Einzelfall durchaus achtenswerte Motive gegeben sein. Mit Recht hat das BAG daher Zölibatsklauseln ohne Rücksicht darauf verworfen, ob die objektiven und subjektiven Voraussetzungen von § 138 BGB erfüllt sind107. Ähnlich ist z. B. die Vereinbarung, daß ein Mietvertrag bei Eintritt der Schwangerschaft der Mieterin enden soll, auch dann unwirksam, wenn der Vermieter ein gegen Kinderlärm besonders empfindlicher Künstler ist und man daher Hemmungen gegenüber der Anwendung von § 138 BGB hat; es ist mithin zutreffend, daß das BAG entsprechende Klauseln in Arbeitsverträgen für nichtig hält, ohne § 138 BGB heranzuziehen108. Diese Vorschrift paßt in derartigen Fällen nicht, weil [235] ihre Anwendung zum einen das Verdikt einer gewissen „Unanständigkeit“ impliziert und zum anderen letztlich von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles abhängt. Richtig ist vielmehr, daß es (ungeschriebene) Schranken der Privatautonomie gibt, die § 138 BGB vorausliegen und eher mit dem Tatbestand der rechtlichen Unmöglichkeit als mit dem der Sittenwidrigkeit vergleichbar sind. Im älteren Schrifttum ist diese Einsicht noch verbreitet anzutreffen109. Sie sollte heute wiederbelebt werden, da sie sachgerechter ist und insbesondere dem Schutzgebot des Art. 6 GG weitaus besser entspricht als die Anwendung von § 138 BGB. Daß die – konsequente und methodenehrliche – Anwendung von § 138 BGB mitunter hinter dem grundrechtlich gebotenen Schutzminimum zurückbleiben kann, läßt sich noch besser an den Diskriminierungsverboten des Art. 3 II und III GG zeigen. Als Beispiel möge wieder eine Entscheidung des BGH dienen. Darin hat dieser eine Klausel in der Satzung einer Familienstiftung, durch die die Bezugsberechtigung auf den (ersten) männlichen Nachkommen beschränkt wurde,
Vgl. näher Canaris, AcP 165 (1965), 1 ff. Vgl BAGE 4, 274 = AP Nr. 1 zu Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie. 108 Vgl BAG AP Nr. 3 zu Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie, wo allerdings im wesentlichen mit dem – auf andere Vertragstypen nicht übertragbaren – Gesichtspunkt der Umgehung des Mutterschutzgesetzes argumentiert wird. 109 Vgl. Hellwig, AcP 86 (1896), 227; Eckstein, ArchBürgR 38 (1913), 193 ff.; von Tuhr, Allg. Teil des Deutschen Bürg. Rechts, 1918, Bd. II 2, S. 32; vgl. auch RGZ 57, 250, 257, wo die Verpflichtung zur Beteiligung an einer Scheidung nach jüdischem Ritus (nach vorheriger Zivilscheidung) als auf eine rechtlich unmögliche Leistung gerichtet qualifiziert wird. 106 107
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für wirksam erklärt110. Als Prüfungsmaßstab hat er dabei, ersichtlich im Banne der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ und den Generalklauseln als „Einfallstoren“ der Grundrechte stehend, nur § 138 BGB herangezogen und ausgeführt, Verstöße gegen Art. 3 GG könnten ein Rechtsgeschäft nur dann sittenwidrig machen, wenn es aus besonderen Gründen als anstößig empfunden würde. Diese einzelfallbezogene Betrachtung ist im Rahmen von § 138 BGB gewiß folgerichtig. Sie dürfte aber der Bedeutung von Art. 3 II GG schwerlich gerecht werden, wenn man in der Vorschrift ein auch im Privatrecht geltendes Schutzgebot sieht. Das aber erscheint mir sachgerecht, da zum einen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 GG in besonders enger Weise mit der Menschenwürde verknüpft sind111 und da zum anderen Diskriminierungen gerade im Privatrechtsverkehr ein schwerwiegendes praktisches Anwendungsfeld haben. Das Gebot von Art. 1 I 2 GG, die Menschenwürde zu schützen, bedarf daher hier m. E. einer spezifisch privatrechtlichen Umsetzung, [236] die über den auf Extremfälle beschränkten Minimalschutz des § 138 BGB hinausgeht. Man sollte demgemäß aus Art. 3 GG ein (ungeschriebenes) gesetzliches Verbot im Sinne von § 134 BGB ableiten, wonach Rechtsgeschäfte ihrem Inhalt nach nicht das Geschlecht oder eines der in Art. 3 III GG genannten Merkmale zum Differenzierungskriterium erheben dürfen. Folglich sind z. B. auch Bestimmungen in Gesellschaftsverträgen nichtig, nach denen beim Tode eines Gesellschafters nur männliche Abkömmlinge das Recht zum Eintritt in die Gesellschaft haben112. Andererseits bleibt es z. B. dem Erblasser selbstverständlich unbenommen, unter seinen Kindern nur einen Sohn auszusuchen und zum Erben einzusetzen; er darf dies nur nicht allein deshalb tun, weil es ein Sohn ist113, doch wird ein solches Motiv selten genug vorkommen und sich noch seltener beweisen lassen. Das Hauptanwendungsgebiet der vorgeVgl. BGHZ 70, 313, 324 f. Vgl. dazu z. B. Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Abs. I Rdnr. 3, Art. 3 Abs. II Rdnr. 2 und Art. 3 Abs. III Rdnr. 1; Salzwedel, Festschr. für Jahrreiß, 1964, S. 347. 112 Die Nichtigkeit ergreift nur die Beschränkung der Nachfolgemöglichkeit auf männliche Abkömmlinge und läßt nach ihrem Schutzzweck die Nachfolgeklausel als solche (und erst recht die übrigen Teile des Gesellschaftvertrags) unberührt. Für die Anwendung von § 139 BGB ist kein Raum, weil der Schutzzweck der Nichtigkeitssanktion Vorrang vor dem (mutmaßlichen) Parteiwillen hat. 113 Die h. L. lehnt bekanntlich eine Bindung des Testators an Art. 3 GG nicht nur bezüglich des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Abs. 1 ab, was zutreffend ist, sondern auch bezüglich der besonderen („absoluten“) Diskriminierungsverbote der Absätze 2 und 3, wobei sie sich im wesentlichen auf die Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ und die daraus (angeblich) folgende Notwendigkeit einer Transformation der grundrechtlichen Wertungen über § 138 BGB beruft; vgl. etwa Mikat, Festschr. für Nipperdey, 1965, Bd. I, S. 595 ff.; Grunsky, JZ 1972, 766; MünchKomm.-Mayer-Maly, 1978, § 138 Rdnr. 17; differenzierend Thielmann, Sittenwidrige Verfügungen von Todes wegen, 1973, S. 300 ff.; wie im Text i. E. Boehmer, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 422; von Lübtow, Erbrecht, 1971, S. 17. 110 111
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schlagenen Verbotsnorm liegt demgemäß nicht im Motivationsbereich, sondern bei inhaltlichen Anknüpfungen an eines der von Art. 3 II und III GG perhorreszierten Merkmale114. Diese sind m. E. mit der Schutzgebotsfunktion dieses Grundrechts generell und nicht nur bei Vorliegen der für § 138 BGB maßgeblichen zusätzlichen Umstände des Einzelfalles unvereinbar. Man mag dagegen einwenden, diese Ansicht laufe auf das- [237] selbe Ergebnis wie die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ hinaus. Das ist zuzugeben, gilt aber nur für Art. 3 II und III GG und findet seine Rechtfertigung darin, daß ein legitimes Interesse an der Vornahme von Diskriminierungen durch den Inhalt von Rechtsgeschäften nicht ersichtlich ist, zumal es nach der Art der fraglichen Fälle typischerweise nicht um die Einschränkung eigener, sondern um die Beeinträchtigung fremder Grundrechte geht. cc) Daß der Rückgriff auf § 138 BGB häufig eine viel zu pauschale Lösung darstellt und durch ein differenzierteres Instrumentarium zu ersetzen ist, läßt sich auch am Beispiel der Freiheit der Religionsausübung gut veranschaulichen. Vom hier vertretenen Standpunkt aus ist dabei zunächst zu fragen, ob diese rechtsgeschäftlichen Einschränkungen überhaupt zugänglich ist. Das ist anders als für die Freiheit der Religionswahl und des Bekenntnisses grundsätzlich zu bejahen. Denn es handelt sich um eine ,,Ausübungsfreiheit“, und eine solche unterliegt i. d. R. nicht nur verfassungsrechtlich stärkeren Einschränkungen – was sich z. B. für die Berufsfreiheit ohne weiteres aus Art. 12 I 2 GG ergibt und was auch für die Freiheit der Gewissensbetätigung gilt –, sondern sie ist auch zivilrechtlich nicht im selben Maße schutzbedürftig wie die zugehörige „Wahlfreiheit“, weil sie zum einen weniger nah am unverzichtbaren Kern der Persönlichkeit liegt und weil sie zum anderen leichter in Konflikt mit den Interessen Dritter gerät. Daß die Freiheit der Religionsausübung in Art. 4 II GG ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist, steht nicht entgegen, da das nicht über die Zulässigkeit vertraglicher Selbstbeschränkungen entscheidet115. Folglich kann z. B. ein Kellner oder ein Dienstmädchen nicht die Erbringung der vertraglich geschuldeten Sonntagsarbeit mit der Begründung verweigern, sie sei mit seiner religiösen Überzeugung unvereinbar. 114 Diese müssen dabei als solche zum Anknüpfungspunkt der rechtsgeschäftlichen Regelung gewählt sein. Dienen sie nur als typisierendes Annäherungskriterium für eine andere Wertung, die sich tatbestandlich nicht hinreichend exakt formulieren läßt, so scheidet ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot von vornherein aus. So wäre z. B. ein Prämienzuschlag bei der KfzHaftpflichtversicherung für ausländische Versicherungsnehmer oder auch für Angehörige einer bestimmten Nation im Hinblick auf Art. 3 GG schon deshalb unbedenklich, weil (und sofern) diese statistisch gesehen ein signifikant höheres Schadensrisiko darstellen; denn hier ist nicht die Ausländereigenschaft als solche der Grund für die unterschiedliche Prämiengestaltung, sondern die statistisch höhere Schadensanfälligkeit, für die die Ausländereigenschaft lediglich als tatbestandliches Aufgreifkriterium dient. Vgl. zur Problematik im übrigen eingehend Papier, ZVersWiss. 1982, 461 ff. 115 Vgl. oben I 2 a nach Fn. 9.
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Andererseits ist selbstverständlich auch hier als Minimalschutz die mangelnde Vollstreckbarkeit analog § 888 II ZPO gegeben. Daher ist z. B. die vertragliche Verpflichtung, sich nach Rechtskraft der zivilen Scheidung in den Formen des jüdischen Ritus scheiden zu lassen116 oder nach der standesamtlichen Trauung kirchlich zu heiraten, zwar nicht unwirksam, aber nicht vollstreckbar. Darüber hinaus schützt das geltende Recht die Freiheit der Religionsausübung in weitem Umfang durch die Vorschriften über die Sonn- und [238] Feiertagsruhe, die – wie sich u. a. aus § 105 a GewO ergibt – als gesetzliche Verbote i. S. von § 134 BGB anzusehen sind117. Für nicht-christliche Religionen gibt es allerdings naheliegender Weise keine entsprechende Regelung. Deren Angehörige, also z. B. muslimische Gastarbeiter, insoweit weitgehend oder gar gänzlich schutzlos zu lassen, verstieße indessen gegen das Schutzgebot von Art. 4 II i. V. m. Art. 1 I GG und wohl auch gegen das Schutzgebot von Art. 3 III GG. Folglich muß der Schutz im Wege der Auslegung oder der Rechtsfortbildung entwickelt werden. Ein Ansatzpunkt hierfür dürfte in § 616 I BGB liegen. Danach geht der Dienstleistungspflichtige seines Vergütungsanspruchs (und erst recht seiner sonstigen Rechte aus dem Arbeitsverhältnis) nicht dadurch verlustig, daß „er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird“. Der Begriff der Verhinderung ist nicht nur im Sinne physischer Unmöglichkeit, sondern auch bloßer Unzumutbarkeit zu verstehen118 und umfaßt daher z. B. auch Ereignisse wie Tod oder Begräbnis eines nahen Angehörigen, Niederkunft der Ehefrau, eigene Hochzeit, Hochzeit eines Kindes oder goldene Hochzeit der Eltern119. Daß ein hoher religiöser Feiertag unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten weniger schwer wiegt, wird man schwerlich sagen können. Allerdings kann zweifelhaft sein, ob es sich dabei noch um einen „in der Person liegenden“ und nicht vielmehr um einen nicht unter § 616 I BGB fallenden „objektiven“, weil u. U. 116 Vgl. dazu die – noch zum ALR ergangene – Entscheidung RGZ 57, 250. Das RG nahm Unwirksamkeit wegen rechtlicher Unmöglichkeit an, stieß sich jedoch ersichtlich in erster Linie daran, daß anderenfalls eine Zwangsvollstreckung durch Geld- oder Haftstrafe hätte erfolgen müssen; § 888 II ZPO war damals noch nicht in Kraft. 117 Das Verbot dürfte sich an beide Vertragsparteien richten, weil es nicht zuletzt auch dem Schutz Dritter vor Beeinträchtigungen durch Sonn- und Feiertagsarbeit und dem Schutz des Pietätsgefühls dient; schon nach der traditionellen Auffassung der Rechtsprechung, die sich an der Person des Verbotsadressaten orientiert, tritt daher Nichtigkeit nach § 134 BGB ein. Gleiches gilt aber auch dann, wenn man annimmt, daß das Verbot nur an den Arbeitgeber gerichtet ist; denn es handelt sich um eine inhaltlich mißbilligte Regelung, und diese ist auch bei einseitigen Verstößen nichtig, zumal wenn das Verbotsgesetz wie hier (auch) den Schutz des anderen Teils bezweckt; vgl. näher Canaris, Gesetzliches Verbot und Rechtsgeschäft, 1983, S. 22 ff. Im übrigen dürfte die Nichtigkeitsfolge ohnehin schon aus § 105 a GewO zu entnehmen sein. 118 Vgl. statt aller BAGE 8, 314, 325 = AP Nr. 22 zu § 616 BGB. 119 Vgl. etwa Zöllner, Arbeitsrecht, 3. Aufl. 1983, § 18 II 3 a; Münch-Komm.-Schaub, 1980, § 616 Rdnr. 10, beide m. w. N.
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eine Vielzahl von Arbeitnehmern treffenden Umstand handelt, doch dürften die besseren Gründe i. d. R. für die Anwendung von § 616 I BGB sprechen, zumal die betreffenden Feiertage für den Dienstherren im Gegensatz zu den typischen „objektiven“ Hinderungsgründen vorhersehbar und kalkulierbar sind. Auch wenn man aber § 616 I BGB für unanwendbar hält, sollte man doch nach § 242 BGB i. V. m. der arbeitsrechtlichen Für- [239] sorgepflicht grundsätzlich zumindest einen Anspruch auf Gewährung von – gegebenenfalls unbezahltem – Urlaub zubilligen. Anders kann freilich zu entscheiden sein, soweit dringende betriebliche Belange entgegenstehen. Denn die Freiheit der Religionsausübung ist, wie dargelegt, vertraglichen Einschränkungen durchaus zugänglich, und daher sind sowohl bei der Zumutbarkeitsprüfung im Rahmen von § 616 I BGB als auch bei der Konkretisierung der Fürsorgepflicht im Rahmen von § 242 BGB die berechtigten Interessen des Dienstherrn an der Erfüllung des Vertrages in die Abwägung einzubeziehen. Eine fristlose Kündigung wegen Arbeitsverweigerung kommt allerdings i. d. R. nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht nur auf seine Arbeitspflicht, sondern auch auf das dringende betriebliche Bedürfnis nach deren Einhaltung hingewiesen hat120. Auch müssen die betrieblichen Belange in besonderen Extremfällen u. U. ihrerseits den religiösen Bedürfnissen der Arbeitnehmer weichen, was etwa bei einem Betrieb mit ganz überwiegend musli120 Nicht zu folgen ist daher der Entscheidung des LAG Düsseldorf im vieldiskutierten Kurban-Beyram-Fall, JZ 1964, 258. Denn das LAG hat nicht einmal geprüft, ob dringende betriebliche Belange die Arbeit des gekündigten muslimischen Arbeitnehmers am viertägigen Kurban-Beyram-Fest, dem laut Tatbestand „größten Religionsfest des Islam“, erforderlich machten, geschweige denn festgestellt, daß der Arbeitnehmer auf seine Unentbehrlichkeit hingewiesen worden war. Außerdem überzeugt es auch nicht, wenn das LAG argumentiert, der Arbeitnehmer habe „beim Abschluß des Arbeitsvertrages damit rechnen müssen, daß die ordnungsgemäße Erfüllung des Arbeitsvertrages mit seinen Verpflichtungen gegenüber seinem Glauben und Gewissen kollidieren könnte“ und hätte daher „eine Freistellung von der Arbeit für die Tage des Kurban-Beyram im Arbeitsvertrag vereinbaren müssen“ (aaO S. 259; zustimmend Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung, 1978, 127; kritisch Habscheid, JZ 1964, 248). Mit einer solchen Verweisung auf die Möglichkeit privatautonomen Selbstschutzes wird ein Arbeitnehmer regelmäßig in lebensfremder Weise überfordert, zumal wenn er wie hier „aus einfachen Lebensverhältnissen stammt“. Daß der Arbeitgeber den muslimischen Arbeitnehmern für den ersten Tag des Kurban-Beyram-Festes freigegeben hatte, besagt nichts dagegen; denn das Problem liegt nicht in erster Linie darin, daß der Arbeitgeber einer vertraglichen Vereinbarung über die Arbeitsfreistellung an Feiertagen nicht zustimmen würde, sondern darin, daß von dem Arbeitnehmer ein entsprechender vertraglicher Vorbehalt nicht zu erwarten ist (nicht überzeugend daher insoweit Otto aaO). Im übrigen ist der Konflikt nicht nur für den Arbeitnehmer, sondern in gleicher Weise für den Arbeitgeber vorhersehbar, so daß sich insoweit die Argumente die Waage halten. Ebenso wenig verfängt der Einwand, ein Anhänger einer fremden Religion könne im Inland nicht damit rechnen, daß diese in ähnlicher Weise wie die landesübliche Religion geschützt werde; denn zum einen ist eine solche Argumentation mit den Schutzgeboten von Art. 4 II und 3 III GG unvereinbar, und zum anderen kann man auch umgekehrt sagen, wer Anhänger einer fremden Religion beschäftigt und Nutzen aus deren Arbeitskraft ziehe, müsse auch auf deren religiöse Bräuche Rücksicht nehmen, solange das mit seinen betrieblichen Belangen nicht unvereinbar ist.
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mischer Belegschaft in Betracht kommen [240] mag; warum sollen nicht z. B. die Arbeiten auf einer Baustelle an einem hohen islamischen Feiertag einmal ruhen? dd) Mit dem Rückgriff auf § 242 BGB ist wieder eine Generalklausel in den Blick gekommen. In der Tat ist nicht zu leugnen, daß den Generalklauseln eine wichtige Funktion bei der Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzgebote zukommt. Nur vor der Verabsolutierung ihrer Rolle ist zu warnen. Daher ist vorab stets zu prüfen, ob nicht andere und präzisere Normen, die auch ungeschrieben sein können, zur Verfügung stehen. Demgemäß wurde im Vorstehenden für den Persönlichkeitsschutz gegenüber Rechtsgeschäften – der im Gegensatz zum deliktsrechtlichen Persönlichkeitsschutz bisher in Rechtsprechung und Lehre kaum behandelt worden ist121 – ein differenzierendes Instrumentarium entwickelt, das von der völligen Unmöglichkeit rechtlicher Regelung und gesetzlichen Verboten im Sinne von § 134 BGB über die freie Widerruflichkeit (verbunden mit einer Haftung auf das negative Interesse) bis zum bloßen Ausschluß der Zwangsvollstreckung gemäß oder analog § 888 II ZPO reicht. Dahinter beginnt der Bereich der Generalklauseln. Unter diesen nimmt § 138 BGB als das grundlegende rechtsgeschäftliche Übermaßverbot eine zentrale Stellung ein. Will man einen schärferen Maßstab anlegen, so bedarf es dazu stets eines besonderen Grundes. Ein solcher ist vor allem bei einseitiger Rechtsgestaltung durch eine Partei gegeben – sei es, daß diese rechtlich fundiert ist wie im Falle von § 315 III BGB, oder sei es, daß sie rein faktisch durchgesetzt wird wie bei der einseitigen Zugrundelegung von AGB. In diesen Zusammenhang fügt sich ein, daß eine Kündigung auch insoweit, als sie nicht ohnehin eines Grundes bedarf, wegen ihrer Einseitigkeit nicht nur am Maßstab von § 138 BGB zu messen, sondern darüber hinaus am strengeren Maßstab von § 242 BGB einer gewissen Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterziehen ist122. Es fragt sich indessen, ob über die Fälle der (rechtlich oder faktisch) einseitigen Rechtsgestaltung hinaus auch bei vertraglich ausgehandelten Vereinbarungen eine Verschärfung des Maßstabs gegenüber § 138 BGB vorzunehmen ist. Es ist hier nicht der Ort, das damit angesprochene Problem einer gesteigerten Inhaltskontrolle von Verträgen breit aufzurollen. Zu prüfen ist aber immerhin, ob der Umstand, daß ein Ver- [241] trag eine Grundrechtseinschränkung zum Gegenstand hat, einen hinreichenden Grund für eine Verschärfung des Maßstabs darstellen kann. Ein Modell hierfür könnte § 74 a I HGB liefern. Danach ist ein Wettbewerbsverbot insoweit unverbindlich, als es nicht zum Schutze eines berechtigten geschäftlichen Interesses des Arbeitgebers dient oder nach Ort, Zeit und Gegen121 Charakteristisch ist die Arbeit von Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, die trotz ihres umfassenden Titels auf die Problematik der vertraglichen Beschränkung von Persönlichkeitsgütern nicht eingeht. 122 Vgl. näher Canaris, ZHR 143 (1979), 128 ff.
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stand eine unbillige Erschwerung des Fortkommens des Arbeitnehmers enthält. Das Wettbewerbsverbot ist also an den Maßstäben der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu messen und einer „Billigkeitskontrolle“ zu unterziehen. Das könnte man auf den ersten Blick auf die besondere Unterlegenheit und die daraus folgende Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern123 zurückzuführen geneigt sein. Indessen geht der BGH auch bei Selbständigen davon aus, daß ein Wettbewerbsverbot „nicht über die schützenwerten Interessen des Begünstigten hinausgehen“ und den Verpflichteten „in der Berufsausübung nicht übermäßig beschränken“, insbesondere „in örtlicher, zeitlicher und gegenständlicher Hinsicht nicht zu einer unangemessenen Beschränkung der Bewegungsfreiheit des Verpflichteten führen darf“124. Der BGH folgert dies aus § 138 BGB, doch dürfte eine so strenge Erforderlichkeits- und Angemessenheitskontrolle durch diese – nur auf Extremfälle zugeschnittene – Vorschrift nicht gedeckt sein und auch über ihren sonst praktizierten Anwendungsbereich deutlich hinausreichen. Daher erscheint es besser, die Ansicht des BGH mit einer Analogie zu § 74 a I HGB zu begründen (was auch für das praktische Ergebnis Folgen haben kann, weil § 74 a I durch die Worte „insoweit“ bzw. „soweit“ unmißverständlich eine „geltungserhaltende Reduktion“ anordnet und eine solche im Rahmen von § 138 BGB bekanntlich von der h. L. abgelehnt wird). § 74 a I HGB stellt, wie sich insbesondere aus seinem Absatz 3 unmißverständlich ergibt, nicht lediglich einen Sonderfall von § 138 BGB dar, sondern legt einen wesentlich schärferen – mit § 9 AGBG vergleichbaren – Maßstab an. Den Grund hierfür wird man darin zu sehen haben, daß angesichts der besonderen Ranghöhe der Berufsfreiheit und ihrer Nähe zum Kernbereich der menschlichen Persönlichkeit rechtsgeschäftliche Einschränkungen hier auf das unerläßliche Minimum begrenzt werden müssen. Bei dieser Sichtweise enthält § 74 a I HGB einen verallgemeinerungsfähigen Rechtsgedanken. Aus diesem dürfte sich z. B. die strenge, über § 138 BGB hinausgehende Kontrolle rechtfertigen lassen, mit deren [242] Hilfe das Bundesarbeitsgericht die Kündigungsfreiheit des Arbeitnehmers gegenüber Rückzahlungsklauseln im Zusammenhang mit Gratifikationen, Ausbildungskostenerstattungen und Umzugskostenbeihilfen schützt125. Folgerichtig wird man sogar noch einen Schritt weiter zu gehen und bei anderen personalen Freiheitsrechten einen ebenso strengen Kontrollmaßstab wie bei der Berufsfreiheit anzulegen haben. Demgemäß sind z. B. auch vertragliche Einschränkungen der Freizügigkeit – abgesehen von ihrer oben herausgearbeiteten mangelnden Vollstreckbarkeit – nach dem Diese „Ungleichgewichtsthese“ kritisiert allerdings Zöllner, AcP 176 (1976), 230 ff. Vgl. BGH GRUR 1979, 657, 658 („Ausscheidungsvereinbarung“) unter Hinweis auf die ständige Rspr. 125 Vgl. zu den verschiedenen Begründungsversuchen z. B. die Darstellungen bei Buchner/Blomeyer, Rückzahlungsklauseln im Arbeitsrecht, 1969, und Westhoff, Die Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, 1975. 123 124
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Modell von § 74 a I HGB darauf zu überprüfen, ob sie einem legitimen Interesse des anderen Teils dienen und die Bewegungsfreiheit des Verpflichteten nicht unangemessen beeinträchtigen. Dogmatisch interessant ist dabei, wie sehr man hier in die Nähe der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ kommt. Denn für diese ist es ein Gebot innerer Konsequenz, vertragliche Einschränkungen von Grundrechten nur in den Grenzen des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes zuzulassen, also nur insoweit, als sie zum Schutze der legitimen Interessen des anderen Teils erforderlich sind und für den Betroffenen keine unverhältnismäßige Einschränkung darstellen. Hier ist also eine praktische Konvergenz der Theorien von der „unmittelbaren“ und der „mittelbaren Drittwirkung“ festzustellen. Im Theoretischen liegt der Unterschied dabei darin, daß sich die Notwendigkeit einer Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitskontrolle für die Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ aus der Verfassung selbst ergibt, während die Lösung vom hier vertretenen Standpunkt aus nicht verfassungsdeterminiert, sondern im wesentlichen dem einfachen Recht überlassen ist. Dagegen kommt bei der Einschränkung von Freiheitsrechten, die keinen personalen Gehalt haben oder bei denen dieser nur geringes Gewicht hat, also vor allem bei Einschränkungen der – durch Art. 2 I GG geschützten – allgemeinen Wirtschaftsfreiheit und des Eigentums eine vergleichbare Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht in Betracht. Denn sonst käme man im Ergebnis zu einer allgemeinen Angemessenheits- und Billigkeitskontrolle von Verträgen – und diese wäre mit der lex lata, insbesondere mit dem vergleichsweise großzügigen Maßstab von § 138 BGB sowie dem Umkehrschluß aus § 9 AGBG unvereinbar und würde zu einer unzulässigen Aushöhlung der Privatautonomie führen. Das heißt nicht, daß insoweit überhaupt keine Verhältnismäßigkeitsprüfung stattzufinden hätte, doch orientiert diese sich nicht [243] am Maßstab der Angemessenheit und Billigkeit, sondern an dem des „auffälligen Mißverhältnisses“ (im Sinne von § 138 II BGB), zu dem überdies zusätzliche Umstände hinzutreten müssen wie vor allem Beeinträchtigungen der „Vertragsparität“. Nach der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ müßte demgegenüber bei folgerichtiger Durchführung auch in diesem Bereich, der ja im wesentlichen von den Art. 2 und 14 GG abgedeckt wird, das strengere verfassungsrechtliche Übermaßverbot zum Zuge kommen, so daß hier die praktische Konvergenz der Theorien ihre Grenze findet. ee) Die bisherigen Erörterungen bezogen sich im wesentlichen auf die Inhaltsfreiheit. Bezüglich der Abschlußfreiheit dürfte sich ein ähnlich differenziertes Schutzsystem derzeit kaum entwickeln lassen. Immerhin ist aber auch hier zu beachten, daß als Sanktion nicht nur der Kontrahierungszwang in Betracht kommt. So hat § 611 a BGB, durch den der Gesetzgeber einen Beitrag zur Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion von Art. 3 II GG geleistet hat, das Instrumentarium um einen Anspruch auf das negative Interesse bereichert. Darin ist
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zugleich die für die richterliche Rechtsfortbildung verbindliche Wertung enthalten, daß die privatrechtliche Umsetzung von Art. 3 II GG nicht ohne weiteres und ausnahmslos durch einen Kontrahierungszwang zu erfolgen hat; entsprechendes gilt folgerichtig für Art. 3 III GG. Es hat daher bezüglich des Kontrahierungszwangs im wesentlichen sein Bewenden bei dem Schutz, den Rechtsprechung und Lehre aus den Generalklauseln, insbesondere aus § 826 BGB entwickelt haben. Im übrigen ist zu beachten, daß auch deliktsrechtliche Schutzmöglichkeiten in Betracht kommen; verweigert etwa ein Gastwirt einem Neger wegen seiner Rasse die Bedienung, so liegt darin eine schwere Persönlichkeitsverletzung, die grundsätzlich einen Schmerzensgeldanspruch analog § 847 BGB auslöst. c) Tarifvertrag und grundrechtliche Schutzgebotsfunktion Die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte könnte auch einen neuen Ansatz liefern, um die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Bekanntlich wird insoweit ganz überwiegend von einer „unmittelbaren Drittwirkung“ ausgegangen126. Dem hat Zöllner mit Recht widersprochen127. Trotz seiner normativen Wirkung steht der Tarifvertrag nämlich dem Bereich der Privatautonomie weit näher als dem der „Gesetzgebung“ im Sinne von Art. 1 III [244] GG. Das folgt vor allem daraus, daß Tarifverträge grundsätzlich nur die Verbandsmitglieder binden und demgemäß wegen der Freiwilligkeit des Verbandsbeitritts und der Möglichkeit des Austritts auf einer spezifisch privatautonomen Legitimationsgrundlage beruhen. Auch funktionell gesehen stellt die Tarifautonomie nichts anderes dar als die auf die Kollektivebene gehobene Privatautonomie, da die Tarifnormen nicht einseitig gesetzt, sondern ausgehandelt werden. Folglich paßt auch für sie nicht die Figur der „Delegation“ staatlicher Normsetzungsmacht, auf die sich die Befürworter einer „unmittelbaren“ Drittwirkung meist berufen, sondern weit eher die vorhin für die rechtsgeschäftliche Bindung verwendete Kategorie der „Anerkennung“128. Demgemäß sollte man den Tarifvertrag hinsichtlich der Grundrechtsbindung dogmatisch grundsätzlich nicht anders behandeln als die übrigen Instrumente der Privatautonomie, also auf eine „unmittelbare“ Anwendung der Grundrechte in ihrer Funktion als Eingriffsverbote verzichten. Das gilt um so mehr, als nach 126
Nachw.
Vgl. statt aller Wiedemann/Stumpf, Tarifvertragsgesetz, 5. Aufl. 1977, Einl. Rdnr. 57 ff. m.
Vgl. Zöllner aaO (Fn. 119) § 7 III. Diese wird für die Tarifautonomie ausdrücklich, wenn auch ohne besondere Pointierung benützt von BVerfGE 44, 322, 349. Vgl. im übrigen zur „Anerkennungstheorie“ die Nachw. oben Fn. 62. 127 128
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der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung“ folgerichtig das verfassungsrechtliche Übermaßverbot zur Anwendung kommen müßte. Alle Grundrechtseinschränkungen durch Tarifvertrag wären also strikt an den Prinzipien der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu messen. Dadurch aber käme es zu einer tiefgreifenden Billigkeitskontrolle, die vom BAG und der h. L. für den Tarifvertrag gerade abgelehnt wird129 und die für diesen wegen seiner hohen „Richtigkeitsgewähr“ in der Tat verfehlt wäre. Man denke nur daran, welche Folgen es hätte, wenn z. B. ein tarifvertragliches Wettbewerbsverbot uneingeschränkt der vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 12 GG entwickelten Stufentheorie unterworfen würde! Auf der anderen Seite folgt aus der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte, daß die Tarifunterworfenen nicht ohne jeden Schutz der Einschränkung von Grundrechten ausgesetzt werden dürfen. Hier sind also – notfalls im Wege freier richterlicher Rechtsfortbildung – entsprechende Schutznormen zu entwickeln. Diese werden über die aus § 138 BGB zu entnehmenden Minimalmaßstäbe nicht selten hinausgehen – wie es denn überhaupt eine mißliche Sache wäre, hier vorwiegend mit § 138 BGB zu arbeiten und den Tarifvertragsparteien folglich u. U. den Vorwurf einer sittenwidrigen Regelung machen zu müssen. Bei der Entwicklung der Schutzgebote ist auch die besondere Richtigkeitsgewähr von Tarifver[245] trägen zu berücksichtigen. Demgemäß können in einem Tarifvertrag u. U. sogar weitergehende Grundrechtseinschränkungen erlaubt sein als in Einzelarbeitsverträgen. IV. Zusammenfassung der wichtigsten dogmatischen Aussagen 1. Normadressat der Grundrechte (im Sinne des Normverpflichteten) ist nur der Staat, nicht der Bürger. Demgemäß sind die Grundrechte als solche entgegen der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ auf das Verhalten der Privatrechtssubjekte untereinander nicht anzuwenden. Das gilt auch bei Vorliegen „sozialer Macht“. Insbesondere hängt die Zulässigkeit der rechtsgeschäftlichen Einschränkung von Grundrechten nicht davon ab, ob sie durch einen Gesetzesvorbehalt gedeckt ist und den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes genügt. 2. Normadressat der Grundrechte ist (auch) der Privatrechtsgesetzgeber. Demgemäß sind die Grundrechte als solche entgegen der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ auf die Normen des Privatrechts (unter Einschluß des dispositiven Rechtes und der dieses ersetzenden ergänzenden Vertragsauslegung) 129 Vgl. z. B. Zöllner aaO (Fn. 119) § 38 VI m. Nachw.; anders offenbar Wiedemann/Stumpf aaO (Fn. 126) Einl. Rdnr. 131 und § 1 Rdnr. 97.
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unmittelbar anzuwenden. Sie entfalten dabei entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur eine „Ausstrahlungswirkung“ auf das Privatrecht, sondern gelten in ihrer herkömmlichen Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte. Insbesondere sind Grundrechtseinschränkungen durch Privatrechtsnormen am verfassungsrechtlichen Übermaßverbot zu messen. Zu weit geht es dagegen, aus der Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte auf eine Bindung der Parteien des Rechtsgeschäfts zu schließen. 3. Für diese wie überhaupt für das Verhalten der Subjekte des Privatrechts untereinander ist die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte von wesentlicher Bedeutung. Durch sie wird der Gesetzgeber bzw. der Richter dazu verpflichtet, die Grundrechte auch im Verhältnis der Bürger untereinander, also in der „Drittrichtung“ zu schützen. Hierfür gilt nicht das verfassungsrechtliche Übermaßverbot, sondern lediglich ein „Untermaßverbot“, das auf die Gewährleistung eines Minimalschutzes beschränkt ist und bei dessen Verwirklichung dem einfachen Recht ein großer Gestaltungs- und Konkretisierungsspielraum zukommt. Dieser ist nicht nur durch die Generalklauseln auszufüllen, sondern durch Vorschriften aller Art. Bezüglich der rechtsgeschäftlichen Inhaltsfreiheit ergibt sich dabei eine differenzierende Lösung, die von der völligen Unmöglichkeit rechtlicher Regelung und gesetzlichen Verboten im Sinne [246] von § 134 BGB (auch ungeschriebenen) über die freie Widerruflichkeit eines Vertrages (in Verbindung mit einer Haftung auf das negative Interesse) bis zum bloßen Ausschluß der Zwangsvollstreckung gemäß oder analog § 888 II ZPO reicht. Das geht teilweise über die – einzelfallabhängige und auf Extremfälle beschränkte – Anwendung von § 138 BGB hinaus, bleibt teilweise aber auch dahinter zurück. Die Entwicklung besonderer Schutznormen und nicht die Anwendung der Grundrechte als Eingriffsverbote erscheint auch als sachgerechte Lösung für die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien.
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Grundrechte und Privatrecht
Erwiderung Die Kritik Schwabes an meiner Konzeption des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht kreist der Sache nach durchweg um ein und denselben Gesichtspunkt: die Grenzziehung mitten durch das Vertrags- und mitten durch das Deliktsrecht. Ich will daher in meiner Erwiderung, zu der mir die Redaktion dankenswerterweise Gelegenheit gegeben hat, ebenfalls diesen grundsätzlichen Aspekt in den Vordergrund stellen und auf die von Schwabe aufgegriffenen Einzelpunkte nur insoweit eingehen, als sie damit zusammenhängen. 1. Es ist richtig, daß nach meinem Lösungsansatz die Grenzlinie für die Wirkung der Grundrechte mitten durch das Vertrags- und mitten durch das Deliktsrecht verläuft. Das ist aber nur ein zufälliges Nebenprodukt meiner Konzeption und mitnichten deren dogmatischer Kern. Dieser liegt vielmehr in der Unterscheidung zwischen Akten des Staates und Akten von Privatpersonen: nur erstere unterliegen gemäß Art. 1 III GG der Bindung an die Grundrechte, während letztere nicht als solche an den Grundrechten zu messen sind, sondern von diesen nur insoweit berührt werden, als darin – an den Staat und nicht an die Privatperson gerichtete! – Gebote zum Schutze des Bürgers vor dem Bürger enthalten sind. Wer meine Konzeption kritisieren will, muß daher in erster Linie auf die Unterscheidung zwischen Akten des Staates und Akten von Privatpersonen eingehen – und gerade hiermit setzt Schwabe sich in seiner Stellungnahme nicht auseinander. Es kann auch keine Rede davon sein, daß die von Schwabe propagierte Einheitlichkeit der Behandlung von Vertragsrecht und Deliktsrecht ein sinnfälliges Gebot der Gerechtigkeit oder der Vernunft oder gar der Verfassung wäre. Im Gegenteil: eine solche Anknüpfung an die äußere Einteilung der Rechtsgebiete erscheint vordergründig und entbehrt eines einleuchtenden teleologischen Gehalts. Demgegenüber ist die Unterscheidung zwischen Akten des Staates und Akten von Privatpersonen dadurch überzeugend legitimiert, daß die Grundrechte nach Wortlaut, Systematik, Geschichte und teleologischer Funktion nun einmal an die „staatliche Gewalt“ (Art. 1 I 2 GG) bzw. an „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“ (Art. 1 III GG) und nicht an Privatpersonen adressiert sind. Von daher ist es konsequent, daß eine Norm des Privatrechts unmittelbar an den Grundrechten zu messen ist, ein Vertrag dagegen nicht – [10] und daß demgemäß die Wirkungsweise der Grundrechte nicht im gesamten Vertragsrecht dieselbe sein kann. 2. Dagegen lassen sich auch nicht gewisse Abgrenzungsschwierigkeiten ins Feld führen. Das gilt schon deshalb, weil nahezu jede einigermaßen weit gespannte Theorie mit Grenzfällen konfrontiert werden kann, in denen sie nicht ganz „glatt“ aufgeht oder sogar in Schwierigkeiten gerät. Für meine Konzeption ist dies die Behandlung der ergänzenden Vertragsauslegung, die Schwabe denn auch naheliegender Weise zu einem der Ansatzpunkte für seine Kritik macht. Die Schwie-
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rigkeit liegt indessen nicht primär in meiner Theorie begründet, sondern im Institut der ergänzenden Vertragsauslegung, die eine Doppelfunktion hat: sie kann sowohl echte Auslegung eines konkreten Rechtsgeschäfts als auch Instrument zur Schaffung fehlenden dispositiven Gesetzesrechts sein. Daß sie im ersten Fall als Folge des Aktes einer Privatperson behandelt und also der unmittelbaren Grundrechtsbindung entzogen, im zweiten Fall dagegen einem Akt des Gesetzgebers gleichgestellt und also der unmittelbaren Grundrechtsbindung unterworfen wird, ist nur folgerichtig und kann allenfalls für denjenigen etwas Befremdliches haben, der sich der Doppelfunktion der ergänzenden Auslegung nicht bewußt ist. Geht man von der Unterscheidung zwischen Akten des Staates und Akten von Privatpersonen aus, so löst sich auch der angebliche Widerspruch, den Schwabe in meinen Ausführungen zur Grundrechtsbindung von Kündigungen entdeckt haben will, ohne weiteres auf. Dann ergibt sich nämlich, daß die Kündigung selbst als Akt einer Privatperson nicht an den Grundrechten zu messen ist, wohl aber die – i. d. R. ungeschriebenen – Rechtssätze, nach denen ein bestimmtes Verhalten einen Kündigungsgrund darstellt und die daher staatliche Einschränkungen eines Grundrechts wie vor allem der Meinungsfreiheit beinhalten können. Es ist also unrichtig, wenn Schwabe mich dahin versteht, daß ich „eine arbeitsrechtliche Kündigung der unmittelbaren Geltung negatorischer Grundrechte unterstelle“. Demgegenüber heißt es an der betreffenden Stelle unmißverständlich: „Entgegen der Lehre von der ‚unmittelbaren Drittwirkung‘ ist nicht das Rechtsgeschäft Kündigung an Art. 5 I GG zu messen, sondern der im Wege der Auslegung aus § 1 KSchG oder § 626 BGB zu gewinnende Rechtssatz über das Vorliegen eines Kündigungsgrundes“. Es handelt sich hier also keineswegs, wie Schwabe meint, um einen Beleg für das Scheitern meiner Grenzziehung, sondern allenfalls um einen weiteren Grenz- und Übergangsfall. 3. Die Unterscheidung zwischen Akten des Staates und Akten von Privatpersonen zieht sich auch durch das Deliktsrecht. Wenn die Zivilgerichte z. B. wie im Lüth-Fall § 826 BGB dahin auslegen, daß bestimmte [11] Meinungsäußerungen sittenwidrig sind, so wird durch einen staatlichen Akt – nämlich durch eine Rechtsnorm – in das Grundrecht des Art. 5 I GG eingegriffen; das hat die Konsequenz, daß dieses in seiner herkömmlichen Funktion als Eingriffsverbot und Abwehrrecht einschlägig ist. Wenn dagegen die Zivilgerichte z. B. einen Anspruch auf Schmerzensgeld bei Persönlichkeitsverletzungen ablehnen wie die unteren Instanzen im Herrenreiter-Fall oder einen Abwehranspruch gegen die Schädigung eines Presseunternehmens versagen wie der BGH im Blinkfüer-Fall, dann greift nicht das Gericht oder eine Norm des Privatrechts (welche?!) in das Grundrecht des Art. 2 I bzw. 5 I 2 GG ein, sondern der Verletzer, also eine Privatperson; das hat die Konsequenz, daß die Grundrechte nicht als Eingriffsverbote und Abwehrrechte zum Zuge kommen, sondern nur als Schutzgebote, d. h. daß nicht einfach die Eingriffshandlung der Privatperson an den Grundrechten zu messen,
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sondern die subtilere Prüfung anzustellen ist, ob die Verfassung dem Zivilrecht einen bestimmten Schutz des Bürgers vor Eingriffen anderer Bürger gebietet. Diese Unterschiede verkennt Schwabe, wenn er mir unterstellt, ich würde die Grundrechte nur bei „unmittelbaren Eingriffen in die ‚klassischen‘ Rechtsgüter des § 823 I BGB“ in ihrer negatorischen Funktion anwenden, nicht aber bei Eingriffen in das Recht am Gewerbebetrieb und das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Daß das meine Position nicht richtig wiedergibt, zeigt sich schon daran, daß ich auch bei Eingriffen in die Meinungsfreiheit, die durchaus nicht zu den „klassischen“ Rechtsgütern des § 823 I BGB gehört, die Grundrechte als Abwehrrechte und Eingriffsverbote anwende, wie meine Ausführungen zum Lüth-Fall zeigen – nur muß es sich eben um einen Eingriff durch einen Akt des Staates handeln. Ebenso würde ich selbstverständlich für Eingriffe in das Recht am Gewerbebetrieb und das allgemeine Persönlichkeitsrecht entscheiden, sofern der Eingriff durch einen Akt des Staates, also insbesondere durch eine Norm (des Privatrechts) erfolgt. Eine gewisse Besonderheit weisen unmittelbare Eingriffe in die „klassischen“ Rechtsgüter des § 823 I BGB allerdings insofern auf, als bei ihnen nach richtiger Ansicht die Rechtswidrigkeit indiziert wird und nur durch einen besonderen Rechtfertigungsgrund wie z. B. Notwehr ausgeschlossen werden kann. Der Rechtfertigungsgrund ist nun seinerseits in einer staatlichen Norm enthalten, und daher stellt sich hier die Frage, ob dieser Norm gegenüber die Grundrechte in ihrer Funktion als Abwehrrechte und Eingriffsverbote anwendbar sind. Das ist deshalb nicht ohne weiteres zu bejahen, weil dabei nicht der Staat selbst den Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut vornimmt, sondern eine Privatperson. Andererseits handelt es sich aber immerhin um die Erteilung einer [12] Eingriffsbefugnis durch den Staat. Ich neige daher dazu, die die Rechtfertigungsgründe enthaltenden Normen unmittelbar an der negatorischen Funktion der Grundrechte zu messen, doch erscheint es auch diskutabel, hier lediglich die Schutzgebotsfunktion heranzuziehen. Es handelt sich also wieder um einen Grenzfall. Jedenfalls ist festzuhalten, daß auch bei unmittelbaren Eingriffen in die „klassischen“ Rechtsgüter des § 823 I BGB nicht das Verhalten des eingreifenden Privatrechtssubjekts, sondern allenfalls die im Rechtfertigungsgrund liegende staatliche Eingriffsbefugnis an der negatorischen Funktion der Grundrechte zu messen ist. Darüber geht Schwabe insofern weit hinaus, als er bei allen Eingriffen eines Privatrechtssubjekts in die Freiheitssphäre eines anderen, die deliktsrechtlich nicht sanktioniert sind – und sei es sogar mangels Tatbestandsmäßigkeit –, eine zugrunde liegende staatliche Eingriffsbefugnis annimmt. Das halte ich aus den seinerzeit dargelegten und hier nicht zu wiederholenden Gründen sowohl rechtstheoretisch als auch privatrechtsdogmatisch für überzogen. 4. Fazit: Entgegen der Ansicht von Schwabe läßt sich die Wirkungsweise der Grundrechte im Privatrecht weder für das Vertrags- noch für das Deliktsrecht einheitlich beurteilen. Entscheidend ist nicht die Unterscheidung nach Rechtsge-
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bieten, sondern die – ebenso elementare wie sachgerechte, wenn auch in Grenzfällen nicht immer leicht durchzuführende – Unterscheidung zwischen Akten des Staates und Akten von Privatpersonen.
Verstöße gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot im Recht der Geschäftsfähigkeit und im Schadensersatzrecht JZ 1987, S. 993–1004 Der folgende Beitrag überprüft, angeregt durch die Entscheidung des BVerfG zu § 1629 BGB, das Recht der Geschäftsfähigkeit auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und kommt zu dem Ergebnis, daß eine Reihe von Vorschriften wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot verfassungswidrig sind. Anschließend werden auch für das Schadensersatzrecht einige – z. T. drastische – Konsequenzen aus dem Übermaßverbot gezogen. I. Die unmittelbare Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte und das verfassungsrechtliche Übermaßverbot Manche Anhänger der Lehre von der „mittelbaren“ Drittwirkung sind der Ansicht, daß die Grundrechte nicht nur gegenüber Akten von Privatrechtssubjekten – also vor allem Rechtsgeschäften und unerlaubten Handlungen –, sondern überhaupt „im Privatrecht“ lediglich „mittelbar“ gelten, und ziehen daraus offenkundig den Schluß, daß auch der Privatrechtsgesetzgeber und der das Privatrecht anwendende und fortbildende Richter nur „mittelbar“ an die Grundrechte gebunden ist1. Noch vor kurzem hat sich Zöllner in einer Weise geäußert, die man wohl nur in diesem Sinne verstehen kann 2. Dem ist in Übereinstimmung mit der h. L.3 zu widersprechen4. Das folgt ohne weiteres aus Art. 1 III GG, wonach „die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar (!) geltendes Recht binden“. Daß darunter Gesetzgebung und Rechtspre-
1 Vgl. z. B. Dürig in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz GG Art. 3 I Rdn. 506 und 510; Kopp AöR 101 (1976) 169; Rupp, 2. Festschr. für Wilburg, 1975, S. 149. 2 Vgl. Zöllner RDV 1985, 6 in Kritik an meinen Ausführungen AcP 184 (1984) 210 ff. und dazu meine Replik ZIP 1987, 417. 3 Vgl. z. B. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. 1985, Rdn. 355; Bleckmann, Staatsrecht II, 2. Aufl. 1985, § 10 V 7 a; Gallwas, Grundrechte, 1985, S. 65 ff.; Badura, Staatsrecht, 1986, Rdn. C 21. 4 Vgl. näher Canaris AcP 184 (1984) 210 ff.
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chung auf dem Gebiete des Privatrechts nicht fallen, daß also insoweit eine teleologische Reduktion von Art. 1 III GG vorzunehmen ist, hat noch niemand überzeugend zu begründen vermocht. Es ist auch nicht zu erwarten, daß das jemals gelingen wird. In den praktischen Auswirkungen ist es nämlich weitgehend gleichgültig, ob ein Grundrecht durch eine Norm des öffentlichen Rechts oder eine solche des Privatrechts berührt wird5. So kann es keinen prinzipiellen Unterschied machen, ob z. B. – um an die Lüth- und die Mephistoentscheidung des BVerfG anzuknüpfen – eine Meinungsäußerung oder eine Buchpublikation durch eine Vorschrift des Verwaltungs- oder des Privatrechts – hier der §§ 823 I und/oder 826 BGB i. V. mit analoger Anwendung von § 1004 BGB – untersagt wird; denn staatlichem Zwang ist der Betroffene hier wie dort in ganz ähnlicher Weise ausgesetzt. Daß im Privatrecht kollidierende Interessen anderer Privatrechtssubjekte im Spiel sind, wie immer wieder eingewandt wird, kann keine grundlegend andersartige Form des Grundrechtsschutzes gegenüber dem Privatrechtsgesetzgeber und der ihn ergänzenden oder gar ersetzenden privatrechtlichen Rechtsprechung rechtfertigen, weil derartige Kollisionen auch im öffentlichen Recht – etwa im Strafrecht, im Umweltschutzrecht, im Baurecht, zum Teil auch im Sicherheitsrecht – gang und gäbe sind 6 und also kein Spezifikum des Privatrechts bilden. So hat denn auch das BVerfG die unmittelbare Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte in einer Reihe von Entscheidungen wie z. B. im Feldmühlefall, im Spanierfall, im Mitbestimmungsurteil und jüngst in dem Beschluß zur (teilweisen) Verfassungswidrigkeit von § 1629 BGB mit Selbstverständlichkeit vorausgesetzt7. Man sollte daher die Unmittelbarkeit der Grundrechtsbindung von Gesetzgebung und Rechtsprechung auf dem Gebiete des Privatrechts nicht länger in Zweifel ziehen. [994] Folgerichtig bedeutet das zugleich, daß auch der Privatrechtsgesetzgeber grundsätzlich an das verfassungsrechtliche Übermaßverbot, also die Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit8 gebunden ist, soweit er Grundrech5 Darauf unermüdlich, wenngleich nicht immer mit der gebührenden Resonanz, hingewiesen zu haben, ist das große Verdienst von Schwabe, vgl. insbesondere AöR 100 (1975) 442 ff. Freilich läßt sich entgegen seiner Ansicht bei weitem nicht die gesamte Problematik des Verhältnisses von Verfassung und Privatrecht mit Hilfe dieses Ansatzes lösen, so daß Schwabe in wesentlichen Punkten nicht gefolgt werden kann, vgl. näher Canaris AcP 184 (1984), 217 ff. und 230 f. sowie AcP 185 (1985) 9 ff.; z. T. ähnlich die Kritik an Schwabe von Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 482 f. und S. 487 f. 6 Vgl. zur Kollisionsproblematik z. B. Rüfner in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Bd. II S. 453, 461 ff.; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 2 ff., 133 ff., 256 ff. und passim; Starck JuS 1981, 245 f.; Jarras AöR 110 (1985) 382 ff. 7 Vgl. BVerfGE 14, 263; 31, 58; 50, 290; 72, 155 = JZ 1986, 632 (dazu Fehnemann, S. 1055). 8 Grundlegend Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, 19 ff., dem hier in der Terminologie und weitgehend auch in der Sache gefolgt wird. Terminologisch abweichend, aber in der Sache weitgehend übereinstimmend verwendet das BVerfG die Verhältnismäßigkeit als Ober-
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te einschränkt. Denn auch insoweit ist eine prinzipielle Sonderstellung des Privatrechts gegenüber anderen Rechtsgebieten nicht zu begründen. Zwar hat das BVerfG in der Mephisto-entscheidung ein privatrechtliches Urteil – und damit der Sache nach auch die in diesem zugrunde gelegte Privatrechtsnorm – nicht am Übermaß-, sondern nur am – wesentlich milderen – Willkürverbot gemessen9, doch war das unzutreffend und ist auch in der weiteren Rechtsprechung des Gerichts, soweit ersichtlich, ohne Konsequenzen geblieben. Deutlich am Übermaßverbot ausgerichtet ist demgegenüber die Entscheidung zu § 1629 BGB. Zwar wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip vom BVerfG hier erstaunlicherweise nicht ausdrücklich beim Namen genannt, doch geht es der Sache nach genau um dieses, wenn das Gericht es als ein Verfassungsgebot ansieht, daß den Kindern nach Erreichung der Volljährigkeit „Raum bleibt, um ihr weiteres Leben selbst und ohne unzumutbare Belastungen zu gestalten“10. Das ist offenkundig ein Schutz nicht lediglich vor „willkürlichen“, sondern darüber hinaus vor „übermäßigen“ Belastungen. Die Entscheidung legt es nahe, Umschau nach weiteren Übermaßverstößen im Privatrecht zu halten. Daß es dabei um den Schutz Minderjähriger ging, lenkt den Blick zunächst auf das Recht der Geschäftsfähigkeit. Daß es um den Schutz vor übermäßigen Zahlungspflichten ging, regt darüber hinaus zu einer Überprüfung des Schadensersatzrechts an, wo die Gefahr „übermäßiger" Belastungen heutzutage besonders eklatant ist. Diesen beiden Gebieten sind daher die folgenden Untersuchungen gewidmet. II. Grundlagen des verfassungsrechtlichen Schutzes der privatrechtlichen Handlungsfreiheit und Persönlichkeitsentfaltung vor übermäßigen Beeinträchtigungen 1. Der Schutz der Privatautonomie Daß die Privatautonomie grundsätzlich verfassungsrechtlich gewährleistet ist, ist nahezu unumstritten11. Grundlage ist dabei in erster Linie Art. 2 I GG. Daneben – und systematisch gesehen dann als lex specialis vorrangig – kommen auch andere Grundrechte wie z. B. Art. 5 I 2, 5 III, 6 I, 9 I, 12 und 14 GG in Betracht. In der Tat kann der Staat die Mündigkeit und das Selbstbestimmungsrecht seiner begriff und ordnet diesem die Eignung, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit i. e. S. oder auch Zumutbarkeit unter, vgl. näher Grabitz AöR 98 (1973) 570 f. m. Nachw. 9 Vgl. BVerfGE 30, 173, 199 f. 10 Vgl. BVerfGE 72, 155, 173. 11 Vgl. zuletzt BVerfGE 70, 115, 123; 72, 155, 170.
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Bürger nicht besser respektieren als dadurch, daß er ihnen die Regelung ihrer Beziehungen untereinander möglichst weitgehend selbst überläßt und ihnen dafür das erforderliche rechtliche Instrumentarium zur Verfügung stellt. Die Privatautonomie ist daher ein elementares Mittel zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Darüber hinaus besteht auch ein enger Zusammenhang mit der Wahrung der Würde des Menschen nach Art. 1 GG; denn die Gefahr, daß der Bürger zum bloßen Objekt staatlicher Fremdbestimmung degradiert wird, nimmt in dem Maße zu, in dem der Staat die Regelung zwischenmenschlicher Rechtsbeziehungen an sich zieht. Die in der Rechtsprechung des BVerfG verbreitete Formulierung, Art. 2 I GG sei „in Verbindung mit Art. 1 GG“ anzuwenden, hat also jedenfalls für den Kernbereich der Privatautonomie trotz ihrer Vagheit einen guten Sinn. Neben ihrer Verbürgung durch den Grundrechtskatalog wird die Privatautonomie grundsätzlich auch durch die Staatszielbestimmungen des Art. 20 GG gewährleistet. Das wird leider viel zu selten betont, ist jedoch von großer Bedeutung, weil erst dadurch der wahre Rang der Privatautonomie in der geltenden Rechts- und Verfassungsordnung voll sichtbar wird. Vor allem besteht eine enge Verbindung zum Demokratieprinzip12. Darin sind sich z. B. so unterschiedliche Geister wie Hans Kelsen und Franz Böhm einig. Mit Recht hat jener den Vertrag als „eine ausgesprochen demokratische Methode der Rechtsschöpfung“ bezeichnet, weil die „zu verpflichtenden Subjekte an der Erzeugung der verpflichtenden Norm beteiligt sind“13. Noch tiefer eindringend hat letzterer herausgearbeitet, daß „dem demokratischen Staat die Privatrechtsgesellschaft“ – und mithin auch und gerade die Privatautonomie als deren Kern – „als die staatstragende Gesellschaft zugeordnet ist und daß die Freiheit des Staatsbürgers, die ihn instand setzt, sein Wahlrecht und die übrigen politischen Mitbestimmungsrechte im demokratischen Staat auszuüben, zur Hauptsache aus der Freiheitswelt der Privatrechtsgesellschaft stammt“14. Auch ist er nicht müde geworden, die Wettbewerbswirtschaft mit einer „plebiszitären Demokratie“, einem „das ganze Jahr hindurch vom Morgen bis in die Nacht währenden Volksreferendum“ zu vergleichen und zu betonen, daß sie sich „aufs Vollkommenste in eine politische Demokratie einfügt, weil sie in sich selbst ein demokratischer Vorgang ist“15. Ähnlich sagt Fikentscher, daß „in der freiheitlichen Demokratie in wirtschaftlicher Hinsicht stets eine Grundsatzentscheidung für die Marktwirtschaft fällt“, weil der Markt „ein Dialog über 12 Vgl. auch Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts, 1967, S. 136. 13 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 285. 14 Vgl. Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, in: Kartelle und Monopole im modernen Recht, 1961, S. 14; vgl. ferner z. B. Ordo 4 (1951) S. 71 ff. (74 f.) und S. 85 ff. 15 Vgl. Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1951, S. 51; ähnlich z. B. Reden und Schriften, 1960, S. 173; Ordo 17 (1966) S. 92 f.
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wirtschaftliche Werte“ sei und Marktwirtschaft demgemäß der Ausübung von Meinungsfreiheit diene16. Trotz mancher Einwände, die gegen den Vergleich mit dem Plebiszit erhoben worden sind 17, besteht in der Tat ein elementarer Zusammenhang zwischen Privatautonomie und Demokratieprinzip. Dieser beruht nicht nur auf der Beteiligung der Bürger – rechtlich durch die unmittelbare Mitwirkung an der Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen zu anderen Personen und faktisch durch die Auswahlentscheidungen am Markt –, sondern auch auf der Verwandtschaft der rechts- und staatsphilosophischen Grundlagen. Denn Privatautonomie und Demokratie sind auf die gleichen Grundwerte bezogen: Freiheit und Gleichheit. Auch hat der urdemokratische Grundsatz, daß die Mehrheit entscheidet, seine Wurzel letztlich in einer ganz ähnlichen Zurückhaltung gegenüber dem Oktroi des „Richtigen“ wie das die Privatautonomie und die Wettbewerbswirtschaft konstituierende Prinzip, daß ein „iustum pretium“ nicht festgelegt und die Entscheidung der Parteien, ja deren „Willkür“ grundsätzlich respektiert wird – mag diese Zurückhaltung nun auf erkenntniskritischem Skeptizismus, Wertrelativismus, Achtung vor der Person des anderen und seiner Meinungs- und Entscheidungsfreiheit oder worauf auch immer beruhen. Hinzu kommt überdies, daß Privatautonomie und Wettbewerbswirtschaft auch ein vorzügliches Instrument der Gewaltenteilung und der Machtneutralisierung [995] darstellen18. Denn sie führen zu einer weitgehenden Dezentralisierung der Entscheidungen und – jedenfalls bei Vorliegen ihrer faktischen Funktionsvoraussetzungen – zu wechselseitiger Ausbalancierung privater Macht. Außerdem wirken sie dem „Übermut der Amter“ entgegen, indem sie Kompetenzen vom Staat auf den Bürger verlagern. Insgesamt ist die Privatautonomie somit nicht nur ein Grundrecht im Sinne eines subjektiven Individualrechts, sondern zugleich ein Mittel zur Gewährleistung „freiheitlich geordneter Lebensbereiche“ im Sinne des institutionellen Grundrechtsverständnisses. Wie alle institutionellen Garantien ist die Privatautonomie auf Ausgestaltung durch den einfachen Gesetzgeber angelegt und angewiesen. Welche Schranken diesem dabei gesetzt sind, ist umstritten. Eine äußerst großzügige Position vertritt insoweit vor allem Flume. Nach seiner Meinung wird „das Problem der Privatautonomie und im besonderen der Vertragsfreiheit unrichtig gesehen, wenn das Recht auf Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse mit den sonstigen im GrundVgl. Fikentscher, Wirtschaftsrecht Bd. I, 1983, § 1 I 11. Vgl. dazu – mit im einzelnen unterschiedlichen Akzentsetzungen – z. B. Marbach ZStW 107, 549; Ballerstedt, Wirtschaftsverfassungsrecht, in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte III 1, 1958, S. 41 f.; Zacher, 1. Festschr. für Böhm, 1965, S. 92 f.; Runge, Antinomien des Freiheitsbegriffes im Rechtsbild des Ordoliberalismus, 1971, S. 168 f.; Kübler, Festschr. für Raiser, 1974, S. 718 f. (vgl. aber auch S. 772 f.). 18 Ebenso generell hinsichtlich des Privatrechts Bydlinski, Privatrecht und umfassende Gewaltenteilung, 2. Festschrift für Wilburg, 1975, S. 53 ff., insbesondere S. 67. 16 17
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rechtskatalog aufgeführten Freiheitsrechten bezüglich des Verhältnisses zur Rechtsordnung auf eine Stufe gestellt wird“. Demgemäß sollen sich, „weil die Vertragsfreiheit – Vertragsfreiheit ist zu verstehen als pars pro toto der Privatautonomie – nur nach Maßgabe der Rechtsordnung bestehen kann, aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Vertragsfreiheit keine konkreten Folgerungen für den Inhalt der Privatrechtsordnung ergeben ...“ Daher „würde eine besondere Statuierung der Vertragsfreiheit und die Gegenüberstellung der Rechtsordnung etwa in der Weise, daß Inhalt und Schranken der Vertragsfreiheit durch die Gesetze bestimmt würden, in Wirklichkeit nichts besagen“; das sei anders als „hinsichtlich des Eigentums (Art. 14 GG), (weil) die Zuordnung der Güter in dem weiten Sinne des Art. 14 GG eine konkrete Institution unserer Rechtsordnung ist“19. Obwohl Flume mit dieser Ansicht im Schrifttum breite Zustimmung gefunden hat20, ist ihm nicht zu folgen. Daß die Privatautonomie und insbesondere die Vertragsfreiheit „nur nach Maßgabe der Rechtsordnung bestehen kann“, ist nämlich eine Eigenschaft, die sie mit allen Institutsgarantien wie Eigentum und Erbrecht, Vereins- und Koalitionsfreiheit, ja sogar Ehe und Familie teilt. Folglich kann darin kein Grund für eine qualitativ andere Art und ein generell vermindertes Maß des verfassungsrechtlichen Schutzes liegen. Auch sind Privatautonomie und Vertragsfreiheit nicht weniger „naturwüchsig“, d. h. der Rechtsordnung grundsätzlich schon vorgegeben21, als die anderen Institutsgarantien. Das kommt treffend darin zum Ausdruck, daß die h. L., der übrigens auch Flume folgt, sie nicht mit der Kategorie der „Delegation“, sondern mit der der „Anerkennung“ rechtsquellentheoretisch einordnet22. Es liegt also auch hier grundsätzlich dieselbe wechselseitige Verschränkung und Ergänzung zwischen einer der staatlichen Rechtsordnung vorausliegenden, ja geradezu „apriorischen“23 Möglichkeit und Einrichtung menschlichen Zusammenlebens einerseits und der Ausstattung mit
Vgl. Flume, Allg. Teil des Bürg. Rechts Bd. II 3. Aufl. 1979, § 1, 10 a mit Fn. 24. Vgl. z. B. L. Raiser, Grundgesetz und Privatrechtsordnung, 1967, S. 19; Stein, Die Wirtschaftsaufsicht, 1967, S. 64 ff.; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1968, S. 50 f.; M. Wolf in: Grundlagen des Vertrags- und Schuldrechts, 1972, S. 29 f.; Roscher, Vertragsfreiheit als Verfassungsproblem, 1974, S. 54 ff.; Kreutz, Grenzen der Betriebsautonomie, 1979, S. 117 f. m. w. Nachw.; der Sache nach ähnlich ferner H. Huber, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Vertragsfreiheit, 1966, S. 6 ff.; Schmidt-Salzer NJW 1970, 14 f. 21 Vgl. dazu statt aller Fritz von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, 1936, S. 57 ff., 74 ff., 91 ff. 22 Vgl. Flume, aaO (Fn. 19) § 1, 2 a. E.; vgl. im übrigen näher Canaris AcP 184 (1984) 217 ff. m. umf. Nachw. 23 Vgl. dazu Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, 1913 (Neudruck 1953), S. 54 ff. 19 20
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staatlichen Rechtssanktionen andererseits vor wie bei den übrigen Institutsgarantien. Praktisch bedeutet das vor allem, daß Einschränkungen der Privatautonomie nicht nur am Willkürverbot, sondern auch am Übermaßverbot, also den Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu messen sind. Davon geht denn auch das BVerfG mit Selbstverständlichkeit aus24. In der Tat ist das nicht nur ein Gebot der dogmatischen Folgerichtigkeit, sondern auch der praktischen Effizienz, liefe doch die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie weitgehend leer, wenn man ihr den Schutz des Übermaßverbotes vorenthielte; denn ihre Bedrohung liegt – jedenfalls derzeit –nicht in massiven Eingriffen in ihren Kernbereich oder Wesensgehalt, sondern in der Gefahr einer schleichenden Aushöhlung – und dagegen läßt sich allenfalls mit Hilfe des Übermaßverbotes etwas ausrichten. Dessen Intensität bzw. die Weite des dem einfachen Gesetzgeber verbleibenden Gestaltungsspielraums differieren dabei wie auch sonst bereichsspezifisch und hängen insbesondere von Ausmaß und Tiefe des Eingriffs sowie seiner Nähe zum Kern der Persönlichkeit ab. Dabei entfaltet das Übermaßverbot Wirksamkeit nicht nur gegenüber echten „Außenschranken“ der Privatautonomie wie z. B. Vorschriften des Devisen- oder des Wirtschaftsaufsichtsund -lenkungsrechts, sondern auch bei der Ausgestaltung von „Innenschranken“, immanenten Funktionsvoraussetzungen oder Grundrechtsprägungen und -verdeutlichungen25; so wäre z. B. die Festlegung der Geschäftsfähigkeit auf 25 Jahre zweifellos nicht nur im Bereich des Eherechts, sondern auch in dem des allgemeinen Vertragsrechts wegen Verletzung des Übermaßverbots verfassungswidrig – wie andererseits auch eine zu weitgehende Senkung des maßgeblichen Alters wegen Verletzung der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte und des aus dieser folgenden Untermaßverbots26 gegen die Verfassung verstoßen könnte. Insgesamt kann somit entgegen der Ansicht Flumes keine Rede davon sein, daß eine besondere verfassungsrechtliche Statuierung der Privatautonomie „in Wirklichkeit nichts besagen würde“ und daß sich „aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Vertragsfreiheit keine konkreten Folgerungen für den Inhalt der Privatrechtsordnung ergeben“. Daß das falsch ist, belegt schon die Entscheidung des BVerfG zu § 1629 BGB zur Genüge; weitere Konsequenzen werden sogleich unter III sowie auch unter IV 3 gezogen werden.
Vgl. z. B. BVerfGE 60, 329, 339; 65, 196, 215. Anders Lerche aaO (Fn. 8) S. 140, 153. 26 Vgl. dazu Canaris AcP 184 (1984) 225 ff. 24 25
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2. Der verfassungsrechtliche Schutz des Schädigers im Schadensersatzrecht Eine Grundaufgabe – und zugleich ein Grunddilemma – des Schadensersatzrechts besteht darin, einen vernünftigen Kompromiß zwischen dem Ausgleichsund Präventionsinteresse des Geschädigten einerseits und der Handlungsfreiheit des Schädigers andererseits zu finden. Der Trend der Zeit ist auf eine Überbetonung des ersteren gerichtet. Auch letztere ist indessen von hohem Rang und sogar verfassungsrechtlich geschützt. Mit Recht hat nämlich das BVerfG in der gesetzlichen Begründung zivilrechtlicher Zahlungspflichten einen Eingriff in Art. 2 I GG gesehen und diesen am Verhältnismäßigkeitsprinzip gemessen27. Auch wenn es das bisher nur für das Familienrecht ausgesprochen hat, kann doch für das Schadensersatzrecht folgerichtig grundsätzlich nichts anderes gelten. Dabei kann jedenfalls bei exorbitanten, insbesondere ruinösen Ersatzpflichten nicht nur die Handlungsfreiheit des Schädigers, sondern auch dessen Persönlichkeitsrecht betroffen sein; das ist wichtig, weil dieses einen intensiveren verfassungsrechtlichen Schutz genießt als jene28. [996] Auch andere Grundrechte können berührt sein. Daß Schadensersatzansprüche und die korrespondierenden negatorischen Ansprüche gegen Art. 5 I GG verstoßen können, ist seit dem Lüth-Urteil allgemein anerkannt. Auch die Freiheit von Forschung und Wissenschaft gemäß Art. 5 III GG kann durch übermäßige Schadensersatzansprüche verletzt sein29. Die Berufshaftung – etwa eines Chirurgen, Architekten, Rechtsanwalts usw. – berührt grundsätzlich die Freiheit der Berufsausübung gemäß Art. 12 I 2 GG, da eine unmittelbar berufslenkende Regelung dafür nicht unbedingt erforderlich ist 30 und eine übermäßig hohe Ersatzpflicht die weitere Berufsausübung geradezu (finanziell) sinnlos machen kann. Art. 14 GG schützt nach der Ansicht des BVerfG zwar nicht vor der Auferlegung von privatrechtlichen Geldleistungspflichten, „die einen verhältnismäßig geringen Umfang haben“31, doch liegt der Umkehrschluß für sehr hohe Geldleistungspflichten nahe, zumal das BVerfG bei Steuerpflichten mit „Erdrosselungswirkung“ grundsätzlich einen Verstoß gegen Art. 14 GG bejaht 32. Zumindest ruinöse und wohl auch katastrophal hohe Schadensersatzpflichten dürften daher nicht lediglich an Art. 2 I GG, sondern sogar an Art. 14 GG zu messen
Vgl. z. B. BVerfGE 57, 361, 378 und 380; 63, 88, 109 und 115. Vgl. nur BVerfGE 54, 143, 153. 29 Vgl. Heidrich, Freiheit der Wissenschaft – Freiheit zum Irrtum? 1987, der im deliktsrechtlichen Bereich sogar eine Beschränkung der Haftung auf grobe Fahrlässigkeit annimmt. 30 Vgl. z. B. BVerfGE 13, 181, 185 f.; 46, 120, 137 f. 31 So BVerfGE 37, 121, 131. 32 Vgl. z. B. BVerfGE 30, 250, 272; 63, 343, 368 m. w. Nachw. 27 28
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sein. Wie dem aber auch sei – jedenfalls unterliegen sie dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot. III. Verstöße gegen das Übermaßverbot im Recht der Geschäftsfähigkeit 1. Problemstellung Daß die Vorschriften über die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit eine geradezu dramatische Einschränkung nicht nur der allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern darüber hinaus auch des Persönlichkeitsrechts oder der „engeren persönlichen Lebenssphäre“ darstellen und demgemäß am Maßstab von Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG zu messen sind, ist – spätestens – durch die Entscheidung des BVerfG zu § 1629 BGB ins allgemeine Bewußtsein getreten. Auch andere Normen aus diesem Bereich müssen daher einer Prüfung auf einen Verfassungsverstoß unterzogen werden. Besonders verdächtig ist dabei im Hinblick auf das Übermaßverbot § 105 BGB. Denn daß danach unheilbare Nichtigkeit und nicht nur wie nach §§ 107 ff BGB schwebende Unwirksamkeit mit der Folge der Genehmigungsfähigkeit eintritt, ist jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des vom Gesetz bezweckten Schutzes des Geschäftsunfähigen alles andere als einleuchtend 33. Zwar ist es hier bisher offenbar nicht zu eklatanten praktischen Mißständen mit größerer Breitenwirkung gekommen, doch lassen sich unschwer Beispiele bilden, die die außerordentliche Fragwürdigkeit dieser Regelung sofort sinnfällig machen. Hat jemand z. B. im Zustande des § 104 Ziff. 2 BGB einen Versicherungsvertrag abgeschlossen, so ist dieser nach § 105 I BGB unheilbar nichtig, auch wenn der Versicherungsfall eingetreten ist und die Prämien ordnungsgemäß bezahlt sind – ein Ergebnis, das dem Schutz des Geschäftsunfähigen geradezu ins Gesicht schlägt. Natürlich läßt sich das Beispiel beliebig variieren – etwa in Richtung auf einen günstigen Aktienoder Grundstückskauf. Die Problematik ist auch nicht etwa auf die Fälle von § 104 Ziff. 2 BGB beschränkt. So sind Rechtsgeschäfte eines Geisteskranken nach der Entmündigung gemäß § 104 Ziff. 3 i. V. m. § 105 BGB unheilbar nichtig – mit den gleichen mißlichen Konsequenzen für die soeben genannten Fälle. Und warum kann ein sechsjähriges Kind nach § 104 Ziff. 1 i. V. m. § 105 I BGB keine Schenkung annehmen und keinen – u. U. wirtschaftlich sehr günstigen! – Brief-
33 Im Schrifttum wird die exorbitante Rechtsfolge des § 105 BGB. meist kommentarlos hingenommen; kritisch aber immerhin Dölle, Festschr. für Nipperdey, 1965, Bd. I S. 23 ff., jedoch nur für „Bagatellschenkungen“; Bucher AcP 186 (1986) 39 ff., der im Einzelfall mit § 242 BGB helfen will.
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markentausch vornehmen, während ein siebenjähriges Kind das nach § 107 bzw. § 110 BGB kann? Übermaßverdächtig sind auch die Vorschriften über die Testierfähigkeit. Wer z. B. wegen altersbedingter Geistesschwäche entmündigt ist, kann gemäß § 2229 III BGB auch mit Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters kein Testament errichten und daher etwa seine Pflegerin nicht von Todes wegen bedenken, auch wenn er dafür noch die notwendige Einsichtsfähigkeit besitzt und die Voraussetzungen von § 2229 IV BGB also nicht vorliegen. Noch fragwürdiger ist der Verlust der Testierfähigkeit bei Entmündigung wegen Trunk- oder Rauschgiftsucht. Andererseits können diese Personen nach § 2275 BGB mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters einen Erbvertrag mit ihrem Ehegatten schließen und nach § 3 EheG mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters heiraten, so daß die Höchstpersönlichkeit der Testamentserrichtung für sich allein die Beschränkung der Testierfähigkeit durch § 2229 III BGB nicht legitimieren kann. 2. Die Nichtigkeit von § 105 BGB und seine Ersetzung durch analoge Anwendung der §§ 107 ff BGB Die Mißlichkeiten, die sich aus der durch § 105 BGB angeordneten Vollnichtigkeit ergeben, wären mit einem Schlage beseitigt, wenn an ihrer Stelle die §§ 107 ff BGB gelten würden. Es drängt sich daher der Schluß auf, daß § 105 BGB „übermäßig“ in die Rechtsstellung des Geschäftsunfähigen eingreift und daher wegen Verstoßes gegen Art. 2 I GG i. V. m. den Prinzipien der Erforderlichkeit und/oder Verhältnismäßigkeit nichtig ist. Anders könnte nur dann zu entscheiden sein, wenn die von § 105 BGB angeordnete Vollnichtigkeit den Schutz des Geschäftsunfähigen besser verwirklichen würde als schwebende Unwirksamkeit oder durch die Interessen des Dritten oder sonstige Sachgründe legitimiert wäre. Zum Schutz des Geschäftsunfähigen ist die Vollnichtigkeit weder erforderlich noch auch nur sinnvoll. Denn durch die Anwendung der §§ 107 ff. BGB kann er keine relevanten Nachteile erleiden, da das Gesetz ihm nur rechtlich vorteilhafte Geschäfte ermöglicht und die Geltung des Geschäfts in allen anderen Fällen in die Entscheidung des gesetzlichen Vertreters stellt. Daß das Gesetz selbst ebenfalls von dieser Wertung ausgeht, zeigt sich schlagend an den Beispielen des § 114 BGB: Wäre zum Schutz des Geschäftsunfähigen Vollnichtigkeit geboten, dürfte das Gesetz nicht im Falle der Entmündigung wegen Geistesschwäche und der vorläufigen Vormundschaft nach § 1906 BGB nur schwebende Unwirksamkeit anordnen. Das Gebot wertungsmäßiger Folgerichtigkeit verbietet daher eine Legitimation von § 105 BGB aus dem Gedanken des Schutzes des
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Geschäftsunfähigen, so daß insoweit Art. 3 GG flankierend zu Art. 2 I GG hinzutritt34. Allerdings lassen sich die hier drohenden Wertungswidersprüche z. T. beseitigen oder zumindest mildern. So ist z. B. nach h. L. ein Rechtsgeschäft, das ein wegen Geistesschwäche Entmündigter oder unter vorläufige Vormundschaft Gestellter vorgenommen hat, nicht lediglich gemäß §§ 107 ff. BGB schwebend unwirksam, sondern gemäß § 105 I BGB voll nichtig, wenn zusätzlich die Voraussetzungen von § 104 Ziff. 2 BGB vorliegen35. Welchen vernünftigen Sinn aber soll das unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Geschäftsunfähigen haben?! Er kann sich nur wünschen, daß dem anderen [997] Teil der Beweis der Voraussetzungen von § 104 Ziff. 2 BGB mißlingen möge, weil dann sein gesetzlicher Vertreter grundsätzlich die Möglichkeit zur Aufrechterhaltung eines vorteilhaften Geschäfts hat. Auch lassen sich die Wertungswidersprüche auf diesem Wege keineswegs vollständig ausräumen. So liegt ein solcher sicher darin, daß während der Dauer der vorläufigen Vormundschaft grundsätzlich Genehmigungsfähigkeit nach §§ 107 ff. BGB gegeben ist, bei anschließender Entmündigung wegen Geisteskrankheit aber unheilbare Nichtigkeit nach § 105 I BGB eintritt. Ob dem anderen Teil der Beweis, daß die Voraussetzungen von § 104 Ziff. 2 BGB vor der Entmündigung gegeben waren, gelingen wird, ist zumindest für Rechtsgeschäfte, die zeitlich nicht unmittelbar vor der die Entmündigung stützenden medizinischen Befunderhebung liegen, durchaus ungewiß; andererseits verliert der wegen Geisteskrankheit Entmündigte die im Rahmen von § 104 Ziff. 2 BGB gegebene Möglichkeit, sich auf ein „lucidum intervallum“ zu berufen35. Die Praxis zeigt denn auch ein gutes Gespür für die hier drohenden Widersinnigkeiten und vermeidet sie teilweise, indem sie offenbar meist nicht wegen Geisteskrankheit, sondern nur wegen Geistesschwäche entmündigt oder es einfach bei der Anordnung einer vorläufigen Vormundschaft nach § 1906 BGB beläßt bzw. lediglich einen Gebrechlichkeitspfleger nach § 1910 BGB bestellt36. Das ist zwar rechtlich nicht zu beanstanden, weil es den weniger schwer wiegenden Eingriff darstellt und die notwendigen Verfahrensgarantien auch hier gewährleistet werden können37, stellt aber ein durchschlagendes Indiz für die Sachwidrigkeit der Regelung von § 105 I BGB dar. Man sollte daher diese selbst beseitigen, statt sie auf Um- und Schleichwegen auszuschalten. Das gilt um so mehr, als deren Begehung ja keineswegs von Rechts wegen mit Sicherheit gewährleistet ist und die schutzzweckwidrigen Folgen von § 105 I BGB somit durchaus nicht in allen Fällen vermieden 34 Systembrüche sind grundsätzlich Indizien für Verstöße gegen Art. 3 I GG, vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 125 ff. m. Nachw. aus der Rspr. des BVerfG. 35 Vgl. statt aller MünchKomm.-Gitter 2. Aufl. 1984, § 114 Rdn. 4. 36 Vgl. z. B. Staudinger/Coing/Habermann 12. Aufl. 1980, § 6 Rdn. 5 und 53; RGR-Komm.Krüger-Nieland 12. Aufl. 1982, § 6 Rdn. 15. 37 Vgl. BVerfGE 19, 93, 97 ff.; BGH NJW 1978, 992, 993 f.
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werden können. Es bleibt somit dabei, daß die von § 105 I BGB angeordnete Vollnichtigkeit ein unverhältnismäßiges Übermaß darstellt, soweit es um den Schutz des Geschäftsunfähigen geht. Dem läßt sich auch nicht etwa das Argument entgegenhalten, der Schutz des § 105 BGB wäre deshalb stärker, weil allein bei Vollnichtigkeit die Vorschriften über die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung nach §§ 1821 f. BGB eingriffen. Denn selbstverständlich gelten diese nicht nur dann, wenn der Vormund selbst ein Geschäft namens des Mündels vornimmt, sondern auch dann, wenn er lediglich einem von diesem vorgenommenen Geschäft zustimmt38, würde doch andernfalls z. B. die Mitwirkung eines Schwachsinnigen oder unter vorläufige Vormundschaft Gestellten die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts ersetzen. Auch der Schutz des Dritten legitimiert die Vollnichtigkeit nicht. Für den Fall des § 104 Ziff. 1 BGB ist das evident, da das Bedürfnis nach einem Schutz des Dritten nicht verschieden ist je nachdem, ob das Kind das siebente Lebensjahr vollendet hat oder nicht. Für die Fälle von § 104 Ziff. 2 und 3 BGB gilt im Ergebnis nichts anderes. Man könnte insoweit höchstens sagen, der Dritte solle durch die Vollnichtigkeit vor dem Schwebezustand bewahrt bleiben, der bei Anwendung der §§ 107 ff. BGB entstünde. Im Falle von § 104 Ziff. 3 BGB ist diese Argumentation jedoch von vornherein verfehlt, weil die Lage des Dritten bei Entmündigung wegen Geisteskrankheit keine andere ist als bei Entmündigung wegen Geistesschwäche oder bei Anordnung einer vorläufigen Vormundschaft nach § 1906 BGB und das Gesetz in diesen Fällen dennoch in § 114 BGB nur schwebende Unwirksamkeit vorsieht. In den Fällen des § 104 Ziff. 2 BGB kann allerdings für den Dritten insofern ein Schwebezustand entstehen, als nicht von vornherein sicher ist, ob und wann eine Entmündigung erfolgt und ein Vormund bestellt wird. Das ist jedoch schon deshalb kein tragendes Argument für die Nichtigkeitsfolge des § 105 BGB, weil auch in den Fällen der §§ 107 ff. und 114 BGB der gesetzliche Vertreter fehlen kann – wie z. B. dann, wenn er gestorben ist oder zwar eine Entmündigung ausgesprochen, jedoch noch kein Vormund bestellt ist. Überdies ist der Dritte durch das Widerrufsrecht nach § 109 BGB ausreichend geschützt. Der Widerruf kann dabei analog § 109 I 2 BGB auch dem Geschäftsunfähigen gegenüber erklärt werden und setzt daher nicht die Bestellung eines Vormunds voraus; würde man die Analogie insoweit nicht ziehen und also auf den Widerruf § 131 BGB anwenden, so würde der Widerruf doch spätestens wirksam, wenn der gesetzliche Vertreter von dem Geschäft erfährt, so daß der Dritte auch bei dieser Lösung nicht der Gefahr einer Genehmigung ausgesetzt ist. Es bleibt somit allenfalls die in den Protokollen, wo die mißlichen Konsequenzen der unterschiedlichen Regelung von Geschäftsunfähigkeit und beschränkter Geschäftsfähigkeit durchaus gesehen sind, vorgebrachte Überlegung, 38
Vgl. statt aller Palandt/Diederichsen 46. Aufl. 1987, § 1821 Anm. 1 c.
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es gebe nun einmal „nach der natürlichen Anschauung Zustände, in welchen auch ein tatsächlich vorhandener Wille eine rechtliche Berücksichtigung überhaupt nicht verdiene, selbst dann nicht, wenn die Genehmigung des gesetzlichen Vertreters hinzukomme“, und diese Fälle müßten im Interesse der „Verkehrssicherheit“ an tatbestandlich klare Voraussetzungen geknüpft werden39. Diese Begründung vermag indessen das in der unheilbaren Nichtigkeit liegende Übermaß schon deshalb nicht zu rechtfertigen, weil sie für den tatbestandlich gerade nicht klar umrissenen Fall des § 104 Ziff. 2 BGB gänzlich unpassend ist – auf den sie übrigens in den Protokollen auch nicht bezogen wird – und das Gesetz somit auch in diesem Punkte wiederum wertungsmäßig inkonsistent ist. Außerdem ist dieser Standpunkt rein doktrinär und gänzlich lebensfremd. In vielen einschlägigen Fällen wird es schon an der natürlichen Handlungsfähigkeit fehlen, die ohnehin eine ungeschriebene Voraussetzung für den Tatbestand eines Rechtsgeschäfts ist40. Außerdem wird sich häufig das Angebot bei vernünftiger Auslegung nicht an den Geschäftsunfähigen selbst, sondern an dessen Vertreter richten und also nur von diesem angenommen werden können; denn niemand macht z. B. einem Säugling oder einem gänzlich stumpfsinnigen Vollidioten ein Schenkungsangebot. In den verbleibenden Restfällen aber gibt es keine vernünftigen Gründe, die Genehmigungsfähigkeit bzw. die Möglichkeit einer Annahme nach § 107 BGB bei einem rechtlich vorteilhaften Geschäft zu verneinen. Es bestehen auch keine ausreichenden gesetzesnäheren Abhilfsmöglichkeiten als die Annahme von Nichtigkeit des § 105 I BGB. Der erwähnte Ausweg der Praxis, möglichst nur wegen Geistesschwäche zu entmündigen oder es bei vorläufiger Vormundschaft bewenden zu lassen, ist nicht nur deshalb unbefriedigend, weil er häufig methodenunehrlich ist, sondern auch deshalb, weil er nur im Falle von § 104 Ziff. 3 BGB gangbar ist – und auch das nicht immer und notwendigerweise. Darüber hinaus liegt eine gewisse Abhilfe darin, daß man die Abgrenzung zwischen Geisteskrankheit und Geistesschwäche zugunsten der letzteren verschiebt: Es kommt entgegen der h. L. nicht darauf an, ob die rechtsgeschäftliche Handlungs- und Einsichtsfähigkeit des zu Entmündigenden der eines Kindes unter oder über sieben Jahren gleicht41 – eine schlechterdings absurde Fragestellung, weil niemand sie auch nur einigermaßen seriös beantworten kann. Vielmehr darf wegen Geisteskrankheit allenfalls dann entmündigt werden, wenn der zu Entmündigende mit Sicherheit keinesfalls die [998] Handlungs- und Einsichtsfähigkeit eines Siebenjährigen besitzt. Auch das ist jedoch nur eine Randkorrektur, die das Grundproblem lediglich mildert, aber nicht löst. – Auch mit Hilfe einer Vgl. Prot. I S. 48 und S. 56. Vgl. statt aller Flume aaO (Fn. 19) § 4, 2 a. 41 In diesem Sinne z. B. Staudinger/Coing/Habermann aaO (Fn. 36) § 6 Rdn. 9; RGR-Komm.Krüger-Nieland aaO (Fn. 36) § 6 Rdn. 16; Soergel/Fahse 11. Aufl. 1978, 6 Rdn. 8. 39 40
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Annahme durch den gesetzlichen Vertreter, die ja in der Wirkung immerhin einer Genehmigung weitgehend gleichkommt, ist keineswegs in allen Fällen eine befriedigende Lösung möglich. Das gilt bei Erklärungen unter Anwesenden schon deshalb, weil diese nach § 147 I 1 BGB grundsätzlich nur sofort angenommen werden können. Ein Angebot unter Abwesenden wird zwar nach § 131 BGB erst mit Zugang an den gesetzlichen Vertreter wirksam, kann in diesem Zeitpunkt jedoch bereits nach §§ 147 II, 148 BGB erloschen sein und überdies trotz Annahme durch den Geschäftsunfähigen noch nach § 130 I 2 BGB widerrufen werden. Die Stellung des Geschäftsunfähigen ist also auch insoweit schlechter als die eines beschränkt Geschäftsfähigen, da das Widerrufsrecht des anderen Teils nach § 109 BGB den Einschränkungen des Abs. 2 unterliegt und überdies bei rechtlich vorteilhaften Geschäften nach § 107 BGB sowie bei vorheriger Zustimmung des gesetzlichen Vertreters von vornherein nicht in Betracht kommt. § 105 I BGB ist somit wegen Verstoßes gegen Art. 2 I GG nichtig, weil er die Privatautonomie des Geschäftsunfähigen über das sachlich gebotene Maß hinaus einschränkt – nämlich vollständig beseitigt – und dadurch wohl schon das Erforderlichkeits-, zumindest aber das Verhältnismäßigkeitsprinzip verletzt. An seine Stelle treten in verfassungskonformer Lückenfüllung die §§ 107 ff. BGB. Entsprechendes dürfte für die Rechtsfolgenseite von § 105 II BGB gelten. Es ist nämlich kein vernünftiger Grund dafür ersichtlich, warum jemand, der ein Rechtsgeschäft z. B. in einem schizophrenen Schub, in einem schweren Anfall manischer Depression oder auch im Zustande der Trunkenheit vorgenommen hat, dieses nicht nach Wiedereintritt der Handlungs- und Einsichtsfähigkeit soll genehmigen können. Auch § 105 II BGB verstößt daher gegen das Übermaßverbot. Die Rechtsfolge ist statt dessen Genehmigungsfähigkeit analog § 108 III BGB, wobei freilich folgerichtig auch die Widerrufsmöglichkeit des anderen Teils analog § 109 I BGB gegeben ist, sofern nicht die Einschränkung des Abs. 2 Platz greift. § 108 III BGB ist übrigens auch in den Fällen des § 104 Ziff. 2 BGB analog anzuwenden, sofern es nicht zur Entmündigung kommt, sondern die krankhafte Störung der Geistestätigkeit wieder entfällt oder der Kranke stirbt; im letzteren Falle kann der Erbe analog § 108 III BGB genehmigen. Die praktische Bedeutung der Verfassungswidrigkeit von § 105 BGB mag freilich insgesamt vergleichsweise gering sein, doch wirkt sich die theoretische Fehlleistung, die dem Gesetzgeber hier unterlaufen ist, „fortzeugend“ bei einer Reihe weiterer Problemlösungen aus, deren praktische Brisanz z. T. erheblich größer ist – auch wenn aus systematischen Gründen im folgenden zunächst wiederum eine Frage von geringer praktischer Bedeutung zu behandeln ist.
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3. Die Nichtigkeit des Stellvertretungsverbots für Geschäftsunfähige und seine Ersetzung durch analoge Anwendung von § 165 bzw. § 177 BGB Aus § 165 BGB ist im Wege des Umkehrschlusses an sich zu entnehmen, daß ein Geschäftsunfähiger nicht wirksam als Stellvertreter eines anderen fungieren kann42. Auch das verstößt indessen gegen die Privatautonomie – wenn nicht des Geschäftsunfähigen so doch jedenfalls des Vertretenen. Dessen Schutz ist nämlich Genüge getan, wenn man das Geschäft als schwebend unwirksam und damit als genehmigungsfähig analog § 177 BGB ansieht, sofern er nicht ohnehin die Geschäftsunfähigkeit gekannt und in Kauf genommen hat. Das läßt sich verhältnismäßig zwanglos damit begründen, daß man nicht das Vertretergeschäft, sondern nur die Erteilung der Vertretungsmacht als unwirksam ansieht. Darüber hinaus dürfte sogar § 165 BGB grundsätzlich analog anzuwenden sein mit der Folge, daß das Geschäft voll wirksam ist. Praktisch kommen nämlich ohnehin im wesentlichen nur die Fälle in Betracht, in denen entweder der Vertretene den Mangel der Geschäftsfähigkeit gekannt und in Kauf genommen hat oder dem Stellvertreter seine Geschäftsunfähigkeit nicht anzumerken und sein Verhalten daher im Ergebnis nicht generell unvernünftig war. Warum soll es dann aber einen Unterschied für die Wirksamkeit des Vertretergeschäfts machen, ob der Stellvertreter z. B. wegen Geisteskrankheit oder wegen Geistesschwäche entmündigt bzw. unter vorläufige Vormundschaft gestellt war, ob er sechs oder sieben Jahre alt war usw.? Auch in § 165 BGB beruht die unterschiedliche Behandlung von beschränkter Geschäftsfähigkeit und Geschäftsunfähigkeit nicht auf Sachgründen, sondern auf doktrinärer Konsequenzmacherei und der verfassungswidrigen Fiktion, daß der Geschäftsunfähige zur Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr generell außer Stande ist. Der Vertretene mag wegen Irrtums über die Person nach § 119 II BGB anfechten, wobei er allerdings dem anderen Teil nach § 122 BGB den Vertrauensschaden zu ersetzen hat; ein Unterschied zwischen beschränkter Geschäftsfähigkeit und Geschäftsunfähigkeit dürfte sich insoweit jedenfalls schwerlich einleuchtend begründen lassen. Ist freilich der Stellvertreter erst nach Erteilung der Vertretungsmacht in den Zustand der Geschäftsunfähigkeit geraten oder lagen bei der Vornahme des Vertretergeschäfts in seiner Person die Voraussetzungen von § 105 II BGB vor, paßt die Lösung analog § 165 i. V. m. §§ 119 II, 122 BGB nicht, weil dieses Risiko dem Vertretenen nicht zugerechnet werden kann. Dann ist der Mangel gemäß oder analog § 166 I BGB beachtlich, führt jedoch analog § 177 BGB nur zu schwebender Unwirksamkeit. Das hat folgerichtig auch für Fälle des nachträglichen Eintritts beschränkter Geschäftsfähigkeit wie Entmündigung wegen Geistesschwäche 42
Vgl. statt aller MünchKomm.-Thiele 2. Aufl. 1984, § 165 Rdn. 9.
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oder Anordnung vorläufiger Vormundschaft nach § 1906 BGB zu gelten; dafür paßt § 165 BGB nicht und ist daher insoweit einer teleologischen Reduktion zu unterwerfen. Auch hinsichtlich dieses Sonderproblems erweist sich somit die Unterscheidung zwischen Geschäftsunfähigkeit und beschränkter Geschäftsfähigkeit als sachwidrig. 4. Die Nichtigkeit des Schenkungsverbots der §§ 1641, 1804 BGB und seine Ersetzung durch analoge Anwendung von § 1822 BGB Nach § 1641 BGB können die Eltern nicht in Vertretung des Kindes Schenkungen machen, in § 1804 BGB ist das gleiche für Schenkungen des Vormunds in Vertretung des Mündels angeordnet. Es ist mit Recht anerkannt, daß das nicht nur für Schenkungen gilt, die der gesetzliche Vertreter selbst vornimmt, sondern auch für die Zustimmung zu Schenkungen durch den Vertretenen 43; anderenfalls wäre Umgehungen Tür und Tor geöffnet. Eine Ausnahme macht das Gesetz nur für Schenkungen, „durch die einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht entsprochen wird“. Die h. L. steht auf dem Standpunkt, daß Schenkungen aus karitativen Gründen grundsätzlich nicht unter diese Ausnahme fallen44; nach dem Wortlaut des Gesetzes ist das in der Tat unausweichlich. Ein wegen Trunksucht, Rauschgiftsucht oder Verschwendungssucht Entmündigter kann also z. B. keine wesentlichen Vermögenswerte aus karitativen oder religiösen Gründen ver- [999] schenken, keine Kunstgegenstände einem Museum schenken usw. Es liegt auf der Hand, daß das nicht nur eine schwere Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern sogar einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellt und daß somit Art. 2 I GG „in Verbindung mit“ Art. 1 I GG berührt ist. Die Rechtsfolge der unheilbaren Nichtigkeit, die in §§ 1641, 1804 BGB angeordnet wird, stellt dabei wieder ein klares „Übermaß“ dar. Zwar bedarf der Vertretene in der Tat eines besonderen Schutzes gegen Schenkungen seines gesetzlichen Vertreters, doch kann dem schon durch das Erfordernis einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung hinreichend Rechnung getragen werden. Auch bei anderen gefährlichen Geschäften wählt das Gesetz in §§ 1821 f. BGB diesen Weg, so daß der Verstoß gegen das Übermaßverbot – ähnlich wie im Verhältnis von §§ 104 f. zu § 114 BGB –
43 Vgl. statt aller Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 3. Aufl. 1980, § 51 II 2 m. Nachw. 44 Vgl. statt aller Gernhuber aaO (Fn. 43) m. Nachw.
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wiederum erst durch den Gesichtspunkt des Systembruchs und der wertungsmäßigen Inkonsistenz voll sichtbar wird. Die Konsequenz dieses Verfassungsverstoßes besteht in der Nichtigkeit der Rechtsfolgeseite von §§ 1641, 1804 BGB und deren Ersetzung durch die Möglichkeit und das Erfordernis einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung analog § 1822 BGB im Wege verfassungskonformer Lückenfüllung. Daß die §§ 1821 f. BGB trotz des vom Gesetz dort gewählten Enumerationsprinzips nicht schlechthin analogiefeindlich sind, ist mit Recht anerkannt45. Allerdings dürfen sie nicht generell auf „gefährliche“ Geschäfte aller Art angewendet werden, da das Enumerationsprinzip dann zur Generalklausel pervertieren würde, doch besteht diese Gefahr hier nicht. Denn die Schenkung stellt einen festen, systematisch bruchlos in den Katalog von § 1822 BGB passenden Tatbestand dar, der überdies mit den Fällen des § 1822 Ziff. 2, 10 und 13 verwandt ist; außerdem hat der Gesetzgeber in den §§ 1641, 1804 BGB klar gezeigt, daß er für derartige Geschäfte einen erhöhten Schutz des Kindes und Mündels für erforderlich hält – was ja nicht generell, sondern nur hinsichtlich des Übermaßes der gewählten Rechtsfolge verfassungsrechtlich zu beanstanden ist. Die Teilnichtigkeit von §§ 1641, 1804 BGB zu vermeiden und sich auf einen Korrekturauftrag an den Gesetzgeber zu beschränken, wie es das BVerfG in der Entscheidung zu § 1629 BGB für richtig gehalten hat, besteht somit hier kein Anlaß, da dem Gesetzgeber als systemkonformer Weg zur Behebung des Verfassungsverstoßes ohnehin nur die Erweiterung des Katalogs von § 1822 BGB bleibt. 5. Die Teilnichtigkeit der Beschränkung der Testierfähigkeit durch § 2229 III BGB und ihre Ersetzung durch analoge Anwendung von §§ 2275 II BGB, 3 EheG und § 2233 I BGB Nach § 2229 III BGB kann ein Testament nicht errichten, wer entmündigt ist. Auf den Grund der Entmündigung kommt es nach allgemeiner Ansicht nicht an, so daß auch beschränkt Geschäftsfähige unter diese Vorschrift fallen46; in der Tat lassen der Wortlaut des Gesetzes sowie der Umkehrschluß aus § 2253 II BGB insoweit keinen Auslegungsspielraum. Für die Fälle einer Entmündigung wegen Geisteskrankheit ist diese Regelung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden; denn wer mit Sicherheit nicht einmal die Einsichtsfähigkeit eines siebenjährigen Kindes besitzt47, verfügt für ein so wichtiges Rechtsgeschäft wie die Errichtung 45 Vgl. z. B. Gernhuber aaO (Fn. 43) § 52 IV 1; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 134 f. mit Beispielen. 46 Vgl. statt aller Leipold, Grundzüge des Erbrechts, 5. Aufl. 1984, Rdn. 212. 47 Vgl. oben nach Fn. 41.
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eines Testaments nicht über die notwendigen geistigen Voraussetzungen und besitzt daher insoweit nicht erst aus Rechtsgründen, sondern schon von Natur aus keine Selbstbestimmungsmöglichkeit. Dagegen ist die Einbeziehung aller beschränkt Geschäftsfähigen in das Testierverbot des § 2229 III BGB ein Skandal, dessen Unvereinbarkeit mit Art. 2 I bzw. Art. 14 I GG – der auch die Testierfreiheit schützt48 – auf der Hand liegt. Die Gründe, die zur Entmündigung wegen Rauschgift-, Trunk- und Verschwendungssucht führen, brauchen nämlich keineswegs die natürliche Fähigkeit zur Testamentserrichtung zu beseitigen; auch bei Entmündigung wegen Geistesschwäche kann diese durchaus gegeben sein – wie z. B. in dem oben 1 genannten Beispiel, in dem ein wegen Altersdemenz Entmündigter seine Pflegerin testamentarisch bedenken will und dafür noch die nötige Einsichtsfähigkeit besitzt. Zwar sind der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Testamentserrichtung und das daraus folgende Stellvertretungsverbot verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, doch pervertiert dieser Rechtsgedanke zum Nachteil des Testators, wenn man aus ihm auf die Unmöglichkeit einer Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zur Testamentserrichtung schließt. Wiederum hält das Gesetz selbst im übrigen seine Wertung nicht konsequent durch und beweist damit mittelbar deren Haltlosigkeit. In § 2275 II BGB gestattet es nämlich dem beschränkt Geschäftsfähigen den Abschluß eines Erbvertrags mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters für den Fall, daß Vertragspartner sein Ehegatte oder Verlobter ist – und zwar nicht etwa aus tiefliegenden rechtsethischen Gründen, sondern im wesentlichen aus der reinen Praktikabilitätserwägung, daß Erbverträge häufig mit Eheverträgen verbunden werden49. Auch steht die Höchstpersönlichkeit der Eheschließung nach § 3 EheG deren Vornahme durch einen beschränkt Geschäftsfähigen unter Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters nicht entgegen. Schließlich läßt das Gesetz in § 2253 II BGB für einen beschränkt Geschäftsfähigen den Widerruf des Testaments sogar ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zu, obwohl der Entmündigte auch durch die Wiederherstellung der gesetzlichen Erbfolge Unsinn anrichten oder Unrecht tun kann. Andererseits genügt diese Möglichkeit durchaus nicht zur Gewährleistung seiner Testierfreiheit; denn der Eintritt der gesetzlichen Erbfolge braucht seinen Intentionen keineswegs Genüge zu tun, zumal er nicht sicher sein kann, wer bei seinem Tod sein gesetzlicher Erbe sein wird (der ja im äußersten Fall nach § 1936 BGB der Fiskus sein kann). Allerdings muß der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Testamentserrichtung nach der – verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden – Wertung des Gesetzes auch bei Entmündigten gewahrt bleiben. Diese müssen daher das Te48 49
Vgl. nur BVerfGE 67, 329, 341 m. Nachw. Vgl. Prot. V 374 ff.
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stament persönlich errichten und folglich die „natürliche“ Testierfähigkeit im Sinne von § 2229 IV BGB besitzen. Daraus könnte man den Einwand herleiten, es könne bei einem Entmündigten leicht Streit über deren Vorliegen entstehen und die rigorose Aberkennung der Testierfähigkeit durch § 2229 III BGB rechtfertige sich daher aus dem Erfordernis nach Rechtssicherheit. Näherer Überprüfung hält dieses Argument jedoch nicht stand. Für einen großen Teil der Fälle wie z. B. die der Entmündigung wegen Rauschgift-, Trunk- und Verschwendungssucht hat es schon deshalb nur geringes Gewicht, weil die Testamentserrichtung oft keineswegs unter dem Einfluß von Rauschgift oder Alkohol erfolgt sein wird bzw. kein Ausdruck der Verschwendungssucht zu sein braucht; der Schutzzweck der Entmündigung liegt hier ja in erster Linie in der Bewahrung des Entmündigten vor nachteiligen Geschäften unter Lebenden und nicht in dem Schutz seiner gesetzlichen Erben vor unsinnigen oder unverantwortlichen letztwilligen Verfügungen. Der Rest von Rechtsunsicherheit, der bei einer Zulassung der Testamentserrichtung (leider) bleibt, ist daher jedenfalls dann im Rahmen der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung als das bei wei- [1000] tem kleinere Übel hintanzusetzen, wenn dieses durch zusätzliche Kautelen wie die Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters und/oder eines Notars minimiert wird (vgl. dazu sogleich). Außerdem ist wieder auf die wertungsmäßige Inkonsistenz des Gesetzes zu verweisen. Auch der Widerruf eines Testaments nach § 2253 II BGB kann nämlich anerkanntermaßen wegen Fehlens der natürlichen Testierfähigkeit nach § 2229 IV BGB nichtig sein50, und auch ein Erbvertrag kann trotz Vorliegens der Voraussetzungen von § 2275 II BGB aus diesem Grund gemäß § 104 Ziff. 2 BGB unwirksam sein. Wenn aber das Gesetz für derartige Fälle die Gefahr der Rechtsunsicherheit in Kauf nimmt, dann besteht schon allein deshalb kein hinreichender Grund, in den verbleibenden Fällen des § 2229 III BGB anders zu entscheiden und nur unter diesem Gesichtspunkt dem Entmündigten eine so zentrale, zum Kernbereich der Persönlichkeit gehörende Fähigkeit wie die zur testamentarischen Bestimmung seiner Erben generell abzusprechen. Man denke nur daran, daß ein entmündigter Alkoholiker befürchten muß, seinen „Todfeind“, wegen Vorversterbens seiner nächsten Angehörigen eine ihm völlig gleichgültige Person oder gar nach § 1936 BGB den Fiskus zum Erben zu bekommen und diesen sein Vermögen – unter Umständen die Frucht lebenslanger Arbeit – wider seinen Willen zufallen lassen zu müssen! Auch kann ein dringendes Bedürfnis für sonstige testamentarische Verfügungen wie z. B. die Anordnung von Vor- und Nacherbschaft, die Einsetzung eines Testamentsvollstreckers und dergleichen bestehen. Alles das dem (nicht wegen Geisteskrankheit) Entmündigten von vornherein zu versagen, ist unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten schlechterdings indiskutabel. 50
Vgl. statt aller Palandt/ Edenhofer 46. Aufl. 1987, § 2253 Anm. 4.
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Andererseits kann man nun nicht einfach dem betreffenden Personenkreis einschränkungslos von Verfassungs wegen die volle Testierfähigkeit zusprechen – etwa in Ausweitung von § 2253 II BGB oder analog § 107 BGB (mit der Begründung, die Testamentserrichtung sei zwar kein rechtlich vorteilhaftes, für den Testator aber ein diesem gleichzustellendes „neutrales“ Geschäft). Dazu sind die Auswirkungen für die gesetzlichen Erben zu gravierend. Auch hat der Umkehrschluß aus § 2253 II BGB insofern einen gewissen berechtigten Kern, als die Wiederherstellung der gesetzlichen Erbfolge im Regelfall eine höhere „Richtigkeitsgewähr“ bietet als eine völlig freie Testamentserrichtung. Außerdem ist zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit über das Vorliegen der erforderlichen natürlichen Testierfähigkeit im Sinne von § 2229 IV BGB die Mitwirkung einer Kontrollperson überaus sinnvoll, die feststellen kann, ob der Testator sich z. B wegen der Einnahme von Rauschgift oder des Genusses von Alkohol in einer die Einsichtsfähigkeit ausschließenden „Bewußtseinsstörung“ befand. Analog §§ 2275 II BGB, 3 I EheG ist daher die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich. Wird sie ohne triftigen Grund verweigert, sollte man analog §§ 3 III EheG, 1746 III, 113 III 2 BGB ihre Ersetzung durch das Vormundschaftsgericht zulassen. Analog §§ 2233 I, 2275 II i. V. mit §§ 2276 II, 1410 BGB dürfte darüber hinaus die Mitwirkung eines Notars zu fordern sein, zumal darin eine zusätzliche Kautele gegen Rechtsunsicherheit über das Vorliegen der natürlichen Testierfähigkeit im Sinne von § 2229 IV BGB liegt. Diese Lösung stellt unmittelbar geltendes Recht im Wege der verfassungskonformen Lückenfüllung wegen (teilweiser) Nichtigkeit von § 2229 III BGB dar. Es geht also auch hier nicht lediglich um einen verfassungsrechtlichen Änderungsauftrag an den Gesetzgeber, zumal dieser dem Entmündigten in aller Regel nichts nützen wird; ohnehin wird er es schwer genug haben, seinen Vormund und einen Notar dazu zu bewegen, den hier vorgeschlagenen Weg mitzugehen, doch kann er unter Umständen mit Hilfe der Analogie zu §§ 3 III EheG, 1746 III, 113 III 2 BGB eine gerichtliche Klärung noch zu seinen Lebzeiten herbeizuführen suchen. Zweifelhaft ist, ob die gleichen Grundsätze auch für Kinder unter sechzehn Jahren gelten, denen nach § 2229 I BGB die Testierfähigheit fehlt. Ihnen schon in jüngerem Alter diese Fähigkeit unter Mitwirkung ihres gesetzlichen Vertreters zuzusprechen, dürfte von Verfassungs wegen nicht geboten sein. Anders als bei entmündigten Erwachsenen besteht nämlich bei Kindern in aller Regel kein wesentliches praktisches Bedürfnis, für die Zeit nach ihrem Tode alsbald Vorsorge zu treffen. Rand- und Restfälle verbleiben freilich – so etwa, wenn ein todkranker Fünfzehnjähriger keine Verwandten hat und seinen Nachlaß, z. B. ein Unternehmen, lieber einer Stiftung, einer Kirche oder dergleichen als dem Fiskus nach § 1936 BGB zukommen lassen will. Einen Ausweg bietet hier ein formgerechtes auf den Tod befristetes Schenkungsversprechen unter Lebenden, wenn man ein
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solches mit der oben 4 entwickelten Ansicht entgegen der Regelung der §§ 1641, 1804 BGB zuläßt. 6. Die Nichtigkeit der Beschränkungen der Ehemündigkeit durch § 1 II EheG Auf Grund der vorstehenden Ausführungen liegt es nahe, auch die Verfassungskonformität der Vorschriften über die Ehefähigkeit in Zweifel zu ziehen, da auch diese am Verhältnismäßigkeitsprinzip zu messen sind51. Das Eheverbot für Geschäftsunfähige nach § 2 EheG ist indessen nicht zu beanstanden, da diesen grundsätzlich die für eine Ehe erforderliche Reife fehlt und einem „Übermaß“ der Rechtsfolgen durch die Heilungs- und Genehmigungsmöglichkeit nach § 13 II EheG vorgebeugt ist; ist jemand zu Unrecht wegen Geisteskrankheit entmündigt und also nach § 104 Ziff. 3 BGB geschäftsunfähig, ist er hinreichend durch die Möglichkeit geschützt, die Aufhebung der Entmündigung herbeizuführen und anschließend zu heiraten. Beschränkt Geschäftsfähige können nach § 3 EheG mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters, hilfsweise des Vormundschaftsgerichts grundsätzlich ohnehin heiraten. Besonderheiten gelten allerdings für Minderjährige. Diese können nach § 1 II EheG auch mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts nur heiraten, wenn sie das 16. Lebensjahr vollendet haben und ihr künftiger Ehegatte volljährig ist. Danach kann z. B. eine 15jährige auch dann nicht heiraten, wenn sie schwanger ist, sogar eine schwangere 17jährige kann den 17jährigen Vater ihres Kindes nicht heiraten. Entgegen der h. L.52 sind diese Einschränkungen wegen Verstoßes gegen Art. 6 I GG – der insoweit Art. 2 I GG als lex specialis vorgeht – sowie gegen Art. 6 IV und V GG in Verbindung mit dem Übermaßverbot evident verfassungswidrig und nichtig. Kein vernünftiger Grund spricht nämlich dafür, dem gesetzlichen Vertreter und dem Vormundschaftsgericht nicht eine von einer starren Altersgrenze unabhängige Prüfung der Ehereife zuzutrauen und zuzumuten und statt dessen uneheliche Geburten in vermeidbarer Weise in Kauf zu nehmen. Das gilt umso mehr, als bei anderen beschränkt Geschäftsfähigen nach § 3 EheG ja auch eine derartige einzelfallbezogene Prüfung erforderlich ist und somit auch hier wieder der Gesichtpunkt wertungsmäßiger Inkonsistenz hinzukommt. Auch gab es vor dem 31.7.1974 für Frauen keine altersmäßige Untergrenze, ohne daß Mißstände bekannt geworden wären. Ein nennenswertes Bedürfnis nach Rechtssicherheit, das allein eine starre Grenze legitimieren könnte, ist bei einem so singulären Geschäft wie der Eheschließung nicht ersichtlich und Vgl. BVerfGE 31, 58, 70. Vgl. z. B. Gernhuber aaO (Fn. 43) § 9 II 2; MünchKomm-Müller-Gindullis, 1978, § 1 EheG Rdn. 4; Soergel/Häberle 11. Aufl. 1981, § 1 EheG Rdn. 3; „Bedenken“ im Hinblick auf Art. 6 I und IV GG äußert Löwisch NJW 1975, 16, ohne jedoch eine Begründung zu geben. 51 52
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hätte außerdem im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung hinter den ganz überwiegenden Belangen der Heiratswilligen und [1001] eines etwa erwarteten Kindes zurückzutreten. Man darf den Minderjährigen auch nicht einfach darauf verweisen, er könne bis zur Erreichung der Altersgrenze des § 1 II EheG mit der Heirat warten. Denn zum einen kann er durchaus schon vorher die nötige Reife besitzen (wie sie ihm andererseits später noch fehlen kann), und zum anderen duldet die Heirat unter Umständen keinen Aufschub, weil inzwischen ein Kind unehelich geboren worden und die Heiratswilligkeit des anderen Teils entfallen sein kann; letzteres ist durchaus ein legitimes Argument, weil die Ehe auch und nicht zuletzt wegen ihrer stabilisierenden, ein „Weglaufen“ des Partners erschwerenden Wirkung schutz- und förderungswürdig ist und sich gerade darin ihr „institutioneller“ Charakter bewährt. Verfassungswidrig ist auch, daß der andere Ehegatte jedenfalls volljährig sein muß. Daß wenigstens ein Ehepartner uneingeschränkt am Rechtsgeschäftsverkehr soll teilnehmen können, ist keine hinreichende Rechtfertigung für diese Einschränkung. Denn den praktischen Bedürfnissen kann durch einen beschränkten Generalkonsens der gesetzlichen Vertreter Genüge getan werden, wobei ein solcher im Zweifel schon in der Einwilligung zu der Eheschließung liegt. Außerdem ist das Gesetz auch in diesem Punkte nicht folgerichtig, da es nach seinem zweifelsfreien Wortlaut nur die Volljährigkeit des anderen Ehegatten fordert und sonstige Tatbestände beschränkter Geschäftsfähigkeit also einer Eheschließung nicht entgegenstehen53. Schon deshalb ist es auch kein wesentlicher Einwand, daß über den Umfang des Generalkonsenses u. U. Unsicherheit bestehen kann; im übrigen ist das nicht für die vorliegende Problematik spezifisch, sondern bei jedem (beschränkten) Generalkonsens eine gewisse Gefahr, ohne daß jemand daraus auf dessen Unzulässigkeit schließt. Wird dieser vom gesetzlichen Vertreter verweigert, kann ihn das Vormundschaftsgericht analog §§ 113 III BGB, 3 III EheG ersetzen. Auch die Tatsache, daß wegen § 1673 II BGB ein Vormund für ein (etwaiges) Kind bestellt werden muß, vermag das Erfordernis der Volljährigkeit des anderen Ehegatten nicht zu legitimieren. Zum ersten ist das nämlich wiederum genauso, wenn dieser aus anderen Gründen als wegen Minderjährigkeit in der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, zum zweiten ist es i. d. R. das kleinere Übel gegenüber einer unehelichen Geburt, und zum dritten bedarf es ja auch in diesem Falle bei Minderjährigkeit der Mutter ohnehin eines Vormunds. Was von § 1 II EheG übrig bleibt, ist somit nur das Erfordernis vormundschaftsgerichtlicher Genehmigung, während der Rest der Vorschrift ersatzlos entfällt.
53
Vgl. statt aller MünchKomm.-Müller-Gindullis aaO (Fn. 52) Rdn. 7 m. Nachw.
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IV. Verstöße gegen das Übermaßverbot bei der Einstandspflicht für außerordentlich hohe Schäden 1. Problemstellung Daß die Grundrechte i. V. mit dem Übermaßverbot auch im Schadensersatzrecht grundsätzlich Schutz vor unverhältnismäßigen Beeinträchtigungen des Schädigers gewährleisten, ist oben II 2 bereits dargelegt worden. Daß für dessen Effektivierung in der Tat ein praktisches Bedürfnis besteht, läßt sich mühelos an Hand einer Vielzahl von Beispielen belegen. Man denke etwa daran, daß ein steinreicher und glänzend verdienender Mensch durch ein Haustier – ein Reitpferd, einen Hund usw. – eines wenig begüterten Menschen eine zu dauernder Berufsunfähigkeit führende Verletzung erleidet oder daß ein Bauer durch die Einleitung einer Flüssigkeit, deren Gefährlichkeit ihm unbekannt war, in ein Gewässer einem Großunternehmen einen Millionenschaden zufügt. Dafür haften sie nach § 833 S. 1 BGB bzw. § 22 WHG unabhängig von Verschulden ohne jede höhenmäßige Begrenzung. Wenn ihre Haftpflichtversicherung den Schaden nicht voll abdeckt oder eine solche gar nicht besteht – was z. B. im Falle des Bauern gut vorstellbar ist –, können sie durch die Schadensersatzpflicht bis ans Ende ihres Lebens auf die Grenze des pfändungsfreien Existenzminimums gedrückt werden. Selbstverständlich stellt das einen überaus schweren Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 I GG dar, wobei i. d. R. auch Art. 1 I GG berührt ist. Daß das durch die Präventionsfunktion des Haftungsrechts legitimiert ist, kann jedenfalls für Fälle einer höhenmäßig nicht limitierten Gefährdungshaftung nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Die – wesentlich wichtigere – Ausgleichsfunktion reicht zur Legitimierung einer so extremen Rechtsfolge zumindest dann nicht aus, wenn der Geschädigte wie in den genannten Beispielen auf Grund seiner eigenen finanziellen Potenz auf die Ersatzleistung wirtschaftlich nicht angewiesen ist. Für die Verschuldenshaftung gilt nichts prinzipiell anderes. Ohnehin hat die Rechtsprechung diese bekanntlich weitgehend in Richtung auf eine Risikohaftung verschärft. Das geschieht z. T. mit dem Mittel der Beweislastumkehrung bezüglich des Verschuldens wie z. B. im Rahmen der positiven Forderungsverletzung und der Produzentenhaftung, z. T. durch eine außerordentliche Anspannung der Sorgfaltspflichten, die etwa bei Rechtsanwälten, Konkursverwaltern, Steuerberatern usw. ein extremes Maß erreichen können und die auch bei den allgemeinen deliktsrechtlichen Verkehrspflichten mitunter die Grenze zu einer reinen Gefährdungshaftung überschreiten. Ein u. U. dramatisches Element der Risikohaftung liegt außerdem darin, daß sich das Verschulden grundsätzlich nur auf die Tatbestandsverwirklichung, nicht aber auf deren Folgen und die Höhe des Schadens zu beziehen braucht. Der Ausgleichszweck allein vermag hier eine ruinöse oder auch nur katastrophale Schadenszurechnung ebenso wenig zu rechtfer-
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tigen wie in den Fällen der Gefährdungshaftung, sofern der Geschädigte wirtschaftlich nicht auf die Ersatzleistung angewiesen ist. Der Präventionszweck reicht dazu ebenfalls nicht aus – zum einen wegen des weitreichenden Einschlags einer Risikohaftung auch im Rahmen der Verschuldenshaftung und zum anderen wegen des u. U. exorbitanten Mißverhältnisses zwischen Verschulden und Haftungsfolgen. Das gilt selbst in Fällen vorsätzlicher Schadenszufügung. Oder soll es etwa Rechtens sein, daß ein junger Mensch für den Rest seines Lebens auf die Grenze des pfändungsfreien Existenzminimums beschränkt wird, weil er vorsätzlich ein der öffentlichen Hand oder einem vielfachen Millionär gehörendes Kunstwerk vernichtet hat, dessen Wert ihm unbekannt war?! Die vollständige Disproportion zwischen dieser Folge und den in Betracht kommenden strafrechtlichen Sanktionen macht überdeutlich, daß selbst im Falle vorsätzlicher Schädigung nicht immer mit der vollen Strenge des geltenden Schadensersatzrechts uneingeschränkt Ernst gemacht werden kann. Die Beispiele zeigen, daß auch das Recht der Schadenszurechnung vom verfassungsrechtlichen Übermaßverbot nicht unberührt bleiben kann. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebietet dabei eine Abwägung zwischen den Auswirkungen für den Schädiger einerseits und den Bedürfnissen des Geschädigten sowie dem Präventionsgedanken andererseits. Daraus sind durchaus praktische Konsequenzen für die lex lata zu ziehen. 2. Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer schadensersatzrechtlichen „Reduktionsklausel“ und deren Verwirklichung mit Hilfe des Rechtsmißbrauchseinwandes gemäß § 242 BGB Die Möglichkeit, exorbitant hohe Schadensersatzansprüche im Hinblick auf die Umstände des Falles, insbesondere mit Rücksicht auf die Vermögensverhältnisse von Schädiger und Geschädigtem sowie je nach Art und Grad der Zurechenbar- [1002] keit herabzusetzen, wird zwar de lege ferenda diskutiert54, von der h. L. aber nicht als Bestandteil der lex lata angesehen und insbesondere nicht mit Hilfe des Rechtsmißbrauchseinwandes gemäß § 242 BGB verwirklicht55. Daß dieser Standpunkt nicht länger aufrechterhalten werden kann, weil er mit dem grundrechtlichen Persönlichkeitsschutz und dessen Effektivierung durch das Übermaßverbot unvereinbar ist, bedarf nach dem Gesagten im Grundsatz keiner weiteren Darlegung mehr. Dabei geht es nicht lediglich um einen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber, sondern um unmittelbar geltendes Privatrecht. Denn es 54 Vgl. vor allem Hohloch, Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band I, 1981, S. 459 ff.; ferner z. B. Lange, Schadensersatz, 1979, S. 12 f.; Deutsch, Haftungsrecht Bd. I, 1976, S. 334 f. 55 Vgl. z. B. Deutsch aaO (Fn. 54) S. 335; Hohloch aaO (Fn. 54) S. 459.
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ist heute anerkannt, daß der Einwand des Rechtsmißbrauchs gemäß § 242 BGB grundsätzlich auch auf Verstöße gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip gestützt werden kann56. Das läßt sich zur Verwirklichung des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes des Schädigers vor übermäßigen Schadensersatzfolgen fruchtbar machen. Die berühmte Maxime der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung, daß die Grundrechte eine „Ausstrahlungswirkung“ auf das Privatrecht haben und auf dieses insbesondere durch das „Medium“ der Generalklauseln einwirken, hat hier ihren guten Sinn. Bei der Abwägung nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen stehen die Vermögensverhältnisse von Schädiger und Geschädigtem ganz im Vordergrund. Ist letzterer wirtschaftlich auf den Ersatzanspruch angewiesen – insbesondere, weil er sonst seinen Unterhalt nicht bestreiten und/oder seinen Unterhaltspflichten nicht nachkommen kann –, legitimiert die Ausgleichsfunktion in aller Regel die Schadenszurechnung auch dann, wenn dem Schädiger aufgrund seiner Ersatzpflicht auf Dauer nur noch das pfändungsfreie Minimum verbleibt. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist allerdings das Fehlen einer Höchstgrenze in § 22 WHG und wohl auch in § 833 S. 1 BGB, weil dadurch zum einen ein mit Art. 3 GG unvereinbarer Systembruch gegenüber den übrigen Vorschriften der Gefährdungshaftung entsteht57 und weil zum anderen die Versicherbarkeit in einer mit Art. 2 I GG wohl nicht mehr in Einklang zu bringenden Weise erschwert wird (jedenfalls beim derzeitigen Stand des Versicherungsmarktes); mit den Mitteln richterlicher Rechtsfortbildung dürfte dieser Mangel freilich nicht zu beheben sein, so daß insoweit nur ein verfassungsrechtlicher Korrekturauftrag an den Gesetzgeber gegeben ist. Kann der Geschädigte dagegen seine legitimen Bedürfnisse auch ohne die Ersatzleistung voll oder teilweise befriedigen, ist sein Anspruch gemäß § 242 BGB jedenfalls dann höhenmäßig zu reduzieren, wenn seine volle Befriedigung für den Schädiger ruinös wäre, diesen also bis zum Ende seines Lebens auf das pfändungsfreie Minimum beschränken würde. Gleiches dürfte i. d. R. bei katastrophalen Schäden gelten, also z. B. dann, wenn die Ersatzpflicht das gesamte, in Jahrzehnten erworbene Vermögen des Schädigers aufzehren, ihn jedoch für die Zukunft nicht auf das pfändungsfreie Minimum beschränken würde oder wenn sie ihm etwa den Verdienst der vergangenen oder der nächsten zehn Jahre nähme. Daß hier dem Richter ein bedenklich großer Beurteilungs- und Ermessensspielraum bleibt, ist nicht zu verkennen, muß jedoch als das kleinere Übel in Kauf genommen werden, zumal es auch in anderen vergleichbaren Fällen wie vor allem im Rahmen von § 254 BGB oder bei Geschäftsgrundlagenstörungen vor56 Vgl. z. B. Palandt/Heinrichs 46. Aufl. 1987, § 242 Anm. 4 C d bb; MünchKomm.-Roth 2. Aufl. 1985, § 242 Rdn. 398 und 435; Canaris ZHR 143 (1979) 129 ff. m. w. Nachw. 57 Vgl. schon Canaris, Systemdenken aaO (Fn. 34) S. 128 f.
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kommt. Versicherungen sind auf beiden Seiten zu berücksichtigen – auf Seiten des Geschädigten also gegebenenfalls anspruchsmindernd, weil sein finanzieller Bedarf insoweit gedeckt ist, auf Seiten des Schädigers in vollem Umfang anspruchserhöhend, weil der verfassungsrechtliche Übermaßschutz zur Wahrung der Entfaltung der Persönlichkeit des Schädigers, nicht aber zur Entlastung seiner Versicherung geboten ist. – Bei juristischen Personen und Gesellschaften kommt es in erster Linie darauf an, welche Auswirkungen sich für ihre Mitglieder und ihre Arbeitnehmer ergeben. Werden sie nicht ruinös oder katastrophal betroffen, wird man i. d. R. auch einen Konkurs der juristischen Person oder Gesellschaft in Kauf zu nehmen haben – sei es, daß diese als Schädiger haftet, sei es, daß sie als Geschädigter eine Reduktion ihres Ersatzanspruchs in Kauf zu nehmen hat; denn es ist immer noch besser, daß Aktionäre, GmbH-Gesellschafter oder Kommanditisten ihre Anteile verlieren und Arbeitnehmer sich einen neuen Arbeitsplatz suchen müssen, als daß ein Mensch lebenslang in den Ruin getrieben wird. – Die Rechtsfolge besteht i. d. R. nicht in einer endgültigen Abweisung der Klage in Höhe des für den Schädiger untragbaren Teils, sondern lediglich in einer Abweisung als zur Zeit unbegründet, da sich die Vermögensverhältnisse nachträglich ändern können – auf Seiten des Geschädigten durch Vermögensverfall, auf Seiten des Schädigers durch Vermögenszuwachs etwa auf Grund einer Erbschaft. Im Vergleich zu den Vermögensverhältnissen haben die Art und der Grad der Zurechenbarkeit nur Ergänzungs- und Hilfsfunktion und wirken sich nahezu ausschließlich für die Bestimmung der Höhe des Sockelbetrages aus, den der Schädiger zu tragen hat. Ein Satz des Inhalts, daß der Geschädigte bei bestimmten Formen des Verschuldens wie Vorsatz oder gar grober Fahrlässigkeit immer den gesamten Schaden zu ersetzen hat, läßt sich schon deshalb nicht aufstellen, weil das Verschulden sich grundsätzlich nur auf die Tatbestandsverwirklichung und nicht auf deren Folgen sowie die Schadenshöhe zu beziehen braucht 58; aus Art. 34 I 2 GG ergibt sich nichts anderes, weil die Vorschrift nicht notwendigerweise auch ruinöse oder katastrophale Schäden erfaßt, sondern insoweit im Hinblick auf Art. 2 I GG der Restriktion zugänglich und bedürftig ist. Selbst wenn aber der Schädiger den Schaden in Kenntnis seiner Höhe vorsätzlich herbeigeführt hat, ist eine Reduktion nicht von vornherein und generell auszuschließen; zerstört z. B. ein junger Mensch in einem der öffentlichen Hand gehörenden Museum vorsätzlich ein Kunstwerk, dessen exorbitanter Marktpreis ihm durchaus bekannt ist, so vermögen weder die Ausgleichs- noch die Präventionsfunktion des Schadensersatzrechts noch gar Fiskalinteressen es vor Art. 2 I GG „in Verbindung mit“ Art. 1 I GG zu legitimieren, ihm den Rest seines Lebens durch eine niemals abzutragende Schadensersatzlast zu ruinieren. Ganz peripher ist selbst58 Verfehlt daher Hohloch aaO (Fn. 54) S. 464, der sogar de lege ferenda eine Reduktion der Schadensersatzpflicht auf Fälle „geringfügigen“ Verschuldens beschränken und vorsätzliche sowie grob fahrlässige Schädigungen „strikt“ davon ausnehmen will.
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verständlich die Vorhersehbarkeit des Schadens. Dessen Ersatzfähigkeit durch dieses Kriterium zu begrenzen, wie das im neueren Schrifttum teils de lege ferenda, teils sogar de lege lata vorgeschlagen wird59, ist jedenfalls zur Verhinderung ruinöser oder katastrophaler Schadenszurechnung ungeeignet, da solche Schäden trotz Vorhersehbarkeit – einem äußerst vagen Kriterium! – ohne weiteres eintreten können. 3. Die Anwendbarkeit von § 1 II AGBG auf Abreden zur Vermeidung übermäßiger Schäden und die Nichtigkeit des Verbots von Klauseln zur Haftungsbegrenzung gemäß § 11 Nr. 7 AGBG Sich auf die richterliche Reduktion ruinöser und katastrophaler Schadensersatzpflichten zu verlassen, ist für sich allein [1003] keine ausreichende Lösung. Den Parteien muß es vielmehr auf Grund des verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundsatzes der Privatautonomie offenstehen, selbst vertraglich Vorsorge gegen derartige Gefahren zu treffen. Dem steht freilich z. T. § 11 Nr. 7 AGBG im Wege, wonach nicht nur ein völliger Ausschluß, sondern auch jede Begrenzung der Haftung für grob fahrlässige Vertragsverletzungen des Verwenders von AGB sowie für vorsätzliche und grob fahrlässige Vertragsverletzungen eines gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen unwirksam ist. Ein erster Ausweg liegt in der Annahme einer nicht unter das AGBG fallenden Individualabrede nach § 1 II AGBG. Eine solche ist in der Tat immer dann anzunehmen, wenn der Haftungsausschluß erkennbar der Verhinderung einer ruinösen oder katastrophalen Einstandspflicht zu dienen bestimmt ist. Das gilt auch dann, wenn der potentielle Schädiger gleichartige Klauseln in einer Vielzahl von Fällen verwendet oder zu verwenden beabsichtigt. Eine Grundlage hierfür bietet die in jüngster Zeit vordringende beifallswürdige Ansicht, daß eine Individualabrede i. S. von § 1 II AGBG schon dann anzunehmen ist, wenn der andere Teil von der Sachgerechtigkeit der Klausel überzeugt wird60 oder der Verwender ihn auf diese besonders hinweist und an ihrer Vereinbarung ein berechtigtes Interesse hat61. Das dürfte nicht nur bei Abreden zur sehr ruinöser oder katastrophaler Schäden, sondern auch bei solchen zur Abwehr sonstiger – also unterhalb dieser Schwelle liegender – exorbitanter Schäden gelten, bei denen die potentielle 59 Vgl. de lege ferenda vor allem U. Huber, Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band I, 1981, S. 802 f.; sogar de lege lata Koller in: Köndgen (Hsg.) Neue Entwicklungen im Bankhaftungsrecht, 1987, S. 31 f.; vgl. dazu im übrigen auch noch unten bei Fn. 62. 60 Vgl. z. B. OLG Düsseldorf BauR 1985, 341, 344; Palandt/Heinrichs aaO (Fn. 54) § 1 AGBG Anm. 4 c a. E. 61 Vgl. Ulmer/Brandner/Hensen AGBG, 5. Aufl. 1987, § 1 Rdn. 51.
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Schadenshöhe außer Verhältnis zu Kriterien wie Entgelt, Größe des Verschuldens, Kosten einer Haftpflichtversicherung, durchsetzbarer Risikoprämie und dgl. steht; man denke etwa an außergewöhnlich hohe Risiken eines Rechtsanwalts, Steuerberaters, Architekten oder Arztes, die die übliche und/oder angemessene Haftpflichtversicherungssumme erheblich übersteigen. Die Exorbitanz eines potentiellen Schadens ist jedoch nicht immer erkennbar und daher nicht immer durch eine Individualvereinbarung beherrschbar. Denn nach geltendem Recht haftet der Schädiger bekanntlich grundsätzlich auch für unvorhersehbare Schäden. Entgegen manchen Stimmen im neueren Schrifttum62 sollte man daran auch nichts ändern, da diese Haftung jedenfalls im Bereich des Verschuldensprinzips durchaus gerecht ist; wer z. B. vorsätzlich oder leichtfertig einen Vertrag bricht – etwa um einen lukrativeren anderen Auftrag durchführen zu können –, sollte auch weiterhin seinem Vertragspartner grundsätzlich auch für unvorhersehbare Schäden einzustehen haben. Die abweichende Regelung von Art. 82 S. 2 EKG nach dem Vorbilde des anglo-amerikanischen Rechtskreises paßt, was ihre Befürworter häufig verkennen, allenfalls auf eine echte Risikohaftung, nicht aber für schuldhafte Vertragsverletzungen. Andererseits müssen auch bei diesen unvorhersehbare exorbitante Risiken vertraglich ausschließbar bleiben. Dem steht indessen im Verkehr mit Nichtkaufleuten das rigide Klauselverbot des § 11 Nr. 7 AGBG entgegen. Dieses verstößt gegen Art. 2 I GG, da es jedenfalls insoweit eine unverhältnismäßige Einschränkung der Privatautonomie darstellt, als es eine Haftungsbegrenzung auch für unvorhersehbare exorbitante, insbesondere katastrophale oder gar ruinöse Schäden ausschließt. Vorsätzliche und grob fahrlässige Schädigungen durch gesetzliche Vertreter und Erfüllungsgehilfen sind nämlich für den Geschäftsherrn nicht generell vermeidbar, beherrschbar oder auch nur kalkulierbar. Ähnliches gilt für eigene grobe Fahrlässigkeit. Ob die Rechtsprechung eine solche annehmen wird, ist überaus schwer vorauszusagen, so daß bei exorbitanten Schäden außerordentliche Prozeßrisiken mit extremen finanziellen und psychologischen Belastungen für den Schädiger entstehen und der Geschädigte überdies schon durch die Drohung mit einem Prozeß einen unangemessenen Druck ausüben kann. Sich vor derartigen Situationen durch eine Haftungsbegrenzung zu schützen, ist völlig legitim. Das gilt umso mehr, als sich die grobe Fahrlässigkeit nach geltendem Recht nur auf die Vertragsverletzung als solche, keineswegs aber auf deren Folgen und den Schaden zu beziehen braucht. Ein Ausweichen auf eine Individualabrede ist, wie dargelegt, faktisch nicht ausnahmslos möglich; selbst wo das doch der Fall ist, rechtfertigt ihr Unterbleiben keineswegs immer und ohne weiteres das generelle Verbot einer Vorsorge in AGB. Es kann auch keine Rede davon sein, daß die Interessen des Kunden stets das Verbot der Haftungsbegrenzung legitimieren und die Unverhältnismäßigkeit 62
Vgl. die Nachw. in Fn. 59.
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des Eingriffs in die Privatautonomie hintanhalten; man denke nur an Verträge mit reichen Kommanditisten, GmbH-Gesellschaftern oder Freiberuflern, die alle keine Kaufleute sind und also uneingeschränkt den Schutz von § 11 Ziff. 7 AGBG genießen. Diese überaus undurchdachte63 Vorschrift ist daher insoweit, als sie auch eine Begrenzung der Haftung verbietet, gemäß Art. 2 I GG in Verbindung mit dem Übermaßverbot nichtig. Zu welch extremen Ungerechtigkeiten sie führen kann, zeigt sich etwa daran, daß sie nach ihrem Wortlaut nicht einmal die Verratung eines exorbitanten Schadensersatzanspruchs auf mehrere Jahre zuläßt, obwohl das zur Vermeidung des Konkurses sowie zur Steuerminderung durch Streckung der Schadensabtragung überaus sinnvoll sein kann. Über die Zulässigkeit einer Begrenzung der Haftung läßt sich daher sowohl bezüglich der Voraussetzungen als auch bezüglich des Ausmaßes nur nach dem flexiblen Maßstab des § 9 AGBG sachgerecht entscheiden, und daher hat der Gesetzgeber durch die starre Regelung des § 11 Nr. 7 AGBG seinen Gestaltungsspielraum eindeutig überschritten und das Verhältnismäßigkeitsprinzip verletzt. Für den Verkehr mit Kaufleuten gilt nach § 24 AGBG ohnehin nur die Generalklausel von § 9 AGBG, so daß auf Grund verfassungskonformer Auslegung ein vernünftiger Selbstschutz gegenüber exorbitanten Schäden ohne weiteres möglich ist; natürlich erlaubt das aber nicht beliebige Haftungsbegrenzungen im kaufmännischen Verkehr, weshalb die bisher hierfür entwickelten Schranken64 durch die hier vertretene Ansicht nicht berührt werden. 4. Die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Einschränkung der Leistungsbefreiung des Versicherers nach §§ 61, 152 VVG mit Hilfe von § 242 BGB Nach § 61 VVG ist der Versicherer in der Schadensversicherung „von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt“. Das ist in dieser Allgemeinheit jedenfalls bei ruinösen und katastrophalen Schäden, darüber hinaus wohl sogar auch bei sonstigen exorbitanten Schäden nicht mit dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot vereinbar. Dabei dürfte hier nicht nur Art. 2 I, sondern sogar Art. 14 I GG einschlägig sein65; denn der Versicherungsnehmer hat den Anspruch auf den Versicherungsschutz, den ihm § 61 VVG nimmt, durch die
63 Die vorstehenden Gesichtspunkte werden nicht einmal andeutungsweise reflektiert von Kötz, Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentags, 1974, S. A 69 ff., durch dessen – noch wesentlich rigideren – Vorschläge § 11 Nr. 7 AGBG maßgeblich beeinflußt worden sein dürfte. 64 Vgl. dazu z. B. BGHZ 89, 363, 366 ff.; 93, 29, 48; BGH WM 1985, 1053, 1055. 65 Vgl. zur Abgrenzung näher oben II 2.
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Prämienzahlungen, also durch eigene Vermögensopfer erworben 66. Bei [1004] einigermaßen „normaler“ Schadenshöhe ist § 61 VVG dabei durch den Zweck legitimiert, den Versicherungsnehmer von einem sorglosen Verhalten abzuschrecken und die Abwälzung der Folgen auf die übrigen Versicherungsnehmer (auf dem Umweg über die Prämie) zu verhindern. Fährt jemand sein vollkaskoversichertes Auto grob fahrlässig zu Schrott, so ist also gegen die unmodifizierte Anwendung von § 61 VVG von Verfassungs wegen nichts einzuwenden. Steckt jemand jedoch Haus und Hof, seine Fabrik usw. grob fahrlässig in Brand oder ruiniert er auf andere Weise grob fahrlässig seine Existenz, stellt die unmodifizierte Anwendung von § 61 VVG ein verfassungswidriges Übermaß dar; denn den berechtigten Zwecken von § 61 VVG ist schon durch eine kräftige „Selbstbeteiligung“ des Versicherungsnehmers an dem Schaden ausreichend Rechnung zu tragen, so daß der vollständige Anspruchsverlust hier weit über das legitime Ziel hinaus geht. Auch ist es gerade der wesentliche Sinn manch einer Versicherung – etwa einer Brandversicherung –, ruinöse, katastrophale oder sonstige exorbitante Schäden abzufangen. § 61 VVG schränkt in derartigen Fällen daher geradezu wesentliche Rechte bzw. Pflichten, die sich aus der Natur des Versicherungsvertrages ergeben, so weitgehend ein, daß die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist, zumal die Abgrenzung zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit, wie gesagt, mit großen Unsicherheitsfaktoren belastet ist, und hielte daher als AGB-Klausel einer Inhaltskontrolle am Maßstab von § 9 II Ziff. 2 AGBG nicht stand. Als Norm des vertragsergänzenden dispositiven Rechts unterliegt § 61 VVG statt dessen grundsätzlich dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot67. Dieses führt zwar nicht zur Nichtigkeit der Vorschrift, da es hier kein Verbot der geltungserhaltenden Reduktion gibt, wohl aber zu einer verfassungskonformen Einschränkung mit Hilfe des Rechtsmißbrauchseinwandes gemäß § 242 BGB in der Höhe, in der der Ausschluß des Anspruchs auf die Versicherungsleistung durch den Präventionszweck von § 61 VVG nicht gedeckt ist. Die Ausführungen oben 2 bei Fn. 56 gelten insoweit entsprechend. Eine ähnliche Reduktion von § 61 VVG ist bei vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalles vorzunehmen, sofern und soweit sich der Vorsatz nicht auf den gesamten Schadensumfang bezieht. Ähnliches kommt für den Ausschluß des Versicherungsschutzes bei der Haftpflichtversicherung nach § 152 VVG in Betracht. Zwar gilt dieser anders als § 61 VVG nicht bei grober Fahrlässigkeit, sondern nur dann, „wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich den Eintritt der Tatsache, für die er dem Dritten verantwortlich ist, widerrechtlich herbeigeführt hat“, doch stellt sich auch hier das 66 Dieser Gesichtspunkt spielt im Rahmen von Art. 14 GG anerkanntermaßen eine besondere Rolle, vgl. z. B. BVerfGE 14, 288, 293 f.; 53, 257, 291 f. m. w. Nachw. 67 Vgl. näher Canaris AcP 184 (1984) 214 f.
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Reduktionsproblem, wenn man die Vorschrift so auslegt, daß der Versicherungsnehmer den Erfolg nach Art oder Umfang nicht vorausgesehen haben muß oder sich der Vorsatz gar nur auf das haftungsbegründende Ereignis, nicht aber auch auf den weiteren Kausalverlauf zu beziehen braucht68. Bei ruinösen, katastrophalen oder sonstwie exorbitanten Schäden ist § 152 VVG dann ebenfalls mit Hilfe von § 242 BGB auf einen angemessenen „Selbstbehalt“ zu reduzieren.
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Vgl. dazu statt aller Prölss/Martin VVG, 23. Aufl. 1984, § 152 Anm. 1 m. w. Nachw.
Zur Problematik von Privatrecht und verfassungsrechtlichem Übermaßverbot – Ein Schlußwort zu den vorstehend abgedruckten Erwiderungen von Ramm und Wieser – JZ 1988, S. 494–499 I. Zu dem Beitrag von Ramm 1. Zum Verhältnis von Verfassung und Privatrecht a) Die Gelegenheit zu einem Schlußwort, die mir die Redaktion dankenswerterweise angeboten hat, muß zunächst zu einigen Klar- und Richtigstellungen benutzt werden. Die erste betrifft die Behauptung Ramms, daß ich „die inhaltliche Bindung des Gesetzgebers (!) an die Gesetzesvorbehalte der Freiheitsrechte“ aufgebe (vgl. unter I 5 a). Davon steht indessen weder in meinem Aufsatz JZ 1987, 993 ff. noch in meinem Aufsatz AcP 184, 201 ff., auf den Ramm ebenfalls Bezug nimmt, etwas. Vielmehr verkennt Ramm hier die für meine Konzeption grundlegende Unterscheidung zwischen Akten des Staates und Akten von Privatrechtssubjekten. Richtig ist nämlich in der Tat – und nur das kann Ramm mit dieser Bemerkung im Auge haben –, daß ich die von ihm und Leisner aus den Gesetzesvorbehalten gezogenen Konsequenzen für die Bindung der Privatrechtssubjekte an die Grundrechte und die damit zusammenhängende Lehre dieser beiden Autoren von der „unmittelbaren Drittwirkung“ ablehne. Etwas ver- [495] kürzt gesagt geht es dabei um die Frage, ob man aus Vorhandensein, Grenzen oder Fehlen eines Gesetzesvorbehalts erschließen kann, ob und inwieweit das Grundrecht durch Rechtsgeschäft eingeschränkt werden kann. Das habe ich seinerzeit verneint1, doch spielt diese Problematik für meinen Aufsatz JZ 1987, 993 ff. überhaupt keine Rolle. Diese Diskussion kann daher im Rahmen dieser Replik nicht wieder aufgenommen werden, zumal Ramm gegen meine ausführliche Begründung keinerlei Gegenargumente vorgetragen hat. Wohl aber muß hier das Mißverständnis zurückgewiesen werden, ich würde eine Bindung des Gesetzgebers an die Gesetzesvorbehalte ablehnen; richtig ist nur, daß ich die Privatrechtssubjekte nicht als an die Gesetzesvorbehalte gebunden ansehe und rechtsge1
Vgl. Canaris AcP 184 (1984), 204 f.
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schäftliche Einschränkungen der Freiheitsrechte daher – im Einklang mit der ganz h. L. – unabhängig von der Systematik der Gesetzesvorbehalte für zulässig halte. Auf das Randproblem, ob der Privatrechtsgesetzgeber ausnahmsweise dann, wenn er lediglich den mutmaßlichen Parteiwillen typisierend festlegt, also vertragsergänzendes dispositives Recht schafft, ebenfalls nicht an die Gesetzesvorbehalte gebunden ist2, zielt Ramm ersichtlich nicht ab; außerdem kommt es auch darauf für die in meinem Beitrag JZ 1987, 993 ff. entwickelten Thesen nicht an. b) Nicht zutreffend ist auch die einleitende Bemerkung von Ramm, daß ich „an die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung anknüpfe“. Ich lehne diese Lehre vielmehr nachdrücklich ab, wobei ich diesen Terminus freilich entgegen dem insoweit diffusen Sprachgebrauch Ramms in einem ganz bestimmten Sinne verwende und nur für diejenigen Lehren benutze, nach denen die Privatrechtssubjekte selbst – also z. B. die Vertragsparteien, der Testator, der Schädiger, der Nachbar usw. – als Normadressaten der Grundrechte anzusehen sind3. Demgegenüber ist nach meiner Auffassung grundsätzlich nur der Staat Normadressat der Grundrechte. Dazu gehört auch der Gesetzgeber auf dem Gebiete des Privatrechts, und daher ist dieser nach meiner Ansicht gemäß Art. 1 III GG „unmittelbar“ an die Grundrechte gebunden. Schon das als „unmittelbare Drittwirkung“ zu bezeichnen, ist jedoch weder üblich noch zweckmäßig. Zwar ist die Bindung des Privatrechtsgesetzgebers (entgegen der Auffassung mancher Anhänger der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung) in der Tat eine unmittelbare, doch hat es keinen vernünftigen Sinn, insoweit von Drittwirkung zu sprechen – auch wenn man wie Ramm den Streit über die Brauchbarkeit der gesamten Drittwirkungsterminologie ignoriert4. c) Die Kehrseite von Ramms Überbewertung der Aussagekraft der Gesetzesvorbehalte ist seine Geringschätzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, dem er nur einen „untergeordneten Platz“ zubilligen will. Soweit er darauf Polemik gegen mich stützt, befinde ich mich indessen in bester Gesellschaft. Sowohl das BVerfG als auch die ganz h. L. ziehen nämlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip bekanntlich als bei weitem wichtigstes Mittel zur Beschränkung von Grundrechtseingriffen heran. Demgegenüber weisen die Gesetzesvorbehalte eine weit geringere Effizienz auf, zumal auch Grundrechte ohne (geschriebenen) Gesetzesvorbehalt nach Ansicht des BVerfG zum Schutz anderer Grundrechte eingeschränkt werden können5. Außerdem und vor allem aber geht es nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-als-Auch: Da auch ich, wie dargelegt, den Gesetzgeber Vgl. dazu Canaris AcP 184 (1984), 213 f. Vgl. Canaris AcP 184 (1984), 202 ff. 4 Zu meiner eigenen Position hinsichtlich der Frage, ob man an der hergebrachten Drittwirkungsterminologie überhaupt noch festhalten soll, vgl. AcP 184 (1984), 227 f. 5 Vgl. z.B. BVerfGE 30, 173, 193 f.; 32, 98, 107 f.; 44, 37, 49 f.; 47, 327, 369; 57, 70, 99; 67, 213, 228; BVerfG NJW 1987, 2661, 2662. 2 3
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keineswegs von der Bindung an die Gesetzesvorbehalte freistelle, sind diese als erste Stufe grundsätzlich der Prüfung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vorgelagert. Daß bei letzterer „Wertungen“ notwendig sind, ist eine Selbstverständlichkeit für nahezu jede Rechtsfindung und insbesondere für die Konkretisierung einer derartigen Generalklausel, so daß mir die hierauf gestützte Polemik von Ramm gegen meine Ausführungen nicht verständlich ist. Demgemäß trifft es auch nicht zu, daß bei der Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips „die Flucht in verbale Entrüstung zwangsläufig ist“ und daß „eine Fülle von Wertungen“ in meinem Aufsatz als Bestätigung dafür anzusehen ist. Übrigens ist der Ausdruck „unverhältnismäßiges Übermaß“, den Ramm in diesem Zusammenhang kritisiert, keineswegs ein „tautologischer Begriff“. Denn ich verwende den Begriff des Übermaßverbots in einem so allgemeinen Sinne, daß er der Ergänzung durch einen bestimmten Maßstab bedarf; so gibt es nach meiner Terminologie z. B. auch ein sittenwidriges Übermaß6, das natürlich oberhalb des unverhältnismäßigen Übermaßes liegt, wie andererseits auch ein Übermaß vorstellbar ist, das noch unterhalb der Schwelle der Unverhältnismäßigkeit liegt (und also verfassungsrechtlich irrelevant ist, aber z. B. auf der Ebene des einfachen Rechts u. U. praktische Bedeutung haben kann).
2. Zum verfassungsrechtlichen Schutz der Privatautonomie a) Ramm kritisiert an meiner Position des weiteren, daß ich der Privatautonomie „nur denselben Rang wie allen Institutsgarantien, Eigentum, Erbrecht, Vereins- und Koalitionsfreiheit“ zuspreche, wohingegen die von ihm selbst vertretene „die Freiheitsrechte systematisch ordnende Drittwirkungstheorie die Verbindungslinie zum absoluten Eingriffsverbot für den Gesetzgeber bei der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit zieht und damit der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie ... einen höheren Schutz zuspricht“ (vgl. unter II 3 a). Dieser Angriff geht indessen an der Stoßrichtung dieser meiner Ausführungen vorbei. Ich habe mich nämlich an der betreffenden Stelle lediglich gegen die vor allem von Flume vertretene Ansicht gewandt, wonach die Privatautonomie noch nicht einmal denselben verfassungsrechtlichen Schutz wie die übrigen Institutsgarantien genießen und insbesondere mit dem Eigentum verfassungsrechtlich nicht auf eine Stufe gestellt werden soll. Ob sie u. U. sogar noch einen stärkeren Schutz genießen kann, habe ich gar nicht erörtert. Allerdings scheinen mir insoweit generelle Aussagen, wie Ramm sie machen will, in der Tat nicht vertretbar. Ein „absolutes Eingriffsverbot für den Gesetzgeber“ gibt es hinsichtlich der Privatautonomie mit Sicherheit nicht. Vielmehr kommt es darauf an, welches Grundrecht durch den Eingriff in die Privatauto6
Vgl. Canaris AcP 184 (1984), 209 mit Fn. 25.
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nomie jeweils berührt ist und wie nahe der Eingriff an den „Kern“ der Persönlichkeit heranreicht. Wie sonst auch kann das Verhältnismäßigkeitsprinzip nur durch bereichsspezifische Differenzierungen sinnvoll konkretisiert werden. Ist etwa lediglich die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung beeinträchtigt wie z. B. bei Devisenvorschriften, Export- und Importverboten oder dgl., ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers grundsätzlich wesentlich größer als bei Gesetzen, die die spezifisch personale Sphäre betreffen und bei denen daher nicht nur Art. 2 I GG allein, sondern, wie das BVerfG zu sagen pflegt, Art. 2 I „in Verbindung mit Art. 1 I GG“ berührt ist. Zum letzteren Bereich gehört gewiß die Problematik der Geschäftsfähigkeit. b) Ramm thematisiert sie unter dem Stichwort des „Zugangs zum Rechtsverkehr“ und meldet Zweifel an, ob diese „unter die Beschränkungen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie eingeordnet oder von ihr unterschieden werden soll“ (vgl. unter II 3 c). Indessen kann wohl nicht bestritten werden, daß die Entziehung der Geschäftsfähigkeit durch Entmündigung eine „Beschränkung“ der Privatautonomie darstellt. Soweit diese dagegen einer Person von vornherein [496] vorenthalten wird – etwa durch zu hohe Ansetzung des Volljährigkeitsalters –, liegen in der Tat „Beschränkung“ und „Ausgestaltung“ des Grundrechts sehr nahe beieinander. Die Grenzziehung ist jedoch so vage und der Übergang so fließend, daß ich es – insoweit in Gegensatz zu Lerche – ablehne, von dieser Unterscheidung die Anwendung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots abhängig zu machen7. Denn Quantität schlägt hier alsbald in Qualität um: Die zu engherzige „Ausgestaltung“ – etwa durch zu hohe Ansetzung des Volljährigkeitsalters – kann genauso gut als „Eingriff“ in eine „an sich“ gegebene, weil dem einfachen Gesetzgeber schon von Verfassungs wegen im Grundsatz vorgegebene Rechtsposition – hier die Privatautonomie – gedeutet werden. Übrigens geht auch das BVerfG davon aus, daß nicht nur (echte) „Einschränkungen“ von Grundrechten, sondern auch (bloße) „Ausgestaltungen“ am Verhältnismäßigkeitsprinzip zu messen sind, wie etwa in der Naßauskiesungsentscheidung unmißverständlich ausgesprochen ist8. 3. Zum Recht der Geschäftsfähigkeit a) Gegen meinen Vorschlag, den – m. E. verfassungswidrigen – § 105 BGB durch analoge Anwendung der §§ 107 ff. BGB auf die Fälle der Geschäftsunfähigkeit zu ersetzen, wendet Ramm ein, danach käme es für die Frage der „Günstigkeit“ eines Briefmarkentauschs, eines Aktien- oder Grundstückskaufs usw. „auf das 7 8
Vgl. Canaris JZ 1987, 995 Sp. 2. Vgl. BVerfGE 58, 300, 346 ff.; ähnlich z.B. BVerfGE 58, 137, 148; 62, 169, 183.
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Ergebnis zur Zeit der richterlichen (!) Würdigung und die Berücksichtigung bis dahin eingetretener Veränderungen“ an und das sei ein Beispiel „einer zwar weit verbreiteten, dennoch juristisch indiskutablen Kadijustiz“ (vgl. unter II 3 a). Demgegenüber ist lediglich auf den Inhalt der §§ 107 ff. BGB zu verweisen: Es kommt nur auf die rechtliche Vorteilhaftigkeit, nicht aber auf die wirtschaftliche „Günstigkeit“ des Geschäfts an; über letztere hat in keiner Weise der Richter zu entscheiden, sondern der Genehmigungsbefugte, also i. d. R. der gesetzliche Vertreter – und zwar im Zeitpunkt der Genehmigung oder ihrer Verweigerung. Da natürlich insoweit bei einer analogen Anwendung der §§ 107 ff. BGB nichts anderes gelten kann als im Bereich ihrer unmittelbaren Anwendung, ist diese Argumentation Ramms juristisch nicht nachvollziehbar. b) Des weiteren nimmt Ramm daran Anstoß, daß es nach meiner Lösung auf die natürliche Handlungsfähigkeit ankommt. Darauf ist schlicht zu erwidern: Das ist schon bisher so und von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Denn auch schon jetzt ist anerkannt, daß ein wirksames Rechtsgeschäft bei Fehlen der natürlichen Handlungsfähigkeit nicht vorliegt – worauf ich JZ 1987, 997 bei Fn. 40 ausdrücklich eingegangen bin. Bezüglich der „natürlichen“ Testierfähigkeit steht ähnliches ausdrücklich in § 2229 IV BGB, den Ramm nicht einmal zitiert, obwohl meine Lösung ausdrücklich auf dieser Vorschrift aufbaut. c) Entsprechendes ist zu Ramms Einwand zu sagen, die „normative Unfreiheit“, die bisher für Geschäftsunfähige und bezüglich der Testier- und der Ehefähigkeit in weitem Umfang auch für beschränkt Geschäftsfähige besteht, werde durch die „individuelle Abhängigkeit“ vom gesetzlichen Vertreter ersetzt. Das mag man rechtspolitisch bedauern – Reformvorhaben sind ja in dieser Hinsicht im Gange –, doch vermag ich auch hierin keinen Verfassungsverstoß zu sehen – und nur davon handelt mein Aufsatz. Außerdem sollte man nicht immer nur den uneinsichtigen oder gar böswilligen gesetzlichen Vertreter als „Leitbild“ vor Augen haben. Es ist ja schon etwas gewonnen, wenn der gesetzliche Vertreter wenigstens zustimmen kann. Auch habe ich durch eine Analogie zu §§ 3 III EheG, 1746 III, 113 III 2 BGB die Möglichkeit zur Ersetzung der vom gesetzlichen Vertreter verweigerten Zustimmung durch das Vormundschaftsgericht für die Fälle der Testamentserrichtung und der Eheschließung zu schaffen versucht. So gesteht denn auch Ramm zu, daß es sich bei meiner Lösung „vom Standpunkt des Individuums aus um ein geringes Maß an mehr Freiheit handelt“. Er meint jedoch, hierfür würde ein „erheblicher Preis“ durch den Streit um den triftigen Grund für die Ersetzung der verweigerten Zustimmung des Vertreters durch das Vormundschaftsgericht gezahlt. Das liegt indessen neben der Sache. Denn zum einen kann man es bei der Zustimmungsmöglichkeit durch den gesetzlichen Vertreter bewenden lassen und braucht nicht den – davon ganz unabhängigen – zusätzlichen Gesichtspunkt der Ersetzungsmöglichkeit durch das Vormundschaftsgericht hinzuzunehmen, wenn man den hier drohenden Streit für einen relevanten Einwand hält. Und zum anderen kennt das Gesetz die Mög-
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lichkeit der Ersetzung der Genehmigung des Vertreters durch das Vormundschaftsgericht ja auch in den Fällen der unmittelbaren Anwendbarkeit der – von mir als Analogiebasis herangezogenen – §§ 3 III EheG, 1746 III, 113 III 2 BGB; Ramm müßte daher eine Begründung dafür geben, warum ein Konfliktspotential, das vom Gesetz im unmittelbaren Anwendungsbereich dieser Vorschriften in Kauf genommen wird, im Bereich ihrer analogen Anwendung untragbar ist (womit er im übrigen zugleich schon die Möglichkeit der Analogie wegen der dann fehlenden „Rechtsähnlichkeit“ tatbestandlich widerlegen und damit das Problem überhaupt obsolet machen würde). Völlig an meiner Argumentation vorbei geht das in diesem Zusammenhang gebrachte Beispiel Ramms, daß „Streit um den Wert der von dem 6jährigen getauschten Briefmarken“ entsteht. Denn ich habe die Ersetzung der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters nur für die Fälle der Testamentserrichtung und der Eheschließung bejaht. Für Allerweltsgeschäfte wie den Briefmarkentausch kann die Analogie zu den genannten Vorschriften bei Geschäftsunfähigen selbstverständlich ebensowenig in Betracht kommen wie bei beschränkt Geschäftsfähigen; warum sollte denn auch insoweit für jene etwas anderes gelten als für diese?!
d) Die praktische Bedeutung meiner Ausführungen glaubt Ramm mit dem Satz kommentieren zu sollen: „Tant de bruit pour une omelette“. Er zitiert zwar immerhin noch, daß ich die praktische Bedeutung der von mir behaupteten Verfassungswidrigkeit von § 105 BGB selbst als „insgesamt vergleichsweise gering“ eingestuft habe, übergeht aber meine anschließende Bemerkung, daß die verfassungsrechtliche Kritik an § 105 BGB für mich nur die erste Stufe für die Behandlung einer Reihe weiterer Probleme ist, „deren praktische Brisanz z. T. erheblich größer ist“. In der Tat ist es zweifellos nicht ohne erhebliche „praktische Brisanz“, daß z. B. ein wegen Rauschgift- oder Trunksucht Entmündigter auch mit Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters und des Vormundschaftsgerichts weder seiner Kirche noch „seiner“ Partei eine größere Spende machen und trotz Vorliegens der natürlichen Testierfähigkeit i. S. von § 2229 IV BGB nicht eine nach seiner Entmündigung notwendig gewordene letztwillige Verfügung wie z. B. eine Erbeinsetzung vornehmen, Vor- und Nacherbschaft anordnen, einen Testamentsvollstrecker bestellen kann usw. Nicht weniger brisant sind die von § 1 II EheG gezogenen starren, also auch durch Zustimmung des gesetzlichen Vertreters und des Vormundschaftsgerichts nicht überwindbaren Grenzen der Ehefähigkeit. Ein Beispiel Ramms gibt hier besonders zu denken: „Der schwangeren 17jährigen niederbayerischen Magd wird einjährige Schmach und Schande erspart – sie darf den 15jährigen Vater sofort heiraten“. Welches „Vorverständnis“ steht eigentlich dahinter, daß hier ausgerechnet eine Magd aus Niederbayern als Beispiel gewählt wird? Wenn in anderen Gesellschaftsschichten und in anderen Landstrichen ein uneheliches [497] Kind nicht (mehr) als „Schmach und Schande“ empfunden wird – soll das ernstlich von verfassungsrechtlicher Relevanz
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sein? Oder muß sich, wer das durch ein solches Beispiel auch nur insinuiert, nicht vielmehr fragen lassen, wie es mit seinem Verständnis von Art. 1 I und Art. 6 I GG bestellt ist und welches Maß an verfassungswidriger Intoleranz, ja Diskriminierung hier mitschwingt?! Im übrigen: Warum wählt Ramm gerade einen 15jährigen Vater und geht nicht auf meine Beispiele ein, in denen eine 15jährige Schwangere den volljährigen Vater oder eine 17jährige Schwangere den 17jährigen Vater heiraten will? Warum unterstellt Ramm einfach, daß die 17jährige nur ein Jahr auf die Ehe warten muß und zieht nicht, wie von mir ebenfalls bereits vorgebracht, in Betracht, daß nach einem Jahr die ursprünglich vorhandene Heiratswilligkeit des Vaters vorüber und die Chance, den institutionellen Bindungseffekt der Ehe zu nutzen, damit endgültig vertan sein kann? Und schließlich: Warum soll nicht auch bei einem 15jährigen Vater das Vormundschaftsgericht die Ehereife prüfen können, wie das vor der „Reform“ des § 1 EheG im Jahre 1974 vom Gesetzgeber bezüglich eines 15jährigen ehewilligen Mädchens mit Selbstverständlichkeit erwartet wurde9 und warum soll nicht auch in seinem Fall geprüft werden können, ob es seinen Interessen nicht eher entspricht, ehelicher als unehelicher Vater zu werden? e) Im übrigen haben sowohl der verfassungsrechtliche Ansatz als auch die praktische Bedeutsamkeit der von mir behandelten Problematik inzwischen eine Stütze durch den „Diskussions-Teilentwurf eines Gesetzes über die Betreuung Volljähriger“ erfahren, den der Bundesminister der Justiz vor kurzem veröffentlicht hat. Darin wird unter ausdrücklicher Berufung auf den „mit Verfassungsrang ausgestatteten Erforderlichkeitsgrundsatz“ (S. 93) eine grundlegende Reform des gesamten Entmündigungsrechts vorgeschlagen. Diese deckt sich z. T. mit wesentlichen Anliegen meines Aufsatzes – so z. B. in dem Vorschlag, § 104 Ziff. 3 BGB abzuschaffen (S. 78) und hinsichtlich der Testierfähigkeit nur auf die „natürliche“ Testierunfähigkeit i. S. des geltenden § 2229 IV BGB abzustellen (S. 78 und S. 119). Daß der Entwurf noch weit über meine Thesen hinausgeht, nimmt nicht wunder, da mein Aufsatz ja nur bestehende Verfassungsverstöße und Abhilfsmöglichkeiten de lege lata aufzeigen sollte und der (einfache) Gesetzgeber selbstverständlich einen ungleich größeren Spielraum zur Reformierung des geltenden Rechts hat. Freilich bleibt der Entwurf insofern hinter meinen Thesen zurück, als er die m. E. verfassungswidrige Folge der Vollnichtigkeit nach § 105 BGB – die auch in Zukunft praktische Bedeutung für die Fälle von § 104 Ziff. 1 und 2 sowie von § 105 II BGB haben würde – nicht zu beseitigen vorschlägt, doch hat die Arbeitsgruppe, die den Entwurf erarbeitet hat, auch die Kritik an der Erstreckung von § 105 BGB auf rechtlich vorteilhafte Geschäfte und am Fehlen einer Genehmigungsmöglichkeit erörtert und hierzu lediglich deshalb keine Reformvor9 Vor 1974 gab es für Frauen keine altersmäßige Untergrenze für die Möglichkeit einer vormundschaftsgerichtlichen Befreiung vom – damals geltenden – Erfordernis der Vollendung des sechzehnten Lebensjahres.
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schläge gemacht, weil „dies den Gegenstand ihres Auftrags und den zur Verfügung stehenden Zeitrahmen überschritten hätte“ (S. 97 f.). 4. Zum Schadensersatzrecht a) Die von mir auf Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG und das verfassungsrechtliche Übermaßverbot gestützte und über § 242 BGB ins geltende Privatrecht umgesetzte schadensersatzrechtliche Reduktionsklausel bei für den Schädiger ruinösen oder katastrophalen Ersatzpflichten soll nach Ramms Interpretation meines Aufsatzes „nicht für die Vertragshaftung gelten“ (vgl. u. III 1 a). Das wäre in der Tat unsinnig, doch steht davon kein Wort in meinem Aufsatz. Vielmehr ist S. 1001 ausdrücklich die Haftung aus positiver Forderungsverletzung einbezogen. Die Ausführungen auf S. 1003, auf die sich Ramm insoweit beruft, befassen sich lediglich mit der Möglichkeit eines zusätzlichen Selbstschutzes durch Haftungsbegrenzungs- und -ausschlußklauseln; denn eine Vertragspartei darf nicht auf die ganz unsichere Möglichkeit einer Reduktion ihrer Schadensersatzhaftung durch den Richter beschränkt werden, sondern muß nach dem Grundsatz der Privatautonomie selbst Vorsorge treffen können. b) Unzutreffend ist des weiteren die pauschale Behauptung Ramms, nach meiner Ansicht gelte die schadensersatzrechtliche Reduktionsklausel „nicht für juristische Personen, selbst nicht bei massenhafter Arbeitslosigkeit ihrer Arbeitnehmer“. Demgegenüber heißt es bei mir, daß „es in erster Linie darauf ankommt, welche Auswirkungen sich für ihre Mitglieder und Arbeitnehmer ergeben“, und daß also darauf abzustellen ist, ob diese „ruinös oder katastrophal betroffen werden“. Allenfalls insofern hat Ramm also recht, als ich in der Tat „massenhafte Arbeitslosigkeit“ von Arbeitnehmern einer juristischen Person für sich allein nicht als hinreichenden Grund dafür ansehe, einer juristischen Person den Konkurs wegen eines ihr zuzurechnenden Schadens zu ersparen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß ich nicht de lege ferenda, sondern von Verfassungs wegen und de lege lata argumentiere. Daß aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG ein Gebot herzuleiten sein soll, den Konkurs einer schadensersatzpflichtigen juristischen Person allein mit Rücksicht auf die Arbeitsplätze ihrer Arbeitnehmer zu verhindern, halte ich in der Tat nicht für geltendes Recht. c) Ein Sachargument Ramms gegen die von mir angenommene schadensersatzrechtliche Reduktionsklausel geht dahin, es müsse „in jedem Fall die Präventivwirkung hergestellt werden, die vom Gebot des Schadensausgleichs ausgeht“ (vgl. unter III 3 b). Diese ist jedoch auch nach meiner Lösung nicht wesentlich beeinträchtigt – zum ersten, weil auch danach der Schädiger sogar einen für ihn ruinösen oder katastrophalen Schaden zu ersetzen hat, wenn das durch das Ausgleichsbedürfnis des Geschädigten, also vor allem durch dessen Vermögensverhältnisse gefordert wird; zum zweiten, weil der Schädiger in jedem Falle
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einen erheblichen Sockelbetrag selbst zu tragen hat, bei dessen Bemessung das Gericht dem Präventionsgedanken voll Rechnung tragen kann; und zum dritten, weil unterhalb der Stufe der ruinösen oder katastrophalen Schadenshöhe eine Reduktion der Ersatzpflicht von mir nicht (als von Verfassungs wegen geboten) propagiert wird und die Herbeiführung eines Schadens in Kenntnis seiner ruinösen oder katastrophalen Höhe ja einen seltenen Grenzfall bildet (den man überdies entgegen meiner Ansicht durchaus aus dem Anwendungsbereich der Reduktion generell herausnehmen könnte, ohne daß das meine Konzeption im übrigen irgendwie in Frage stellen würde). d) Schließlich leugnet Ramm ein „sachliches Bedürfnis“ für eine schadensersatzrechtliche Reduktionsklausel, weil „bereits jetzt ,Schuldnerberatung‘ und Bewährungshilfe durch gütliche Übereinkommen zu einer Herabsetzung der Schulden zu gelangen suchen“ (vgl. unter III 2). Wie eine solche auf rein freiwilliger Basis beruhende Möglichkeit der „Herabsetzung“ von Schulden ein vollwertiges Äquivalent für einen von Rechts wegen erfolgenden Schutz vor ruinösen oder katastrophalen Schadensersatzpflichten soll bilden können, ist indessen juristisch nicht nachvollziehbar. II. Zu dem Beitrag von Wieser 1. Zu § 105 I BGB a) Wieser leugnet, daß Zustimmungsbedürftigkeit nach § 107 ff. BGB das „mildere Mittel“ zum Schutz des Geschäftsunfähigen ist als unheilbare Nichtigkeit nach § 105 I BGB. Das Gegenteil ist indessen evident: Wenn jemandem vom Recht [498] die Fähigkeit vorenthalten oder genommen wird, überhaupt irgendwelche Rechtsfolgen herbeizuführen, so wird dadurch seine Privatautonomie zweifellos stärker eingeschränkt, als wenn ihm diese Fähigkeit wenigstens bei Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters zukommt. Wenn Wieser zur Begründung seiner gegenteiligen Ansicht vorbringt, der gesetzliche Vertreter könne bei der Erteilung der Zustimmung „falsch“ entscheiden, so liegt das neben der Sache und neben der gesetzlichen Regelung. Denn zum einen kann der gesetzliche Vertreter auch „falsch“ entscheiden, wenn er das Rechtsgeschäft selbst an Stelle des Geschäftsunfähigen vornimmt, und zum anderen kann er auch „falsch“ entscheiden, wenn er dem Geschäft eines beschränkt Geschäftsfähigen zustimmt. Weder die von Wieser angesprochene Problematik noch seine Argumentation ist somit spezifisch gerade für die Fälle des § 105 I BGB, so daß auf diese Weise die dort angeordnete Folge der Totalnichtigkeit keinesfalls zu legitimieren ist. b) Ähnliches gilt für die Argumentation, mit der Wieser rechtfertigen will, daß Geschäftsunfähige keine rechtlich vorteilhaften Geschäfte vornehmen können. Daß Minderjährige durch deren Vornahme „allmählich lernen sollen, selbständig
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– d. h. ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters – am rechtsgeschäftlichen Verkehr teilzunehmen“, stellt schon deshalb kein sachgerechtes Differenzierungskriterium dar, weil das auch auf wegen Geisteskrankheit Entmündigte passen kann; denn der Begriff der Geisteskrankheit schließt nicht notwendig die Unfähigkeit der Rehabilitation ein. Ebensowenig überzeugt das Argument, rechtlich vorteilhafte Geschäfte könnten „in anderer Hinsicht erhebliche Nachteile für den Minderjährigen mit sich bringen“ wie z. B. das geschenkte Fernsehgerät wegen seines „Verblödungseffekts“. Der gesetzliche Vertreter kann diese Nachteile nämlich ohne weiteres beheben, indem er den unerwünschten Gegenstand – das Schulbeispiel ist das geschenkte Haustier – kraft seiner Vertretungsmacht einfach wieder abschafft. Das Problem und seine Lösung sind dabei wieder für beschränkt Geschäftsfähige nicht anders als für Geschäftsunfähige, so daß auch hieraus der Unterschied der Rechtsfolgen des § 105 I BGB gegenüber denen der §§ 107 ff. BGB nicht zu legitimieren ist. c) Meinem Argument, die Praxis weiche der Anwendung von § 105 BGB weitgehend durch die Wahl anderer Wege wie der dauernden Aufrechterhaltung vorläufiger Vormundschaft oder der bloßen Anordnung einer Gebrechlichkeitspflegschaft aus und darin liege ein Indiz für die Sachwidrigkeit der gesetzlichen Regelung, hält Wieser entgegen, das könne „seinen Grund genauso gut darin haben, daß die Fälle, in denen der Schutz einer geistesbehinderten Person Geschäftsunfähigkeit erfordert, seltener sind als die Fälle, in denen beschränkte Geschäftsfähigkeit oder ein Pfleger genügt“. Meine Diagnose wird indessen voll bestätigt durch den oben I 3 e erwähnten „Diskussions-Teilentwurf“, den das Bundesjustizministerium veröffentlicht hat und der auf gründlichen empirischen Vorarbeiten beruht. Dort heißt es nämlich auf S. 70: „Das geschriebene Recht in seiner ursprünglichen Konzeption wird nicht mehr angenommen. Die Praxis hat vielmehr Ausweichmodelle zur gesetzlichen Konzeption entwickelt. Dabei haben sich starke regionale Unterschiede ergeben, deren Ursachen sich nicht auf unterschiedliche tatsächliche Gegebenheiten zurückführen lassen. So hat sich die Anordnung der Gebrechlichkeitspflegschaft mehr und mehr aber örtlich sehr unterschiedlich – zu einer Ersatzform für die Entmündigung entwickelt.“
d) Meinen Hinweis, die in den Protokollen gegebene Begründung für die rigorose Rechtsfolge des § 105 BGB sei „wertungsmäßig inkonsistent“, hat Wieser mißverstanden. Wenn in den Protokollen die Genehmigungsunfähigkeit der Erklärung eines Geschäftsunfähigen mit dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit „begründet“ wird, diesem aber andererseits in den Fällen von § 104 Ziff. 2 BGB ohnehin nicht Rechnung getragen werden kann und die Begründung in den Protokollen überdies auch gar nicht auf diese Bestimmung, sondern nur auf § 104 Ziff. 1 und Ziff. 3 BGB bezogen ist, so zeigt das, daß der Gesetzgeber keine einheitliche und damit eben in Wahrheit zugleich überhaupt keine wertungsgemä-
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ße schlüssige Konzeption für die Rechtsfolge der Genehmigungsunfähigkeit nach § 105 I BGB gehabt hat. 2. Zu § 105 II BGB Die Totalnichtigkeit, d. h. Genehmigungsunfähigkeit nach § 105 II BGB will Wieser damit rechtfertigen, daß anderenfalls im Prozeß das Vorliegen des „Handlungswillens“ geprüft werden müßte und „diese schwierige Abgrenzungsfrage nach dem BGB dahingestellt bleiben kann“. Das ist indessen geradezu Wasser auf meine Mühlen. Denn daß ein Rechtsgeschäft im Zustand der Handlungsunfähigkeit vorgenommen wird, ist ein seltener Grenz- und Ausnahmefall, über den es kaum je zum Streit kommen wird. Demgegenüber kann der wesentlich eher praktisch werdende Streit über das Vorliegen der Voraussetzungen von § 105 II BGB nach meinem Lösungsvorschlag, nach dem § 108 III BGB analog anzuwenden ist, kurzerhand durch eine Genehmigung des Geschäftsunfähigen gegenstandslos gemacht werden, wenn dieser das Geschäft gelten lassen will – und nur um diesen Fall geht es ja im vorliegenden Zusammenhang. 3. Zu § 165 BGB a) Meiner Ansicht, entgegen dem an sich aus § 165 BGB zu ziehenden Umkehrschluß könne auch ein Geschäftsunfähiger als Stellvertreter fungieren, hält Wieser entgegen, daß ein Geschäftsunfähiger nicht zur sinnvollen Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr in der Lage sei, sei keine Fiktion, sondern entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung. Das trifft jedoch gerade für die Fälle der Stellvertretung nicht zu. Denn wenn einem Geschäftsunfähigen wirklich Vertretungsmacht erteilt und überdies mit ihm anschließend auch noch kontrahiert wird, so wird nach der „Lebenserfahrung“ seine Geschäftsunfähigkeit in aller Regel nicht von der Art sein, daß er überhaupt nicht sinnvoll am rechtsgeschäftlichen Verkehr teilnehmen kann. Daher ist es in der Tat nichts als „doktrinäre Konsequenzmacherei“, danach zu differenzieren, ob jemand ein sechs- oder ein siebenjähriges Kind, einen wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche Entmündigten zu seinem Stellvertreter gemacht hat; mag er sich das vorher überlegen oder wegen Irrtums über die Person des Bevollmächtigten die Vollmacht nach § 119 II BGB anfechten – insoweit zwischen Geschäftsunfähigen und beschränkt Geschäftsfähigen zu differenzieren, ist jedenfalls durch nichts gerechtfertigt. Wiederum neben der Sache liegt das weitere Argument Wiesers, nach meiner Ansicht „müßte sich der Geschäftspartner in jedem Falle erst vergewissern, ob der Geschäftsunfähige Vollmacht hat, obwohl das wahrscheinlich nur selten der
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Fall sein würde“. Das muß er doch ohnehin – insbesondere auch und gerade bei beschränkt Geschäftsfähigen! b) Für die Fälle nachträglichen Eintritts der Geschäftsunfähigkeit und der beschränkten Geschäftsfähigkeit habe ich die Unanwendbarkeit von § 165 BGB (auf Grund teleologischer Reduktion) und statt dessen eine Analogie zu §§ 166 I, 177 BGB vorgeschlagen. Wieser bezeichnet diese Analogie als „leichthändig“ und will statt dessen ohne nähere Vertiefung die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage heranziehen. Ob das weniger „leichthändig“ ist, mag dahinstehen. Eingeräumt ist damit jedenfalls, daß es sich hier um ein Sonderproblem handelt und daß man darauf nicht einfach § 165 BGB anwenden kann. Anders als ich will Wieser freilich auch insoweit zwischen Geschäftsunfähigkeit und beschränkter Geschäftsfähigkeit unterscheiden, gibt jedoch für die Sachgerechtigkeit dieser Unterscheidung keine Gründe an, sondern [499] bringt nur vor, es handele sich dabei um „die Konsequenz daraus, daß nur der beschränkt geschäftsfähige Vertreter rechtswirksam handeln kann“; da ich indessen eben das bestreite, ist das kein Gegenargument, sondern – soweit es um die Auseinandersetzung mit meiner Position geht – ein Zirkelschluß.
Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip in der richterlichen Anwendung und Fortbildung des Privatrechts JUS 1989, S. 161–172 I. Problemstellung Die Diskussion um das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht nimmt kein Ende. Ein Paukenschlag war, daß das BVerfG kürzlich ein Urteil des BGH, in dem dieser Minderjährige zur Erfüllung eines von ihrem gesetzlichen Vertreter für sie geschlossenen Vertrages verurteilt hatte, aufgehoben und die zugrundeliegende Vertretungsnorm des § 1629 BGB teilweise für verfassungswidrig erklärt hat1. Welche Konsequenzen man für die Verfassungsmäßigkeit anderer privatrechtlicher Vorschriften in Anlehnung hieran ziehen könnte, habe ich an anderer Stelle untersucht2. Hier soll demgemäß nicht die Frage nach der Verfassungswidrigkeit geschriebener Normen des Privatrechts im Vordergrund stehen, sondern statt dessen dem Problem nachgegangen werden, welchen Einfluß die Grundrechte auf die Anwendung und Fortbildung des Privatrechts durch die Gerichte haben. Daß sie überhaupt einen solchen Einfluß haben, ist eine Trivialität. Zu prüfen ist daher zum einen, wie dieser dogmatisch zu „erklären“ ist, und zum anderen, zu welchen praktischen Konsequenzen er führt. Für die erste Frage spielt die Unterscheidung der verschiedenen Grundrechtsfunktionen, für die zweite das verfassungsrechtliche Übermaßverbot, das sich in den Prinzipien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit konkretisiert3, eine zentrale Rolle. Demgemäß geht es in diesem Zusammenhang in erster Linie um die Thematik von „Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip“. Bei deren Erörterung wird die Fülle der causes célèbres wie Lüth, Blinkfüer und Wallraff, Schachtbrief, Soraya, Eppler und Böll, Lebach und Mephisto, aber auch eine Reihe weniger berühmter Entscheidungen, insbesonde-
1 Vgl. BVerfGE 72, 155; vgl. dazu z. B. K. Schmidt, BB 1986, 1238 ff.; M. Wolf, AcP 187 (1987), 319 ff.; Hüffer, ZGR 1987, 603 ff. 2 Vgl. Canaris, JZ 1987, 993 ff.; verwandte Probleme behandelt Struck, AcP 187 (1987), 404 ff. 3 Vgl. grdl. Lerche, Übermaß und VerfR, 1961, S. 19 ff.; vgl. ferner Grabitz, AÖR 98 (1973), 570 f. m. Nachw. zur Rspr. des BVerfG; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 198 ff.
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Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip re aus jüngster Zeit, Revue passieren und auf dogmatische Einordnung, Überzeugungskraft der Begründung sowie Richtigkeit des Ergebnisses untersucht werden.
II. Dogmatische Grundlagen 1. Die Unterscheidung zwischen Akten des Staates und Akten von Privatrechtssubjekten als Ausgangspunkt Ausgangspunkt für die Antwort auf die Frage nach der Wirkung der Grundrechte im Privatrecht ist die Unterscheidung zwischen Akten des Staates und Akten von Privatrechtssubjekten. Das folgt schon aus dem Wortlaut des Grundgesetzes. Denn nach Art. 1 I 2 GG ist es die Verpflichtung „aller staatlichen Gewalt“, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, und nach Art. 1 III GG binden die Grundrechte „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“ als unmittelbar geltendes Recht. Akte von Privatrechtssubjekten, also z. B. Rechtsgeschäfte, unerlaubte Handlungen oder nachbarrechtliche Beeinträchtigungen unterliegen daher als solche nach dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht der unmittelbaren Bindung an die Grundrechte, während andererseits Privatrechtsgesetzgebung und -rechtsprechung unmittelbar an diese gebunden sind. Die methodologische Ausgangslage ist daher – bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber reinen Wortlautargumenten – zweifelsfrei: Wer Privatrechtssubjekte der unmittelbaren Grundrechtsbindung unterwerfen will, kann das nur im Wege der Analogie oder einer anderen Form der wortlautüberschreitenden Rechtsfortbildung tun, und wer Privatrechtsgesetzgebung und -rechtsprechung von der unmittelbaren Grundrechtsbindung freistellen will, muß Art. 1 I 2 und III GG einer entsprechenden teleologischen Reduktion oder dgl. unterziehen. Mehr als die methodologische Ausgangsbasis für die Lösung der Problematik ist damit freilich nicht gewonnen. Um sie zu vertiefen, muß man zwischen den verschiedenen Funktionen der Grundrechte unterscheiden. 2. Die Grundrechte als Eingriffsverbote und das Übermaßverbot Die Grundrechte stellen bekanntlich in erster Linie Eingriffsverbote und Abwehrrechte dar. Praktische Effizienz erlangen sie dabei vor allem dadurch, daß Eingriffe in sie grundsätzlich einen entsprechenden Gesetzesvorbehalt voraussetzen und sich außerdem in den Grenzen des verfassungs- [162] rechtlichen Übermaßverbots, also der Prinzipien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit halten müssen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es folglich zunächst um die Frage, ob die Grundrechte als Eingriffsverbote und Abwehrrechte auch die Privatrechtssubjekte binden.
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a) Die grundsätzliche Unanwendbarkeit der Grundrechte als Eingriffsverbote auf Akte von Privatrechtssubjekten. Daß die Grundrechte als Eingriffsverbote sich auch an Privatrechtssubjekte richten, also auch diese zum Normadressaten haben, ist die These der – richtig verstandenen – Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“4. Diese wird von der h. L. mit Recht abgelehnt. Daß sie in Gegensatz zum Wortlaut von Art. 1 I 2 und III GG steht, ist soeben schon dargelegt worden. Daß sich die Grundrechte auch ihrer historischen Funktion nach und vor allem auf Grund der besonderen Situation, in der der Parlamentarische Rat das Grundgesetz geschaffen hat, nur gegen die „staatliche Gewalt“ und nicht unmittelbar gegen Privatrechtssubjekte richten, ist oft genug und mit Recht betont worden. Entscheidend kommt hinzu, daß die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung auch unter systematischen und teleologischen Gesichtspunkten unhaltbar ist. So richten sich z. B. die Gesetzesvorbehalte evidentermaßen nur an den Gesetzgeber und nicht an Privatrechtssubjekte. Geradezu zerstörerisch würde sich die generelle Anwendung der Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im Bereich der Rechtsgeschäftslehre auswirken, da sie zu einer allgemeinen Inhaltskontrolle von Rechtsgeschäften nach äußerst strengen Kriterien, die denen des § 9 AGBG ähneln und weit über die des § 138 BGB hinausgehen, führen und dadurch die Privatautonomie in ihrem Kern treffen würde. Dem entspricht es, daß es im Privatrecht weitgehend um Selbsteinschränkung von Grundrechten geht und daß die Privatrechtssubjekte einander grundsätzlich mit gleichen rechtlichen Mitteln gegenüberstehen, wohingegen der Staat durch die Befugnis zum rechtlichen Zwangseingriff sich in einer grundsätzlich anders gearteten Überlegenheitslage gegenüber dem Bürger befindet. Daß es auch im privaten Bereich massive Überlegenheit des einen Bürgers gegenüber dem anderen gibt, ist zwar eine Selbstverständlichkeit, doch kann die „private Macht“ der staatlichen gleichwohl nicht im Wege der Analogie gleichgestellt werden; denn zum einen ist dieser Begriff völlig unkonturiert, und zum anderen verfügt das Privatrecht über ein differenziertes und insgesamt effizientes Instrumentarium eigener Art zum Ausgleich von Ungleichgewichtslagen5 (von Generalklauseln wie § 138 BGB oder § 9 AGBG über das Kartellverbot bis zu Tarifvertrag, Arbeitskampf und Mitbestimmung). b) Die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechte als Eingriffsverbote auf Privatrechtsgesetzgebung und -rechtsprechung. So richtig demnach die Ablehnung einer unmittelbaren Grundrechtsbindung der Privatrechtssubjekte ist, so sehr schießt es doch über das Ziel hinaus, nun auch „das Privatrecht“ und damit die Privatrechtsge4 Vgl. hierzu und zum folgenden ausführlich Canaris, AcP 184 (1984), 202 ff m. Nachw.; das BAG, das lange an der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung festgehalten hat, hat sich in jüngster Zeit unmißverständlich von dieser abgewandt, vgl. AP Nr. 15 zu § 87 BetrVG 1972 Überwachung unter II 2 b. 5 Vgl. Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982, passim.
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setzgebung von der Unmittelbarkeit der Grundrechtsbindung freizustellen. Allerdings wird das von manchen Anhängern der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ postuliert6, doch folgt die h. L. dieser Ansicht mit Recht nicht7. Denn daß Art. 1 I 2 und III GG auf Grund einer teleologischen Reduktion auf Privatrechtsgesetzgebung und -rechtsprechung unanwendbar sind, läßt sich nicht überzeugend begründen. Das immer wieder vorgebrachte Argument, im Privatrecht ginge es um die Abstimmung zwischen kollidierenden Interessen der Bürger untereinander, trägt nicht, weil derartige Kollisionen auch im öffentlichen Recht – etwa im Strafrecht, im Umweltschutzrecht, im Baurecht, zum Teil auch im Sicherheitsrecht – gang und gäbe sind und also kein Spezifikum des Privatrechts bilden. Andererseits kann mit dessen Mitteln ebenso gravierend in Grundrechte eingegriffen werden wie auf der Grundlage öffentlichrechtlicher Normen; denn es macht keinen prinzipiellen Unterschied, ob z. B. eine Meinungsäußerung oder eine Buchpublikation mit den Mitteln des Privatrechts wie z. B. im Lüth- bzw. Mephistofall oder mit denen des öffentlichen Rechts unterbunden wird, da der Grundrechtsträger dort wie hier in grundsätzlich gleicher Weise staatlichem Zwang ausgesetzt ist. Folgerichtig ist der Privatrechtsgesetzgeber grundsätzlich auch an die Prinzipien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit gebunden, soweit er Grundrechte einschränkt. Nichts anderes als für den Privatrechtsgesetzgeber kann grundsätzlich für die Privatrechtsrechtsprechung gelten. Die von dieser entwickelten „Normen“ können nämlich – unabhängig von der Frage nach ihrer rechtsquellentheoretischen Einordnung – genauso in Grundrechte eingreifen wie eine entsprechende ausdrückliche Gesetzesnorm, da sie einer solchen funktionell entsprechen8. Die Rechtssätze, die die Gerichte (im Wege der Auslegung oder der Rechtsfortbildung) ihren Entscheidungen zugrunde legen, sind daher grundsätzlich in derselben Weise unmittelbar an den Grundrechten zu messen, als stünden sie ausdrücklich im Gesetz. Denn nach Art. 1 III GG ist auch die Rechtsprechung expressis verbis unmittelbar an die Grundrechte gebunden; außerdem hinge sonst der 6 Vgl. z. B. Dürig, in: Maunz-Dürig, GG, 6. Aufl. (1987), Art. 3 I Rdnrn. 506, 510; Kopp, in: 2. Festschr. f. Wilburg, 1975, S. 149; Hubmann, JZ 1975, 640; Rupp, AÖR 101 (1976), 169; wohl auch Zöllner, RDV 1985, 6. 7 Grdl. Schwabe, Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971, und ders., AÖR 100 (1975), 442 ff., dem ich insoweit wesentliche Einsichten verdanke, auch wenn ich im übrigen andere Wege gehe (vgl. näher Canaris, AcP 184, 217 ff., 230 f., sowie AcP 185, 9 ff.); vgl. zur Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers im übrigen z. B. Hesse, Grundzüge des VerfR der BRep.Dtld., 16. Aufl. (1988), Rdnr. 355, und ders., VerfR und PrivatR, 1988, S. 27 m. Fußn. 42; Bleckmann, StaatsR II, 2. Aufl. (1985), § 10 V 7a; Gallwas, Grundrechte, 1985, S. 65 ff; Badura, StaatsR, 1986, Rdnr. C 21. 8 Von einer solchen funktionellen Entsprechung geht auch das BVerfG aus, vgl. BVerfGE 66, 116, 138 („Wallraff“); daß damit „in der Frage der ,Normqualität des Richterrechts‘ die Akten geschlossen“ sind – und zwar im bejahenden Sinne –, wie Leisner, DVBl 1986, 707, annimmt, ist freilich eine Überinterpretation, vgl. zutreffend Lerche, NJW 1987, 2472.
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Grundrechtsschutz von den Zufälligkeiten der Gesetzgebungstechnik ab und wäre z. B. bei einer Generalklausel schwächer als bei einer tatbestandlich präzisen Vorschrift. Diese Ansicht, die auf den ersten Blick geradezu trivial erscheint, wird indessen vom BVerfG offenbar nicht geteilt. Während dieses nämlich privatrechtliche Gesetze mit Selbstverständlichkeit an den Grundrechten als Eingriffsverboten i. V. mit dem Übermaßverbot mißt9, geht es bei der Überprüfung von Urteilen der Zivilgerichte seit der LüthEntscheidung lediglich von einer „Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht“ aus10 und nimmt an, daß „eine Bindung des Richters an die Grundrechte bei der streitentscheidenden Tätigkeit auf dem Gebiet des Privatrechts nicht unmittelbar, (sondern nur) insoweit in Betracht kommt, als das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet hat, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung haben, mithin auch das Privatrecht beeinflussen“11. Eine solche lediglich „mittelbare“ Grundrechtsbindung der streitentscheidenden Zivilgerichte ist aus den genannten Gründen dogmatisch unhaltbar. Richtig ist lediglich, daß das BVerfG die Entscheidungen der Zivilgerichte nicht uneingeschränkt auf ihre Verfassungskonformität überprüfen darf; denn sonst würde es zur „Superrevisionsinstanz“, da nahezu jedes Urteil sich verfassungsrechtlich angreifen läßt – zumindest unter dem [163] Aspekt von Art. 2 I GG i. V. mit Art. 20 III GG. Dieses – prozeß- und kompetenzrechtliche – Problem stellt sich aber in prinzipiell gleicher Weise auch in allen anderen Gerichtszweigen – etwa der Straf-, Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit – und hat folglich mit der – materiellrechtlichen – Frage nach den Grundrechtswirkungen im Privatrecht und der Bindung des Zivilrichters an die Grundrechte überhaupt nichts zu tun. Deren Vermengung mit der „Superrevisionsproblematik“, die auf das Lüthurteil des BVerfG zurückgeht12, stellt daher eine dogmatische Fehlentwicklung dar. Diese führt auch praktisch zu Fehlkonsequenzen, wenn man aus den vermeintlichen Besonderheiten der Grundrechtswirkungen im Privatrecht schließt, daß bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Zivilurteilen mit grundrechtseinschränkenden Wirkungen nicht das Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgebot, sondern lediglich das Willkürverbot als Prüfungsmaßstab heranzuziehen ist, wie das BVerfG im Mephistobeschluß zu Unrecht angenommen hat13.
Vgl. z. B. BVerfGE 14, 263; 31, 58; 50, 290; 72, 155. Vgl. BVerfGE 7, 198, 207; vgl. dazu näher unten IV 1 a. 11 So zuletzt BVerfGE 73, 261; vgl. dazu näher unten III 3. 12 Vgl. BVerfGE 7, 198, 207, wo Ausstrahlungswirkung und Superrevisionsproblematik sprachlich und sachlich in unmittelbarem Zusammenhang behandelt werden. 13 Vgl. BVerfGE 30, 173 (199 f.), und dazu insoweit zutreffend Schwabe, DVBl 1971, 690; siehe im übrigen unten IV 3 a. 9
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3. Die Grundrechte als Schutzgebote und das „Untermaßverbot“ Daß die Grundrechte nicht nur Eingriffsverbote, sondern außerdem auch Schutzgebote an den Gesetzgeber sind, entspricht seit der Entscheidung zu § 218 StGB der ständigen Rechtsprechung des BVerfG14. Wie immer man diese Schutzgebotsfunktion begründen mag – sie ist jedenfalls ein wirkungsmächtiger Bestandteil der heutigen Verfassungsrechtsdogmatik, und das mit Recht15. Zugleich bietet sie einen neuen Ansatzpunkt, um die Wirkungen der Grundrechte im Privatrecht dogmatisch abzusichern16. a) Die Bedeutung der Schutzgebotsfunktion für das Verhalten von Privatrechtssubjekten untereinander. Wenngleich sich die Grundrechte, wie dargelegt, nicht unmittelbar an die Privatrechtssubjekte richten, ergeben sich aus ihnen doch mittelbar Konsequenzen für deren Verhalten. Wenn nämlich der Gesetzgeber den Bürger auf Grund der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte vor dem anderen Bürger zu schützen hat, muß das folgerichtig auch im Bereich des Privatrechts gelten. Die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte ist daher dogmatisch gesehen geradezu das „missing link“, um die „mittelbare“ Einwirkung der Grundrechte auf das Verhalten der Privatrechtssubjekte zu erklären und die diffuse Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ auf ein festeres theoretisches Fundament zu stellen. Normadressat ist dabei selbstverständlich nicht das jeweilige Privatrechtssubjekt, sondern der Gesetzgeber, der von Verfassungs wegen zur Schaffung der erforderlichen Schutznormen verpflichtet ist; dabei wird er wie immer durch den Richter unterstützt und ergänzt, der den gebotenen Schutz im Wege der Gesetzesauslegung und erforderlichenfalls der Rechtsfortbildung mitzuverwirklichen berufen ist. b) Das „Untermaßverbot“ und die Notwendigkeit seiner bereichsspezifischen Konkretisierung. Nach welchen Maßstäben zu beurteilen ist, ob ein verfassungswidriges Schutzdefizit, also ein „Untermaß“ vorliegt, ist bisher wenig geklärt. Das in den Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit konkretisierte Übermaßverbot läßt sich hierfür jedenfalls nicht ohne weiteres heranziehen, da es auf Eingriffe des Staates in Grundrechte zugeschnitten ist. Während diese ein positives Tun darstellen, geht es bei der Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion um die Vgl. BVerfGE 39, 1 (42 ff.). Vgl. zu meinem eigenen Standpunkt, der in der Begründung von dem des BVerfG abweicht, näher AcP 184 (1984) 226 f.; vgl. im übrigen aus jüngerer Zeit eingehend Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 43 ff., 145 ff., 187 ff. m. Nachw. 16 Vgl. eingehend Canaris, AcP 184 (1984), 227 ff.; der dort entwickelte Standpunkt hat Zustimmung gefunden z. B. bei Bydlinski, in: Rack (Hrsg.) Grundrechtsreform, 1984, S. 183 f.; Jarras, AöR 110 (1985), 378 m. Fußn. 77; Rüfner, in: Gedächtnisschr. f. Martens, 1987, S. 216 f. m. Fußn. 8; Badura, in: Festschr. f. Molitor, 1988, S. 9; vgl. ferner Gallwas (o. Fußn. 7), S. 63; Starck, in: v. Mangold-Klein, GG I, 3. Aufl. (1985), Art. 1 III Rdnrn. 198, 200, jedoch nur für die Fälle „ausdrücklicher Schutzaufträge“; Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 522 ff. 14 15
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Problematik des gesetzgeberischen Unterlassens. Wie in allen Fällen rechtlicher Sanktionierung eines Unterlassens bedarf es auch hier besonderer pflichtenbegründender Umstände, die die Heranziehung anderer Bewertungskriterien als bei der bloßen Abwehr eines rechtswidrigen (hier verfassungswidrigen) positiven Tuns (hier des Gesetzgebers oder des statt seiner fungierenden Richters) erforderlich machen. Ansatzpunkte für die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten bieten Ranghöhe und Art des bedrohten Rechtsgutes, die Intensität der Bedrohung sowie die Fähigkeit des Bedrohten zum Selbstschutz. Von wesentlicher Bedeutung kann dabei sein, die faktische Funktionsfähigkeit des bedrohten Grundrechts zu erhalten (vgl. z. B. unten IV 1 b). Auch mag sich der – freilich noch immer ziemlich konturlose – Gedanke des Kernbereichsschutzes fruchtbar machen lassen (etwa im Fall Lebach, vgl. unten IV 2 d). Im übrigen ist nachdrücklich zu betonen, daß die Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion in erster Linie Aufgabe des einfachen Rechts ist und daß demgemäß hierfür vorwiegend das Instrumentarium des jeweils einschlägigen Rechtsgebiets bereichsspezifisch zu mobilisieren ist. Dafür kommen vor allem die Generalklauseln in Betracht, die wegen ihrer Flexibilität besonders geeignete „Einfallstore“ für die Grundrechte sind; daß diese freilich im Privatrecht nur auf dem Umwege über die Generalklauseln wirken, wie manche Anhänger der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung ersichtlich annehmen17, ist eine durch nichts gerechtfertigte Verkürzung der Problematik, da auch tatbestandlich präzise Normen grundrechtsschützenden Charakter haben können und demgemäß grundsätzlich als Analogiebasis für einen Ausbau des Grundrechtsschutzes tauglich sind18.
4. Das Zusammenwirken von Eingriffsverbot und Schutzgebot und der Gestaltungsspielraum des einfachen Rechts Im Privatrecht stehen sich regelmäßig auf beiden Seiten Interessen gegenüber, die grundrechtlich verbürgt sein können. Schützt der Gesetzgeber nun den einen Grundrechtsträger, so greift er daher häufig zugleich in Positionen eines anderen Grundrechtsträgers ein. Die verfassungsrechtliche Prüfung geht folglich typischerweise in zwei Richtungen: einerseits darf der Schutz nicht hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Minimum zurückbleiben, andererseits darf er nicht „übermäßig“, d. h. mehr als erforderlich und verhältnismäßig, in die Grundrechte des anderen Privatrechtssubjekts eingreifen. Derartige Grundrechtskollisionen sind anerkanntermaßen nach dem Prinzip des „schonendsten Ausgleichs“ oder der „praktischen Konkordanz“ zu lösen19, wonach grundsätzlich keines der 17 Vgl. z. B. Mikat, in: Festschr. f. Nipperdey I, 1965, S. 587; Achterberg, JZ 1975, 718, und JZ 1976, 440; Hesse (o. Fußn. 7), Rdnr. 356; Flume, Allg. Teil I, 3. Aufl. (1979), S. 22, 342. 18 Vgl. näher Canaris, AcP 184 (1984), 223 sowie als Beispiel unten III 1 a. 19 Vgl. grdl. Lerche (o. Fußn. 3), S. 125 ff.; Hesse (o. Fußn. 7), Rdnr. 72.
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beiden betroffenen Grundrechte gänzlich zugunsten des anderen geopfert werden darf, sondern tunlichst beiden ein effizienter Anwendungsbereich zu schaffen bzw. zu erhalten ist. Das wird heute vor allem im Vertragsrecht nicht gebührend berücksichtigt (vgl. unten III). Andererseits muß man sich vor dem Mißverständnis hüten, daß es jeweils nur eine einzige verfassungskonforme Lösung gibt, die gewissermaßen die zwingende Resultante des Zusammenwirkens von Schutzgebot und Eingriffsverbot, Unterund Übermaßverbot darstellt. Vielmehr hat das einfache Recht regelmäßig einen mehr oder weniger breiten Gestaltungsspielraum zwischen dem unerläßlichen Schutzminimum für das eine Grundrecht und der verfassungswidrigen übermäßigen Einschränkung des anderen Grundrechts. Auch [164] wird eines der beiden kollidierenden Grundrechte häufig verfassungsrechtlich überhaupt nicht schutzwürdig oder wesentlich weniger schutzwürdig als das andere Grundrecht sein. Die Kollisionslösung braucht daher keineswegs immer durch eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen den Grundrechten zu erfolgen, sondern ist auch durch generelle und abstrakte Vorrangentscheidungen zugunsten eines der beiden Grundrechte möglich. Das wird heute im Deliktsrecht weitgehend verkannt (vgl. unten IV). Allerdings kann der Gestaltungsspielraum des einfachen Rechts u. U. „auf Null schrumpfen“. Das kommt vor allem bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt in Betracht (vgl. unten IV 3). Auch können Eingriffsverbots- und Schutzgebotsfunktion sich fast bis zur Deckungsgleichheit annähern wie vor allem dort, wo das objektive Recht dem Bürger (echte) Eingriffsbefugnisse in grundrechtlich geschützte Güter eines anderen Bürgers gibt (etwa in den Fällen von Notwehr und Notstand, die nicht zufällig streng am Erforderlichkeits- bzw. Verhältnismäßigkeitsprinzip ausgerichtet sind); derartige fließende Übergänge sind indessen eine vertraute Erscheinung bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen und ändern daher hier ebensowenig wie sonst etwas an der grundsätzlichen Richtigkeit der Unterscheidung.
Soweit die Lösung des einfachen Rechts demgemäß weder durch das Übermaßverbot nach der einen noch durch das Untermaßverbot nach der anderen Richtung determiniert ist, haben die Grundrechte keine verfassungsrechtlich bindende Wirkung. Wohl aber können sie auch insoweit als „Wegweiser“ oder „Elemente“ bei der Auslegung und Rechtsfortbildung dienen wie andere allgemeine Rechtsprinzipien und -werte des einfachen Rechts auch (vgl. z. B. unten IV 1 c). Das kann man ebenfalls mit dem – undeutlichen – Ausdruck der „Ausstrahlungswirkung“ bezeichnen, doch stellt eine falsche Rechtsanwendung oder -fortbildung dann keinen Verfassungsverstoß dar, so daß eine Verfassungsbeschwerde insoweit von vornherein unbegründet ist20. 20 Das BVerfG trifft eine derartige Unterscheidung freilich zumindest nicht explizit, doch kann diese Problematik hier nicht vertieft werden.
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III. Grundrechtsschutz und Verhältnismäßigkeitsprinzip im Vertragsrecht 1. Grundzüge des Grundrechtsschutzes bei Individualverträgen Bei Individualverträgen suchen Rechtsprechung und h. L. im Banne der These, die Grundrechte seien im Privatrecht vorwiegend oder gar allein durch das „Medium“ der Generalklauseln umzusetzen, den Grundrechtsschutz nahezu ausschließlich mit Hilfe von § 138 BGB zu verwirklichen21. Diese Waffe ist indessen zu scharf und zu plump, um die diffizile Problematik differenziert genug zu lösen und dem Gebot des „schonendsten Ausgleichs“ und der „praktischen Konkordanz“ (vgl. oben II 4) hinreichend Rechnung zu tragen. a) Ausschluß der Zwangsvollstreckung analog § 888 II ZPO als Minimalschutz für „personale“ Grundrechte und schonendster Eingriff in die Privatautonomie: „Wohnsitzverlegung“. Als Leitentscheidung des BGH zur Grundrechtswirkung im Vertragsbereich ist das Urteil vom 26.4.1972 anzusehen. Darin hat der BGH die zwischen geschiedenen Ehegatten getroffene Vereinbarung, wonach der eine Teil seinen Wohnsitz aus der Stadt zu verlegen hatte, im Hinblick auf die durch Art. 11 GG gewährleistete Freizügigkeit als nichtig nach § 138 BGB angesehen22. Die damit verbundene Rechtsfolge der Nichtigkeit greift indessen „übermäßig“ in die – verfassungsrechtlich geschützte23 – Privatautonomie (und zwar beider Parteien) ein und wird durch die Schutzgebotsfunktion von Art. 11 GG, um deren Realisierung es verfassungsrechtlich insoweit geht (vgl. oben II 3 a), nicht legitimiert. Die Freizügigkeit ist nämlich grundsätzlich schon dann hinreichend geschützt, wenn man lediglich staatlichen Zwang zur Durchsetzung der Pflicht zur Wohnsitzverlegung ausschließt. Das wird auch aus der Entscheidung des BGH deutlich; denn dieser wendete sich allein dagegen, daß die Klägerin „mit staatlichem Zwang (Androhung von Geld- und Haftstrafen) erreichen kann, daß der Beklagte die Stadt verläßt“. Dieses Ziel läßt sich indessen keineswegs nur durch Nichtigkeit nach § 138 BGB, sondern schon durch Unvollstreckbarkeit analog § 888 II ZPO erreichen. Diese Norm stellt de lege lata den Minimalschutz für die Freiheit der Berufsausübung dar und ist ohne weiteres der Analogie für andere „personale“, d. h. nicht primär vermögensrechtliche Freiheitsrechte wie die Freizügigkeit zugänglich. 21 Vgl. z. B. BGHZ 91, 1 (5); BGH, NJW 1972, 1414, 1415; 1986, 2944; Staudinger-Dilcher, BGB, 12. Aufl. (1980), § 138 Rdnr. 11; Soergel-Hefermehl, BGB, 12. Aufl. (1987), § 134 Rdnr. 7 und § 138 Rdnr. 10. 22 Vgl. BGH, NJW 1972, 1414, 1415; kritisch, jedoch ebenfalls ganz in der Lösung mit Hilfe von § 138 BGB befangen Merten, NJW 1972, 1799; gegen ihn Schwabe, NJW 1973, 229 f., der Art. 11 GG unmittelbar auf Rechtsgeschäfte anwenden will, vgl. dazu ablehnend oben II 2 a und eingehend Canaris, AcP 184 (1984), 217 ff., in Auseinandersetzung mit Schwabe. 23 Vgl. eingehend Canaris, JZ 1987, 994 f., m. Nachw. aus der Rspr. des BVerfG.
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Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip Dieser unterschiedliche Ansatz kann durchaus praktische Konsequenzen haben. Hat der eine Teil sich z. B. den Wegzug des anderen Teils durch eine großzügige Abfindungsund/oder Unterhaltsregelung „erkauft“, so ist er an diese so lange gebunden, wie der andere Teil sich an die vereinbarte Wohnsitzverlegung hält. Bricht dieser sie dagegen, so ist jener wegen Erfüllungsverweigerung analog §§ 325, 326 BGB zum Rücktritt berechtigt. Bei Anwendung von § 138 BGB ist dagegen die gesamte Vereinbarung grundsätzlich von vornherein nach § 139 BGB nichtig oder bleibt, wenn man § 139 BGB insoweit auf Grund einer teleologischen Reduktion außer Anwendung läßt, trotz Nichtigkeit der Vereinbarung über die Wohnsitzverlegung voll wirksam, auch wenn diese nicht eingehalten wird. Gleiches dürfte folgerichtig gelten, wenn mit der Verpflichtung zur Wohnsitzverlegung wie in dem vom BGH entschiedenen Fall die Sorgerechtsübertragung bezüglich des gemeinsamen Kindes verbunden ist. An derartigen Konsequenzen zeigt sich, daß die Lösung des BGH dem Gebot „schonendsten Ausgleichs“ und „praktischer Konkordanz“ nicht gerecht wird.
b) Die Beschränkung der Unwirksamkeit auf das untragbare Übermaß als schonendster Eingriff in die Privatautonomie: „Wettbewerbsverbot“. Auch zum Schutz der Berufsfreiheit gegenüber Wettbewerbsverboten zieht der BGH § 138 BGB heran und beruft sich dabei ausdrücklich auf Art. 12 GG24. Dabei legt er indessen einen so scharfen Maßstab an, daß das mit dem herkömmlichen Verständnis von § 138 BGB als einer äußersten Schranke der Privatautonomie für Extremfälle unvereinbar erscheint. Er sieht nämlich Wettbewerbsverbote nur als zulässig an, wenn sie dem Schutze eines „berechtigten Interesses“ des einen Teils dienen und „nach Ort, Zeit und Gegenstand die Berufsausübung und wirtschaftliche Betätigung des (anderen Teils) nicht unbillig erschweren“25. Das entspricht nahezu wörtlich der Regelung des § 74a I 1 und 2 HGB. Eine Analogie zu dieser Vorschrift ist daher methodenehrlicher als die Anwendung von § 138 BGB und erscheint in der Tat ohne weiteres gerechtfertigt, da die Regelung von § 74a I 1 und 2 HGB sich (im Gegensatz zu den z. T. sehr „technischen“ und weitgehend „beliebigen“ übrigen Bestimmungen der §§ 74 ff. HGB) unschwer als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens verstehen läßt und der BGH ohnehin im Rahmen von § 138 BGB die „in den §§ 74 ff. HGB zum Ausdruck gekommenen Rechtsgrundsätze“ heranzieht. Praktisch ist der Wechsel der Nichtigkeitsnorm insofern von erheblicher Bedeutung, als nach § 74a I 1 und 2 HGB im Gegensatz zu § 138 BGB nicht Totalnichtigkeit des Wettbewerbsverbots eintritt, sondern die Unwirksamkeit nach dem [165] unmißverständlichen Wortlaut des Gesetzes („insoweit“ bzw. „soweit“) auf das durch das berechtigte Interesse nicht gedeckte bzw. den anderen Teil unbillig behindernde Übermaß beschränkt ist. Verfassungsrechtlich entspricht diese bloße Teilnichtigkeit bzw. geltungserhaltende Reduktion dem Gebot 24 25
Vgl. z. B. BGHZ 91, 1 (5); BGH, NJW 1986, 2944. So BGHZ 91, 1 (5) m. Nachw. aus der Rspr.
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des schonendsten Eingriffs in die Privatautonomie und der praktischen Konkordanz zwischen den kollidierenden Grundrechten. Für Totalnichtigkeit des Wettbewerbsverbots nach § 138 BGB – dessen Anwendungsbereich § 74a III HGB ausdrücklich offenhält! – bleibt in jenen Extremfällen Raum, in denen nicht nur die Grenzen des berechtigten Interesses bzw. der Billigkeit überschritten sind, sondern das Wettbewerbsverbot jedes vernünftige Maß und jede Rücksicht auf den Gebundenen vermissen läßt wie z. B. i. d. R. bei völligem Fehlen einer zeitlichen und örtlichen Begrenzung26. Verfassungsrechtlich ist dieser weiterreichende Eingriff in die Privatautonomie durch den Präventionsgedanken legitimiert und daher mit dem Übermaßverbot vereinbar, auch wenn eine so rigorose Rechtsfolge durch die Schutzgebotsfunktion von Art. 12 GG keinesfalls gefordert wird, sondern allein auf der Ebene des einfachen Rechts liegt. Dogmatisch ist im übrigen interessant, daß man hier trotz Ablehnung der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung doch zu einer Prüfung von Rechtsgeschäften an den Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit gelangt. Wie so oft relativiert sich also der Gegensatz der Theorien in praktischer Hinsicht weitgehend, wenn auch nicht vollständig. Der Rechtsgedanke von § 74a I HGB dürfte dabei verallgemeinerungsfähig für andere Einschränkungen der Berufsfreiheit wie z. B. einen übermäßig langen Ausschluß des Rechts zur ordentlichen Kündigung sein27 und darüber hinaus auch für rechtsgeschäftliche Einschränkungen anderer „personaler“ Freiheitsrechte wie z. B. der Freizügigkeit gelten, nicht jedoch für die „wirtschaftlichen“ Freiheitsrechte, bei denen eine generelle Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitskontrolle rechtsgeschäftlicher Einschränkungen unvereinbar mit dem Grundsatz der Privatautonomie wäre.
c) Das Rücktrittsrecht zum Schutz nichtkommerzieller Entscheidungen bei Einschränkung „personaler“ Grundrechte. Ausschluß der Zwangsvollstreckung und Reduzierung der Vertragswirksamkeit nach den Maßstäben der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit genügen nicht bei allen Grundrechten zum Schutz gegenüber vertraglichen Einschränkungen. Verweigert etwa ein Akrobat einen gefährlichen 26 Richtig daher i. E. wohl BGH, NJW 1986, 2944, 2945; allerdings hätte geklärt werden müssen, ob nicht aus dem Vertrag über die Veräußerung der Rechtsanwaltspraxis, der vor (!) dem Wettbewerbsverbot abgeschlossen worden war, nach den Grundsätzen der Entscheidung BGHZ 16, 71 (80), ein ungeschriebenes Wettbewerbsverbot gemäß § 157 BGB zu entnehmen war, das durch die nichtige spätere (!) ausdrückliche Vereinbarung eines solchen nicht berührt wurde. 27 Paradigmatisch sind Bierlieferungsverträge mit überlanger Bindung. Die Kombination von bloßer Teilnichtigkeit nach dem Rechtsgedanken von § 74a I HGB für die „Normalfälle“, in denen lediglich die Grenzen der Erforderlichkeit und/oder Verhältnismäßigkeit überschritten sind, mit Totalnichtigkeit nach § 138 BGB für die „Extremfälle“, in denen die Bindung schlechterdings indiskutabel ist, dürfte im Ergebnis das Lösungsmodell für die Rechtsprechung des BGH darstellen, die bisher dogmatisch ein Rätsel geblieben ist; vgl. einerseits BGH, WM 1972, 1224, 1226, andererseits BGH, WM 1980, 877. Auch bei Totalnichtigkeit der Laufzeitklausel bleibt der Restvertrag in teleologischer Reduktion von § 139 BGB grundsätzlich wirksam mit der Folge, daß er der ordentlichen Kündigung unterliegt.
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Auftritt, ein Schriftsteller oder Wissenschaftler die Abfassung des versprochenen Buches, so wird er durch den Ausschluß der Vollstreckbarkeit analog § 888 II ZPO nicht vor der Pflicht zum Ersatz des Erfüllungsinteresses sowie nach überwiegender und wohl richtiger Ansicht auch nicht vor dem Verfall einer etwaigen Vertragsstrafe geschützt28. Andererseits ist es mit Rang und Art der betroffenen Grundrechte, die wegen ihres hochgradig personalen Charakters gegenüber einem auch nur mittelbaren Rechtszwang oder -druck besonders sensibel sind, wohl kaum vereinbar, den Grundrechtsträger „gnadenlos“ am Vertrag festzuhalten. Hier dürfte mit einem Rücktrittsrecht wegen Unzumutbarkeit zu helfen sein, wobei als Modell und Analogiebasis das Rückrufsrecht wegen gewandelter Überzeugung gemäß § 42 UrhG dienen kann. Daraus folgt zugleich, daß die Nichterfüllung durch die Sorge um die eigene körperliche Unversehrtheit oder ähnliche Rücksichten bzw. durch künstlerische oder wissenschaftliche Gründe motiviert sein muß; tritt der Akrobat also mit der gleichen Übung woanders auf oder veröffentlicht der Autor das Buch in einem anderen Verlag, sind die Haftung auf den Nichterfüllungsschaden und der Verfall einer etwaigen Vertragsstrafe unproblematisch. Die Ausübung des Rücktrittsrechts zerstört den Anspruch auf die Gegenleistung und löst nach § 346 BGB eine Pflicht zur Rückgewähr etwa schon erhaltener (und noch nicht durch eigene Leistung abgegoltener) Gegenleistungen aus. Darüber hinaus kann dem anderen Teil u. U. nach dem Gebot des schonendsten Ausgleichs und der praktischen Konkordanz ein Anspruch auf den Vertrauensschaden nach dem Modell von § 42 III UrhG sowie in Anlehnung an §§ 122, 1298 BGB zustehen. Übrigens dürfte auch die berühmte Problematik der Erfüllungsverweigerung wegen eines Gewissenskonflikts29 in diesen Zusammenhang gehören, soweit nicht Abhilfe mit milderen Mitteln wie z. B. der Zuweisung einer anderen Tätigkeit im Rahmen eines Arbeitsvertrags geschaffen werden kann, doch ist hier kein Raum, das zu vertiefen.
d) Ergänzende Vertragsauslegung, Verhältnismäßigkeitsprinzip und Gesetzesvorbehalt: „Psychiatrische Untersuchung“. Der BGH hat ein vertragliches Wettbewerbsverbot bei einem Praxistauschvertrag trotz Fehlens einer entsprechenden Regelung im Vertrag aus den Grundsätzen der ergänzenden Auslegung hergeleitet, dieses jedoch unter Hinweis auf Art. 12 GG strikt durch die Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit begrenzt30. Dem ist zuzustimmen, da die Einschlägigkeit dieser Prinzipien schon aus den Geboten von Treu und Glauben gemäß § 157 BGB folgt und im übrigen wegen des in einer derartigen ergänzenden Auslegung
Vgl. nur BAG, AP § 339 BGB Nr. 9 m. Nachw. Vgl. dazu statt aller Larenz, SchuldR I, 15. Aufl. (1987), S. 135 f.; aus der Rspr. vgl. vor allem BAG, AP § 611 BGB Nr. 27, Direktionsrecht und dazu kritisch Reuter, BB 1986, 385 ff. 30 Vgl. BGHZ 16, 71 (80), und dazu Canaris, AcP 184 (1984), 216. 28 29
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enthaltenen starken Elements heteronomer Bindung der betroffenen Partei auch von Verfassungs wegen geboten sein dürfte. Die Problematik hat unlängst neue Aktualität durch die Entscheidung des BGH zu der Frage erhalten, ob sich ein Schiedsrichter auf Verlangen einer Partei einer psychiatrischen Untersuchung wegen Zweifeln an seiner Geschäftsfähigkeit, von der die Bestandskraft des Schiedsspruchs abhängen kann, unterziehen muß31. Der BGH hat erwogen, das bei Fehlen einer entsprechenden ausdrücklichen Regelung im Schiedsrichtervertrag von vornherein zu verneinen und in diesem Zusammenhang auf das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für Eingriffe in die persönliche Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 II 3 GG hingewiesen. Dieser vom BGH nur angedeutete und nicht näher erörterte Lösungsansatz erweist sich bei genauerer Prüfung als nicht tragfähig. Die bloße Existenz eines Gesetzesvorbehalts als solche kann keinesfalls zu einem Verbot ergänzender Auslegung führen; davon geht i. E. auch der BGH aus, indem er sich durch den Gesetzesvorbehalt von Art. 12 I 2 GG nicht von der Annahme ungeschriebener Wettbewerbsverbote abhalten läßt. Für Art. 2 II 3 GG muß jedenfalls dann ebenso entschieden werden, wenn man für Eingriffe in diese Grundrechte nicht eine ausdrückliche Erlaubnisnorm fordert, sondern auch Analogie und richterliche Rechtsfortbildung zuläßt; denn dann muß gleiches auch und erst recht für eine lege artis vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung gelten. Man [166] sollte diese aber grundsätzlich auch dann zulassen, wenn man Art. 2 II 3 GG im Sinne eines Analogie- und Rechtsfortbildungsverbots versteht32. Zwar handelt es sich bei der Entwicklung einer Pflicht zur psychiatrischen Untersuchung der Sache nach um die Schaffung ungeschriebenen objektiven Rechts im Gewande der Vertragsauslegung, weil (und sofern) die Pflicht nicht auf den spezifischen Besonderheiten des konkreten Schiedsrichtervertrages beruht, sondern folgerichtig grundsätzlich für alle Schiedsrichterverträge gelten müßte, doch passen die Gesetzesvorbehalte für dispositive vertragsergänzende Normen nicht33, weil diese grundsätzlich lediglich den typischen „redlichen“ Parteiwillen widerspiegeln und die Parteien selbst nicht an die Gesetzesvorbehalte gebunden sind. Entscheidend ist somit die Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung. Diese hat der BGH denn auch vorgenommen. Auf ihrer Grundlage hat er eine Pflicht zur psychiatrischen Untersuchung verneint. Das überzeugt jedoch in dieser Form nicht. Zum einen ist nämlich die betroffene Partei i. d. R. auf die Mitwirkung des Schiedsrichters an der Feststellung seines Geisteszustandes in Vgl. BGHZ 98, 32. So z. B. BVerfGE 29, 183 (195 f.), für eine Freiheitsentziehung unter Hinweis auf die in Art. 104 I GG enthaltene „Verschärfung“ gegenüber Art. 2 II 3 GG; ob Art. 104 I GG auch für die Verurteilung zu psychiatrischer Untersuchung gilt, ist allerdings sehr zweifelhaft und kann hier nicht vertieft werden. 33 Vgl. Canaris, AcP 184 (1984), 214. 31 32
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weit stärkerem Maße angewiesen als vor den staatlichen Gerichten, deren Mitglieder u. U. dienstlich zu einer derartigen Untersuchung gezwungen werden können, wodurch auch die Parteien i. d. R. die erforderliche Klarheit erlangen – wenn auch nach Ansicht des BGH nur im Wege einer Reflexwirkung; und zum anderen wäre es ganz lebensfremd zu erwarten, daß nun in Schiedsrichterverträge ausdrücklich eine Pflicht zur Einwilligung in eine psychiatrische Untersuchung hineingeschrieben wird (ganz abgesehen davon, daß diese dann meist an § 9 AGBG zu messen wäre und dieser Kontrolle bei Anlegung der vom BGH in dieser Entscheidung zugrunde gelegten Verhältnismäßigkeitskriterien wohl kaum standhalten dürfte). Die Lösung liegt vielmehr in dem soeben (unter c) entwickelten Rücktrittsrecht – und zwar unabhängig davon, ob die Untersuchungspflicht ausdrücklich vereinbart oder im Wege ergänzender Vertragsauslegung gewonnen wird; denn die Gründe des BGH gegen eine psychiatrische Untersuchung treffen grundsätzlich auch bei ausdrücklicher Vereinbarung einer Pflicht zu einer solchen zu, da die Ausdrücklichkeit der Einwilligung die Schwere der in der Untersuchungspflicht liegenden Persönlichkeitsbeeinträchtigung nicht nennenswert mindert. Der Schiedsrichter kann sich der Pflicht zu der Untersuchung folglich durch Rücktritt vom Schiedsrichtervertrag entziehen, muß dann aber folgerichtig auch seine Vergütung zurückzahlen – ein sachgemäßes Ergebnis, da er diese redlicherweise nicht behalten darf, wenn er der Partei seine Mitwirkung bei der Aufklärung der Zweifel an seiner Geschäftsfähigkeit und damit an der Bestandskraft des Schiedsspruchs verweigert. 2. Die Problematik des Grundrechtsschutzes bei Tarifverträgen Da die Parteien des Tarifvertrags anerkanntermaßen Privatrechtssubjekte sind, finden die Grundrechte auf sie nach der oben II 1 entwickelten Ausgangsposition keine unmittelbare Anwendung. Das widerspricht zwar der h. L.34, findet seine tiefere Rechtfertigung aber darin, daß die Tarifvertragsparteien auf Grund des Beitrittsaktes gegenüber ihren Mitgliedern privatautonom legitimiert sind und demgemäß nicht auf Grund staatlicher Delegation tätig werden. Die Schaffung von Tarifnormen ist daher nicht Ausübung „staatlicher Gewalt“ i. S. von Art. 1 I 2 GG und folglich auch nicht „Gesetzgebung“ i. S. von Art. 1 III GG und dieser auch nicht im Wege der Analogie gleichzustellen. Was speziell die Problematik einer Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung angeht, so scheidet diese bei Tarifverträgen ohnehin grundsätzlich aus, da das BAG und die h. L. bei ihnen auf Grund ihrer besonderen „Richtigkeitsgewähr“ eine derartige „Inhalts-
34 Vgl. z. B. Wiedemann-Stumpf, TVG, 5. Aufl. (1977), Einl. Rdnrn. 57 ff. m. Nachw.; Herschel, RdA 1985, 65 f.; a. A. mit Recht vor allem Zöllner, ArbR, 3. Aufl. (1983), § 7 III.
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kontrolle“ mit Recht ablehnen35. Es gelten folgerichtig im wesentlichen dieselben Grundsätze wie bei Individualvereinbarungen, also die im Vorstehenden (unter 1) entwickelten Regeln sowie § 138 BGB als Auffangtatbestand. Diese können freilich einerseits in dem Sinne zu modifizieren sein, daß bestimmte Vorschriften über Individualverträge auf Tarifverträge im Hinblick auf die besondere Verhandlungsmacht der Tarifvertragsparteien unanwendbar sind; die Möglichkeit tarifdispositiver Normen36 wird also durch die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte auch bei Grundrechtseinschränkungen nicht generell beseitigt. Andererseits können den Tarifvertragsparteien u. U. engere Grenzen als den Individualvertragsparteien gesetzt sein, weil sie nicht für sich selbst, sondern für ihre Mitglieder handeln und sich daher aus ihrer Aufgabe und Funktion besondere Schranken ergeben können37; eine Vertiefung dieser – immer noch nicht vollständig gelösten – Problematik kann hier freilich nicht erfolgen.
3. Die Problematik des Grundrechtsschutzes bei Betriebsvereinbarungen: „Hausbrandkohledeputat“ Komplexer stellt sich die Problematik hinsichtlich der Betriebsvereinbarung dar. Was zunächst eine Anwendung der Grundrechte als Eingriffsverbote i. V. mit den Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zugunsten des Arbeitgebers als Partei der Betriebsvereinbarung betrifft, so kommt sie deshalb von vornherein nicht in Betracht, weil insoweit eindeutig privatautonome Legitimation vorliegt. Es gelten folglich grundsätzlich dieselben Regeln wie bei Individualverträgen. Daher hat das BVerfG im „Hausbrandkohledeputatfall“ im Ergebnis richtig entschieden, als es eine unmittelbare Einwirkung der Grundrechte auf die Betriebsvereinbarung abgelehnt hat38. Zutreffend ist auch, daß der Grundsatz der „objektivierten“ oder gesetzesähnlichen Auslegung von Betriebsvereinbarungen – aus dem das BAG in der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung über den Wortlaut der Betriebsvereinbarung hinaus deren Bezugnahme auf den jeweils geltenden Tarifvertrag („dynamische Verweisung“) hergeleitet hatte, obwohl der Arbeitgeber dem tarifschließenden Verband nicht mehr angehörte – nicht verfassungswidrig ist. Zwar schränkt dieser Grundsatz, der eine (ungeschriebene) Norm des objektiven Rechts darstellt und daher – anders als die Betriebsvereinbarung – unmittelbar an den Grundrechten zu messen ist (vgl. oben Vgl. nur Zöllner (o. Fußn. 34), § 38 VI m. Nachw. Vgl. dazu z. B. Zöllner (o. Fußn. 34), § 6 I 2 und § 38 III 3; Canaris, in: Gedächtnisschr. f. Dietz, 1973, S. 199 ff. 37 Vgl. als Beispiel – speziell zu intensivierter Grundrechtsbindung auf Grund schwächerer Legitimation durch den Verbandsbeitritt – Zöllner, Maßregelungsverbote und sonstige tarifliche Nebenfolgeklauseln nach Arbeitskämpfen, 1977, S. 30 f. 38 Vgl. BVerfGE 73, 261, und dazu oben II 2 b bei Fußn. 11. 35 36
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II 1 b), die durch Art. 2 I GG geschützte Privatautonomie ein, weil er zu einer vom realen, gerichtlich feststellbaren (!) Willen stark abgelösten Vertragsauslegung führt, doch verstößt er nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, weil er durch die Prinzipien der Selbstverantwortung und des Verkehrs- und Vertrauensschutzes legitimiert wird. Nicht zutreffend ist dagegen, daß das BVerfG seine Entscheidung damit begründet hat, „eine Bindung des Richters an die Grundrechte bei der streitentscheidenden Tätigkeit auf dem Gebiet des Privatrechts (komme) nicht unmittelbar in Betracht“ (vgl. dazu schon oben II 2 b bei Fußn. 11). Das zeigt sich bei der Frage, ob auch im Verhältnis zu den Arbeitnehmern eine unmittelbare Anwendung der Grundrechte [167] als Eingriffsverbote auf die Betriebsvereinbarung abzulehnen ist. Zwar stellt diese auch insoweit, als sie gegenüber den Arbeitnehmern normativ wirkt, nach h. L. eine privatrechtliche Vereinbarung auf Grund privatrechtlichen Handelns dar39, doch ist die Rechtslage hier insofern wesentlich anders als gegenüber dem Arbeitgeber, als der Betriebsrat nicht privatautonom, sondern durch Wahl nach dem Mehrheitsprinzip legitimiert ist. Insoweit ist daher eine unmittelbare Einwirkung der Grundrechte auf die Betriebsvereinbarung40 keineswegs von vornherein von der Hand zu weisen. Dennoch ist sie vom oben II 1 entwickelten Standpunkt aus, wonach zwischen Akten des Staates und Akten von Privatrechtssubjekten zu unterscheiden ist, grundsätzlich nicht zu befürworten. Dabei hat es in der Tat sein Bewenden bezüglich der Gesetzesvorbehalte, da diese spezifisch auf staatliche Eingriffe zugeschnitten sind und demgemäß Grundrechtseinschränkungen durch Betriebsvereinbarungen nicht strikt begrenzen. Dagegen sollte man das verfassungsrechtliche Übermaßverbot im Wege der Analogie heranziehen und demgemäß Grundrechtseinschränkungen der Arbeitnehmer anders als Selbsteinschränkungen des Arbeitgebers an den Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit messen; denn hier fehlt eben die privatautonome Legitimation – treffend wird insoweit von Privatheteronomie gesprochen41 –, und daher kann es insbesondere zu Konflikten zwischen Mehrheitswillen und Minderheitsinteressen und damit zu Fallkonstellationen kommen, auf die die Grundrechte ihrem Schutzzweck nach durchaus passen. Wesentliche praktische Bedeutung dürfte diese These freilich nur dann haben, wenn man eine Billigkeitskontrolle von Betriebsvereinbarungen, wie sie das BAG entgegen anhaltendem Widerstand
39 Vgl. z. B. Dietz-Richardi, BetrVG, 6. Aufl. (1982), § 77 Rdnr. 25 m. Nachw.; v. HoyningenHuene, BetriebsverfassungsR, 1983, § 11 III 1; Kreutz, Grenzen der Betriebsautonomie, 1979, S. 99 ff.; Kirchhof (o. Fußn. 16), S. 214. 40 Für eine solche z. B. BAG, AP Art. 3 GG Nr. 28; Söllner, in: MünchKomm, 2. Aufl. (1988), § 611 Rdnr. 179; Dietz-Richardi (o. Fußn. 39), § 77 Rdnr. 78; auch noch Canaris, AuR 1966, 136 f. Die ältere Rspr. des BAG dürfte inzwischen durch die Entscheidung AP Nr. 15 zu § 87 BetrVG 1972 Überwachung dogmatisch (nicht jedoch im Ergebnis) überholt sein, in der dieses unter II 2 b (sogar) für den Spruch der Einigungsstelle unmißverständlich nur von einer mittelbaren Drittwirkung ausgeht; meine eigene Ansicht modifiziere ich in der aus dem Text ersichtlichen Weise. 41 Vgl. grdl. Kreutz (o. Fußn. 39), S. 99 ff.
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im Schrifttum vornimmt42, ablehnt; anderenfalls kommt man ohnehin schon auf diesem Wege zu einer Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung.
Der Bindung an die Grundrechte i. V. mit dem Erforderlichkeits- und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip unterliegt auch ein erzwingbarer Spruch der Einigungsstelle43 – und zwar, sofern man diese mit der h. L.44 als genuin privatrechtliche Institution und nicht als Delegatar staatlicher Normsetzungsmacht ansieht, vom oben II 1 vertretenen Standpunkt aus wiederum auf Grund einer Analogie zu Art. 1 III GG. Das ist über § 76 V 3 und 4 BetrVG unschwer umzusetzen und gilt selbstverständlich auch zugunsten des Arbeitgebers. Dagegen sollte man eine von diesem selbst abgeschlossene erzwingbare Betriebsvereinbarung nicht schon deshalb der Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung zu dessen eigenem Schutz unterwerfen, weil im Hintergrund die Möglichkeit eines Spruchs der Einigungsstelle droht. Denn das ändert nichts an der privatautonomen Legitimation der Betriebsvereinbarung und ist sachgerecht durch eine uneingeschränkte Kontrolle des Spruchs der Einigungsstelle an den Grundrechten als Eingriffsverboten i. V. mit den Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit auszugleichen. IV. Grundrechtsschutz und Verhältnismäßigkeitsprinzip im Deliktsrecht Wie im Vertragsrecht der vorschnelle Rückgriff auf § 138 BGB Problemverkürzungen und fehlerhafte Lösungen zur Folge hat, so wirkt sich die Zauberformel von der Güter- und Interessenabwägung trotz ihrer grundsätzlichen Richtigkeit (vgl. oben II 4) im Deliktsrecht insofern verfälschend aus, als sie häufig zu einer Hypertrophie des Abwägens und zur Berücksichtigung irrelevanter Gesichtspunkte führt. Angezeigt ist demgegenüber – jedenfalls beim derzeitigen Stand von Rechtsprechung und h. L. – eine stärkere Verfestigung des Grundrechtsschutzes und des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu Lösungen, die tatbestandlich klar umrissen sind oder doch zumindest auf vergleichsweise wenigen, wenn auch „beweglichen“ Kriterien aufbauen.
42 Seit 1970 st. Rspr., vgl. z. B. AP, § 242 BGB Nr. 142, Ruhegehalt; Nr. 11 und 12 zu § 112 BetrVG 1972; ebenso schon Canaris, AuR 1966, 138 f.; a. A. z. B. Kreutz, ZfA 1975, 65 ff. und aaO (o. Fußn. 39) S. 248 f.; v. Hoyningen-Huene (o. Fußn. 39) § 11 III 5 f.; Söllner, in: MünchKomm, § 315 Rdnr. 37. 43 Ebenso i. E. BAG, AP § 87 BetrVG 1972 Nr. 15, Überwachung unter II 2. 44 Vgl. z. B. BAGE 32, 339, 345; BVerwG, DVBl 1984, 49, 50; Dietz-Richardi (o. Fußn. 39), § 76 Rdnr. 5 m. w. Nachw.; Zöllner (o. Fußn. 34), § 46 IV 4; Kirchhof (o. Fußn. 16), S. 224 f.
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1. Die Meinungs- und Pressefreiheit zwischen Eingriffsverbotsund Schutzgebotsfunktion von Art. 5 I GG a) Art. 5 I GG als Eingriffsverbot gegenüber privatrechtlichen Normen: „Lüth“ und „Höllenfeuer“. Im Fall Lüth hatte eine Privatperson zum Boykott eines Filmes des Regisseurs Veit Harlan aufgerufen, weil dieser während des Nationalsozialismus u. a. den antisemitischen Film „Jud Süß“ gedreht hatte. Das LG Hamburg untersagte den Boykottaufruf wegen Verstoßes gegen § 826 BGB. Das BVerfG hob die Entscheidung wegen Verstoßes gegen Art. 5 I GG auf 45. Daß es dazu die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte entwickelte, war überflüssig und irreführend. In Wahrheit greift nämlich das von der Rechtsprechung aus § 826 BGB entwickelte Verbot eines Boykottaufrufs unmittelbar in die Meinungsfreiheit ein, so daß Art. 5 I GG unmittelbar in seiner Funktion als Eingriffsverbot und Abwehrrecht einschlägig ist (vgl. oben II 2 b). Der Boykottaufruf als solcher fällt grundsätzlich auch in den Schutzbereich von Art. 5 I GG46; denn der bloße Appell an andere, sich mit einer bestimmten Meinung zu solidarisieren und sich dieser entsprechend zu verhalten, also z. B. irgendwo nicht hinzugehen, bleibt noch im Bereich reiner Meinungsäußerung und greift mangels des Einsatzes irgendwelcher Druckmittel nicht in den der Meinungsdurchsetzung über. Wenn das BVerfG sodann § 826 BGB, den es zutreffend als „allgemeines Gesetz“ i. S. von Art. 5 II GG und damit als Schranke der Meinungsfreiheit angesehen hat, auf Grund der „Wechselwirkungstheorie“ seinerseits im Lichte von Art. 5 I GG ausgelegt hat, so ist das, richtig verstanden, nichts anderes als eine besondere Form der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Entgegen seiner Ansicht war die dafür erforderliche Güterabwägung jedoch nicht „auf Grund aller Umstände des Falles“ vorzunehmen; insbesondere kam es nicht darauf an, ob es sich „um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende“ oder gar „für das Gemeinwohl wichtige Frage“ handelte und ob Lüth zu seiner Meinungsäußerung besonders „legitimiert“ war (etwa wegen seiner Tätigkeit in einer Gesellschaft für christlichjüdische Zusammenarbeit) – Gesichtspunkte, die geradezu zu der Ansicht geführt haben, Lüth habe „damals Recht bekommen, weil er gleichsam die Ehre des Vaterlandes verteidigt hat“47. Entscheidungserheblich war vielmehr allein, daß Lüth nicht aus wettbewerblichen48 oder sonstwie sachwidrigen Motiven handelte und daß hinter seinem Boy- [168] kottaufruf kein wirtschaftlicher oder sozialer Vgl. BVerfGE 7, 198. A. A. Roellecke, JZ 1981, 693, der das Lüth-Urteil demgemäß in Begründung und Ergebnis für falsch hält; ebenso schon Nipperdey, DVBl 1958, 445 ff.; sehr kritisch insoweit auch Lerche, in: Festschr. f. Gebhard Müller, 1970, S. 200 ff.; dem Lüth-Urteil (auch insoweit) folgend dagegen z. B. Herzog (o. Fußn. 6), Art. 5 I Rdnr. 279. 47 So Roellecke, JZ 1980, 702. 48 Vgl. dazu BVerfGE 62, 230. 45 46
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Druck49 stand. Denn angesichts des vom BVerfG mit Recht betonten Ranges von Art. 5 I GG als „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit“, als „eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt“ und als „Lebenselement der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung“ ist unerfindlich, warum dieses in einem solchen Fall hinter dem bloßen Interesse der klagenden Filmgesellschaften, ungestört Geld verdienen zu können, sollte zurücktreten müssen. Auch die Kunstfreiheit Harlans (der im übrigen nicht geklagt hatte) war nicht berührt, da Kunst sich im reinen Meinungskampf aus eigener Kraft behaupten muß. Es wäre daher nicht anders zu entscheiden gewesen, wenn ein beliebiger, nicht besonders „legitimierter“ Bürger zum Boykott eines beliebigen Regisseurs in einer die Öffentlichkeit nicht berührenden Sache aufgerufen hätte – etwa, weil es sich um „Schmutz und Schund“ handele. Ähnliches gilt gegenüber der Entscheidung des BGH im Höllenfeuer-Fall. In diesem hatte die beklagte Zeitung, die christlichem Gedankengut verpflichtet war, der klagenden Zeitung, die unter der Überschrift „Brennt in der Hölle wirklich ein Feuer?“ sich sehr kritisch mit bestimmten katholischen Positionen auseinandergesetzt hatte, u. a. „Dummenfang“, „Dreistigkeit“ und „Konfessionshetze“ vorgeworfen. Der BGH wies die Unterlassungsklage mit Recht ab, hielt jedoch im Anschluß an das Lüth-Urteil zu Unrecht für erheblich, daß es sich „um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten handelt“50. Demgegenüber ist auch hier mit der Entscheidung von Art. 5 I GG Ernst zu machen, daß Werturteile frei sind. Sie werden daher grundsätzlich, d. h. bei Fehlen besonderer Umstände wie Wettbewerbsabsicht, Ausübung wirtschaftlichen oder sozialen Drucks und dgl., nur durch das Verbot der Schmähkritik sowie allenfalls zusätzlich durch das Verbot blanker Willkür beschränkt. Das konvergiert mit einer beifallswürdigen Ansicht im verfassungsrechtlichen Schrifttum, wonach im Rahmen von Art. 5 I GG inhaltliche Bewertungen der Äußerungen durch die Rechtsordnung tunlichst zu unterbleiben haben51. Ganz auf diese zu verzichten, ist freilich unmöglich; so spielen sie etwa bei Kollisionen mit der informationellen Selbstbestimmung (vgl. dazu unten 2 d) eine legitime Rolle und werden übrigens auch durch §§ 193 StGB, 824 II BGB, 14 II UWG gefordert.
b) Art. 5 I GG als Schutzgebot bei Eingriffen von Privatrechtssubjekten: „Blinkfüer“ und „Wallraff“. Im Fall Blinkfüer hatte der Springerverlag aus politischen Motiven zum Boykott gegen ein (anderes) Presseunternehmen, das nach dem Bau der Berliner Mauer in seiner Zeitung „Blinkfüer“ weiterhin ostdeutsche Fernseh- und 49 Daß letzterer ersterem grundsätzlich gleichzustellen ist, betont mit Recht Lerche (o. Fußn. 46), S. 209. 50 Vgl. BGHZ 45, 296 (308); ähnlich insoweit z. B. BGH, LM § 823 (Ai) BGB Nr. 37 unter III 1. 51 Vgl. z. B. Lerche (o. Fußn. 46), S. 213 f. und AfP 1975, 825; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 293 f.; Starck (o. Fußn. 16), Art. 5 Rdnr. 124 m. w. Nachw.; wesentlich stärker differenzierend dagegen z. B. Zippelius, in: Festschr. f. Hubmann, 1985, S. 515 ff.
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Rundfunkprogramme abdruckte, aufgerufen und gegenüber dessen Kunden zu erkennen gegeben, daß er seine Geschäftsbeziehungen zu diesen u. U. bei Nichtbefolgung des Aufrufs abbrechen würde. Der BGH hat die Schadensersatzklage des Blinkfüer-Herausgebers abgewiesen, das BVerfG dagegen das Urteil des BGH aufgehoben52 – und zwar zu Recht. Allerdings war hier in die Pressefreiheit des Blinkfüer-Herausgebers nicht durch eine staatliche Norm bzw. deren Auslegung, sondern durch den Springerverlag, also ein Privatrechtssubjekt eingegriffen worden. Art. 5 I GG war daher nicht in seiner Funktion als Eingriffsverbot und Abwehrrecht anwendbar (vgl. oben II 2 a). Der BGH hatte jedoch durch eine falsche Auslegung von § 823 I bzw. § 826 BGB dem Blinkfüer-Herausgeber den privatrechtlichen Schutz versagt und dadurch die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 I GG i. V. mit dem Untermaßverbot verletzt53. Auch wenn diese damals noch nicht explizit entwickelt war, klingt sie in der Entscheidung doch unüberhörbar an, indem es heißt: „Zum Schutz (!) des Instituts der freien Presse muß ... die Unabhängigkeit von Presseorganen gegenüber Eingriffen wirtschaftlicher Machtgruppen mit unangemessenen Mitteln ... gesichert werden“. Die Gefahr für die faktische Funktionsfähigkeit der Presse als Institut durch im Meinungskampf inadäquate, weil nicht-geistige Mittel war es also, die die staatliche Schutzpflicht auslöste. Andererseits stellt die Schadensersatzpflicht Springers schon tatbestandlich keinen Eingriff in die Pressefreiheit dar. Denn Art. 5 I GG gewährleistet selbstverständlich nicht den Einsatz wirtschaftlichen Drucks gegenüber Dritten zur Durchsetzung einer Meinung. Eine Grundrechtskollision lag hier also gar nicht vor, so daß insoweit für eine Abwägung und Verhältnismäßigkeitsprüfung von vornherein weder Raum noch Bedürfnis bestand54.
Im Fall Wallraff hatte sich dieser unter dem Namen Hans Esser bei der BildZeitung als Mitarbeiter der Redaktion anstellen lassen und anschließend in einem Buch u. a. über Einzelheiten der Redaktionsarbeit berichtet. Bei der Klage der Herausgeberin der Bildzeitung auf Verbot einer Reihe von Passagen aus dem Buch, die gegen dessen Verleger und Wallraff gerichtet war, ging es wieder um die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 I GG. Denn der Eingriff wurde nicht vom Staat, sondern von zwei Privatrechtssubjekten vorgenommen, und daher war die verfassungsrechtliche Frage dahin zu formulieren, ob und unter welchen Voraussetzungen das Privatrecht ein Presseunternehmen vor derartigen Eingriffen von anderen Privatrechtssubjekten zu schützen hat (vgl. oben II 2 a und 3). Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BGH, durch das Vgl. BVerfGE 25, 256. A. A. Schwabe, AÖR 100 (1975), 453, 459, 467, der auch insoweit die Eingriffsverbotsfunktion von Art. 5 I GG als einschlägig ansieht; eingehende Kritik daran bei Canaris, AcP 184 (1984), 230 f.; ähnlich wie hier Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 487 f. i. V. mit S. 417 ff. 54 Vgl. auch Lerche (o. Fußn. 46), S. 208. 52 53
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dieser die Klage abgewiesen hatte, weitgehend statt55. Dabei zog es allerdings nicht ausdrücklich die – inzwischen von ihm entwickelte bzw. wiederentdeckte – Lehre von der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte heran. Der Sache nach ist es jedoch keine wesentlich andere Gedankenführung, wenn das BVerfG „die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit ... zu den Bedingungen einer freien Presse“ zählt, „die nicht nur durch den Staat, sondern auch durch gesellschaftliche Kräfte oder Private beeinträchtigt werden können“, und sie insoweit als „objektives Prinzip“ bezeichnet, „das Auslegung und Anwendung der maßgeblichen bürgerlich-rechtlichen Vorschriften bestimmt“. Wenn das BVerfG sodann hinzufügt, bei der „Einwirkung des Grundrechts (aus Art. 5 I GG) auf privatrechtliche Vorschriften ... (könnten) ihm andere, unter Umständen engere Grenzen gezogen sein als in seiner Bedeutung als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe“, so klingt darin die richtige Erkenntnis an, daß das die Schutzgebotsfunktion auslösende „Untermaßverbot“ grundsätzlich schwächer ist als das „Übermaßverbot“ gegenüber staatlichen Eingriffen (vgl. oben II 3 b). Der Kern der Begründung, mit der das BVerfG der Verfassungsbeschwerde stattgegeben hat, liegt sodann in dem Argument, daß zu den „notwendigen Bedingungen der Funktion einer freien Presse ... die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit gehört“, und daß daher die Veröffentlichung von Informationen über diese, die „der Publizierende sich widerrechtlich durch Täuschung in der Absicht verschafft hat, sie gegen den Getäuschten zu verwerten, grundsätzlich zu unterbleiben hat“. Das liegt insofern durchaus auf der Linie des Blinkfüer-Urteils, als der Schutz der faktischen Funktionsfä- [169] higkeit der Presse gegenüber Angriffen, die durch Art. 5 I GG nicht gedeckt sind – die widerrechtliche Informationsbeschaffung ist, wie das BVerfG ausdrücklich betont hat, nicht von Art. 5 I GG gedeckt –, auch hier als tragende Begründung herangezogen wird. Während dort jedoch dem Angreifer Art. 5 I GG schon tatbestandlich von vornherein unter keinem Aspekt zur Seite stehen konnte, sieht das BVerfG die Lage hier insofern anders, als zwar nicht die widerrechtliche Beschaffung einer Information, wohl aber u. U. die Publikation einer widerrechtlich beschafften oder erlangten Information vom Schutz des Art. 5 I GG umfaßt sein könne. Daher will das BVerfG eine Ausnahme vom Verbot der Publikation machen, „wenn die Bedeutung der Information für die Unterrichtung der Öffentlichkeit und für die öffentliche Meinungsbildung eindeutig die Nachteile überwiegt, welche der Rechtsbruch für den Betroffenen und für die Rechtsordnung nach sich zieht“. Dagegen ist von der oben (II 3) eingenommenen Ausgangsposition her nichts einzuwenden. Eine Privatrechtsordnung, die in einem derartigen Fall der Presse den Schutz gegenüber der Publikation vorenthält, unterschreitet nämlich gewiß nicht das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum („Untermaßverbot“), nach welchen Kriterien 55
Vgl. BVerfGE 66, 116, unter Aufhebung von BGHZ 80, 25.
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auch immer man dieses bestimmen mag; denn ob für einen solchen Ausnahmefall im Wege einer Güter- und Interessenabwägung ein vertraglicher und/oder deliktischer Schutz gewährt wird oder nicht, berührt die faktische Funktionsfähigkeit der Presse nur peripher und betrifft überdies deren Feinabstimmung mit gegenläufigen Rechtswerten, so daß es sich hier um ein spezifisches Problem des einfachen Rechts handelt. Dieses versagt allerdings entgegen der Ansicht des BGH der Herausgeberin der Bildzeitung den Rechtsschutz mitnichten. Der BGH hat die Problematik nur unter den Gesichtspunkten des Bruchs einer nachvertraglichen Schweigepflicht sowie des Verstoßes gegen § 823 I BGB i. V. mit dem Recht am Gewerbebetrieb und § 826 BGB geprüft und geglaubt, im Rahmen dieser „offenen“ Tatbestände eine „Abwägung“ vornehmen zu können, bei der der Meinungsfreiheit Wallraffs der Vorrang gebühre. Das Verhalten Wallraffs erfüllte jedoch außerdem (zumindest) den Tatbestand einer vorsätzlichen culpa in contrahendo56. Diese ist nach dem Rechtsgedanken von § 123 BGB per se rechtswidrig, so daß es nichts „abzuwägen“ gibt. Auch fällt es zweifellos in den Schutzbereich der culpa in contrahendo, den anderen Teil davor zu bewahren, daß jemand in sein Unternehmen eindringt in der Absicht, die dabei gewonnenen Erkenntnisse nach Vertragsbeendigung gegen seinen Willen und sein Interesse zu veröffentlichen. Wenn der BGH argumentiert, ein ohne Täuschungsabsicht eingetretener Mitarbeiter von Bild hätte die fraglichen Informationen weitergeben dürfen57, so liegt das, selbst wenn man es als in sich richtig akzeptieren würde, völlig neben der Sache, da dann ja der in der Täuschung liegende Rechtsverstoß gerade fehlt; daß ein Mitarbeiter der Redaktion im Laufe seiner Tätigkeit oder gar erst nach deren Ende beschließt, (vermeintliche oder wirkliche) Mißstände der Öffentlichkeit mitzuteilen, ist das normale und unvermeidliche Risiko einer jeden redaktionellen Arbeit – daß jemand von vornherein mit Veröffentlichungsabsicht als „Spion“ an der Redaktionsarbeit teilnimmt, ist dagegen ein exzeptioneller Sonderfall, für dessen Lösung aus der Behandlung des erst nachträglich beschlossenen Bruchs des Redaktionsgeheimnisses überhaupt nichts hergeleitet werden kann. Der Klage war daher aus § 249 S. 1 BGB (sowie auch analog § 1004 BGB) stattzugeben58. Darin hätte auch dann, wenn man mit dem BVerfG die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter Informationen grundsätzlich in den Schutzbereich von Art. 5 I GG einbezieht,
56 Zur – wesentlich problematischeren – Anspruchsgrundlage des § 823 II BGB i. V. mit § 263 oder § 123 StGB vgl. Bettermann, NJW 1981, 1065 ff., und Geerds, JR 1982, 183 ff.; kritisch zu der Entscheidung des BGH ferner z. B. Schmitt Glaeser, AfP 1981, 314 ff.; Roellecke, JZ 1981, 693 ff. 57 Vgl. BGHZ 80, 25 (40) – dogmatisch der Tiefpunkt und zugleich die entscheidende Weichenstellung für das Ergebnis! 58 So hat schon RGZ 45, 170 (173 f.), das „Verwertungsverbot“ konstruiert (widerrechtliche Photographie der Leiche Bismarcks); ebenso z. B. Bettermann, NJW 1981, 1067 Sp. 2.
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keine Verletzung dieses Grundrechts gelegen. Zwar war der Schutz der Bild-Herausgeberin durch Art. 5 I GG nicht uneingeschränkt geboten, doch folgt daraus keineswegs, daß er insoweit verboten war. Eine Untersagung der Veröffentlichung würde vielmehr der nach der Wechselwirkungstheorie vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung ohne weiteres standhalten, da die durch Wallraff begangene Rechtsverletzung kraß und die Bedeutung seiner Informationen für die Öffentlichkeit keineswegs überragend war. Für die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter oder erlangter Informationen enthält das einfache Recht in dem – auch im Zivilrecht geltenden – § 34 StGB eine ausreichende Grundlage, sofern man in seinem Rahmen dem Schutz von Interessen der Allgemeinheit hinreichend Raum gibt, was unschwer möglich ist59. Löst man sich von dieser Grundlage des geschriebenen Rechts ohne verfassungsrechtliche Notwendigkeit, so sind die Konsequenzen unabsehbar, da Art. 5 I GG kein Presseprivileg enthält und man daher jedem beliebigen Bürger die Aufdeckung rechtswidrig erlangter Informationen im selben Umfang gestatten muß wie der Presse.
c) Die Rechtsgüter von Art. 5 I GG als Auslegungselemente auf der Ebene des einfachen Rechts: „Formaldehyt“. Im Fall Formaldehyt hatte das Fernsehen in einer Sendung über die Gefahren dieser Chemikalie kurzfristig ein Produkt der Klägerin, das dieses Mittel enthält, in identifizierbarer Weise gezeigt. Der BGH wies deren Unterlassungsklage unter Hinweis auf Art. 5 I GG und die „verfassungsrechtliche Gewährleistung freier Fernsehberichterstattung“ ab, weil „das Fernsehen darauf angewiesen ist, seine Berichterstattung ins Bild zu setzen“60. Die Entscheidung ist i. E. richtig, jedoch entgegen der Ansicht des BGH nicht verfassungsdeterminiert. Denn eine entgegengesetzte Verhältnismäßigkeitsabwägung hätte durchaus vor Art. 5 I GG i. V. mit der Wechselwirkungstheorie Bestand gehabt, da einerseits schutzwürdige Interessen der Klägerin berührt waren, andererseits das Fernsehen keineswegs gerade auf diese Bebilderung seines Berichts „angewiesen“ war. Das Interesse der Klägerin war jedoch rein vermögensrechtlicher Art. Der freiheitsschonende Charakter des geltenden Deliktsrechts zeigt sich aber u. a. gerade in seiner starken Zurückhaltung gegenüber der Ersatzfähigkeit primärer Vermögensschäden61. Auf Grund dieser Entscheidung des einfachen Rechts, die auch und nicht zuletzt im Interesse eines freien Informationsverkehrs getroffen worden ist, hat der BGH i. E. Recht. Die Fernsehfreiheit wirkt hier aber nicht auf der Ebene der Verfassung, sondern lediglich als Auslegungselement auf der Ebene des einfachen Rechts ein (vgl. oben II 4 a. E.).
59 Vgl. dazu nur Lenckner, in: Schönke-Schröder, StGB, 23. Aufl. (1988), § 34 Rdnr. 10 m. Nachw. 60 Vgl. BGH, WM 1987, 222, 223 = NJW 1987, 2746 (gekürzt); vgl. dazu auch Brinkmann, NJW 1987, 2721 ff. 61 Vgl. näher Canaris, in: 2. Festschr. f. Larenz, 1983, S. 36 ff.
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2. Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zwischen Indikation und positiver Feststellung der Rechtswidrigkeit Die zivilrechtliche Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts stellt eine Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion von Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG dar62. Auch hier erreichen die „Abwägungen“ indessen ein hypertrophes Maß, da nach h. L. anders als bei den „klassischen“ Rechten des § 823 I BGB kein Indikationsverhältnis zwischen Tatbestandsmäßigkeit der Verletzung und Rechtswidrigkeit besteht, sondern darüber im Wege einer Güter- und Interessen- [170] abwägung zu entscheiden ist63. Demgegenüber ist es hohe Zeit, durch Herausarbeitung klarer Schutzbereiche wenigstens teilweise zu einer Indikationswirkung zurückzufinden64. a) Der Schutz vor Entstellung und vor kommerzieller Auswertung. Charakteristisch für die Abwägungshypertrophie ist der Fall Soraya. Hier hatte eine Illustrierte ein Interview mit der Prinzessin Soraya schlichtweg erfunden. Der BGH und das BVerfG glaubten, eine rechtswidrige Persönlichkeitsverletzung nur im Wege einer einzelfallbezogenen „Abwägung“ feststellen zu können65. In Wahrheit gibt es hier nichts „abzuwägen“: Schützt man die Persönlichkeit überhaupt gegen derartige Fälschungen – und das ist heute anerkannt –, dann indiziert die Tatbestandsmäßigkeit ohne weiteres die Rechtswidrigkeit, da eine derartige Entstellung nicht anders behandelt werden kann als eine falsche Tatsachenbehauptung. Gleiches gilt folgerichtig z. B., wenn ein anwaltliches Berichtigungsverlangen für einen Mandanten als Leserbrief abgedruckt und dadurch verfälscht wird („Schachtbrief“), wenn das Persönlichkeitsbild durch Verwendung eines Photos zur Reklame für ein sexuelles Stärkungsmittel oder durch die Nennung des Namens einer Sängerin im Zusammenhang mit der Reklame für ein Zahnhaftmittel entstellt wird („Herrenreiter“ bzw. „Caterina Valente“), wenn einem Politiker eine nicht getane Äußerung in den Mund gelegt wird („Eppler“) oder wenn ein Zitat verfälscht wird („Böll“)66.
62 Vgl. näher Canaris, AcP 184 (1984), 231; vgl. ferner z. B. BVerfGE 34, 269 (282) („Schutzauftrag der Art. 1 und 2 I GG“); 35, 202 (221) („Schutzgebot des Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG“). 63 Vgl. z. B. Larenz, SchuldR II, 12. Aufl. (1981), § 72 III a = S. 624; Fikentscher, SchuldR, 7. Aufl. (1985), § 103 II 2 vor a; Medicus, SchuldR II, 3. Aufl. (1987), § 141 I; Schwerdtner, in: MünchKomm, 2. Aufl. (1984), § 12 Anh. Rdnr. 219; Soergel-Zeuner, BGB 11. Aufl. (1985), § 823 Rdnr. 67; Kötz, DeliktsR, 4. Aufl. (1988), Rdnr. 631; auch noch Canaris, BankvertragsR, 3. Aufl. (1988), Rdnr. 41. 64 Vgl. auch Steindorff, Persönlichkeitsschutz im ZivilR, 1983, S. 16 ff., und S. 27 ff., wenngleich mit anderen Kategorien als im folgenden Text. 65 Vgl. BGH, NJW 1965, 685 bzw. BVerfGE 34, 269, 282 f. 66 Vgl. BGHZ 13, 334; 26, 349; 30, 7; BVerfGE 54, 148 und 208.
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Auch wenn eine Persönlichkeitsäußerung wie Bild, Wort usw. kommerziell ausgenutzt wird, kann allenfalls die Tatbestandsmäßigkeit der Persönlichkeitsverletzung zweifelhaft sein. Da insoweit heute anerkannt ist, daß die Ausnutzung derartiger Werte grundsätzlich allein dem Inhaber des Persönlichkeitsrechts zusteht67, gibt es auch hier nichts abzuwägen, so daß wiederum durch die Tatbestandsmäßigkeit der Verletzung die Rechtswidrigkeit indiziert wird.
b) Die Problematik des Schutzes vor fahrlässigen mittelbaren Persönlichkeitsverletzungen. In zahlreichen bisher entschiedenen Fällen lag eine vorsätzliche Persönlichkeitsverletzung vor, die überdies meist als sittenwidrig i. S. von § 826 BGB hätte qualifiziert werden können. Von besonderer Brisanz für die Frage, in welchem Maße die Einordnung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in § 823 I BGB das von den Schöpfern des BGB intendierte Deliktssystem durchbricht, sind daher die Fälle einer lediglich fahrlässigen Persönlichkeitsverletzung. Paradigmatisch ist hierfür das Fehlurteil eines Arztes über die Entmündigungsreife einer Person. Das RG hat diesen Fall nach § 826 BGB beurteilt68, so daß der Arzt dem Entmündigten nur für Vorsatz haftet. Nun ist aber die (richterrechtliche) Beschränkung der Haftung eines Sachverständigen auf Vorsatz für den Fall, daß seine Aussage zu einer Entziehung der Freiheit i. S. von Art. 2 II GG geführt hat, nach Ansicht des BVerfG mit dem aus dieser Grundrechtsverbürgung folgenden Schutzgebot unvereinbar69. Für einen so schweren Eingriff in die Persönlichkeit wie die Entmündigung wird man die Schutzgebotsfunktion von Art. 2 I GG i. V. mit Art. 1 GG nicht als schwächer ansehen können als die von Art. 2 II GG. Auch ist im Vergleich hierzu die Persönlichkeitsbeeinträchtigung z. B. im Herrenreiterfall, wo u. U. nur Fahrlässigkeit vorlag, eine Bagatelle. Folglich ist auch hier die Beschränkung der Haftung des Sachverständigen auf Vorsatz mit dem Grundgesetz unvereinbar und § 826 BGB daher von Verfassungs wegen durch die Anwendung von § 823 I BGB i. V. mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu ergänzen. Bemerkenswert ist dabei im vorliegenden Zusammenhang wieder, daß allein die Frage des tatbestandlichen Schutzbereichs problematisch ist: Bejaht man diese, so indiziert die Fehlerhaftigkeit der Aussage auf Grund des darin liegenden objektiven Verhaltenspflichtverstoßes – es handelt sich um eine nur „mittelbare“ Verletzung – die Rechtswidrigkeit. Freilich dürfte der Auftraggeber i. d. R. ein „berechtigtes Interesse“ an der Aussage des Sachverständigen haben, so daß dieser nach dem Rechtsgedanken der §§ 824 II BGB, 193 StGB privilegiert wird. Da Rechtsprechung und h. L. dafür die Erfüllung eines gewis-
Vgl. BGHZ 81, 75 („Carrera“). Vgl. RGZ 72, 175 (176 f.) (freilich in äußerst strenger, auf „Leichtfertigkeit“ abstellender Interpretation von § 826 BGB). 69 Vgl. BVerfGE 49, 304 (319 f.). 67 68
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Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip sen Minimums an Prüfungspflichten fordern70, läuft die Haftung praktisch auf eine Einstandspflicht für Leichtfertigkeit hinaus. Für dieses Ergebnis spricht im übrigen auch, daß die Deliktshaftung für wissenschaftliche Aktivitäten im Hinblick auf Art. 5 III GG auf grobe Fahrlässigkeit beschränkt ist (vgl. unten 3 b).
c) Die mangelnde Schutzfähigkeit der allgemeinen Handlungsfreiheit. Den Gegenpol zu den Indikationsfällen bilden Beeinträchtigungen der allgemeinen Handlungsfreiheit. Entgegen einer im Schrifttum verbreiteten Ansicht 71 fällt diese nämlich schon tatbestandlich von vornherein nicht in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts; denn verfassungsrechtlich wird sie von diesem nicht umfaßt72, und zivilrechtlich darf insoweit keinesfalls anders entschieden werden, weil das auf die mit dem BGB unvereinbare „große“ deliktsrechtliche Generalklausel hinausliefe. Ist nicht mehr verletzt als die allgemeine Handlungsfreiheit, kommt man somit nicht einmal bis zur Frage der „Abwägung“. d) Der Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Repräsentativ für eine Abwägungslösung ist die privatrechtliche Umsetzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Diese kann vom oben (II 1 a, 3 a) vertretenen Standpunkt aus nur auf dem Umweg über die Schutzgebotsfunktion von Art. 2 I GG i. V. mit dem „Untermaßverbot“ erfolgen und, wirft daher wesentlich andere Probleme auf als die Abwehr von staatlichen Eingriffen in die informationelle Selbstbestimmung73, für die das „Übermaßverbot“ gilt. Da es dabei um die Ermittlung und Verbreitung wahrer Tatsachen geht, kommt hier eine generelle Indikation der Rechtswidrigkeit von vornherein nicht in Betracht. Im Gegenteil ist im Privatrecht davon auszugehen, daß die Vermutung für die Zulässigkeit wahrer Informationen spricht; denn Demokratie und Privatrechtsgesellschaft sind essentiell auf freie Information und Kommunikation angewiesen, so daß für diese Art. 5 I bzw. Art. 2 I GG streitet. Nicht wer die Wahrheit sagt, bedarf daher eines besonderen Grundes, sondern wer sie verbieten (lassen) will. Ist somit die Rechtswidrigkeit hier grundsätzlich besonders zu ermitteln, so sind dafür andererseits doch keineswegs „alle Umstände des Einzelfalles“ abzu70 Vgl. z. B. Mertens, in: MünchKomm (o. Fußn. 63), § 824 Rdnrn. 51 ff.; Lenckner, in: Schönke-Schröder (o. Fußn. 59), § 193 Rdnr. 11. 71 Vgl. z. B. Hubmann, Das PersönlichkeitsR, 2. Aufl. (1967), S. 175 ff.; Schlechtriem, DRiZ 1975, 66; Palandt-Thomas, BGB, 48. Aufl. (1989), § 823 Anm. 14 B vor a. 72 Vgl. BVerfGE 54, 148 (153). 73 Daher können aus dem Volkszählungsurteil BVerfGE 65, 1, keine unmittelbaren Rückschlüsse für das Privatrecht gezogen werden; so mit Recht auch Wente, NJW 1984, 1446 f.; Zöllner, RDV 1985, 10 ff.; Badura, in: Festschr. f. Molitor, 1988, S. 13 ff.; Ehmann, AcP 188 (1988), 301 f.; verfehlt demgegenüber Simitis, NJW 1984, 401, nach dessen Ansicht „im privaten Bereich ... ebensowenig wie im öffentlichen Bereich eine Einschränkung der informationellen Selbstbestimmung ohne entsprechende gesetzliche Bestimmungen hinzunehmen ist“ – eine These, deren Verfassungswidrigkeit schon deshalb evident ist, weil sie der durch Art. 2 I GG geschützten Privatautonomie geradezu ins Gesicht schlägt.
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wägen. Vielmehr sind i. d. R. [171] nur wenige immer wiederkehrende Kriterien in Form eines „beweglichen Systems“ relevant. Für die Unzulässigkeit der Verbreitung einer Information kann vor allem die Art ihrer Erlangung, ihre Schadensträchtigkeit für den Betroffenen, die Mißachtung des Überlassungszwecks und das Motiv des Informierenden (Wettbewerbsabsicht!74) sprechen; eine Rolle spielt auch die Frage, wie nahe die Information den „Kernbereich“ der Persönlichkeit berührt und ob sie die personale, insbesondere „intime“ oder nur die wirtschaftliche Sphäre betrifft. Sind danach Gründe für ein Informationsverbot gegeben, können diese durch das Interesse des Informierenden, des Adressaten oder der Öffentlichkeit an der Information aufgewogen werden; außerdem kann von Bedeutung sein, ob der Betroffene die Verbreitung der Information durch sein Verhalten veranlaßt oder gar herausgefordert hat. Ist eine Information rechtswidrig erlangt, wird man nach § 249 S. 1 BGB oder analog § 1004 BGB sogar annehmen können, daß die Rechtswidrigkeit ihrer Verbreitung indiziert ist (vgl. oben bei Fußn. 58); rechtswidrig ist insbesondere die Erlangung durch Täuschung, widerrechtliche Drohung, widerrechtlichen Zwang sowie durch Verstoß gegen eine Strafnorm wie z. B. § 123 oder §§ 201 ff. StGB. Die Rechtswidrigkeit wird ferner indiziert, wenn die Information dem Verbreitenden anvertraut worden ist und die Geheimsphäre rechtlich geschützt ist – z. B. gesetzlich nach § 203 StGB oder vertraglich wie beim Bankgeheimnis. Dagegen indiziert die bloße Ausnutzung fremden Rechtsbruchs, auf die die Presse für die Aufdeckung von Mißständen geradezu angewiesen sein kann, grundsätzlich nicht die Rechtswidrigkeit. Sie wird jedoch häufig im Rahmen der dann erforderlich werdenden Abwägungslösung ausschlaggebend gegen die Zulässigkeit der Verbreitung sprechen; das gilt z. B., wenn ein Verlag lediglich Werkzeug des rechtswidrig handelnden Autors ist wie wohl im Fall Wallraff75 – in dem es, was leider von den Gerichten nicht ausdrücklich thematisiert worden ist, um die informationelle Selbstbestimmung eines Presseunternehmens ging – oder wenn der ausgenutzte Rechtsbruch besonders schwer wiegt, sich also z. B. gegen das verfassungsrechtlich verbürgte und strafbewehrte Fernmeldegeheimnis richtet wie im Fall Kohl-Biedenkopf76. Daß die Informationen geschäftsmäßig und/oder systematisch zum Zwecke der Weitergabe an Dritte gesammelt worden sind, macht diese selbstverständlich nicht per se rechtswidrig, doch wird man angesichts der mit einer solchen Datei verbundenen Gefahren und Mißbrauchsmöglichkeiten auch bei Unanwendbarkeit des Bundesdatenschutzgesetzes von dem Informierenden wenigstens die Prüfung fordern müssen, ob der Informationsempfänger 74 Vgl. zur Verbreitung wahrer Tatsachen als Verstoß gegen § 1 UWG Baumbach-Hefermehl, WettbewerbsR, 15. Aufl. (1988), § 1 Rdnr. 288 m. Nachw. 75 Vgl. BVerfGE 66, 116, und BGHZ 80, 25, sowie dazu oben IV 1 b. 76 Vgl. BGHZ 73, 120, und dazu Lerche, AfP 1975, 826, und AfP 1976, 61, der zutreffend auf den besonderen Rang des Fernmeldegeheimnisses abstellt.
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Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip
die Daten für seine Zwecke überhaupt benötigt77. Nicht einmal diese Prüfung dürfte zu verlangen sein bei der Verbreitung registerpflichtiger Daten78, sofern die Einsicht in das Register wie z. B. beim Handelsregister kein besonderes Interesse voraussetzt (und der Verzicht auf ein solches verfassungskonform ist); denn dann handelt es sich lediglich um eine legitime Effektivierung der Registerpublizität, die als solche bekanntlich oft wenig effizient ist. Repräsentativ für ein Informationsverbot, das in der Gefährdung des Betroffenen und der Bedrohung des „Kernbereichs“ der Persönlichkeit begründet liegt, ist das Lebach-Urteil des BVerfG. Darin hat dieses die Fernsehsendung eines Dokumentarspiels über Morde im Zeitpunkt der unmittelbar bevorstehenden Entlassung der Täter im Hinblick auf deren Persönlichkeitsschutz, insbesondere ihr rechtlich anerkanntes Resozialisierungsinteresse mit Recht untersagt79. Die Beeinträchtigung kann auch immaterieller Art sein und z. B. bei Berichten über Vorgänge aus dem Privatleben in der Minderung des Ansehens, die der Betroffene in seinem Bekanntenkreise erleidet, oder in der „Prangerwirkung“ der Darstellung in einem öffentlichen Medium bestehen80; das gilt erst recht, wenn ein Rechtsverstoß hinzukommt, mag er auch nur gering wiegen wie beim Unterbleiben einer gebotenen Anhörung des Betroffenen oder bei der heimlichen Aufnahme seines Bildes81. Dagegen geht es nicht an, auf das Kriterium der drohenden Beeinträchtigung ohne weiteres zu verzichten und Berichte der Medien über das Privatleben schlechthin für unzulässig zu erklären, auch wenn der Betroffene keine Person der „Zeitgeschichte“ ist und keine besondere „Veranlassung“ zu dem Bericht gegeben hat; auch Lieschen Müller muß sich z. B. gefallen lassen, daß die Presse wahrheitsgemäß verbreitet, sie sei die ständige Begleiterin oder auch die Geliebte des Stars X. Hier gilt die Vermutung für die Zulässigkeit wahrer Information (vgl. oben nach Fußn. 73) und der Grundsatz, daß eine rechtliche Bewertung des Informationsinteresses tunlichst zu unterbleiben hat (vgl. oben bei Fußn. 51). Erst recht darf über Vorgänge aus dem Privatleben einschließlich des Sexualbereichs berichtet werden, wenn der Betroffene dazu durch sein früheres Verhalten Anlaß gegeben hat und die Information rechtmäßig erlangt ist82. Gleiches kann sogar bei rechtswidriger Erlangung – z. B. durch Erschleichung eines Photos – gelten, wenn das Informationsinteresse überra77 Vgl. BGHZ 91, 233 (240); in dieser Richtung auch schon RGZ 115, 416 (417) für eine Auskunftei; BGHZ 8, 142 (145 f.) („langsamer Zahler“); vgl. dazu im übrigen auch Ehmann, AcP 188 (1988), S. 368 ff. 78 Vgl. dazu Windbichler, CuR 1988, 447 ff. 79 Vgl. BVerfGE 34, 269; ähnlich hat schon das RG das Resozialisierungs- grundsätzlich über das Informationsinteresse gestellt und nach § 826 verurteilt, vgl. RGZ 115, 416 (417 f.), und vor allem RG, JW 1928, 1211. 80 Vgl. dazu grdl. BGH, JZ 1965, 411 („Gretna Green“). 81 Vgl. BGH, LM Art. 5 GG Nr. 19 („Wo ist mein Kind?“) bzw. BGH, NJW 1966, 2353, 2354 („Vor unserer eigenen Tür“). 82 Vgl. BGH, NJW 1964, 1471, 1472 („Sittenrichter“).
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gend ist und daher die Voraussetzungen von § 34 StGB vorliegen; man denke etwa an den amerikanischen Präsidentschaftskandidaten, dessen eheliche Treue zu einer Frage seiner politischen Glaubwürdigkeit geworden und der dann von Journalisten bei einem Treffen mit einer anderen Frau „ausspioniert“ worden war. Auf der anderen Seite kommt es auf die Gefahr von Nachteilen für den Betroffenen wohl dann nicht mehr an, wenn dieser geradezu willkürlich „in die Öffentlichkeit gezerrt“ wird. Von Bedeutung ist schließlich der Verwendungszweck bei der Überlassung von Informationen oder Persönlichkeitselementen, auch wenn die Bindung an diesen im Privatrecht nicht ebenso streng wie im öffentlichen Recht sein kann83. So stellt z. B. die Veröffentlichung eines Photos auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 22 KunstUrhG grundsätzlich eine rechtswidrige Persönlichkeitsverletzung dar, wenn sie nicht durch den Überlassungszweck gedeckt ist84. Weniger eng sind die Grenzen, wenn es nicht um die Verbreitung, sondern um die Verfolgung interner Zwecke des Informationsempfängers geht. Gewiß darf z. B. eine Bank auch solche Daten für die Entscheidung über die Gewährung eines Kredits an einen Kunden verwenden, die dieser ihr aus anderem Anlaß überlassen hat85. Rechtswidrig ist dagegen grundsätzlich die nicht zweckgedeckte Verwendung von Persönlichkeitselementen zur Gewinnung neuer Informationen, die nur durch besondere Entschlüsselungsmethoden möglich ist; hierher gehören etwa der Aidstest und die Einholung eines graphologischen Gutachtens86, wenn sie durch den (erkennbaren) Überlassungszweck nicht gedeckt sind. Ferner ist die Verwendung [172] von Informationsträgern oder Informationen grundsätzlich, d. h. mangels eines überwiegenden Gegeninteresses, unzulässig, wenn der Zweck ihrer Überlassung fehlgeschlagen ist oder sich erledigt hat; daher ist z. B. einem Stellenbewerber sein Personalfragebogen grundsätzlich zurückzugeben, wenn die Bewerbung gescheitert ist, und eine für den Arbeitnehmer ungünstige (wahre) Tatsache aus den Personalakten zu entfernen, wenn sie für seine weitere Beurteilung überflüssig geworden ist87. Maßgebliches Wertungskriterium ist in allen diesen Fällen, daß die Überlassung teils verkehrsüblich, teils faktisch unausweichlich ist und die darin liegende Gefährdung des informationellen Selbstbestimmungsrechts verstärkten rechtlichen Schutz erforderlich macht.
83 In diesem ist „die Verwendung der Daten auf den gesetzlich bestimmten Zweck beschränkt“, vgl. BVerfGE 65, 1, 46. 84 Vgl. BGH, VersR 1974, 756, 757; NJW 1974, 1947, 1949; 1985, 1617, 1618. 85 So mit Recht Zöllner RDV 1985, 14 mit weiteren Beispielen; vgl. ferner Ehmann, AcP 188 (1988) 321 ff., der jedoch die Besonderheiten „überlassener“ bzw. „anvertrauter“ Informationen nicht hinreichend berücksichtigt. 86 Vgl. dazu z. B. BAG, AP § 123 BGB Nr. 24; Wiese, ZfA 1971, 293 ff.; Bepler, NJW 1976, 1872 ff. 87 Vgl. BAG, AP § 611 BGB Nr. 7 Persönlichkeitsrecht bzw. BAG, NZA 1988, 654.
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Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip
3. Privatrechtliche Auswirkungen des Fehlens eines Gesetzesvorbehalts in Art. 5 III GG Besondere Probleme bereitet die Verhältnismäßigkeitsprüfung auch im Privatrecht, wenn ein Gesetzesvorbehalt fehlt wie in Art. 5 III GG. a) Kollisionen von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz: „Mephisto“. Der BGH hat die Veröffentlichung des Romans „Mephisto“ von Klaus Mann untersagt, weil darin in wenn auch verschlüsselter Weise das Lebensbild des – damals schon toten – Schauspielers Gründgens entstellt werde, und das BVerfG hat die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde abgewiesen88. Nach der oben (II 2b) entwickelten Konzeption war das schon deshalb unzutreffend, weil das Veröffentlichungsverbot einen Eingriff der staatlichen Gewalt in die Kunstfreiheit darstellte und Art. 5 III GG daher als Eingriffsverbot und Abwehrrecht einschlägig war, so daß die Prüfung entgegen der Ansicht des BVerfG nicht nur nach dem Willkürverbot, sondern nach dem Übermaßverbot, also durch Verhältnismäßigkeitsabwägung vorzunehmen war. Hinzu kommt, daß nach der zutreffenden Rechtsprechung des BVerfG Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt nur aus dem GG selbst heraus eingeschränkt werden können 89. Da zivilrechtlicher Persönlichkeitsschutz eine Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion von Art. 2 I GG ist (vgl. oben bei und mit Fußn. 62), kam es somit darauf an, ob es von Verfassungs wegen geboten war, die Veröffentlichung des Romans trotz der ziemlich starken „Verschlüsselung“ der Person von Gründgens auch noch nach dessen Tod zu verbieten. Stellt man die Frage so, kann man sie nur verneinen. Daran ändert auch nichts, daß hier Kunst auch als „Waffe“ im Meinungskampf eingesetzt worden war und Gründgens in der Tat mittelbar wegen seines Verhaltens im Dritten Reich angegriffen werden sollte. Zwar nähert sich dann die Problematik der von Art. 5 I GG in gewisser Hinsicht an, doch wird man dennoch die Schranken von Art. 5 II GG nicht analog auf derartige Kunstformen (Karikatur, Dokumentarspiel usw.) anwenden können 90, da die Übergänge allzu fließend sind. Vielmehr sind diese Aspekte in die Abwägung auf der Ebene der Verfassung hineinzunehmen, so daß der Persönlichkeitsschutz umso stärkeres und der Kunstschutz umso schwächeres Gewicht hat, je dominierender das „Kampfelement“ ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt ließen die starke „Verschlüsselung“ der Darstellung von Gründgens und der lange Zeitablauf die Notwendigkeit des Persönlichkeitsschutzes hinter der Kunstfreiheit bei der Verhältnismäßigkeitsabwägung zurücktreten.
Vgl. BVerfGE 30, 173, und dazu Schwabe, DVBl 1971, 689 ff. Vgl. BVerfGE 30, 173 (193 f.); seither st. Rspr. 90 Das schlägt Lerche, AfP 1973, 501 f. vor; der Sache nach ebenso z. B. OLG Stuttgart, NJW 1976, 628, 630 („Siemens/Delius“). 88 89
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b) Kollisionen von Wissenschaftsfreiheit mit dem Deliktsschutz. Im Schrifttum wird unter Berufung auf Art. 5 III GG die These vertreten, daß bei Verstößen gegen § 823 I BGB durch Fehler in wissenschaftlichen Publikationen nur für grobe Fahrlässigkeit gehaftet wird91. Das paßt bruchlos in die hier entwickelte dogmatische Konzeption. Die Haftung nach § 823 I BGB stellt nämlich einen gesetzlichen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit dar und unterliegt daher der Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. oben II 2 b). Da Art. 5 III GG keinen Gesetzesvorbehalt hat, kann diese, wie soeben (bei Fußn. 89) ausgeführt, nur auf der Grundlage eines aus dem GG selbst folgenden Schutzgebots vorgenommen werden 92. Zutreffend hat nun aber das BVerfG entschieden, daß mit dem Schutzgebot von Art. 2 II GG zwar nicht eine Beschränkung der Haftung aus § 823 I BGB auf Vorsatz, wohl aber eine solche auf grobe Fahrlässigkeit vereinbar ist93. Die „richtige Mitte“ zwischen dem Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit durch die Gefahr einer Schadensersatzhaftung und dem Schutz der Güter des § 823 I BGB liegt also in der Tat bei der groben Fahrlässigkeit.
91 Vgl. Bund, in: Festschr. f. v. Caemmerer, 1978, S. 326 ff.; Heldrich, Freiheit der Wissenschaft – Freiheit zum Irrtum? 1987, S. 53 f. 92 Vgl. zur Einschränkbarkeit der Wissenschaftsfreiheit z. B. BVerfGE 47, 327 (369); 57, 70 (99). 93 Vgl. BVerfGE 49, 304 (319 ff.).
Die Verfassungswidrigkeit von § 828 II BGB als Ausschnitt aus einem größeren Problemfeld – Zugleich eine Besprechung des Vorlagebeschlusses des OLG Celle vom 26. 5. 1989 – JZ 1990, S. 679-681 I. Der Vorlagebeschluß des OLG Celle und die Verengung des Problemfeldes In einem unlängst in dieser Zeitschrift abgedruckten Beschluß hat das OLG Celle die Ansicht vertreten, daß „die unbegrenzte Haftung von Kindern und Jugendlichen (§ 828 Abs. 2 BGB), selbst bei nur leichter Fahrlässigkeit, jedenfalls dann nicht mit der Verfassung vereinbar ist, wenn sie zur Existenzvernichtung des Minderjährigen führt, obwohl die Entschädigung des Opfers von dritter Seite gewährleistet ist“1. Es hat die Frage gemäß Art. 100 GG dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt. Nachdem dieses unlängst § 90a II 2 HGB für verfassungswidrig erklärt hat2 (jedenfalls für die Zeit bis zum Inkrafttreten der Novellierung des Handelsvertreterrechts am 1.1.1990), steht somit nunmehr eine weitere Vorschrift des Privatrechts auf dem Prüfstand des Grundgesetzes. Die Ansicht des OLG Celle trifft im Ergebnis in der Tat zu, wie ich vor einigen Jahren in dieser Zeitschrift näher dargelegt habe3. Es ist an sich auch nichts dagegen einzuwenden, daß das OLG Celle seine These und die dem BVerfG gestellte Frage auf die Haftung von Minderjährigen beschränkt hat; denn nur hierüber hat es zu entscheiden. In den Gründen hat das OLG Celle jedoch ausdrücklich hervorgehoben, daß es seinen Standpunkt auf Minderjährige beschränken und bei Erwachsenen entgegengesetzt entscheiden will. Dadurch ist die Fragestellung verkürzt worden, weil der Bedeutung der Minderjährigkeit im vorliegenden Zusammenhang ein zu großes Gewicht zugemessen und der Blick dafür verstellt wird, daß bei Erwachsenen ganz ähnliche Probleme auftreten können. Diese Verengung der Sicht wird noch intensiviert durch den Besprechungsaufsatz von Kuhlen, in dem „strafrechtliche Grenzen der zivilrechtlichen Deliktshaftung MinVgl. OLG Celle JZ 1990, 294. Vgl. BVerfG WM 1990, 559 = AP Nr. 65 zu Art. 12 GG mit Anm. von Canaris. 3 Vgl. Canaris JZ 1987, 1001 f. und JZ 1988, 497. 1 2
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Die Verfassungswidrigkeit von § 828 II BGB
derjähriger“ behauptet werden4. Auch hinsichtlich des Verschuldensgrades werden die Ausführungen des OLG Celle der Problematik nicht in jeder Hinsicht gerecht. Daher sei der Blick im folgenden auf den Gesamtzusammenhang gelenkt, in den die Fragestellung einzuordnen ist. II. Die Unhaltbarkeit einer strikten Differenzierung zwischen Voll- und Minderjährigen Daß die vom OLG Celle intendierte strikte Unterscheidung zwischen Vollund Minderjährigen nicht richtig sein kann, [680] wird schon an den Ergebnissen deutlich. Soll es wirklich ausschlaggebend sein, ob jemand kurz vor oder nach seinem 18. Geburtstag einen Schaden anrichtet, den er voraussichtlich während seines gesamten Lebens nicht bezahlen kann und durch den daher seine Zukunft wirtschaftlich ruiniert wird?! Das gängige Argument, irgendwo müsse eine zeitliche Grenze gezogen werden und diese bringe nun einmal zwangsläufig Härten und ein gewisses Maß von Willkür mit sich, mag zwar bezüglich der Geschäftsfähigkeit akzeptabel sein, weil es dort um die Beteiligung am rechtsgeschäftlichen Verkehr geht und dessen Teilnehmer ein festes Datum als Grundlage ihrer Entscheidung brauchen, paßt aber auf die Deliktsfähigkeit nicht, da es bezüglich ihres Vorliegens keines Verkehrs- und Vertrauensschutzes bedarf. Das OLG Celle hat sich denn auch nicht auf die Notwendigkeit einer klaren zeitlichen Abgrenzung gestützt, sondern zwei andere Gründe angeführt, um die Differenzierung zwischen Voll- und Minderjährigen verfassungsrechtlich zu stützen. Seine Begründung vermag insoweit jedoch nicht zu überzeugen. 1. Das erste Argument des OLG Celle geht dahin, daß bei Erwachsenen „in Teilbereichen (Stichwort: gefahrgeneigte Arbeit) jedenfalls bei leichter Fahrlässigkeit der Schadensersatzanspruch des Opfers durch den Arbeitgeber befriedigt wird“. Diese Begründung liegt völlig neben der Sache, weil sie nicht spezifisch für die Unterscheidung zwischen Voll- und Minderjährigen ist. Denn wenn ein Minderjähriger in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer einen Schaden anrichtet, hat der Arbeitgeber genauso einzuspringen wie bei einem Erwachsenen. Letztere sind daher insoweit nicht besser, erstere nicht schlechter gestellt, so daß sich auf diese Weise keinesfalls eine Differenzierung des Schutzes vor einer ruinösen Schadenszurechnung rechtfertigen läßt. Nur am Rand sei im übrigen noch darauf hingewiesen, daß es nicht selten lediglich zu einer Verlagerung des ruinösen Schadens auf den Arbeitgeber kommen wird und sich das Problem daher nur verschiebt. Man denke etwa daran, daß eine Hausgehilfin oder ein Angestellter eines kleinen Handwerkers einen exorbitanten 4
Vgl. Kuhlen JZ 1990, 273 ff.
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Schaden anrichtet. Daß dann letzterer bzw. die Hausfrau u. U. in den Ruin getrieben wird, löst das Problem in keiner Weise, sondern verschärft es eher noch, da diese ja sogar unabhängig von einem eigenen Verschulden nach den Regeln über die gefahrgeneigte Arbeit für den Schaden einzustehen haben. 2. Diskutabel ist daher von vornherein allenfalls das zweite Argument des OLG Celle. Dieses geht dahin, daß „der Erwachsene ... durch den Abschluß einer Berufs- und/oder einer Privathaftpflichtversicherung zu akzeptablen finanziellen Bedingungen die Folgen einer wirtschaftlichen Existenzvernichtung vermeiden kann“. Indessen ist diese Begründung schon in sich selbst unschlüssig. Da es nämlich eine höhenmäßige Begrenzung für Deliktsschäden nicht gibt, können diese durchaus oberhalb der Versicherungssumme, ja vielleicht sogar außerhalb der Grenzen der Versicherbarkeit liegen. Das OLG Celle regt selbst eine Privathaftpflichtversicherung mit einer Deckungssumme von 2 Mio DM an. Das provoziert doch sofort die Frage, wie denn die Belastung eines zu diesem (vernünftigen und verbreiteten) Betrag versicherten Menschen mit einem Schaden von 10 Mio DM zu legitimieren sein soll. Es trifft eben (leider) nicht zu, daß man durch den Abschluß einer Versicherung generell „die Folgen einer wirtschaftlichen Existenzvernichtung vermeiden kann“. Außerdem gibt es auch zahllose Menschen, die keine Privathaftpflichtversicherung haben. Entgegen einer verbreiteten Modeansicht ist es mir seit jeher unbegreiflich gewesen, wie aus der bloßen Möglichkeit zum Abschluß einer Versicherung auf die Legitimität oder gar Legalität einer Schadenszurechnung soll geschlossen werden können. Vollends unnachvollziehbar ist mir, wie man jemand in den wirtschaftlichen Ruin treiben kann allein mit dem Argument, er hätte sich versichern können. Denn der Fall liegt ja nun einmal so, daß er das nicht getan hat. Er war dazu von Rechts wegen auch nicht verpflichtet, weil es eine allgemeine Pflichtversicherung für Haftpflichtrisiken nicht gibt. Auch mit dem Gesichtspunkt eines „Verschuldens gegen sich selbst“ ist nicht weiterzukommen Das gilt schon deshalb, weil nicht einmal eine rechtliche „Obliegenheit“ für jedermann besteht, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen. Außerdem mag eine solche zwar für eine flexible und abgestufte Einschränkung des Schadensersatzanspruchs wie im Falle von § 254 BGB ein sinnvolles Erklärungsmuster sein, taugt aber nicht zur Begründung einer echten – und überdies höhenmäßig nicht abstufbaren – Rechtspflicht5. Im übrigen ist auch weder finanziell noch intellektuell von jedermann zu erwarten, daß er eine Haftpflichtversicherung abschließt. Soll man etwa den Arbeitslosen oder den Sozialhilfeempfänger, der einen ruinösen Schaden angerichtet hat, mit dem Argument abspeisen, er hätte ja „nur“ die 70,- bis 150,- DM Haftpflichtversicherungsprämie, die das OLG Celle zugrunde legt, zu entrichten brauchen?! Daß es intellektuell eines gewissen Standards bedarf, um 5
Vgl. näher Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 198 ff.
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Die Verfassungswidrigkeit von § 828 II BGB
eine Haftpflichtversicherung abzuschließen, läßt das OLG Celle selbst an anderer Stelle anklingen, indem es davon spricht, daß „sich verantwortungsbewußte und informierte (!) Eltern ohnehin zu vernünftigen Maßnahmen wie dem Abschluß einer Privathaftpflichtversicherung entschließen“. In der Tat hängt dieser Entschluß in ganz erheblichem Maße vom Informationsniveau des Betroffenen ab. Die Begründung, der Schädiger hätte sich durch eine Privathaftpflichtversicherung schützen können, benachteiligt daher die „sozial schwächeren“ Schichten, ja sie hat geradezu den Ruch eines typischen Akademikerarguments. Insgesamt trägt somit der Hinweis auf die Versicherbarkeit des Risikos eine ruinöse Schadenszurechnung bei Erwachsenen keinesfalls. Das heißt allerdings nicht, daß dieser Gesichtspunkt und damit die Differenzierung zwischen Vollund Minderjährigen im vorliegenden Zusammenhang völlig ohne Bedeutung wäre. Immerhin ist nämlich das Risiko einer ruinösen Haftung für den Minderjährigen insofern noch größer, als er dieses nicht einmal selbst durch den Abschluß einer Haftpflichtversicherung mildern kann – eine erhebliche Milderung des Risikos ist ja durchaus möglich! –, sondern insoweit auf das Handeln seines gesetzlichen Vertreters angewiesen ist. Das Urteil kann daher ohne weiteres dahin lauten, daß jedenfalls bei Minderjährigen eine ruinöse Schadenszurechnung (unter bestimmten Voraussetzungen) verfassungswidrig ist, nicht dagegen dahin, daß das nur für diese gilt – eine Aussage, zu der im übrigen der zu entscheidende Fall nicht den geringsten Anlaß gibt und die daher ein völlig überflüssiges obiter dictum darstellt. 3. Entsprechendes gilt für die Ausführungen Kuhlens. Richtig ist allerdings, daß die Disproportion zwischen straf- und zivilrechtlichen Folgen als unterstützendes Argument für die Verfassungswidrigkeit einer ruinösen Schadenszurechnung herangezogen werden kann6. Das hat jedoch allenfalls ganz am Rande etwas mit der unterschiedlichen Behandlung von Kindern und Jugendlichen durch das Strafrecht einerseits und das Zivilrecht andererseits zu tun, so daß diese entgegen der Konzeption Kuhlens nicht in den Mittelpunkt gerückt werden [681] darf. Denn die Disproportion der Rechtsfolgen besteht grundsätzlich bei Erwachsenen in ganz ähnlicher Weise, da auch bei diesen einer ruinösen Schadenszurechnung oft nur eine geringfügige, ja u. U. gar keine Strafe gegenübersteht. Darüber hinaus kommt eine solche Disproportion sogar bei Vorsatztaten in Betracht; die Strafe für eine vorsätzliche Sachbeschädigung kann für den Täter eine Bagatelle sein im Vergleich zur zivilrechtlichen Ersatzpflicht. Das lenkt den Blick zugleich auf die Gefahr einer weiteren Problemverkürzung – nämlich die allzu pauschale Behandlung des Verschuldensproblems.
6
So schon Canaris JZ 1987, 1001 Sp. 2.
JZ 1990, S. 679-681
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III. Die Unrichtigkeit einer Beschränkung der Problematik auf fahrlässige Taten Das OLG Celle hat sich zur Problematik der Verfassungsmäßigkeit von § 828 II BGB nur für die Fälle einer „leichten Fahrlässigkeit“ des Schädigers geäußert. Auch wenn es in dieser Frage unzutreffende obiter dicta zu anderen Fallgestaltungen nicht gemacht hat, gibt der Beschluß doch auch insoweit zu einer kritischen Ergänzung Anlaß. Es ist nämlich durchaus zweifelhaft, ob nur Fahrlässigkeit vorlag. Denn die Schädiger hatten das Telephonbuch vorsätzlich angezündet; zu einer bloßen Fahrlässigkeitstat ist das OLG nur deshalb gekommen, weil es das Verschulden lediglich darin gesehen hat, daß die Täter „das Feuer nicht sorgfältig genug ausgetreten hatten“. Ob diese Sichtweise richtig ist, läßt sich aus dem Sachverhalt nicht entnehmen. Sollte nämlich das Telephonbuch dem Eigentümer der verbrannten Halle gehört haben, so wäre der Schaden als adäquat kausale Folge einer vorsätzlichen Eigentumsverletzung nach § 823 I BGB zu ersetzen; es käme dann nicht einmal darauf an, ob hinsichtlich des Austretens auch nur Fahrlässigkeit vorliegt. Außerdem kann man den Fall leicht in diesem Sinne variieren, ohne daß er den – vom OLG so nachdrücklich betonten – Charakter eines „Dummerjungenstreichs“ verliert. Daran wird gut deutlich, daß man es sich mit der Verneinung einer „Reduktion“ ruinöser Schadenszurechnungen bei Vorsatztaten nicht zu einfach machen darf. Die h. L. lehnt bei diesen sogar de lege ferenda eine „Reduktion“ pauschal ab, verkennt dabei jedoch, daß der Vorsatz sich im Zivilrecht nur auf die haftungsauslösende und nicht auch auf die haftungsausfüllende Kausalität zu beziehen braucht und daß daher vorsätzliche Bagatelltaten katastrophale Schadensersatzpflichten heraufbeschwören können; man braucht nur an einen leichten Faustschlag zu denken, aufgrund dessen das Opfer unglücklich stürzt und eine Gehirnblutung, eine Querschnittslähmung oder dgl. erleidet. Im übrigen habe ich auch zu dieser Seite der Problematik früher schon ausführlich Stellung genommen7, so daß ich mich im übrigen auf eine Verweisung beschränke. IV. Die Bedeutung der „Entschädigung des Opfers von dritter Seite“ Das OLG Celle will eine Verfassungswidrigkeit nur annehmen, wenn „die Entschädigung des Opfers von dritter Seite gewährleistet ist“. Kuhlen hat dem wider-
7
Vgl. aaO (wie Fn. 3).
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Die Verfassungswidrigkeit von § 828 II BGB
sprochen, weil „diese Einschränkung aus strafrechtlicher Perspektive völlig unplausibel“ sei8. Im Ausgangspunkt hat das OLG Celle recht. Die verfassungsrechtliche Prüfung beruht nämlich im wesentlichen auf einer Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen dem Eingriff in die Grundrechte des Schädigers und dem Ausgleichsinteresse des Geschädigten (sowie gewissen Präventionserwägungen)9. Ist letzterer auf die Ersatzleistung des Schädigers angewiesen, kann daher auch eine für diesen ruinöse Ersatzpflicht grundsätzlich nicht als verfassungswidrig angesehen werden. Es ist somit grundsätzlich durchaus relevant, ob der Geschädigte Ersatz von einer Versicherung erhält oder nicht; der gegenteilige Standpunkt Kuhlens ist unzutreffend und belegt mittelbar, daß seine primär vom Strafrecht beeinflußte Sichtweise der Problematik nicht gerecht wird. Allerdings muß nicht unbedingt eine „Entschädigung des Opfers von dritter Seite“ erfolgen. Vielmehr sind auch dessen eigene Vermögensverhältnisse einzubeziehen. Ein Schaden, dessen Ersatz für den Schädiger ruinös ist, kann für ein Großunternehmen eine Bagatelle darstellen, die sich in der Dividende nicht einmal mit einem Pfennig niederschlagen würde. Außerdem käme man sonst zu einem vitiosen Zirkel; denn auch bei einem Dritten – hier der Brandversicherung des Geschädigten – darf der Schaden ja nur „hängenbleiben“, weil dieser nach seinen Vermögensverhältnissen nicht auf dessen Ersatz angewiesen ist. Das Fehlen einer solchen „Angewiesenheit“ und nicht die Entschädigung des Opfers durch einen Dritten als solche ist also das eigentlich ausschlaggebende Kriterium. V. Die Möglichkeit einer Abhilfe nach Bürgerlichem Recht und die Problematik einer Vorlage nach Art. 100 GG Nach Ansicht des OLG Celle „bedarf es keiner weiteren Erörterung, daß der Senat nicht selbst befugt ist, durch Auslegung der Vorschrift (sc.: des § 828 II BGB) eine Haftungsbegrenzung auf ein vertretbares Maß selbst herbeizuführen, weil dies dem ausdrücklichen und erkennbaren Willen des Gesetzgebers widerspricht“. Auch dieser Satz beruht auf der Verengung der Problematik. Gewiß ist es richtig, daß die Zivilgerichte § 828 II BGB nicht ändern dürfen und können. Die Problematik ist aber eben in Wahrheit gar nicht auf diese Vorschrift beschränkt, sondern viel allgemeiner. Abhilfe muß daher außerhalb von § 828 II BGB gesucht werden. Dazu bietet sich das Verbot des Rechtsmißbrauchs gemäß § 242 BGB an, das als zivilrechtliche Generalklausel besonders gut geeignet für eine verfassungskonforme Lösung ist und das anerkanntermaßen grundsätzlich auch 8 9
Vgl. Kuhlen JZ 1990, 279. Vgl. JZ 1987, 1001 f.
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bei Verstößen gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip eingreifen kann. Im übrigen mag auch insoweit eine Verweisung genügen10. Hinzugefügt sei, daß das OLG Celle den nachkonstitutionellen Charakter von § 828 II BGB m. E. allzu leichthändig bejaht hat. Die „Änderung zahlreicher Vorschriften des BGB in Verbindung mit dem Festhalten an § 828 BGB“ kann dafür entgegen seiner Ansicht schwerlich genügen. Am Deliktsrecht hat der nachkonstitutionelle Gesetzgeber so wenig geändert, daß von einem „Festhalten an § 828 BGB“ nicht im Ernst gesprochen werden kann. Das soll hier jedoch nicht vertieft werden, da es mit dem eigentlichen Thema dieses Beitrags nichts zu tun hat. Daher sei abschließend lediglich der Zusammenhang mit der Möglichkeit zu einer Abhilfe auf dem Wege über § 242 BGB und das zivilrechtliche Verbot einer unverhältnismäßigen Rechtsausübung hervorgehoben: Das OLG Celle hat möglicherweise nur deshalb so rigoros den nachkonstitutionellen Charakter von § 828 BGB behauptet, weil es die Möglichkeit einer Lösung auf der Ebene des Zivilrechts verkannt hat und daher keinen anderen Ausweg als die Anrufung des BVerfG sah. Sollte dieses die Vorausetzungen von Art. 100 GG nicht als gegeben ansehen, wird man sich auf das zivilrechtliche Instrumentarium besinnen müssen.
10
Vgl. JZ 1987, 1002.
Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 07.02.1990 – 1 BvR 26/84 AP GG Art. 12 Nr. 65 Die Entscheidung bedeutet dogmatisch eine wesentl. Präzisierung der Rechtspr. des BVerfG zum Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht. Sie überzeugt im Ergebnis und in den wesentl. Teilen der Begründung vollauf. I. Dogmatisch liegt ein besonderer Reiz des zu entscheidenden Falles darin, daß in ihm die beiden Hauptproblemfelder des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht gleichzeitig berührt sind: Es geht zum einen um die Frage der Einwirkung von Art. 12 GG auf ein Wettbewerbsverbot, also ein Rechtsgeschäft zwischen Privatrechtssubjekten, und zum anderen um die Verfassungsmäßigkeit von § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB, also einer Norm des Privatrechts. Beide Problemkreise müssen dogmatisch klar voneinander abgegrenzt werden. Denn Rechtsgeschäfte sind Akte von Privatrechtssubjekten, für die die Grundrechte nicht unmittelbar gelten, während Normen des Privatrechts auf Akten des Gesetzgebers beruhen und folglich gemäß Art. 1 Abs. 3 GG der unmittelbaren Grundrechtsbindung unterliegen (vgl. näher Canaris, AcP 184, 1984, 210 ff., 221 ff., 228; AcP 185, 10 ff.; JuS 1989, 161; ebenso z. B. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 76 IV 2 a und 4). Dieser Unterscheidung trägt auch das BVerfG in der Sache voll Rechnung. 1. Das BVerfG hat bekanntl. niemals die Theorie der unmittelbaren Drittwirkung vertreten. Im Einklang damit hebt es zunächst hervor, daß die Beschränkung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers „ihre rechtl. Grundlage nicht primär in staatl. Handeln findet“, sondern auf „rechtsgeschäftl. Selbstbindung“ beruht, die „zugleich Ausübung individueller Freiheit ist“. Der Staat habe „die im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen grundsätzl. zu respektieren“, durch die die Vertragsparteien „zugleich über ihre grundrechtl. geschützten Positionen ohne staatl. Zwang verfügen“. Insoweit bewegt sich die Entscheidung in bekannten Bahnen. a) Anschließend folgt indessen eine Wendung, die in dieser Form, soweit ersichtl., in der Rechtspr. des BVerfG neu ist und demgemäß eine dogmatische Fortentwicklung darstellt. Der Senat hebt nämlich, wie schon aus dem ersten Leitsatz ersichtl. ist, die Schutzgebotsfunktion von Art. 12 GG hervor und leitet aus ihr die Folgerung ab, daß der Gesetzgeber im Zivilrecht u. U. Vorkehrungen gegen vertragl. Beschränkungen der Berufsfreiheit zu schaffen hat. Soweit es an speziellen Schutzvorschriften fehlt, „greifen ergänzend solche zivilrechtl. Generalklauseln ein, die als Übermaßverbote wirken, vor allem die §§ 138, 242, 315
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Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 07.02.1990 – 1 BvR 26/84
BGB“; in derartigen Fällen richte sich „der entsprechende Schutzauftrag der Verfassung an den Richter“. Damit hat nun auch das BVerfG anerkannt, daß die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte die Kategorie ist, mit deren Hilfe die Einwirkung der Grundrechte auf Rechtsgeschäfte – und, so wird man hinzufügen dürfen, auch auf sonstige Akte von Privatrechtssubjekten gegenüber anderen Privatrechtssubjekten wie unerlaubte Handlungen, nachbarrechtl. Störungen usw. – dogmatisch zu erklären ist – eine Ansicht, die sich im Schrifttum seit einiger Zeit im Vordringen befindet (vgl. Canaris, AcP 184, 1984, 225 ff. und JuS 1989, 163, m. Nachw. in Fn. 16; ferner z. B. Stern, aaO § 76 III 4 b, m. w. Nachw.; Bleckmann, DVBl. 1988, 938 ff.; Lerche, Festschr. für Steindorff, 1990, S. 903). Zusätzl. hebt das BVerfG ausdrückl. hervor, daß die Verwirklichung des Schutzgebots zugunsten des einen Vertragspartners zugleich einen Eingriff in Grundrechte des anderen Vertragspartners – hier in die Freiheit der Berufsausübung des Unternehmers – zur Folge haben kann; der Gesetzgeber „müsse diesen konkurrierenden Grundrechtspositionen ausgewogen Rechnung tragen“, wobei er eine „weite Gestaltungsfreiheit“ besitze. Da sich im Privatrecht regelmäßig auf beiden Seiten Träger gegenläufiger Grundrechte gegenüberstehen, ist in der Tat eine derartige Verbindung von Schutzgebots- und Eingriffsverbotsfunktion erforderl., wobei dem einfachen Gesetzgeber zwischen verfassungswidrigem „Untermaß“ einerseits und verfassungswidrigem „Übermaß“ andererseits im Einklang mit dem BVerfG regelmäßig – wenngleich nicht ausnahmslos – ein breiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen ist (vgl. näher Canaris, JuS 1989, 163 f.). b) Einen Anlaß für ein schützendes Eingreifen des Rechts zugunsten einer Vertragspartei sieht der Senat „namentlich“ dann als gegeben an, „wenn es an einem annähernden Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehlt“. Er meint sogar: „Wenn bei einer solchen Sachlage über grundrechtl. verbürgte Positionen verfügt wird, müssen staatl. Regelungen ausgleichend eingreifen, um den Grundrechtsschutz zu sichern“. Das ist nun freilich zu rigide und apodiktisch formuliert und darf daher nicht aus dem Kontext gelöst werden. Denn „grundrechtlich verbürgt“ ist sogar die allgemeine Handlungsfreiheit, da sie bekanntl. in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG fällt – und doch wird man nicht im Ernst die These vertreten können, daß zu ihrem Schutz stets von Verfassungs wegen eingeschritten werden muß, wenn es beim Abschluß eines Vertrages – der immer zumindest die allgemeine Handlungsfreiheit, sehr häufig auch andere Grundrechte wie die des Art. 12 und des Art. 14 GG einschränkt – „an einem annähernden (!) Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehlt“. Man muß daher die weiteren Sätze hinzunehmen, daß „sich der Verfassung nicht unmittelbar entnehmen läßt, wann Ungleichgewichtslagen so schwer wiegen, daß die Vertragsfreiheit durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzt oder ergänzt werden muß“, und daß „sich die Merkmale, an denen etwa erforderl. Schutzvorschriften ansetzen können, nur typisierend erfassen lassen“. Dem damit eröffneten weiten Gestaltungsspielraum des einfachen Rechts trägt der Senat anschließend dadurch Rechnung, daß er sich bei der
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Feststellung eines Ungleichgewichts zwischen Handelsvertreter und Unternehmer an den eigenen Wertungen des (einfachen) Gesetzgebers orientiert. Außerdem will der Senat ersichtl. nicht in Frage stellen, daß das – von ihm ausdrückl. hervorgehobene – Instrumentarium der zivilrechtl. Generalklauseln zum Schutz gegen untragbare Störungen des „Kräftegleichgewichts“ ausreicht; insofern ist die Besonderheit zu berücksichtigen, die sich hier daraus ergibt, daß § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB den Rückgriff auf diese Generalklauseln versperrt (vgl. unten 2 b). Die Forderung nach der „Einführung einer neuen Generalklausel der Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung im Zivilrecht“ (so Wiedemann, JZ 1990, 697) läßt sich daher m. E. aus der Entscheidung nicht herleiten. Richtig ist aber selbstverständl., daß gerade Ungleichgewichtslagen in besonderem Maße die Aktualisierung der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte erforderl. machen; freilich ist das in der Sache nichts Neues, sondern entspricht vollauf dem herkömmlichen genuinen Privatrechtsdenken. Außerdem sind es nicht nur Ungleichgewichtslagen, bei denen die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte berührt sein kann; denn zum einen sind bestimmte Grundrechte ihrem „Wesen“ nach besonders „sensibel“ gegenüber rechtsgeschäftl. Einschränkungen, und zum anderen bedarf eine Vertragspartei u. U. auch des Schutzes „gegen sich selbst“. So sagt der Senat denn auch mit Recht nur, daß „namentlich“ beim Fehlen eines annähernden Kräftegleichgewichts ein Schutz geboten sei, und läßt mit dieser Formulierung die Möglichkeit anderer Schutzkonstellationen offen (vgl. dazu die Beispiele bei Canaris, JuS 1989, 164–166). Daß die Grundrechte auf die Inhaber „sozialer Macht“ analog anzuwenden seien, wie das vor allem von Gamillscheg vertreten wird (vgl. zuletzt: Die Grundrechte im Arbeitsrecht, 1989, S. 28 ff., insbesondere S. 31 f.), ist nicht die Position, die das BVerfG in dem vorliegenden Beschluß einnimmt. Das zeigt sich schon daran, daß es auf die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte zurückgreift. Die Lehre, die hieran anknüpft, steht erklärtermaßen im Gegensatz zur Lehre Gamillschegs und wird ersichtl. auch von diesem selbst so eingeordnet (vgl. aaO, S. 85). Dogmatisch liegt der Unterschied dabei darin, daß Gamillscheg als Normadressaten des Grundrechts den Inhaber der sozialen Macht ansieht, die Schutzgebotslehre dagegen den Staat (vgl. Canaris, AcP 184, 1984, 227; Stern, aaO § 76 IV 5 c). Daß auch nach dieser die Schutzgebote ein besonders wichtiges Anwendungsfeld bei Ungleichgewichtslagen haben, folgt ohne weiteres daraus, daß die Schutznotwendigkeit wesentl. vom Grad der Bedrohung des betroffenen Rechtsguts und von der Fähigkeit seines Trägers zum Selbstschutz abhängen kann. 2. Was nun die Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion angeht, so hat auch insoweit der vorliegende Fall einen besonderen „Pfiff“. An sich stellt § 90 a HGB nämlich gerade eine Konkretisierung des aus Art. 12 GG folgenden Schutzgebots zugunsten des Handelsvertreters dar – ebenso wie die §§ 74 ff. HGB, die grundsätzl. dem Schutz von Handlungsgehilfen vor unangemessenen Wettbewerbsverboten dienen (vgl. näher Canaris, AcP 184, 1984, 228 f.). Das verfassungsrechtl.
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Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 07.02.1990 – 1 BvR 26/84
Problem entsteht daher nur dadurch, daß § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB diesen Schutz für den Fall der verschuldeten außerordentl. Kündigung zurücknimmt, ja geradezu verhindert. a) Der Senat hat § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB deshalb für unvereinbar mit Art. 12 GG erklärt, weil die Regelung mit den Prinzipien der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit unvereinbar sei. Diese Ausprägungen des verfassungsrechtl. „Übermaßverbotes“ sind dem herkömml. Verständnis der Grundrechte als Eingriffsverbote zugeordnet; inwieweit sie auch im Rahmen der Schutzgebotsfunktion zur Konkretisierung des entsprechenden „Untermaßverbotes“ herangezogen werden können, ist noch weitgehend ungeklärt. Indessen stellt § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB in der Tat einen Eingriff in die Berufsfreiheit des Handelsvertreters dar, so daß die Anwendung des verfassungsrechtl. Übermaßverbotes zutreffend ist. Denn die Vorschrift spricht ipso iure dem Handelsvertreter den Anspruch auf Karenzentschädigung ab und greift damit unmittelbar in seine Berufsfreiheit ein, ohne daß es erst noch der Zwischenschaltung einer entsprechenden Vertragsabrede bedarf. Allerdings könnte § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB zugunsten des Handelsvertreters abbedungen werden, doch ist auch dispositives Recht grundsätzl. an den Grundrechten als Eingriffsverboten i. V. mit dem verfassungsrechtl. Übermaßverbot zu messen (vgl. näher Canaris, AcP 184, 1984, 214 f.). b) In dem zugrundeliegenden Fall war nun freilich eine dem § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB entsprechende Klausel ausdrückl. vertragl. vereinbart worden. Diese hatte jedoch nur deklaratorischen Charakter, da sich bei ihrem Fehlen dieselbe Rechtsfolge aus § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB ergibt. Wegen dieser Übereinstimmung mit dem Gesetz konnte die Klausel als solche auch nicht nach § 138 BGB oder § 9 AGBG – es handelte sich um einen Formularvertrag – kassiert werden; das ergibt sich aus § 8 AGBG, folgt aber auch unabhängig von dieser Vorschrift aus der Bindung des Richters an das Gesetz. Daraus wird erst die volle Tragweite von § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB deutlich: Die Vorschrift greift nicht nur selbst in die Berufsfreiheit des Handelsvertreters ein, sondern nimmt ihm darüber hinaus auch noch den Schutz der zivilrechtl. Generalklauseln. Ein Ausweg könnte hier allerdings darin bestehen, das Wettbewerbsverbot als Ganzes für unwirksam zu erklären, weil es allein für den Fall einer verschuldeten fristlosen Kündigung gelten sollte und der Unternehmer sich also lediglich die „Rosine“ aus § 90 a HGB „herauspicken“ wollte. Prüfungsmaßstab ist dabei nicht nur § 138 BGB, sondern auch § 9 AGBG, da es um einen Formularvertrag geht. Eine nach § 8 AGBG kontrollfreie Entgeltvereinbarung liegt nicht vor; denn da das Wettbewerbsverbot grundsätzl. kein selbständiger Vertrag, sondern Teil des Arbeits- bzw. Dienstvertrags ist (vgl. nur Grunsky in Geschichtliche Rechtswissenschaft, Freundesgabe für Söllner, 1990, S. 42 f.), handelt es sich um eine kontrollfähige Nebenabrede. Es überrascht daher, daß der BGH die Problematik, soweit aus dem Abdruck der Entscheidung ersichtl. ist (vgl. WM 1983, 1416), unter
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diesem Aspekt nicht geprüft hat. Indessen würde auch eine Anwendung von § 9 AGBG oder § 138 BGB an den verfassungsrechtlichen Einwänden gegen § 90 a Abs. 2 S. 2 HGB nichts ändern, da die Beschränkung des Wettbewerbsverbots auf den Tatbestand der vom Handelsvertreter verschuldeten fristlosen Kündigung und das damit verbundene „Herauspicken der Rosine“ durch den Unternehmer eine zufällige Besonderheit des vorliegenden Falles ist. c) Mittelbar ist durch die Entscheidung des BVerfG auch die Rspr. des BAG zu § 75 Abs. 3 HGB, der inhaltl. mit § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB übereinstimmt, bestätigt worden. Das BAG hat diese Vorschrift in der Entscheidung AP Nr. 6 zu § 75 HGB für verfassungswidrig und nichtig erklärt, sich dabei allerdings nicht auf Art. 12 GG, sondern lediglich auf Art. 3 GG gestützt und den Verstoß gegen letzteren mit der Ungleichheit der Sanktionen begründet, die in § 75 Abs. 1 HGB für eine außerordentl. Kündigung des Arbeitnehmers wegen vertragswidrigen Verhaltens des Arbeitgebers einerseits und in § 75 Abs. 3 HGB für das entsprechende Verhalten des Arbeitnehmers andererseits vorgesehen sind. Die Ansicht des BVerfG geht weiter. Nach dieser ist § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB nämlich schon aus sich selbst heraus und nicht ledigl. wegen der – auch hier bestehenden – Inkongruenz gegenüber der Regelung einer Kündigung durch den Handelsvertreter nach § 90 a Abs. 3 HGB verfassungswidrig. Das hat auch gewisse praktische Konsequenzen. Denn nach der Ansicht des BVerfG kann sich der Gesetzgeber nicht auf eine Beseitigung der Inkongruenz beschränken, was ja theoretisch auch durch eine Änderung von § 90 a Abs. 3 bzw. § 75 Abs. 1 HGB geschehen könnte, sondern muß jedenfalls die Regelung von § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB als solche ändern. Übrigens hatte ursprüngl. auch das BAG in der Entscheidung AP Nr. 5 zu § 75 HGB Art. 12 GG herangezogen, war dann jedoch dieser Problematik ausgewichen, weil es unter dem Eindruck der Ausführungen von Achterberg (JZ 1975, 713 ff.) offenbar für möglich hielt, die gesamte Regelung der §§ 74 ff. HGB könnte gegen Art. 12 GG verstoßen. Diese Befürchtung fällt indessen sofort in sich zusammen, wenn man sich klarmacht, daß grundsätzl. nur das Wettbewerbsverbot, also ein Vertrag, in die Berufsfreiheit eingreift, und die §§ 74 ff. HGB grundsätzl. die Schutzgebotsfunktion von Art. 12 GG konkretisieren (vgl. näher Canaris, AcP 184, 1984, 228 f.). In ihrer Gesamtheit werden diese Vorschriften dem Schutzgebot von Art. 12 GG durchaus gerecht, zumal der Gesetzgeber dabei nach der zutreffenden Ansicht des BVerfG einen weiten Gestaltungsspielraum hat. d) Außer § 75 Abs. 3 HGB genügt allerdings auch § 75 b Satz 1 HGB den Anforderungen von Art. 12 GG nicht. Nach dieser Vorschrift kann mit einem Arbeitnehmer, der außerhalb Europas tätig ist, ein entschädigungsloses Wettbewerbsverbot vereinbart werden. Das BAG hält diese Vorschrift für unvereinbar mit Art. 12 GG (vgl. AP Nr. 15 zu § 75 b HGB). Reuter hat dagegen in der Anmerkung zu der Entscheidung eingewandt, die Ansicht des BAG lasse sich in die
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Grundrechtsdogmatik nicht einfügen; denn „die Verfassungswidrigkeit einer gesetzl. Vorschrift wegen Unvereinbarkeit mit der Drittwirkung (sei) – soweit ersichtlich – im Arbeitsrecht genauso ein Novum wie im sonstigen Zivilrecht“. Mit Hilfe der Schutzgebotslehre lassen sich solche Bedenken indessen unschwer entkräften. Es bereitet nämlich keine dogmatischen Schwierigkeiten anzunehmen, daß § 75 b S. 1 HGB durch den völligen Verzicht auf das Erfordernis einer Karenzentschädigung hinter dem verfassungsrechtl. gebotenen Schutzminimum zurückbleibt und durch diese eklatante Zurücksetzung der Interessen des Arbeitnehmers gegen das „Untermaßverbot“ verstößt. Man kann darüber hinaus entgegen der Ansicht Reuters sogar den Standpunkt vertreten, daß § 75 b S. 1 HGB geradezu einen Eingriff in die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers enthält und daher an Art. 12 GG in seiner klassischen Funktion als Eingriffsverbot i. V. mit dem verfassungsrechtl. Übermaßverbot zu messen ist. Allerdings nimmt diese Vorschrift dem Arbeitnehmer – anders als § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB – nicht selbst den Entschädigungsanspruch, sondern erlaubt lediglich eine entsprechende Abrede. Dadurch aber macht § 75 b S. 1 HGB es den Gerichten unmögl., entschädigungslose Wettbewerbsverbote wegen Verstoßes gegen § 138 BGB bzw. § 9 AGBG für unwirksam zu erklären oder eine entsprechende ungeschriebene Schutznorm im Wege der Rechtsfortbildung zu entwickeln (vgl. oben 2 b). Deshalb wird man eine derartige konkrete Erlaubnisnorm noch der Eingriffsverbotsfunktion der Grundrechte zuordnen können. So ist der Sache nach unlängst auch der BGH bei der Auslegung von § 2333 Nr. 2 BGB – ebenfalls einer konkreten Erlaubnisnorm – vorgegangen (vgl. BGH, JZ 1990, 697, 699 m. Anm. von Leipold). Demgegenüber hat die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte ihr primäres Anwendungsfeld in den Fällen gesetzgeberischen (oder sonstigen staatlichen) Unterlassens (vgl. z. B. Badura, Festschr. für Herschel, 1982, 35). So ging es z. B. auch in der grundlegenden Entscheidung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch, in der dieses die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte entdeckt oder wiederentdeckt hat (vgl. BVerfGE 39, 1, 42 ff.), richtiger Ansicht nach nicht um die Erlaubnis zur Tötung ungeborenen Lebens, sondern um das Unterlassen einer Strafbewehrung. 3. Was das dogmatische Verhältnis von Verfassung und Privatrecht angeht, so sei schließl. noch auf einen unscheinbaren, aber möglicherweise wichtigen Satz in der Entscheidung des BVerfG hingewiesen. Der Senat geht nämlich unter C I 1 mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß „die Rechtspr. wie jede staatl. Gewalt an die Grundrechte gebunden ist“, und stützt diesen Satz ausdrückl. auf Art. 1 Abs. 3 GG. Mit Rechtspr. ist hier die Zivilgerichtsbarkeit gemeint. Daher ist der Hinweis auf Art. 1 Abs. 3 GG, der eine unmittelbare Grundrechtswirkung statuiert, u. U. von erheblicher Bedeutung. Das wird deutlich, wenn man damit den Leitsatz der Entscheidung BVerfGE 73, 261 = AP Nr. 28 zu Art. 2 GG konfrontiert. Dort heißt es: „Eine Bindung des Richters an die Grundrechte kommt bei der streitentscheidenden Tätigkeit auf dem Gebiet des Privatrechts
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nicht unmittelbar (!), wohl aber insoweit in Betracht, als das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet hat“. Dieser Satz trifft, wenn man ihn wörtlich nimmt, nicht zu, weil die Grundrechtsbindung des Richters auf dem Gebiet des Privatrechts keine prinzipiell andere sein kann als die des Gesetzgebers und also in der Tat unter Art. 1 Abs. 3 GG fällt (vgl. näher Canaris, JuS 1989, 162). Möglicherweise bahnt sich somit auch hier eine Modifikation der Position des BVerfG an, zumal der Rückgriff auf die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte eine präzisere dogmatische Erfassung des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht erlaubt. Auch ist inzwischen wohl allgemein ins Bewußtsein gedrungen, daß das Problem der Superrevision nichts mit der Bindung der Zivilgerichte an die Grundrechte zu tun hat – was seit der Lüth-Entscheidung (BVerfGE 7, 198, 207) leider oft verkannt worden ist – und daher auch nicht durch deren Lockerung i. S. einer bloßen „Mittelbarkeit“ oder „Ausstrahlungswirkung“ gelöst werden kann. Auch insoweit ist die vorliegende Entscheidung erfreulich klar, indem sie deutlich zwischen der Bindung des Zivilrichters an die Grundrechte einerseits und der Vermeidung einer Superrevision andererseits unterscheidet. II. Als Folge des Verstoßes gegen Art. 12 GG hat das BVerfG nicht die Nichtigkeit, sondern nur die Verfassungswidrigkeit von § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB ausgesprochen, weil der einfache Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten einer verfassungskonformen Abhilfe habe. Es hat zugleich jedoch den Zivilgerichten aufgegeben zu prüfen, „ob den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG im Rahmen des geltenden Zivilrechts Rechnung getragen werden kann“. Diese haben dabei anders als der Gesetzgeber keinen Gestaltungsspielraum, sondern müssen auf Grund ihrer Bindung an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG diejenige Lösung wählen, die sich am besten in das geltende Recht einfügt. 1. Der richtige Lösungsweg ist durch die Entscheidung BAG AP Nr. 6 zu § 75 HGB vorgezeichnet. a) Anregungen des Schrifttums folgend hat das BAG dem Arbeitgeber zugestanden, sich wegen des Wegfalls von § 75 Abs. 3 HGB in Analogie zu § 75 Abs. 1 HGB von dem Wettbewerbsverbot loszusagen. Das läßt sich ohne weiteres auf die vorliegende Problematik übertragen, da auch § 90 a Abs. 3 HGB ein derartiges Lossagungsrecht kennt. Der Unternehmer kann sich also binnen eines Monats nach der Kündigung durch schriftl. Erklärung von dem Wettbewerbsverbot und damit von der Pflicht zur Zahlung einer Karenzentschädigung nach § 90 a Abs. 1 Satz 3 HGB befreien. b) Des weiteren ist der Handelsvertreter gemäß § 628 Abs. 2 HGB zum Ersatz des durch die Vertragsaufhebung entstehenden Schadens verpflichtet, was das BVerfG ausdrückl. hervorgehoben hat. Hieraus hat nun das BAG aaO unter Bezugnahme auf seine Entscheidung AP Nr. 8 zu § 628 BGB geschlossen, daß der Gekündigte bis zum nächstzulässigen Kündigungstermin „aus dem Gesichtspunkt des Schadenersatzanspruchs zur Wettbewerbsunterlassung verpflich-
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tet wäre“ und daher während dieses Zeitraums „keine Vergütung für seine Wettbewerbsunterlassung verlangen kann“. Die Ansicht des BAG beruht auf der Überlegung, daß der Gekündigte ohne die Kündigung gemäß § 60 HGB zur Unterlassung von Wettbewerb verpflichtet wäre und der Schadenersatzanspruch aus § 628 Abs. 2 BGB den Kündigenden daher so stellen müsse, als gelte dieses Wettbewerbsverbot weiter. Diese Ansicht ist trotz der Kritik, die daran im Schrifttum geäußert worden ist, im Ansatz zutreffend, bedarf jedoch der Modifikation. Lieb hat in der Anmerkung zu der Entscheidung AP Nr. 8 zu § 628 BGB vor allem eingewandt, die Ansicht des BAG entspreche nicht dem Schutzzweck von § 60 HGB; denn diese Vorschrift solle den Arbeitgebern nur vor den Gefahren bewahren, die ihm drohen, solange der Arbeitnehmer „noch in das Unternehmen des Arbeitgebers integriert ist und damit Zugang zu allen möglichen Informationen hat, deren unmittelbare Kenntnis in einem Konkurrenzunternehmen für den Arbeitgeber außerordentl. schädlich sein kann“. Indessen geht es nicht primär um den Schutzzweck von § 60 HGB, sondern um den von § 628 Abs. 2 BGB. Danach aber hat der Arbeitnehmer den Arbeitgeber nun einmal grundsätzl. so zu stellen, als hätte er diesen nicht zur Kündigung veranlaßt – und dann würde ja in der Tat § 60 HGB weiter gelten. Außerdem dürfte Lieb den Schutzzweck von § 60 HGB zu eng sehen. Denn nicht nur die Verwertung von Betriebsinterna, sondern grundsätzl. jede Art von Konkurrenz ist mit der Loyalitätspflicht aus einem (noch laufenden) Arbeitsverhältnis unvereinbar. So spielt die Kenntnis von Betriebsinterna nicht notwendigerweise eine Rolle, wenn ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber andere Arbeitnehmer für ein Konkurrenzunternehmen abwirbt – darum ging es in der Entscheidung BAG AP Nr. 8 zu § 628 BGB –, und doch kann schwerlich bezweifelt werden, daß das mit § 60 HGB unvereinbar ist. Beitzke hat sich in der Anmerkung zu dem Urteil AP Nr. 6 zu § 75 HGB der Kritik von Lieb angeschlossen, zusätzl. aber weitere Einwände vorgebracht (vgl. Ziff. 7 der Anm.). Vor allem hat er geltend gemacht, der Anspruch aus § 628 Abs. 2 BGB sei ein solcher wegen Vertragsauflösung und könne daher nach allgemeinen dogmatischen Grundsätzen nicht auf Naturalrestitution, sondern „nur auf Ersatz des aus Wegfall des Wettbewerbsschutzes entstehenden Vermögensschadens“ gerichtet sein. Dieser Einwand trifft ins Schwarze und führt überdies zu sachgerechten Ergebnissen – was ja entgegen einer verbreiteten Modemeinung überhaupt ein Kennzeichen guter Dogmatik ist. Wenn der Arbeitnehmer nämlich nicht zur Naturalrestitution verpflichtet ist, dann hat der Arbeitgeber folgerichtig keinen Primäranspruch auf Unterlassung von Wettbewerb und kann darauf also auch nicht aus § 249 S. 1 BGB klagen. Damit entfällt der Einwand, die Ansicht des BAG führe zu einem entschädigungslosen nachvertragl. Wettbewerbsverbot. Der Arbeitnehmer darf und kann somit durchaus eine Konkurrenztätigkeit aufnehmen und ist ledigl. gehindert, dem Arbeitgeber Vermögensschäden zuzufügen – etwa durch Abwerbung von
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anderen Arbeitnehmern, durch Einbruch in den konkreten Kundenstamm des Arbeitgebers usw. Allerdings kann schon die Gefahr einer daraus folgenden Schadenersatzhaftung den Arbeitnehmer u. U. an der Aufnahme einer Konkurrenztätigkeit hindern, wie das BAG in der Entscheidung AP Nr. 8 zu § 628 BGB unter II 2 b richtig gesehen hat, doch hat der Arbeitnehmer sich das selbst zuzuschreiben. Daß er erst eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch vertragswidriges Verhalten veranlaßt – was ja ein ziemlich „massiver“ Tatbestand ist – und dann auch noch dem Arbeitgeber vor Ablauf seiner eigenen Kündigungsmöglichkeit Vermögensschäden zufügen darf, ohne sie ersetzen zu müssen, widerspricht dem Schutzzweck von § 628 Abs. 2 BGB ebenso wie einem elementaren (ungeschriebenen) Gerechtigkeitsgebot. Die Verpflichtung, dem Arbeitgeber durch den Wettbewerb keinen Vermögensschaden zuzufügen, bleibt hinter der Verpflichtung, Wettbewerb überhaupt zu unterlassen, erheblich zurück und kann daher mit einem entschädigungslosen Wettbewerbsverbot nicht auf eine Stufe gestellt werden. Das gilt umso mehr, als der Arbeitgeber die Beweislast für seinen Vermögensschaden trägt. Außerdem hat das BAG mit Recht darauf hingewiesen, daß die Ersatzpflicht aus § 628 Abs. 2 BGB i. V. mit § 60 HGB auf die Zeit bis zum Wirksamwerden einer Kündigung des Arbeitnehmers begrenzt ist und die daraus folgende Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Arbeitnehmers daher wesentl. kürzer ist als ein normales vertragl. Wettbewerbsverbot. Nicht zu folgen ist dem BAG allerdings insofern, als es in der Entscheidung AP Nr. 6 zu § 75 HGB annimmt, daß der Arbeitnehmer „für die Zeit bis zum nächstzulässigen Kündigungstermin keine Vergütung für seine Wettbewerbsunterlassung verlangen kann, weil er insoweit ohnehin aus dem Gesichtspunkt des Schadenersatzanspruchs zur Wettbewerbsunterlassung verpflichtet wäre“. Genau das trifft eben nicht zu: Der Arbeitnehmer ist nicht zur Unterlassung jeglichen Wettbewerbs, sondern nur zum Ersatz etwa daraus resultierender Vermögensschäden verpflichtet. Die Karenzentschädigung nach den §§ 74 ff. HGB steht ihm aber als Entgelt für die völlige Wettbewerbsenthaltung zu. Davon kann sich der Arbeitgeber also nur durch die Lossagung analog § 75 Abs. 1 HGB befreien, wofür er jedoch zugleich seinen Unterlassungsanspruch aus dem vertragl. Wettbewerbsverbot opfern muß. c) Eine weitere Folge aus der Kombination von § 628 Abs. 2 BGB mit § 60 HGB ist, soweit ersichtl., bisher unbemerkt geblieben. Sie besteht darin, daß der Arbeitgeber nach § 61 Abs. 1 Halbs. 2 HGB vom Arbeitnehmer Herausgabe des Verdienstes aus der Konkurrenztätigkeit verlangen kann. Denn auch diesen Anspruch hätte der Arbeitgeber, wenn er nicht vom Arbeitnehmer zur Kündigung veranlaßt worden wäre, und auch er ist nicht auf Naturalrestitution, sondern auf Geldersatz gerichtet. Im Wege der Vorteilsausgleichung hat der Arbeitgeber sich freilich das Gehalt des Arbeitnehmers anrechnen zu lassen. Praktisch bedeutet das, daß der Arbeitnehmer den Überschuß über sein bisheriges Gehalt herauszu-
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Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 07.02.1990 – 1 BvR 26/84
geben hat, den er bis zu dem Zeitpunkt erzielt, zu dem er sein Arbeitsverhältnis erstmals hätte kündigen können. Dieses Ergebnis ist sachgerecht und findet sogar eine Stütze in der Entscheidung des BVerfG. Dieses hat nämlich ausdrückl. ein Regelungsbedürfnis für „Wettbewerbsvorteile des vertragsbrüchigen Handelsvertreters“ anerkannt, „die sich durch einen korrespondierenden Schadenersatzanspruch des Unternehmers nicht abschöpfen lassen und deshalb als Anreiz wirken könnten, eine fristlose Kündigung zu provozieren“. Zwar hat das BVerfG dabei primär eine Neuregelung durch den Gesetzgeber im Auge, doch ist es umso besser, wenn sich das Problem schon de lege lata mit Hilfe von § 628 Abs. 2 BGB i. V. mit § 61 Abs. 1 Halbs. 2 HGB lösen läßt. d) Dieser Lösungsweg ist grundsätzl. auch beim Handelsvertreter gangbar. Allerdings gibt es für diesen keine dem § 60 HGB entsprechende Vorschrift, doch unterliegt auch er einem Wettbewerbsverbot aus § 242 BGB (vgl. nur Karsten Schmidt, Handelsrecht, 3. Aufl. 1987, § 26 IV 1 c, m. Nachw.). Auch dieses wird durch einen Abschöpfungsanspruch analog §§ 61 Abs. 1 Halbs. 2, 113 Abs. 1 Halbs. 2 HGB ergänzt, da diese Vorschriften Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens sind (der im übrigen eine gewisse Parallele in § 687 Abs. 2 i. V. mit §§ 681 S. 2, 667 BGB findet). 2. Was nun die Entscheidung des vorliegenden Falles angeht, so ist diese durch die Verfassungswidrigkeit von § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB noch nicht ohne weiteres determiniert. Die Parteien haben nämlich über die Pflicht des Beschwerdeführers zur Unterlassung von Wettbewerb und nicht etwa über dessen Anspruch auf Karenzentschädigung gestritten. Das Wettbewerbsverbot als solches aber hat das BVerfG keineswegs für verfassungswidrig erklärt. Die Folge seiner Entscheidung ist daher zunächst einmal nur, daß der vertragliche Ausschluß der Karenzentschädigung seinen rein deklaratorischen Charakter verliert und daher nicht mehr der Inhaltskontrolle entzogen ist (vgl. dazu oben I 2 b). Vielmehr ist er nach § 90 a Abs. 4 HGB i. V. m. § 134 BGB nichtig. Das schlägt nach § 139 BGB auf das Wettbewerbsverbot als Ganzes durch, wie auch das BVerfG angedeutet hat. Das Wettbewerbsverbot war nämlich nach seinem ersten Absatz auf den Fall beschränkt, daß „das Vertragsverhältnis beendet ist, weil ein von dem Mitarbeiter verschuldeter wichtiger Grund vorgelegen hat“. Diese Beschränkung verliert jeden vernünftigen Sinn, wenn nun plötzlich doch Entschädigung gezahlt werden muß; denn dann hätte der Unternehmer weit besser daran getan, für jeden Fall der Kündigung ein Wettbewerbsverbot zu vereinbaren – was indessen nicht geschehen ist und sich natürlich auch nicht im Wege der Umdeutung nach § 140 BGB erreichen läßt. Daher hat es bei Gesamtunwirksamkeit nach § 139 BGB sein Bewenden (vgl. auch BGH WM 1989, 954, 956, wo es ebenfalls um ein Wettbewerbsverbot ging). Eine teleologische Reduktion von § 139 BGB mit der Folge der Restgültigkeit (vgl. dazu Canaris, Festschr. für Steindorff, 1990, S. 539, m. Nachw.) kommt hier nicht in Betracht, weil das
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Wettbewerbsverbot durch seine Beschränkung auf den Fall eines vom Handelsvertreter verschuldeten wichtigen Grundes unlösbar mit dem Ausschluß der Karenzentschädigung verknüpft ist. Der Beschwerdeführer war daher nicht zur Unterlassung von Wettbewerb verpflichtet. Auch aus § 628 Abs. 2 BGB i. V. m. § 249 S. 1 BGB läßt sich eine solche Pflicht nicht herleiten (vgl. oben II 1 b). III. Das heutige rechtliche Schicksal von § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB hat das BVerfG offengelassen. Der Grund liegt darin, daß der Gesetzgeber inzwischen in Abs. 1 der Vorschrift einen neuen Satz 2 eingefügt hat. Dieser beschränkt die Zulässigkeit des Wettbewerbsverbotes auf „den dem Handelsvertreter zugewiesenen Bezirk oder Kundenkreis und auf die Gegenstände, hinsichtl. deren sich der Handelsvertreter um die Vermittlung oder den Abschluß von Geschäften für den Unternehmer zu bemühen hat“. Indessen ist nicht recht ersichtl., warum dadurch die Verfassungswidrigkeit von § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB – der als solcher unverändert geblieben ist – entfallen könnte. Das gilt schon deshalb, weil die neue Regelung ohnehin nur deklaratorischen Charakter haben dürfte; denn der BGH anerkennt in ständiger Rspr. die Wirksamkeit von Wettbewerbsverboten auch dann, wenn es an einer entsprechenden ausdrückl. Vorschrift fehlt, nur in den Grenzen des Erforderlichkeits- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. z. B. BGHZ 91, 1, 5, m. Nachw. aus der Rspr. und dazu Canaris, JuS 1989, 164 f.). Außerdem sind durch die neue Vorschrift die wesentl. Gründe, auf die das BVerfG die Unvereinbarkeit von § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB mit Art. 12 GG gestützt hat, nicht hinfällig geworden. Dazu hat es nämlich ausgeführt, daß „die undifferenzierte und vollständige Verweigerung einer Vergütung für jedwede Fallgestaltung und für die höchstmögliche Dauer der Karenzzeit von zwei Jahren keine sachl. Grundlage in den Besonderheiten einer vorzeitigen und verschuldeten Vertragsbeendigung findet“ und daß „eine solche Sanktion nicht erforderl. ist, um wettbewerbsrechtlichen Nachteilen des kündigenden Unternehmers zu begegnen, (und) dem Handelsvertreter wegen ihrer einschneidenden Folgen vielfach unzumutbar ist“. Das alles trifft unverändert auch nach Einfügung des neuen Abs. 1 S. 2 zu. Denn nach dieser Begründung des BVerfG ist § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB schon in sich selbst verfassungswidrig und nicht lediglich wegen der Auswirkungen, die er im Gesamtgefüge von § 90 a HGB hat. Der Gesetzgeber darf sich folglich nicht bei der Einfügung des neuen Abs. 1 S. 2 beruhigen, sondern muß § 90 a Abs. 2 Satz 2 HGB ändern. Bis dahin ist die Vorschrift auch bei der jetzigen Gesetzeslage wegen Verfassungswidrigkeit unanwendbar, so daß nach den oben zu II entwickelten Regeln zu verfahren ist.
Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft IN: BADURA/SCHOLZ (HRSG.), FESTSCHRIFT FÜR PETER LERCHE, 1993, S. 873-891
Die Thematik der Vertragsfreiheit ist derzeit von besonderer Aktualität. Das liegt vor allem am Zusammenbruch des „real-existierenden Sozialismus“. Zu diesem hat nämlich vermutlich die Attraktivität des Gegenmodells der „Privatrechtsgesellschaft“, das entscheidend durch die Hochschätzung der Vertragsfreiheit geprägt ist, wesentlich beigetragen.1 So orientieren sich die Staaten des ehemaligen Ostblocks denn auch allenthalben in Richtung auf die Einführung der Marktwirtschaft und damit zugleich auf eine Revitalisierung der Vertragsfreiheit. Dabei wird es freilich zwangsläufig zu Enttäuschungen und Rückschlägen kommen. Diese werden mit Sicherheit den alten Vorwurf wieder aufleben lassen, ein auf Vertragsfreiheit aufbauendes Rechts- und Wirtschaftssystem führe zu „sozialer Ungerechtigkeit“. Wir tun daher gut daran, uns unserer Argumente zu vergewissern und insbesondere die Fundamentalfrage nach dem Verhältnis von Vertragsfreiheit und Gerechtigkeit stets im Blick zu behalten. Anlaß hierzu gibt außerdem die bevorstehende Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarktes der zur EG gehörenden Staaten. Denn unter diesen besteht keineswegs Einmütigkeit über Rang, Reichweite und Funktion der Vertragsfreiheit sowie über deren Verhältnis zur Gerechtigkeit. Ein beredtes Zeugnis hierfür bildet ein Richtlinien-Entwurf der EG-Kommission, der in seiner derzeitigen Fassung so dramatische Eingriffe in die Vertragsfreiheit vorsieht, daß seine Umsetzung in deutsches Recht, wie in diesem Beitrag gezeigt werden soll, mit dem verfassungsrechtlichen „Übermaßverbot“2 unvereinbar und daher grundgesetzwidrig wäre. [874]
1 Den ersten Anstoß zur Abfassung des folgenden Beitrags hat eine scherzhafte Bemerkung des Jubilars gegeben, der Abschluß des Einigungsvertrages mit der DDR zeige, daß das öffentliche Recht inzwischen das Privatrecht an Bedeutung weit überholt habe. Meine – durchaus nicht scherzhafte – Antwort war, daß ein wesentlicher Grund für den Untergang des „realexistierenden Sozialismus“ in seiner Geringschätzung des Privatrechts liege und daß der Einigungsvertrag (auch) eine Option der Menschen in der DDR für die „Privatrechtsgesellschaft“ bedeute. Das mag es rechtfertigen, Peter Lerche die folgenden Zeilen zu widmen, auch wenn der zur Verfügung stehende Raum nur eine verhältnismäßig knappe, z. T. geradezu bruchstückhafte Skizze der ungemein komplexen Problematik erlaubt. 2 Grundlegend Lerche Übermaß und Verfassungsrecht, 1961.
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Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit
I. Vertragsfreiheit und Privatrechtsgesellschaft Daß die Vertragsfreiheit verfassungsrechtlich gewährleistet ist, obwohl das im Grundgesetz nicht ausdrücklich ausgesprochen wird, steht nahezu völlig außer Streit3 und soll daher hier nicht noch einmal zum Gegenstand einer ausführlichen Erörterung gemacht werden. Die Diskussion leidet indessen nach wie vor darunter, daß sie sich i. d. R. allein auf die Frage nach dem einschlägigen Grundrecht konzentriert.4 Durch diese Beschränkung der Sichtweise kommen Rang und Funktion der Vertragsfreiheit von vornherein nur ausschnittsweise ins Blickfeld. Dieses erweitert sich ganz wesentlich, wenn man die Staatszielbestimmungen hinzunimmt und demgemäß die überaus enge Korrespondenz zwischen der Vertragsfreiheit als Institution und dem Demokratie- sowie dem Gewaltenteilungsprinzip mitberücksichtigt.5 Auch das ist aber noch nicht genug. Vollständig wird das Bild erst, wenn man die Vertragsfreiheit nicht isoliert betrachtet, sondern sie in den Gesamtzusammenhang der Rechts- und Gesellschaftsordnung stellt. Das soll im folgenden unter dem Stichwort der „Privatrechtsgesellschaft“ versucht werden. 1. Die Privatrechtsgesellschaft als Grundlage der „Offenen“ Gesellschaft Was unter dem von Franz Böhm geprägten Ausdruck „Privatrechtsgesellschaft“6 genau zu verstehen ist, läßt sich nicht in einer knappen Formel sagen. Denn es handelt sich dabei nicht um einen Begriff, der einer Definition zugänglich ist, sondern eher um einen Typus i. S. von Max Weber, den man lediglich durch die Angabe prägender Charakteristika näherungsweise konkretisieren kann. Allgemein läßt sich zunächst nur die Selbstverständlichkeit konstatieren, daß das Privatrecht in einer Gesellschaft, der es den Namen gibt, offenkundig nicht nur von marginaler Bedeutung sein darf, sondern eine konstituierende Rolle spielen muß.7 Ins Zentrum der Problematik gelangt man indessen sogleich, wenn man die Frage stellt, welche staatspolitischen Grundentscheidungen und Werte hinter dem Postulat nach einer derartigen gesellschaftsprägenden Funktion des Privatrechts stehen. Franz Böhm hat als Gegentypen zur Privatrechtsgesellschaft vor allem die feudalistischen und die totalitären Ordnungen genannt. Erstere sind mit einer Privat3 Vgl. zuletzt Höfling Vertragsfreiheit, 1991, m. umf. Nachw.; zum abweichenden Standpunkt von Struck vgl. unten Fn. 59. 4 Charakteristisch jüngst wieder Höfling aaO S. 6 ff. 5 Vgl. dazu näher Canaris JZ 1987, 994 f. m. Nachw. 6 Vgl. vor allem Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 17 (1966) 75 ff. 7 Vgl. Böhm aaO S. 86.
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rechtsgesellschaft deshalb unvereinbar, weil sie auf ständischen Privilegien und einer rigiden Zunftordnung beruhen, wohingegen das Fundament des Privat[875] rechts in der rechtlichen Freiheit und rechtlichen Gleichheit aller Bürger liegt. Ein zweites Essentiale der Privatrechtsgesellschaft wird aus dem Gegensatz zum Totalitarismus deutlich: Im Gegensatz zu diesem ist es für die Privatrechtsgesellschaft typusbestimmend, daß der Staat seinen Bürgern nicht die Verfolgung bestimmter Ziele vorschreibt, sondern es ihnen (innerhalb gewisser Grenzen) überläßt, diese sowie die Mittel zu ihrer Erreichung selbst auszuwählen.8 Das ist eine staatspolitische Grundentscheidung von kaum zu überschätzender Tragweite.9 Dem Prinzip der freien Wahl von Zielen und Mitteln durch den Bürger entspricht es, daß Staat und Rechtsordnung grundsätzlich den Pluralismus der Werte respektieren. Aus gutem Grund ist daher von Hayek der Meinung, daß es die Privatrechtsgesellschaft ist, die die „Offene Gesellschaft“ i. S. von Popper möglich macht.10 So ist es alles andere als ein Zufall, daß das (utopische) Staatsbild Platos, das bekanntlich den ersten Hauptgegenstand der Kritik Poppers bildet,11 geradezu das perfekte Gegenmodell einer Privatrechtsgesellschaft darstellt. Ebensowenig ist es andererseits ein Zufall, daß Kant seine Rechtsphilosophie vom Privatrecht her konzipiert und dabei bereits die Grundstrukturen sowohl einer Privatrechtsgesellschaft als auch – trotz mancher zeitbedingter Relikte – einer „Offenen Gesellschaft“ vorgezeichnet hat (was hier freilich nicht näher ausgeführt werden kann). Im übrigen ist auch abgesehen von solchen philosophiegeschichtlichen Reminiszenzen evident, daß das Privatrecht auf Grund seiner leitenden Prinzipien und seiner überkommenen Strukturen einen Hort des Pluralismus bildet und eine in vieler Hinsicht optimale Grundlage für die Entstehung und Ausdifferenzierung einer „Offenen Gesellschaft“ bildet. 2. Privatrechtsgesellschaft und Wirtschaftsordnung Ist somit das Prinzip der freien Wahl von Zielen und Mitteln durch den Bürger konstitutiv für die Privatrechtsgesellschaft, so ist es eine Selbstverständlichkeit, daß in ihr die Vertragsfreiheit zentrale Bedeutung hat. Denn der freie Abschluß und die freie inhaltliche Gestaltung von Verträgen gehören zu den 8 Vgl. Böhm aaO S. 89 f.; ähnlich Mayer-Maly Raumordnung und Privatrechtsgesellschaft, 1973, S. 9 f. 9 Vgl. dazu eindrücklich, wenngleich wohl allzu emphatisch von Hayek Recht, Gesetzgebung und Freiheit Bd II, 1981, S. 151 ff., 184: „Die größte Entdeckung, die die Menschheit je gemacht hat“. 10 Vgl. von Hayek aaO S. 53. 11 Vgl. Popper Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I Der Zauber Platons, 1957.
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effizientesten Instrumenten, die der Staat seinen Bürgern für die rechtliche Verwirklichung ihrer Zielvorstellungen zur Verfügung stellen kann. Zugleich wird durch das Mittel des Vertrages, für den die Notwendigkeit der beiderseitigen Übereinstimmung, also des „Sich-Vertragens“ begriffswesentlich ist, zumindest rechtlich (wenngleich oft nicht auch faktisch) gewährleistet, daß die getroffene Regelung auf dem Einverständnis beider Parteien beruht und somit dem Pluralismus der – u. U. gegensätzlichen – Wertpräferenzen Rechnung trägt. [876] Für die Wirtschaftsordnung bedeutet das folgerichtig, daß der Privatrechtsgesellschaft grundsätzlich die Marktwirtschaft zugeordnet ist.12 Die Menschen haben nämlich im wirtschaftlichen Bereich bisher noch keinen anderen Regelungsmechanismus als den Markt entdeckt, der eine freie Verfolgung selbstgesteckter Ziele durch selbstbestimmtes Verhalten ermöglicht. Es bleibt daher gar keine andere Alternative als der Primat des Marktes, wenn der Staat auf die detaillierte Vorgabe von Zielen weitgehend verzichtet. Damit wird freilich nicht einem bloßen Laissez-faire-Liberalismus das Wort geredet. Vielmehr ist mit Böhms Vorstellung von der Privatrechtsgesellschaft bekanntlich das Postulat verbunden, daß der Staat für die Aufrechterhaltung (oder erforderlichenfalls sogar Schaffung) eines freien und lauteren Wettbewerbs zu sorgen hat. Anderenfalls würde die Freiheit einiger Marktteilnehmer erfahrungsgemäß alsbald zur faktischen Unfreiheit vieler anderer Marktteilnehmer führen und so die Fundamente der Privatrechtsgesellschaft selbst zerstören. Außerdem ist mit einem Pluralismus der Werte nur das Wettbewerbsprinzip vereinbar, da ohne dessen Gewährleistung die Tyrannei einzelner Werte und damit das Ende des Pluralismus droht. Der Markt kann daher seine Funktion als „Dialog über Werte“13 ohne effizienten Wettbewerb nicht erfüllen. Daß Vertragsfreiheit und Wettbewerbswirtschaft der Ergänzung und Absicherung durch die Gewährleistung des Privateigentums (im weiten Sinne des Art. 14 GG) bedürfen und daß dieses in einer Marktwirtschaft auch an Produktionsmitteln möglich sein muß, ist oft genug dargelegt worden und stellt ein weiteres prägendes Charakteristikum der Privatrechtsgesellschaft dar. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei hinzugefügt, daß sich auch in der Privatrechtsgesellschaft selbstverständlich nicht alle Produktionsmittel ausnahmslos in Privathand befinden müssen, daß durchaus nicht jede Intervention des Staates in den Markt mit den Leitgedanken der Privatrechtsgesellschaft unvereinbar ist14 und daß es mit diesen verträglich (ja wohl sogar durch sie geboten) ist, den Bürgern von 12 Vgl. Böhm aaO S. 102; Mayer-Maly aaO S. 14 f.; Mestmäcker Die sichtbare Hand des Rechts, 1978, S. 27; Möschel Festschr. für Pfeiffer, 1988, S. 716. 13 So die treffende und schöne Charakterisierung von Fikentscher Wirtschaftsrecht Bd I, 1983, § 1 I 11. 14 So ausdrücklich Böhm aaO S. 147.
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Staats wegen ein – mehr oder weniger großzügig bemessenes – Existenzminimum zu gewährleisten.15 3. Weitere Charakteristika der Privatrechtsgesellschaft Vertragsfreiheit, Wettbewerb und Privateigentum sind nicht die einzigen Charakteristika der Privatrechtsgesellschaft. Allein sie ins Zentrum zu stellen, wie das [877] manche Anhänger des Ordoliberalismus tun, kann folglich leicht zu einem einseitigen und schiefen Bild führen. Auch wenn damit die eigentliche Thematik des vorliegenden Beitrags überschritten wird, muß daher doch noch auf einige weitere Essentialia der Privatrechtsgesellschaft hingewiesen werden, um deren fundamentale Bedeutung für das geltende Rechts- und Verfassungssystem hinreichend ins Blickfeld zu rücken und damit zugleich das Umfeld, in dem die Vertragsfreiheit steht, angemessen auszuleuchten. Ein tragendes Charakteristikum der Privatrechtsgesellschaft ist die primär privatrechtliche Verfaßtheit der Familie.16 Diese ist geradezu eine Keimzelle staatsunabhängiger Entstehung und Prägung von Wertvorstellungen sowie das Urbild einer „spontanen“ Ordnung i. S. von Hayeks. Welch elementaren Freiheitsschutz ihre privatrechtliche Verfaßtheit bedeutet, wird – gewissermaßen im Gegenschluß – schlaglichtartig daraus deutlich, daß totalitäre Regime sie regelmäßig möglichst weitgehend zu beseitigen und also die Familie zu „verstaatlichen“ suchen – in besonders widerwärtiger Weise übrigens schon in Platos „Politeia“. Außerdem sind Familie und Ehe auch im modernen Sozialstaat noch immer das wichtigste und effizienteste Mittel zur Erfüllung von elementaren Versorgungsaufgaben, die demgemäß nach wie vor in erster Linie mit den Mitteln des Privatrechts erfolgt: Eltern ziehen ihre Kinder auf, Eheleute sorgen für einander usw. – Aufgaben, die zwar regelmäßig freiwillig und im außerrechtlichen Bereich erfüllt werden, denen aber durchaus privatrechtliche Pflichten zugrunde liegen. Auch ohne die privatrechtliche Ausgestaltung der Erbfolge, also das gesetzliche Erbrecht von Angehörigen und die Testierfreiheit, ist eine funktionsfähige Privatrechtsgesellschaft kaum vorstellbar.17 Das gilt schon deshalb, weil es anderenfalls durch den Tod zu gigantischer Akkumulation von Wirtschaftsgütern in 15 Vgl. Böhm Reden und Schriften, 1960, S. 82 ff., 139; von Hayek aaO Band II S. 122, 184 und Band III S. 193; zur Gebotenheit einer Gewährleistung des Existenzminimums tiefdringend und weiterführend F. Bydlinski Fundamentale Rechtsgrundsätze, 1988, S. 213 f., 248 ff. 16 Vgl. dazu z. B. Häberle Verfassungsschutz der Familie – Familienpolitik im Verfassungsstaat, 1984, S. 30 m. Nachw.; Zacher in Isensee/Kirchhof HdBStR Bd VI, 1989, § 134 Rdn. 2; zum Charakter des Familienrechts als Privatrecht vgl. nur Gernhuber Familienrecht, 3. Aufl. 1980, § 1 III 2. 17 Vgl. dazu treffend (wenngleich ohne Verwendung des Ausdrucks Privatrechtsgesellschaft) Leisner in HdBStR aaO § 150 Rdn. 1 ff., 10 ff.
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Staatshand – nicht etwa nur zur Einnahme von Geld wie durch die Erbschaftssteuer – und damit zu einer ständig zunehmenden Verlagerung unternehmerischer Funktionen auf den Staat und/oder zu permanenten staatlichen Umverteilungsaktionen kommen müßte. Außerdem ist es ein fundamentales Gebot der Achtung vor der Person und damit ihrer Privatautonomie, daß diese grundsätzlich selbst über die postmortale Verwendung ihres Vermögens – in dem vielleicht die Arbeit eines ganzen Lebens steckt – bestimmen und Vorsorge für das Ergehen ihr nahestehender Menschen (oder auch Unternehmen) treffen darf. Auch gegenüber den Angehörigen wäre es ein tiefer Eingriff in die elementare persönliche Sphäre, wenn diese gewärtigen müßten, durch den Tod von Ehegatten, Eltern usw. aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen zu werden, weil das Vermögen des Toten in Staatshand übergeht. Schließlich ist auch in diesem Zusammenhang zu beachten, [878] daß essentielle Versorgungsaufgaben auf erbrechtlichem Wege, also wiederum mit den Mitteln des Privatrechts erfüllt werden. Vertrag, Eigentum, Familie, Erbrecht – das entspricht genau dem Aufbau des BGB. Dieser spiegelt also wesentliche Grundlagen der Privatrechtsgesellschaft wider (und findet darin seine sachliche Legitimation), doch reicht diese weit über den Regelungsbereich des BGB hinaus, da zu ihren wichtigsten Strukturelementen auch Wettbewerb und Tarifautonomie (als auf die Stufe der Kollektivvereinbarungen transponierte Vertragsfreiheit) gehören. In einer Festschrift für Peter Lerche darf in diesem Zusammenhang außerdem ein Seitenblick auf den Kommunikations- und Medienbereich nicht fehlen. Glanz und Grenzen der Privatrechtsgesellschaft werden hier gleichermaßen deutlich. Daß Art. 5 I GG (auch) die privatrechtliche Verfaßtheit der Presse gewährleistet,18 wirft einmal mehr ein Schlaglicht auf den Zusammenhang von Privatrecht und freiheitlich-demokratischer Ordnung und bildet zugleich einen besonders pointierten Beleg für die Eignung privatrechtlicher Organisationsformen als Hort staatsfreier Bildung von Meinungen und Wertungen. Andererseits hat die Diskussion um die Konzentration im Pressesektor und um die „innere“ Pressefreiheit deutlich gemacht, in welchem Maße die Funktionsfähigkeit von Privatrecht durch private Macht bedroht sein kann und auf institutionelle Sicherungen zur Gewährleistung von Wettbewerb angewiesen ist. Was Hörfunk und Fernsehen betrifft, so scheint das Bundesverfassungsgericht hier sogar öffentlichrechtliche Organisationsformen auch dann, wenn dem Wettbewerb keine unüberwindlichen technischen Hindernisse entgegenstehen, grundsätzlich für die geeigneteren Mittel zur
18 Vgl. BVerfGE 20, 162, 175; 66, 116, 133; vgl. zur Entfaltung und Ausdifferenzierung dieses Ansatzes eingehend Lerche Verfassungsrechtliche Fragen zur Pressekonzentration, 1971, S. 45 ff. und Verfassungsrechtliche Aspekte der „inneren Pressefreiheit“, 1974, S. 32 ff.; Scholz Pressefreiheit und Arbeitsverfassung, 1978, S. 82 ff., 142 f., 156 f., 168 ff.
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Gewährleistung von Pluralität zu halten,19 doch wird erst die Zukunft lehren, ob und wie die Privatrechtsgesellschaft auch in diesem Bereich ihre Bewährungsprobe besteht. 4. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Privatrechtsgesellschaft, insbesondere von Markt und Wettbewerb Nahezu alle Strukturelemente der Privatrechtsgesellschaft sind verfassungsrechtlich verbürgt: Vertragsfreiheit und Berufsfreiheit, Privateigentum und Erbrecht, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie, sogar die privatrechtliche Verfaßt[879] heit der Presse. Vor diesem Hintergrund kann von einer „wirtschaftspolitischen Neutralität“ des Grundgesetzes nicht die Rede sein. So wird denn auch heute ganz überwiegend anerkannt, daß der Koordinationstyp der Zentralverwaltungswirtschaft grundsätzlich mit der Verfassung unvereinbar ist.20 Darüber hinaus genießt auch der Markt einen zumindest mittelbaren, reflexartigen Schutz.21 Schlagend ist insbesondere das Argument, daß die Entschädigungspflichtigkeit von Enteignungen nach Art. 14 III GG leerliefe, wenn der Staat das Eigentum schon durch die Beseitigung des Marktes entwerten dürfte;22 in der Tat würde jeder verläßliche Vergleichsmaßstab für die Höhe der Entschädigung fehlen, wenn es keine Marktpreise für Immobilien gäbe. Dieser Gedanke entspricht voll dem Grundtenor der vorliegenden Abhandlung und ist dementsprechend zu verallgemeinern: Ohne Märkte gibt es keine Parameter für die Bewertung wirtschaftlicher Güter, es sei denn, sie würden hoheitlich dekretiert, was indessen mit dem Bewertungsprimat des Bürgers in der „Offenen Gesellschaft“ grundsätzlich unvereinbar wäre. Demgemäß wäre auch die Vertragsfreiheit ohne Märkte nicht funktionsfähig; paradigmatisch ist, daß sogar eine so eklatante Form des Mißbrauchs der Vertragsfreiheit wie der Wucher rechtlich überhaupt nicht in den Griff zu bekommen ist ohne die Möglichkeit eines Vergleichs mit den Konditionen, die der Markt als Maßstab zur Verfügung stellt.
19 Vgl. (unter dem Gesichtspunkt der „Grundversorgung“) BVerfGE 73, 118, 157 f.; 74, 297, 324 f.; 83, 238, 297 ff.; vgl. im übrigen zur „gesteigerten öffentlichen Verantwortung“ bei der gesetzgeberischen Gestaltung des Rundfunkbereichs und den Auswirkungen für den privaten Rundfunk Lerche Presse und privater Rundfunk, 1984, S. 19 ff. 20 Vgl. z. B. Papier in Benda/Maihofer/Vogel Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 614 f., 618; R. Schmidt Öffentliches Wirtschaftsrecht A.T., 1990, § 3 II 2 b; vgl. ferner die Zitate in Fn. 24. 21 Vgl. Leisner BB 1975, 1 ff.; Scholz Entflechtung und Verfassung, 1981, S. 90 ff. und in Festschr. für Rittner, 1991, S. 639 f.; Müller-Graff Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht, 1984, S. 312 ff.; R. Schmidt aaO. 22 Vgl. grundlegend Leisner BB 1975, 4 f.
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Diese Sichtweise ist nicht identisch mit der These Nipperdeys, daß „dem freiheitlichen sozialen Rechtsstaat notwendig und allein die soziale Marktwirtschaft entspricht (und) diese institutionell garantiert ist“.23 Die Schwäche dieser Position liegt zum einen darin, daß sie eine unmittelbare verfassungsrechtliche Gewährleistung behauptet, obwohl nur mittelbare Rückschlüsse möglich sind, und zum anderen auch darin, daß sie einen gewissermaßen überzeitlichen Geltungsanspruch impliziert, auf Grund dessen die Verfassung die Grundzüge des Wirtschaftssystems unabhängig von den Wandlungen der sozialen und ökonomischen Verhältnisse sowie den diesbezüglichen Erkenntnisfortschritten festlegen würde. Immerhin sollte man aber einräumen, daß derzeit rebus sic stantibus eine verfassungskonforme Alternative zur sozialen Marktwirtschaft nicht in Sicht ist.24 Richtig ist darüber hinaus, daß staatliche Interventionen in den Markt von Verfassungs wegen „eine an den objektiven Verhältnissen ausgerichtete – und nicht nur ideologische – Begründung verlangen“.25 Verfassungsrechtlich besteht also ein Primat des Marktprinzips im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses mit der Konsequenz, daß dessen Durchbrechung der Legitimation bedarf. Opera[880] tional gemacht wird dieser Schutz vor allem durch das Übermaßverbot, das Eingriffe in die Vertragsfreiheit und den Markt der Prüfung an den Maßstäben der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit unterwirft.26 Was schließlich den Wettbewerb angeht, so ist nicht nur dessen Freiheit durch Art. 12 und 14 bzw. 2 I GG als Abwehrrechte mitgeschützt,27 sondern vor allem auch dessen Gewährleistung von Verfassungs wegen – wiederum mittelbar und reflexartig – aufgegeben. Denn wie das Bundesverfassungsgericht jüngst hat deutlich werden lassen, folgt aus den Freiheitsrechten auch ein Schutzgebot zugunsten des „schwächeren“ Vertragspartners bei krassen Üngleichgewichtslagen;28 diesem ist in erster Linie durch die Verhinderung des Übergewichts einer Seite mit Hilfe der Mechanismen des Wettbewerbs Rechnung zu tragen, zumal darin das „mildere“ Mittel im Vergleich zu unmittelbaren staatlichen Eingriffen durch Preisfestsetzung und dgl. liegt. Vgl. Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 3. Aufl. 1965, S. 64. Noch weitergehend Herzog in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz Grundgesetz, Art. 20 Abschn. VIII Rdn. 60, wonach die These Nipperdeys „nicht widerlegt worden ist, weil sie nicht widerlegbar ist“; Nipperdey ausdrücklich folgend ferner Fikentscher aaO (Fn. 13) Bd II § 20 III cdd mit Fn. 54. 25 So Herzog aaO Rdn. 61; ähnlich z. B. Fikentscher aaO § 20 V 4. 26 Vgl. zum Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranke für Eingriffe in die Vertragsfreiheit z. B. Badura Staatsrecht, 1986, C 79; Starck in von Mangoldt/Klein/Starck Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1985, Art. 2 I Rdn. 100; Canaris JZ 1987, 994 f.; Höfling aaO (Fn. 3) S. 40. 27 Vgl. dazu z. B. Badura aaO C 78; Starck aaO Art. 2 I Rdn. 99; Scholz in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz aaO Art. 12 Rdn. 80, 124, 136; Leisner Selbstbedienungsgroßhandel und Verfassungsrecht, 1986, S. 106 ff.; Ossenbühl AöR 115 (1990) 22 ff. 28 Vgl. BVerfGE 81, 242, 254 f. und dazu Canaris AP Nr. 65 zu Art. 12 GG. 23 24
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5. Die Vitalität der Privatrechtsgesellschaft Von der Privatrechtsgesellschaft ist heutzutage merkwürdigerweise nur noch selten die Rede. Vielleicht meint man mit Ludwig Raiser, daß „die Industriegesellschaft im Wohlfahrtsstaat keine ,Privatrechtsgesellschaft‘ mehr ist“.29 Indessen ist die Industriegesellschaft mehr und mehr zur Konsum- und Freizeitgesellschaft geworden und hat so der Privatrechtsgesellschaft zu einem Vitalitätsschub ohnegleichen verholfen. Indem nämlich breite Bevölkerungsschichten über weit mehr Einkommen und Vermögen verfügen, als zur Befriedigung der unverzichtbaren Elementarbedürfnisse unerläßlich ist, und durch Arbeitszeitverkürzung und Urlaubsverlängerung immer mehr Zeit für außerberufliche Aktivitäten haben, sind die faktischen Wahlmöglichkeiten und damit zugleich die Spielräume für die Nutzung realer Vertragsfreiheit in einem historisch gesehen singulären Maße gewachsen. Im Bereich des Berufs- und Wirtschaftslebens kommt hinzu, daß die Industriegesellschaft zunehmend zur Informationsgesellschaft wird. Die Fähigkeit zur Aufnahme und flexiblen Verarbeitung einer Fülle von Informationen ist aber gerade eine der Hauptstärken jener dezentralen und „spontanen“ Ordnung, deren Grundlage die Privatrechtsgesellschaft bildet. Eine andere Frage ist, wie sich Privatrechtsgesellschaft und Wohlfahrts- bzw. Sozialstaat zueinander verhalten. Zwar können sie miteinander in Konflikt gera[881] ten, wenn die eine oder die andere Gestaltungsform verabsolutiert wird, doch besagt das nichts gegen die Möglichkeit ihrer Synthese, wie sie insbesondere im Zeichen der „sozialen Marktwirtschaft“ angestrebt wird.30 Gewiß ist die heutige Gesellschaft nicht nur Privatrechtsgesellschaft; sie ist es aber immerhin auch31 – und zwar nach wie vor in einem solchen Maße, daß diese Kennzeichnung ein fundamentales Struktürmerkmal benennt und daher unverzichtbar ist. II. Zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Gerechtigkeit Die für die Privatrechtsgesellschaft charakteristische Hochschätzung von Vertragsfreiheit und Marktwirtschaft sieht sich, wie schon eingangs betont, typischerweise mit dem Einwand konfrontiert, daß diese zu sozialer Ungerechtigkeit führen würden. Demgemäß lassen sich weder die Grundlagen noch die Schranken des verfassungsrechtlichen Schutzes der Vertragsfreiheit ohne eine Klärung des Verhältnisses zur Gerechtigkeit hinreichend verstehen. Vgl. L. Raiser Die Zukunft des Privatrechts, 1971, S. 26 mit Fn. 26. Vgl. dazu eingehend Zacher Festschr. für Wannagat, 1981, S. 715 ff., 740 ff. 31 Ähnlich Mayer-Maly aaO (Fn. 8) S. 10; etwas zurückhaltender F. Bydlinski aaO (Fn. 15) S. 46; Böhm selbst hat zutreffend ein „Nebeneinander von ... Privatrechtsgesellschaft und Staatsgesellschaft“ anerkannt, vgl. Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, 1980, S. 368. 29 30
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1. Drei repräsentative Positionen a) „Stat pro ratione voluntas“ Für Flume besteht das Fundament der Privatautonomie und damit auch der Vertragsfreiheit in der Maxime:. „Stat pro ratione voluntas“. Es kommt also nur auf den Willen der Parteien und nicht auf die Vernünftigkeit des Vertragsinhalts an. Demgemäß fügt er hinzu: „Die Gestaltung aus Selbstbestimmung ... ist einem rechtlichen Urteil, ob sie ‚richtig‘ ist, unzugänglich“32 Eine ähnliche Position vertritt von Hayek bezüglich der Ergebnisse der Marktwirtschaft. Er hält es für sinnlos, diese am Maßstab der Gerechtigkeit zu messen;33 denn Gegenstand eines solchen Urteils könne immer nur das Verhalten von Menschen, nicht aber ein wirtschaftlicher Prozeß als solcher sein, in dem zwangsläufig der Zufall einen großen Einfluß hat. Diese Konzeptionen sind zwar in sich selbst schlüssig, doch wird ihre Schwäche sofort deutlich, wenn man eine Stufe früher ansetzt und die Frage stellt: Wie ist es mit den Geboten der Gerechtigkeit vereinbar, daß die Rechtsordnung die Vertragsfreiheit und die Marktwirtschaft überhaupt zuläßt, obwohl deren Ergebnisse nicht gerecht sein müssen, ja offenkundig nicht selten mehr oder weniger willkürlich sind? [882] b) „Vertragsgerechtigkeit als materiales Funktionsprinzip des Vertragsrechts“ Repräsentativ für die extreme Gegenposition ist die Ansicht von Zweigert und Kötz. Danach „ist Vertragsfreiheit bei präziser Betrachtung ein Traumschloß, eine Utopie und keine Realität“. Denn „wir wissen heute, daß Vertragsfreiheit ökonomische und soziale Gleichheit der verhandelnden Partner voraussetzt“; daher gelte Vertragsfreiheit „im Grunde nur noch für Verträge zwischen Großunternehmen über atypische Gegenstände“. Deshalb sei „die Vertragsgerechtigkeit – nicht mehr die Vertragsfreiheit – heute in aller Welt das materiale Funktionsprinzip des Vertragsrechts“.34 Das sind starke Worte, doch drängen sich die Einwände geradezu auf. Vor allem ist die Unterstellung, daß ökonomische oder soziale Ungleichheit als solche den Vertragsinhalt zum Vorteil des einen und zum Nachteil des anderen Teils beeinflußt und dadurch zu ungerechten Ergebnissen führt, in dieser AllgemeinVgl. Allg. Teil des Bürg. Rechts Bd II, 3. Aufl. 1979, § 1, 5 und 6 a. Vgl. aaO (Fn. 9) Bd II S. 101 f., 105. 34 Vgl. Zweigert/Kötz Einführung in die Rechtsvergleichung, 2. Aufl. 1984, S. 7 ff.; weitgehend gleichlautend schon Zweigert Festschr. für Rheinstein, 1969, Bd. II S. 503 f. 32 33
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heit unter den Bedingungen einer modernen Marktwirtschaft völlig wirklichkeitsfremd. Denn hier sorgt der Wettbewerb – den Zweigert und Kötz mit keinem Wort erwähnen – weitgehend für eine Neutralisierung des Machtungleichgewichts.35 So kann z. B. der „kleine“ Verbraucher grundsätzlich auf einen anderen Anbieter oder eine andere Ware ausweichen oder auf den Vertragsschluß überhaupt verzichten, wenn ihm der Preis zu hoch erscheint.36 Dadurch hat er mittelbar erheblichen Einfluß auf die Vertragsbedingungen; wie weit dieser gehen kann, zeigt sich besonders kraß daran, daß Markt und Wettbewerb mitunter auch sehr „große“ Unternehmen dazu nötigen, ohne Gewinn oder sogar mit Verlust zu verkaufen. Man kann geradezu sagen, daß der Anbieter nicht selten dringender auf den Vertragsschluß angewiesen ist als der Verbraucher; denn während dieser häufig ausweichen oder verzichten kann, muß der Anbieter meist verkaufen, weil er sonst auf Grund seiner Kosten zu hohe Verluste macht. Was im übrigen die Vertragsgerechtigkeit angeht, so sagen Zweigert und Kötz bezeichnender Weise nur, daß deren Sicherung „eine schwierige Frage ist, zu deren Beantwortung weiteres Nachdenken nötig sein wird“. Das ist eine entscheidende Schwäche ihrer Position. Die Anhänger der Vertragsfreiheit schätzen diese nämlich u. a. deshalb so hoch, weil wir über die Vertragsgerechtigkeit so wenig wissen – worauf alsbald noch einmal zurückzukommen sein wird. c) Die „Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus“ Die berühmteste Konzeption ist die Lehre Schmidt-Rimplers. Nach dieser ist dem Vertragsmechanismus eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit der vereinbar[883] ten Rechtsfolgen immanent, weil i. d. R. ein etwaiger unrichtiger Wille einer Partei durch den Widerstand der anderen Partei berichtigt werde.37 Richtigkeit versteht Schmidt-Rimpler dabei sowohl im Sinne von Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen den Parteien als auch im Sinne von Übereinstimmung mit den Zwecken des Gemeinwohls. Es handelt sich hier mithin um eine „prozedurale“ Gerechtigkeitstheorie, da „Richtigkeit durch Verfahren“ – nämlich durch den Mechanismus des Vertragsschlusses – gewährleistet werden soll.38 Vgl. dazu statt aller Rittner AcP 188 (1988) 126 ff. Treffend daher die Kritik von F. Bydlinski an Zweigert, vgl. Die Grundlagen des Vertragsrechts im Meinungsstreit. Basler Juristische Mitteilungen, 1982, S. 22 f.; vgl. ferner z. B. Zöllner JuS 1988, 334 f. 37 Vgl. AcP 147 (1941) 132 ff., 152 ff., 161. 38 Ein in gewisser Weise vergleichbares Modell, in dem „co-operation“ und „bargaining“ zu Gerechtigkeit führen, hat auf spieltheoretischer Grundlage Gauthier entwickelt, vgl. Morals by Agreement, 1986, S. 113 ff. Er geht dabei jedoch von einem Idealbild aus, bei dem die Verhandlungspartner über volle Rationalität verfügen (S. 155 f.), und macht Prämissen, die mit der Privatrechtsgesellschaft und dem Grundgesetz unvereinbar sind: Es herrscht Einigungszwang 35 36
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Kritisch ist demgegenüber zunächst zu vermerken, daß diese Vorstellung zu sehr am ausgehandelten Vertrag – etwa über den Kauf eines Hauses oder eines Unternehmens – ausgerichtet ist und auf schematisierte Verträge, wie sie in einer Marktwirtschaft für die meisten Güter üblich sind, schlecht oder gar nicht paßt. Man könnte Schmidt-Rimplers Konzeption zwar in diesem Punkt durch Einbeziehung des Wettbewerbsgedankens zu ergänzen versuchen,39 doch liefe das letztlich auf die kaum haltbare These hinaus, daß auch der Wettbewerb Gewähr für die Richtigkeit der durch ihn herbeigeführten Ergebnisse (!) bietet. Noch schwerer wiegt, daß Schmidt-Rimpler – der die Freiheit der Persönlichkeit nur neben der Vertragsgerechtigkeit berücksichtigen will, ja letzterer sogar einen gewissen Vorrang vor jener einzuräumen scheint – das Prinzip der Selbstbestimmung als Grundlage der Vertragsfreiheit ausdrücklich ablehnt.40 Nicht überzeugend ist schließlich, daß Schmidt-Rimpler stets positiv auf die Gewährleistung von Richtigkeit abstellt, statt sich lediglich negativ damit zu bescheiden, daß (schwere) Ungerechtigkeit vermieden wird. So wichtig, ja epochemachend seine Lehre war, so sehr bedarf sie somit doch der Ergänzung und einer Veränderung der Akzentsetzung. 2. Die Verträglichkeit der Vertragsfreiheit mit der Gerechtigkeit a) Die Angemessenheit einer negativen Formulierung der Gerechtigkeitsfrage Wie soeben schon angedeutet, sollte man grundsätzlich nicht fordern, daß die Vertragsfreiheit richtige Ergebnisse gewährleistet, sondern sich auf die negative Fragestellung beschränken, ob und inwieweit sich unter ihrem Regime Ungerech[884] tigkeiten vermeiden lassen. Für diesen Ansatz spricht zunächst schon, daß Freiheit in sich selbst ein hoher Wert ist;41 damit ist es in der Tat unvereinbar, die Ergebnisse der Vertragsfreiheit nicht grundsätzlich als solche zu respektieren, sondern ihre Anerkennung zusätzlich von Maßstäben der Richtigkeit abhängig zu
(S. 133; 143), es dürfen nur solche Forderungen erhoben werden, die in bestimmter Hinsicht rational sind (S. 143), die Ausgangsposition („initial bargaining position“) steht bei den Verhandlungen nicht auf dem Spiel (S. 141) usw. Die von Gauthier entwickelten Prinzipien „of Minimax Relative Concession“ (S. 145) und „of Maximin Relative Benefit“ (S. 155) dürften daher für die praktische Jurisprudenz kaum fruchtbar sein. 39 In dieser Richtung in der Tat Schmidt-Rimpler Festschr. für Raiser, 1974, S. 14 f. und 25. 40 Vgl. Festschr. für Raiser S. 8 f. und 17 ff. 41 Mit Recht sagt Hesse in bezug auf Privatautonomie und Vertragsfreiheit, daß „die Freiheit unter dieser Perspektive in gewisser Weise Selbstzweck ist“, vgl. Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 37.
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machen.42 Es kommt hinzu, daß wir über die Vertragsgerechtigkeit nur sehr wenig wissen – zumal im Bereich der Hauptleistungspflichten und der sonstigen essentialia negotii; daß man jahrhundertelang fruchtlos über den gerechten Preis („iustum pretium“) diskutiert hat, ist dafür ein beredtes Zeugnis. Selbst wenn wir aber wissen oder zu wissen glauben, was gerecht ist, folgt daraus mitnichten ohne weiteres die Legitimation, die Konsequenzen unserer Ansichten anderen Menschen unter Einsatz von staatlichem Zwang aufzuerlegen. Vielmehr gebieten sowohl die Einsicht in die eigene Irrtumsanfälligkeit als auch die Achtung vor der Würde des anderen als Person, d. h. als eines moralisch selbst urteilsfähigen Subjekts, abweichende Gerechtigkeitsvorstellungen möglichst weitgehend zu respektieren; diese Begründung, die leider sehr häufig verkannt wird, ist auch dann tragfähig, wenn man die Skepsis gegenüber der Möglichkeit zur Erkenntnis des Gerechten nicht teilt. Damit hängt zugleich eng zusammen, daß mit dem Pluralismus, also dem Fundament von Demokratie, „Offener Gesellschaft“ und Privatrechtsgesellschaft i. d. R. nur eine negative Formulierung von Gerechtigkeitsfragen harmoniert;43 denn essentiell für dieses Staats- und Gesellschaftssystem ist ja gerade, daß den Bürgern grundsätzlich nicht die „richtigen“ Ziele und Verhaltensweisen unmittelbar vorgegeben, sondern nur bestimmte Handlungen als untragbar verboten werden. b) Vertragsfreiheit und anerkannte Gerechtigkeitspostulate Formuliert man die Gerechtigkeitsfrage in diesem Sinne negativ, so läßt sich die Lehre vom Vertragsmechanismus durchaus fruchtbar machen. In der Tat bietet nämlich das Erfordernis, daß sich beide Parteien auf den Inhalt des Vertrages einigen müssen, eine gewisse Gewähr dafür, daß das Ergebnis den Anforderungen der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht kraß widerspricht. Das ist freilich offenkundig eine viel vorsichtigere und weniger anspruchsvolle These als diejenige Schmidt-Rimplers. Was im übrigen den Maßstab angeht, an dem sich Gerechtigkeitsurteile inhaltlich orientieren, so kann man im wesentlichen vier Arten unterscheiden: Besitzstands-, Leistungs-, Bedürfnis- und Chancengerechtigkeit.44 Bezüglich der Be[885] sitzstandsgerechtigkeit45 steht außer Frage, daß sie durch die VertragsfreiInsoweit hat Flume aaO § 1, 6 a durchaus Recht. Vgl. auch von Hayek aaO (Fn. 9) Bd II S. 62 ff., 66 ff. 44 Vgl. Kerber/Westermann/Spörlein in Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 17, 2. Aufl. 1981, S. 44 ff.; Zacher Festschr. für Maihofer, 1988, S. 686 f. 45 Nach F. Bydlinski aaO (Fn. 15) S. 221 ff. u. ö. geht es beim Schutz wohlerworbener Rechte nicht um Gerechtigkeit, sondern um ein Element der Rechtssicherheit. Eine Auseinandersetzung mit diesem Standpunkt ist hier aus Raumgründen nicht möglich. 42 43
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heit nahezu optimal gewährleistet wird; denn diese bewahrt den Inhaber einer Rechtsposition grundsätzlich davor, daß sie ihm gegen seinen Willen genommen wird, während er dieser Gefahr in einer Zwangs- und Planwirtschaft fast ständig ausgesetzt ist. Auch zur Leistungsgerechtigkeit besteht kein Widerspruch. Allerdings spielt der Zufall in der Marktwirtschaft eine große Rolle,46 so daß jemand allein durch Glück viel Geld verdienen und die Leistung eines anderen allein durch Pech oder durch die wirtschaftliche Entwicklung wertlos werden kann. Aufs Ganze gesehen steht aber doch außer Zweifel, daß Markt und Wettbewerb tendenziell Fleiß, Wagemut, Einfallsreichtum und dgl. durch höheren Profit belohnen, also die Leistungsgerechtigkeit fördern. Daß der Wert einer Leistung sich dabei prinzipiell nach Angebot und Nachfrage richtet, ist unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht nur deshalb akzeptabel, weil zwischen der Knappheit eines Gutes und seinem Preis nahezu „naturwüchsig“ eine Relation besteht, sondern vor allem auch deshalb, weil damit dem Pluralismus der Wertpräferenzen Rechnung getragen wird: Anbieter und Nachfrager bestimmen grundsätzlich selbst, wieviel ihnen ein Gut wert ist. Was sodann die Bedürfnisgerechtigkeit betrifft, so hat die Vertragsfreiheit in Verbindung mit Markt und Wettbewerb auch in dieser Hinsicht durchaus positive Auswirkungen47 – zum ersten, weil diese darauf hinwirken, daß Güter produziert und angeboten werden, zum zweiten, weil sie tendenziell für eine Verbesserung der Produkte und eine Optimierung der Preise sorgen, und zum dritten, weil sie grundsätzlich den Verbrauchern selbst die Definition ihrer Bedürfnisse und die Entscheidung über deren Befriedigung überlassen. In welchem Maße auch die Chancengerechtigkeit durch die Vertragsfreiheit gefördert wird, zeigt drastisch der Gegensatz zwischen einer Privatrechtsgesellschaft einerseits und einer feudalistischen Gesellschaft mit ihren Geburts- und Standesprivilegien oder einer totalitären Gesellschaft mit ihren Gesinnungs- und Beziehungsprivilegien andererseits. In der Tat haben Markt- und Wettbewerbswirtschaft ausgeprägte egalitaristische Effekte. Wegen des Expansionsstrebens der Anbieter wirken sie nämlich dahin, daß zur erreichbaren Möglichkeit für viele wird, was einst Privileg für wenige war; ein schlagendes Beispiel hierfür ist der heutige Massentourismus. Auch sonst hat (funktionierender) Wettbewerb generell die Tendenz, Unterschiede der Chancenverteilung immerhin teilweise einzu-
Das betont mit Recht von Hayek aaO (Fn. 9) Bd II S. 105 ff. Die gegenteilige Aussage bei Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 311, wonach ,,der Markt keine Rücksicht auf die Bedürfnisse nimmt“, beruht auf einem Übersetzungsfehler: Im Original steht „needs“, was nach dem Zusammenhang hier wohl Notlagen, zumindest aber Lebensnotwendigkeiten oder dgl. bedeutet. 46 47
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[886] ebnen oder zu neutralisieren.48 Daß gleichwohl gravierende Beeinträchtigungen der Chancengerechtigkeit verbleiben, ist zwar nicht zu bestreiten, doch ist es nicht allein Aufgabe der Privatrechtsgesellschaft, diesen entgegenzuwirken; vielmehr hat hier der Staat flankierend und korrigierend einzugreifen und z. B. durch seine Bildungspolitik für eine Erhöhung der Chancengerechtigkeit zu sorgen – wie er ja auch durch seine Sozialpolitik zu einer Verbesserung der Bedürfnisbefriedigung beizutragen hat. 3. Der Primat der Vertragsfreiheit Was das Verhältnis von Vertragsfreiheit und Gerechtigkeit angeht, so ist die Konsequenz der hier vertretenen Sichtweise, daß der ersteren – in scharfem Widerspruch zur Konzeption Zweigerts, aber auch in deutlichem Gegensatz zu derjenigen Schmidt-Rimplers – der Primat zukommt (vgl. dazu auch oben I 4). Das gilt zunächst für die Frage nach dem Legitimationsgrund: Die Vertragsfreiheit wird um der Freiheit, nicht um der Gerechtigkeit willen gewährleistet. Allerdings darf die Rechtsordnung die Vertragsfreiheit nicht anerkennen, ohne die Gerechtigkeitsfrage zu stellen, doch enthält ein System, das auf Vertragsfreiheit und Wettbewerb aufbaut, seiner Struktur nach so viele und wirksame Hemmnisse gegen grob ungerechte Ergebnisse, daß eine derartige Ordnung auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten im Grundsatz unbedenklich ist.49 Die Einschränkung „im Grundsatz“ deutet den selbstverständlichen Vorbehalt an, daß das positive Recht in vielfältiger Weise ergänzend und korrigierend eingreifen muß, um die Anforderungen der Gerechtigkeit durchzusetzen und – damit oft auf das engste verknüpft – Beeinträchtigungen der faktischen Entscheidungsfreiheit zu kompensieren. Das gilt nicht nur für öffentlichrechtliche Maßnahmen auf Gebieten wie Steuer-, Sozial- und Bildungsrecht, sondern auch auf der Ebene des Privatrechts selbst. In der Tat ist es eine Trivialität, daß die Grundsatzentscheidung für die Vertragsfreiheit zugleich eine Fülle von Ausgestaltungs-, Ergänzungs- und Beschränkungsregelungen erforderlich macht. Das Spektrum der privatrechtlichen Antworten reicht bekanntlich von institutionellen Gewähr48 Die Verträglichkeit von Marktsystem und Chancengleichheit („fair equality of opportunity“) betont ausdrücklich Rawls aaO S. 306. 49 Vgl. dazu auch Gauthier aaO (Fn. 38) S. 83 ff., 261 f., 340 f. und passim. Er geht dabei indessen von einem Modell vollkommenen Wettbewerbs aus und steht den real existierenden Marktwirtschaften, die diesem naturgemäß nicht entsprechen (und das auch gar nicht anstreben), merkwürdig zwiespältig gegenüber: Einerseits hält er erhebliche Distanz gegenüber einer nur näherungsweisen Verwirklichung des Marktideals mit der Begründung, daß „in the absence of an aequate theory of die second-best we may not even assert this lesser claim with confidence“ (S. 103); andererseits gesteht er zu, daß ein Markt mit vollkommenem Wettbewerb „serves in practice as a regulative ideal determining die direction of market movement“ (S. 340).
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leistungen wie denjenigen des Wettbewerbs und der Tarifautonomie über das Recht der Willensmängel und der Inhaltsschranken sowie die Schaffung ergän[887] zenden (dispositiven) Vertragsrechts bis hin zu dem – überaus förderlichen! – „modernen“ Instrumentarium von Informationspflichten und Widerrufsrechten. Auch insoweit gilt jedoch der Primat der Vertragsfreiheit, da alle ihre Einschränkungen sich vor dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot zu legitimieren haben. Unvereinbar ist mit der Gewährleistung der Vertragsfreiheit insbesondere eine generelle gerichtliche oder behördliche Kontrolle ihrer Ergebnisse; denn es wäre geradezu ein Selbstwiderspruch der Rechtsordnung, einerseits eine Grundsatzentscheidung für die Vertragsfreiheit zu treffen und dann andererseits deren Ergebnisse nicht als solche anzuerkennen, sondern unter einen allgemeinen Korrekturvorbehalt zu stellen. Diese Einsicht ist indessen keineswegs Allgemeingut, wie abschließend an einem Richtlinienvorschlag der EGKommission verdeutlicht werden soll. III. Europarechtliche Gefährdungen der Vertragsfreiheit? 1. Die Mißachtung der Vertragsfreiheit im Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat im Jahre 1990 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen vorgelegt, in dem massive Einschränkungen der Vertragsfreiheit vorgesehen sind.50 Der Bundesrat hat den Vorschlag für „nicht annehmbar“ erklärt, weil er „das Grundprinzip der Vertragsfreiheit in seinem Kerngehalt berührt“.51 Auch im Schrifttum ist scharfe Kritik geübt worden.52 Im Rahmen dieser Abhandlung interessiert dabei primär, wie die vorgeschlagenen Regelungen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen sind, wobei der zur Verfügung stehende Raum freilich z. T. zu etwas verknappten Begründungen nötigt. Zu beanstanden ist zunächst, daß die vorgeschlagene Richtlinie nicht nur AGB-Klauseln, Standard- und Formularverträge, sondern auch Individualvereinbarungen erfassen soll, wie sich sowohl aus ihrem Wortlaut als auch aus der Begründung des Vorschlags ergibt. Da in letzterer indessen ausschließlich von den Gefährdungen die Rede ist, die den Verbrauchern durch standardisierte Klauseln und dgl. drohen, fehlt es schon gemessen am erklärten Schutzzweck des Vorschlags selbst an der Erforderlichkeit einer Einschränkung der Vertragsfreiheit Vgl. KOM (90) 322 endg. – SYN 285, ABl. EG 1990, C 243/2. Vgl. BR-Drucks. 611/90 v. 1.3.1991. 52 Vgl. Brandner/Ulmer BB 1991, 701 ff.; Hommelhoff AcP 192 (1992) 90 ff. 50 51
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auch für Individualvereinbarungen sowie an der Erfüllung der Begründungsvoraussetzungen von Art. 190 EWGV.53 Die bloße Tatsache, daß die eine Partei des Vertrages als Verbraucher fungiert, kann keinesfalls eine Gleichstellung von Individualvereinbarungen mit AGB-Klauseln und dgl. legitimieren; denn wenn die [888] betreffende Vertragsbestimmung im einzelnen ausgehandelt wird, entfallen die spezifischen Gefahren des einseitigen Stellens und der Vorformulierung einer Klausel, so daß grundsätzlich auch ein Verbraucher ohne weiteres für die selbstverantwortliche Wahrnehmung seiner Interessen sorgen kann. Allenfalls dann, wenn sich die Beeinträchtigungen der Vertragsfreiheit in engen Grenzen halten oder ihrem Schutzzweck nach auch die Erfassung von Individualvereinbarungen gebieten,54 ließe sich deren Einbeziehung in den Geltungsbereich eines derartigen Gesetzes rechtfertigen, doch ist der Richtlinienvorschlag davon weit entfernt, da er eine umfassende richterliche „Inhalts“- bzw. Angemessenheitskontrolle sowie einen Katalog von überaus scharfen Klauselverboten vorsieht. Untragbar ist des weiteren, daß eine Klausel u. a. dann mißbräuchlich sein soll, „wenn sie ... zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches Mißverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht“. Mit Recht hat der Bundesrat eingewandt, daß das „mit marktwirtschaftlichen Grundsätzen nicht vereinbar ist“, weil nach diesen „die Angemessenheit von Preis und Leistung nur über den Marktmechanismus und nicht durch gerichtliche oder behördliche Überprüfung geregelt werden kann“. In der Tat würde die vorgeschlagene Regelung den Richter zum „Preiskommissar“ machen, da allein auf das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung und nicht auf zusätzliche Elemente in der Person des Verbrauchers wie z. B. die Ausnutzung von Geschäftsunerfahrenheit, Leichtsinn, Notlagen oder dgl. abgestellt wird. Die Regelung ist folglich mit der Gewährleistung der Vertragsfreiheit unvereinbar, weil sie eine reine Ergebniskontrolle und -korrektur ermöglicht (vgl. dazu oben II 3), und verstößt gegen den Primat des Marktprinzips, weil sie dieses ohne hinreichenden Sachgrund seiner Funktionsfähigkeit55 weitgehend beraubt; denn wenn jeder (!) Verbraucher unabhängig von Besonderheiten in seiner Person eine richterliche Kontrolle des PreisLeistungsverhältnisses erwarten darf, kann er sich im Hinblick hierauf grundsätzlich auf überhöhte Preise einlassen, so daß ihm eine eigenverantwortliche Marktentscheidung insoweit abgenommen und deren Indikatorfunktion demgemäß außer Kraft gesetzt würde. Sollte freilich bei dieser Regelung nur an die sogenannten 53
Die Vorschrift gilt auch für Richtlinien, vgl. Bleckmann Europarecht, 5. Aufl. 1990, Rdn:
220. 54 Ein Beispiel hierfür bilden die §§ 20 f. des österreichischen KSchG, die für Kreditkäufe eine Mindestanzahlung und eine Höchstzeit für die Tilgung festlegen; das damit verfolgte Ziel, den Verbraucher vor finanzieller Überforderung zu schützen, kann nur erreicht werden, wenn die Vorschriften auch für Individualvereinbarungen gelten. 55 Vgl. dazu Lerche „Funktionsfähigkeit“ – Richtschnur verfassungsrechtlicher Auslegung, BayVBl. 1991, 517 ff.
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Preisnebenabreden56 gedacht sein, so würden diese Einwände entfallen (nicht dagegen die Kritik an der Einbeziehung von Individualvereinbarungen), doch müßte das dann unbedingt im Text der Richtlinie klargestellt werden. Als mißbräuchlich wird eine Klausel des weiteren dann qualifiziert, wenn „die Erfüllung des Vertrags für den Verbraucher unbillige Nachteile mit sich bringt“. Da hierfür keinerlei konkretisierende und einschränkende Maßstäbe vorgegeben [889] werden, handelt es sich um eine blanke Ermächtigung zu richterlicher „Vertragshilfe“ und um eine tiefgreifende Beeinträchtigung des Grundsatzes pacta sunt servanda. Auch dieser ist verfassungsrechtlich gewährleistet57. Folgert man das nicht schon daraus, daß der Anspruch aus einem Vertrag Eigentum i. S. von Art. 14 GG ist, so ergibt es sich doch jedenfalls aus dem verfassungsrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit selbst; denn dieser schließt folgerichtig die Anerkennung der rechtlichen Bindungskraft von Verträgen ein, da Vertragsfreiheit „das Prinzip der eigenen Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen“ ist58 und demgemäß seit jeher mit Selbstverständlichkeit die Kompetenz zur Schaffung rechtsverbindlicher Regelungen bedeutet, ja von vornherein gar nicht anders zu denken ist.59 Zwar duldet der Grundsatz pacta sunt servanda selbstverständlich Ausnahmen – und die deutsche Jurisprudenz geht insoweit bekanntlich mit Hilfe der Lehre von der Geschäftsgrundlage sogar besonders weit –, doch müssen diese regelgeleitet sein und in sachlichem Zusammenhang mit den Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit stehen. Bloße richterliche „Vertragshilfe“ mag zwar in Notzeiten akzeptabel sein, stellt aber in Normalzeiten eine Negierung der Vertragsbindung im Grundsätzlichen dar und trifft die Vertragsfreiheit demgemäß in der Tat in ihrem „Kerngehalt“. Nur am Rande sei schließlich noch festgehalten, daß der im Richtlinienvorschlag enthaltene Katalog von Klauselverboten Regelungen von einer extremen Härte und Rigidität enthält, die dem Verhältnismäßigkeitsprinzip geradezu Hohn sprechen. So soll z. B. ein Gewährleistungsausschluß ausnahmslos und ohne Rücksicht auf die Art der Ware, also z. B. auch für Verträge über gebrauchte Gegenstände verboten sein; ferner werden Klauseln für unzulässig erklärt, durch Vgl. zu diesem Begriff z. B. Ulmer/Brandner/Hensen AGBG, 6. Aufl. 1990, § 8 Rdn. 16. Ebenso z. B. Fikentscher aaO (Fn. 13) Bd II § 20 V 5 b; der Sache nach auch Söllner RdA 1989, 146 unter dem Gesichtspunkt des Justizgewährungsanspruchs. 58 So BVerfGE 72, 155, 170 (in offensichtlicher Übernahme der klassischen Formulierung Flumes). 59 Daher verfehlt Struck Demokratie und Recht, 1988, 39 ff. die Thematik schon im Ansatz, wenn er die verfassungsrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit mit der Begründung leugnet, daß die Rechtsordnung sich auf die bloße „Duldung“ von Verträgen beschränken könne, ohne deren rechtliche Durchsetzbarkeit zu gewährleisten; das wäre völlig sinnlos und mit Art. 2 I GG zweifelsfrei unvereinbar, da die freie Entfaltung der Persönlichkeit ohne die Möglichkeit zur Schaffung rechtlicher, also grundsätzlich verbindlicher und mit staatlichem Zwang durchsetzbarer Regelungen nicht möglich ist – und zwar völlig unabhängig von der Art des jeweils geltenden Wirtschaftssystems. 56 57
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die „dem Verbraucher das (nach der deutschen lex lata gar nicht existierende) Recht verweigert wird, daß er als Käufer im Rahmen eines Dienstleistungsvertrages diese Dienstleistungen ... zu seiner Zufriedenheit erhält“. 2. Die europarechtliche Gewährleistung der Vertragsfreiheit Verfassungsrechtliche Kritik an Richtlinien der Gemeinschaft könnte im Hinblick auf den „Solange II“-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, wonach die- [890] ses abgeleitete Gemeinschaftsrecht grundsätzlich nicht mehr am Maßstab des Grundgesetzes überprüft,60 als praktisch obsolet erscheint. In der Tat ist folgerichtig zunächst zu fragen, welchen Schutz die Vertragsfreiheit europarechtlich genießt. Dabei kann nun nicht zweifelhaft sein, daß sie zu den (ungeschriebenen) Grundrechten des Gemeinschaftsrechts gehört. Das folgt schon daraus, daß die EG nach herrschender und richtiger Ansicht auf den Primat der Marktund Wettbewerbswirtschaft verpflichtet ist;61 eine solche ist ohne Vertragsfreiheit nicht funktionsfähig62 und setzt diese demgemäß als selbstverständlich voraus. Außerdem anerkennt der Europäische Gerichtshof die Handels-, die Wettbewerbs- und die Berufsfreiheit als Grundrechte;63 diese implizieren ebenfalls zwangsläufig die Gewährleistung der Vertragsfreiheit. Auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip gehört zu den gesicherten Bestandteilen der Rechtsprechung des EuGH,64 mag auch sein Inhalt z. T. bisher noch unkonturiert sein. Der Richtlinienvorschlag ist daher mit dem EG-Recht ebenso unvereinbar wie mit dem Grundgesetz. Mit Recht hat der Bundesrat der EG ferner die Kompetenz für einen so weitgehenden Eingriff in die Privatrechtsordnungen der Mitgliedstaaten abgesprochen. Das kann zwar hier nicht vertieft werden, da es nicht zur Thematik Vgl. BVerfGE 73, 339, 374 ff. In dieser Richtung schon Badura VVDStRL 23 (1966) 43 und von Simson in Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, 1967, S. 65 ff.; vgl. ferner z. B. Müller-Graff aaO (Fn. 21) S. 274 ff., 280 ff. und ders. Binnenmarktziel und Rechtsordnung, 1989, S. 56 ff.; R. Schmidt aaO (Fn. 20) § 3 III 3 und ders. WUR 1990, 2 f.; Fikentscher aaO (Fn. 13) Bd. I § 15 IV und ders. Die umweltsoziale Marktwirtschaft, 1991, S. 11; Bleckmann aaO (Fn. 53) Rdn. 450; Oppermann Europarecht, 1991, Rdn. 809; Mestmäcker Festschr. für von der Groeben, 1987, S. 16 ff.; Rittner JZ 1990, 839 ff. und 845; von Bogdandy EuZW 1992, 14. 62 Vgl. dazu Lerche aaO (Fn. 55). 63 Vgl. z. B. EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 Rdn. 14 (Nold); Rs 240/83, Slg. 1985, 539 Rdn. 9 (Altöle); Rs 133 – 136/85, Slg. 1987, 2289 Rdn. 19 (Berlin-Butter). Wie sich insbesondere aus der letzten Entscheidung klar ergibt, geht der EuGH mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß diese Freiheitsrechte auch die Organe der EG (und nicht etwa nur die Mitgliedstaaten) binden. 64 Vgl. z. B. EuGH Rs. 41/79, Slg. 1979, 1997 (Testa); vgl. ferner Grabitz/Pernice EWGVertrag, 1990, Art. 164 Rdn. 101 ff. m. Nachw. 60 61
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Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit
dieser Abhandlung gehört, doch muß immerhin angemerkt werden, daß die gegenteilige Ansicht in der praktischen Konsequenz dazu führen würde, der EG eine Rechtsetzungskompetenz für das gesamte Privatrecht zuzusprechen, soweit es sich um berufsbezogene Vorgänge handelt. Das hätte geradezu revolutionäre Auswirkungen auf die nationalen Rechtsordnungen und ist angesichts der extremen Vagheit bzw. Unklarheit der einschlägigen Vertragsregelungen65 von dem partiellen Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten keinesfalls gedeckt.66 [891] Sollte eine derartige Richtlinie gleichwohl verabschiedet werden und vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben, wäre dies ein triftiger Anlaß für eine „Solange III“ -Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (die auch schon aus anderem Anlaß angemahnt worden ist67). Der Richtlinienvorschlag beinhaltet nämlich nicht lediglich punktuelle Vertöße gegen die Vertragsfreiheit, sondern mißachtet diese im Grundsätzlichen für den gesamten Bereich der Geschäfte mit Verbrauchern. Wäre das europarechtlich zulässig, so wäre angesichts der fundamentalen Bedeutung der Vertragsfreiheit im verfassungsrechtlichen Gesamtgefüge der Bundesrepublik Deutschland und ihres Ranges als „Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung“68 die Voraussetzung des „Solange II“ -Beschlusses, daß der EG-rechtliche Grundrechtsschutz „nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt“, nicht mehr erfüllt.
65 Art. 100 a EWGV, auf den sich die Kommission als Grundlage für die hier kritisierte Richtlinie beruft, enthält eine Kompetenz „zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten, die die Schaffung (!) und das Funktionieren (!) des Binnenmarkts zum Gegenstand (!) haben“. Da es solche Vorschriften gar nicht geben kann, dürfte die sprachlich mißglückte Bestimmung auf Grund ihrer ausdrücklichen Verweisung auf Art. 8 a EWGV dahin auszulegen sein, daß sie eine Angleichungskompetenz zur Verwirklichung der in Art. 8 a Abs. 2 EWGV genannten Freiheiten beinhaltet, vgl. Everling Festschr. für Steindorff, 1990, S. 1169; wesentlich weitergehend, jedoch ohne jede Auseinandersetzung mit dem Wortlaut von Art. 100 a EWGV Grabitz/Langeheine aaO Art. 100 a Rdn. 43 und 44; Hailbronner/Klein Handkommentar, 1991, Art. 100 a Rdn. 4. 66 Die Kompetenzen der EG auf dem Gebiete des Privatrechts dürften schmal sein, vgl. Grabitz/Langenheine aaO Art. 100 Rdn. 29; Hauschka JZ 1990, 532; Müller-Graff Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2. Aufl. 1991, S. 33. Die Aufgabe des Verbraucherschutzes allein begründet jedenfalls keine Kompetenz; so mit Recht Müller-Graff aaO S. 39; Steindorff Grenzen der EG-Kompetenzen, 1990, S. 94 f.; a. A. wohl Ulmer JZ 1992, 4. 67 Vgl. Scholz NJW 1990, 941 ff. 68 So BVerfGE 81, 242, 253.
Das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für die Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte als Verfassungsverstoß* RDA 1997, S. 267–277 Übersicht I.
Problemstellung 1. Die Gesetzeslage vor Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes a) Die Kleinbetriebsregelung des § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG für Zahlungen an Arbeiter b) Das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für Zahlungen an Angestellte 2. Die heutige Gesetzeslage a) Die Fortgeltung von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG b) Die Unanwendbarkeit von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG auf Zahlungen an Angestellte c) Die Unzulänglichkeit der Gesetzgebungstechnik d) Die verfassungsrechtliche Fragestellung II. Die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung 1. Die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG a) Die maßgeblichen Prüfungskriterien b) Das Fehlen eines sachlichen Grundes für eine Differenzierung zwischen Zahlungen an Arbeiter und an Angestellte c) Das Fehlen eines sachlichen Grundes für eine Differenzierung zwischen Zahlungen an kranke und an dem Mutterschutz unter fallende Angestellte [268] d) Die kündigungsschutzrechtliche Benachteiligung von Angestellten gegenüber Arbeitern im Krankheitsfall als Konsequenz des Fehlens einer Kleinbetriebsregelung e) Die Systemwidrigkeit des Fehlens einer Kleinbetriebsklausel 2. Die Verletzung von Art. 12 GG a) Die unmittelbare Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Freiheitsrechte *
Götz Hueck zum 70. Geburtstag am 21.9.1997 in herzlicher Verbundenheit gewidmet.
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Das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für die Entgeltfortzahlung
b) Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Übermaßverbot als Prüfungsmaßstab c) Der Verstoß gegen das Übermaßverbot 3. Zusammenfassung und Ergebnis a) Die Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG b) Die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Übermaßverbot c) Der Gegenstand der Verfassungsverstöße und ihrer gerichtlichen Überprüfung III. Die prozessualen Möglichkeiten zur Geltendmachung der Verfassungsverstöße und die Rechtsfolgen 1. Die in Betracht kommenden Rechtsbehelfe a) Die Gesetzesverfassungsbeschwerde b) Urteilsverfassungsbeschwerde und konkrete Normenkontrolle 2. Die Rechtsfolgen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts a) Die Unvereinbarkeitserklärung b) Die Auswirkungen der Unvereinbarkeitserklärung, die Problematik der Rückwirkung auf die Altfälle und die Frage der Haftung für legislatives Unrecht c) Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Gesetzeskorrektur durch analoge Anwendung der §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 14 LFZG I. Problemstellung 1. Die Gesetzeslage vor Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes a) Die Kleinbetriebsregelung des § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG für Zahlungen an Arbeiter
Das Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle vom 27.7.1969 (Lohnfortzahlungsgesetz) enthielt in § 1 Abs. 1 Satz 1 die Bestimmung, daß ein Arbeiter, der infolge von Krankheit ohne sein Verschulden an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, dadurch den Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen nicht verliert. Für Arbeitgeber, „die in der Regel ... nicht mehr als zwanzig Arbeitnehmer beschäftigen“, ist in § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG vorgesehen, daß ihnen die Ortskrankenkassen, die Innungskrankenkassen, die Bundesknappschaft und die See-Krankenkasse 80% des nach § 1 Abs. 1 LFZG „an Arbeiter fortgezahlten Arbeitsentgelts“ zu erstatten haben. Die dafür erforderlichen Mittel sind nach § 14 Abs. 1 LFZG „durch eine Umlage von den am Ausgleich beteiligten Arbeitgebern“ aufzubringen.
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b) Das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für Zahlungen an Angestellte Die Entgeltfortzahlungspflicht nach § 1 Abs. 1 LFZG war auf Arbeiter beschränkt. Für Angestellte enthielt § 616 Abs. 2 BGB eine ähnliche Regelung. Diese wurde jedoch nicht durch eine Sonderregelung für Kleinbetriebe ergänzt. Die Vorschriften der §§ 10 ff. LFZG galten für die Arbeitgeber von Angestellten nicht, wie sich aus dem persönlichen Geltungsbereich des LFZG und dem eindeutigen Wortlaut von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG, der ausdrücklich auf die Entgeltzahlung „an Arbeiter“ bezogen ist, zweifelsfrei ergibt. Daß dadurch die Arbeitgeber von Arbeitern und die Arbeitgeber von Angestellten in dieser Hinsicht unterschiedlichen Regelungen unterlagen, wurde im Schrifttum zwar oft konstatiert1, jedoch soweit ersichtlich nur vereinzelt beanstandet2. 2. Die heutige Gesetzeslage a) Die Fortgeltung von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG § 1 LFZG und § 616 Abs. 2 BGB sind durch Art. 60 des PflegeversicherungsG vom 26.5.1994 aufgehoben worden3. Zugleich trat (als dessen Art. 53) das Gesetz über die Zahlung des Arbeitsentgelts an Feiertagen und im Krankheitsfall (Entgeltfortzahlungsgesetz) in Kraft. Dessen § 3 regelt den Anspruch auf Entgeltfortzahlung4 im Krankheitsfall einheitlich für Arbeiter und Angestellte und lehnt sich im übrigen inhaltlich weitgehend an § 1 Abs. 1 LFZG an. Eine Sonderregelung für Kleinbetriebe sucht man indessen im EFZG vergeblich. Das bedeutet jedoch nicht, daß es eine solche heute nicht mehr gibt. Vielmehr gelten die §§ 10 ff. LFZG fort. Das folgt aus dem Umkehrschluß zu Art. 60 PflegeversicherungsG, der unmißverständlich nur die §§ 1 bis 9 LFZG aufhebt. Liest man freilich vor diesem Hintergrund § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG, so ergibt sich insofern eine gewisse Schwierigkeit, als diese Vorschrift dem Arbeitgeber den Erstattungsanspruch gegen die Ortskrankenkassen (usw.) in Höhe von 80% „des für den in § 1 Abs. 1 und 2 ... bezeichneten Zeitraum an Arbeiter fort1 Vgl. z. B. Schmitt, Lohnfortzahlungsgesetz, 1992, § 10 Rdnr. 19; Staudinger-Oetker, 12. Aufl., 1993, § 616 Rdnr. 303 m. w. Nachw. 2 Vgl. aber immerhin Wank, Arbeiter und Angestellte, 1992, S. 158 („bedenkliche Ungleichbehandlung“). 3 Vgl. BGBl. 1994 I, S. 1014, 1069. 4 Die dogmatische Streitfrage, ob dieser vertraglicher oder gesetzlicher Natur ist (vgl. dazu Staudinger-Oetker [o. Fn. 1], § 616 Rdnr. 142 m. Nachw.), spielt hier keine Rolle; die im Text verwendete Terminologie entspricht zwar nicht dem Wortlaut von § 3 EFZG, wohl aber dem Sinngehalt der Vorschrift.
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gezahlten Arbeitsentgelts“ zuspricht und also auf eine Vorschrift Bezug nimmt, die außer Kraft getreten ist. Diese Lücke füllt Art. 67 Abs. 3 PflegeversicherungsG, welcher lautet: „Soweit in anderen Bestimmungen auf Vorschriften verwiesen wird oder Bezeichnungen verwendet werden, die durch dieses Gesetz aufgehoben oder geändert werden, treten an ihre Stelle die entsprechenden Vorschriften oder Bezeichnungen dieses Gesetzes“5. An die Stelle des in § 1 Abs. 1 und 2 LFZG bezeichneten Zeitraums tritt also der entsprechende Zeitraum gemäß § 3 EFZG, so daß dem Arbeitgeber nunmehr nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG ein Erstattungsanspruch in Höhe von 80% „des für den in § 3 Abs. 1 und 2 EFZG ... bezeichneten Zeitraum an Arbeiter fortgezahlten Arbeitsentgelts“ zusteht. b) Die Unanwendbarkeit von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG auf Zahlungen an Angestellte Was bedeutet das nun für den Fall einer Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte? Für diese hat der Arbeitgeber nach wie vor keinen Erstattungsanspruch aus § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG6, und für sie findet demgemäß auch kein Umlageverfahren nach § 14 LFZG statt. Denn es bleibt unverändert dabei, daß § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG auch in seiner gemäß Art. 67 Abs. 3 PflegeversicherungsG korrigierten Fassung einen Erstattungsanspruch nur für ein „an Arbeiter fortgezahltes Arbeitsentgelt“ vorsieht. Art. 67 Abs. 3 PflegeversicherungsG läßt § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG insoweit völlig unberührt und erstreckt den Anwendungsbereich dieser Vorschrift nicht etwa auf Angestellte. Das folgt klar aus dem Wortlaut von Art. 67 Abs. 3 PflegeversicherungsG, da dort nur von Vorschriften und Bezeichnungen die Rede ist, „die durch dieses Gesetz aufgehoben oder geändert werden“, und es eine Kleinbetriebsregelung für die Entgeltfortzahlung an Angestellte niemals gab, so daß sie auch nicht „aufgehoben oder geändert“ worden sein kann. Dieser Befund wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Danach liegt das Ziel von Art. 67 Abs. 3 PflegeversicherungsG nämlich u. a. darin, „hinsichtlich der weiter anwendbaren Bestimmungen des Lohnfortzahlungsgesetzes über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen“ eine Gesetzesänderung zu vermeiden7. Materiell sollte insoweit also alles beim alten bleiben. In der Tat hätte eine so bedeutsame Änderung wie die Erstrec- [269] kung des Erstattungs- und Umlageverfahrens auf die Arbeitgeber von Angestellten einer deutlichen gesetzlichen
Vgl. BGBl. 1994 I, S. 1014, 1070. Das ist wohl unstr.; vgl. z. B. Schmitt, Entgeltfortzahlungsgesetz, 2. Aufl., 1995, § 10 LFZG Rdnr. 20; Palandt-Putzo, 55. Aufl., 1996, § 616 Rdnr. 29; Schliemann, ArbuR, 1994, S. 319. 7 Vgl. BT-Drucks. 12/5263, S. 17. 5 6
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Regelung bedurft, so daß es mangels einer solchen keinen vernünftigen Zweifel am Fortbestand der vorherigen Gesetzeslage geben kann. c) Die Unzulänglichkeit der Gesetzgebungstechnik Was die Gesetzgebungstechnik angeht, so kann man angesichts des soeben dargestellten hochkomplizierten Zusammenspiels verschiedener Vorschriften nur das berühmte Wort Juvenals bemühen: Difficile est satiram non scribere! Kurios genug ist schon, daß nunmehr nebeneinander das EntgeltfortzG und Reste des LohnfortzG gelten. Noch seltsamer ist, daß davon auch solche Vorschriften des letzteren betroffen sind, die auf die aufgehobenen (!) Teile dieses Gesetzes verweisen und folglich aus sich selbst heraus überhaupt nicht mehr verständlich sind. Vollends absonderlich ist schließlich, daß man zur Behebung dieser Schwierigkeit einen Artikel aus dem PflegeversicherungsG – das an sich mit der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gar nichts zu tun hat! – heranziehen muß, der sich dort sinnigerweise auch noch unter der Überschrift „Überleitungsvorschriften“ verbirgt und dessen Bedeutung für die hier untersuchte Problematik sich erst bei näherem Überlegen erschließt. Die Klage über die Zersplitterung und Unübersichtlichkeit unseres Rechts – auch und gerade des Arbeitsrechts – ist in aller Munde. Durch Fehlleistungen wie die vorliegende gibt der Gesetzgeber ihr zusätzlich Nahrung und stellt dem „Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung“ das denkbar schlechteste Zeugnis aus. Fast wie Hohn wirkt es daher, wenn die Regelung des Art. 67 Abs. 3 PflegeversicherungsG und der damit verbundene Verzicht auf eine Einarbeitung der §§ 10 ff. LFZG in das neue EFZG in den Gesetzesmaterialien mit Gründen der „Verwaltungsvereinfachung“ (?!) und dem Ziel erklärt wird, „an sich notwendige Folgeänderungen“ durch den Gesetzgeber zu vermeiden8; offenbar sollen sich die Bürger eine – an sich ganz simple – Rechtsfolge lieber selbst aus verschiedenen Vorschriften mühsam zusammenkonstruieren müssen, als daß der Gesetzgeber sich der ihm obliegenden Aufgabe unterzieht, die Rechtslage durch ein paar Federstriche zu klären! Und geradezu wie unfreiwillige Selbstironie klingt es im vorliegenden Zusammenhang, wenn es in den Materialien als Ziel des EFZG bezeichnet wird, „daß das bisher gesetzlich zersplitterte und nach einzelnen Arbeitnehmergruppen differenzierende System durch die Neuregelung auf eine neue, einheitliche Basis gestellt werden soll“9. Bezüglich der Kleinbetriebsproblematik10 konnte dieses Ziel nicht krasser verfehlt werden als durch die heutige Gesetzeslage! Vgl. Fn. 7. Vgl. BT-Drucks. 12/5263, S. 9. 10 Diese berücksichtigt Schmitt, RdA 1996, S. 5 ff. bei seiner Bilanz nicht. 8 9
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d) Die verfassungsrechtliche Fragestellung Damit ist zugleich der Kern der materiellrechtlichen Problematik in den Blick gekommen: Kann es wirklich rechtens sein, daß für die Kleinbetriebsproblematik weiterhin die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten von ausschlaggebender Bedeutung ist? Da das Gesetz, wie soeben unter b) ausgeführt, insoweit keinen Auslegungs- oder Rechtsfortbildungsspielraum läßt, kann die Antwort nur vom Verfassungsrecht her gegeben werden. II. Die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung 1. Die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten insoweit für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, als diese die Grundlage für die unterschiedliche Länge der gesetzlichen Fristen für die Kündigung von Arbeitsverhältnissen gemäß § 622 Abs. 2 BGB bildete11. Bedenken gegen die Vereinbarkeit dieser Unterscheidung mit Art. 3 Abs. 1 GG haben auch wesentlich dazu beigetragen, daß der Gesetzgeber die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte durch den Erlaß des EFZG vereinheitlicht hat. Es drängt sich daher geradezu auf, die Frage, ob die Unterscheidung zwischen diesen beiden Personengruppen eine gegensätzliche rechtliche Lösung der Kleinbetriebsproblematik zu tragen vermag, ebenfalls auf den Prüfstand von Art. 3 Abs. 1 GG zu stellen. a) Die maßgeblichen Prüfungskriterien Vorab sind die wichtigsten Grundsätze für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG, wie sie das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat, kurz in Erinnerung zu rufen. Dieses hat Art. 3 Abs. 1 GG bekanntlich lange Zeit im wesentlichen im Sinne des Willkürverbots interpretiert und demgemäß darauf abgestellt, ob sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache resultierender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die betreffende Regelung bzw. die gesetzliche Differenzierung finden läßt12. Nach der „neuen Formel“, die das Bundesverfassungsgericht auch in seiner soeben erwähnten Entscheidung zu § 622 Abs. 2 BGB zugrunde gelegt hat, ist 11 12
Vgl. BVerfGE 82, S. 126, 145 ff. Grundlegend BVerfGE 1, S. 14, 52.
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eine ungleiche Behandlung mehrerer Gruppen von Normadressaten mit Art. 3 Abs. 1 GG nur vereinbar, wenn zwischen ihnen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können, wobei Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen13. Diesen Maßstäben hält die gesetzliche Regelung der Kleinbetriebsproblematik bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in mehrfacher Hinsicht nicht stand. b) Das Fehlen eines sachlichen Grundes für eine Differenzierung zwischen Zahlungen an Arbeiter und an Angestellte aa) Der Haupteinwand besteht in der ungleichen Behandlung von Arbeitgebern, soweit sie Arbeiter beschäftigen, und Arbeitgebern, soweit sie Angestellte beschäftigen. Allerdings ist diese nicht schon deshalb verfassungswidrig, weil sich die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten mangels hinreichender Abgrenzungskriterien insgesamt nicht mehr durchführen ließe; ein so weitreichendes Verdikt hat das Bundesverfassungsgericht mit guten Gründen abgelehnt14. Vielmehr ist auf den Normzweck der einschlägigen Regelung abzustellen und an seinem Maßstab zu prüfen, ob sich die Ungleichbehandlung legitimieren läßt, wie es das Bundesverfassungsgericht auch in seiner Entscheidung zu § 622 Abs. 2 BGB getan hat. Der Zweck des Ausgleichs- und Umlageverfahrens nach §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 14 LFZG ist, wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend ausgeführt hat, darin zu sehen, „kleine Betriebe vor den schwer kalkulierbaren Risiken der ihnen durch das Lohnfortzahlungsgesetz auferlegten sozialen Verpflichtungen zu schützen, (wobei) die Regelung davon ausgeht, daß das Risiko der Erkrankung bei solchen Betrieben nicht hinreichend in eine unternehmerische Kostenrechnung einbezogen werden kann“; demgemäß soll das Ausgleichs- und Umlageverfahren „den Arbeitgebern, denen das Lohnfortzahlungsgesetz das Krankheitsrisiko auch der Arbeiter auferlegt hat, diese Last durch ihre Einbeziehung in eine Ausgleichsgemeinschaft erleichtern“15. bb) Es ist nicht ersichtlich, inwiefern dieser Gesetzeszweck eine Differenzierung zwischen der Entgeltfortzahlung an Arbeiter und an Angestellte erlauben könnte. 13 Grundlegend BVerfGE 55, S. 72, 88; vgl. ferner z. B. BVerfGE 82, S. 126, 146 m. w. Nachw. 14 Vgl. BVerfGE 62, S. 256, 275; 82, S. 126, 146. 15 Vgl. BVerfGE 48, S. 227, 234 und 236; ähnlich BSGE 36, S. 16, 20; BSG, NJW 1974, S. 2104.
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Von vornherein abwegig wäre der Gedanke, das Risiko einer Erkrankung sei bei Angestellten in einem solchen Maße gerin- [270] ger als bei Arbeitern, daß der Arbeitgeber dadurch wesentlich weniger betroffen würde oder es besser kalkulieren könnte. Für eine derartige Sichtweise gibt es keinerlei empirische Anhaltspunkte, zumal der Arbeitgeber das Entgelt ja nicht nur bei berufsbedingten, sondern bei allen (unverschuldeten) Krankheiten fortzuentrichten hat. Man kann auch nicht sagen, die Arbeitgeber von Angestellten besäßen typischerweise eine wesentlich bessere Fähigkeit zur Kalkulation oder Absicherung dieses Risikos als die Arbeitgeber von Arbeitern. Warum sollte z. B. der Inhaber eines kleinen Einzelhandelsgeschäfts mit dem krankheitsbedingten Ausfall eines Verkäufers – vielleicht seines einzigen! – oder der Inhaber einer Fahrschule mit der Erkrankung eines angestellten Fahrlehrers16 besser zu Rande kommen als der Inhaber eines Handwerksbetriebs mit der Lohnfortzahlung für einen seiner Arbeiter?! Außerdem ginge eine solche Argumentation auch deshalb gänzlich fehl, weil in vielen Kleinbetrieben sowohl Arbeiter als auch Angestellte tätig sind. Niemand wird im Ernst behaupten wollen, daß z. B. der Inhaber eines kleinen Handwerksbetriebs – etwa eines Elektrogeschäfts – das Risiko einer Erkrankung seines für den Verkauf und die Buchführung zuständigen einzigen Angestellten besser „in die unternehmerische Kostenrechnung einbeziehen“ kann als das Risiko der Erkrankung eines seiner Arbeiter. cc) Allerdings hat das Bundessozialgericht einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG verneint17. Es hat dabei jedoch in erster Linie die umgekehrte Problematik im Auge gehabt, ob sich ein Arbeitgeber, der Arbeiter beschäftigt, mit der Begründung gegen das Umlageverfahren nach § 14 LFZG wehren kann, daß Arbeitgeber, die Angestellte beschäftigen, zu diesem nicht herangezogen werden. Das mag in der Tat zu verneinen sein, entkräftet aber nicht den Einwand eines Verfassungsverstoßes zu Lasten der Arbeitgeber von Angestellten; denn es geht hier ja darum, daß diesen die Erleichterung, die das Erstattungs- und Umlageverfahren für die Inhaber von Kleinbetrieben bei der Tragung der mit der Entgeltfortzahlung verbundenen Lasten bedeutet18, vom Gesetzgeber vorenthalten wird. Demgemäß kann man nicht etwa argumentieren, wegen der mit dem Umlageverfahren verbundenen Beiträge habe dieses auch Nachteile für die Arbeitgeber zur Folge, so daß es sich letztlich nur um zwei unterschiedliche, miteinander nicht vergleichbare Lösungsmodelle handele; vielmehr wird das Kostenerstattungs- und Umlageverfahren den Besonderheiten von Kleinbetrieben weitaus besser gerecht, weil es 16 Auch kaufmännische Tätigkeit einfachster Art macht zum Angestellten, vgl. z. B. ZöllnerLoritz, Arbeitsrecht, 4. Aufl., 1992, § 5 11 3; Arbeitnehmer, die als Fahrlehrer tätig sind, sind ebenfalls Angestellte, vgl. BAG AP Nr. 8 zu § 133 f GewO. 17 Vgl. BSG, NJW 1974, S. 2104. 18 So die zutreffende Sicht von BVerfGE 48, S. 227, 236 (vgl. das wörtliche Zitat oben bei Fn. 15).
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die Kalkulation und die Kostenabwälzung über die Preise erleichtert sowie den einzelnen Arbeitgeber von dem Risiko entlastet, daß gerade er rein zufällig von überproportionalen Einbußen durch Erkrankung seiner Arbeitnehmer betroffen wird (vgl. auch unten II 2 c). Des weiteren hat das Bundessozialgericht als relevant angesehen, daß den Arbeitgebern seinerzeit die Erfahrung mit der Lohnfortzahlung an Arbeiter fehlte und dieses Defizit durch das Ausgleichs- und Umlageverfahren abgemildert werden sollte, während „ein entsprechendes Ausgleichsverfahren in Verbindung mit der seit Jahrzehnten bestehenden Lohnfortzahlungsverpflichtung der Unternehmer gegenüber Angestellten nicht für erforderlich erachtet worden ist“. Selbst wenn man diese Argumentation für die Zeit bei und kurz nach Erlaß des LFZG im Jahre 1969 als relevant und als ausreichend für die Verneinung eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG ansehen wollte – was als überaus zweifelhaft erscheint –, ist sie doch inzwischen längst obsolet geworden, da die Erfahrung der Arbeitgeber mit der Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte heutzutage keinesfalls mehr als größer angesehen werden kann als bezüglich der entsprechenden Problematik bei der Erkrankung von Arbeitern. dd) Eine am Normzweck der §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 14 LFZG ausgerichtete Prüfung führt somit zu dem Ergebnis, daß relevante Unterschiede zwischen der Entgeltfortzahlung an Arbeiter und an Angestellte bezüglich der Kleinbetriebsproblematik nicht ersichtlich sind. Daß deren gesetzliche Regelung entscheidend von dieser Unterscheidung geprägt ist, verstößt somit gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Das gilt schon vom Boden der alten, am Willkürverbot orientierten Sichtweise aus. Denn es hat sich nicht einmal ansatzweise ein vernünftiger, sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung finden lassen. Zum selben Ergebnis kommt man auch und erst recht bei Zugrundelegung der – etwas strengeren – „neuen Formel“. Zwischen den Arbeitgebern, die Angestellte beschäftigen, und denen, die Arbeiter beschäftigen, bestehen nämlich im Hinblick auf den Normzweck der §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 14 LFZG keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, daß es gerechtfertigt wäre, erstere bei der Bewältigung der Risiken und Lasten, die mit der Pflicht zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Inhaber eines Kleinbetriebs verbunden sind, allein sich selbst zu überlassen, wohingegen diese Bürde letzteren durch das Ausgleichs- und Umlageverfahren gemäß §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 14 LFZG erleichtert wird. Hier werden somit in der Tat zwei Gruppen von Normadressaten ungleich behandelt, obwohl zwischen ihnen keine relevanten und hinreichend gewichtigen Unterschiede bestehen. Das gilt nicht nur bei einem Vergleich zwischen Betrieben, die ausschließlich Angestellte beschäftigen, mit solchen, die ausschließlich Arbeiter beschäftigen, sondern auch für Betriebe, die sowohl Angestellte als auch Arbeiter beschäftigen. Denn bei sinngerechter Anwendung der „neuen Formel“ ist insoweit nicht auf einen „reinen“ – in der Realität des Rechtslebens vielleicht nur selten anzutreffenden – Idealtypus abzustellen, sondern auf die jeweilige Rolle
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oder Funktion, die dem Normadressaten in dem betreffenden Problemzusammenhang zukommt. Es ist hier also nur relevant, daß er als Arbeitgeber eines Angestellten oder Arbeiters betroffen ist, mag er daneben nun noch Arbeitnehmer der anderen Kategorie beschäftigen oder nicht. Das leuchtet auch vom praktischen Ergebnis her voll ein, erscheint es doch, wie bereits ausgeführt, geradezu als besonders widersinnig, daß der Inhaber eines Kleinbetriebs einen Ausgleichsanspruch nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG hat, wenn einer seiner Arbeiter krank ist, nicht aber, wenn statt dessen seine Bürokraft oder eine im Verkauf tätige Person wegen Krankheit ausfällt. Das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für die Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte verstößt somit gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil sich der Unterschied gegenüber den nur für Arbeiter geltenden Vorschriften der §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 14 LFZG nicht legitimieren läßt. c) Das Fehlen eines sachlichen Grundes für eine Differenzierung zwischen Zahlungen an kranke und an dem Mutterschutz unterfallende Angestellte Ein weiterer, eigenständiger Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt in der unterschiedlichen Behandlung der Entgeltfortzahlung im Krankheits- und im Mutterschutzfall durch § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG einerseits und § 10 Abs. 1 Nr. 2 und 3 LFZG andererseits. Während nämlich § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG den Arbeitgebern von Angestellten einen Ausgleichsanspruch vorenthält, gewährt § 10 Abs. 1 Nr. 2 und 3 LFZG ihnen einen solchen für die Zahlungen von Arbeitsentgelt bei Beschäftigungsverboten und für die Zuschüsse zum Mutterschaftsgeld, die sie nach §§ 11, 14 MuSchG an Arbeitnehmerinnen vor und nach der Entbindung zu zahlen haben. Indem der Gesetzgeber hier im Gegensatz zu Nr. 1 nicht zwischen den Arbeitgebern von Arbeiterinnen und von Angestellten differenziert19, zeigt er zum einen selbst, daß es bezüg- [271] lich der Entgeltfortzahlung durch den Inhaber eines Kleinbetriebs keinen sachlichen Grund für eine derartige Unterscheidung gibt. Zum anderen führt er eine weitere ungerechtfertigte Ungleichbehandlung zweier Gruppen von Normadressaten herbei. Denn Arbeitgebern von dem MuSchG unterfallenden Angestellten wird die mit der Entgeltfortzahlung für den Inhaber eines Kleinbetriebs verbundene Last durch den Ausgleichsanspruch nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 und 3 LFZG und das Umlageverfahren nach § 14 LFZG erleichtert, während das bei Arbeitgebern von kranken Angestellten nicht geschieht. 19 Das folgt aus dem klaren Wortlaut der Vorschrift und dürfte unstreitig sein, vgl. Schmitt (Fn. 6), § 10 Rdnr. 13 m. w. Nachw.
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Irgendein sachlich einleuchtender Grund für diese Differenzierung ist nicht ersichtlich, so daß auch sie gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt – und zwar wiederum unabhängig davon, ob man von der „neuen Formel“ des Bundesverfassungsgerichts ausgeht oder die ältere, am Willkürverbot orientierte Sichtweise zugrunde legt. d) Die kündigungsschutzrechtliche Benachteiligung von Angestellten gegenüber Arbeitern im Krankheitsfall als Konsequenz des Fehlens einer Kleinbetriebsregelung Des weiteren hat die Beschränkung von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG auf Entgeltfortzahlungen an Arbeiter eine Schlechterstellung von Angestellten gegenüber Arbeitern zu Folge. Die wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers mit Entgeltfortzahlungskosten kann nämlich nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts einen Grund für eine Kündigung des betreffenden Arbeitnehmers darstellen, der zu deren sozialer Rechtfertigung i. S. von § 1 Abs. 2 KSchG geeignet ist – und zwar u. U. schon für sich allein20, erst recht im Zusammenwirken mit anderen Umständen. Es liegt auf der Hand, daß es hierfür eine Rolle spielen kann, ob der Arbeitgeber das fortgezahlte Entgelt weitgehend von den Ortskrankenkassen (usw.) zurückerhält oder nicht, da dadurch das Ausmaß und Gewicht seiner wirtschaftlichen Belastung maßgeblich mitbestimmt wird. Die Ausklammerung der Angestellten aus dem Anwendungsbereich von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG kann somit auf diese negativ durchschlagen (sofern in dem betreffenden Betrieb mehr als zehn und weniger als einundzwanzig Arbeitnehmer beschäftigt sind, so daß er nach § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG in den Geltungsbereich von § 1 KSchG und zugleich in den von § 10 LFZG fällt). Diese Schlechterstellung von Angestellten gegenüber Arbeitern entbehrt ebenfalls jeglichen sachlichen Grundes und führt somit zu einem weiteren Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Zugleich macht sie besonders kraß deutlich, wie unsinnig es ist, hinsichtlich der Kleinbetriebsproblematik bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall an der Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten festzuhalten; denn entwicklungsgeschichtlich gesehen ist es geradezu grotesk, daß kranke Angestellte heutzutage kündigungsschutzrechtlich eine schwächere Stellung haben als kranke Arbeiter.
20 Vgl. z. B. BAG AP Nr. 26 und Nr. 27 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit unter II 2 bzw. III 2 der Gründe; vgl. dazu im übrigen näher Hueck-von Hoyningen-Huene, Kündigungsschutzgesetz, 11. Aufl., 1992, Rdnrn. 233 ff.
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e) Die Systemwidrigkeit des Fehlens einer Kleinbetriebsklausel Am Rande sei schließlich noch vermerkt, daß das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für die Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte auch einen schweren Systembruch innerhalb des geltenden Arbeitsrechts darstellt. Die Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinbetrieben ist nämlich „ein durchgehender Zug unseres Arbeitsrechts“21, wie sich aus den §§ 23 Abs. 1 KSchG, 622 Abs. 5 Nr. 2 BGB, 2 Abs. 3 ArbPlSchG, 10 Abs. 1 Nr. 1-3 LFZG, 5 Abs. 1 und 11 Abs. 6 SchwbG, 1 BetrVG ergibt. Systembrüche stellen zumindest Indizien für einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar22 und sind daher bei einer etwa erforderlichen Gesamtbetrachtung mitzuberücksichtigen. Außerdem schränkt das Erfordernis der Systemkonformität den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Beseitigung einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung sowie erst recht die etwaigen Möglichkeiten der Rechtsprechung zu deren Behebung im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung u. U. erheblich ein. Demgemäß kann bei der vorliegenden Problematik die Lösung schwerlich in einer ersatzlosen Abschaffung von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG, sondern grundsätzlich wohl nur in einer Einbeziehung der Angestellten in den Anwendungsbereich dieser Regelung liegen23. 2. Die Verletzung von Art. 12 GG Unter dem Aspekt von Art. 3 Abs. 1 GG steht im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für die Arbeitgeber von Angestellten. Man kann die Perspektive indessen auch verändern und in den Vordergrund die Frage rücken, ob die Entgeltfortzahlungspflicht selbst den Anforderungen des Grundgesetzes genügt. Denn indem § 3 EFZG dem Arbeitgeber eine solche auferlegt, greift das Gesetz in dessen Vertragsfreiheit ein, die anerkanntermaßen verfassungsrechtlich gewährleistet ist24. Die Problematik auch unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen, liegt umso näher, als das Bundesverfassungsgericht eine Vorschrift, durch welche der Arbeitgeber zur Entgeltfortzahlung für eine 21 So zu Recht Hanau, Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 191; vgl. auch Preis, ZHR 158 (1994), S. 610. 22 Vgl. näher Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl., 1983, S. 125 ff.; zustimmend F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 33; vgl. dazu ferner z. B. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 49 ff., 79 ff., 87 ff.; Kirchhof, in: Isensee-Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 124 Rdnrn. 231 ff. 23 Vgl. näher unten III. 2 a) und c). 24 Vgl. z. B. BVerfGE 70, S. 115, 123; 72, S. 155, 170; Canaris, JZ 1987, S. 994 f.; Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 11 ff. m. w. Nachw.
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bestimmte Art von Zusatzurlaub verpflichtet wird, wegen Verletzung von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG verworfen und dabei als mögliches Remedium gegen diesen Verstoß ausdrücklich die anteilige Umlegung der Kosten auf alle Arbeitgeber durch Schaffung einer Solidareinrichtung, also eine dem Modell der §§ 10 Abs. 1, 14 LFZG entsprechende Lösung, hervorgehoben hat25. a) Die unmittelbare Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Freiheitsrechte aa) Verfassungsdogmatisch verschiebt sich die Problematik bei dieser Sichtweise insofern, als Prüfungsmaßstab jetzt nicht mehr der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, sondern ein Freiheitsrecht ist – sei es Art. 12 GG oder sei es Art. 2 Abs. 1 GG. Demgemäß wird an dieser Stelle die Frage nach dem Verhältnis von Freiheitsrechten und Privatrecht relevant. Diese kann hier nicht in voller Breite aufgerollt werden, doch ist das im vorliegenden Zusammenhang auch nicht erforderlich. Es genügt vielmehr im wesentlichen der Hinweis, daß der Privatrechtsgesetzgeber – im Gegensatz zu den Privatrechtssubjekten – nach heute ganz vorherrschender und richtiger Ansicht unmittelbar an die Freiheitsrechte gebunden ist26. Das folgt, wie oft genug betont worden ist27, schon daraus, daß auch die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Privatrechts sowohl nach dem allgemeinen als auch nach dem spezifisch juristischen Sprachgebrauch unter den Begriff der „Gesetzgebung“ i. S. von Art. 1 Abs. 3 GG fällt28, wonach „die nachfolgenden Grundrechte [272] Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden“. Vgl. BVerfGE 77, S. 308, 337. Vgl. z. B. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 76 IV 2 a und 3; Badura, Staatsrecht, 2. Aufl., 1996, Rdnr. C 23; J. Hager, JZ 1994, S. 375 m. umf. Nachw.; Oldiges, Festschr. für Friauf, 1997, S. 283 f. 27 Vgl. näher Canaris, AcP 184 (1984), S. 212 f. und JuS 1989, S. 162 m. w. Nachw. 28 Anders Diederichsen, in: Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 48 f. Zwar ist sein Hinweis, daß der Hauptakzent von Art. 1 Abs. 3 GG auf der Rechtsfolge (unmittelbare Bindung und nicht bloßer Programmsatz) liegt, gewiß zutreffend, doch ändert das nichts daran, daß im Tatbestand nun einmal einschränkungslos von „Gesetzgeber“ die Rede ist; warum es eine „Begriffsvertauschung“ sein soll, wenn man darunter auch den Privatrechtsgesetzgeber versteht, ist nicht einzusehen, da auch dieser „staatliche Gewalt“ ausübt und die Argumentationslast dafür, daß er dennoch nicht „Gesetzgeber“ i. S. von Art. 1 Abs. 3 GG ist, folglich bei demjenigen liegt, der das behauptet. Im übrigen ist die Sorge Diederichsens vor einer verfassungsrechtlichen Verformung oder Überfremdung des Privatrechts grundsätzlich unbegründet, weil das Grundgesetz im wesentlichen dieselben Rechte und Werte schützt wie jenes und die Verfassungskonformität privatrechtlicher Normen somit letztlich nicht von den Grundrechten selbst, sondern von der Handhabung des Übermaß- bzw. Untermaßverbots abhängt, also vor allem von der damit verbundenen Verhältnismäßigkeitsprüfung; für diese aber sind i. d. R. nicht primär verfassungsrechtliche, sondern genuin privatrechtliche Wertungen ausschlaggebend. 25 26
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Auch teleologisch gesehen ist diese Ansicht grundsätzlich überzeugend, weil Normen des Privatrechts, wie ebenfalls bereits vielfach dargelegt worden ist, die Grundrechte ebenso stark beeinträchtigen können wie solche öffentlichrechtlicher Natur. Das läßt sich gerade an der vorliegenden Problematik einmal mehr gut veranschaulichen. Hätte der Arbeitgeber z. B. Beiträge an eine öffentlichrechtliche Einrichtung zu entrichten, die dann ihrerseits die Entgeltfortzahlung an kranke Arbeitnehmer übernimmt, so wäre die unmittelbare Grundrechtsbindung des Gesetzgebers nicht zu bezweifeln; wird nun statt dessen der Arbeitgeber selbst zur Entgeltfortzahlung an den Arbeitnehmer verpflichtet wie durch § 3 EFZG, so kann die Grundrechtsbindung nicht schwächer sein, da diese Norm trotz ihres privatrechtlichen Charakters den Arbeitgeber (mindestens) ebenso stark in seiner Vertrags- bzw. Berufsausübungsfreiheit beeinträchtigt wie eine öffentlichrechtliche Beitragspflicht. bb) Allerdings folgt aus der Einschlägigkeit von Art. 1 Abs. 3 GG nicht, daß die Grundrechte im Verhältnis der Privatrechtssubjekte untereinander stets genau denselben Inhalt und dieselbe Reichweite haben wie im Verhältnis zwischen dem Bürger und dem Staat29. Vielmehr kann ihr konkreter Geltungsanspruch insoweit durchaus unterschiedlich zu bestimmen sein – sei es, daß er inhaltlich anders ausgestaltet ist, oder sei es gar, daß er in besonders gelagerten Ausnahmekonstellationen gänzlich zurücktritt. Insbesondere aus diesem Grund ist es wichtig, die Anknüpfung an Art. 1 Abs. 3 GG – in der ja nicht mehr als ein erster, wenngleich tendenzleitender Einstieg in die Problematik liegt – durch eine spezifisch teleologische Argumentation zu ergänzen. Da diese hier eine besondere Nähe von § 3 EFZG zu einer genuin öffentlichrechtlichen Regelung zu Tage gefördert hat, erscheint es in der Tat als unbedenklich, diese Vorschrift trotz ihres privatrechtlichen Charakters uneingeschränkt an Art. 12 GG zu messen; das gilt umso mehr, als das Bundesverfassungsgericht das wie gesagt hinsichtlich einer eng verwandten Norm über eine Entgeltfortzahlungspflicht bei Zusatzurlaub bereits getan hat. cc) Eine andere Frage ist, ob die Grundrechte gegenüber einschränkenden Privatrechtsnormen in ihrer klassischen Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte gelten oder lediglich in ihrer Funktion als „objektive Grundsatznormen“ Wirkung entfalten30. Die besseren Gründe sprechen für die erstere An-
29 Das betont völlig mit Recht Lerche, Festschrift für Odersky, 1996, S. 215, 230 f., der im übrigen aber anerkennt, daß der Rückgriff auf Art. 1 Abs. 3 GG eine „im Ansatz völlig einleuchtende Konstruktion“ und einen „erheblichen Fortschritt“ gegenüber der vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Ausstrahlungs-Lehre mit ihren Vagheiten darstellt. 30 Das erwägt Medicus, AcP 192 (1992), S. 45 f. im Anschluß an Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 2 f.; vgl. zu Böckenfördes Konzeption des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht auch die Kritik von Lerche (Fn. 29), S. 223 f.
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sicht31 - zum einen deshalb, weil nur auf diese Weise die Anknüpfung an Art. 1 Abs. 3 GG dogmatisch folgerichtig umgesetzt wird, und zum anderen auch deshalb, weil es ja ohnehin auf die teleologische Äquivalenz des privatrechtlichen mit einem öffentlich-rechtlichen Eingriff ankommt. Im übrigen dürften beide Konzeptionen im praktischen Ergebnis im wesentlichen auf dieselben Konsequenzen hinauslaufen32, so daß es einer Vertiefung dieser Frage hier nicht bedarf. Am Rande sei im übrigen noch vermerkt, daß bei Eingriffen durch Normen des Privatrechts – anders als möglicherweise bei solchen durch Akte von Privatrechtssubjekten33 – keinesfalls von einer nur „mittelbaren“ Wirkung der Grundrechte gesprochen werden sollte. Denn darin klingt an, daß die Grundrechte lediglich „durch das Medium“ des Privatrechts wirken und auf diese Weise „vermittelt“ werden – und das ist bei der Prüfung von Normen (!) des Privatrechts an der Verfassung eine widersinnige, ja geradezu mysteriöse Vorstellung34. b) Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Übermaßverbot als Prüfungsmaßstab aa) Grundlage für die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Vertragsfreiheit ist anerkanntermaßen grundsätzlich Art. 2 Abs. 1 GG, doch haben speziellere Grundrechte – wie stets – Vorrang. Demgemäß sind Eingriffe in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers am Maßstab von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen35, da sie eine Beeinträchtigung seiner Berufsausübungsfreiheit darstellen. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner bereits erwähnten Entscheidung zur Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers im Falle von Zusatzurlaub angenommen36 und diese Ansicht inzwischen für eine ähnliche Problematik
31 Vgl. Canaris, AcP 184 (1984), S. 212 f.; ebenso z. B. Stern (Fn. 26), § 76 IV 3 a; J. Hager, JZ 1994, S. 375; H. Dreier, Jura 1994, S. 509; Looschelders-Roth, JZ 1995, S. 1037 f. 32 Das räumt auch Zöllner, RDV 1985, S. 8 f. ein, der ansonsten jedoch dem hier vertretenen Standpunkt kritisch gegenübersteht. Jüngst hat sich Zöllner indessen mit Nachdruck dafür ausgesprochen, die Vertragsfreiheit vor Eingriffen durch beschränkende Regeln mit Hilfe von Art. 2 Abs. 1 GG i. V mit dem Übermaßverbot zu schützen, vgl. Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996, S. 45 ff.; das verdient zwar uneingeschränkt Beifall (vgl. näher Canaris, JZ 1987, S. 994 f.), doch läßt sich eine solche Position nicht punktuell begrenzen, sondern dürfte letztlich folgerichtig im wesentlichen in die allgemeinen Konsequenzen für das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht münden, die hier vertreten werden. 33 Vgl. zu dieser Unterscheidung und ihrer dogmatischen Relevanz näher Canaris, AcP 184 (1984), S. 210 ff., 221 ff., AcP 185 (1985), S. 9 ff. und JuS 1989, S. 161 f. 34 Vgl. näher Canaris, AcP 184 (1984), S. 212; ebenso Lerche, Festschrift für Steindorff, 1990, S. 905 mit Fn. 30. 35 Vgl. nur Höfling (Fn. 24), S. 17 m. Nachw. 36 Vgl. BVerfGE 77, S. 308, 332.
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bestätigt37. Dabei geht es nicht nur um ein dogmatisches Einordnungsproblem, sondern u. U. auch um weitreichende praktische Konsequenzen. Das zeigt sich etwa bei der umstrittenen Frage, ob die Pflicht des Arbeitgebers zur Zahlung eines „Zuschusses“ zum Mutterschaftsgeld nach § 14 MuSchG mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist38. Das Bundesverfassungsgericht hat das im Jahr 1974 bejaht, dabei jedoch nur Art. 6 Abs. 4 GG und Art. 3 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab herangezogen, nicht dagegen Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG, weil es den Schutzbereich dieses Grundrechts seinerzeit sehr eng ausgelegt und dessen Einschlägigkeit demgemäß von vornherein verneint hat39. Dieser Ansatz läßt sich angesichts der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in der es Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG mit Recht eine wesentlich größere Reichweite zuerkennt – wenn auch leider ohne Auseinandersetzung mit dem engeren früheren Verständnis –, nicht mehr aufrechterhalten; denn wenn die Pflicht des Arbeitgebers zur Entgeltfortzahlung im Falle von Zusatzurlaub des Arbeitnehmers an Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen ist, dann kann folgerichtig für die Pflicht zu einer Entgelt- oder Entgeltersatzzahlung bei einer mutterschaftsbedingten Unterbrechung der Arbeit unmöglich etwas anderes gelten. Durch den Rückgriff auf Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG kommen nun aber ganz neue Bewertungskriterien ins Spiel. § 14 MuSchG muß dann nämlich an dem Erfordernis gemessen werden, ob eine „Verantwortungsbeziehung“ des Arbeitgebers für die Verwirklichung der Zwecke des MuSchG besteht und [273] wie „eng“ diese ist40. Daran dürfte die Verfassungsmäßigkeit von § 14 MuSchG in der Tat scheitern, doch ist hier nicht der Ort, das näher darzulegen41. bb) Immerhin erscheint es aber auch im vorliegenden Zusammenhang angezeigt, eine kurze generelle Bemerkung über die einschlägigen Prüfungsmaßstäbe vorwegzuschicken. Das wichtigste Kriterium für die verfassungsrechtliche Kontrolle von Einschränkungen eines Freiheitsrechts ist bekanntlich das Übermaßverbot, welches die drei Prinzipien der Eignung, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit i. e. S. in sich schließt und dem Gesetzgeber grundsätzlich die Wahl des mildesten Mittels bzw. des schonendsten Eingriffs gebietet. Einschränkungen der Vertragsfreiheit sind folglich grundsätzlich am Übermaßverbot zu
37 Vgl. BVerfGE 85, S. 226, 233 zu § 1 des hessischen Gesetzes über Sonderurlaub für Mitarbeiter in der Jugendarbeit. 38 Vgl. dazu jüngst etwa Buchner, Festschrift für Stahlhacke, 1995, S. 99. 39 Vgl. BVerfGE 37, S. 121, 131. 40 Vgl. BVerfGE 77, S. 308, 337; 85, S. 226, 236 f. 41 Vgl. dazu eingehend Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1997, unter V 3 b; vgl. dort unter V 3 d auch zur Frage, ob die „arbeitsvertragliche“ Lösung der Entgeltfortzahlungspflicht durch § 3 EFZG mit Art. 12 GG vereinbar ist.
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messen42. Das gilt zumal dann, wenn sie wie hier in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG fallen; denn es steht außer Zweifel, daß Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung dem Übermaßverbot unterliegen43. c) Der Verstoß gegen das Übermaßverbot Das Übermaßverbot ist hier dadurch verletzt, daß der Gesetzgeber die Arbeitgeber von Angestellten auch dann, wenn sie nur Inhaber eines Kleinbetriebs sind, zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle verpflichtet, ohne diesen Eingriff in die Vertrags- bzw. Berufsausübungsfreiheit durch ein Erstattungs- und Umlageverfahren nach Art der §§ 10 Abs. 1, 14 LFZG zu flankieren. Die letztere Lösung stellt nämlich für die Inhaber von Kleinbetrieben das mildere Mittel und den schonenderen Eingriff dar. Davon geht ersichtlich auch das Bundesverfassungsgericht aus. Denn es sieht den Zweck der §§ 10 Abs. 1, 14 LFZG darin, den Arbeitgebern die Last, die für sie in der Auferlegung des Risikos einer Erkrankung ihrer Arbeitnehmer liegt, „durch ihre Einbeziehung in eine Ausgleichsgemeinschaft zu erleichtern“44. In der Entscheidung über die Entgeltfortzahlungspflicht im Falle von Zusatzurlaub betrachtet das Bundesverfassungsgericht ersichtlich sogar für alle Arbeitgeber, also auch für die Inhaber großer und größter Betriebe die Umlage der Kosten durch Schaffung einer Solidareinrichtung als die weniger schwerwiegende Belastung45. aa) Der Hauptvorzug eines kollektiven Ausgleichsverfahrens gegenüber einer rein individualarbeitsvertraglichen Lösung liegt dabei darin, daß es das mit letzterer verbundene Zufallselement vermeidet. Die Erkrankung eines Arbeitnehmers trifft nämlich den einzelnen Arbeitgeber in aller Regel zufällig, zumal die Entgeltfortzahlungspflicht ja nicht auf berufsbedingte Krankheiten beschränkt ist; der Arbeitgeber, dessen Angestellte wesentlich häufiger oder länger als die eines anderen Arbeitgebers krank werden, hat einfach Pech gehabt. Eine Verteilung von Lasten nach dem Zufallsprinzip ist aber grundsätzlich ungerecht, weil ihr ex praemissione kein sachbezogenes Kriterium zugrundeliegt. Bei größeren und erst recht bei sehr großen Betrieben nimmt das Zufallsrisiko freilich stark ab; denn zum einen wächst bei ihnen die statistische Wahrscheinlichkeit, daß dieses Risiko vergleichbare Betriebe ungefähr in gleichem Ausmaß treffen wird, und zum anderen läßt es sich wegen seiner größeren Häufigkeit besser kalkulieren und in die Betriebskosten einrechnen. Bei Kleinbetrieben pas42 Vgl. näher Canaris, JZ 1987, S. 995; ebenso i. E. z. B. BVerfGE 70, S. 1, 25 ff.; Badura, Staatsrecht, 2. Aufl., 1996, Rdnr. C 82; Höfling (Fn. 24), S. 40. 43 Vgl. z. B. BVerfGE 19, S. 330, 337; 30, S. 292, 315 f.; 53, S. 135, 145. 44 Vgl. BVerfGE 48, S. 227, 236 (Hervorhebung hinzugefügt). 45 Vgl. BVerfGE 77, S. 308, 337; ähnlich BVerfGE 85, S. 226, 237 und 238.
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sen diese Gesichtspunkte dagegen nicht, so daß hier das Zufallselement voll durchschlägt. Deshalb bildet für sie – wie auch immer der Gesetzgeber ihre größenmäßige Abgrenzung im einzelnen vornehmen mag – ein Umlageverfahren in der Tat das mildere Mittel und den schonenderen Eingriff. Demgemäß folgt nicht nur aus dem oben II. 1. e) erörterten Systemargument in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG, sondern auch aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG das Gebot, eine Sonderbestimmung für Kleinbetriebe zu schaffen. Wird nämlich eine Gruppe typischer Fälle – und als solche sind die Kleinbetriebe grundsätzlich zu qualifizieren – ohne zureichende sachliche Gründe durch eine Berufsausübungsregelung wesentlich stärker belastet als die übrigen Betroffenen – hier also die mittleren und großen Betriebe –, so ist grundsätzlich Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG verletzt46, sofern der Gesetzgeber keine entsprechende Ausnahmevorschrift schafft. Dabei fungiert Art. 3 Abs. 1 GG hier natürlich in der Form des negativen Gleichheitssatzes, wonach ungleiche Tatbestände unterschiedlich zu behandeln sind, wohingegen es oben II. 1. – insbesondere auch bei dem unter e) erörterten Systemargument – um die positive Seite des Gleichheitssatzes ging. bb) In die gleiche Richtung weist, daß durch ein Ausgleichs- und Umlageverfahren die Störung der Austauschgerechtigkeit stark abgemildert wird. Eine solche liegt in der Pflicht zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall aufgrund der massiven und rigiden Durchbrechung des Grundsatzes „Ohne Arbeit kein Lohn“47; denn zum einen ist dem Arbeitgeber das Risiko einer Erkrankung des Arbeitnehmers grundsätzlich – d. h. abgesehen von den berufsbedingten Krankheiten – nicht zuzurechnen, sondern stammt aus der Sphäre des letzteren, und zum anderen besteht die Zahlungspflicht nach § 3 EFZG völlig unabhängig von den Umständen des konkreten Falles – insbesondere der Dauer der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers, der Art seiner Tätigkeit, der Größe des Betriebs und dgl. –, so daß sie über eine bloße Konkretisierung des dem Arbeitsverhältnis immanenten Fürsorge– oder Treuepflichtelements weit hinausgeht48. Unter Äquivalenzgesichtspunkten läßt sich die Entgeltfortzahlungspflicht daher allenfalls bei einer Sichtweite legitimieren, die den Leistungen des Arbeitgebers nicht in isolierender Betrachtung die Leistungen des jeweiligen Arbeitnehmers im Einzelarbeitsverhältnis, sondern die Gesamtleistung der Belegschaft
Vgl. z. B. BVerfGE 30, S. 292, 327; 34, S. 71, 78 f.; 59, S. 336, 355; 68, S. 155, 173. Vgl. eingehend Canaris (Fn. 41) unter V 1 c. 48 Ähnlich Zöllner, AcP 176 (1976) 241; ders, NJW 1990, S. 5; Staudinger-Oetker (Fn. 1), § 616 Rdnrn. 138 ff.; vgl. auch Erman-Hanau, 9. Aufl., 1993, § 616 Rdnr. 1. Besonders kraß wird die Störung der Austauschgerechtigkeit und die Loslösung vom Fürsorgegedanken deutlich, soweit der Zweck der Entgeltfortzahlung in einer Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen liegt, vgl. dazu MünchArbR-Schulin, 1992, § 80 Rdnrn. 5, 22, 24. 46 47
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gegenüberstellt49. Das aber paßt um so schlechter, je kleiner der Betrieb ist, kann doch die Belegschaft im Grenzfall geradezu allein aus dem kranken Angestellten als einzigem Arbeitnehmer bestehen. Auch unter diesem Aspekt gelangt man somit folgerichtig zu dem Ergebnis, daß für Inhaber von Kleinbetrieben ein Umlageverfahren milder und schonender ist als eine nicht durch ein solches abgefederte Entgeltfortzahlungspflicht. cc) Hinzu kommt schließlich auch im vorliegenden Zusammenhang, daß sich das Fehlen eines Umlageverfahrens u. U. zum Nachteil des Arbeitnehmers auswirkt, weil die Belastung des Arbeitgebers mit der Entgeltfortzahlungspflicht einen Grund für eine sozial gerechtfertigte Kündigung darstellen kann (vgl. oben II. 1. d). Der Gesetzgeber erreicht somit sein Ziel, den Arbeitnehmer zu schützen, durch die Einführung eines Umlageverfahrens besser als durch eine rein arbeitsvertragliche Lösung ohne kollektiven Ausgleich. Diese gibt daher auch unter dem Gesichtspunkt der Eignung zu schwersten Bedenken Anlaß. [274] dd) Gegen die hier vorgetragene Argumentation läßt sich nicht einwenden, der Arbeitgeber könne sich durch den Abschluß einer Versicherung selbst gegen die mit der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verbundenen Risiken schützen50. Das ist schon deshalb keine befriedigende Alternative, weil der Inhaber eines Kleinbetriebs oft zu wenig geschäftserfahren und -gewandt sein wird, um von sich aus einen solchen Schritt zu tun. Warum sollte man z. B. vom Inhaber eines Zeitungskiosks oder eines „Tante-Emma-Ladens“ erwarten, daß er eine derartige Versicherung abschließt?! Außerdem ist durchaus ungewiß, ob sich eine hinreichende Zahl von Versicherungsnehmern findet, um ein preisgünstiges Angebot zu einer Versicherung dieser Art zu ermöglichen. Im übrigen ist der Hinweis auf eine (angebliche) Versicherungsmöglichkeit des Arbeitgebers auch deshalb kein tragfähiges Argument, weil man es „umkehren“ und den Arbeitnehmer seinerseits auf diesen Weg verweisen könnte. Aus ähnlichen Gründen liegt auch in der Schaffung eines freiwilligen Ausgleichsverfahrens gemäß § 19 LFZG kein adäquater Ausweg. Denn selbst wenn man diese Möglichkeit auch den Arbeitgebern von Angestellten eröffnen würde51, bliebe doch das Problem, daß es der Initiative der Kleinbetriebsinhaber überlassen wäre, ob sie einer solchen Einrichtung beitreten, ja u. U. sogar, ob diese überhaupt ins Leben gerufen wird.
Kritisch auch dazu freilich mit guten Gründen Zöllner, NJW 1990, S. 5 f. Vgl. zum folgenden näher Canaris (Fn. 41), unter V 2 e. 51 Das wird im Schrifttum z. T. abgelehnt, vgl. Schmitt (Fn. 6), § 19 LFZG Rdnr. 6; die Verfassungswidrigkeit einer derartigen Begrenzung wäre freilich evident, zumal § 19 Abs. 3 LFZG eine steuerrechtliche Privilegierung enthält, doch dürfte die Vorschrift heute nicht mehr in diesem Sinne auszulegen sein, da sie sich nunmehr auf § 3 EFZG bezieht und dadurch wohl auch die Entgeltfortzahlung an Angestellte umfaßt. 49 50
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3. Zusammenfassung und Ergebnis a) Die Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG Daß Inhaber von Kleinbetrieben keinen Ausgleichsanspruch nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG für die Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte haben, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Das gilt schon deshalb, weil es gemessen am Normzweck von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG keinen vernünftigen, sachlich einleuchtenden Grund dafür gibt, Zahlungen an Angestellte insoweit anders zu behandeln als Zahlungen an Arbeiter; demgemäß ist Art. 3 Abs. 1 GG sogar vom Boden der älteren, am Willkürverbot orientierten Sichtweise aus, erst recht aber nach der „neuen Formel“ des Bundesverfassungsgerichts verletzt (vgl. oben II. 1. b). Ein weiterer, eigenständiger Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG besteht darin, daß dem Arbeitgeber nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 und 3 LFZG ein Ausgleichsanspruch zwar bei Zahlungen an dem Mutterschutz unterliegende Angestellte, nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG dagegen nicht bei Zahlungen an kranke Angestellte zusteht (vgl. oben II. 1. c). Indem der Gesetzgeber hinsichtlich der Fälle des Mutterschutzes nicht zwischen Arbeiterinnen und Angestellten differenziert, zeigt er außerdem selbst, daß diese Unterscheidung für die Problematik der Entgeltfortzahlung durch Inhaber von Kleinbetrieben sachwidrig ist. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ergibt sich schließlich auch daraus, daß kranke Angestellte in Kleinbetrieben kündigungsschutzrechtlich eine schwächere (!) Stellung haben als kranke Arbeiter, weil sich das Fehlen eines Ausgleichsanspruchs nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG im Rahmen der sozialen Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2 KSchG zu ihrem Nachteil auswirken kann (vgl. oben II. 1. d). b) Die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Übermaßverbot Außerdem ist Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, weil die Pflicht zur Entgeltfortzahlung gemäß § 3 EFZG für die Inhaber von Kleinbetrieben gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verstößt, sofern sie nicht durch ein Ausgleichs- und Umlageverfahren (oder eine ähnliche Einrichtung) flankiert wird. Die letztere Lösung stellt für diese Arbeitgeber nämlich das mildere Mittel und den schonenderen Eingriff dar. Denn zum einen vermeidet sie das Zufallselement, das eine rein individualarbeitsvertragliche Lösung zwangsläufig mit sich bringt, und zum anderen vermindert sie die Störung der Austauschgerechtigkeit, die in vielen Fällen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall eintritt (vgl. oben II. 2. c).
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c) Der Gegenstand der Vefassungsverstöße und ihrer gerichtlichen Überprüfung Eine Zusammenschau der verschiedenen Verfassungsverstöße ist erforderlich, um Klarheit darüber zu gewinnen, was genau deren Gegenstand ist. Ist § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG verfassungswidrig, weil diese Vorschrift auf Zahlungen an Arbeiter beschränkt ist und durch die Ausklammerung von Zahlungen an Angestellte die Problematik überhaupt erst heraufbeschwört? Oder ist § 3 EFZG insoweit verfassungswidrig, als die Arbeitgeber von Angestellten in Kleinbetrieben zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle verpflichtet werden, ohne daß ihnen diese Last durch ein Ausgleichs- und Umlageverfahren erleichtert wird? Oder sind gar beide gesetzlichen Regelungen verfassungswidrig? In der Tat sind sowohl § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG als auch § 3 EFZG von den Verfassungsverstößen betroffen. Für § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG ergibt sich das daraus, daß die Beschränkung dieser Vorschrift auf Zahlungen an Arbeiter die Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG zur Folge hat. Durch diese wird jedoch auch § 3 EFZG berührt. Denn ohne die aus dieser Vorschrift folgende Entgeltfortzahlungspflicht würde das Fehlen eines Ausgleichsanspruchs für Zahlungen an Angestellte gar keine Belastung für den Arbeitgeber darstellen, so daß dieses Regelungsdefizit seine Relevanz überhaupt nur durch § 3 EFZG erhält. Außerdem ist diese Vorschrift, wie dargelegt, auch ihrerseits unabhängig von dem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG wegen der Verletzung von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungswidrig. Insgesamt besteht somit ein so enger Regelungszusammenhang zwischen § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG und § 3 EFZG, daß die verfassungsrechtliche Prüfung und das verfassungsrechtliche Verdikt beide Bestimmungen gemeinsam betreffen müssen. Das Zusammenwirken von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG und § 3 EFZG hat die wichtige praktische Konsequenz, daß die Verfassungswidrigkeit der Gesetzeslage grundsätzlich anhand jeder der beiden betroffenen Normen zur gerichtlichen Prüfung gestellt werden kann52. Auf diese sei abschließend näher eingegangen, weil erst dadurch die volle Dimension der Problematik zu Tage tritt. III. Die prozessualen Möglichkeiten zur Geltendmachung der Verfassungsverstöße und die Rechtsfolgen Mit der bloßen Feststellung, daß die derzeitige Gesetzeslage bezüglich der Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte wegen des Fehlens einer Kleinbetriebsregelung verfassungswidrig ist, ist den betroffenen Arbeitgebern wenig geholfen, 52
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solange nicht klar ist, wie die Verfassungsverstöße gerichtlich geltend gemacht werden können und welche Rechtsfolgen sie auslösen. Dabei ergeben sich z. T. schwierige und überaus interessante Probleme, doch können diese hier nur in Umrissen skizziert werden, da sie primär allgemein-verfassungsrechtlicher oder verfassungsprozessualer Natur sind und demgemäß den Rahmen der vorliegenden Abhandlung weit überschreiten. 1. Die in Betracht kommenden Rechtsbehelfe a) Die Gesetzesverfassungsbeschwerde Grundsätzlich erscheint es als möglich, daß der Inhaber eines Kleinbetriebs gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG die Regelung des § 3 EFZG mit der Verfassungsbeschwerde direkt angreift. Das Erfordernis, daß er durch das Gesetz gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen sein muß, hat das Bundesverfassungsgericht in dem insoweit eng verwandten Fall einer [275] gesetzlichen Pflicht zur Entgeltfortzahlung an Arbeitnehmer während eines Bildungsurlaubs mit der Begründung bejaht, daß der Arbeitgeber für den betreffenden Fall von vornherein organisatorische und finanzielle Vorkehrungen zu treffen und die zu erwartenden Kosten in seine betriebswirtschaftliche Kalkulation einzubeziehen habe53. Das paßt auch für die vorliegende Problematik. Indessen ist die Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG abgelaufen, so daß dieser Weg heute allenfalls noch von theoretischem Interesse ist. b) Urteilsverfassungsbeschwerde und konkrete Normenkontrolle Den Inhabern von Kleinbetrieben bleibt somit nur die Möglichkeit, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Umweg über einen Prozeß vor den Fachgerichten herbeizuführen. Dafür kommen im wesentlichen zwei Wege in Betracht. Der erste liegt darin, die Entgeltfortzahlung gegenüber einem Angestellten zu verweigern und im Rahmen des von diesem angestrengten Prozesses die Verfassungswidrigkeit der Fortzahlungsregelung geltend zu machen – und zwar sowohl unter dem Aspekt von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG als auch unter dem von Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. dazu oben II. 3. c). Obsiegt der Angestellte, so steht dem Arbeitgeber gegen das letztinstanzliche Urteil gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht offen. Teilt das Arbeitsgericht dagegen die verfassungsrechtlichen Bedenken, so hat es die Proble53
Vgl. BVerfGE 77, S. 308, 326; anders freilich BVerfGE 85, S. 226, 233.
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matik nach Art. 100 Abs. 1 GG. dem Bundesverfassungsgericht im Wege des Normenkontrollverfahrens vorzulegen. Vorstellbar erscheint außerdem auch, daß ein Kleinbetriebsinhaber die nach § 10 Abs. 1 LFZG zuständige Kasse auf Zahlung von 80% des an einen kranken Angestellten fortentrichteten Entgelts (abzüglich des hypothetischen Umlagebeitrags gemäß § 14 LFZG) verklagt. Zur Begründung könnte er etwa vorbringen, § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG sei im Wege der verfassungskonformen Rechtsfortbildung auf Zahlung an Angestellte entsprechend anzuwenden. Für eine solche Analogie besteht zwar in Wahrheit derzeit kein Raum (vgl. oben I. 2. b, aber auch unten III. 2. c), doch stünde dem Arbeitgeber gegen ein klageabweisendes Urteil wiederum die Verfassungsbeschwerde zu, da die Unanwendbarkeit von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt und der Kläger daher in einem Grundrecht verletzt ist – zwar nicht dadurch, daß das Gericht das Gesetz falsch angewandt hat, wohl aber dadurch, daß der Gesetzgeber dieses falsch, weil verfassungswidrig, ausgestaltet hat. 2. Die Rechtsfolgen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts a) Die Unvereinbarkeitserklärung
Das Bundesverfassungsgericht kann ein verfassungswidriges Gesetz nicht nur für nichtig erklären, sondern sich auch darauf beschränken, seine Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festzustellen. Das entspricht der st. Rspr. des Gerichts und ergibt sich auch aus den §§ 31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG. Dieser Weg ist grundsätzlich dann zu beschreiten, wenn dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten offenstehen, um den Verfassungsverstoß zu beseitigen54. Das trifft regelmäßig bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu, kommt aber auch bei der Verletzung anderer Grundrechte wie insbesondere der Freiheit der Berufsausübung gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG in Betracht55. Ein solcher Fall ist hier gegeben. § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG für nichtig zu erklären, wäre ohnehin ganz und gar sinnwidrig, weil es ja nicht um die Beseitigung, sondern im Gegenteil um den konsequenten Ausbau dieses Regelungsmodells geht. Auch eine Nichtigerklärung von § 3 EFZG insoweit, als diese Vorschrift den Inhabern von Kleinbetrieben eine Pflicht zur Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte auferlegt, ist nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen. Denn der Verfas54 Vgl. z. B. BVerfGE 48, S. 227, 239 f.; 77, S. 308, 336; 82, S. 126, 154 f.; 87, S. 114, 136; vgl. dazu im übrigen eingehend Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 3. Aufl., 1994, Rdnrn. 359 ff. 55 Vgl. z. B. BVerfGE 77, S. 308, 327 und 85, S. 226, 237f. zu Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG; a. A. insoweit Schlaich (Fn. 54), Rdnrn. 369 und 375.
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sungsverstoß kann nicht nur durch die Freistellung der Kleinbetriebsinhaber von der Entgeltfortzahlungspflicht behoben werden – diese Lösung liegt sogar ausgesprochen fern ! –, sondern auch und in erster Linie durch eine Erstreckung des Ausgleichs- und Umlageverfahrens nach §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 14 LFZG auf Zahlungen an kranke Angestellte. Andererseits kann man aber auch nicht sagen, daß nun gerade diese Lösung den einzigen Ausweg darstellt. Vielmehr hat der Gesetzgeber eine Reihe unterschiedlicher Gestaltungsmöglichkeiten. So könnte er z. B. von der arbeitsvertraglichen zur sozialversicherungsrechtlichen Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall übergehen – mag das derzeit politisch auch noch so unwahrscheinlich sein – und dadurch die Kleinbetriebsproblematik gegenstandslos machen. Er könnte ferner die Einbeziehung von Zahlungen an kranke Angestellte in das Ausgleichs- und Umlageverfahren zum Anlaß nehmen, dieses in bestimmten Punkten zu modifizieren – etwa hinsichtlich der zahlenmäßigen Abgrenzung des Kleinbetriebs, hinsichtlich der Höhe des erstattungsfähigen Betrags oder dgl. Diesen Gestaltungsmöglichkeiten darf das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht vorgreifen. b) Die Auswirkungen der Unvereinbarkeitserklärung, die Problematik der Rückwirkung auf die Altfälle und die Frage der Haftung für legislatives Unrecht aa) Die Unvereinbarkeitserklärung hat in erster Linie zur Folge, daß der Gesetzgeber zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes verpflichtet ist; dafür legt das Bundesverfassungsgericht meist eine Frist fest. Das Verfahren, in dessen Rahmen der Verfassungsverstoß festgestellt worden ist, sowie etwaige weitere Verfahren, in denen dieser relevant ist, sind bis zu einer gesetzlichen Neuregelung auszusetzen, um die Rechtskraftwirkung gemäß bzw. analog § 79 Abs. 2 BVerfGG zu verhindern. bb) Das bedeutet indessen nicht, daß alle diejenigen, die in der Vergangenheit durch den Verfassungsverstoß betroffen worden sind und denen gegenüber die sich aus der alten – verfassungswidrigen – Rechtslage ergebenden Folgen noch nicht bestandskräftig geworden sind, in den Genuß der neuen gesetzlichen Regelung kommen, ja es ist nicht einmal sicher, daß das für den (obsiegenden!) Beschwerdeführer gilt. Die Behandlung dieser Altfälle stellt vielmehr ein schwieriges und bisher nicht hinreichend geklärtes Problemfeld dar. Die Funktion der (bloßen) Unvereinbarkeitserklärung besteht nämlich auch und nicht zuletzt darin, die faktische „Rückwirkung“ zu vermeiden, die mit einer Nichtigkeitserklärung grundsätzlich verbunden ist. Das ist auch durchaus folgerichtig. Denn wenn die Beseitigung des verfassungswidrigen Zustands Aufgabe des Gesetzgebers ist, muß man konsequenterweise dem Umstand Rechnung tragen, daß die Neuregelung für diesen unterschiedliche Probleme aufwerfen kann je nachdem, ob sie die zukünf-
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tige Rechtslage betrifft oder in Sachverhalte eingreift, die in der Vergangenheit liegen. Demgemäß geht das Bundesverfassungsgericht zwar von dem „Grundsatz“ aus, daß „sich die Verpflichtung des Gesetzgebers, eine der Verfassung entsprechende Rechtslage herzustellen, ... auf den gesamten von der Unvereinbarkeitserklärung betroffenen Zeitraum erstreckt“56, anerkennt jedoch wichtige Ausnahmen. Diese hat es dahingehend formuliert, daß „für die Zeit vor der Neuregelung keine Abhilfe verlangt werden kann, wenn sie nach der tatsächlichen Lage praktisch nicht mehr durchführbar wäre oder den Betroffenen keinen Nutzen mehr bringen könnte oder wenn sie nur unter unverhältnismäßig großer Beeinträchtigung anderer schutzwürdiger Belange möglich wäre“57. [276] cc) Ein solcher Ausnahmefall könnte hier gegeben sein. Die Ungleichbehandlung von Zahlungen an kranke Arbeiter und an kranke Angestellte entbehrte nämlich von Anfang an, also seit Inkrafttreten von § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG am 1.1.1970 oder doch zumindest, wenn man der oben II. 1. b) cc) a. E. referierten Argumentation des Bundessozialgerichts folgt, nach einer gewissen Übergangsfrist, binnen derer die Erfahrung mit der Entgeltfortzahlung an Arbeiter genauso groß geworden war wie die mit derjenigen an Angestellte, eines vernünftigen sachlichen Grundes. Den nach § 10 Abs. 1 LFZG zur Zahlung verpflichteten Kassen drohen daher Ansprüche für weit zurückliegende Zeiten. Ob sie diese unter Berufung auf die vierjährige Verjährungsfrist des § 13 Abs. 1 LFZG in Grenzen halten könnten, erscheint zumindest als sehr fraglich; denn ein Ausgleichsanspruch für Zahlungen an Angestellte bestand und besteht ja bisher gar nicht, so daß der Lauf der Verjährungsfrist nach den allgemeinen – und insoweit einem elementaren Gerechtigkeitsgebot entsprechenden58 – Grundsätzen des Verjährungsrechts nicht beginnen kann. Hinzu kommt, daß der Ausgleichsanspruch aus § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG durch das Umlageverfahren nach § 14 LFZG finanziert wird. Würde man aber auch dieses rückwirkend einführen, so würden dadurch alle Inhaber von Kleinbetrieben, die Angestellte beschäftigen, für die Vergangenheit mit entsprechenden Zahlungspflichten belastet, deren Berechnung z. T. praktisch extrem schwierig wäre und die überdies in ihrer plötzlichen Kumulierung für viele Arbeitgeber geradezu ruinös sein könnten. Ob eine derartige Regelung mit dem rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot vereinbar wäre, muß trotz der Tatsache, daß es um die Beseitigung eines Verfassungsverstoßes geht, als äußerst zweifelhaft angesehen werden. dd) Andererseits wäre es überaus unbefriedigend, wenn den Betroffenen bei Grundrechtsverletzungen jede Abhilfe für die Vergangenheit versagt bliebe, nur So BVerfGE 87, S. 153, 178. So BVerfGE 87, S. 114, 137. 58 Vgl. dazu Canaris, Festschrift für Odersky, 1996, S. 758. 56 57
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weil eine rückwirkende Korrektur der verfassungswidrigen Rechtslage an faktischen Schwierigkeiten und/oder kollidierenden Interessen Dritter scheitert. Das würde zu einem schweren Wertungswiderspruch gegenüber den Fällen der Nichtigkeitserklärung führen, die grundsätzlich ex tunc wirkt, ohne daß indessen der ihr zugrunde liegende Grundrechtsverstoß typischerweise wesentlich gravierender ist als in den Fällen einer Unvereinbarkeitserklärung; außerdem findet sogar bei letzterer eine uneingeschränkte Rückwirkung statt, sofern dem Gesetzgeber de facto nur eine einzige Korrekturmöglichkeit zu Gebote steht, so daß er keinen Gestaltungsspielraum hat59. Vor allem aber wäre die Effizienz des Grundrechtsschutzes schwer beeinträchtigt, wenn den von einem Verfassungsverstoß Betroffenen bei Problemgestaltungen wie der vorliegenden für die Vergangenheit jeder Rechtsbehelf abgesprochen würde. Als Ausweg bietet sich – sofern der Gesetzgeber nicht durch eine Sonderregelung für die Altfälle von sich aus für Abhilfe sorgt – eine Staatshaftung für legislatives Unrecht nach § 839 BGB an. Eine solche wird allerdings vom Bundesgerichtshof und Teilen des Schrifttums derzeit noch grundsätzlich abgelehnt60. Die Gegenmeinung61 befindet sich jedoch deutlich im Vordringen. Für sie sprechen in der Tat. die besseren Gründe. Das kann zwar hier nicht näher dargelegt werden, doch bildet die vorliegende Problematik einen besonders signifikanten Beleg dafür, daß die Gewährleistung der Grundrechte ohne die Flankierung durch eine Schadensersatzpflicht des Staates bei verfassungswidrigen Verletzungen eine wesentliche Lücke aufweisen und daher dem Gebot effizienten Rechtsschutzes nicht voll entsprechen würde. Das ist um so weniger tolerabel, seit der Europäische Gerichtshof in der Francovich-Entscheidung sogar für die mangelhafte Umsetzung von Richtlinien und andere Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht eine Staatshaftung postuliert hat62. Versucht man demgemäß im vorliegenden Zusammenhang, die Altfälle nach § 839 BB zu lösen, so muß man sich der Frage nach dem Verschulden der Abgeordneten stellen. Ein solches mag bei Schaffung des LFZG im Jahre 1969 noch zu verneinen gewesen sein, wenn man die Argumentation, daß die Kleinbetriebsklausel des § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG bei Zahlungen an Arbeiter seinerzeit wegen der Neuartigkeit der Lohnfortzahlungspflicht für die betroffenen Arbeitgeber angezeigt war (vgl. oben II. 1. b) cc) a. E.), für plausibel hält. Bei Schaffung des EFZG im Jahre 1994 lag dagegen zweifelsfrei ein Verschulden vor; denn dieses Gesetz hatte gerade die Loslösung der Regelung von der Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten zum Ziel (vgl. oben I. 2. c) bei Fn. 9), und Vgl. BVerfGE 55, S. 153, 178 ff. Vgl. z. B. BGHZ 102, S. 350, 367 f. m. w. Nachw.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 4. Aufl., 1991, § 7, 5. 61 Vgl. z. B. MünchKomm-Papier, 2. Aufl. 1986, § 839 Rdnr. 221. 62 Vgl. EuGH, Slg. 1991, S. 5357. 59 60
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daher hätte ein halbwegs sorgfältiger Abgeordneter, zumindest aber ein Mitglied des Rechtsausschusses des Bundestags zu der Einsicht gelangen müssen, daß es keine stichhaltigen Gründe dafür gab, an dieser Unterscheidung für die Kleinbetriebsproblematik nun doch weiterhin festzuhalten. Man wird ein Verschulden sogar schon im Jahre 1985 anzunehmen haben, als in § 10 LFZG als Abs. 1 Nr. 1 und 2 die Kleinbetriebsklausel für die Zahlungen der Arbeitgeber nach §§ 11, 14 MuSchG aufgenommen wurde63; da dabei nicht zwischen Zahlungen an Arbeiterinnen und an Angestellte differenziert wird, hätte einem Abgeordneten, der seinen gesetzgeberischen Aufgaben gewachsen ist, schon damals klarwerden müssen, daß man folgerichtig auch für den Krankheitsfall nicht mehr an dieser Unterscheidung festhalten durfte. Gewisse Schwierigkeiten kann die Feststellung und Berechnung des Schadens bereiten. Dafür hat man folgerichtig grundsätzlich darauf abzustellen, wie der Gesetzgeber wahrscheinlich entschieden hätte, wenn er seinerzeit den Verfassungsverstoß erkannt hätte. Bei der vorliegenden Problematik wird man davon ausgehen können, daß er dann den sachlich nächstliegenden und gesetzestechnisch einfachsten Weg gewählt und die Kleinbetriebsregelung des § 10 Abs. 1 Nr. 1 LFZG kurzerhand auf Zahlungen an Angestellte erstreckt hätte. Da er das gleiche dann hinsichtlich des Umlageverfahrens nach § 14 LFZG getan hätte, muß sich der Arbeitgeber im Wege der Vorteilsausgleichung diejenigen Beiträge anrechnen lassen, die er seit der mutmaßlichen Gesetzeskorrektur hätte entrichten müssen und also erspart hat. c) Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Gesetzeskorrektur durch analoge Anwendung der §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 14 LFZG Bereinigt der Gesetzgeber einen Verfassungsverstoß nicht binnen der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten bzw. binnen einer angemessenen Frist, so müssen die Gerichte nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten fortführen und „verfassungskonform entscheiden“64. Das könnte zwar auf den ersten Blick als dogmatisch inkonsequent erscheinen65, weil ja bei einer Unvereinbarkeitserklärung die verfassungskonforme Lösung eigentlich in der Zuständigkeit des Gesetzgebers liegt, stellt aber in Wahrheit eine unerläßliche Ergänzung der Fristsetzung dar, da diese anderenfalls ineffektiv bliebe. Kompetenzrechtlich bedeutet das, daß die vorrangige Zuständigkeit des Gesetzgebers zeitlich begrenzt ist. Methodologisch folgt daraus, daß es Vgl. BGBl. 1985 I, S. 713 und dazu Schmitt (Fn. 1), § 10 Rdnr. 6. So BVerfGE 82, S. 126, 155. 65 So in der Tat Schlaich (Fn. 54), Rdnr. 391. 63 64
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nicht nur eine verfassungskonforme Auslegung und Lückenfüllung, sondern auch eine verfassungskonforme richterliche Gesetzeskorrektur gibt. Diese Thematik wird hier deshalb aufgegriffen, weil die vorliegende Problematik auch in dieser Hinsicht ein besonders aufschlußreiches Anschauungsbeispiel bildet. Sie belegt nämlich sehr gut, daß die Gerichte mit einer solchen Aufgabe grundsätz- [277] lich durchaus nicht überfordert sind66. Diese haben vielmehr aufgrund ihrer Bindung an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG diejenige verfassungskonforme Lösung zu wählen, die am gesetzesnächsten ist. Das ist hier zweifellos eine analoge Anwendung der §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 14 LFZG. Daß diese dem Willen des historischen Gesetzgebers widerspricht und also nicht schon im Wege einer verfassungskonformen Rechtsfortbildung praeter legem vorgenommen werden kann (vgl. oben I. 2. b), stellt auf der Ebene der verfassungskonformen Gesetzeskorrektur folgerichtig keinen relevanten Einwand mehr dar. Und auch das – an sich sehr gewichtige – Bedenken, daß die betroffenen Kassen und Arbeitgeber nicht allein auf der Grundlage einer bloßen Analogie mit einer so weitreichenden Neuerung wie der Einführung des Ausgleichs- und Umlageverfahrens für Zahlungen an kranke Angestellte konfrontiert werden dürfen, verliert wegen der vorgängigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und der von der Fristsetzung ausgehenden Ankündigungs- und Warnfunktion seine Triftigkeit.
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Vgl. auch die klare inhaltliche Vorgabe in BVerfGE 85, S. 226, 238.
Das Recht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG als Grundlage eines arbeitsrechtlichen Kontrahierungszwangs Gedanken anläßlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im „Schülerzeitungsfall" IN: ISENSEE/LECHELER (HRSG.), FESTSCHRIFT FÜR WALTER LEISNER, 1999, S. 413–436
Die Diskussion um das hochkomplexe Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht, dem der Jubilar vor vier Jahrzehnten seine Habilitationsschrift gewidmet hat1, ist noch immer nicht zur Ruhe gekommen, ja in letzter Zeit sogar mit besonderer Heftigkeit wieder aufgeflammt. Vor allem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Bürgschaften von einkommens- und vermögensschwachen Verwandten des Hauptschuldners2 hat ein überaus lebhaftes und kontroverses Echo ausgelöst3. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob der Freiheit der Parteien zur inhaltlichen Ausgestaltung von Verträgen von Verfassungs wegen Grenzen gesetzt sind und wo diese gegebenenfalls verlaufen. Noch elementarer als die Inhaltsfreiheit ist die Abschlußfreiheit, und noch heikler als bei jener ist es demgemäß bei dieser, sie unter Rückgriff auf ein Grundrecht einzuschränken. Auch das hat das Bundesverfassungsgericht indessen bereits getan – und zwar im sogenannten Schülerzeitungsfall 4. Da die damit angeschnittene Thematik von Grundrechten und Abschlußfreiheit bisher eher am Rande der wissenschaftlichen Diskussion gestanden hat, soll in diesem Beitrag versucht werden, auch insoweit die Problematik für einen Teilbereich zu vertiefen und insbesondere in dogmatischer Hinsicht die Konturen für ihre Lösung klarer zu zeichnen. Dabei dient die erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Paradigma. [414]
Leisner Grundrechte und Privatrecht, 1960. BVerfGE 89, 214, 232 ff.; vgl. dazu näher unten II 3. 3 Vgl. zuletzt Isensee Festschr. für Großfeld, 1999, S. 485 ff. 4 BVerfGE 86, 122, 127 ff. 1 2
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I. Der Ausgangsfall 1. Grundzüge des Sachverhalts In dem Fall, der dieser Entscheidung zugrunde lag, war der Kläger und, Beschwerdeführer bei der Beklagten zum Betriebsschlosser ausgebildet worden. Während dieser Zeit hatte er einen Artikel in der Schülerzeitung seiner damaligen Berufsschule über seine Eindrücke als Teilnehmer einer Demonstration gegen den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf veröffentlicht und darin u. a. geschrieben: „Wir haben auch absolut nicht vor, uns von sogenannten militanten Demonstranten zu distanzieren. Die Gewalt, die hier von Staat und Wirtschaft ausgeübt wird, rechtfertigt jede Art von Widerstand. Dies soll kein Aufruf zu Gewalttaten sein, sondern vielmehr klarmachen, daß sich die Atomkraftgegner, genauso wie Hausbesetzer und andere dem Staat unliebsame Leute, nicht in ,gewalttätige‘ und ,gewaltlose‘ Lager spalten lassen sollen. Der Kampf gegen den Atomtod sollte so langsam jeden beschäftigen, und auch nach dem 28. Februar wird er weitergehen, nicht nur in Brokdorf, sondern überall auf der Welt!“
Diesen Artikel hatte die Beklagte „zum Anlaß genommen“5, dem Kläger in einem Schreiben mitzuteilen, daß sie nicht in der Lage sei, ihn nach Abschluß seiner Ausbildung in ein ordentliches Arbeitsverhältnis zu übernehmen. Der Kläger hatte daraufhin die Beklagte auf Abschluß eines Arbeitsvertrags verklagt und den Prozeß in allen drei Instanzen verloren. 2. Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesarbeitsgericht ging bei seiner Begründung von § 75 Abs. 1 BetrVG aus, wonach alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit zu behandeln sind, sah in dieser Vorschrift ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB, folgerte daraus, daß § 75 Abs. 1 BetrVG nicht nur den Arbeitgeber und den Betriebsrat binde, sondern auch dem einzelnen Arbeitnehmer das „individuelle Recht“ einräume, nach diesen Grundsätzen behandelt zu werden, und sah Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG als einschlägig an, nach denen der Personalbedarf zunächst durch die bereits im Unternehmen tätigen Mitarbeiter gedeckt werden sollte und die personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen usw. sachlich begründet sein mußte. Gleichwohl verneinte 5 So die Formulierung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. BAG AP Nr. 2 zu § 17 BBiG Bl. 934; es ist demgemäß davon auszugehen, daß der Zeitungsartikel in der Tat ursächlich für das folgende Schreiben der Beklagten und dessen Inhalt war, obwohl jener schon im Frühjahr veröffentlicht, dieses aber erst am 15.10. verfaßt worden war.
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das Bundesarbeitsgericht einen Anspruch des Klägers auf Abschluß eines Arbeitsvertrags, weil die Beklagte bei dessen Ablehnung nicht aus sachfremden oder willkürlichen Erwägungen gehandelt habe. Denn diese sei „wegen seines in dem Artikel der Schüler- [415] zeitung dokumentierten Verhältnisses zur Gewalt und Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung von Forderungen erfolgt“ und „dieses mittelbare Bekenntnis des Klägers zur Gewalt (habe) bei ihr die nicht unberechtigte Befürchtung ausgelöst, der Kläger könne beim Vorliegen bestimmter Fallkonstellationen auch im Betrieb die Gewaltanwendung rechtfertigen“6. Auf die Verfassungsbeschwerde des Klägers hat das Bundesverfassungsgericht das Urteil des Bundesarbeitsgerichts wegen Verletzung von Art. 5 Abs. 1 GG aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Begründung vor allem darauf ab, es sei „keineswegs eindeutig, daß der Artikel ein Bekenntnis zur Gewalt enthält“; vielmehr seien „andere Auslegungen denkbar, wenn nicht sogar naheliegend“7. Außerdem halte „es einer Überprüfung nicht stand, daß das Bundesarbeitsgericht ohne kritische Würdigung des Artikels über die Beobachtungen und Erlebnisse des Beschwerdeführers auf dessen allgemeine Gewaltbereitschaft geschlossen hat, die auch bei innerbetrieblichen Auseinandersetzungen zum Tragen kommen könne“8. Im übrigen wird auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die im Schrifttum ganz überwiegend auf Kritik gestoßen ist9, erst im Rahmen der weiteren Erörterungen näher eingegangen werden10. Das Bundesarbeitsgericht hatte leider keine Gelegenheit zu einer erneuten Stellungnahme, weil der Rechtsstreit nach der Zurückverweisung durch Anerkenntnisurteil zugunsten des Klägers entschieden worden ist 11. 3. Der Schülerzeitungsfall als Paradigma für die Schwierigkeiten des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht Der Schülerzeitungsfall ist in der Tat besonders gut als Paradigma für die Schwierigkeiten geeignet, die das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht aufwirft. Das gilt zunächst schon in konstruktiv-dogmatischer Hinsicht. Einerseits liegt nämlich in der Ablehnung eines Vertragsschlusses durch die Beklagte
AaO unter II 3 b. BVerfGE 86, 122, 130 unter 4 a. 8 AaO S. 130 unter 4 b. 9 Vgl. Boemke NJW 1993, 2083 ff.; Hillgruber ZRP 1995, 6 ff.; Ossenbühl DVBl. 1995, 911; Herrmann ZfA 1996, 57 f.; zurückhaltender Reuter EzA 1993, Art. 5 GG Nr. 22. 10 Vgl. vor allem unten III 1 und 3. 11 Urteil vom 11.11.1992, 2 AZR 334/92. 6 7
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rechtlich gesehen grundsätzlich ein bloßes Unterlassen 12, und man fragt sich daher – zumindest auf den ersten Blick – mit einiger Irritation, ob und wie ein solches überhaupt als Verfassungsverstoß qualifiziert werden kann, wenn es wie hier einem Privatrechtssubjekt zur Last fällt. Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, [416] daß die Meinungsfreiheit des Klägers erheblich beeinträchtigt war, wenn diesem nur wegen seines Artikels in der Schülerzeitung die Übernahme in ein Arbeitsverhältnis verweigert wurde – und von einer solchen Sachverhaltsgestaltung ist das Bundesarbeitsgericht ersichtlich ausgegangen 13. Dabei darf man sich in diesem Zusammenhang nicht durch den Umstand beirren lassen, daß in dem Artikel möglicherweise ein Bekenntnis zur Gewaltanwendung lag. Denn wenn man dieses durch eine geringfügige Modifikation des Falles hinwegdenkt, bleiben die konstruktiv-dogmatischen Schwierigkeiten gleichwohl unverändert bestehen. Man stelle sich etwa vor, der Kläger habe sich während seiner Ausbildungszeit unter ausdrücklicher Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung als Gegner einer wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie zu erkennen gegeben und die Beklagte habe deshalb den Vertragsschluß abgelehnt; auch wer im Schülerzeitungsfall im Ergebnis dem Bundesarbeitsgericht zu folgen und also die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts abzulehnen geneigt ist, wird bei einer solchen Modifikation des Falles die Erforderlichkeit eines Schutzes der Meinungsfreiheit des Klägers und eine das Privatrecht übersteigende, also verfassungsrechtliche Dimension der Problematik nicht leichthin von der Hand weisen. Auch unter wertungsmäßig-teleologischen Gesichtspunkten weist die Entscheidung durchaus paradigmatischen Charakter auf. Sie läßt nämlich die oft beschworene Gefahr, daß durch einen allzu forcierten Rückgriff auf die Grundrechte die Privatautonomie schweren Schaden nehmen könne, als höchst real erscheinen. Denn ein Kontrahierungszwang, wie ihn das Bundesverfassungsgericht hier ersichtlich annimmt14, stellt einen besonders massiven Eingriff in die Vertragsfreiheit dar, weil er deren elementarste Grundlage – die Abschlußfreiheit – trifft. Das gilt umso mehr, als das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus der Beklagten sogar zu verwehren scheint, sich auf ein Verständnis des Artikels in der Schülerzeitung zu berufen, welches alles andere als willkürlich war, sondern im Gegenteil die ausdrückliche Billigung des Bundesarbeitsgerichts gefunden hatte. Es nimmt daher nicht wunder, daß in einer kritischen Rezension der Entschei-
Vgl. dazu näher unten II 5. Vgl. oben bei und mit Fn. 5. 14 Ausdrücklich steht das allerdings nicht in dem Beschluß, doch kann dieser sinnvollerweise nicht anders verstanden werden, vgl. auch Herrmann ZfA 1996, 58; die Beklagte hatte jedenfalls an diesem Verständnis offenbar keine Zweifel, wie ihr Anerkenntnis (vgl. oben Fn. 11) zeigt. 12 13
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dung die Frage nach dem „Abschied von der Privatautonomie“ gestellt worden ist15. Paradigmatisch ist diese schließlich auch insofern, als sie besonders drastisch zeigt, in welchem Maße sich das Bundesverfassungsgericht in die Kompetenz der Fachgerichte einmischt16. Die Auslegung einer individuellen Äußerung gehört nämlich zu deren ureigensten Aufgaben, ja sie ist bekanntlich sogar weitgehend der Revision entzogen, so daß das Bundesverfassungsgericht hier in die Gefahr [417] gerät, nicht nur die Rolle eines Superrevisionsgerichts, sondern partiell sogar die eines Superberufungsgerichts in Anspruch zu nehmen. II. Dogmatische Grundlagen 1. Von der Drittwirkung zur Schutzgebotsfunktion der Grundrechte Ausdrücklich geregelt ist die Einwirkung der Verfassung auf das Verhalten von Privatrechtssubjekten nur in Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Danach sind Abreden, welche die Koalitionsfreiheit einschränken oder zu behindern suchen, nichtig und hierauf gerichtete Maßnahmen rechtswidrig. Mit Recht wird hieraus für den Fall, daß die Einstellung eines Arbeitnehmers mit Rücksicht auf seine Koalitionszugehörigkeit unterbleibt, die Möglichkeit eines Anspruchs auf Abschluß eines Arbeitsvertrags abgeleitet17, indem Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB qualifiziert und darauf grundsätzlich – d. h. insbesondere vorbehaltlich des häufig scheiternden Kausalitätsbeweises 18 – ein Einstellungsanspruch als Naturalrestitution gemäß § 249 Satz 1 BGB gestützt wird. Läßt sich dieses Denk- und Konstruktionsmodell nun ohne weiteres auf die vorliegende Problematik übertragen, so daß man im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 GG ebenso argumentieren kann wie im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG? Darin läge eine unmittelbare Drittwirkung in dem Sinne, daß nicht nur der Staat und seine Organe, sondern auch die Subjekte des Privatrechts Adressaten der Grundrechte sind. Eine solche Konzeption wird heute bekanntlich ganz überwiegend abgelehnt19. Es ist nicht der Sinn des vorliegenden Beitrags, erneut in diese So Hillgruber ZRP 1995, 6. Vgl. auch die im Ton moderate, in der Sache aber unmißverständliche Kritik, die Ossenbühl DVBl. 1995, 911 unter diesem Gesichtspunkt an der Entscheidung übt. 17 Vgl. z. B. Löwisch Arbeitsrecht, 4. Aufl. 1996, Rdn. 147 und 1205; Buchner in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 1992, § 36 Rdn. 75 f. und § 37 Rdn. 218 f. (mit Einschränkungen). 18 Sehr skeptisch insoweit Buchner aaO § 37 Rdn. 218 („läßt sich kaum jemals dartun“). 19 Vgl. zuletzt Isensee aaO (Fn. 3) S. 491; vgl. im übrigen zum gegenwärtigen Stand der Drittwirkungslehre Rüfner in Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Band V, 1992, § 118 Rdn. 24 ff. 15 16
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Diskussion einzutreten, zumal die für die h. L. sprechenden Gründe an anderer Stelle ausführlich dargelegt worden sind20. Und es erscheint auch nicht angezeigt, die von Leisner in seiner Habilitationsschrift entwickelte Konzeption daraufhin zu untersuchen, ob sie wirklich – wie meist angenommen wird – der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung zuzuordnen ist; denn zum einen ist diese Terminologie nicht eindeutig21, so daß eine solche Zuordnung interpretatorisch schwierig und sachlich wenig ergiebig ist, und zum anderen wird sich zeigen, daß sich die Arbeit [418] Leisners auch beim heutigen Diskussionsstand und unabhängig von der Kontroverse um die unmittelbare oder mittelbare Drittwirkung ohne weiteres fruchtbar machen läßt22. Demgemäß sei im Einklang mit der heute ganz vorherrschenden Ansicht davon ausgegangen, daß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG kein generalisierungsfähiges Grundmodell darstellt und daß demgemäß nach einer anderen Möglichkeit gesucht werden muß, um einen auf Art. 5 Abs. 1 GG gestützten (etwaigen) Kontrahierungszwang dogmatisch zu fundieren. Eine solche könnte in dem Rückgriff auf die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte liegen. Der Vorschlag, diese für die Umsetzung der Grundrechte im Privatrecht fruchtbar zu machen23, hat im Schrifttum weitgehend Zustimmung gefunden24 und ersichtlich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie jüngst auch die des Bundesarbeitsgerichts beeinflußt25. Der zentrale Gedanke besteht dabei in einer verhältnismäßig einfachen Überlegung: Da die in den Grundrechten (mit)enthaltenen Schutzgebote den Staat zum Schutz des einen Bürgers vor dem anderen verpflichten, können sie auch und nicht zuletzt im Privatrecht von Verfassungs wegen dazu führen, daß das objektive Recht Beeinträchtigungen von grundrechtlich geschützten Gütern durch andere PrivatrechtsVgl. Canaris AcP 184 (1984) 202 ff. Wenn man überhaupt an der Drittwirkungsterminologie festhalten will, sollte man der Klarheit halber nur solche Positionen als „unmittelbare“ Drittwirkung bezeichnen, nach denen auch die Subjekte des Privatrechts Normadressaten der Grundrechte sind und nach denen daher die Regelung von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG in praktischer wie dogmatischer Hinsicht Leitbildfunktion besitzt, vgl. näher Canaris Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 34 f. 22 Vgl. unten bei Fn. 30 und Fn. 39. 23 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 225 ff. und JuS 1989, 163 f. 24 Vgl. z. B. Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/ 1, 1988, § 76 III 4 b und 5; Rüfner aaO (Fn. 19) § 117 Rdn. 60 mit Fn. 180; Hermes NJW 1990, 1765; Höfling Vertragsfreiheit, 1991, S. 53; H. H. Klein DVBl. 1994, 492; J. Hager JZ 1994, 378 ff.; Oeter AöR 119 (1994) 536 f., 549 f.; Spieß DVBl. 1994, 1225; Jarass AöR 120 (1995) 352 f.; Singer JZ 1995, 1136 ff.; Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 299 ff.; Isensee Festschr. für Kriele, 1997, S. 32 und Festschr. für Großfeld, 1999, S. 497 f. (mit Einschränkungen S. 501 ff., vgl. dazu unten II 3); Langner Die Problematik der Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, 1998, S. 88 ff., 201 ff., 244 f.; weitere Nachweise bei Canaris aaO (Fn. 21) S. 38 Fn. 91; ablehnend vor allem Zöllner AcP 196 (1996) 11 f., 36; Diederichsen AcP 198 (1998) 249 ff. 25 Das gilt vor allem für die Handelsvertreterentscheidung BVerfGE 81, 242, 252 ff. und die Bürgschaftsentscheidung BVerfGE 89, 214, 232 ff.; vgl. ferner BAG NZA 1998, 715; 1998, 716. 20 21
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subjekte zu verhindern hat – sei es im Wege der Gesetzgebung oder sei es durch die diese ergänzende oder ersetzende Rechtsprechung 26. Diese Konzeption ermöglicht es, einerseits an der Einsicht festzuhalten, daß Adressat der Grundrechte nach geltendem Verfassungsrecht grundsätzlich nur der Staat und – außer im Falle von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG – nicht ein Privatrechtssubjekt als solches ist, andererseits aber zugleich dogmatisch zu erklären, daß und warum die Grundrechte gleichwohl auf das Verhältnis zwischen den Privatrechtssubjekten einwirken können. Die Grundrechte richten sich dabei unmittelbar an den Gesetzgeber und den Richter bzw. seinen Spruch27 und entfalten auf diesem Umweg – also wenn man so will mittelbar – [419] Rechtswirkungen gegenüber den Privatrechtssubjekten, die zwar nicht an die Grundrechte als solche, wohl aber mit Selbstverständlichkeit an das – gegebenenfalls von diesen beeinflußte – einfache Recht gebunden sind (welches deshalb aber nicht notwendigerweise verfassungsfest wird, weil es in der Regel einen weiten Spielraum und daher unterschiedliche Möglichkeiten zur Erfüllung der Schutzgebotsfunktion besitzt28). Man kann daher in der Tat sagen, daß „die Schutzpflicht legitime Belange der Drittwirkungslehre verarbeitet und erledigt“29. Diesem Lösungsansatz dürfte die Konzeption Leisners durchaus nahestehen. Klarsichtig hat dieser nämlich darauf hingewiesen, daß der „Wertbegriff“ der Menschenwürde „nur völlig allseitig geschützt (!) werden kann“, und daran die kritisch-rhetorische Frage geknüpft, ob „wirklich in den ,Menschenwürdegehalt‘ aller Grundrechte ... jene eigenartige Doppelgesichtigkeit gelegt werden soll, nach der es ,in einer Hinsicht‘ (gegenüber staatlichem Zwang) nötig ist, ihn unverbrüchlich zu schützen (!), er in anderer jedoch (im Privatrecht) vollständig aufhebbar erscheint?“30 Mit Recht hat er dabei außerdem an Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG 26 Vgl. näher die ausführliche Zusammenfassung der Argumentation und des Diskussionsstandes bei Canaris aaO (Fn. 21) S. 37 ff. 27 Wie die Bindung des Richters an die Grundrechte im Privatrecht dogmatisch genau zu erklären ist, ist umstritten; richtig dürfte sein, die ratio decidendi als Norm zu formulieren und dann wie eine solche unmittelbar an den Grundrechten zu messen, vgl. eingehend Canaris aaO (Fn. 21) S. 23 ff. 28 Vgl. dazu näher Canaris aaO (Fn. 21) S. 81 ff. 29 So Isensee Festschr. für Großfeld, 1999, S. 498; anders noch ders. Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 35: „Das Konzept der grundrechtlichen Schutz- und Eingriffsbeziehungen hat nichts zu tun mit der Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte“. Eine Kombination von Schutzpflichtkonzept und Drittwirkungslehre vertritt Langner aaO (Fn. 24) S. 245 f., wonach letztere offenbar im Rahmen bereits vorhandener Normen wie vor allem der Generalklauseln einzelfallbezogen den Rückgriff auf die Grundrechte eröffnet, ersteres dagegen die Grundlage für die Entwicklung der Schutznormen als solcher bildet; diese Trennung erscheint nicht als zweckmäßig, da auch die einzelfallbezogene Konkretisierung und Anwendung von Normen der Verwirklichung von grundrechtlichen Schutzpflichten dienen kann und eine solche oft überhaupt nur auf diese Weise möglich ist. 30 Leisner aaO (Fn. 1) S. 147; vgl. ferner das wörtliche Zitat unten bei Fn. 39.
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erinnert, wonach der Staat die Menschenwürde nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen hat – ein Hinweis, der sich im Zusammenhang mit der Drittwirkungslehre bemerkenswerter Weise übrigens auch schon bei seinem Antipoden Dürig findet31 –, und hervorgehoben, daß „gerade in jenem ‚Naturzustand‘ ... die ,Drittrichtung‘ ja primär ist und sich erst langsam zur Staatsrichtung ,verdichtet‘“32. Hier wird sowohl diejenige Bestimmung des Grundgesetzes, in deren Wortlaut die Schutzgebotsfunktion wohl am deutlichsten anklingt, ins Feld geführt als auch der Grundgedanke thematisiert, der historisch und teleologisch gesehen ihre wichtigste Grundlage bildet: die Aufgabe des Staates, Frieden und Sicherheit zu gewährleisten, also (u. a.) den einen Bürger vor dem anderen effizient zu schützen33. Vor diesem Hintergrund gewinnt zugleich der Befund Leisners besonderes Gewicht, [420] daß die Grundrechte ursprünglich mit „allseitiger Tendenz“ entstanden sind und erst im 19. Jahrhundert eine fast ausschließliche „Staatsrichtung“ erlangt haben34. Daher liegt die Schlußfolgerung nicht fern, daß auch Leisner sich die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte zunutze gemacht hätte, wenn sie seinerzeit schon vom Bundesverfassungsgericht wiederentdeckt gewesen wäre und einen anerkannten Platz in der Grundrechtsdogmatik gehabt hätte, doch ist es müßig, hierüber zu spekulieren; alles andere als müßig ist dagegen der Hinweis, wie nahe die Gedanken Leisners immer noch bei den heutigen Schwerpunkten der Diskussion um das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht liegen35. 2. Zwischen Übermaß- und Untermaßverbot Die Schutzgebotsfunktion kommt sozusagen „von unten“, indem sie von Verfassungs wegen verhindert, daß Staat und (einfaches) Recht ein gewisses Minimum an Schutz unterschreiten36. Damit wird indessen nur die eine Seite der Problematik erfaßt. Das zeigt sich schon bei der grundlegenden LüthEntscheidung37. Wenn das Bundesverfassungsgericht es hier als Verstoß gegen 31 Vgl. Dürig Festschr. für Nawiasky, 1956, S. 176 und in Maunz/Dürig Art. 1 Abs. III Rdn. 102 und 131. 32 Leisner aaO (Fn. 1) S. 148. 33 Vgl. dazu eindringlich Isensee HStR Band V, 1992, § 111 Rdn. 25 ff., 32 ff.; im Ansatz ähnlich Canaris AcP 184 (1984) 226 f. 34 Leisner aaO (Fn. 1) S. 3 ff., 332 f. 35 Vgl. dazu alsbald noch einmal bei Fn. 39. 36 Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht daher z. B. in seiner Entscheidung zur Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG die verfassungsrechtliche Prüfung darauf beschränkt, ob der „durch Art. 12 Abs. 1 GG gebotene Mindestschutz der Arbeitnehmer“ gewährleistet ist, vgl. BVerfGE 97, 169 Leitsatz 2 und S. 178 (Hervorhebung hinzugefügt). 37 BVerfGE 7, 198.
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Art. 5 Abs. 1 GG angesehen hat, daß ein Zivilgericht dem Beschwerdeführer Lüth einen Boykottaufruf gegen einen Film wegen (angeblichen) Verstoßes gegen § 826 BGB untersagt hatte, so ging es dabei nicht darum, Lüth vor dem Verhalten eines anderen Privatrechtssubjekts – d. h. der Klägerinnen – zu schützen, sondern vielmehr darum, daß das Zivilgericht, also ein staatliches Organ seine Meinungsfreiheit durch eine unzutreffende, weil mit Art. 5 Abs. 1 GG unvereinbare Auslegung von § 826 BGB verletzt hatte. Der Sache nach handelte es sich dabei offenkundig um einen Verstoß gegen das Übermaßverbot 38, mag das auch in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts, das in dieser Entscheidung bekanntlich sowohl die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte auf das Privatrecht als auch die „Wechselwirkungstheorie“ zu Art. 5 Abs. 2 GG kreiert hat, nicht klar zum Ausdruck kommen. Unter dem Gesichtspunkt der Schutzgebotsfunktion könnte man hier allenfalls thematisieren, ob den Klägerinnen – es handelte sich um die Herstellungs- und die Vertriebsgesellschaft des Films, zu dessen Boykott Lüth aufgerufen hatte – durch die Abweisung ihrer Klage der Schutz ihres Eigentums (falls Art. 14 GG tatbestandlich überhaupt einschlägig war) oder ob dem Regisseur – der freilich nicht geklagt hatte – der Schutz seiner Kunstfreiheit (falls Art. 5 Abs. 3 GG tatbestandlich überhaupt einschlägig war) zu Unrecht vorenthalten wurde. [421] Noch deutlicher wird das sich hier abzeichnende Spannungsverhältnis zwischen gegenläufigen Grundrechten etwa bei Unterlassungsklagen analog § 1004 BGB wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder der Ehre durch Äußerungen eines anderen Privatrechtssubjekts: Wird der Klage stattgegeben, so kann darin ein unverhältnismäßiger Eingriff in dessen Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG liegen; wird sie dagegen abgewiesen, so kann die Schutzgebotsfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG mißachtet sein. Eine derartige Problematik tritt mehr oder weniger zwangsläufig bei allen Grundrechtskonflikten zwischen Privatrechtssubjekten auf. Auch das hat Leisner bereits mit voller Klarheit gesehen: „Wenn der Richter Verträgen, im Namen der Grundrechte, die Wirksamkeit versagt, wenn er außervertraglichen Ansprüchen, die sich auf Freiheitsrechte stützen, zum Ziel verhilft, so schützt (!) er damit wohl den Freiheitsbereich der einen Partei, beschränkt aber den der anderen und greift insoweit in die Privatautonomie ein (!) ...“39. Damit kommt genau die Gegenläufigkeit von Schutzgebotsfunktion einerseits und Eingriffsverbotsfunktion andererseits zum Ausdruck, um die es hier geht. Folgt man dem Vorschlag, ersterer ein Untermaßverbot zuzuordnen40 – ein Terminus, den inzwischen auch das Vgl. genauer Canaris aaO (Fn. 21) S. 31 f. Leisner aaO (Fn. 1) S. 319. 40 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 228 und 245 sowie JuS 1989, 163. 38 39
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Bundesverfassungsgericht rezipiert hat41 –, so kann man auch sagen, daß die Grundrechte im Verhältnis von Privatrechtssubjekten zueinander ihre Wirkung zwischen den Schranken des Übermaßverbots auf der einen und den Anforderungen des Untermaßverbots auf der anderen Seite entfalten42. Zwischen diesen beiden Grenzmarken steht, wie zur Vermeidung von Mißverständnissen wiederholt sei, dem einfachen Recht – und damit auch der dieses anwendenden und konkretisierenden Rechtsprechung – in der Regel ein verhältnismäßig breiter Spielraum offen, der verfassungsrechtlich nicht determiniert ist43. 3. Schutzgebotsfunktion und Privatautonomie vor dem Hintergrund der Kritik an der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts Im Schrifttum wird die These vertreten, daß die grundrechtlichen Schutzpflichten nur im Anwendungsbereich des Neminem-laedere-Prinzips gelten und nicht über das deliktische Handeln hinaus auf das rechtsgeschäftliche bezogen werden [422] könnten44; denn „gegen die Ausweitung auf den rechtsgeschäftlichen Bereich erheben sich generelle Bedenken, (weil) die grundrechtstypische Gefahrenlage, fehlt, auf welche die reguläre Schutzpflicht antwortet, die Verletzung eines Rechtsguts“45. Insbesondere lasse sich auf diese demgemäß entgegen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Bürgschaftsfall nicht die Inhaltskontrolle von Verträgen stützen, weil diese „nicht an den grundrechtlichen Tatbestand anknüpft, welcher der Schutzpflicht vorausliegt: die Verletzung eines von Verfassungs wegen vorgegebenen absoluten Rechts wie Menschenwürde, Leben, Eigentum“46. Vielmehr führe „die Inhaltskontrolle zu einer grundrechtlichen Anomalie, (weil) die Garantie der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG sich unter dem Einfluß des Topos der strukturellen Unterlegenheit 47 aus einem Freiheitsrecht in eine Freiheitsschranke verwandelt (und) die Grundrechtsfunktion in ihr Gegenteil umschlägt: die Abwehr des Staates in die Abwehr des überlegenen BVerfGE 88, 203, 254 ff. Vgl. Canaris JuS 1989, 163 f.; ähnlich Isensee in HStR Band V § 111 Rdn. 77 ff. und Festschr. für Kriele, 1997, S. 32. 43 Vgl. eingehend Canaris aaO (Fn. 21) S. 44 f. und S. 83 ff. mit Nachw. aus der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts in Fn. 121; vgl. dort S. 86 ff. auch zur Eigenständigkeit des Untermaßverbots gegenüber der Schutzpflicht. 44 So Isensee HStR Band V, 1992, § 111 Rdn. 128 f.; ähnlich Hillgruber Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 149 ff.; im Ansatz und in den Folgerungen ähnlich auch Zöllner AcP 196 (1996) 7 f., 12 f., 36. 45 So Isensee Festschr. für Großfeld, 1999, S. 501. 46 So Isensee aaO S. 502. 47 Dieser Topos spielt in der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine zentrale Rolle, vgl. dazu unten Fn. 57. 41 42
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Vertragspartners, die Gewähr der Vertragsfreiheit in das Verbot, sie auszuüben“, was eine „grundrechtsdogmatische Sensation“ sei48. Hier werden Zentralprobleme sowohl der Schutzgebotsfunktion als auch des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht angesprochen. Können wirklich nur absolute Rechte eine grundrechtliche Schutzpflicht auslösen, so daß die Privatautonomie – die ja in der Tat zweifelsfrei nicht zu diesen gehört – dazu von vornherein nicht taugt? Läßt sich also eine Inhaltskontrolle nach § 138 BGB entgegen der bisher ganz vorherrschenden Ansicht nicht mit einer Beeinträchtigung von Grundrechten begründen? Und wenn das für die Inhaltskontrolle gilt, scheidet dann nicht erst recht die – in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehende – Möglichkeit eines grundrechtlich fundierten Kontrahierungszwangs von vornherein aus? Indessen dürfte sich die These, daß nur absolute Rechte als Grundlage einer grundrechtlichen Schutzpflicht in Betracht kommen, schwerlich halten lassen. Die Figur des absoluten, d. h. gegen jeden Dritten wirkenden Rechts und dessen Unterscheidung von den nur relativen Rechten dient nämlich in erster Linie spezifisch zivilrechtlichen Zwecken wie vor allem der Abgrenzung von Schuld- und Sachenrecht und der Konkretisierung des Begriffs des „sonstigen Rechts“ i. S. von § 823 Abs. 1 BGB, und daher sollte ihre Ergiebigkeit für die Lösung verfassungsrechtlicher Fragen nicht überschätzt werden, auch wenn es gewiß alles andere als ein Zufall ist, daß die elementarsten Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Eigentum zugleich Grundlage absoluter Rechte sind. Daß ein solches in dem vom Bundes- [423] verfassungsgericht entschiedenen Bürgschaftsfall nicht berührt war (wenn man einmal die Sonderproblematik eines Rückgriffs auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht beiseite läßt), zwingt daher nicht von vornherein zu dem Schluß, daß hier eine grundrechtliche Schutzpflicht nicht in Betracht kam. Würdigt man den Bürgschaftsfall unter diesem Aspekt, so muß man sich zunächst dessen spezifisches Charakteristikum vor Augen halten, das in dem Zusammentreffen von zwei gravierenden Nachteilen für die Bürgin besteht: Zum ersten ging es um eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer tatsächlichen Entscheidungsfreiheit, weil sie sich als (21jährige) Tochter des Hauptschuldners dem Wunsch nach Übernahme der Bürgschaft für ihren Vater aus familiären und emotionalen Gründen nur schwer entziehen konnte und der Vertreter der Gläubigerin (einer Sparkasse) außerdem das von ihr übernommene Risiko bagatellisiert hatte49; und zum zweiten lag ein krasses Mißverhältnis zwischen der Höhe der gesicherten Hauptschuld und des von der Bürgin übernommenen Risikos einerseits und ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen andererseits vor,
So Isensee aaO S. 508; ähnlich S. 510, 511, 513. Das ergab sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts, die insoweit (auch) in BVerfGE 89, 214, 219 wiedergegeben sind; vgl. dazu freilich auch unten Fn. 57 a. E. 48 49
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aufgrund dessen nicht damit zu rechnen war, daß sie die Bürgschaftsschuld jemals würde tilgen können50. Wenn das Bundesverfassungsgericht hier eine Pflicht zum Schutz der Privatautonomie der Bürgin angenommen hat, so hat es diese damit nicht in einem formalen, sondern in einem materialen Sinne verstanden51, d. h. nicht auf die rein rechtliche Möglichkeit ihrer Wahrnehmung, sondern auf die tatsächlichen Voraussetzungen ihrer faktischen Ausübung abgestellt. Ein solches Verständnis von Privatautonomie erscheint sinnvoll – und zwar nicht nur zivilrechtlich, sondern auch verfassungsrechtlich. Denn sie besteht zwar primär in der Kompetenz zur Setzung von Rechtsfolgen, doch stellt diese keinen Selbstzweck dar, sondern soll letztlich in der Tat (u. a.) dem Ziel materialer und tatsächlicher Selbstbestimmung dienen52. Daß (auch) letztere unter Art. 2 Abs. 1 GG fällt, dürfte bei der gängigen weiten Interpretation dieses Grundrechts nicht zu bezweifeln sein. Daß sie dann aber keine Grundlage einer hierauf gestützten verfassungsrechtlichen Schutzpflicht soll bilden können, vermag nicht zu überzeugen, weil die Möglichkeit zur faktischen Selbstbestimmung zu den elementarsten Grundrechten des Menschen gehört und sogar einen verhältnismäßig engen Bezug zu seiner Würde im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG aufweist. Das korrespondiert mit der Einsicht, daß es im Verhältnis zwischen Privatrechtssubjekten das Hauptziel der Schutzgebotsfunktion ist, die grundrechtlichen Güter vor tatsächlichen Beeinträchtigungen durch andere Privatrechtssubjekte zu bewahren und ihre [424] tatsächliche Funktionsfähigkeit zu gewährleisten, weil spezifisch rechtliche Eingriffe auf dieser Ebene meist ohnehin nicht möglich sind53. Die Richtigkeit dieser Ansicht läßt sich unterstützen durch das Gedankenexperiment, ob die Verfassung verletzt wäre, wenn das Privatrecht z. B. jeglichen Schutz vor arglistiger Täuschung, widerrechtlicher Drohung und Wucher verweigern würde. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß man darin einen Verstoß gegen die Schutzgebotsfunktion und das Untermaßverbot zu sehen hätte (und daß demgemäß die §§ 123, 138 Abs. 2 BGB als Konkretisierungen derselben anzusehen sind). Auch dabei ginge es aber grundsätzlich „nur“ um Art. 2 Abs. 1 GG und „nur“ um Beeinträchtigungen der tatsächlichen Voraussetzungen freier Selbstbestimmung, nicht dagegen um die Verletzung eines absoluten Rechts (es sei denn, man würde als solches hier das allgemeine Persönlichkeitsrecht bemühen, was man dann aber im Bürgschaftsfall ebenso tun könnte). Das belegt mittelbar
Vgl. aaO S. 220 f., 230 f. Das wird zwar in der Entscheidung nicht ausdrücklich ausgesprochen, entspricht aber dem Duktus der Gedankenführung und klingt in der Berufung auf Wieackers berühmtes Wort von der „materialen Ethik sozialer Verantwortung“ (vgl. aaO S. 233) deutlich an. 52 Zu weiteren Gründen für die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie, die im vorliegenden Zusammenhang indessen keine Rolle spielen, vgl. Canaris JZ 1987, 994 f. 53 Vgl. näher Canaris aaO (Fn. 21) S. 74 f. 50 51
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zusätzlich, daß es nicht richtig sein kann, nur absolute Rechte als mögliche Grundlage einer grundrechtlichen Schutzpflicht anzuerkennen. Bei der hier vertretenen Sichtweise verschwindet die „grundrechtsdogmatische Sensation“, daß „sich die Garantie der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG ... aus einem Freiheitsrecht in eine Freiheitsschranke wandelt“. Es geht vielmehr um eine Variante des zuvor unter 2 behandelten Antagonismus zwischen dem Grundrecht der einen Partei i. V. mit dem Übermaßverbot und dem Grundrecht der anderen Partei i. V. mit dem Untermaßverbot: Es wird in die formale Privatautonomie der Gläubigerin, d. h. in ihre rechtliche Kompetenz eingegriffen, um die materiale Privatautonomie der Bürgin, d. h. ihre tatsächliche Entscheidungsfreiheit zu schützen. Dieser Eingriff unterliegt selbstverständlich der Kontrolle am Übermaßverbot, hält ihr jedoch grundsätzlich stand. Eine gewisse Besonderheit besteht insoweit lediglich darin, daß hier auf beiden Seiten dasselbe Grundrecht einschlägig ist, wenngleich in unterschiedlichen Erscheinungsformen – nämlich einmal als rechtliche Kompetenz und einmal als tatsächliche Möglichkeit –, doch ist nicht ersichtlich, daß sich daraus verfassungsrechtliche Konsequenzen ergeben. Eine weitere Besonderheit liegt darin, daß durch die Inhaltskontrolle zugleich auch die rechtliche Kompetenz der Bürgin selbst eingeschränkt wird und damit das Problem des Schutzes eines Grundrechtsträgers „vor sich selbst“ auftritt, weil sie ja immerhin durch den Abschluß des Vertrags an der Beeinträchtigung ihres Grundrechts mitgewirkt hat. In diese Richtung zielt offenbar die Bemerkung, es fehle an der „Verletzung“ eines Rechtsguts54. Indessen ist dazu an anderer Stelle bereits das Erforderliche gesagt worden, so daß darauf hier der Kürze halber verwiesen werden darf55, zumal dieser Aspekt für die Thematik des Kontrahierungszwangs ohne Belang ist. [425] Insgesamt ist somit an der Ansicht festzuhalten, daß die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte ihre Wirkung auch bei der Inhaltskontrolle von Verträgen entfalten kann, wie das denn auch der h. L. entspricht56. Ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Bürgschaftsfall in anderer Hinsicht zu Kritik Anlaß gibt, bedarf hier keiner Erörterung57. Zuzustimmen ist ihr jedenfalls hinsichtlich Vgl. das Zitat oben bei Fn. 45. Vgl. Canaris aaO (Fn. 21) S. 48 f. 56 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 232 ff. und JuS 1989, 164 ff.; Rüfner HStR Band V, 1992, § 117 Rdn. 64; J. Hager JZ 1994, 378 ff.; Dieterich RdA 1995, l30 und 134 ff.; Singer JZ 1995, 1136 ff.; Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 304 ff.; Enderlein Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 172. 57 Als wenig glücklich erscheint vor allem der Rückgriff auf das – vorher der Privatrechtsdoktrin unbekannte – Kriterium des „strukturellen Ungleichgewichts“ zwischen den Vertragsparteien. Die Kritik, die Isensee aaO (Fn. 45) S. 506 f., 509 daran übt, trifft daher im wesentlichen zu. Durchaus vorzugswürdig ist demgemäß insoweit die Position Zöllners, der statt auf ein angebliches „strukturelles Ungleichgewicht“ – bewährter privatrechtlicher Tradition folgend – 54 55
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der grundsätzlichen Möglichkeit einer Verknüpfung von Schutzgebotsfunktion und Inhaltskontrolle. Unter diesem Gesichtspunkt besteht somit kein Einwand dagegen, die Schutzgebotsfunktion grundsätzlich auch für die Begründung eines Kontrahierungszwangs fruchtbar zu machen, was von vornherein höchst fragwürdig erscheinen müßte, wenn sich auf sie nicht einmal eine Inhaltskontrolle stützen ließe. 4. Schutzgebotsfunktion und Gesetzesvorbehalt In der Auseinandersetzung mit der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist noch ein weiterer Gesichtspunkt vorgebracht worden, der die Relevanz der Schutzgebotsfunktion für das Privatrecht in genereller Weise betrifft und daher auch für die vorliegende Thematik relevant ist. Es ist nämlich kritisiert worden, daß das Bundesverfassungsgericht das Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes mißachtet habe58. Wenn das heißen sollte, daß Generalklauseln wie die §§ 138, 242 BGB diesem Prinzip grundsätzlich nicht genügen, so wäre eine solche Ansicht wahrhaft revolutionär, stellt doch jede Inhaltskontrolle von Verträgen nach diesen Vorschriften – also nicht nur eine auf die Schutzgebotsfunktion von Art. 2 Abs. 1 GG gestützte – einen Eingriff in die Privatautonomie dar, dem dann folgerichtig [426] die erforderliche gesetzliche Grundlage fehlen würde. So allgemein kann diese Kritik daher wohl nicht gemeint sein59. In der Tat ist nicht ersichtlich, warum ein Grundrechtseingriff auf der Grundlage einer zivilrechtlichen Generalklausel mit dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes unvereinbar sein sollte; denn zum einen lassen sich die einschlägigen Probleme meist gar nicht anders als mit Hilfe von Generalklauseln in sachgerechter Weise bewältigen, und zum anderen sind sie in aller Regel nicht von solcher Bedeutung, daß sie nach der „Wesent-
primär auf die Beeinträchtigung der faktischen Entscheidungsfreiheit abstellt, vgl. AcP 196 (1996) 28 ff. und Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996 S. 42 ff. Bezeichnenderweise hat denn auch das Kriterium des „strukturellen Ungleichgewichts“ für die seitherige Behandlung der Bürgschaftsfälle durch den BGH keine nennenswerte Rolle gespielt, vgl. z. B. BGHZ 125, 206, 210 f.; 128, 230, 232 f.; BGH NJW 1996, 1274, 1277 (gebilligt durch BVerfG NJW 1996, 2021). – Äußerst bedenklich erscheint auch, daß das Bundesverfassungsgericht die Deutung, die der BGH der Äußerung des Sparkassenangestellten über die Geringfügigkeit des mit der Bürgschaft verbundenen Risikos gegeben hatte, nicht hingenommen, sondern im Gegenteil geradezu zum Angelpunkt für die Aufhebung der Entscheidung gemacht hat, vgl. BVerfGE 89, 214, 235; dadurch wird in besonders gravierender Weise in die Kompetenz der Fachgerichte eingegriffen, da die Interpretation und Würdigung individueller Äußerungen zu deren genuinen Aufgaben gehört. 58 Vgl. Isensee aaO (Fn. 45) S. 502, 505, 508. 59 Manche Formulierungen von Isensee aaO könnten in dieser Hinsicht freilich Mißverständnisse hervorrufen.
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lichkeitstheorie“60 konkreter Lösungsvorgaben durch den Gesetzgeber selbst bedürfen. Der Schwerpunkt der Kritik an dem Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit den §§ 138, 242 BGB dürfte daher wohl eher in dem Unbehagen daran liegen, daß es diese Generalklauseln nur „pro forma“ zitiert und als „Blankettnormen“ für eine Vertragskontrolle verwendet habe61. Ob man seiner Entscheidung damit wirklich gerecht wird, mag hier dahinstehen; immerhin sei angemerkt, daß das Bundesverfassungsgericht den Fall ja nicht definitiv selbst entschieden, sondern lediglich an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen und seine erneute Prüfung an Hand der im Lichte des Grundgesetzes ausgelegten privatrechtlichen Generalklauseln angeordnet hat, deren Konkretisierung nicht dem Bundesverfassungsgericht, sondern den Fachgerichten obliegt – eine Aufgabe, welcher der BGH inzwischen denn auch in einer reichhaltigen Rechtsprechung zu den Fällen vermögens- und einkommensschwacher Bürgen nachgekommen ist. Im übrigen erscheint es ohnehin als höchst zweifelhaft, ob dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes überhaupt eine wesentliche Bedeutung für die Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten zukommt, doch darf auch dafür auf Ausführungen an anderer Stelle verwiesen werden62. Hier kann es sein Bewenden bei dem Hinweis haben, daß ein (etwaiger) grundrechtlich indizierter Kontrahierungszwang eine zureichende gesetzliche Grundlage in einer Generalklausel jedenfalls dann findet, wenn er nicht nur „pro forma“ an diese angelehnt wird, sondern sich in teleologisch einleuchtender Weise auf sie stützen läßt. 5. Schutzgebotsfunktion und Unterlassen von Privatrechtssubjekten Ein weiteres Grundsatzproblem, welches das Verhältnis von Schutzgebotsfunktion und Kontrahierungszwang aufwirft, ergibt sich daraus, daß die Partei, die den Vertragsschluß ablehnt, den anderen Teil nicht durch ein positives Tun, sondern allenfalls durch ein Unterlassen in seinem grundrechtlich gewährleisteten Gut ver- [427] letzt. Zwar wird die Ablehnung in aller Regel irgendwie ausgesprochen, doch wäre es schlechteste Konstruktionsjurisprudenz, in dieser Äußerung im vorliegenden Zusammenhang63 eine Verletzung durch positives Tun zu Grundlegend BVerfGE 49, 89, 124 ff. So Isensee aaO S. 502 bzw. 505. 62 Vgl. Canaris aaO (Fn. 21) S. 88 ff.; die dort vertretene Ansicht dürfte übrigens nicht in einem unüberbrückbaren Widerspruch zu derjenigen Isensees stehen, wie dessen Ausführungen aaO S. 497 bei Fn. 34 zeigen. 63 Anders mag es in bezug auf eine etwaige Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und den daraus folgenden Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens liegen, wenn die Verweigerung des Vertragsschlusses gegen ein Diskriminierungsverbot verstößt. 60 61
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sehen. Denn der Schwerpunkt des Verhaltens liegt nicht in den Worten, mit denen die Verweigerung des Vertragsschlusses erklärt wird, sondern in dieser selbst und damit in einem Unterlassen. Allerdings können auch die Worte von Bedeutung sein, da sich – wie gerade der Schülerzeitungsfall plastisch belegt – häufig nur aus ihnen der Grund bzw. das Motiv für die Verweigerung ergibt und somit der erforderliche Zusammenhang mit der Beeinträchtigung des Grundrechts erschließen läßt, doch würde man es sich viel zu leicht machen, wenn man mit Hilfe dieses Arguments das Vorliegen eines Unterlassensproblems überspielen würde. Ein Unterlassen ist nun aber bekanntlich grundsätzlich nur rechtswidrig, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln besteht. Man läuft daher Gefahr, hier in einen Zirkel zu geraten, indem man die Pflicht zum Vertragsschluß aus der Beeinträchtigung des betreffenden Grundrechts herleitet, obwohl doch deren Rechtswidrigkeit ihrerseits das Bestehen einer Rechtspflicht zum Handeln voraussetzt. In der Tat ist gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Schülerzeitungsfall eingewandt worden, daß „mangels Pflicht zum Vertragsschluß das Unterlassen der Begründung eines Arbeitsverhältnisses den Bewerber nicht in seinen Rechten verletzen kann, auch wenn die Ablehnung aus sachwidrigen Gründen erfolgt“, und daß „also seine (Grund-)Rechtsverletzung eines Bewerbers durch Unterlassen des Arbeitsvertragsschlusses einen Einstellungsanspruch des Bewerbers voraussetzt, diesen aber nicht begründen kann“64. Diese Ansicht hebt zwar gewiß ein wichtiges Problem ins Bewußtsein, macht es sich jedoch mit ihrer rein konstruktionsmäßigen Begründung viel zu leicht, ja gerät geradezu ihrerseits in die Gefahr eines Zirkels. Auch sie setzt nämlich etwas voraus, das es erst zu begründen gilt: daß die Handlungspflicht nicht aus der Verfassung selbst folgen kann. Verallgemeinert würde eine solche Position bedeuten, daß grundrechtliche Schutzgebote in den Fällen des Unterlassens von Privatrechtssubjekten von vornherein nicht als Grundlage einer Handlungspflicht in Betracht kommen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Vielmehr wird nicht selten das Gegenteil als selbstverständlich vorausgesetzt. So leitet die h. L. z. B. aus dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung, das als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgt ist, grundsätzlich einen Anspruch des Kindes gegen seine Mutter auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters her 65, und auch das Bundesverfassungsgericht geht von diesem Ausgangspunkt aus (wenngleich unter Betonung des dem [428] einfachen Recht dabei zustehenden Spielraums)66. Das beSo Boemke NJW 1993, 2084. Vgl. nur Palandt/Diederichsen 58. Aufl. 1999, Einf. vor § 1591 Rdn. 6 mit Nachw. 66 Vgl. BVerfGE 96, 56, 63 f. 64 65
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deutet nichts anderes als daß die Schutzgebotsfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dazu führen kann, der Mutter (auf der Ebene des einfachen Rechts67) eine Pflicht zur Erteilung der Auskunft aufzuerlegen und also die Pflicht zu einer Handlung zu statuieren, deren Vornahme sie verweigert. In der Tat wäre es eine glatte petitio principii zu behaupten, aus der grundrechtlichen Schutzgebotsfunktion ließen sich von vornherein keine Handlungspflichten für Privatrechtssubjekte herleiten. Vielmehr trifft im Grundsatz das Gegenteil zu. Denn es gibt nun einmal Situationen, in welchen ein grundrechtlich geschütztes Gut nur durch die Mitwirkung eines Privatrechtssubjekts verwirklicht werden kann – wie das eben genannte Beispiel anschaulich demonstriert –, und dann stellt der Rückgriff auf die Schutzgebotsfunktion durchaus den adäquaten Ausweg dar. Man steht eben bei deren dogmatischer Konkretisierung noch weitgehend am Anfang, wie sich auch und gerade im vorliegenden Zusammenhang wieder erweist, und muß demgemäß erst ein differenziertes Instrumentarium entwickeln, mit dessen Hilfe sich das Bestehen einer Schutzpflicht bejahen läßt 68. Hinsichtlich des Auskunftsanspruchs des Kindes gegen seine Mutter geben dabei die Gesichtspunkte den Ausschlag, daß sie dessen Unkenntnis von der Person seines Vaters „veranlaßt“ hat und daß dieses auf ihre Mitwirkung „angewiesen“ ist, um sein grundrechtlich verbürgtes Recht auf Kenntnis seiner Abstammung verwirklichen zu können69. Das sind altbekannte Kriterien, die häufig auftauchen, wo es um die Begründung von Pflichten geht. So muß für die jeweilige Konstellation bereichsspezifisch nach den ihr gemäßen Kriterien gesucht werden. Daß diese zur Bejahung einer Schutzpflicht nur führen können, wenn die Beeinträchtigung des berührten Grundrechts auf einem positiven Tun eines Privatrechtssubjekts beruht, keinesfalls aber auch dann, wenn dieses sich auf ein Unterlassen beschränkt, läßt sich nicht überzeugend begründen. Auch an diesem Hindernis scheitert somit ein grundrechtlich begründeter Kontrahierungszwang nicht von vornherein. III. Meinungsfreiheit und Kontrahierungszwang bei Abschluß eines Arbeitsvertrags Damit sind nunmehr die dogmatischen Grundlagen hinreichend skizziert, um den Ausgangsfall und die ihm zugrunde liegende Problematik wiederaufzugreifen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Schülerzeitungsfall einer kritischen Analyse zu unterziehen. [429] 67 Meist wird in diesem Zusammenhang § 1618a BGB oder auch einfach § 242 BGB bemüht, vgl. Diederichsen aaO. 68 Vgl. dazu Isensee HStR Band V § 111 Rdn. 97 ff.; Canaris aaO (Fn. 21) S. 74 ff. 69 Vgl. näher Canaris aaO (Fn. 21) S. 64.
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1. Die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG als Grundlage für die Lösung der Problematik und die Vorzugswürdigkeit dieser Sichtweise gegenüber der Lehre von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte Das Bundesverfassungsgericht stellt im Ausgangspunkt darauf ab, daß das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG „durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts berührt wird“. Das wird damit begründet, daß „das ausbildende Unternehmen allein die Meinungsäußerung des Beschwerdeführers als Grund für seine Nichteinstellung angeführt (und) das Bundesarbeitsgericht dieses Vorgehen als rechtmäßig bestätigt hat“70. Das nächste wesentliche Glied in der Gedankenkette besteht dann in der These, daß „es gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verstößt, wenn ein Gericht ... sich unter mehreren objektiv möglichen Deutungen für die zur Verurteilung führende entscheidet, ohne die anderen unter Angabe überzeugender Gründe auszuscheiden“71. Darin liegt offensichtlich die Grundlage für die zur Aufhebung führende Rüge des Bundesverfassungsgerichts, das Bundesarbeitsgericht habe „ohne nähere Prüfung angenommen, der Artikel in der Schülerzeitung enthalte ein mittelbares Bekenntnis zur Gewalt ...“, und es habe außerdem „ohne kritische Würdigung des Artikels über die Beobachtungen und Erlebnisse des Beschwerdeführers auf dessen allgemeine Gewaltbereitschaft geschlossen“72. Das Konzept, das diesen Ausführungen zugrunde liegt, entspricht zwar der st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, erscheint aber als dogmatisch wenig durchsichtig und kaum konsistent. Zu folgen ist dem Bundesverfassungsgericht allerdings insofern, als es den Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG offenkundig nicht in der Verweigerung des Vertragsschlusses durch die beklagte Arbeitgeberin, sondern in der Handhabung dieser Norm durch das Bundesarbeitsgericht sieht; das entspricht der Einsicht, daß Adressat der Grundrechte grundsätzlich – d. h. insbesondere abgesehen vom Ausnahmefall des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG – nicht die Subjekte des Privatrechts, sondern der Staat und seine Organe sind. Im Dunkeln bleibt jedoch, wie bei dieser Sichtweise das Recht auf Meinungsfreiheit überhaupt auf das Verhältnis zwischen den Privatrechtssubjekten, hier also zwischen dem Kläger und der Beklagten soll einwirken können; wenn es das gar nicht täte, könnte es durch eine falsche Handhabung von Art. 5 Abs. 1 GG durch das Bundesarbeitsgericht auch nicht verletzt sein. Im Hintergrund steht demgemäß ersichtlich die Lehre von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Pri70 BVerfGE 86, 122, 128; im vorliegenden Fall ging es allerdings nicht um eine Verurteilung des Beschwerdeführers, sondern um die Abweisung seiner auf eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 GG gestützten Klage, doch stellt das Bundesverfassungsgericht diesen Fall gleich, wie seine Kritik an der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zeigt. 71 AaO S. 129. 72 AaO S. 130.
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vatrecht, auch wenn diese [430] nicht ausdrücklich beim Namen genannt wird73. Indessen macht sich bei der vorliegenden Problematik besonders störend bemerkbar, daß das Wort „Ausstrahlung“ keinen juristischen Begriff, sondern lediglich eine bildhafte Wendung aus der Umgangssprache darstellt. Denn warum soll allein daraus, daß man den Artikel in der Schülerzeitung nicht notwendigerweise als mittelbares Bekenntnis zur Gewaltanwendung verstehen muß und daß man aus ihm nicht ohne weiteres auf eine allgemeine Gewaltbereitschaft des Beschwerdeführers schließen kann, die Folgerung zu ziehen sein, daß die beklagte Arbeitgeberin zum Abschluß eines Arbeitsvertrags mit diesem verpflichtet war?! Hier fehlen doch offensichtlich mehrere Glieder in der Gedankenkette (auch wenn man berücksichtigt, daß einige von diesen vielleicht erst durch das Bundesarbeitsgericht hätten hinzugefügt werden sollen, was diesem wegen des Anerkenntnisses der Beklagten74 nicht mehr möglich war). In der Tat belegt diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit besonderer Deutlichkeit, daß „es bis heute eher ein Arkanum des Gerichts geblieben ist, was in der Gemengelage von Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht und einfachem Recht selbst das spezifische Verfassungsrecht ausmacht“75. Etwas mehr Licht kommt in dieses Dunkel, wenn man prüft, in welcher Funktion das Recht auf Meinungsfreiheit hier eigentlich berührt war: als Eingriffsverbot oder als Schutzgebot. Ein Eingriff liegt in der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nach richtiger Ansicht nicht76. Denn dieses hat nicht etwa durch sein Urteil oder die ihm zugrunde liegende ratio decidendi die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers eingeschränkt oder ihre Ausübung mit einer Sanktion belegt. Letzteres hatte vielmehr die Beklagte getan, und das Bundesarbeitsgericht hat es lediglich abgelehnt, darauf mit der Statuierung eines Kontrahierungszwangs zu reagieren. Verletzt haben kann es das Grundrecht auf Meinungsfreiheit somit allenfalls dadurch, daß es ihm rechtlichen Schutz gegenüber der von der Beklagten verhängten Sanktion verweigert hat. Demgemäß ist Art. 5 Abs. 1 GG hier in seiner Funktion als Schutzgebot zu prüfen77. Diese Sichtweise ist dogmatisch wesentlich präziser als die diffuse Lehre von der Ausstrahlungswirkung – deren Entwicklung im Lüth-Fall im übrigen auch deshalb überflüssig und irreführend war, weil sich dieser ohne sonderliche 73
Daß sie gleichwohl gemeint ist, zeigt der Hinweis aaO S. 128 f. auf BVerfGE 7, 198,
206 ff. 74 75
Vgl. oben bei Fn. 11. So Böckenförde Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989,
S. 33. 76 Vgl. zum folgenden eingehend, wenngleich am Beispiel anderer Fallkonstellationen und ohne Bezug auf die Problematik des Kontrahierungszwangs, Canaris aaO (Fn. 21) S. 37 ff., insbesondere auch S. 41 f. in Auseinandersetzung mit der Gegenposition der „etatistischen Konvergenztheorie“. 77 Insoweit übereinstimmend Hillgruber ZRP 1995, 8.
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Schwierigkeiten mit Hilfe der „klassischen“ Funktion von Art. 5 Abs. 1 GG als Eingriffs- [431] verbot hätte lösen lassen78. Zugleich kommt diesem Wechsel der Perspektive auch praktische Bedeutung zu. Dadurch tritt nämlich das Erfordernis, daß die Annahme einer grundrechtlichen Schutzpflicht einer besonderen Begründung und eines spezifischen Argumentationsaufwandes bedarf, überhaupt erst klar ins Licht, und zugleich wird die Notwendigkeit einer Respektierung des weiten Spielraums, der dem einfachen Recht und damit auch der dieses anwendenden und fortbildenden Rechtsprechung bei der Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion nach der zutreffenden Ansicht des Bundesverfassungsgerichts offen steht79, ins Bewußtsein gehoben. 2. Die Rechtslage bei Fehlen eines Ausbildungsverhältnisses Die Problematik gewinnt schärfere Konturen, wenn man sie zunächst ausweitet und von den Besonderheiten absieht, die sich im Schülerzeitungsfall daraus ergeben könnten, daß der Beschwerdeführer in einem Ausbildungsverhältnis gestanden hatte. Wie wäre also zu entscheiden, wenn das nicht der Fall gewesen wäre und die Beklagte demgemäß irgendeinen beliebigen Bewerber mit der Begründung abgewiesen hätte, wegen eines von ihm verfaßten Zeitungsartikels lehne sie den Abschluß eines Arbeitsvertrags mit ihm ab? Die Antwort kann kaum zweifelhaft sein: Ein Kontrahierungszwang des Arbeitgebers kommt hier von vornherein nicht in Betracht. Denn die Privatautonomie erlaubt diesem nach dem Prinzip „stat pro ratione voluntas“80 auch ein willkürliches und ein auf offenkundig sachfremden Motiven beruhendes Verhalten. Das gilt folgerichtig grundsätzlich auch dann, wenn die Äußerung inhaltlich nicht zu beanstanden war, also nicht als Bekenntnis zur Gewaltanwendung verstanden werden konnte, und in keiner Weise ein negatives Verhalten im Betrieb befürchten ließ; so steht es einem Arbeitgeber z. B. frei zu sagen, er wolle nicht mit einem Gegner der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, einem dezidierten Verfechter des Naturschutzes, einem leidenschaftlichen Anhänger der europäischen Integration usw. usf. zusammenarbeiten. Es ist geradezu ein Essentiale der Privatautonomie, daß derartige Äußerungen und Verhaltensweisen von der Rechtsordnung grundsätzlich nicht auf ihre inhaltliche Vertretbarkeit hin kontrolliert werden dürfen und demgemäß keine rechtlichen Sanktionen auslösen. 78 Vgl. eingehend Canaris aaO (Fn. 21) S. 30 ff.; der am gleichen Tag ebenfalls unter dem Stichwort der Ausstrahlungswirkung entschiedene Wahlplakatfall BVerfGE 7, 230 ist aus heutiger Sicht ohne weiteres mit Hilfe der Schutzgebotsfunktion zu lösen, vgl. aaO S. 55 ff. 79 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang nur BVerfGE 96, 56, 64. 80 Vgl. dazu nur Flume Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band II, 3. Aufl. 1979, § 1, 5.
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Art. 5 Abs. 1 GG ändert daran grundsätzlich nichts. Das folgt schlicht und einfach daraus, daß sich hier überzeugende Gründe für eine verfassungsrechtliche Pflicht, die Meinungsfreiheit des Stellenbewerbers durch einen Kontrahierungs[432] zwang des (potentiellen) Arbeitgebers zu schützen, nicht ins Feld führen lassen. Zwar mag es sein, daß dadurch die Möglichkeit zu unbefangener Meinungsäußerung etwas beeinträchtigt wird, doch wiegt diese Gefahr bei weitem nicht schwer genug, um ein grundrechtliches Gebot zur Statuierung eines Kontrahierungszwangs zu begründen. Daß eine Meinungsäußerung Nachteile haben kann – und zwar auch ungerechtfertigte – und also u. U. „etwas kostet“, gehört geradezu zum Wesen des Meinungskampfes und muß von dessen Teilnehmern grundsätzlich hingenommen werden. Schließlich handelt es sich hier ja nicht um einen so massiven Tatbestand wie den einer Verfälschung des Meinungskampfs durch einen Boykottaufruf unter Ausübung wirtschaftlichen Drucks zu dessen Durchsetzung wie im Fall Blinkfüer81 oder die Aussperrung eines unliebsamen Kritikers durch ein Theater82; in derartigen Fällen geht es geradezu um die Verhinderung oder inhaltliche Beeinflussung von Meinungsäußerungen mit „ungeistigen“ und daher dem Wesen des Meinungskampfs widersprechenden Mitteln – Kriterien, welche in der Tat die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG auslösen können. Damit ist die vorliegende Problematik nicht vergleichbar, zumal sich das Verhalten des Arbeitgebers in einem bloßen Unterlassen erschöpft, was somit im vorliegenden Zusammenhang durchaus einen relevanten Gesichtspunkt darstellt83. In dogmatischer Hinsicht ist bemerkenswert, daß die Argumentation hier im wesentlichen negativer Art ist: Es läßt sich einfach nicht überzeugend dartun, daß das von Verfassungs wegen gebotene Schutzminimum unterschritten und also das Untermaßverbot verletzt wird, wenn die Rechtsordnung auf die Ablehnung des Arbeitsplatzbewerbers nicht mit einem Kontrahierungszwang reagiert. Demgemäß bildet diese Art der Begründung einen guten Beleg für die These, daß es bei der Entwicklung einer grundrechtlichen Schutzpflicht grundsätzlich der Überwindung einer besonderen Argumentationshürde bedarf, weil es dabei der Sache nach stets um die Problematik eines Unterlassens geht 84. Dem entspricht es, daß der Kontrahierungszwang hier von vornherein und generell abzulehnen ist und daß somit nicht etwa eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Privatautonomie vorzunehmen ist; für eine solche besteht hier weder Raum noch Bedürfnis, weil sich für die vorliegende Fallkonstellation schon abstrakt gesehen, also auf der ersten Argumentationsstufe, keine grundrechtliche Schutzpflicht Vgl. BVerfGE 25, 256. Vgl. dazu RGZ 133, 388, 392, wo im Grundsatz die Möglichkeit eines Kontrahierungszwangs aus § 826 BGB bejaht, im konkreten Fall aufgrund seiner besonderen Umstände jedoch verneint worden ist; siehe dazu auch Eidenmüller NJW 1991, 1441. 83 Vgl. dazu im übrigen oben II 5. 84 Vgl. näher Canaris aaO (Fn. 21) S. 43 f., 56. 81 82
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begründen läßt. Auch das ist dogmatisch und methodologisch wichtig, wird dadurch doch der vorschnellen Flucht in die Abwägung und der weitverbreiteten Abwägungshypertrophie entgegengewirkt, deren Gefahren Leisner eindrucksvoll herausgearbeitet und treffend kritisiert hat85. [433] 3. Die besondere Gefährdung der Meinungsfreiheit während des Ausbildungsverhältnisses und die daraus folgende Kollision mit der Privatautonomie des Arbeitgebers Geht es wie im Schülerzeitungsfall nicht um irgendeinen außenstehenden Arbeitsplatzbewerber, sondern um einen Auszubildenden, so ergeben sich Besonderheiten. Diese beruhen vor allem darauf, daß letzterer sich während der Ausbildungszeit in einer besonderen Druck- und Abhängigkeitssituation befindet. Einerseits hat er nämlich keinen Rechtsanspruch auf Übernahme in ein Arbeitsverhältnis nach erfolgreichem Abschluß der Ausbildung, andererseits bietet ihm diese doch häufig eine gute faktische Chance, seine Tätigkeit in dem ausbildenden Unternehmen als Arbeitnehmer fortsetzen zu können. Um diese nicht zu gefährden, wird er oft bemüht sein, ein besonderes Wohlverhalten an den Tag zu legen und sich das Wohlwollen des Ausbildenden nicht zu verscherzen. Dagegen ist im allgemeinen wenig einzuwenden, doch wird diese prekäre Situation des Auszubildenden dann bedenklich, wenn sie ihn in einem so fundamentalen Grundrecht wie der Ausübung seiner Meinungsfreiheit beeinträchtigt. Seine Lage unterscheidet sich in dieser Hinsicht sehr wesentlich von der eines außenstehenden Dritten; denn ein solcher muß nicht auf einen bestimmten potentiellen Arbeitgeber Rücksicht nehmen und kann daher insoweit bei seinen Meinungsäußerungen weitgehend unbefangen sein, während der Auszubildende sich geradezu genötigt sehen kann, auf freimütige Äußerungen zu verzichten oder gar dem Ausbilder nach dem Munde zu reden, um seine Chance auf Übernahme in ein Arbeitsverhältnis zu wahren. Bei dieser Konstellation liegt es daher in der Tat nicht fern, die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG zu mobilisieren. Allerdings geht es auch hier nicht darum, daß der Ausbildende unmittelbar Einfluß auf die Meinungsbildung zu nehmen und den Wettstreit der Meinungen mit inadäquaten Mitteln zu verfälschen sucht wie in den soeben erwähnten Beispielen des Blinkfüerfalles und des ausgesperrten Theaterkritikers, doch handelt es sich immerhin um eine gravierende Gefährdung der Meinungsfreiheit des Auszubildenden. Nicht nur die Verletzung, sondern auch die Gefährdung eines grundrechtlich geschützten Gutes kann
85
Vgl. Leisner NJW 1997, 636 ff.; grundlegend ders. Der Abwägungsstaat, 1997.
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eine Schutzpflicht auslösen86, da anderenfalls die Schutzgebotsfunktion praktisch in einem wesentlichen Bereich ineffizient bliebe. Das wird man grundsätzlich vor allem dann anzunehmen haben, wenn es sich um eine „typisierbare Fallgestaltung“ handelt87, da dann nicht nur ein punktuelles, sondern ein generelles Problem vorliegt und die Beeinträchtigung des Grundrechts daher nicht nur mehr oder weniger [434] zufällig eine Einzelperson, sondern eine bestimmte Gruppe von Personen betrifft und also grundsätzlich von erhöhtem Gewicht ist. Genau diese Voraussetzung ist hier gegeben, da die Gefährdung der Meinungsfreiheit aus den genannten Gründen für alle Auszubildenden in prinzipiell gleicher Weise besteht. Es ist überraschend, daß weder das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Schülerzeitungsfall noch seine Kritiker88 auf die Besonderheiten des Ausbildungsverhältnisses und die mit diesem verbundenen Gefährdungen der Meinungsfreiheit mit einem einzigen Wort eingegangen sind. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts greift daher schon im Ansatz viel zu weit aus, weil sie sich ohne weiteres auch auf die Ablehnung eines außenstehenden Bewerbers übertragen ließe, was, wie soeben unter 2 dargelegt worden ist, nicht richtig sein kann; umgekehrt gehen auch die Kritiker ihrerseits zu weit, wenn sie auch gegenüber einem Auszubildenden einen Kontrahierungszwang des Arbeitnehmers von vornherein pauschal ablehnen. Ein solcher kommt vielmehr bei der vorliegenden Fallkonstellation, aber eben auch nur bei dieser grundsätzlich durchaus in Betracht. Ist somit das Bestehen einer Schutzpflicht aus Art. 5 Abs. 1 GG im Grundsatz zu bejahen, so kommt man auf einer zweiten Argumentationsstufe zu einer Abwägung mit dem gegenläufigen Grundrecht der Privatautonomie des Arbeitgebers. Diese führt dazu, daß hier eine willkürliche oder offenkundig sachfremde Entscheidung nicht hingenommen werden kann; denn sonst bliebe die Meinungsfreiheit gänzlich schutzlos, was dem Postulat widerspräche, „die kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst wirksam werden“89. Lehnt also ein Arbeitgeber die Übernahme eines Auszubildenden in ein Arbeitsverhältnis z. B. deshalb ab, weil dieser sich während seiner Ausbildung als Gegner einer wirtschaftlichen 86 Vgl. dazu Isensee HStR Band V § 111 Rdn. 106; Stern aaO (Fn. 24) S. 740 ff.; Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rdn. 350; Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 113 f.; Canaris aaO (Fn. 21) S. 76 f. 87 Dieses Kriterium hält auch das Bundesverfassungsgericht in der Bürgschaftsentscheidung für wesentlich, vgl. BVerfGE 89, 214, 232; das erscheint im Gegensatz zum Kriterium der „strukturellen“ Unterlegenheit als durchaus überzeugend. 88 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem Boemke NJW 1993, 2084 f.; Hillgruber ZRP 1995, 8. 89 So BVerfGE 89, 214, 232; 97, 169, 176.
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Nutzung der Kernenergie zu erkennen gegeben hat, so hat die Privatautonomie des Arbeitgebers hinter dem Schutz der Meinungsfreiheit des Auszubildenden zurückzutreten. Weitaus schwieriger als bei diesem Beispiel lag es indessen im Schülerzeitungsfall. Hier hatte der Arbeitgeber nämlich durch das Bundesarbeitsgericht ohne Umschweife bestätigt bekommen, daß sein Verständnis des Zeitungsartikels des Auszubildenden als mittelbares Bekenntnis zur Gewalt berechtigt und seine Befürchtung etwaiger Konsequenzen für dessen Verhalten im Betrieb begründet war. Wenn das zutraf, dann lag ein triftiger Grund für die Ablehnung der Übernahme in ein Arbeitsverhältnis vor, so daß der Schutz der Meinungsfreiheit keinen Vorrang vor der Privatautonomie des Arbeitgebers beanspruchen konnte, wovon ersichtlich auch das Bundesverfassungsgericht ausgeht. Dieses meint jedoch, ein anderes Verständnis des Zeitungsartikels sei „denkbar, wenn nicht sogar naheliegend“ und das Bundesarbeitsgericht habe „ohne eine kritische Würdigung des Artikels“ auf die [435] allgemeine Gewaltbereitschaft des Beschwerdeführers geschlossen90. Damit verkennt das Bundesverfassungsgericht indessen seinerseits Bedeutung und Inhalt der Privatautonomie. Für die Frage, ob diese durch einen Kontrahierungszwang einzuschränken ist, kommt es nämlich folgerichtig nicht darauf an, ob das Bundesarbeitsgericht eine andere Deutung des Artikels hätte erwägen oder gar vornehmen müssen, sondern allein darauf, wie dieser aus der Sicht der Beklagten als der potentiellen Arbeitgeberin verstanden werden durfte. Denn schon wenn diese den Artikel als mittelbares Bekenntnis zur Gewalt auffassen und daraus die Gefahr einer Rechtfertigung von Gewaltanwendung im Betrieb durch den Beschwerdeführer herleiten durfte, hatte sie einen sachlichen Grund für die Verweigerung des Vertragsschlusses und unterlag daher keinem Kontrahierungszwang. Das aber war der Fall, wie schon die Tatsache zeigt, daß das Bundesarbeitsgericht (!) sich dieses Verständnis vorbehaltlos zueigen gemacht hat, und wie sich auch aus dem Wortlaut des Artikels ergibt 91, der entweder wirklich eine mittelbare Billigung von Gewalt enthielt oder doch zumindest leicht in diesem Sinne mißverstanden werden konnte. Daß der potentielle Arbeitgeber über derartigen Äußerungen soll brüten und subtile semantische Erwägungen soll anstellen müssen, ist mit der Funktion der Privatautonomie nicht vereinbar, welche auch und gerade dann, wenn sie wie hier durch die Statuierung eines Kontrahierungszwangs eingeschränkt wird, zumindest noch die Möglichkeit offenhalten muß, Äußerungen eines etwaigen Vertragspartners in vertretbarer Weise zu interpretieren und daraus gegebenenfalls negative Konsequenzen zu ziehen. Die gegenteilige Position des Bundesverfassungsgerichts überfordert den Arbeitgeber kraß und privilegiert überdies Äußerungen des Auszubildenden, die in verantwor90 91
BVerfGE 86, 122, 130. Vgl. dessen wörtliche Wiedergabe oben I 1.
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tungsloser Weise undurchdacht oder gar bewußt unklar gehalten sind. Das Bundesverfassungsgericht ist hier einmal mehr Opfer seiner Überbewertung der Meinungsfreiheit geworden, die es u. a. zu der – auch im Schülerzeitungsfall zugrunde gelegten – These geführt hat, ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG liege schon dann vor, wenn ein Gericht sich unter mehreren möglichen Deutungen für die dem Äußernden ungünstigere entscheidet. Ein solcher Auslegungsgrundsatz ist aus hermeneutischen und teleologischen Gründen nicht haltbar 92 und schränkt im vorliegenden Zusammenhang die Privatautonomie in übermäßiger Weise ein. Was schließlich die Umsetzung der Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG ins Privatrecht in denjenigen Fällen, in denen die Privatautonomie zurückzutreten hat, angeht, dürfte der richtige Ansatzpunkt in § 242 BGB liegen. Denn weil das Ausbildungsverhältnis wie dargelegt zu einer besonderen Gefährdung der Meinungsfreiheit führt, läßt sich aus diesem in privatrechtsdogmatisch konsistenter [436] Weise eine nachwirkende Pflicht herleiten, während der Ausbildungszeit gefallene Meinungsäußerungen nicht in einer gegen Treu und Glauben verstoßenden Weise zum Anlaß für eine Ablehnung der Übernahme in ein Arbeitsverhältnis zu nehmen. Demgegenüber überzeugt der Rückgriff auf § 75 BetrVG durch das Bundesarbeitsgericht schon deshalb nicht, weil dieses erst den Charakter dieser Vorschrift als Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB behauptet und dann daraus (!) die individualschützende Zweckrichtung von § 75 BetrVG herleitet93, obwohl deren Vorliegen unbestrittenermaßen genau umgekehrt gerade Voraussetzung (!) für eine Anwendung von § 823 Abs. 2 BGB ist94. Abschließend sei hervorgehoben, daß ein auf Art. 5 Abs. 1 GG gestützter Kontrahierungszwang nur sehr selten praktische Bedeutung erlangen wird, weil der Beweis, daß gerade eine Meinungsäußerung zu der Verweigerung des Vertragsschlusses geführt hat, meist nicht zu führen ist. Daß deshalb Beweiserleichterungen oder gar eine Umkehrung der Beweislast vorzunehmen sind, läßt sich aus der Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG nicht herleiten, zumal der Auszubildende sonst u. U. durch provozierende Äußerungen einen Kontrahierungszwang des ausbildenden Unternehmens oder zumindest das Erfordernis einer Begründung für die Ablehnung des Vertragsschlusses herbeiführen könnte. Das führt zwar zu einer Schlechterstellung desjenigen Arbeitgebers, der sein Motiv offenlegt, doch ist das angesichts der darin liegenden Dummdreistigkeit nicht unangemessen und wird im übrigen auch bei anderen verwandten Problemen, wie sie vor allem im Rahmen von § 138 BGB auftreten, grundsätzlich hingenommen. 92 Vgl. eingehend Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, S. 524 f.; kritisch auch Scholz/Konrad AöR 123 (1998) 75; ob in der DGHS-Entscheidung BVerfGE 94, 1, 9 f. der Beginn einer Abkehr von diesem Auslegungsgrundsatz zu sehen ist, erscheint als höchst zweifelhaft. 93 Vgl. BAG AP Nr. 2 zu § 17 BBiG unter II 3 a. 94 Vgl. statt aller Soergel/Zeuner 12. Aufl. 1998, § 823 Rdn. 289.
Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten IN: BAUER/CZYBULKA/KAHL/VOßKUHLE (HRSG.), UMWELT, WIRTSCHAFT UND RECHT, 2002, S. 29–67
Inhaltsverzeichnis* I.
Begriffliche Vorklärungen ....................................................................................31 1. Der Begriff der „Drittwirkung“: der Gegenstand der Prüfung an den Grundfreiheiten ..................................................................................32 2. „Unmittelbarkeit“ und „Mittelbarkeit“ der Drittwirkung: die Normadressaten der Grundfreiheiten ..........................................................33 II. Die Grundzüge des zum deutschen Verfassungsrecht entwickelten Lösungsmodells .....................................................................................................34 1. Die wichtigsten Einwände gegen die Lehre von der „unmittelbaren“ Drittwirkung .......................................................................................34 a) Die Normstruktur der Grundrechte: Umkehrschluß aus Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG, Funktion der Gesetzesvorbehalte und Bedeutung des Übermaßverbots ....................................................34 b) Die Gefährdung der Privatautonomie und der Grundstrukturen des Privatrechts ......................................................................36 c) Die Problematik der „privaten Macht“ .................................................36 2. Dogmatische Strukturen und Vorzüge der Lehre von der „mittelbaren“ Drittwirkung ...........................................................................37 a) Die grundsätzliche Schonung der Privatautonomie und der Grundstrukturen des Privatrechts ..........................................................37 b) Die Schutzgebotsfunktionder Grundrechte als dogmatische Grundlage ..................................................................................................38 c) Mediatisierung durch das einfache Recht und Untermaßverbot .........................................................................................................39 III. Dogmatische Grundlagen der Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten.................................................................................40 1. Der Meinungsstand.........................................................................................40
* Anm. d. Hrsg.: Das Inhaltsverzeichnis wurde aus dem Original übernommen, die Seitenzahlen beziehen sich folglich auf das Original.
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a) Die Praktizierung einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten durch den EuGH ........................................................40 b) Stellungnahmen des Schrifttums ............................................................41 2. Die wichtigsten Einwände gegen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten ........................................................................................42 a) Die Normstruktur der Grundfreiheiten: Offenheit des Wortlauts, Umkehrschluß aus den Artt. 86 Abs. 2, 81 f. EG und mangelnde Eignung der Rechtfertigungsgründe ..........................42 b) Die Gefährdung von Privatautonomie und Privatrechtsgesellschaft .................................................................................................44 c) Das Fehlen einer hinreichenden Abwägungsmöglichkeit und die Überbewertung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten gegenüber anderen Formen der Privatautonomie ..................................................................................................45 [30] d) Das Spannungsverhältnis zwischen Diskriminierungsverboten und iustitia commutativa .........................................................46 e) Die Untauglichkeit des Kriteriums der „privaten Macht“ als Grundlage einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten und die Sonderproblematik von dem Staat zuzurechnenden Unternehmen ..............................................................48 3. Dogmatische Strukturen und Vorzüge einer mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten.........................................................................49 a) Die Schutzgebotsfunktion der Grundfreiheiten als dogmatische Grundlage .......................................................................................49 b) Mediatisierung durch das Recht der Mitgliedstaaten, gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung, subsidiäre Staatshaftung .....................................................51 c) Untermaßverbot, Entschärfung der Problematik der Rechtfertigungsgründe und Öffnung von Abwägungsspielräumen................................................................................................52 IV. Unterschiede zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung der Grundfreiheiten im Lichte repräsentativer Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH .................................................................................54 1. Der Fall „Dansk Supermarked“ ....................................................................54 a) Ausschließlichkeitsrechte und unmittelbare Geltung der Warenverkehrsfreiheit ..............................................................................55 b) Lauterkeitsrechtliche Verbote und unmittelbare Geltung der Warenverkehrsfreiheit ..............................................................................56 2. Die Fälle „Bosman“ und „Lehtonen“ ..........................................................58
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a) Die Notwendigkeit einer Abwägung zwischen Freizügigkeit und Vereinigungsfreiheit bei der Beurteilung der Regelung über den Einsatz von Ausländern ..........................................................58 b) Die Beschränkung der Berufsfreiheit durch die Ablöseregelung als Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Untermaßverbot und die kompetenzielle Prärogative der Mitgliedstaaten bei der Abhilfe ...............................................................60 c) Art. 39 Abs. 2 EG als drittwirkendes Beschränkungsverbot und die untragbaren Konsequenzen des Lehtonen-Urteils ................61 3. Der Fall „Angonese“ und seine möglichen Weiterungen..........................63 a) Freizügigkeit versus Abschlußfreiheit ....................................................63 b) Die Rechtsfolgen einer Verletzung des Diskriminierungsverbots gemäß Art. 39 Abs. 2 EG nach deutschem Privatrecht ............................................................................................................65 Der Prozeß der europäischen Integration hat inzwischen einen Punkt erreicht, wo jedenfalls wir Juristen sagen können: Europarecht ist unser Schicksal. Das gilt auch und nicht zuletzt für das Privatrecht. So habe ich, ein einsamer Privatrechtler in einem illustren Kreis von Öffentlichrechtlern, die europarechtliche Seite einer Thematik gewählt, welche unsere Fächer gleichermaßen angeht und seit der berühmten Auseinandersetzung zwischen Nipperdey und Dürig immer wieder von Vertretern beider Disziplinen behandelt worden ist: die sogenannte Drittwirkung. Dabei ist diese Problematik hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten bisher weit weni- [31] ger intensiv durchdacht worden als hinsichtlich der Grundrechte. Das nimmt nicht wunder, ist sie doch insoweit viel jünger. Überraschend – und für einen eingefleischten Dogmatiker wie mich geradezu irritierend – ist jedoch, daß im Europarecht derzeit ein anderer Grundansatz dominiert als im deutschen Verfassungsrecht: Vom EuGH und einem erheblichen Teil des europarechtlichen Schrifttums wird die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung vertreten1, die wir im deutschen Verfassungsrecht für endgültig überwunden halten. Daher liegt es nahe zu prüfen, ob wir aus der verfassungsrechtlichen Diskussion, die sich in Deutschland ja immerhin über Jahrzehnte erstreckt hat, etwas für die gemeinschaftsrechtliche Parallelproblematik lernen können. So stellt es denn eines der Hauptziele meines Referates dar zu zeigen, daß sich die Grundfragen im Gemeinschaftsrecht und im deutschen Verfassungsrecht in der Tat weitgehend in z. T. geradezu verblüffender Weise ähneln und daß wir demgemäß die Argumente und Lösungsmuster, die uns aus der verfassungsrechtlichen Diskussion vertraut sind, auch gemeinschaftsrechtlich nutzen können
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Vgl. näher unten III 1.
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und sollten2. Überdies hat die Problematik seit den Entscheidungen des EuGH in den Fällen „Bosman“3 sowie jüngst „Lehtonen“4 und „Angonese“5 den Reiz besonderer Aktualität. I. Begriffliche Vorklärungen Vorab bedarf es indessen gewisser begrifflicher Klarstellungen – und zwar in zweierlei Hinsicht: Zunächst ist festzulegen, was unter „Drittwirkung“ zu verstehen ist, und sodann ist zu präzisieren, was in bezug auf diese die Worte „unmittelbar“ und „mittelbar“ bedeuten6. [31] 1. Der Begriff der „Drittwirkung“: der Gegenstand der Prüfung an den Grundfreiheiten Mit dem Begriff der Drittwirkung wird der Gegenstand erfaßt, auf den sich die Prüfung an den Grundrechten bzw. den Grundfreiheiten bezieht. Dabei ist es im Verfassungsrecht heute üblich und m. E. in der Tat zweckmäßig, von Drittwirkung dort und nur dort zu sprechen, wo ein Verhalten eines Privatrechtssubjekts gegenüber einem anderen Privatrechtssubjekt an den Grundrechten gemessen wird. Zentral ist daher insoweit die Unterscheidung zwischen Akten von Privatrechtssubjekten und Akten der öffentlichen Hand7. Drittwirkung liegt folglich vor, wenn es Rechtsgeschäfte, unerlaubte Handlungen oder sonstige Verhaltens2 Im europarechtlichen Schrifttum geschieht das, soweit ersichtlich, bisher allenfalls ansatzweise oder zumindest nicht explizit; das gilt auch für den Aufsatz von R. Streinz/S. Leible, Die unmittelbare Drittwirkung von Grundfreiheiten, EuZW 2000, S. 459 ff., wenngleich die von diesen Autoren entwickelte Lösung der Sache nach der heute im deutschen Verfassungsrecht dominierenden Konzeption – und damit auch dem unter III entwickelten Lösungsvorschlag – am nächsten stehen dürfte, vgl. aber auch unten bei und mit Fn. 11, 80, 87 und 90. 3 EuGH vom 15.12.1995, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 („Bosman“); vgl. dazu eingehend unten III 2 a bei und nach Fn. 51 sowie IV 2 a und b. 4 EuGH vom 13.4.2000, Rs. C-176/96, Slg. 2000, I-2681 („Lehtonen“); vgl. dazu eingehend unten IV 2 c. 5 EuGH vom 6.6.2000, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 („Angonese“); vgl. dazu eingehend unten IV 3. 6 Allerdings erscheint mir die gesamte Drittwirkungs-Terminologie eigentlich nicht mehr als zeitgemäß und nur noch als schlagwortartiges Kürzel zur rascheren Verständigung über den in Rede stehenden Gegenstand verwendbar, vgl. C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), S. 201 (228) sowie unten IV 1 b a. E. nach Fn. 105. 7 Vgl. näher Canaris (Fn. 6), S. 202 ff.; ablehnend U. Diederichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht – ein Lehrstück juristischer Methodenlehre, AcP 198 (1998), S. 171 (203 f., 207 f., 213).
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weisen einer Privatperson gegenüber einer anderen sind, die an den Grundrechten gemessen werden. Dagegen erscheint mir der Begriff der Drittwirkung schon sprachlich nicht als passend, sofern Gegenstand der Prüfung an den Grundrechten Akte des Staates als solchen sind, auch wenn diese die Verhältnisse zwischen Privatrechtssubjekten betreffen. Demgemäß geht es bei der Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise die Normen des Privatrechts an den Grundrechten zu messen sind, von vornherein nicht um ein Problem der Drittwirkung. Diese Differenzierung liegt nicht nur semantisch nahe, sondern erweist sich auch sachlich als geboten. Denn auch die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Privatrechts ist Gesetzgebung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GG, und daher ist es jedenfalls im Ansatz selbstverständlich, daß auch für sie die Grundrechte gelten – und zwar „unmittelbar“ –8, wohingegen auf Akte von Privatrechtssubjekten Art. 1 Abs. 3 GG, der sich ja nur an die „staatliche Gewalt“ richtet, nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut unanwendbar ist. Schon deshalb sollte man diese beiden Problemfelder nicht miteinander vermengen und demgemäß auch terminologisch trennen. Diese Präzisierung entspricht zwar dem heute im deutschen Verfassungsrecht ganz vorherrschenden Sprachgebrauch, doch ist sie gleichwohl keineswegs überflüssig. Früher hat man nämlich mitunter auch die Geltung der Grundrechte für die Normen des Privatrechts als „Drittwirkung“ bezeichnet – und zwar als „mittelbare“9. Mag das auch im Verfassungsrecht überwunden sein, so findet sich doch bereits hier die erste Parallele in der europarechtli- [33] chen Diskussion: Im Zusammenhang mit der Geltung der Grundfreiheiten für die Normen des Privatrechts ist in der Tat nicht selten von „Drittwirkung“ die Rede – und zwar wieder von „mittelbarer“10, obwohl dabei z. T. sogar der Unterschied zwischen den Normen des Privatrechts und den Akten der Privatrechtssubjekte klar gesehen und explizit hervorgehoben wird11. Diesen weiten Begriff von Drittwirkung halte ich nicht für zweckmäßig. Hinsichtlich des Einflusses auf die Normen des Privatrechts spreche ich vielmehr von – unmittelbarer – Geltung der Grundrechte und demgemäß auch der Grundfrei-
8 Vgl. eingehend C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 16 ff. m. umf. N.; seither vor allem M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 89 ff. 9 Vgl. vor allem G. Dürig in: T. Maunz/G. Dürig/R. Herzog/R. Scholz, Grundgesetz, 1994, Art. 3 I Rn. 510; ähnlich sehr klar F. O. Kopp, Fiskalgeltung und Drittwirkung der Grund- und Freiheitsrechte im Bereich des Privatrechts, in: FS Wilburg, 1975, S. 141 (149). 10 Vgl. z. B. E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 300; Streinz/Leible (Fn. 2), S. 465 f., wo die „grundfreiheitsbeschränkenden privatrechtlichen Normen“ (ebenfalls) unter der Kategorie „mittelbare Drittwirkung“ behandelt werden. 11 So von Streinz/Leible (Fn. 2), S. 465 f.
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heiten und nicht von – sei es unmittelbarer oder mittelbarer – Drittwirkung12. Daraus folgt eine wichtige Eingrenzung meiner Thematik: Mein heutiger Vortrag hat nicht die Geltung der Grundfreiheiten für Normen des Privatrechts zum Gegenstand, sondern allein die Wirkung der Grundfreiheiten auf Akte von Privatrechtssubjekten – also z. B. auf rechtsgeschäftliche Klauseln über die Zahl der bei einem Fußballspiel einsatzfähigen Ausländer und über bei einem Vereinswechsel zu zahlende Ablösegelder wie im Fall „Bosman“ oder auf das Verlangen nach Vorlage eines bestimmten Sprachtestats als Voraussetzung für eine Anstellung durch ein Kreditinstitut wie im Fall „Angonese“. Allerdings werde ich auch bestimmte Aspekte der Frage nach der Geltung der Grundfreiheiten für privatrechtliche Normen berühren13, weil die Problemfelder natürlich gewisse Bezüge zueinander aufweisen, deren Entwirrung mir wichtig erscheint. 2. „Unmittelbarkeit“ und „Mittelbarkeit“ der Drittwirkung: die Normadressaten der Grundfreiheiten Demgegenüber dominiert hinsichtlich der zweiten begrifflichen Vorfrage, soweit ich sehe, im europarechtlichen Schrifttum im wesentlichen derselbe Sprachgebrauch wie im verfassungsrechtlichen (mögen auch im privatrechtlichen Schrifttum hier noch immer gewisse Unklarheiten anzutreffen sein): Bei der Unterscheidung zwischen der „Unmittelbarkeit“ und der „Mittelbarkeit“ der Drittwirkung geht es um die Frage nach dem Normadressaten der Grundrechte bzw. der Grundfreiheiten. Als „unmittelbar“ ist die Drittwirkung demgemäß dann zu bezeichnen, wenn Normadressat der Grundfreiheiten (auch) die Subjekte des Privatrechts sind, als „mittelbar“ dagegen, wenn diese sich nur gegen die Mitgliedstaaten richten. [34] Als Modell für diese Begriffsbildung kann Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG dienen, wonach „Abreden“, welche die Koalitionsfreiheit „einschränken oder zu behindern suchen, nichtig (und) hierauf gerichtete Maßnahmen rechtswidrig sind“. Das ist „Drittwirkung“, weil Gegenstand der grundrechtlichen Prüfung Akte von Privatrechtssubjekten sind, und das ist „unmittelbare“ Drittwirkung, weil ausweislich der angeordneten Rechtsfolge die Privatrechtssubjekte selbst als Adressaten des Einschränkungs- und Behinderungsverbots fungieren. Bei der „mittelbaren“ Drittwirkung richtet sich die grundrechtliche Norm demgegenüber allein an den Staat, also vor allem an den Gesetzgeber und die ihn ergänzende Rechtsprechung, und wirkt dann lediglich „mittelbar“, also auf indi-
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(383). 13
Vgl. Canaris (Fn. 8), S. 35 gegen J. Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, S. 373 Vgl. unten IV 1.
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rekte Weise auf die Akte der Privatrechtssubjekte zurück. Wie das genau geschieht, wird noch zu erörtern sein14. II. Die Grundzüge des zum deutschen Verfassungsrecht entwickelten Lösungsmodells In einem nächsten Vorbereitungsschritt sind die Grundzüge des zum deutschen Verfassungsrecht entwickelten Modells für die Lösung der Drittwirkungsproblematik zu skizzieren. Dabei bitte ich im voraus um Nachsicht dafür, daß ich Ihnen insoweit – zwangsläufig – nur Bekanntes vortragen werde, doch ist diese Basis für mich unverzichtbar, um darauf mein Konzept zum Europarecht aufbauen zu können. 1. Die wichtigsten Einwände gegen die Lehre von der „unmittelbaren“ Drittwirkung Im Hinblick auf den – bereits angedeuteten – Diskussionsstand im Europarecht ist zunächst verhältnismäßig ausführlich in Erinnerung zu rufen, aus welchen Gründen sich die Lehre von der „unmittelbaren“ Drittwirkung nicht durchgesetzt hat. a) Die Normstruktur der Grundrechte: Umkehrschluß aus Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG, Funktion der Gesetzesvorbehalte und Bedeutung des Übermaßverbots Eine erste Gruppe von Einwänden gegen diese Lehre läßt sich unter dem Gesichtspunkt zusammenfassen, daß die Grundrechte nach ihrer Normstruktur nicht auf das Verhalten von Privatrechtssubjekten zugeschnitten sind, [35] sondern sich, dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 GG entsprechend, nur an die „staatliche Gewalt“ richten. Allerdings können Grundrechte selbstverständlich auch die Privatrechtssubjekte zum Normadressaten haben, wie insbesondere die Regelung von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG – die ich soeben wegen ihres insoweit repräsentativen Charakters bereits zitiert habe – schlagend belegt. Indessen folgt daraus zugleich das erste konkrete Gegenargument gegen die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung: Gerade diese Vorschrift legt schon durch ihre Existenz, vor allem aber durch die – im Grundgesetz singuläre – ausdrückliche Anordnung privat14
Vgl. unten II 2 b und c.
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rechtlicher Folgen wie der Nichtigkeit von Abreden den Umkehrschluß nahe, daß gleiches für die übrigen Grundrechte nicht oder allenfalls in besonders zu begründenden Ausnahmefällen gilt. Stärker als dieses – wie jeder Umkehrschluß etwas formalistische – Argument scheint mir der Hinweis auf das System der Gesetzesvorbehalte15. Die Grundrechte müssen nämlich auch und gerade dann, wenn sie unmittelbar zwischen Privatrechtssubjekten wirken würden, der Einschränkung durch entsprechende Abreden zugänglich sein; schließlich schränkt z. B. jeder Arbeitsvertrag schon durch seine bloße Bindungswirkung die Freiheit der Berufsausübung und nicht selten außerdem die Freizügigkeit ein. Entsprechende Öffnungsklauseln enthalten die Grundrechte aber nicht. Vielmehr kennen sie insoweit nur die Gesetzesvorbehalte, die sich indessen, wie schon ihr Name sagt, an den Gesetzgeber und damit an die staatliche Gewalt richten. Zwar hat Leisner versucht, die Gesetzesvorbehalte auch für vertragliche Einschränkungen von Grundrechten und deliktsrechtliche Kollisionen zwischen privatrechtlichen Gütern fruchtbar zu machen16, doch muß dieser Versuch als gescheitert gelten, was ich hier nicht im einzelnen ausführen kann17. Daß Grundrechte unter den Vorbehalt des Gesetzes – und nur unter diesen – gestellt sind, bildet demgemäß ein starkes Argument dafür, daß sie in ihrer Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte in der Tat an den Gesetzgeber und nicht an Privatrechtssubjekte adressiert sind. Selbst wenn man sich auch noch über diese Argumentation – die man vielleicht wiederum als zu formal kritisieren könnte – hinwegsetzen würde, stünde man sogleich vor der nächstem, vollends unüberwindlichen Schwierigkeit. Die Gesetzesvorbehalte lassen sich nämlich bekanntlich nur in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot sachgerecht anwenden, so daß man folgerichtig auch dieses als Maßstab für die Bewertung des Verhaltens von Privatrechtssubjekten mitübernehmen müßte. Das kann aber nicht ernsthaft in Betracht kommen, weil dann alle Rechtsgeschäfte und alle sonsti- [36] gen Akte von Privatrechtssubjekten an den Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu überprüfen wären. Bedenkt man, daß jedes private Verhalten zumindest an Art. 2 Abs. 1 GG gemessen werden kann und damit potentiell grundrechtsrelevant ist, so liegt auf der Hand, daß eine konsequent durchgeführte Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung tiefe Eingriffe in die Privatautonomie – die ja ihrerseits ebenfalls grundrechtlich gewährleistet ist18 – und darüber hinaus einen gravierenden Einschnitt in die Strukturen des Privatrechts zur Folge hätte. Demgemäß kennt dieses seine eigenen Übermaßverbote wie die §§ 138, 242, 826
Vgl. dazu und zum folgenden näher Canaris (Fn. 6), S. 204 f. Vgl. W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 330, 332, 384 ff. 17 Vgl. näher Canaris (Fn. 6), S. 204. 18 Vgl. nur Ruffert (Fn. 8), S. 287 ff. m. umf. N. 15 16
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BGB, die aus gutem Grund gerade nicht auf den Maßstäben der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit aufbauen. b) Die Gefährdung der Privatautonomie und der Grundstrukturen des Privatrechts Damit sind wir offenkundig im Zentrum dieser Problematik angelangt. Es erweist sich nämlich, daß die weit verbreitete Befürchtung, die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung würde zu übermäßigen Einschränkungen der Privatautonomie führen, letztlich durchaus berechtigt ist. Denn für diese ist, um es mit Flume zu sagen, die Maxime „stat pro ratione voluntas“ schlechterdings essentiell19: Privatautonomes Handeln zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es nicht durch irgendwelche Gründe legitimiert werden muß. Das gilt nicht etwa nur für die Vornahme von Rechtsgeschäften, sondern ganz generell für das Verhalten der Privatrechtssubjekte untereinander, die als solche über ihr Tun und Lassen grundsätzlich niemandem rechenschaftspflichtig sind. Demgegenüber gilt für staatliches Handeln grundsätzlich das genaue Gegenteil, da dieses jedenfalls dann, wenn es Grundrechte berührt, einer Legitimationspflicht unterliegt. Demgemäß droht die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung letztlich geradezu den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft einzuebnen. c) Die Problematik der „privaten Macht“ Um solchen Konsequenzen zu entrinnen, hat man versucht, dieser Lehre durch mancherlei Modifikationen und Einschränkungen ihre Rigidität zu nehmen. Die wichtigste derartige Position geht dahin, daß eine unmittelbare Drittwirkung zumindest gegenüber den „intermediären Gewalten“, gegenüber „privater“ bzw. „sozialer Macht“ und dgl. zu befürworten sei20. Da die- [37] ser Ansatz in der europarechtlichen Diskussion eine prominente Rolle spielt21, muß ich Ihre Geduld leider auch noch für eine Auseinandersetzung mit dieser Position strapazieren22.
Vgl. W. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 4. Aufl. 1992, § 1, 5. Repräsentativ etwa F. Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, AcP 164 (1964), S. 385 (407 ff.). 21 Vgl. näher unten III 2 e. 22 Vgl. zum folgenden näher Canaris (Fn. 6), S. 206 f. und dens., Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: FS Lerche, 1993, S. 873 (882). 19 20
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M. E. unterscheidet sich private Macht von staatlicher Gewalt schon dadurch grundlegend, daß sie im Gegensatz zu dieser nicht mit rechtlichen Kompetenzen ausgestattet ist (sieht man vom Sonderproblem der Tarifautonomie einmal ab). Daß sie faktisch gleichwohl ähnlich wirken könne und daher ähnlichen Kontrollen unterliegen müsse, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Denn das wichtigste Mittel zur Entschärfung privater Macht stellt bekanntlich der Wettbewerb dar, und daher hat hier das Privatrecht seine eigenen Schutzmechanismen entwickelt. Das gilt darüber hinaus sogar gegenüber Monopolen, denen Privat- und Wettbewerbsrecht ebenfalls mit spezifischen Mitteln beizukommen suchen. Umgekehrt ist der Ansatz bei der „privaten Macht“ auch wieder zu eng, gibt es doch Grundrechte, die wegen ihrer besonderen Sensibilität eines erhöhten Schutzes gegenüber privaten Eingriffen auch dann bedürfen, wenn zwischen den Parteien kein Machtgefälle besteht; man denke nur an die Religions- und an die Gewissensfreiheit oder auch an die körperliche Integrität. Insgesamt kann somit das Kriterium der „privaten Macht“ nicht den zentralen oder gar alleinigen Ansatzpunkt für die Lösung der Drittwirkungsproblematik bilden, sondern nur einen unter mehreren Aspekten – allerdings in der Tat einen besonders wichtigen. 2. Dogmatische Strukturen und Vorzüge der Lehre von der „mittelbaren“ Drittwirkung a) Die grundsätzliche Schonung der Privatautonomie und der Grundstrukturen des Privatrechts Die Mängel der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung sucht die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung zu vermeiden. Nach dieser ist der Schutz der Grundrechte gegenüber Akten von Privatrechtssubjekten bekanntlich durch das „Medium“ des Privatrechts selbst zu verwirklichen. Dazu nutzt sie vor allem dessen Generalklauseln, was zwar nicht geradezu begriffsnotwendig ist, aber praktisch den bei weitem wichtigsten, weil sowohl ausfüllungsfähigen als auch flexiblen Ansatz bildet. Dadurch werden – und das stellt den Hauptvorzug dieser Lehre dar – sowohl die Privatautonomie als auch die Grundstrukturen des Privatrechts ge- [38] schont. Wenn man nämlich in erster Linie den Weg über Vorschriften wie die §§ 138, 242, 826 BGB geht, werden die diesen zugrunde liegenden Kriterien zwar, wie Dürig einmal formuliert hat, grundrechtlich „geschärft“23, aber nicht prinzipiell verändert und insbesondere die spezifisch privatrechtlichen Übermaßverbote nicht durch das viel strengere verfassungsrechtliche Übermaßverbot ersetzt. Auch 23
G. Dürig, Grundrechte und Privatrechtsprechung, in: FS Nawiasky, 1956, S. 157 (178 f.).
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bleibt der Grundsatz „stat pro ratione voluntas“ und damit auch die Privatautonomie im Kern unberührt, da bei dieser Vorgehensweise eine allgemeine Legitimationspflicht oder -last für privates Verhalten nicht entsteht. b) Die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte als dogmatische Grundlage Allerdings ist die dogmatische Grundlage der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung lange Zeit im Dunkeln geblieben. Die vom Bundesverfassungsgericht benutzte Wendung von der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte überzeugt insoweit wegen ihres rein metaphorischen Charakters nicht voll24. Inzwischen ist jedoch durch den Rückgriff auf die – heutzutage im Grundsatz fast unumstrittene – Funktion der Grundrechte als Schutzgebote eine Konzeption entwickelt worden, welche m. E. die Grundprobleme befriedigend zu lösen vermag, sich im Schrifttum weitgehend durchgesetzt hat25, vom BAG – einst dem Hort der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung – ausdrücklich übernommen26 und der Sache nach auch vom Bundesverfassungsgericht rezipiert worden ist27. Da ich die Problematik in diesem Kreise im wesentlichen als bekannt voraussetzen darf, beschränke ich mich darauf, diejenigen Punkte hervorzuheben, die für die Parallelproblematik der Drittwirkung der Grundfreiheiten besonders wichtig sind. [39] Normadressat der Schutzgebote ist die staatliche Gewalt, in erster Linie also der Gesetzgeber. Demgemäß ist dieser grundsätzlich von Verfassungs wegen verpflichtet, die den Grundrechten zugrunde liegenden Güter vor Eingriffen anderer Privatrechtssubjekte zu schützen. Es entsteht somit eine Dreieckskonstellation: Das angegriffene Privatrechtssubjekt hat einen grundrechtlichen Schutzanspruch gegen den Staat – vorzustellen als Spitze des Dreiecks –, und dieser Vgl. näher Canaris (Fn. 8), S. 27 ff. Vgl. Canaris (Fn. 6), S. 225 ff. und ders. (Fn. 8), S. 37 ff. m. umf. N. in Fn. 91; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 76 III 4 b und 5; H. D. Jarass, Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, AöR 120 (1995), S. 345 (352 f.); M. Oldiges, Neue Aspekte der Grundrechtsgeltung im Privatrecht, in: FS Friauf, 1996, S. 281 (299 ff.); T. Langner, Die Problematik der Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, 1998, S. 235 ff.; L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, S. 57 f.; Ruffert (Fn. 8), S. 144 ff. m. w. N.; ablehnend z. B. P. A. Windel, Über Privatrecht mit Verfassungsrang und Grundrechtswirkungen auf der Ebene einfachen Privatrechts, Der Staat 37 (1998), S. 385 (389 ff.); J. Lücke, Die Drittwirkung der Grundrechte an Hand des Art 19 Abs. 3 GG. Zur horizontalen Geltung der Grundrechte in neuer Sicht, JZ 1999, S. 377 (382 f.). 26 Vgl. BAG AP Nr. 11 und Nr. 12 zu § 1 TVG Tarifverträge: Luftfahrt. 27 Vgl. vor allem BVerfGE 89, 231 ff. und dazu die quasi-authentische Interpretation durch T. Dieterich, Bundesverfassungsgericht und Bürgschaft, WM 2000, S. 11 (12); BVerfGE 103, 89 (100 ff.). 24 25
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nimmt zur Verwirklichung des Schutzes einen Eingriff in die – i. d. R. ebenfalls grundrechtlich gewährleisteten – Güter des angreifenden Privatrechtssubjekts vor, während zwischen den beiden Privatrechtssubjekten untereinander – vorzustellen als Basis des Dreiecks – im Gegensatz zur Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung keine grundrechtliche, sondern nur eine zivilrechtliche Beziehung besteht. Auf diese Weise ist das Problem des Normadressaten befriedigend gelöst. c) Mediatisierung durch das einfache Recht und Untermaßverbot Zur Umsetzung der Schutzgebotsfunktion – die allen Grundrechten zukommt28 – stehen dem Staat seine spezifischen Mittel zur Verfügung. Da Einzeleingriffe im Privatrecht grundsätzlich ausscheiden, bleiben für den Schutz der Grundrechte hier nur die privatrechtliche Gesetzgebung und die diese ergänzende Rechtsprechung, so daß es zu einer Mediatisierung der Schutzgebote durch das einfache Recht kommt. In diesem Sinne bestätigt sich somit in der Tat, daß die Drittwirkung der Grundrechte durch das „Medium“ des Privatrechts erfolgt. Demgemäß wird man in der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung dogmatisch eine besondere Erscheinungsform der Schutzgebotslehre zu sehen haben29. Was Art, Ausmaß und Intensität des gebotenen Schutzes angeht, so entspricht der Schutzgebotsfunktion ein Untermaßverbot30, welches das Gegenstück zu dem mit der Eingriffsverbotsfunktion verbundenen Übermaßverbot darstellt. Inhaltlich bedeutet das, daß die Grundrechte nur einen Mindestschutz und nicht etwa eine Optimierung des Schutzes fordern. In diesem Sinne hat sich auch das Bundesverfassungsgericht geäußert31; das sich im übrigen bekanntlich auch den Ausdruck Untermaßverbot zu eigen gemacht hat32. [40] Daß es nur um einen Mindestschutz geht, ist dogmatisch und praktisch von großer Bedeutung. Darin liegt nämlich die verfassungsrechtliche Legitimation dafür, daß sowohl die Privatautonomie als auch die tradierten Strukturen des Privatrechts – das etwa in den zwingenden Teilen des Vertragsrechts und im Deliktsrecht durchaus als eine, wenngleich meist nicht verfassungsdeterminierte, Konkretisierung verfassungsrechtlicher Schutzgebote verstanden werden kann und diesen demgemäß schon bisher nahezu durchweg Genüge tut – weitgehend „geschont“ werden, wie das wiederum auch die Lehre von der mittelbaren Dritt28 Das kann hier nicht vertieft werden, vgl. näher Canaris (Fn. 6), S. 276; Ruffert (Fn. 8), S. 154 ff., 170 ff. 29 Ebenso Langner (Fn. 25), S. 244 f.; Ruffert (Fn. 8), S. 252 f. 30 Vgl. Canaris (Fn. 6), S. 245 und ders. (Fn. 8), S. 39 ff., 83 ff.; Ruffert (Fn. 8), S. 215 ff. m. w. N. 31 Vgl. z. B. BVerfGE 97, 169, 178. 32 BVerfGE 88, 203, 254 ff.
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wirkung anstrebt. Insbesondere wirkt das Untermaßverbot grundsätzlich schwächer als das Übermaßverbot33, weil es hier um ein Problem des gesetzgeberischen Unterlassens geht und es demgemäß wie bei jeder Unterlassensproblematik der Überwindung einer besonderen Argumentationsschwelle bedarf, um eine Pflicht zum Handeln zu begründen. Zugleich wird dadurch gewährleistet, daß den Gesetzgeber die Legitimationslast trifft, wenn er zum Schutze eines Privatrechtssubjekts in Grundrechte eines anderen Privatrechtssubjekts eingreift34. III. Dogmatische Grundlagen der Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten Ich hätte nicht gewagt, Sie mit so viel Verfassungsrecht zu behelligen – zumal ein großer Teil davon den meisten von Ihnen trivial erschienen sein wird –, wäre ich nicht der Meinung, daß die vorgetragenen Gedanken sich mutatis mutandis weitgehend, ja fast Schritt für Schritt für die Problematik der Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten fruchtbar machen lassen. 1. Der Meinungsstand a) Die Praktizierung einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten durch den EuGH Wie ich bereits erwähnt habe, geht der EuGH von einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten aus. In dem insoweit grundlegenden Urteil „Walrave“ aus dem Jahre 1974 hat er ausgeführt, daß die Artt. 12, 39 und 49 EG „jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung verbieten“ und dieses Verbot „nicht nur für Akte der staatlichen Behör- [41] den gilt, sondern sich auch auf sonstige Maßnahmen erstreckt, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten. Denn die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr ... wäre gefährdet, wenn die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, daß privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten“35. Aus diesen Worten geht deutlich hervor, daß der EuGH als Adressaten der gemein33 Vgl. näher Canaris (Fn. 8), S. 43 ff.; zustimmend Ruffert (Fn. 8), S. 219; a. A. vor allem Hager (Fn. 12), S. 381 ff. 34 Vgl. J. Isensee, in J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. V, 1992, § 111 Rn. 5 a. E. und 7. 35 EuGH vom 12.12.1974, Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, 1419 f. Rz. 17 f. („Walrave“).
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schaftsrechtlichen Diskriminierungsverbote auch Privatrechtssubjekte ansieht und deren Autonomie insoweit hintansetzt. Es handelt sich also in der Tat um unmittelbare Drittwirkung im eingangs36 definierten Sinne37. Die soeben zitierten Ausführungen des Walrave-Urteils hat der EuGH sodann dem besonders spektakulären Bosman-Urteil aus dem Jahre 1995 zugrunde gelegt38. Dabei ist er insofern einen wesentlichen Schritt weiter gegangen, als er auch für Eingriffe von Privatrechtssubjekten in die Freizügigkeit explizit nur die – auf diese offenkundig nicht zugeschnittenen – Rechtfertigungsgründe des Art. 39 Abs. 3 EG als relevant anerkannt hat39. Ähnlich hat er jüngst im Fall „Lehtonen“ entschieden40. Allerdings ging es in allen drei Fällen um eine „kollektive“ Regelung, nämlich um Bestimmungen in einer Verbandssatzung, doch hat der EuGH sich von diesem Bezug spätestens im Angonese-Urteil aus dem vorigen Jahr gelöst und schlicht ausgesprochen, daß „das in Art. 39 des Vertrags ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auch für Privatpersonen gilt“41. b) Stellungnahmen des Schrifttums Die Stellungnahmen im deutschen Schrifttum divergieren. Meist wird für unmittelbare Drittwirkung plädiert42, mitunter aber auch für mittelba- [42] re43
Vgl. oben I 2. Vgl. dazu ferner unten 2 a a. E. zur Anwendbarkeit von Art. 39 Abs. 3 EG. 38 AaO. (Fn. 3), S. 5065 f. Rz. 80 f.; vgl. dazu eingehend unten IV 2 a und b. 39 Vgl. dazu näher unten bei und nach Fn. 50. 40 AaO. (Fn. 4) und dazu eingehend unten IV 2 c; vgl. ferner EuGH vom 11.4.2000, verb. Rs. C 51/96 und C 191/97, Slg. 2000, 1-2549, S. 2618 ff. Rz. 60 ff. („Deliège“). 41 AaO. (Fn. 5), S. 4173 Rz. 36 und dazu eingehend unten IV 3 a. 42 Vgl. z. B. D. Schaefer, Die unmittelbare Wirkung des Verbots der nichttarifären Handelshemmnisse (Art. 30 EWGV) in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten, 1987, S. 189 ff.; S. Hobe/Chr. Tietje, Europäische Grundrechte auch für Profisportler – EuGH, NJW 1996, 505, JuS 1996, S. 486 (488 f.); H. Reichold, Arbeitsrechtsstandards als „Aufenthaltsmodalitäten“, ZEuP 1998, S. 434 (449); T. O. Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, S. 94 ff., 119; D. Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit – Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, 2000, S. 87 ff.; Ch. Tsiliotis, Der verfassungsrechtliche Schutz der Wettbewerbsfreiheit und seine Einwirkung auf die privatrechtlichen Beziehungen, 2000, S. 705 f.; ablehnend z. B. W. Kluth, Die Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, AöR 122 (1997), S. 557 (581); P.-C. Müller-Graff, in: H. von der Groeben/J. Thiesing/C.-D. Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Aufl. 1997, Art. 30 Rn. 324 ff.; W. Weiß, Die Personenverkehrsfreiheiten von Staatsangehörigen assoziierter Staaten in der EU, 1998, S. 108 ff.; Streinz/Leible (Fn. 2), S. 464; T. Körber, Innerstaatliche Anwendung und Drittwirkung der Grundfreiheiten? – Anm. zu EuGH v. 06.06.2000, Rs. C-281/98, EuR 2000, S. 932 (945 ff.); Jaeckel (Fn. 25), S. 230 f. 36 37
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oder nur für Drittwirkung schlechthin ohne explizite Festlegung auf den Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Wirkung44 oder für Drittwirkung lediglich von Art. 12 EG unter Beschränkung auf „intermediäre Gewalten“45. Nicht selten sind die Positionen schwer zuzuordnen, was teilweise darauf beruht, daß die Frage nach dem Normadressaten der Grundfreiheiten nicht klar genug beantwortet wird, teilweise aber auch darauf, daß die Drittwirkungs-Terminologie ihrerseits unklar ist46. 2. Die wichtigsten Einwände gegen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten a) Die Normstruktur der Grundfreiheiten: Offenheit des Wortlauts, Umkehrschluß aus den Artt. 86 Abs. 2, 81 f. EG und mangelnde Eignung der Rechtfertigungsgründe Ob den Grundfreiheiten wirklich unmittelbare Drittwirkung zukommt, hängt ähnlich wie hinsichtlich der Freiheitsrechte des Grundgesetzes von ihrer Normstruktur ab. Darüber entscheiden weder rechtslogische noch rechtsquellentheoretische Überlegungen, sondern letztlich eine Auslegung des Vertrags. Was insoweit zunächst den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen angeht, so ist dem EuGH zuzugeben, daß danach die Artt. 39, 43, 49 und 56 EG in der Tat für eine Anwendung auf Privatrechtssubjekte offen scheinen. Andererseits steht aber auch außer Zweifel, daß eine solche durch diese Bestimmungen keineswegs klar angeordnet wird. Es kommt daher wesentlich auf die systematische und die teleologische Interpretation des Vertrages an. Insoweit ist zunächst von Bedeutung, daß der Vertrag eine Bestimmung enthält, die in der Tat zweifelsfrei eine unmittelbare Drittwirkung anordnet – nämlich Art. 86 Abs. 2 EG, wonach „für Unternehmen, die mit Dienstlei- [43] stungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, die Vorschriften dieses Vertrages gelten ...“. Diese Regelung wäre schwer verständlich, wenn als Normadressaten des Vertra-
43 Vgl. vor allem Streinz/Leible (Fn. 2), S. 465 ff.; tendenziell auch A. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 757 a. E. 44 So z. B. E. Steindorff, Drittwirkung der Grundfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS Lerche, 1993, S. 575 (576, 5.86); ders. (Fn. 10), S. 278 f., 287, 296. 45 So W. H. Roth, Drittwirkung der Grundfreiheiten?, in: FS Everling, 1995, S. 1231 (1245 f.); M. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, S. 254 ff., 263 ff.; für Art. 28 EG auch Müller-Graff (Fn. 42), Rn. 305. 46 Vgl. dazu oben Fn. 6 und unten IV 1 b nach Fn. 105.
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ges ohnehin auch die Privatrechtssubjekte anzusehen wären, und daher legt sie insoweit einen Umkehrschluß nahe47 – ähnlich wie Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Mit noch mehr Gewicht gilt das für die Artt. 81 f. EG48, die das Kartellverbot und den Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung regeln. Denn wenn den Freiheitsrechten wirklich generell unmittelbare Drittwirkung zukäme, könnte man schon aus ihnen entsprechende Beschränkungen herleiten – und das ohne Voraussetzungen wie das Vorliegen einer spürbaren Wettbewerbsverfälschung, eines unternehmerischen Handelns, einer marktbeherrschenden Stellung usw. Bei Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten müßte man also insoweit die Artt. 81 f. EG als lex specialis gegenüber den Grundfreiheiten ansehen49, doch wirkt eine solche Qualifikation überaus gekünstelt, ja geradezu paradox, weil eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, wie soeben angedeutet, in bestimmten Punkten zu einer strengeren (!) Kontrolle wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens führen würde als die Artt. 81 f. EG und diese demgemäß als Erweiterung (!) privatautonomer Gestaltungsmöglichkeiten zu qualifizieren wären. Viel näher liegt daher, genau umgekehrt anzunehmen, daß der EG-Vertrag von der Privatautonomie – die anerkanntermaßen durch ihn implizit gewährleistet wird – als selbstverständlicher Voraussetzung ausgeht und diese in den Artt. 81 f. EG einschränkt. Dann aber kann den Grundfreiheiten insoweit keine unmittelbare Drittwirkung zukommen. Ein noch stärkeres normstrukturelles und systematisches Argument gegen eine solche ergibt sich aus den Rechtfertigungsgesichtspunkten für eine Beschränkung der Grundfreiheiten. Als solche werden nämlich in Art. 39 Abs. 3 EG hinsichtlich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer nur „Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ genannt. Diese Kriterien sind offenkundig auf staatliche Maßnahmen zugeschnitten und passen nicht für das Handeln von Privatrechtssubjekten50. Demgemäß hatte die UEFA im Fall Bosman eingewendet, eine Anwendung von Art. 39 EG führe dazu, daß diese Bestimmung „für Privatpersonen einschränkender sei als für die Mitgliedstaaten, da sich nur letztere auf Beschränkungen berufen könnten, die aus Grün- [44] den der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt seien“51. Darauf hat der EuGH in der ihm nicht selten eigenen lapidaren Art lediglich erwidert, daß „nichts dagegen spricht, daß die Rechtfertigungsgründe in Bezug auf die öffentliVgl. Roth (Fn. 45), S. 1244 f.; Jaensch (Fn. 45), S. 252; Streinz/Leible (Fn. 2), S. 464. Vgl. Roth (Fn. 45), S. 1242 f.; Streinz/Leible (Fn. 2), S. 464; L. O. Michaelis, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten – Zum Fall Angonese, NJW 2001, S. 1841 (1842). 49 So in der Tat Kluth (Fn. 42), S. 572 f. 50 So zutreffend schon Steindorff (Fn. 44), S. 584; ebenso oder ähnlich Roth (Fn. 45), S. 1241 f.; C. Weber, Die Freizügigkeit für Arbeitnehmer in der EG nach der Entscheidung „Bosman“, RdA 1996, S. 107 (108); Streinz/Leible (Fn. 2), S. 461 und 463. 51 AaO. (Fn. 3), S. 5066 Rz. 85. 47 48
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che Ordnung, Sicherheit und Gesundheit von Privatpersonen geltend gemacht werden“52. Das ist zwar rein rechtlich gesehen natürlich zutreffend, verfehlt aber die Problematik insofern, als Privatrechtssubjekte in tatsächlicher Hinsicht kaum jemals in der Lage sein werden, derartige Rechtfertigungsgründe vorzubringen. Die in Art. 39 Abs. 3 EG enthaltene Schranke weist daher in Wahrheit in ganz ähnlicher Weise auf die reine Staatsgerichtetheit der Grundfreiheiten hin wie das die Gesetzesvorbehalte der Grundrechte tun53. Im übrigen wird daraus, daß der EuGH den Privatrechtssubjekten lediglich dieselben Rechtfertigungsgründe wie den Mitgliedstaaten zugesteht, mit besonderer Klarheit deutlich, daß seiner Rechtsprechung in der Tat die Konzeption einer unmittelbaren Drittwirkung zugrunde liegt. Außerdem zeigt sich daran plastisch, daß es keineswegs nur um Fragen der dogmatischen Konstruktion, sondern z. T. auch um praktische Ergebnisse geht – und zwar um solche von u. U. großer Tragweite. b) Die Gefährdung von Privatautonomie und Privatrechtsgesellschaft Die an die Rechtfertigungsgründe anknüpfende Argumentation läßt sich sogar noch verschärfen. Die Replik des EuGH auf den Einwand der UEFA ist nämlich auch – und vor allem! – deshalb inadäquat, weil Privatrechtssubjekte überhaupt nicht verpflichtet sind, „Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ zu verfolgen. Vielmehr macht es gerade ein Essentiale der Privatautonomie aus, daß die Parteien ihren privaten Interessen nachgehen dürfen, ohne öffentliche Interessen in irgendeiner Weise mitwahrnehmen zu müssen, ja daß sie grundsätzlich überhaupt keiner Legitimationspflicht oder -last hinsichtlich der von ihnen verfolgten Interessen unterliegen. Es trifft daher die Privatautonomie in ihrem Kern, wenn der EuGH den Privatrechtssubjekten nur die Wahrnehmung ganz bestimmter Ziele als Rechtfertigungsgrund offen läßt – und zwar auch abgesehen von dem schon erwähnten Umstand, daß ihnen diese aus tatsächlichen Gründen kaum jemals möglich ist – und eine Rechtfertigung an „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ bindet, wobei die privatautonome Regelung außerdem auch noch „zur Erreichung dieses Zweckes erforderlich“ sein muß54. Öffentliche Interessen dürfen [45] von den Privatrechtssubjekten zwar nicht verletzt werden und bilden also eine Schranke ihres Handelns, müssen aber andererseits von ihnen nicht angestrebt werden, so daß daraus grundsätzlich keine Zulässigkeitsvoraussetzung für ihr Handeln gemacht werden darf. In der gegenteiligen KonAaO. (Fn. 3), S. 5066 Rz. 86. Vgl. dazu oben II 1 a bei und nach Fn. 15. 54 So EuGH (Fn. 3), S. 5071 Rz. 104; vgl. dazu auch unten IV 2 c zur Entscheidung im Fall „Lehtonen“. 52 53
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zeption des EuGH verwirklicht sich daher genau jene Gefahr für die Privatautonomie, welche die Gegner der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte aus gutem Grund stets beschworen haben! Darüber hinaus ist die Sichtweise des EuGH auch mit den Grundprinzipien einer Privatrechtsgesellschaft unvereinbar. Denn wenn sich deren Charakteristika überhaupt einigermaßen klar präzisieren lassen, dann gehört zu diesen jedenfalls, daß ihre Mitglieder sich die Zwecke ihres Handelns grundsätzlich selbst setzen und frei wählen dürfen55. Es erscheint daher zwar als übertrieben, trifft aber letztlich doch einen richtigen Aspekt, wenn das Bosman-Urteil als Anfang vom „Ende der Privatrechtsgesellschaft“ kritisiert worden ist56. c) Das Fehlen einer hinreichenden Abwägungsmöglichkeit und die Überbewertung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten gegenüber anderen Formen der Privatautonomie Die Schrankenproblematik läßt schließlich noch einen letzten besonders gewichtigen Einwand gegen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten voll ins Licht treten: das Fehlen einer überzeugenden Abwägung zwischen der Freizügigkeit und anderen Formen der Privatautonomie, d. h. im Bosman-Fall der Vereinigungsfreiheit57. Zwar gesteht der EuGH ausdrücklich zu, daß auch letztere europarechtlich gewährleistet ist, doch sieht er insoweit als ausschlaggebend an, ob die von den Sportverbänden aufgestellten Regeln geradezu „erforderlich“ sind, um die Ausübung der Vereinigungsfreiheit zu gewährleisten58. Das steht wiederum in Widerspruch zum Prinzip der freien Zweckwahl und läßt überdies – und vor allem – völlig unberücksichtigt, daß zur Vereinigungsfreiheit auch die Satzungsautonomie gehört59, die grundsätzlich die Freiheit zur Aufstellung von Regeln für das Verhalten der Mitglieder im Sozial- und Wirtschaftsleben umfaßt. [46] Der Grund für die Enge dieser Sichtweise dürfte ein doppelter sein: Zum einen läßt die Schranke des Art. 39 Abs. 3 EG wegen der Staatsbezogenheit der dort genannten Rechtfertigungsgründe von vornherein keinen adäquaten Spiel55 Grundlegend F. Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 17 (1966), S. 75 (89 f.); vgl. dazu näher Canaris (Fn. 22), S. 874 f. 56 So Kluth (Fn. 42), S. 581. 57 Das kritisieren mit Recht auch R. Scholz/J. Aulehner, Die „3 plus 2“-Regel und die Transferbestimmungen des Fußballsports im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts, SpuRt 1996, S. 44 (45, 47); L. Gramlich, Grundfreiheiten contra Grundrechte im Gemeinschaftsrecht?. Überlegungen aus Anlaß der EuGH-Entscheidung „Bosman“, DÖV 1996, S. 801 (810). 58 AaO. (Fn. 3), S. 5065 Rz. 79 f. 59 Vgl. nur Scholz/Aulehner (Fn. 57), S. 45.
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raum für eine Abwägung mit gegenläufigen spezifisch privaten Interessen; und zum anderen sind spezielle, d. h. an ein bestimmtes Merkmal wie die Staatsangehörigkeit oder das Geschlecht anknüpfende Diskriminierungsverbote ihrer Struktur nach einer Abwägung ohnehin allenfalls in engen Grenzen zugänglich60. Das Fehlen eines angemessenen Spielraums für eine Abwägung mit gegenläufigen privatautonomen Zwecksetzungen ist auch deshalb sachwidrig, weil die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten ihrerseits ebenfalls Erscheinungsformen der Privatautonomie bilden. Denn die Freiheit des Warenverkehrs, der Arbeitsmöglichkeiten und -bedingungen, der Niederlassung sowie des Dienstleistungs- und des Kapitalverkehrs stellen nichts anderes dar als besondere Ausprägungen der Wirtschaftsfreiheit und sind damit zwangsläufig auf die Privatautonomie bezogen. Gleiches gilt für die Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarkts, die, wenn dieser den Namen „Markt“ verdienen soll, gar nicht anders gedacht werden kann als unter der Prämisse einer Gewährleistung der Privatautonomie. Was aber soll es legitimieren, daß gerade und nur die im EG-Vertrag genannten Freiheiten a limine, d. h. ohne problemspezifische Abwägung, Vorrang vor anderen Formen der Privatautonomie wie z. B. der Vereinigungs- oder der Abschlußfreiheit genießen?! Für das Verhalten der Privatrechtssubjekte untereinander erscheint ein solcher Vorrang als geradezu widersinnig, weil die Privatautonomie allen Privatrechtssubjekten gleichermaßen zukommt und ihre Erscheinungsformen alle aus derselben Wurzel entspringen, wohingegen der grundsätzliche Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten gegenüber Maßnahmen und Interessen der Mitgliedstaaten in der Tat unerläßlich ist, um die in den Artt. 2–4 EG vorgegebenen Ziele und Politiken zu verwirklichen. d) Das Spannungsverhältnis zwischen Diskriminierungsverboten und iustitia commutativa Wie wenig sich die Grundfreiheiten als unmittelbare Schranken privaten Handelns eignen, zeigt sich im übrigen auch daran, daß sie in erster Linie spezielle Diskriminierungsverbote darstellen. Bei der Umsetzung eines solchen besteht nämlich die Gefahr, daß es zur einer Beeinträchtigung der iustitia commutativa in ihrer Erscheinungsform als vertraglicher Austauschgerechtigkeit kommt61. Das gilt schon deshalb, weil diese primär formal i. S. von pro- [47] zedural zu verste-
Vgl. auch unten bei Fn. 94. Vgl. auch Schiek (Fn. 42), S. 294 f., 307, deren Ziel freilich vor allem darin besteht zu zeigen, daß die Auflösung dieses Spannungsverhältnisses mit heutigem Vertragsdenken vereinbar ist, vgl. S. 323 ff.; das halte ich i. E. für zutreffend, und das steht nicht in Widerspruch zur im Text vertretenen Ansicht. 60 61
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hen ist und vor allem auf dem Grundsatz „volenti non fit iniuria“ beruht62. Darüber geht die Statuierung eines Diskriminierungsverbots weit hinaus; denn wenngleich Diskriminierungen aufgrund von vertragsfremden Merkmalen wie Rasse, Religion oder Staatsangehörigkeit der universalistischen Moral des Marktes widersprechen63, stellt es doch eine Entscheidung von erheblichem materialem Gehalt dar und löst daher ein entsprechend großes Legitimationsbedürfnis aus, wenn die Rechtsordnung die Verhinderung derartiger Diskriminierungen nicht den Selbstregulierungsmechanismen des Marktes überläßt, sondern insoweit mit Sanktionen eingreift. Außerdem reichen entsprechende Verbote nicht selten in den Bereich der iustitia distributiva hinein, für deren Berücksichtigung auf dem Gebiete des Privatrechts nur ausnahmsweise Raum ist64. Allerdings läßt sich hier u. U. Abhilfe dadurch erreichen, daß man schon den Tatbestand einer Diskriminierung verneint; mit Recht hat der EuGH demgemäß z. B. in der Entscheidung „HaugAdrion“ die Frage verneint, ob die Verweigerung eines Schadensfreiheitsrabatts in der Kfz-Haftpflichtversicherung bei Fahrzeugen mit Zollkennzeichen gegen die Diskriminierungsverbote der Artt. 12, 28 und 39 EG verstößt65. Andererseits ergibt eine Analyse des Angonese-Urteils, daß es in der Tat zu untragbaren Verstößen sowohl gegen das subjektive als auch gegen das objektive Äquivalenzprinzip und damit gegen elementare Postulate der Austauschgerechtigkeit führen könnte, wenn man in rigider Durchführung des diesem Urteil zugrunde liegenden Ansatzes jede auch nur mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit beim Abschluß von Verträgen für unzulässig erklären würde66. Insgesamt zeigt sich somit, daß es auch zur Austarierung des Spannungsverhältnisses zwischen Diskriminierungsverboten und iustitia commutativa eines weiten Abwägungsspielraums bedarf. [48] e) Die Untauglichkeit des Kriteriums der „privaten Macht“ als Grundlage einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten und die Sonderproblematik von dem Staat zuzurechnenden Unternehmen Angesichts der Vielzahl und des Gewichts der Einwände gegen die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten nimmt es nicht wunder, 62 Vgl. näher C.-W. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 46 ff. 63 Vgl. Canaris (Fn. 62), S. 74; vgl. auch aaO. S. 27 f. 64 Vgl. eingehend Canaris (Fn. 62), S. 33 f., 124 ff. 65 EuGH vom 13.12.1984, Rs. 251/83, Slg. 1984, 4277, 4288 f. Rz. 16 ff. („Haug-Adrion“). 66 Vgl. etwa das Beispiel der Ausschreibung einer Stelle für einen Assessor mit deutschem Prädikatsexamen unten IV 3 a vor und bei Fn. 122.
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daß im Schrifttum nach Auswegen aus den Engpässen gesucht wird, in die man bei strikter Durchführung dieses Ansatzes gerät. Ein Lösungsversuch besteht darin, dieses Konzept auf „intermediäre Gewalten“, „private Macht“ oder dgl. zu beschränken67. Das paßt zwar gut für die Urteile in Sachen Walrave, Bosman und Lehtonen, da es dort um Regelwerke von Sportverbänden ging, dürfte aber seit dem Angonese-Urteil schon deshalb überholt sein, weil in diesem der Normadressat von Art. 39 EG lediglich eine Sparkasse war. Eine solche kurzerhand in den Rang einer „intermediären Gewalt“ oder eines Trägers „privater Macht“ zu erheben, würde diesen Begriffen vollends jede Kontur rauben und das Problem nur verdunkeln statt es zu lösen. Allerdings hatte die Sparkasse sich bei der angegriffenen Bedingung für die Erlangung einer Anstellung bei ihr – die Vorlegung eines bestimmten Sprachtestats – offenbar an eine tarifvertragliche Regelung angelehnt, doch läßt sich auch dadurch kein hinreichender Bezug zu einer „intermediären Gewalt“ herstellen, weil der EuGH ausdrücklich ausgesprochen hat, daß die Tarifnorm nicht entscheidungserheblich sei68. Im übrigen gelten die Einwände, die ich vorhin gegen die zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte entwickelte Parallelkonzeption vorgetragen habe69, mutatis mutandis auch hier. Für den EG-Vertrag trifft sogar in besonderem Maße zu, daß das Mittel zur Entschärfung privater Macht in erster Linie die Gewährleistung eines funktionsfähigen Wettbewerbs darstellt. Außerdem ist dieser Begriff viel zu unscharf und auch zu pauschal, um ihn zum allein ausschlaggebenden Anknüpfungspunkt und damit geradezu zum Tatbestandsmerkmal für die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten zu erheben. Vielmehr kann er nur eines von mehreren Elementen in einem umfassender angelegten Konzept bilden. Zu bejahen ist eine unmittelbare Drittwirkung dagegen grundsätzlich gegenüber öffentlichen Unternehmen70. Gleichzustellen sind Unternehmen, die Aufgaben wahrnehmen, welche rechtlich dem Staat zuzurechnen sind71. Ob das der Fall ist, entscheidet sich nach dem jeweiligen nationalen Recht. Daß es [49] hier mitunter zu Abgrenzungsschwierigkeiten kommen kann, stellt kein relevantes Argument für eine generelle unmittelbare Drittwirkung dar; denn in der großen Masse der Fälle steht in allen Staaten der EU gleichermaßen außer Zweifel, ob es sich um eine spezifisch privatrechtliche Aktivität handelt oder nicht.
Vgl. die N. in Fn. 45; ablehnend Streinz/Leible (Fn. 2), S. 464 f. AaO. (Fn. 5), S. 4171 Rz. 26 f. 69 Vgl. oben II 1 c. 70 Um ein solches ging es im Fall „Ferlini“, EuGH vom 3.10.2000, Rs. C-411/98, Slg. 2000, I-8081. 71 Vgl. dazu näher Streinz/Leible (Fn. 2), S. 464 f. 67 68
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3. Dogmatische Strukturen und Vorzüge einer mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten Es wird Sie nicht überraschen, daß ich das Konzept, mit dessen Hilfe sich die Mängel der Doktrin von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten überwinden lassen, in einer mittelbaren Drittwirkung und deren Grundlage wiederum im Gedanken der Schutzgebotsfunktion sehe. In der Tat kann man so die unzuträglichen Konsequenzen einer unmittelbaren Drittwirkung vermeiden, ohne andererseits gegenüber den vom EuGH angestrebten, teilweise durchaus berechtigten Zielen allzu große Abstriche machen zu müssen. a) Die Schutzgebotsfunktion der Grundfreiheiten als dogmatische Grundlage Den Weg zu einer solchen Lösung hat der EuGH selbst geebnet, indem er im Urteil „Kommission gegen Französische Republik“ im Jahre 1997 der Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 28 EG eine Schutzgebotsfunktion zuerkannt hat. Er hat nämlich entschieden, daß diese Vorschrift „den Mitgliedstaaten nicht nur eigene Handlungen oder Verhaltensweisen, die zu einem Handelshemmnis führen könnten, verbietet, sondern sie in Verbindung mit Art. 10 EG auch dazu verpflichtet, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheit sicherzustellen“72. Eine Verletzung dieser Pflicht kann dabei, wie der EuGH ausdrücklich ausgesprochen hat, auch darin liegen, daß „ein Mitgliedstaat es versäumt, ausreichende Maßnahmen zur Beseitigung von Hemmnissen für den freien Warenverkehr zu treffen, die insbesondere durch Handlungen von Privatpersonen in seinem Gebiet geschaffen wurden“73. Nun ging es in diesem Fall zwar um Gewalttaten von französischen Landwirten gegen den Import landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten und die Untätigkeit der französischen Behörden gegenüber diesen Aktionen – dem sogenannten Erdbeerenkrieg –, doch vermag ich keinen Grund zu sehen, warum nicht auch rechtsgeschäftliche Abreden, welche die [50] Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigen, eine Pflicht der Mitgliedstaaten zu einem geeigneten Einschreiten sollen auslösen können74. EuGH vom 9.12.1997, Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959, 6999 Rz. 32. AaO. (Fn. 72), S. 6999 Rz. 31 (Hervorhebung hinzugefügt). 74 Ebenso im Ansatz vor allem Streinz/Leible (Fn. 2), S. 465 ff., vgl. aber auch unten bei und mit Fn. 80, 87, 90. Auch Steindorff (Fn. 44), S. 584 hat bereits auf die „Pflicht der Gerichte, die Grundfreiheiten gegen jede Beeinträchtigung, also auch gegen privatautonome Maßnahmen zu schützen“ hingewiesen, ohne diesen Gedanken freilich zum Zentrum seiner Drittwirkungskonzeption zu machen; ähnlich ferner z. B. H. D. Jarass, Die Grundfreiheiten als Grund72 73
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Als Grundlage der Schutzpflicht sieht der EuGH dabei die beeinträchtigte Grundfreiheit selbst an; Art. 10 EG, der eine Pflicht der Mitgliedstaaten nach seinem klaren Wortlaut nicht etwa anordnet, sondern voraussetzt und nur die zu ihrer Erfüllung erforderlichen Mittel umschreibt, tritt lediglich ergänzend hinzu75. Zur Begründung führt der EuGH an, daß Art. 28 EG „für die Verwirklichung des Marktes ohne Binnengrenzen unabdingbar“ sei76. Es dürfte also letztlich um eine Anwendung des Gedankens des effet utile gehen; denn die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes ist erst dann voll sichergestellt, wenn der Staat nicht nur selbst unterläßt, sie zu beeinträchtigen, sondern grundsätzlich auch seine Bürger daran hindert, dies zu tun. Darüber hinaus wird man diese institutionelle Sichtweise durch eine individualrechtliche ergänzen können, da einem subjektiven Freiheitsrecht – und ein solches stellen die Grundfreiheiten nach der zutreffenden Ansicht des EuGH ja dar – wegen der elementaren Friedensstiftungsfunktion einer jeden Rechtsordnung grundsätzlich das Gebot innewohnt, den Träger der Freiheit vor Eingriffen anderer Personen zu schützen, doch kann ich diese – in elementare rechts-und staatstheoretische Fragen hineinreichende – Problematik hier nicht vertiefen. Was die Frage nach dem Normadressaten angeht, so haben wir wieder die vorhin geschilderte Dreieckskonstellation vor uns: Adressaten der Pflicht zum Schutze der Grundfreiheit sind die Mitgliedstaaten, die deren Beeinträchtigung durch (andere) Privatrechtssubjekte zu verhindern haben. Diese sind ihrerseits nicht Adressaten der betreffenden Schutzpflicht, sondern werden erst durch deren Erfüllung seitens des Staates betroffen, so daß es in der Tat auch hier (nur) um eine mittelbare Drittwirkung geht77. [51] b) Mediatisierung durch das Recht der Mitgliedstaaten, gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung, subsidiäre Staatshaftung Die „geeignete Maßnahme“ im Sinne von Art. 10 EG, welche die Mitgliedstaaten gegen die Beeinträchtigung von Grundfreiheiten durch Privatrechtssubjekte zu treffen haben, kann auf dem Gebiete des Privatrechts nicht in einem Einzeleingriff des Staates, sondern nur in einer Norm liegen, ist also in der Spragleichheiten, in: FS Everling, 1995, S. 593 (594 f.); T. Möllers, Doppelte Rechtsfortbildung contra legem?. Zur Umgestaltung des Bürgerlichen Gesetzbuches durch den EuGH und nationale Gerichte, EuR 1998, S. 20 (36). 75 Anders insoweit offenbar Streinz/Leible (Fn. 2), S. 465 Sp. 1 vor Ziff. 2 und 466 Sp. 1. 76 AaO. (Fn. 72), S. 6998 Rz. 30. 77 Vgl. zur Definition dieses Begriffs oben I 2 und zu seinem Verhältnis zum Schutzpflichtkonzept oben II 2 c bei Fn. 29.
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Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten
che von Art. 10 EG nicht „besonderer“, sondern „allgemeiner“ Art.78 In der Tat sind ja privatrechtliche Normen das adäquate Mittel zur Bekämpfung von mißbilligenswerten rechtsgeschäftlichen Regelungen oder von unerlaubten Handlungen. Folgerichtig kommt es somit auch hier zu einer Mediatisierung der Schutzgebotsfunktion durch das „einfache“ Recht – hier durch das der Mitgliedstaaten. Darin liegt dogmatisch und, wie sich sogleich zeigen wird79, auch praktisch ein fundamentaler Unterschied gegenüber einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten, da bei dieser die Problemlösung im wesentlichen auf der Ebene des europäischen Primärrechts angesiedelt ist. Zugleich springt wiederum die Parallele zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ins Auge. Diese ist auch insofern fortzuführen, als zur Erfüllung der gemeinschaftsrechtlichen Schutzpflicht keineswegs notwendigerweise der Gesetzgeber tätig werden muß, sondern auch die Rechtsprechung für Abhilfe sorgen kann. Letzteres ist sogar der nächstliegende Weg80, indem vor allem – immer noch dem Leitbild der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte folgend – die privatrechtlichen Generalklauseln im Wege einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zur Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Schutzgebote fruchtbar gemacht werden. Reicht das geschriebene Recht dazu nicht aus, ist zu einer gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung81 [52] überzugehen. Anders als bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung82 findet diese dabei m. E. nicht einmal am Verbot des Contra-legem-Judizierens eine Grenze; denn wenn das nationale Recht der durch eine Grundfreiheit gebotenen Lösung im Wege steht,
78 Selbstverständlich kann die Schutzpflicht auch gebieten, beide Arten von Mitteln nebeneinander einzusetzen. Daß z. B. im „Erdbeerenkrieg“ ein Einschreiten der Behörden – etwa ein Einsatz der Polizei – hätte erfolgen müssen, schließt demgemäß nicht aus, daß die betroffenen ausländischen Importeure der Produkte Ansprüche auf Schadensersatz gegen die an den Blockaden beteiligten Bauern hatten und daß das französische Deliktsrecht erforderlichenfalls insoweit gemeinschaftsrechtskonform hätte ausgelegt werden müssen; in Deutschland wären als Gegenstand einer solchen Auslegung vor allem § 823 Abs. 1 BGB i. V. mit dem Recht am Gewerbebetrieb und § 826 BGB in Betracht gekommen. Die Drittwirkung ist also zwar eine, aber nicht die einzige Konkretisierungsform der Schutzpflicht, vgl. oben II 2 c bei Fn. 29. 79 Vgl. 3 c bei und nach Fn. 90. 80 Anders offenbar Streinz/Leible (Fn. 2), S. 466, die betonen, daß „der Handlungsauftrag klar der nationalen Legislative und nicht der europäischen Judikative obliegt“, was zwar im Ansatz mit der hier vertretenen Position übereinstimmt, aber die Ergänzungsfunktion der nationalen Judikative zu Unrecht übergeht, vgl. dazu auch unten Fn. 87. 81 Vgl. zu dieser z. B. U. Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, RabelsZ 59 (1995), S. 598 (604 ff., 631 ff.); K. Langenbucher, Argument by Analogy in European Law, Cambridge Law Journal 57 (1998), S. 481 ff.; M. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 405 ff., 575 ff.; C.-W. Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: FS Bydlinski, 2002, S. 47 (81 ff.). 82 Vgl. dazu insoweit Canaris (Fn. 81), S. 91 ff.
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wird es wegen des Anwendungsvorrangs83 des Europarechts nach der Regel lex superior derogat legi inferiori verdrängt, wodurch die Rechtsprechung Raum für eine europarechtskonforme Rechtsfortbildung erhält. Eine Pflicht zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht besteht nicht, da Art. 100 GG auf Verstöße gegen das Europarecht anerkanntermaßen keine Anwendung findet84. In seltenen Ausnahmefällen kann die Rechtsprechung freilich gleichwohl an einer Rechtsfortbildung gehindert sein – sei es, daß es mehrere äquivalente Lösungen für das betreffende Problem gibt und insoweit die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers zu respektieren ist, oder sei es, daß das nationale Recht überhaupt keinen Ansatz für eine europarechtskonforme Lösung bereit hält und also eine unausfüllbare Lücke aufweist (worauf ich anhand des Falles „Angonese“ noch einmal zurückkommen werde85). Dann, aber auch nur dann kommt eine Haftung des betreffenden Mitgliedstaates nach den auf das Francovich-Urteil des EuGH86 zurückgehenden Regeln in Betracht87. c) Untermaßverbot, Entschärfung der Problematik der Rechtfertigungsgründe und Öffnung von Abwägungsspielräumen Was den Maßstab für eine Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Schutzpflicht angeht, so gilt auch für diese lediglich ein Untermaßverbot. Denn dieses beruht wie dargelegt88 darauf, daß es um ein Problem des gesetzgeberischen Unterlassens geht und daß demgemäß zunächst einmal eine entsprechende Handlungspflicht unter Überwindung der dabei bestehenden strukturellen Argumentationsschwelle zu begründen ist – ein Befund, der folgerichtig auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts ebenso zutrifft wie sonst. [53] Folglich ist nur ein gemeinschaftsrechtskonformes Mindestmaß, nicht aber ein Optimum an Schutz zu gewährleisten. Die dafür maßgeblichen Kriterien können nicht generell und abstrakt formuliert, sondern müssen nach und nach bereichs- und problemspezifisch entwickelt werden, wobei sich gewisse häufig wiederkehrende Gesichtspunkte 83 Vgl. zu diesem Begriff und dem Unterschied gegenüber dem Geltungsvorrang BVerfGE 73, 339, 375; 75, 223, 244; U. Di Fabio, Richtlinienkonformität als ranghöchstes Normauslegungsprinzip?, NJW 1990, S. 947 (950 f.). 84 Vgl. BVerfGE 31, 145, 174; 82, 159, 191. 85 Vgl. unten IV 3 b. 86 EuGH vom 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 („Francovich“); vgl. ferner EuGH vom 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C 48/93, Slg. 1996, I-1029 („Brasserie du pêcheur“). 87 Diese Lösung schlagen Streinz/Leible (Fn. 2), S. 467 vor, messen ihr jedoch offenbar zu große Bedeutung zu, weil sie die Möglichkeiten einer Abhilfe im Wege der europarechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung übergehen, vgl. dazu auch oben Fn. 80. 88 Vgl. oben II 2 c bei Fn. 33.
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nach Art eines „beweglichen Systems“ im Sinne Wilburgs zusammenfassen lassen dürften89. Generell und abstrakt läßt sich allerdings sagen, daß die Schranken der Grundfreiheiten bzw. die für deren Einschränkung geltenden Rechtfertigungsgründe, wie sie vor allem in Art. 39 Abs. 3 EG enthalten sind, im vorliegenden Zusammenhang nicht einschlägig sind90. Hier geht es nämlich um eine ganz andersartige Problemstellung, gilt es doch, eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zum Schutze einer Grundfreiheit überhaupt erst zu begründen, und nicht etwa, die Zulässigkeit eines Eingriffs in diese ausnahmsweise zu legitimieren. Zu den Vorzügen der Konzeption einer nur mittelbaren Drittwirkung, die auf dem Gedanken einer gemeinschaftsrechtlichen Schutzpflicht aufbaut, gehört somit auch, daß diese das leidige Problem der Bindung an die Schranken von Art. 39 Abs. 3 EG, die wie dargelegt91 für den Verkehr von Privatrechtssubjekten untereinander nicht passen, von vornherein gegenstandslos macht. Damit ist zugleich auch die außerordentliche Enge des Abwägungsspielraums überwunden, die sich bei der Analyse des Bosman-Urteils als so störend erwiesen hat und die bei Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung in der Tat unvermeidlich ist92. Denn für die Begründung einer Schutzpflicht ist es geradezu eine dogmatische Selbstverständlichkeit, daß dabei die beiderseitigen Interessen gegeneinander abzuwägen und mit dem Ziel praktischer Konkordanz aufeinander abzustimmen sind93, weil mit dem Schutz der Freiheit auf der einen Seite notwendigerweise ein Eingriff in die Freiheit – also etwa in eine Erscheinungsform der Privatautonomie – auf der anderen Seite einhergeht. Das gilt nicht nur für die Funktion der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote, sondern auch für ihre Funktion als Diskriminierungsverbote. Es stellt nämlich einen tiefgreifenden Unterschied dar, ob es sich um [54] ein unmittelbar an ein Privatrechtssubjekt gerichtetes Verbot der Diskriminierung eines anderen Privatrechtssubjekts handelt oder statt dessen um ein an einen Mitgliedstaat gerichtetes Gebot zum Schutze eines Privatrechtssubjekts vor einer Diskriminierung durch ein anderes Privatrechtssubjekt; denn ein solches Schutzgebot läßt aufgrund der Besonderheit seiner NormVgl. den Formulierungsvorschlag bei Canaris (Fn. 8), S. 80. Anders Streinz/Leible (Fn. 2), S. 466, wonach die Garantenpflicht der Mitgliedstaaten „den Schutz vor sämtlichen freiheitsbeschränkenden Verhaltensweisen in den Formen des Privatrechts erfaßt, sofern sich hierfür nicht ausnahmsweise Rechtfertigungsgründe anführen lassen“. 91 Vgl. oben III 2 a bei und nach Fn. 50. 92 Vgl. oben III 2 a bei und nach Fn. 50. 93 Vgl. auch W. Schroeder, Gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit von Transferregeln und Ausländerklauseln im Profisport, JZ 1996, S. 254 (256) und Gramlich (Fn. 57), S. 810, beide in Kritik am Bosman-Urteil des EuGH. Daß sich hier Grundfreiheit und Grundrecht gegenüber stehen, ändert an dem Postulat nach „praktischer Konkordanz“ nichts, da dieses grundsätzlich allgemein für die Kollision von Rechtsgütern gilt; a. A. Möllers (Fn. 74), S. 36. 89 90
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struktur dem Staat einen verhältnismäßig breiten Beurteilungs- und Abwägungsspielraum, da das Untermaßverbot und das durch dieses gebotene Schutzminimum nicht sogleich durch die Hinnahme jeder Form von Diskriminierung verletzt wird, wohingegen spezielle, d. h. an ein bestimmtes Merkmal wie die Staatsangehörigkeit oder das Geschlecht anknüpfende Diskriminierungsverbote ihrer Struktur nach rigide, ja nahezu absolut wirken und kaum Differenzierungsspielräume offen lassen94. IV. Unterschiede zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung der Grundfreiheiten im Lichte repräsentativer Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH Die Unterschiede zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung sind keineswegs nur dogmatischer Natur, sondern können erhebliche praktische Konsequenzen haben. Die Problematik sei daher wenigstens für einige Aspekte anhand repräsentativer Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH vertieft. 1. Der Fall „Dansk Supermarked“ Im Fall „Dansk Supermarked“ hat der EuGH den Satz ausgesprochen, „daß Vereinbarungen zwischen Privaten in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen des Vertrages über den freien Warenverkehr abweichen dürfen“95. Das scheint auf eine besonders weitreichende unmittelbare Drittwirkung hinzudeuten96. Eine nähere Analyse der vom EuGH zu entscheidenden Probleme und der Gründe des Urteils zeigt jedoch, daß ein solches Verständnis diesem nicht gerecht würde, ja daß es nicht einmal um „Drittwirkung“ im hier verwendeten Sinne des Wortes97 ging. Dem Urteil lag – etwas vereinfacht dargestellt – folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, ein Unternehmen mit Sitz in [55] Dänemark, hatte bei einem im Vereinigten Königreich ansässigen Hersteller eine bestimmte Stückzahl eines Services aus Steingut mit Motiven dänischer Schlösser bestellt, das auf der Rückseite ihren Namen und einen Hinweis auf ihr 50-jähriges Betriebsjubiläum trug. Da die Klägerin sehr hohe Qualitätsanforderungen gestellt hatte, gab es bei der Produktion viele Service „zweiter Wahl“, die für die LiefeVgl. auch oben bei Fn. 60. EuGH vom 22.1.1981, Rs. 58/80, Slg. 1981, 181, 195 Rz. 17 („Dansk Supermarked “). 96 So in der Tat z. B. Steindorff (Fn. 44), S. 578 f.; ders. (Fn. 10), S. 282 f.; T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 194. 97 Vgl. oben I 1. 94 95
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rung an die Klägerin nicht in Betracht kamen. Diese gestattete dem Hersteller daher, diese selbst zu vertreiben, erlegte ihm dabei jedoch die Beschränkung auf, daß ein Vertrieb nicht in den skandinavischen Ländern erfolgen dürfe. Ein dänisches Unternehmen („Dansk Supermarked“) kaufte gleichwohl (über mehrere Zwischenstationen) derartige Service und bot sie in Dänemark an. Dagegen richtete sich das Unterlassungsbegehren der Klägerin. Europarechtlich waren hier im wesentlichen zwei Problemkomplexe relevant. a) Ausschließlichkeitsrechte und unmittelbare Geltung der Warenverkehrsfreiheit Die Klägerin hatte ihr Unterlassungsbegehren in erster Linie auf urheberund warenzeichenrechtliche Vorschriften gestützt. Problematisch war daher deren Verhältnis zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 28 EG. Der EuGH hat, im Einklang mit seiner ständigen Rechtsprechung, letzterer den Vorrang eingeräumt. Dabei hat er als möglichen Rechtfertigungsgrund Art. 30 EG geprüft, wonach Einfuhrbeschränkungen „aus Gründen ... des gewerblichen und kommerziellen Eigentums“ gerechtfertigt sein können. Dies hat er hier verneint, weil die Ware rechtmäßig in den Verkehr gebracht und das Schutzrecht daher verbraucht war98. Es ist hier nicht der Ort, auf diese – z. T. sehr komplexe – Problematik in der Sache einzugehen. Was im vorliegenden Zusammenhang interessiert, ist allein ihre dogmatische Einordnung. Bezüglich dieser aber geht es insoweit nicht um Drittwirkung im hier verwendeten Sinne des Wortes, sondern vielmehr um die Geltung der Grundfreiheiten gegenüber den Normen des nationalen Privatrechts, die in der Tat eine „unmittelbare“ ist99. An den Grundfreiheiten zu messen ist hier nämlich nicht das Verhalten eines Privatrechtssubjekts als solches, also etwa die Geltendmachung des Ausschließlichkeitsrechts, sondern vielmehr die Norm, die dessen Reichweite festlegt, also das objektive Recht eines Mitgliedstaates100. Denn wenn die einschlägige Norm des Mitgliedstaates die Geltendmachung des Abwehranspruchs erlaubt, die gemein- [56] schaftsrechtliche Grundfreiheit sie aber verbietet, ist es geradezu aus normlogischen Gründen unausweichlich anzunehmen, daß letztere Vorrang vor ersterer hat und deren Anwendung nach dem Satz von der lex superior ausschließt; die Vorstellung, daß sich die Grundfreiheit nur gegen die Geltendmachung der mitgliedstaatlichen Norm durch den Inhaber AaO. (Fn. 95), S. 193 Rz. 11. Vgl. zu dieser Unterscheidung näher oben I 1. 100 Im Ebenso i. E. Roth (Fn. 45), S. 1231 f. in Analyse der jüngeren Rechtsprechung des EuGH; Streinz/Leible (Fn. 2), S. 465 f.; a. A. Steindorff (Fn. 44), S. 581 f.; kritisch auch I. Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts, 1998, S. 103 f. 98 99
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des subjektiven Rechts und den darin liegenden privatautonomen Akt und nicht gegen die diese gestattende Norm richtet, erscheint mir als rechtstheoretisch inkonsistent. Für mein dogmatisches Grundanliegen ist dabei von besonderem Reiz, daß es in der Diskussion um die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht ein genau korrespondierendes Parallelproblem gibt: die Frage, ob die rechtliche Ausformung der actio negatoria aus § 1004 BGB unmittelbar an den Grundrechten zu messen ist oder nicht. Das ist nach richtiger Ansicht zu bejahen101, zumal mit derartigen Normen des Privatrechts dieselben Wirkungen erzielt werden können wie mit öffentlichrechtlichen Vorschriften. In der unmittelbaren Geltung der Grundfreiheiten für die urheber- und warenzeichenrechtlichen Ausschlußrechte – die ja nichts anderes als eine besondere Ausprägung der actio negatoria darstellen oder doch zumindest deren Funktion wahrnehmen – kehrt somit das gleiche Grundproblem wieder. b) Lauterkeitsrechtliche Verbote und unmittelbare Geltung der Warenverkehrsfreiheit Die Klägerin hatte ihr Unterlassungsbegehren zusätzlich darauf gestützt, daß der Verkauf der Service durch die Beklagte gegen eine Vorschrift verstoßen würde, die an das Merkmal der Sittenwidrigkeit anknüpft und (u. a.) der Verhinderung unlauteren Wettbewerbs dient. Auch insoweit hat der EuGH der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 28 EG den Vorrang zuerkannt. In diesem Zusammenhang ist der vorhin zitierte Satz gefallen, daß „Vereinbarungen zwischen Privaten in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen des freien Warenverkehrs abweichen dürfen“. Wie sich aus dem nächsten Satz des Urteils ergibt, wollte der EuGH damit jedoch lediglich zum Ausdruck bringen, daß es mit Art. 28 EG unvereinbar wäre, die Unzulässigkeit des Verhaltens der Beklagten allein mit der Umgehung des zwischen der Klägerin und dem englischen Hersteller der Service vereinbarten Exportverbots – also etwa unter dem Gesichtspunkt der Ausnutzung fremden Vertragsbruchs oder dgl. – zu begründen, und daß der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz, wonach ein Schutzrecht durch Inverkehrbringen der [57] Ware in einem Mitgliedstaat verbraucht ist, nicht zur Disposition der Parteien steht102. Dazu bedarf es nicht der Annahme, daß das vertragliche Exportverbot gegen Art. 28 EG verstößt, sondern lediglich einer entsprechend restriktiven Handhabung der dänischen Norm über das Verbot 101 Vgl. J. Schwabe, Bundesverfassungsgericht und „Drittwirkung“ der Grundrechte, AöR 100 (1975), S. 442 ff.; Canaris (Fn. 8), S. 13. 102 So mit Recht auch Roth (Fn. 45), S. 1235; ähnlich ferner z. B. Jaensch (Fn. 45), S. 59 f.; Streinz/Leible (Fn. 2), S. 460.
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Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten
sittenwidrigen Handelns. Aus diesem Zusammenhang darf der Satz des EuGH nicht gelöst werden, so daß er für die Frage nach der Vereinbarkeit von wettbewerbsbeschränkenden Vertragsabreden mit Art. 28 EG letztlich nichts hergibt. Demgemäß geht es auch hier wieder nicht um Drittwirkung103, weil Gegenstand der Prüfung am Maßstab der Grundfreiheiten nicht das Verhalten eines Privatrechtssubjekts, sondern vielmehr eine Norm des Privatrechts ist. Daß für diese Art. 28 EG „unmittelbar“ gilt, leuchtet umso mehr ein, als die betreffende dänische Norm strafbewehrt ist. Im übrigen gibt es hier ebenfalls eine signifikante Parallele aus dem Bereich der Grundrechtswirkungen im deutschen Privatrecht. Dogmatisch und methodologisch gesehen handelt es sich nämlich um ein ganz ähnliches Problem wie im Fall „Lüth“104: Dort ging es darum, ob die Anwendung einer generalklauselartigen Vorschrift über die guten Sitten – nämlich des § 826 BGB – auf ein Verhalten einer Privatperson – nämlich einen Boykottaufruf – gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 5 Abs. 1 GG verstieß, hier geht es darum, ob die Anwendung einer generalklauselartigen Vorschrift über die guten Sitten – nämlich der Norm des dänischen Lauterkeitsrechts – auf ein Verhalten einer Privatperson – nämlich den Vertrieb der Service in Dänemark – mit der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 28 EG vereinbar ist. Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht im Fall „Lüth“ die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte entwickelt. Gerade am Fall „Dansk Supermarked“ zeigt sich jedoch, daß diese nicht auf die Problematik der Wirkungen der Grundfreiheiten im Privatrecht übertragen werden sollte, ja schon in sich selbst höchst fragwürdig ist. Zwar ist es selbstverständlich grundsätzlich möglich (und sinnvoll), die privatrechtlichen Generalklauseln „im Lichte“ der Grundfreiheiten gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren, doch wird damit der entscheidende Punkt nicht getroffen. Denn auch wenn sich eine solche Interpretation einmal nicht erreichen lassen sollte – etwa weil sie geradezu zu einer Denaturierung der Generalklausel führen würde –, geht die Grundfreiheit vor, da sie als lex superior Vorrang genießt (sei es Anwendungs- oder gar Geltungsvorrang). Demgemäß ging es auch im Fall „Lüth“ in Wahrheit nicht um „mittelbare Drittwirkung“, sondern um unmittelbare Geltung [58] von Art. 5 GG gegenüber einer bestimmten – verfassungsrechtlich untragbaren – Auslegung von § 826 BGB105. Dabei darf man sich nicht dadurch verwirren lassen, daß sich die Wirkung der Grundrechte bzw. der Grundfreiheiten nach der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ primär durch „das Medium der Generalklauseln“ entfaltet. Damit 103 Entgegengesetzt der Sprachgebrauch von Streinz/Leible (Fn. 2), S. 460: „In der Sache handelt es sich also um keine unmittelbare, sondern lediglich um eine mittelbare Drittwirkung.“ Ähnlich Jaensch (Fn. 45), S. 59 f. 104 BVerfGE 7, 198 ff. 105 Vgl. eingehend Canaris (Fn. 8), S. 30 ff.
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ist nämlich gemeint, daß diese extensiv gehandhabt werden sollen, um z. B. grundrechtswidrigen Verträgen mit Hilfe von § 138 BGB die Wirkung zu versagen oder grundrechtswidrige Verhaltensweisen mit Hilfe von § 826 BGB schadensersatzrechtlich zu sanktionieren, wohingegen im vorliegenden Zusammenhang genau umgekehrt eine privatrechtliche Generalklausel restriktiv zu handhaben bzw. außer Anwendung zu lassen ist, um einen sonst drohenden Verstoß gegen eine Grundfreiheit zu vermeiden; strukturell und dogmatisch-konstruktiv handelt es sich also um sehr unterschiedliche Konstellationen. Daran wird freilich zugleich deutlich, daß die gesamte DrittwirkungsTerminologie beim heutigen Stand der Dogmatik eher Verwirrung als Klarheit schafft und nur noch als schlagwortartiges Kürzel eine gewisse Restfunktion besitzt, weil man mit ihrer Hilfe im deutschsprachigen Rechtskreis immer noch am kürzesten andeuten kann, von welcher Thematik die Rede ist. 2. Die Fälle „Bosman“ und „Lehtonen“ In den Fällen „Bosman“ und „Lehtonen“ ging es demgegenüber in der Tat um echte Probleme der „Drittwirkung“ im eingangs106 definierten Sinne. Denn zu entscheiden war über die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von Klauseln, welche die UEFA bzw. der belgische Basketballverband, also Privatrechtssubjekte festgelegt hatten. a) Die Notwendigkeit einer Abwägung zwischen Freizügigkeit und Vereinigungsfreiheit bei der Beurteilung der Regelung über den Einsatz von Ausländern Im Fall Bosman waren zwei ganz unterschiedliche Regelungen streitgegenständlich. Was zunächst die Bestimmung anbetrifft, wonach ein Fußballverein bei Wettkämpfen nur drei und bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen zwei weitere Ausländer einsetzen durfte, so ist diese nach der hier entwickelten Konzeption nicht „unmittelbar“ an dem Diskriminierungsverbot von Art. 39 Abs. 2 EG zu messen, wie das bei einer staatlichen Norm zu geschehen hätte. Vielmehr ist die Frage folgerichtig dahingehend zu stellen, ob aus [59] Art. 39 Abs. 2 EG ein Schutzgebot des Inhalts herzuleiten ist, daß die Mitgliedstaaten solchen Klauseln die Wirksamkeit zu versagen haben107.
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Vgl. oben I 1. Vgl. oben III 3.
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Für eine Bejahung dieser Frage gibt es m. E. keine hinreichenden Gründe. Gewiß wird durch diese Regelung die Freizügigkeit beeinträchtigt, doch steht dem auf der anderen Seite die Gewährleistung der Vereinigungsfreiheit und der von dieser zwangsläufig mitumfaßten Satzungsautonomie gegenüber108. Dem Gebot, privatrechtlich ein Mindestmaß an Schutz zu gewähren109, wurde durch die „3+2-Regel“ durchaus Genüge getan. Denn immerhin durften ja drei, u. U. sogar fünf von elf Spielern Ausländer sein, wobei sich die Zahl der Beschäftigten durch die Möglichkeit eines rotierenden Einsatzes noch erhöhen konnte. Auch gibt es gute Gründe für eine Beschränkung der Zahl von Ausländern wie das Bestreben nach Förderung des jeweiligen nationalen Nachwuchses, die Schaffung von Chancen zur Erlangung möglichst großer Spielpraxis für potentielle Nationalspieler im Interesse der Nationalmannschaft sowie das Bemühen um eine stärkere Identifikation des Publikums mit einer vorwiegend aus einheimischen Spielern bestehenden Mannschaft; daß im Team des deutschen Meisters vielleicht nur der Torwart Deutscher ist, mag man ja in der Tat befremdlich finden. Dabei ist nicht entscheidend – und das scheint mir von zentraler Bedeutung zu sein –, ob diese Gesichtspunkte letztlich wirklich stichhaltig sind, gehört es doch zu den Essentialia der Privatautonomie, daß Privatrechtssubjekte in der Setzung ihrer Zwecke grundsätzlich frei sind110 und also derartige Überlegungen ihren Entscheidungen ohne rechtlichen Legitimationszwang zugrunde legen dürfen. Hier wirkt es sich somit auf das praktische Ergebnis aus, daß eine auf der gemeinschaftsrechtlichen Schutzpflicht aufbauende Konzeption nicht an die engen Grenzen der Rechtfertigungsgründe nach Art. 39 Abs. 3 EG gebunden ist und also erheblichen Spielraum für eine Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter mit dem Ziel der Herstellung praktischer Konkordanz läßt111. Vollends außer Zweifel steht die Zulässigkeit der „3+2-Regel“, wenn man dem Vorschlag Steindorffs folgt und in Analogie zu Art. 30 Satz 2 EG im Verhältnis der Privatrechtssubjekte untereinander grundsätzlich nur willkürliche Diskriminierungen für unzulässig hält112; denn willkürlich war die „3+2-Regel“ zweifellos nicht. [60]
So mit Recht Scholz/Aulehner (Fn. 57), S. 45 und 47; Gramlich (Fn. 57), S. 810. Vgl. dazu oben III 3 c. 110 Vgl. oben II 1 b. 111 Vgl. oben III 3 c. 112 Vgl. Steindorff (Fn. 44), S. 585 und ders. (Fn. 10), S. 296 f., 299; ob diesem Vorschlag zu folgen ist, kann hier nicht erörtert werden, doch sei immerhin hervorgehoben, daß er im praktischen Ergebnis zu einer weniger weitreichenden Drittwirkung führt als das hier favorisierte Schutzpflichtkonzept. 108 109
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b) Die Beschränkung der Berufsfreiheit durch die Ablöseregelung als Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Untermaßverbot und die kompetenzielle Prärogative der Mitgliedstaaten bei der Abhilfe Dagegen kann eine Rechtsordnung, die den Schutz der Berufsfreiheit ernst nimmt, das System der Ablösezahlungen, um das es im Bosman-Urteil ebenfalls und eigentlich sogar primär ging, m. E. nicht tolerieren. Dabei handelte es sich nämlich der Sache nach um ein Verbot der Berufsausübung nach Ablauf des Vertrages, das umso gravierender war, als es keine Karenzentschädigung für den Spieler vorsah und außerdem von diesem nicht freiwillig übernommen wurde, sondern von einem Dritten, der überdies auch noch ein Monopolverband ist – der UEFA –, statuiert und durchgesetzt wurde. Für deutsches Rechtsdenken war das schon im 19. Jahrhundert anstößig, wie die – eine viel weniger gravierende Fallgestaltung betreffende – Beschränkung nachvertraglicher Wettbewerbsverbote in den §§ 74 ff. HGB schlagend belegt. Für europäisches Rechtsdenken kann angesichts der Massivität der hier zusammentreffenden Belastungselemente nichts anderes gelten (wenn man in Art. 39 EG mit dem EuGH nicht nur ein Diskriminierungs-, sondern außerdem auch ein Beschränkungsverbot sieht, vgl. dazu sogleich unter c). Dafür spricht nicht nur der Monopolcharakter der UEFA und die damit verbundene Unentrinnbarkeit des Systems der Ablösesummen für die Spieler, sondern auch die nicht wegzuleugnende Tatsache, daß hier im praktischen Ergebnis die berufliche Kapazität von Menschen ver- und gekauft wurde und also eine – wenn auch milde – Form des „Menschenhandels“ vorlag. Wenn die Rechtsordnung eines Mitgliedstaates dem betroffenen Sportler gegenüber einem so anstößigen Eingriff in seine Berufsfreiheit keinen Schutz zuerkennt, unterschreitet sie somit jenes Mindestmaß, ohne dessen Gewährleistung das Schutzgebot aus Art. 39 Abs. 2 EG praktisch leer liefe, und verstößt daher gegen das damit verbundene Untermaßverbot113. Anders als nach der vom EuGH vertretenen Konzeption der unmittelbaren Drittwirkung ist Abhilfe jedoch primär auf der Ebene der nationalen Privatrechte und also durch die dafür zuständigen Organe – d. h. den nationalen Richter und den nationalen Gesetzgeber114 – zu suchen, denen insoweit kompetenziell die Prärogative zukommt. Demgemäß ist die einschlägige Regelung der UEFA nicht unmittelbar an Art. 39 Abs. 2 EG zu messen und wegen Verstoßes gegen diese Vorschrift zu verwerfen; vielmehr sind die nationalen Rechtsordnungen, d. h. vor allem deren Generalklauseln, im Lichte von Art. 39 Abs. 2 EG zu interpretieren und erforderlichenfalls zu ergänzen. Hierauf hätte der EuGH folg- [61] lich nach der hier vertretenen, als mittelbare 113 Vgl. auch zur Parallelproblematik der mittelbaren Drittwirkung von Art. 12 GG bei Ablöseregelungen BAG AP Nr. 6 und Nr. 12 zu § 611 BGB Berufssport mit Anm. von W. Däubler bzw. R. Singer; BGH AP Nr. 17 zu § 611 BGB Berufssport. 114 Vgl. oben III 3 b.
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Drittwirkung gekennzeichneten Konzeption das vorliegende Gericht verweisen müssen statt selbst die Unanwendbarkeit der Klausel wegen Unvereinbarkeit mit Art. 39 Abs. 2 EG auszusprechen. c) Art. 39 Abs. 2 EG als drittwirkendes Beschränkungsverbot und die untragbaren Konsequenzen des Lehtonen-Urteils Auf diesem kompetenziellen Unterschied zu beharren, ist alles andere als bloßer Formalismus. Das zeigt sich drastisch am Fall „Lehtonen“. Hier ging es um eine Regelung des belgischen Basketballverbandes, nach der Spieler in der laufenden Saison nicht mehr eingesetzt werden dürfen, wenn sie erst nach einem bestimmten Datum zu dem betreffenden Verein gewechselt sind. Der EuGH hat das in Fortführung des Bosman-Urteils für unvereinbar mit Art. 39 Abs. 2 EG erklärt, wenn für Spieler, die aus nicht zur EU gehörigen Ländern wechseln, insoweit ein späteres Datum gilt, „es sei denn, daß objektive Gründe, die nur den Sport als solchen betreffen oder Unterschieden zwischen der Lage von Spielern aus einem Verband der europäischen Zone und der von Spielern aus einem Verband außerhalb dieser Zone Rechnung tragen, eine solche unterschiedliche Behandlung rechtfertigen“115. Zugrunde lag die Bestimmung, daß für Spieler, die von einem Verband außerhalb der europäischen Zone kommen, der 31.3. als Stichtag galt, für Spieler von Verbänden der europäischen Zone dagegen schon der 28.2. Der EuGH hat hier die Regelung des Art. 39 Abs. 2 EG nicht etwa in ihrer Eigenschaft als Diskriminierungsverbot angewendet. In der Tat kam das von vornherein nicht in Betracht, weil zwar (möglicherweise) eine Diskriminierung vorlag, dieser jedoch jeder Bezug zu den Zielen des EG-Vertrags fehlte; denn es wurden ja nicht EU-Ausländer schlechter behandelt als EU-Inländer, sondern Europäer schlechter als Nichteuropäer und also EU-Angehörige schlechter als Nicht-EU-Angehörige. Vielmehr hat der EuGH in ausdrücklicher Anknüpfung an seine Ausführungen zur Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Ablöseregelungen Art. 39 Abs. 2 EG als Beschränkungsverbot herangezogen116. Nun sind hier weder Ort noch Raum, um zu diskutieren, ob es sich bei dieser Ausweitung der Funktion von Art. 39 Abs. 2 EG – für die der Wortlaut der Vorschrift nicht den geringsten Ansatz bietet, ja der er geradezu entgegensteht! – noch um eine zulässige Rechtsfortbildung handelt oder nicht. Jedenfalls sind deren Grenzen überschritten, wenn man diese Funktion dann auch noch mit unmittelbarer Drittwirkung ausstattet. 115 116
AaO. (Fn. 4), S. 2735 Rz. 60 (Tenor). AaO. (Fn. 4), S. 2732 f. Rz. 49.
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Zwar mag es gerade noch angehen, den Mitglied- [62] staaten trotz Fehlens jeglichen Anhalts im Text des Vertrages eine Beschränkung der Freizügigkeit und damit der Berufsfreiheit zu verbieten, doch kann der EuGH dies nicht außerdem auch noch gegenüber den Privatrechtssubjekten tun. Denn zum einen führt das diesen gegenüber bei konsequenter Durchführung zu einem Selbstbeschränkungsverbot, welches mit der Privatautonomie schlechterdings unvereinbar ist, und zum anderen zieht der EuGH dadurch im praktischen Ergebnis für erhebliche Teile des Arbeitsrechts die Bewertungskompetenz an sich, ohne daß das eine tragfähige Grundlage im Vertrag findet. So bestand die Beschränkung der Freizügigkeit im Fall Lehtonen ja in nicht mehr als darin, daß der Spieler bei einem Wechsel nach einem bestimmten Datum nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen durfte und daher ab diesem Zeitpunkt i. d. R. nicht mehr sinnvoll seinen Arbeitsplatz wechseln konnte. Rechtsgeschäftliche Hindernisse für einen solchen Wechsel gibt es nun aber in großer Zahl: Verpflichtungen zur Rückzahlung von Gratifikationen oder Ausbildungskosten, ein – sei es auch zeitlich noch so kurzer – Verzicht auf das Recht zur ordentlichen Kündigung durch den Arbeitnehmer, ja im Grunde schon der Abschluß eines Arbeitsvertrags als solcher. Ob und unter welchen Voraussetzungen solche Einschränkungen zulässig sind, kann keinesfalls durchgängig am Maßstab des Gemeinwohlinteresses geprüft und einer strengen Erforderlichkeitskontrolle unterworfen werden und ist außerdem nach dem Kompetenzgefüge der Verträge grundsätzlich von den Mitgliedstaaten zu entscheiden und nicht vom EuGH. Das wird durch die hier vorgeschlagene Lösung einer nur mittelbaren Drittwirkung in der Tat im wesentlichen gewährleistet, da der EuGH danach, wie dargelegt; darauf beschränkt ist, zu prüfen, ob die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten das gemeinschaftsrechtlich gebotene Schutzminimum unterschreiten und also das Untermaßverbot verletzen, was wegen der Höhe der dafür bestehenden Argumentationshürden nur äußerst selten vorkommen wird. Demgegenüber stellt die Position des EuGH eine umso größere Gefahr für die Privatautonomie dar, als er auch im Lehtonen-Urteil seine rigide Haltung hinsichtlich der Rechtfertigungsgründe117 nicht abgemildert hat. Zwar orientiert er sich nicht mehr ausdrücklich an Art. 39 Abs. 3 EG, stellt aber darauf ab, ob die fragliche Regelung „durch nichtwirtschaftliche (!) Gründe, die ausschließlich den Sport als solchen betreffen,“ legitimiert wird, und hält daran fest, daß die Klausel nicht über das hinausgehen darf, „was zur Erreichung des verfolgten Zweckes erforderlich ist“118. Dabei sieht er es offenbar als naheliegend an, daß der Stichtag des 28.2. deshalb nicht erforderlich ist, weil für Nicht-Europäer statt dessen der 31.3. maßgeblich ist – nur so läßt sich die rechtliche Relevanz dieses geradezu im 117 118
Vgl. dazu die Kritik oben III 2 a bei und nach Fn. 50. AaO. (Fn. 4), S. 2733 ff. Rz. 52, 56 ff.
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Zentrum der Entscheidung stehenden [63] Gesichtspunkts m. E. dogmatisch erklären – und weist das vorlegende Gericht an zu prüfen, ob es dafür „objektive Gründe, die nur den Sport als solchen betreffen ...“ gibt. Stellt es ein akzeptables Verständnis von Privatautonomie dar zu kontrollieren, ob es wirklich erforderlich ist, einen Stichtag einen Monat früher oder später zu legen – was ja folgerichtig auch geschehen müßte, wenn es die (in der Tat irritierende) Divergenz gegenüber der Behandlung außereuropäischer Spieler nicht gäbe?! Vermeidet man solche Kontrollexzesse nicht schon, wie hier vorgeschlagen, durch die Annahme einer nur mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten, so sollte man doch zumindest in Anlehnung an die im Keck-Urteil119 entwickelten Grundsätze zwischen gravierenden Beschränkungen der Mobilität und bloßen Modalitäten der Berufsausübung unterscheiden; das System der Ablösezahlungen ist zweifelsfrei der ersteren Kategorie zuzurechnen, die Stichtagsregelung dagegen ebenso zweifelsfrei der letzteren, so daß das Urteil des EuGH im Fall Lehtonen auch aus diesem Grund zu mißbilligen ist. 3. Der Fall „Angonese“ und seine möglichen Weiterungen a) Freizügigkeit versus Abschlußfreiheit Andere Probleme begegnen uns im Fall „Angonese“120. Dort war der Kläger zu einem Auswahlverfahren für eine Anstellung in einer privaten Bank, die ihren Sitz in der Provinz Bozen hatte, nicht zugelassen worden, weil er die in den Zulassungsbedingungen verlangte Bescheinigung über die Beherrschung sowohl der italienischen als auch der deutschen Sprache, das „patentino“, nicht besaß. Gleichwohl beherrschte er beide Sprachen perfekt, wie das vorlegende Gericht festgestellt hatte. Desgleichen stand fest, daß ein nicht in der Provinz Bozen wohnender Bewerber aus organisatorischen Gründen praktisch kaum eine Chance hatte, das „patentino“, das von einer Behörde in einem bestimmten Verfahren erteilt wurde, rechtzeitig zu erlangen. Daß der EuGH hierin einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 39 Abs. 2 EG gesehen hat, scheint mir auch bei Zugrundelegung der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten im Ergebnis als zutreffend. Denn das Erfordernis der Bescheinigung wirkte wie eine nahezu undurchdringliche Abschottung dieses Arbeitsmarkts gegenüber allen Bewerbern, die nicht in der Provinz Bozen wohnten. Die Bank hätte diesen daher die Gele119 EuGH vom 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Slg. 1993, I-6097 („Keck und Mithouard“). 120 AaO. (Fn. 5).
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genheit geben müssen, ihre Zweisprachigkeit auf andere Weise nachzuweisen. Daß deren Überprüfung für sie schwieriger und lästiger gewesen wäre als die Zugrundelegung des „patentino“, ist zwar ein Nachteil, doch hat [64] dieser so geringes Gewicht, daß er hinter dem Ziel des Schutzes der Freizügigkeit zurücktritt. Trotz dieser Überzeugungskraft des Ergebnisses ist zu kritisieren, daß der EuGH nicht einmal ansatzweise eine Abwägung mit der Abschlußfreiheit der Bank vorgenommen hat. Diese stellt eine besonders elementare Ausprägung der Privatautonomie dar und darf daher keinesfalls a limine hinter der Gewährleistung der Freizügigkeit zurückgesetzt werden. Demgemäß führt der Ausgangspunkt des EuGH in anderen Fällen zu Konsequenzen, die auch im praktischen Ergebnis nicht zu überzeugen vermögen. Man denke etwa daran, daß eine deutsche Anwaltskanzlei einen Mitarbeiter mit Assessorexamen – vielleicht gar mit Prädikat – sucht und nicht bereit ist, andere Kandidaten in die Auswahl einzubeziehen, mögen diese auch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU und die Zulassung für eine Tätigkeit als Anwalt in Deutschland besitzen. Keinesfalls kann die Kanzlei hier verpflichtet sein, solchen Bewerbern die Gelegenheit zum Nachweis zu geben, daß ihre Fähigkeiten denen eines deutschen Assessors – gegebenenfalls mit Prädikat! – entsprechen121. Vielmehr ist hier die Schutzwürdigkeit und Vorrangigkeit der privatautonomen Entscheidung über die Qualifikationsanforderungen evident; es ist Aufgabe des Marktes, darüber zu bestimmen, ob, wo und zu welchen Bedingungen ein Jurist mit einer anderen Ausbildung benötigt wird! Auch kann von einer faktischen Abschottung eines Marktes oder Marktbereichs hier anders als im Fall Angonese von vornherein nicht die Rede sein. Überdies wären bei einer Pflicht zur Einbeziehung von Kandidaten ohne Assessorexamen in den Kreis der Bewerber auch das subjektive und u. U. sogar das objektive Äquivalenzprinzip und damit elementare Gebote der Austauschgerechtigkeit verletzt122, weil ein Jurist ohne diese formale Qualifikation keine hinreichende Gewähr dafür bietet, daß er den an ihn gestellten Leistungsanforderungen genügen wird. Allerdings hat der EuGH gar keinen dogmatischen Ansatzpunkt, um solche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, da die Rechtfertigungsgründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gemäß Art. 39 EG (auch) hier evidentermaßen nicht passen123, doch belegt das nur einmal mehr die Fehlerhaftigkeit dieses Konzepts. Es stellt eben einen fundamentalen Unterschied dar, 121 Art. 7 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 vom 16.10.1968 steht nicht entgegen, weil dort nur die Nichtigkeit von Bestimmungen in Arbeits- und Tarifverträgen angeordnet ist – eine Kategorie, die auf Einschränkungen einer bloßen invitatio ad offerendum offenkundig nicht paßt; vgl. dazu im übrigen auch EuGH aaO. (Fn. 5), S. 4170 f. Rz. 23 ff. 122 Vgl. dazu oben III 2 d vor und bei Fn. 66. 123 Vgl. dazu oben III 2 a bei Fn. 51.
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ob die Mitgliedstaaten den Bürgern der Gemeinschaft die Möglichkeit der Freizügigkeit zu eröffnen haben – etwa, indem sie diesen die Möglichkeit zur Ablegung des Assessorexamens geben oder sie unter bestimmten Voraus- [65] setzungen auch ohne eine solche zum Anwaltsberuf zulassen – oder ob die Rechtsordnung insoweit auch die Privatrechtssubjekte im Wege einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten, also grundsätzlich in gleicher Weise wie die Mitgliedstaaten, in die Pflicht nimmt. Eine besondere Pointe des Falles „Angonese“ bestand im übrigen darin, daß der Kläger zu den Einwohnern der Provinz Bozen gehörte und es bei diesen üblich ist, sich die Bescheinigung vorsorglich im Hinblick auf die Arbeitsuche zu beschaffen124. Der Kläger fiel somit nicht in den (personellen) Schutzbereich der verletzten Norm und hätte daher nach den Regeln teleologischer Gesetzesanwendung den von ihm erstrebten Schadensersatz weder unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung noch unter dem der Freizügigkeitsbeschränkung erhalten dürfen. Generalanwalt Fennelly hatte denn auch eine rechtswidrige Diskriminierung des Klägers ausdrücklich verneint125. Demgegenüber hat der EuGH die Vorlagefrage als zulässig angesehen126 und in der Sache allein darauf abgestellt, daß durch das Erfordernis der Sprachbescheinigung die Bürger anderer Mitgliedstaaten diskriminiert werden. In der Tat dürfte es auf diese Eigentümlichkeit des Falles im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG nicht ankommen, da die Lehre vom Schutzbereich der verletzten Norm auf der Ebene des nationalen Privatrechts liegt und der EuGH sich in dessen Auslegung nicht einmischen darf; wenn also das vorlegende Gericht diesen Aspekt nicht erkennt oder – vielleicht sogar fälschlich – für unerheblich hält, ist es nicht Sache des EuGH, ihn seinerseits aufzugreifen. b) Die Rechtsfolgen einer Verletzung des Diskriminierungsverbots gemäß Art. 39 Abs. 2 EG nach deutschem Privatrecht Hochinteressant ist die Frage, wie der Fall nach deutschem Recht zu entscheiden wäre (vorausgesetzt, der Kläger ist kein Einwohner der Provinz Bozen). Der Kläger hatte Schadensersatz wegen des „Verlusts einer Chance“ verlangt. Das italienische Recht kennt dieses Institut und weist überdies eine deliktsrechtliche Generalklausel und damit eine taugliche Anspruchsgrundlage auf. Im deutschen Recht gerät man demgegenüber in größte Schwierigkeiten – und zwar sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite. Das hat der EuGH ausdrücklich festgehalten, vgl. aaO. (Fn. 5), S. 4166 Rz. 7. AaO. (Fn. 5), S. 4159 Rz. 43. 126 Vgl. dazu eingehend Körber (Fn. 42), S. 933 ff. 124 125
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Worin liegt die Anspruchsgrundlage? Ein Anspruch aus culpa in contrahendo scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger von vornherein nicht zum Kreis der von der Bank zur Bewerbung eingeladenen Personen gehörte und diese mit ihm also nicht den für einen solchen Anspruch erforderlichen rechtsgeschäftlichen Kontakt aufgenommen hatte. Art. 39 Abs. 2 EG als [66] Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB zu qualifizieren, ist nach der hier vertretenen Konzeption nicht möglich, da nach dieser die Bank gar nicht Normadressat von Art. 39 Abs. 2 EG ist; die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung tut sich insoweit zwar leichter, doch stellt das kein Argument zu ihren Gunsten dar, sondern zeigt im Gegenteil, daß durch die Simplizität dieses dogmatischen Ansatzes die wahren Probleme mitunter eher verschleiert als überzeugend gelöst werden. § 826 BGB würde bei aller Neigung zu einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung doch wohl überstrapaziert, sähe man im Verhalten der Bank eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung; denn das Verlangen nach Vorlage des Sprachenzeugnisses bildete für sie die bei weitem praktikabelste Maßnahme zur Klärung der sprachlichen Kompetenz der Bewerber, und daher lag darin keine sittenwidrige Rücksichtslosigkeit gegenüber diesen. Auch mit Hilfe von § 823 Abs. 1 BGB i. V. mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht läßt sich die Problematik wohl nicht angemessen bewältigen, da eine Diskriminierung nicht per se eine Persönlichkeitsverletzung darstellt und die Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung daher durch den Rückgriff auf dieses Institut gesprengt würden127. Hier wird somit einmal mehr deutlich, daß, das deutsche Schadensersatzrecht notorische Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Diskriminierungen hat, vor allem im vorvertraglichen Feld128. Das wissen wir insbesondere durch die leidvollen gemeinschaftsrechtlichen Erfahrungen mit § 611a BGB. Demgemäß scheint mir für die vorliegende Problematik in einer Analogie zu Abs. 2 und 3 dieser Vorschrift, wo für geschlechtsbezogene Diskriminierungen bei der Begründung von Arbeitsverhältnissen ein Anspruch auf eine angemessene Entschädigung in Geld vorgesehen ist, der am ehesten gangbare Ausweg zu liegen. Zum einen weist nämlich eine Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit durchaus eine Rechtsähnlichkeit mit einer Diskriminierung wegen des Geschlechts auf, und zum anderen ging es auch bei der Schaffung von § 611a Abs. 2 und 3 BGB um die Behebung eines gemeinschaftsrechtlich bedingten Defizits des deutschen Privatrechts, so daß auch insoweit eine deutliche Verwandtschaft der Problemstellungen gegeben ist. Daß dieser Anspruch unabhängig vom Erfordernis eines Verschuldens auf Seiten des Arbeitgebers eingreift – jedenfalls soweit es um dessen
127 Vgl. dazu näher Canaris (Fn. 81), S. 98 f. zum Parallelproblem bei der richtlinienkonformen Auslegung. 128 Vgl. auch den Befund von Schiek (Fn. 42), S. 461 ff.
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Restitutionsfunktion geht129 –, stellt zwar einen schweren Bruch im deutschen Schadensersatzrecht [67] dar, ist jedoch vom EuGH erzwungen worden130 und muß folgerichtig wohl auch auf Verstöße gegen Art. 39 Abs. 2 EG übertragen werden, weil der EuGH insoweit schwerlich geringere Anforderungen an die Sanktion durch das nationale Recht stellen wird. Bei der Festlegung der Höhe des Anspruchs, für die es der Herausarbeitung und Verbindung verschiedener Kriterien bedarf131, sollte man versuchen, in denjenigen Fällen, in denen weder feststeht, daß es ohne die Diskriminierung zu einem Vertragsschluß mit dem Bewerber gekommen noch daß ein solcher jedenfalls unterblieben wäre, den Gedanken des Ersatzes für den Verlust einer Chance fruchtbar zu machen; dieser stellt zwar im deutschen Schadensersatzrecht kein allgemeines Institut dar, spielt aber inzwischen für bestimmte Problemkonstellationen eine wichtige Rolle132 und könnte im vorliegenden Zusammenhang ein weiteres Anwendungsfeld finden. Doch diese Problematik liegt – glücklicherweise – außerhalb meines Themas. Einfacher zu bewältigen sind rechtsgeschäftliche Regelungen, durch die EUAusländer diskriminiert werden. Befristet etwa ein Arbeitgeber die mit diesen geschlossenen Verträge, so wird man darin einen Verstoß gegen § 138 BGB, der dabei „im Lichte“ von Art. 39 Abs. 2 EG zu konkretisieren ist, zu sehen haben, sofern nicht ein berechtigtes Interesse an der Befristung besteht133. Diese ist also nichtig, während der Arbeitsvertrag im übrigen wirksam bleibt.
129 Vgl. dazu G. Annuß, Grundfragen der Entschädigung bei unzulässiger Geschlechtsdiskriminierung, NZA 1999, S. 738 (742), der davon die Pönalfunktion unterscheidet und für diese in verfassungskonformer Restriktion von § 611a BGB ein Verschulden des Arbeitgebers fordert. 130 EuGH vom 22.4.1997, Rs. C-180/95, Slg. 1997 I-2195, 2220 Rz. 22 („Draehmpaehl“); kritisch dazu mit Recht M. Franzen, Der EuGH und das Bürgerliche Recht – dargestellt am Beispiel der EuGH-Urteile „Dietzinger“ und „Draehmpaehl“, in: FS Maurer, 2001, S. 889 (899 f.); A. Zeuner, Beobachtungen und Gedanken zum Verhältnis zwischen europarechtlichen Normen und nationalem Recht, in: FS Bydlinski, 2002, S. 495 (503 ff.). 131 Vgl. dazu die Ansätze bei B. Zwanziger, Die Neuregelung des Verbots der Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsrecht, DB 1998, S. 1330 (1331); Annuß (Fn. 129), S. 742 f. 132 Vgl. dazu zuletzt eindringlich H. Koziol, Schadenersatz für den Verlust einer Chance?, in: FS Stoll, 2001, S. 233 ff. (238 ff.) m. w. N.; vgl. ferner die rechtsvergleichende Übersicht bei C. von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. II, 1999, Rn. 444 f. 133 Ebenso i. E. Steindorff (Fn. 10), S. 296 f.
Danksagung und Verlagsnachweis Die Veröffentlichung dieser Gesammelten Schriften von Claus-Wilhelm Canaris wäre nicht möglich ohne die Unterstützung jener Verlage, in denen die Werke und Beiträge des Jubilars erstmals erschienen sind. Herausgeber und Verlag sprechen daher den nachfolgend aufgeführten Häusern ihren herzlichen Dank für die freundliche Zustimmung zur Zweitveröffentlichung der im Einzelnen nachgewiesenen Schriften aus. Ebenso danken wir Claus-Wilhelm Canaris selbst aufs Herzlichste für die Freigabe seines Aufsatzes „Funktionen des Allgemeinen Teils eines Zivilgesetzbuchs und Grenzen seiner Leistungsfähigkeit“ (Band 3 S. 403) zur erstmaligen Veröffentlichung in diesem Werk. Die Aufstellung ist nach Verlagen alphabetisch geordnet. Die Veröffentlichungen sind verlagsweise in der Reihenfolge ihres Abdrucks in den Gesammelten Schriften (Fundstellen in Klammern) wiedergegeben. Deutscher Fachverlag GmbH (Verlag Recht und Wirtschaft), Frankfurt a.M.
Die Reichweite der Expertenhaftung gegenüber Dritten, ZHR 163 (1999), 206 (Band 2 S. 731) Kreditkündigung und Kreditverweigerung gegenüber sanierungsbedürftigen Bankkunden, ZHR 143 (1979), 113 (Band 3 S. 1275) Das Verhältnis zwischen dem wechsel- und scheckrechtlichen Einwendungsausschluß und der Lehre vom Einwendungsdurchgriff kraft Rechtsmißbrauchs, ZHR 151 (1987), 517 (Band 3 S. 1361)
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Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Auflage 1983 (Band 1 S. 3) Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983 (Band 1 S. 191) Theorienrezeption und Theorienstruktur, in: Festschrift für Kitagawa, 1992, S. 59 (Band 1 S. 347) Das Recht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG als Grundlage eines arbeitsrechtlichen Kontrahierungszwangs, in: Festschrift für Leisner, 1999, 413 (Band 1 S. 919)
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Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Festschrift für Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (Band 1 S. 581)
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Der Bereicherungsausgleich im bargeldlosen Zahlungsverkehr, WM 1980, 354 (Band 3 S. 777) Grundprobleme des bankgeschäftlichen Abrechnungsverkehrs, WM 1976, 995 (Band 3 S. 1179) Der Wechselbereicherungsanspruch, WM 1977, 34 (Band 3 S. 1229)
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Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, JZ 1993, 377 (Band 1 S. 385) Die Stellung der „UNIDROIT Principles“ und der „Principles of European Contract Law“ im System der Rechtsquellen, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, 2000, S. 5 (Band 1 S. 491) Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201 und AcP 185 (1985), 9 (Band 1 S. 727) Verstöße gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot im Recht der Geschäftsfähigkeit und im Schadensersatzrecht, JZ 1987, 993 (Band 1 S. 775) Zur Problematik von Privatrecht und verfassungsrechtlichem Übermaßverbot, JZ 1988, 494 (Band 1 S. 807) Die Verfassungswidrigkeit von § 828 II BGB als Ausschnitt aus einem größeren Problemfeld, JZ 1990, 679 (Band 1 S. 851) Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 30 (Band 1 S. 945) Ansprüche wegen „positiver Vertragsverletzung“ und „Schutzwirkung für Dritte“ bei nichtigen Verträgen, JZ 1965, 475 (Band 2 S. 669
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Schweigen im Rechtsverkehr als Verpflichtungsgrund, in: Festschrift für Wilburg, 1975, S. 77 (Band 2 S. 691) Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273 (Band 3 S. 259) Zur Bedeutung der Kategorie der „Unmöglichkeit“ für das Recht der Leistungsstörungen, in: Schulze/ Schulte-Nölke (Hrsg.), Die Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 43 (Band 3 S. 423) Die Reform des Rechts der Leistungsstörungen, JZ 2001, 499 (Band 3 S. 451) Die Gegenleistungskondiktion, in: Festschrift für Werner Lorenz, 1991, S. 19 (Band 3 S. 819) Notstand und „Selbstaufopferung“ im Straßenverkehr, JZ 1963, 655 (Band 3 S. 895) Interessenlage, Grundprinzipien und Rechtsnatur des Finanzierungsleasing, AcP 190 (1990), 410 (Band 3 S. 1447) Österreichische Bankwissenschaftliche Gesellschaft, Wien
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RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln
Die Schadensersatzpflicht der Kreditinstitute für eine unrichtige Finanzierungsbestätigung als Fall der Vertrauenshaftung, in: Festschrift für Schimansky, 1999, S. 43 (Band 2 S. 773) Grundprobleme des Finanzierungsleasing im Lichte des Verbraucherkreditgesetzes, ZIP 1993, 401 (Band 3 S. 1505) Die Bedeutung des „materiellen“ Garantiefalles für den Rückforderungsanspruch bei der Garantie „auf erstes Anfordern“, ZIP 1998, 493 (Band 3 S. 1531)
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Täterschaft und Teilnahme bei culpa in contrahendo, in: Festschrift für Giger, 1989, S. 91 (Band 3 S. 1025)
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Konsens und Verfahren als Grundelemente der Rechtsordnung – Gedanken vor dem Hintergrund der „Eumeniden“ des Aischylos, JuS 1996, 573 (Band 1 S. 433) Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung, in: Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 41 (Band 1 S. 599) Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip in der richterlichen Anwendung und Fortbildung des Privatrechts, JuS 1989, 161 (Band 1 S. 819) Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 7.7.1990 – 1 BvR 26/84, AP Nr. 65 zu Art. 12 GG (Band 1 S. 859) Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Festschrift für Lerche, 1993, S. 873 (Band 1 S. 871) Das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für die Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte als Verfassungsverstoß, RdA 1997, 267 (Band 1 S. 891) Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, unveränderter Nachdruck 1981 (Band 2 S. 3) Die Vertrauenshaftung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: Canaris/Heldrich/ Hopt/Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Band I S. 129 (Band 2 S. 795) Das allgemeine Leistungsstörungsrecht im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz, ZRP 2001, 329 (Band 3 S. 451) Einführung in das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz, in: Canaris (Hrsg.), Schuldrechtsreform 2002, 2002, S. VII (Band 3 S. 559) Der Bereicherungsausgleich im Dreipersonenverhältnis, in: Festschrift für Larenz, 1973, S. 799 (Band 3 S. 717)
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Die Europäische Union als Gemeinschaft des Rechts – von Athen und Rom über Bologna nach Brüssel, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 2009, 2010, S. 179 (Band 1 S. 621) Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1997, Heft 7 (Band 3 S. 35)
Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln
Die Verdinglichung obligatorischer Rechte, in: Festschrift für Flume, 1978, S. 371 (Band 3 S. 139)
Verlag Jos. A. Kienreich, Graz
Richtigkeit und Eigenwertung in der richterlichen Rechtsfindung, in: Grazer Universitätsreden Nr. 50, 1993, S. 23 (Band 1 S. 423)
Verlag Österreich GmbH (Springer Wien), Wien
Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Festschrift für Bydlinski, 2002, S. 47 (Band 1 S. 519) Bewegliches System und Vertrauensschutz im rechtsgeschäftlichen Verkehr, in: Bydlinski u.a. (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 103 (Band 2 S. 717)
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Die Gefährdungshaftung im Lichte der neueren Rechtsentwicklung. öJBl 1995, 2 (Band 3 S. 1053) Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe
Haftung Dritter aus positiver Forderungsverletzung, VersR 1965, 114 (Band 2 S. 657) Die Neuregelung des Leistungsstörungs- und des Kaufrechts – Grundstrukturen und Problemschwerpunkte –, in: Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2002, 2003, S. 5 (Band 3 S. 623) Grundstrukturen des deutschen Deliktsrechts, VersR 2005, 577 (Band 3 S. 1109)
Verlagsgruppe Handelsblatt, Düsseldorf
Schadensersatz wegen Pflichtverletzung, anfängliche Unmöglichkeit und Aufwendungsersatz im Entwurf des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes, DB 2001, 1815 (Band 3 S. 521) Die Verrechnung beim Kontokorrent, DB 1972, 421 und 469 (Band 3 S. 1151)
Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH (C.F. Müller), Heidelberg
Gesetzliches Verbot und Rechtsgeschäft, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Karlsruhe, 1983 (Band 3 S. 3)
Wolters Kluwer Deutschland (Carl Heymanns Verlag), Köln
Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht, in: Festschrift für Medicus, 1999, S. 25 (Band 1 S. 453) Gewinnabschöpfung bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, in: Festschrift für Deutsch, 1999, S. 85 (Band 3 S. 867)
Claus-Wilhelm Canaris Gesammelte Schriften
CLAUS-WILHELM CANARIS Gesammelte Schriften
herausgegeben von Jörg Neuner und Hans Christoph Grigoleit in Zusammenarbeit mit Ingo Koller, Johannes Hager, Michael Junker, Reinhard Singer, Jens Petersen, Katja Langenbucher, Felix Hey, Carsten Herresthal, Thomas Riehm und Marietta Auer
Band 2: Vertrauenshaftung
De Gruyter
ISBN 978-3-11-027392-2 e-ISBN 978-3-11-027403-5
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© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Datenerfassung/Satz: iNCO Sp. z o.o., Wawrów (Polen) Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Inhalt von Band I ..........................................................................................................VII Inhalt von Band III........................................................................................................ IX VERTRAUENSHAFTUNG Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht ....................................................... 3 Haftung Dritter aus positiver Forderungsverletzung .............................................. 657 Ansprüche wegen „positiver Vertragsverletzung“ und „Schutzwirkung für Dritte“ bei nichtigen Verträgen ..................................................................... 669 Schweigen im Rechtsverkehr als Verpflichtungsgrund ........................................... 691 Bewegliches System und Vertrauensschutz im rechtsgeschäftlichen Verkehr ................................................................................................................... 717 Die Reichweite der Expertenhaftung gegenüber Dritten ....................................... 731 Die Schadensersatzpflicht der Kreditinstitute für eine unrichtige Finanzierungsbestätigung als Fall der Vertrauenshaftung................................ 773 Die Vertrauenshaftung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ............................................................................................... 795 Danksagung und Verlagsnachweis ............................................................................ 865
Inhalt von Band I RECHTSTHEORIE Methodologische Grundlagen Die Feststellung von Lücken im Gesetz ....................................................................... 3 Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz ........................................... 191 Theorienrezeption und Theorienstruktur ................................................................. 347 Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien .................................... 385 Richtigkeit und Eigenwertung in der richterlichen Rechtsfindung ....................... 423 Konsens und Verfahren als Grundelemente der Rechtsordnung – Gedanken vor dem Hintergrund der „Eumeniden“ des Aischylos ................ 433 Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht ........................................................ 453 Die Stellung der „UNIDROIT Principles“ und der „Principles of European Contract Law“ im System der Rechtsquellen ............................. 491 Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre ........................................................................... 519 Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre ........................................................................... 581 Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung ........................................................................................................ 599 Die Europäische Union als Gemeinschaft des Rechts – von Athen und Rom über Bologna nach Brüssel ................................................................. 621 Grundrechte und Privatrecht Grundrechte und Privatrecht(1999) .......................................................................... 641 Grundrechte und Privatrecht(1984/1985) ............................................................... 727 Verstöße gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot im Recht der Geschäftsfähigkeit und im Schadensersatzrecht......................................... 775 Zur Problematik von Privatrecht und verfassungsrechtlichem Übermaßverbot ...................................................................................................... 807 Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip in der richterlichen Anwendung und Fortbildung des Privatrechts ........................... 819 Die Verfassungswidrigkeit von § 828 II BGB als Ausschnitt aus einem größeren Problemfeld ........................................................................................... 851 Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 07.02.1990 – 1 BvR 26/84 ................... 859
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Inhalt von Band I
Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft ......................................................................................... 871 Das Fehlen einer Kleinbetriebsregelung für die Entgeltfortzahlung an kranke Angestellte als Verfassungsverstoß ................................................... 891 Das Recht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG als Grundlage eines arbeitsrechtlichen Kontrahierungszwangs ................................................ 919 Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten ................................ 945 Danksagung und Verlagsnachweis ............................................................................ 985
Inhalt von Band III PRIVATRECHT Rechtsgeschäfts- und Vertragslehre Gesetzliches Verbot und Rechtsgeschäft ..................................................................... 3 Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht....................... 35 Die Verdinglichung obligatorischer Rechte ............................................................. 139 Gesamtunwirksamkeit und Teilgültigkeit rechtsgeschäftlicher Regelungen ........ 207 Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“ .................................................................................................. 259 Die Übertragung des Regelungsmodells der §§ 125–130 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als unzulässige Rechtsfortbildung contra legem ........................................................................................................... 349 Funktionen des Allgemeinen Teils eines Zivilgesetzbuchs und Grenzen seiner Leistungsfähigkeit....................................................................................... 403 Schuldrechtsmodernisierung Zur Bedeutung der Kategorie der „Unmöglichkeit“ für das Recht der Leistungsstörungen ............................................................................................... 423 Die Reform des Rechts der Leistungsstörungen ..................................................... 451 Schadenersatz wegen Pflichtverletzung, anfängliche Unmöglichkeit und Aufwendungsersatz im Entwurf des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes ................................................................................................................... 521 Das allgemeine Leistungsstörungsrecht im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz ....................................................................................................................... 541 Einführung in das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz ......................................... 559 Die Neuregelung des Leistungsstörungs- und des Kaufrechts – Grundstrukturen und Problemschwerpunkte – ............................................................ 623 Bereicherungsrecht Der Bereicherungsausgleich im Dreipersonenverhältnis ........................................ 717 Der Bereicherungsausgleich im bargeldlosen Zahlungsverkehr ............................ 777 Die Gegenleistungskondiktion ................................................................................... 819 Gewinnabschöpfung bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ...... 867 Schadensersatzrecht Notstand und „Selbstaufopferung“ im Straßenverkehr ......................................... 895 Risikohaftung bei schadensgeneigter Tätigkeit in fremdem Interesse .................. 917 Schutzgesetze – Verkehrspflichten – Schutzpflichten ............................................ 945
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Inhalt von Band III
Täterschaft und Teilnahme bei culpa in contrahendo .......................................... 1025 Die Gefährdungshaftung im Lichte der neueren Rechtsentwicklung................. 1053 Die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens“ und ihre Grundlagen ........ 1085 Grundstrukturen des deutschen Deliktsrechts ...................................................... 1109 Bankvertrags- und Wertpapierrecht Der Einwendungsausschluß im Wertpapierrecht .................................................. 1129 Die Verrechnung beim Kontokorrent .................................................................... 1151 Grundprobleme des bankgeschäftlichen Abrechnungsverkehrs ......................... 1179 Der Wechselbereicherungsanspruch ....................................................................... 1229 Der Zinsbegriff und seine rechtliche Bedeutung................................................... 1255 Kreditkündigung und Kreditverweigerung gegenüber sanierungsbedürftigen Bankkunden .................................................................................... 1275 Verlängerter Eigentumsvorbehalt und Forderungseinzug durch Banken .......... 1305 Einwendungsausschluß und Einwendungsdurchgriff bei Dokumentenakkreditiven und Außenhandelsgarantien ........................................................ 1335 Das Verhältnis zwischen dem wechsel- und scheckrechtlichen Einwendungsausschluß und der Lehre vom Einwendungsdurchgriff kraft Rechtsmißbrauchs ...................................................................................... 1361 Das Informations- und das Inhaltsschrankenmodell beim Konsumentenkredit ..................................................................................................................... 1415 Interessenlage, Grundprinzipien und Rechtsnatur des Finanzierungsleasing .................................................................................................................... 1447 Grundprobleme des Finanzierungsleasing im Lichte des Verbraucherkreditgesetzes ....................................................................................................... 1505 Die Bedeutung des „materiellen“ Garantiefalles für den Rückforderungsanspruch bei der Garantie „auf erstes Anfordern“ ......................................... 1531 Danksagung und Verlagsnachweis .......................................................................... 1553
VERTRAUENSHAFTUNG
Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht MÜNCHENER UNIVERSITÄTSSCHRIFTEN BAND 16, MÜNCHEN 1971, UNVERÄNDERTER NACHDRUCK 1981 Inhaltsübersicht* Inhaltsverzeichnis .........................................................................................................XV Einleitung Abgrenzung des Themas und Einführung in die Problematik § 1 Abgrenzung des Themas ........................................................................ 1 § 2 Einführung in die Problematik und Gang der Untersuchung ........... 3 Besonderer Teil Die einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung 1. Kapitel Die Rechtsscheinhaftung ................................................................................................. 9 1. Abschnitt: Kritik bisher entwickelter „allgemeiner“ Rechtsscheintheorien .....................................................................................................................9 § 3 Die älteren „allgemeinen“ Rechtsscheintheorien ..............................10 § 4 Die Lehre Coings von der Vertrauenshaftung kraft schlüssigen Verhaltens ..........................................................................10 2. Abschnitt: Die Rechtsscheinhaftung im bürgerlichen Recht ..........................28 1. Unterabschnitt: Der Minimaltatbestand: Die Rechtsscheinhaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestandes ............................28 § 5 Die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Vollmachtsrecht ............................................................................................32 § 6 Der Blankettmißbrauch ........................................................................54 § 7 Weitere mit der Scheinvollmacht verwandte Tatbestände wissentlicher Schaffung eines Rechtsscheins .....................................66 § 8 Die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Familienrecht.........................................................................................................79
* Anm. d. Hrsg.: Die Inhaltsübersicht wurde aus dem Original übernommen, die Seitenzahlen beziehen sich folglich auf das Original.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht
§ 9 Der „Drittschutz“ beim Scheingeschäft, insbesondere § 405 BGB, und die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Zessionsrecht....................................................................................85 2. Unterabschnitt: Die erste Erweiterung: Die Einstandspflicht für die Schaffung eines Scheintatbestandes in Unkenntnis seines Scheincharakters ............................................................................... 107 § 10 Der Einwendungsausschluß im Stellvertretungsrecht ................... 109 § 11 Der Einwendungsausschluß bei den übrigen Rechtsinstituten und seine Grenzen ............................................................ 119 3. Unterabschnitt: Die zweite Erweiterung: Die Einstandspflicht für den Rechtsschein des Fortbestandes einer Rechtslage ..................... 133 § 12 Der Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand einer ursprünglich wirklich bestehenden Rechtslage ............................... 133 § 13 Der Schutz des Vertrauens auf den „Fortbestand“ einer scheinbaren Rechtslage, insbesondere der „Widerruf“ der Scheinvollmacht und die „Auflösung“ der Scheingesellschaft........................................................................................... 144 3. Abschnitt: Die Rechtsscheinhaftung in den übrigen Gebieten des Zivilrechts ................................................................................................... 150 1. Unterabschnitt: Die Erklärung der traditionellen handelsrechtlichen Rechtsscheinhaftung mit Hilfe der bürgerlichrechtlichen Rechtsscheinprinzipien ........................................................... 151 § 14 Rechtsscheinhaftung und Handelsregister ...................................... 151 § 15 Rechtsscheinhaftung und Handelsgesellschaft ............................... 167 § 16 Scheinkaufmann und Scheinreeder .................................................. 180 § 17 Die Sonderproblematik des § 25 HGB und verwandter Tatbestände ......................................................................................... 183 [XII] 2. Unterabschnitt: Die dritte Erweiterung: Die Einstandspflicht für einen ohne Erklärungsbewußtsein geschaffenen Scheintatbestand im Handelsrecht ............................................................................ 188 § 18 Die Scheinvollmacht im Handelsrecht ............................................ 189 § 19 Sondertatbestände des Schweigens im Handelsverkehr................ 196 § 20 Die Verallgemeinerung der Rechtssätze über die Anscheinsvollmacht, das Schweigen auf einen Antrag (§ 362 HGB) und das Bestätigungsschreiben ......................................................... 217 3. Unterabschnitt: Die Rechtsscheinhaftung im Recht der Umlaufpapiere .............................................................................................. 232 § 21 Die wertpapierrechtliche Rechtsscheintheorie im System der Rechtsscheinhaftung ................................................................... 233 § 22 Der Einwendungsausschluß im Wertpapierrecht als Tatbestand der Rechtsscheinhaftung ..................................................... 237
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4. Unterabschnitt: Die Rechtsscheinhaftung im Arbeitsrecht .................... 254 § 23 Rechtsscheinhaftung und Betriebsübung ........................................ 254 § 24 Rechtsscheinprobleme im Kollektivarbeitsrecht ............................ 262 2. Kapitel Die Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit gemäß § 242 BGB .................................................................................................................... 266 1. Abschnitt: Die Vertrauenshaftung kraft dolosen Verhaltens ....................... 273 § 25 Dolus praeteritus als anspruchsbegründendes Merkmal bei formnichtigen Rechtsgeschäften ................................................ 274 § 26 Dolus praeteritus als anspruchsbegründendes Merkmal bei sonstigen Mängeln eines Rechtsgeschäfts................................. 280 2. Abschnitt: Die Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens............................................................................................................ 287 § 27 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei formnichtigen Rechtsgeschäften ............................... 288 § 28 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei sonstigen Mängeln eines Rechtsgeschäfts ................ 311 § 29 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei Fehlinterpretationen und in verwandten Fällen .................................................................................................... 336 § 30 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei Vertrauen auf eine „freiwillige“ Leistungserbringung ........................................................................................... 352 3. Abschnitt: Die Vertrauenshaftung kraft Erwirkung ...................................... 372 § 31 Erwirkung als anspruchsbegründendes Merkmal bei Vertrauen auf das Bestehen einer bestimmten Rechtslage .................. 374 § 32 Erwirkung als anspruchsbegründendes Merkmal bei Vertrauen auf eine „freiwillige“ Leistungserbringung .......................... 396 Allgemeiner Teil Die allgemeinen Lehren der Vertrauenshaftung 3. Kapitel Die Vertrauenshaftung im System des deutschen Privatrechts ............................. 411 1. Abschnitt: Vertrauenshaftung und Rechtsgeschäftslehre ............................. 411 § 33 Die dogmatische Selbständigkeit der Rechtsgeschäftslehre gegenüber der Lehre von der Vertrauenshaftung .......................... 412 [XIII]
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht
§ 34 Die dogmatische Selbständigkeit der Lehre von der Vertrauenshaftung gegenüber der Rechtsgeschäftslehre und ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Privatautonomie ............................................................................................ 424 § 35 Die Vertrauenshaftung als Korrelat der Privatautonomie ............ 439 § 36 Die Anwendbarkeit der Vorschriften über Rechtsgeschäfte auf die Vertrauenshaftung und ihre Grenzen ................................. 451 Abschnitt: Vertrauenshaftung und Zurechnungslehre .................................. 467 § 37 Das Erfordernis der Zurechenbarkeit und seine Grenzen ........... 467 § 38 Die maßgeblichen Zurechnungsprinzipien ..................................... 473
4. Kapitel Das System der Vertrauenshaftung 1. Abschnitt: Die allgemeinen Merkmale der Vertrauenshaftung .................... 491 § 39 Der Vertrauenstatbestand ................................................................. 491 § 40 Die Voraussetzungen auf seiten des Vertrauenden ....................... 503 § 41 Die Zurechenbarkeit .......................................................................... 517 § 42 Die Rechtsfolgen des Vertrauensschutzes und ihre Reichweite ........................................................................................... 518 2. Abschnitt: Die einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung und ihr Zusammenspiel ............................................................................................. 525 § 43 Funktion und Aufbau der einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung .............................................................................. 526 § 44 Die wechselseitige Ergänzung der einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung ....................................................................... 541 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 553 Sachregister ................................................................................................................... 557 [XV]
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Inhaltsverzeichnis** Vorwort ..........................................................................................................................VII Einleitung Abgrenzung des Themas und Einführung in die Problematik § 1 Abgrenzung des Themas ........................................................................................ 1 I. Das Merkmal des „Vertrauens“ ......................................................... 1 II. Das Merkmal der „Haftung“ .............................................................. 3 § 2 Einführung in die Problematik und Gang der Untersuchung ........................... 3 I. Die Notwendigkeit induktiven Vorgehens ....................................... 4 II. Die „Zweispurigkeit“ der Vertrauenshaftung .................................. 5 Besonderer Teil Die einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung Erstes Kapitel Die Rechtsscheinhaftung Erster Abschnitt Kritik bisher entwickelter „allgemeiner“ Rechtsscheintheorien ................................. 9 § 3 Die älteren „allgemeinen“ Rechtsscheintheorien ....................................10 I. Die Lehre Herbert Meyers ................................................................10 II. Die Lehre Wellspachers.....................................................................11 III. Die Lehre Oertmanns ........................................................................12 IV. Die Lehre Müller-Erzbachs ..............................................................13 V. Die Lehre Stolls ..................................................................................14 § 4 Die Lehre Coings von der Vertrauenshaftung kraft schlüssigen Verhaltens .....................................................................................................16 I. Das Fehlen einer Grundlage im geltenden Recht ..........................18 II. Das Fehlen eines entsprechenden Richterrechts ...........................19 III. Die Wertungswidersprüche gegenüber der Irrtumsregelung des BGB ..............................................................................26 Zweiter Abschnitt Die Rechtsscheinhaftung im bürgerlichen Recht .......................................................28
** Anm. d. Hrsg.: Die Inhaltsübersicht wurde aus dem Original übernommen, die Seitenzahlen beziehen sich folglich auf das Original.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht
Erster Unterabschnitt Der Minimaltatbestand: Die Rechtsscheinhaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestandes .......................................................................28 § 5 Die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Vollmachtsrecht ...............................................................................................................32 I. Die gesetzlichen Tatbestände der Scheinvollmacht nach §§ 171 Abs. I, 172 Abs. I BGB .........................................................32 1. Dogmatische Einordnung ..........................................................32 2. Die Problematik der Willensmängel..........................................35 3. Das Abhandenkommen der Vollmachtsurkunde ....................38 II. Die Duldungsvollmacht als Scheininnenvollmacht .......................39 1. Dogmatische Einordnung ..........................................................40 2. Die Duldungsvollmacht als Institut des bürgerlichen Rechts ............................................................................................42 [XVI] 3. Die Problematik der Willensmängel..........................................43 4. Die Duldungsvollmacht und das Fehlen des Vertretungswillens .......................................................................45 III. Die Scheinvollmacht kraft Einräumung einer Stellung .................46 1. Dogmatische Einordnung ..........................................................46 2. Die analoge Anwendung der Regeln über die Duldungsvollmacht .....................................................................47 IV. Die „Anscheinsvollmacht“ im bürgerlichen Recht........................48 V. Die Sonderproblematik der Quittung (§ 370 BGB) ......................52 1. Dogmatische Einordnung ..........................................................53 2. Das Abhandenkommen der Quittung und die Problematik der Willensmängel .................................................53 § 6 Der Blankettmißbrauch ..............................................................................54 I. Die offene Blankettausfüllung ..........................................................54 1. Dogmatische Einordnung ..........................................................54 2. Die Reichweite des Scheintatbestandes ....................................59 3. Die Problematik der Willensmängel..........................................60 4. Das Abhandenkommen der Blanketturkunde .........................62 5. Sonderprobleme bei der Ausfüllung des Blanketts durch den Dritten selbst .............................................................62 II. Die verdeckte Blankettausfüllung ....................................................64 1. Dogmatische Einordnung ..........................................................64 2. Die Reichweite des Scheintatbestandes ....................................66 3. Die Problematik der Willensmängel..........................................66 § 7 Weitere mit der Scheinvollmacht verwandte Tatbestände wissentlicher Schaffung eines Rechtsscheins ...........................................66 I. Die Scheinbotenschaft .......................................................................66
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II. Das Handeln „unter“ fremdem Namen..........................................68 III. Die Fälschung und die Verfälschung im Bürgerlichen Recht ....................................................................................................69 IV. Die Scheineinwilligung und die Scheinermächtigung i. S. der §§ 112 f. BGB .......................................................................70 V. Die Scheinermächtigung und insbesondere die Duldungsermächtigung im Falle des § 185 Abs. I BGB ................................71 VI. Die Scheingenehmigung ....................................................................72 VII. Die Schein-BGB-Gesellschaft und die Scheinmitgliedschaft in einer BGB-Gesellschaft .....................................................74 VIII.Die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Vereinsrecht ........................................................................................76 IX. Der Scheinerfüllungsgehilfe i. S. des § 278 und des § 701 Abs. II BGB .............................................................................77 § 8 Die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Familienrecht ...............................................................................................................79 I. Der Scheingüterstand ......................................................................79 1. Die Abgabe einer unrichtigen Erklärung zum Güterrechtsregister.................................................................................79 2. Die übrigen Fälle der Schaffung eines Rechtsscheins .............81 3. Die Problematik der Willensmängel und der Formvorschriften...................................................................................82 4. Der Anwendungsbereich und der Umfang der Rechtsscheinhaftung ...............................................................................82 II. Die Scheinehe .....................................................................................83 1. § 27 EheG .....................................................................................83 2. Die gesetzlich nicht geregelten Fälle .........................................84 § 9 Der „Drittschutz“ beim Scheingeschäft, insbesondere § 405 BGB, und die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Zessionsrecht ..........................................................................................85 I. Der unmittelbare Anwendungsbereich des § 405 BGB ................86 [XVII] 1. Dogmatische Einordnung ..........................................................86 2. Die Problematik der Willensmängel..........................................87 II. Die Haftung auf Grund eines Scheingeschäfts über den unmittelbaren Anwendungsbereich des § 405 BGB hinaus .........................................................................................89 1. Bisherige Lösungsversuche.........................................................89 2. Die analoge Anwendung des § 405 auf ausdrückliche Erklärungen und auf konkludentes Verhalten des Scheinschuldners..........................................................................90
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3. Die analoge Anwendung des § 405 BGB auf andere Rechtsgeschäfte als Zessionen ...................................................93 4. Der Umfang des „Drittschutzes“ beim Scheingeschäft..........................................................................................94 III. Die analoge Anwendung des § 405 auf andere als die dort genannten Einwendungen und der Einwendungsausschluß im Zessionsrecht ....................................................................94 1. Die analoge Anwendung bei rechtsgeschäftlichen Einwendungen .............................................................................95 2. Die analoge Anwendung bei gesetzlichen Einwendungen .............................................................................97 3. Der Umfang des Einwendungsausschlusses im Zessionsrecht............................................................................. 101 IV. Die „Annahme“ einer Forderung durch den Schuldner als Beispiel des Einwendungsausschlusses im Zessionsrecht .................................................................................................. 102 1. Die Verzichtstheorie................................................................. 102 2. Die Einordnung der Problematik in die Rechtsscheinhaftung ............................................................................ 104 Zweiter Unterabschnitt Die erste Erweiterung: Die Einstandspflicht für die Schaffung eines Scheintatbestandes in Unkenntnis seines Scheincharakters............................. 107 § 10 Der Einwendungsausschluß im Stellvertretungsrecht ......................... 109 I. Die §§ 171 Abs. I, 172 Abs. I BGB als Tatbestände des Einwendungsausschlusses kraft Rechtsscheins .................... 110 II. Der Einwendungsausschluß bei der konkludenten Kundgabe, insbesondere bei der Duldungsvollmacht.......................... 112 III. Die Einwendungen bei der intern gebliebenen, „reinen“ Innenvollmacht................................................................................ 114 IV. Einwendungen gegen die Kundgabe selbst ................................. 115 V. Behandlung der einzelnen Einwendungen bei der Innenvollmacht................................................................................ 115 1. Willensmängel, Gesetzeswidrigkeit und Sittenwidrigkeit.................................................................................... 115 2. Formmängel .............................................................................. 116 VI. Der Einwendungsausschluß bei der Außenvollmacht ............... 119 § 11 Der Einwendungsausschluß bei den übrigen Rechtsinstituten und seine Grenzen .................................................................................... 119 I. Die analoge Anwendung der Regeln über den Einwendungsausschluß im Stellvertretungsrecht .............................. 120 II. Der Einwendungsausschluß im Recht der BGBGesellschaft ...................................................................................... 120
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1. Ablehnung des Schlusses vom Innen- auf das Außenverhältnis ........................................................................ 120 2. Der Einwendungsausschluß im Recht der BGBGesellschaft als Tatbestand der Rechtsscheinhaftung ....................................................................................... 124 III. Der Einwendungsausschluß im Vereinsrecht ............................. 126 IV. Der Einwendungsausschluß im ehelichen Güterrecht ............... 126 V. Der Einwendungsausschluß im Recht der Schuldübernahme........................................................................................ 127 1. Der Ausschluß bekannter Einwendungen............................. 128 2. Der Ausschluß unbekannter Einwendungen ........................ 128 [XVIII] VI. Der Ausschluß unbekannter Einwendungen im Zessionsrecht ................................................................................... 130 1. Die grundsätzliche Beschränkung des Einwendungsausschlusses auf bekannte Einwendungen ............................ 130 2. Der Ausschluß unbekannter Einwendungen in Ausnahmefällen......................................................................... 130 VII. Die Formulierung des zugrunde liegenden Rechtsprinzips und seine Grenzen ........................................................... 132 Dritter Unterabschnitt Die zweite Erweiterung: Die Einstandspflicht für den Rechtsschein des Fortbestandes einer Rechtslage..................................................................... 133 § 12 Der Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand einer (ursprünglich wirklich bestehenden) Rechtslage................................... 133 I. Die negative Publizität des Vereins- und des Güterrechtsregisters .................................................................................. 133 II. Der unmittelbare Anwendungsbereich der §§ 170, 171 Abs. II, 172 Abs. II, 173 BGB ...................................................... 134 1. Dogmatische Einordnung ....................................................... 134 2. Die Zurechnungsproblematik ................................................. 136 3. Die gesetzlichen Voraussetzungen der Rechtsscheinhaftung ............................................................................ 137 III. Die analoge Anwendung des § 171 Abs. II BGB auf das konkludente Verhalten, insbesondere auf die Vollmachtskundgabe durch „Dulden“ ................................................ 138 IV. Die analoge Anwendung der §§ 170, 171 Abs. II, 172 Abs. II, 173 BGB auf andere Rechtsinstitute .............................. 139 1. auf die BGB-Gesellschaft ........................................................ 139 2. auf die Einwilligung .................................................................. 139 3. auf die Ausfüllungsbefugnis beim Blankett ........................... 139 4. im ehelichen Güterrecht .......................................................... 140
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V. Das den §§ 170, 171 Abs. II, 172 Abs. II, 173 BGB zugrunde liegende Prinzip und seine Grenzen ............................ 140 1. Seine Unanwendbarkeit im Zessionsrecht ............................ 140 2. Seine Anwendbarkeit auf alle „drittgerichteten“ Rechtstatsachen ......................................................................... 140 VI. Die Ausgrenzung der §§ 169, 674, 729 BGB aus der Rechtsscheinhaftung ....................................................................... 142 VII. Exkurs: Die verwandte Problematik der §§ 407 f. BGB ............ 143 § 13 Der Schutz des Vertrauens auf den „Fortbestand“ einer scheinbaren Rechtslage, insbesondere der „Widerruf“ der Scheinvollmacht und die „Auflösung“ der Scheingesellschaft ....................... 144 I. Die unmittelbare Anwendung der §§ 171 Abs. II, 172 Abs. II, 173 BGB auf die Scheinvollmacht.................................. 145 II. Die analoge Anwendung der §§ 171 Abs. II, 173 BGB auf die konkludente Vollmachtskundgabe ................................... 146 1. auf die Scheinvollmacht kraft Anstellung .............................. 146 2. auf die Duldungsvollmacht...................................................... 147 III. Die analoge Anwendung der §§ 171 Abs. II, 172 Abs. II, 173 BGB auf andere Scheintatbestände als die Scheinvollmacht ................................................................................................ 148 IV. Abgrenzung gegenüber der „Anscheinsvollmacht“ ................... 148 [XIX] Dritter Abschnitt Die Rechtsscheinhaftung in den übrigen Gebieten des Zivilrechts ...................... 150 Erster Unterabschnitt Die Erklärung der traditionellen handelsrechtlichen Rechtsscheinhaftung mit Hilfe der bürgerlich-rechtlichen Rechtsscheinprinzipien ........... 151 § 14 Rechtsscheinhaftung und Handelsregister ............................................ 151 I. Der Anwendungsbereich des § 15 Abs. I HGB und seine Grenzen ............................................................................................ 151 1. § 15 Abs. I HGB als Mittel zum Schutz des guten Glaubens an den Fortbestand einer verlautbarten Rechtstatsache ........................................................................... 151 2. § 15 Abs. I HGB als Tatbestand des „negativen Publizitätsprinzips“................................................................... 152 II. Ablehnung der Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit ................................................................................... 153 1. Die Unhaltbarkeit ihrer rechtsgeschäftlichen Grundlage .............................................................................................. 153 2. Die Unmöglichkeit ihrer Einordnung in die Rechtsscheintheorie.............................................................................. 155
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III. Die „gewohnheitsrechtlich anerkannten Sätze“ über Erklärungen zum Handelsregister .......................................................... 156 1. Ihre Einordnung in das System der Rechtsscheinhaftung ....................................................................................... 157 2. Die Ersetzung des Veranlassungs- und des Verschuldensprinzips durch das Risikoprinzip ..................... 159 IV. Der Anwendungsbereich des § 15 Abs. III n. F. HGB und seine Grenzen .......................................................................... 162 1. Ablehnung des „reinen“ Rechtsscheinprinzips .................... 162 2. Die maßgeblichen Zurechnungsgesichtspunkte ................... 165 3. Der für die „gewohnheitsrechtlichen Sätze“ noch verbleibende Anwendungsbereich .......................................... 167 § 15 Rechtsscheinhaftung und Handelsgesellschaft ..................................... 167 I. Die Scheinhandelsgesellschaft und die Scheinmitgliedschaft in einer Handelsgesellschaft ............................................... 167 1. Die Scheinkapitalgesellschaft .................................................. 167 2. Die Scheinpersonengesellschaft und die Scheinmitgliedschaft in einer Personengesellschaft ......................... 168 II. Die fehlerhafte Handelsgesellschaft und der fehlerhafte Beitritt zu einer Handelsgesellschaft ............................................ 172 1. Die fehlerhafte Kapitalgesellschaft ......................................... 173 2. Der fehlerhafte Beitritt zu einer Kapitalgesellschaft ............ 173 3. Die fehlerhafte Übertragung des Anteils an einer Kapitalgesellschaft und die Problematik der Haftung bei falscher Eintragung im Aktienbuch oder falscher Anmeldung.................................................................. 174 4. Die fehlerhafte Personengesellschaft ..................................... 175 5. Der fehlerhafte Beitritt zu einer Personengesellschaft und die Haftung des Beigetretenen gegenüber den Altgläubigern ............................................................................. 175 III. Der Rechtsschein der Einheit verschiedener Rechtssubjekte, insbesondere im Recht der Einmanngesellschaft und im Konzernrecht ................................................ 177 § 16 Scheinkaufmann und Scheinreeder ........................................................ 180 I. Der Scheinkaufmann ...................................................................... 180 1. Die Zurechnungserfordernisse ............................................... 180 2. Der Umfang der Rechtsscheinwirkungen ............................. 181 II. Der Scheinreeder und der Scheinausrüster .................................. 182 [XX] § 17 Die Sonderproblematik des § 25 HGB und verwandter Tatbestände ............................................................................................... 183 I. § 25 Abs. I S.1 HGB ....................................................................... 183
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1. Die Unmöglichkeit einer Einordnung der Vorschrift in die Rechtsscheinlehre ........................................................... 183 2. Folgerungen für die Problematik der fehlerhaften Übernahme eines Handelsgeschäfts ....................................... 185 II. § 27, § 28 und §§ 130, 173 HGB ................................................... 187 Zweiter Unterabschnitt Die dritte Erweiterung: Die Einstandspflicht für einen ohne Erklärungsbewußtsein geschaffenen Scheintatbestand im Handelsrecht ......................................................................................................................... 188 § 18 Die Scheinvollmacht im Handelsrecht................................................... 189 I. Die Scheinvollmacht kraft Einräumung einer Stellung .............. 189 1. § 56 HGB ................................................................................... 189 2. Die Ausweitung des Grundsatzes des § 56 HGB auf andere Fälle der Einräumung einer Stellung ........................ 191 II. Die Anscheinsvollmacht im Handelsrecht .................................. 191 1. Die Geltung der Regeln über die Anscheinsvollmacht im Handelsrecht ........................................................................ 192 2. Die Problematik des maßgeblichen Zurechnungsprinzips und die Lehre vom kaufmännischen Organisationsrisiko ................................................................... 194 3. Die Problematik der Willensmängel....................................... 196 § 19 Sondertatbestände des Schweigens im Handelsverkehr ...................... 196 I. Schweigen auf einen Antrag über eine Geschäftsbesorgung (§ 362 HGB) ................................................................. 197 1. Kritik bisheriger Theorien ....................................................... 197 2. Die Einordnung des § 362 HGB in die Rechtsscheinhaftung ............................................................................ 200 3. Die Zurechnungsproblematik ................................................. 202 4. Die Problematik der Willensmängel....................................... 205 5. Die analoge Anwendung des § 362 HGB auf Nichtkaufleute ..................................................................................... 206 II. Das Schweigen auf Bestätigungsschreiben .................................. 206 1. Dogmatische Einordnung ....................................................... 206 2. Die Zurechnungsproblematik ................................................. 208 3. Die Problematik der Willensmängel....................................... 210 4. Die analoge Anwendung auf Nichtkaufleute ........................ 212 III. Schweigen auf eine Benachrichtigung im Falle der §§ 75 h, 91 a HGB........................................................................... 213 IV. Die „stillschweigende“ Vereinbarung allgemeiner Geschäftsbedingungen ................................................................... 214
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§ 20 Die Verallgemeinerung der Rechtssätze über die Anscheinsvollmacht, das Schweigen auf einen Antrag (§ 362 HGB) und das Bestätigungsschreiben ............................................................... 217 I. Der Irrtum über die Bedeutung eines Verhaltens: Die Rechtsscheinhaftung „kraft verkehrsmäßig typisierter Erklärungsbedeutung“ .................................................................... 218 1. Die Typisierung der Erklärungsbedeutung als Grundlage der Haftung........................................................................ 218 2. Ablehnung einer Begrenzung der Haftung auf die Fälle des Schweigens .......................................................................... 221 3. Ablehnung einer Haftung bei „individuellkonkludentem“ Verhalten ....................................................... 221 4. Die Möglichkeit von Analogien zu den bisher anerkannten Tatbeständen .............................................................. 222 5. Zur Problematik des Schweigens im Rechts- und Handelsverkehr ......................................................................... 224 6. Der Irrtum über einen Handelsbrauch .................................. 227 II. Die Tatsachenunkenntnis: Die Rechtsscheinhaftung „kraft kaufmännischen Betriebsrisikos“....................................... 228 [XXI] 1. Die Einstandspflicht für das kaufmännische Organisationsrisiko als Grundlage der Haftung ................... 228 2. Der Anwendungsbereich dieses Haftungsprinzips .............. 229 III. Die Übertragbarkeit der entwickelten Rechtssätze in das bürgerliche Recht ................................................................. 230 1. Ihre Anwendbarkeit auf den kaufmannsähnlichen Verkehr....................................................................................... 230 2. Die grundsätzliche Unanwendbarkeit der Rechtssätze über die „Tatsachenunkenntnis“ im bürgerlichen Recht ............................................................................... 230 3. Die Problematik der Ausdehnungsfähigkeit der Rechtssätze über den „Schlüssigkeitsirrtum“ ........................ 231 Dritter Unterabschnitt Die Rechtsscheinhaftung im Recht der Umlaufpapiere ................................... 232 § 21 Die wertpapierrechtliche Rechtsscheintheorie im System der Rechtsscheinhaftung................................................................................. 233 I. Kreationstheorie und Rechtsscheintheorie .................................. 233 II. Die wertpapierrechtliche Rechtsscheinhaftung und die allgemeinen Prinzipien der Rechtsscheinhaftung ....................... 234 1. Die Haftung bei Mängeln des Begebungsvertrages ............. 234 2. Die Haftung bei Fehlen des Begebungsvertrages ................. 235
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3. Die Haftung bei Willensmängeln bei der Ausstellung ....................................................................................... 235 4. Das maßgebliche Zurechnungsprinzip und die Zurechnungsausschlußgründe ................................................ 236 § 22 Der Einwendungsausschluß im Wertpapierrecht als Tatbestand der Rechtsscheinhaftung ......................................................... 237 I. Das Fehlen einer schutzwürdigen Erwerbsform: die „unmittelbaren“ Einwendungen und verwandte Tatbestände ............................................................................................ 238 1. Das Fehlen eines Übertragungsaktes nach dem Entstehen der Einwendung ..................................................... 239 2. Das Fehlen eines spezifisch wertpapierrechtlichen Übertragungsaktes .................................................................... 239 3. Gesetzliche Verweisungen auf das Zessionsrecht ................ 239 4. Das Fehlen eines Verkehrsgeschäfts ...................................... 240 5. Der Rückerwerb des Nichtberechtigten ................................ 240 6. Die Problematik des unentgeltlichen Erwerbs ..................... 241 II. Das Fehlen eines Scheintatbestandes: die „inhaltlichen“ oder „urkundlichen“ Einwendungen............................................ 242 1. Das Wesen der „inhaltlichen“ oder „urkundlichen“ Einwendungen .......................................................................... 242 2. Die Problematik des Formmangels und die Abgrenzung zwischen dem formnichtigen Wechsel und dem Blankowechsel .......................................................... 242 III. Das Fehlen der Zurechnungsvoraussetzungen: die Zurechenbarkeitseinwendungen ................................................... 243 1. vis absoluta ................................................................................ 243 2. Fehlende und beschränkte Geschäftsfähigkeit ..................... 243 3. Fälschung ................................................................................... 243 4. Verfälschung .............................................................................. 246 5. Vertretung ohne Vertretungsmacht ....................................... 248 6. Die nachträgliche Vervollständigung eines formnichtigen Wechsels ................................................................... 248 7. Das Fehlen des Bewußtseins, ein Umlaufpapier zu unterzeichnen ............................................................................ 249 [XXII] IV. Die übrigen Einwendungen: die präklusionsfähigen Einwendungen ................................................................................. 250 V. Besonderheiten bei einzelnen Umlaufpapieren ........................... 251 1. bei den kaufmännischen Orderpapieren................................ 251 2. bei der Aktie .............................................................................. 252
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Vierter Unterabschnitt Die Rechtsscheinhaftung im Arbeitsrecht ......................................................... 254 § 23 Rechtsscheinhaftung und Betriebsübung .............................................. 254 I. Rechtsgeschäftliche Lösungsmöglichkeiten und ihre Grenzen ............................................................................................ 255 1. Die Verbindlichkeit einer bereits bestehenden Betriebsübung für und gegen neu eintretende Arbeitnehmer ............................................................................ 255 2. Die Entstehung der Betriebsübung nach Eintritt des Arbeitnehmers in den Betrieb ................................................. 255 II. Die Lösungsmöglichkeiten der Rechtsscheinlehre ..................... 260 1. Das Versagen der Rechtsscheinhaftung gegenüber dem Problem der „Geltung“ der Betriebsübung .................. 260 2. Die Rechtsscheinhaftung kraft durch Betriebsübung typisierten Verhaltens ................................................... 261 § 24 Rechtsscheinprobleme im Kollektivarbeitsrecht .................................. 262 I. Die Scheintarifgebundenheit ......................................................... 262 1. Die Lösungsmöglichkeiten mit Hilfe der Rechtsscheinhaftung ............................................................................ 262 2. Die Grenzen der Rechtsscheinhaftung und die Möglichkeit einer Haftung aus § 242 BGB ........................... 263 II. Rechtsscheinhaftung und „stillschweigende“ Betriebsratsbeschlüsse................................................................................... 264 1. Die Lösungsmöglichkeiten mit Hilfe der Rechtsscheinhaftung ............................................................................ 264 2. Die Grenzen der Rechtsscheinhaftung und die Möglichkeit einer Haftung aus § 242 BGB ........................... 265 Zweites Kapitel Die Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit gemäß § 242 BGB Erster Abschnitt Die Vertrauenshaftung kraft dolosen Verhaltens .................................................... 273 § 25 Dolus praeteritus als anspruchsbegründendes Merkmal bei formnichtigen Rechtsgeschäften............................................................. 274 I. Die wichtigsten bisherigen Erklärungsversuche ......................... 274 1. Die Unzulänglichkeit schadensersatzrechtlicher Lösungen.................................................................................... 274 2. Kritik der Lehre von der einschränkenden Auslegung oder Restriktion des § 125 BGB ................................ 274 3. Kritik der Lehre Sieberts vom Normenmißbrauch .............. 275
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4. Kritik einer Lösung mit Hilfe des Verbots der Berufung auf eigenes Unrecht ................................................. 276 II. Die Einordnung in die Lehre von der Vertrauenshaftung .............................................................................................. 276 1. Das Vorliegen der allgemeinen Tatbestandsmerkmale der Vertrauenshaftung und die Bedeutung des rechtsethischen Urteils .................................. 276 2. Die Problematik der Umgehung der Formzwecke .............. 279 [XXIII] § 26 Dolus praeteritus als anspruchsbegründendes Merkmal bei sonstigen Mängeln eines Rechtsgeschäfts ............................................. 280 I. Tatbestände, bei denen eine Beeinträchtigung vorrangiger Schutzzwecke nicht in Frage steht ................................. 281 1. Die Vollmacht ........................................................................... 281 2. Das Scheingeschäft ................................................................... 282 3. Die Scherzerklärung ................................................................. 283 4. Der Dissens ............................................................................... 283 5. Die Fehlinterpretation .............................................................. 284 6. Die Bedingung........................................................................... 284 7. Die Unmöglichkeit ................................................................... 285 II. Tatbestände, bei denen die Berücksichtigung vorrangiger Schutzzwecke erforderlich ist ......................................... 285 1. Die Gesetzeswidrigkeit............................................................. 285 2. Der Mangel der Geschäftsfähigkeit ........................................ 286 3. Das Fehlen einer Zustimmung ............................................... 286 Zweiter Abschnitt Die Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens .................................. 287 § 27 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei formnichtigen Rechtsgeschäften...................................... 288 I. Die Einordnung in die Lehre von der Vertrauenshaftung .............................................................................................. 289 II. Die einzelnen Haftungsmerkmale ................................................. 294 1. Der gute Glaube........................................................................ 294 2. Die Disposition, die Notwendigkeit ihrer „Irreversibilität“ und die an ihr Ausmaß zu stellenden Anforderungen .......................................................................... 295 3. Die Zurechenbarkeit ................................................................ 296 4. Die Problematik der Umgehung der Formzwecke .............. 297 5. Weitere Gesichtspunkte, insbesondere die Bedeutung des „Vorteilsgedankens“ .......................................................... 298
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6. Das Versagen der gesetzlichen Ausgleichsordnung und die Subsidiarität der Erfüllungshaftung.......................... 300 III. Die Erfüllungshaftung als Folge eines „beweglichen Zusammenspiels“ der einzelnen Merkmale ................................. 301 1. Das Verbot des venire contra factum proprium als maßgebliches Kriterium für die rechtsethische Bewertung .................................................................................. 301 2. Das Vorliegen eines „beweglichen Systems“ im Sinne Wilburgs .......................................................................... 302 3. Rechtsprechungsanalyse........................................................... 305 § 28 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei sonstigen Mängeln eines Rechtsgeschäfts ...................... 311 I. Der Mangel der Vertretungsmacht ............................................... 312 II. Fälschung und Verfälschung ......................................................... 315 III. Das Fehlen der Genehmigung ...................................................... 317 IV. Der Mangel der Geschäftsfähigkeit .............................................. 319 V. Die Teilnichtigkeit gemäß § 139 BGB.......................................... 320 VI. Ausfall und Eintritt einer Bedingung............................................ 321 VII. Der offene Dissens ......................................................................... 322 [XXIV] VIII.Der versteckte Dissens ................................................................... 324 IX. Der verspätete Zugang einer Willenserklärung und das Fehlen einer Annahme ............................................................ 325 1. Die Problematik der Zugangsvereitelung .............................. 325 2. Die Verspätung des Zugangs einer Willenserklärung gemäß § 149 BGB ..................................................................... 326 3. Die Verspätung der Abgabe einer Willenserklärung ............ 328 4. Die Annahme unter Abweichungen i. S. des § 150 Abs. II BGB und das Fehlen einer Annahme ....................... 331 X. Fehlen des Erklärungsbewußtseins und Scherzerklärung ........................................................................................... 332 XI. Scheingeschäft, Gesetzeswidrigkeit, Sittenwidrigkeit und Naturalobligation ..................................................................... 333 XII. Sonstige Fälle ................................................................................... 335 § 29 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei Fehlinterpretationen und in verwandten Fällen ............ 336 I. Die falsche Auslegung von Individualverträgen ......................... 336 1. Die Falschauslegung durch den anderen Teil ....................... 337 2. Die Falschauslegung durch den Vertrauenden selbst .......... 340 II. Die falsche Auslegung von Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen und Gesetzen ....................................................... 342
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III. Die falsche Auslegung von Versicherungsbedingungen und der gewohnheitsrechtliche Satz über die Einstandspflicht des Versicherers für Auskünfte seiner Vermittlungsagenten ....................................................................... 342 1. Die Unzulänglichkeit rechtsgeschäftlicher Erklärungsversuche .................................................................. 343 2. Die Einordnung der Problematik in die Lehre von der Vertrauenshaftung.............................................................. 345 3. Die praktischen Unterschiede gegenüber der rechtsgeschäftlichen Theorie ............................................................. 349 4. Die analoge Anwendung der für Versicherungsagenten geltenden Regeln auf sonstige Vermittlungsvertreter...................................................................... 350 IV. Das deklaratorische Schuldanerkenntnis...................................... 351 § 30 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei Vertrauen auf eine „freiwillige“ Leistungserbringung .................................................................................................. 352 I. Der Schutz des Vertrauens auf die Erfüllungsbereitschaft ....................................................................................... 353 1. Die Problematik bei formnichtigen Verträgen ..................... 354 2. Die Problematik in den Fällen der Gesetzeswidrigkeit und der Naturalobligation ..................................... 356 II. Der Schutz des Vertrauens auf die Bereitschaft zu einem zukünftigen Vertragsabschluß............................................ 357 1. Die Hofübergaberechtsprechung des BGH .......................... 358 2. Die Verallgemeinerungsfähigkeit der Hofübergaberechtsprechung .......................................................................................... 362 III. Der Schutz des Vertrauens auf die Bereitschaft, für die Schulden eines anderen aufzukommen ........................................ 364 1. Die Problematik im bürgerlichen Recht ................................ 365 2. Die Problematik im Recht der Einmanngesellschaft und im Konzernrecht ............................................................... 366 Dritter Abschnitt Die Vertrauenshaftung kraft Erwirkung ................................................................... 372 § 31 Erwirkung als anspruchsbegründendes Merkmal bei Vertrauen auf das Bestehen einer bestimmten Rechtslage .................................... 374 [XXV] I. Die Erwirkung als Mittel des Vertrauensschutzes bei nichtigen Rechtsgeschäften ............................................................ 374 1. Formmängel .............................................................................. 374
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2. Fehlen der Genehmigung und Vertretung ohne Vertretungsmacht ..................................................................... 375 3. Fehlerhafte Satzungsänderungen im Vereinsrecht und sonstige fehlerhafte Beschlüsse im Gesellschaftsrecht ................................................................................ 377 II. Die Erwirkung als Mittel des Vertrauensschutzes bei gänzlichem Fehlen eines Rechtsgeschäfts und insbesondere die Problematik der „Übung“ ..................................... 381 1. im Mietrecht .............................................................................. 382 2. im Gesellschaftsrecht ............................................................... 383 3. im Arbeitsrecht.......................................................................... 386 III. Die Erwirkung als Mittel des Vertrauensschutzes bei Fehlinterpretationen........................................................................ 392 1. bei der Übung ............................................................................ 392 2. in sonstigen Fällen .................................................................... 394 § 32 Erwirkung als anspruchsbegründendes Merkmal bei Vertrauen auf eine „freiwillige“ Leistungserbringung ........................................... 396 I. Die Zusage einer Leistung unter „Vorbehalt der Freiwilligkeit“ oder unter „Ausschluß eines Rechtsanspruchs“ ............................................................................ 397 1. Die Unzulänglichkeit rechtsgeschäftlicher Lösungen.................................................................................... 397 2. Einordnung in die Lehre von der Erwirkung ....................... 398 II. Die Inaussichtstellung eines zukünftigen Vertragsschlusses .......................................................................................... 401 III. Die wiederholte freiwillige Erbringung einer Leistung und die Problematik der Übung .................................................... 403 1. Die wiederholte vorbehaltslose Zahlung von Ruhegeldern ............................................................................... 404 2. Die wiederholte vorbehaltslose Zahlung von Gratifikationen .......................................................................... 407 3. Die wiederholte vorbehaltslose Erbringung sonstiger Leistungen ................................................................. 409 4. Die Problematik einer für die Arbeitnehmer ungünstigen Übung ....................................................................... 410
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Allgemeiner Teil Die allgemeinen Lehren der Vertrauenshaftung Drittes Kapitel Die Vertrauenshaftung im System des deutschen Privatrechts Erster Abschnitt Vertrauenshaftung und Rechtsgeschäftslehre .......................................................... 411 § 33 Die dogmatische Selbständigkeit der Rechtsgeschäftslehre gegenüber der Lehre von der Vertrauenshaftung................................. 412 I. Die Geltung des mangelfreien Rechtsgeschäfts und der Vertrauensgedanke ................................................................... 413 1. Die Geltung des Rechtsgeschäfts als unmittelbare Folge des Grundsatzes der Privatautonomie ........................ 413 2. Die Unabhängigkeit des Grundsatzes der Privatautonomie vom Vertrauensgedanken .................................... 414 3. Die Unvereinbarkeit der Vertrauenstheorie mit den gesetzlichen Vorschriften über das mangelfreie Rechtsgeschäft ..................................................... 415 II. Die Geltung des von einem Willensmangel beeinflußten Rechtsgeschäfts und der Vertrauensgedanke ................. 418 [XXVI] 1. Die Fälle der Mentalreservation i. S. von § 116 BGB ............................................................................................ 419 2. Die Fälle des Irrtums i. S. von § 119 und § 123 BGB und die Problematik der objektiven Auslegung .................................................................................. 421 3. Die Einstandspflicht nach § 122 BGB als Fall der Vertrauenshaftung .................................................................... 423 III. Die Haftung auf das positive Interesse bei anfänglicher objektiver oder subjektiver Unmöglichkeit und der Vertrauensgedanke ........................................................... 423 § 34 Die dogmatische Selbständigkeit der Lehre von der Vertrauenshaftung gegenüber der Rechtsgeschäftslehre und ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Privatautonomie .................................................................................................. 424 I. Das Versagen der Rechtsgeschäftslehre gegenüber der Problematik der Vertrauenshaftung und dessen Gründe.............................................................................................. 424 1. Die Problematik der deklaratorischen Erklärungen ............. 425 2. Die Problematik des Drittschutzes bei nichtigen Willenserklärungen ................................................................... 426
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3. Die Problematik des Partnerschutzes bei nichtigen Willenserklärungen ................................................................... 426 4. Die Problematik des nicht-rechtsgeschäftlichen Versprechens ............................................................................. 426 5. Die Problematik der Vorbereitungshandlung, insbesondere des „Entwurfs“ einer Willenserklärung .................................................................................... 427 6. Die Problematik des Erklärungsbewußtseins ....................... 427 II. Die Vertrauenshaftung als Haftung „ex lege“ und nicht „ex voluntate“ ........................................................................ 428 1. Ablehnung einer Mediatisierung der Vertrauenshaftung durch die Rechtsgeschäftslehre ................................ 429 2. Ablehnung einer Ausweitung der Rechtsgeschäftslehre über den Bereich der Selbstbestimmung hinaus.......................................................................................... 430 III. Die Ableitung rechtsgeschäfts-gleicher Rechtsfolgen aus dem Vertrauensprinzip und der Grundsatz der Privatautonomie .............................................................................. 431 1. Die Vereinbarkeit der Vertrauenshaftung mit dem Prinzip der Abschlußfreiheit ................................................... 431 2. Die Gefahr von Wertungswidersprüchen zwischen Rechtsgeschäftslehre und Vertrauenshaftung und die Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung ................................ 433 3. Das Fehlen der „Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus“ und die Problematik der Äquivalenzkontrolle ................................................................. 436 4. Die Sonderproblematik unvollständiger Regelungen und die Kompetenz des Richters zu ihrer Ergänzung ......... 439 § 35 Die Vertrauenshaftung als Korrelat der Privatautonomie................... 439 I. Die Ergänzungsfunktion der Vertrauenshaftung gegenüber der Selbstbindung kraft Rechtsgeschäfts .................. 440 II. Die Vertrauenshaftung als Haftung kraft Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr .................................................. 442 III. Die Vertrauenshaftung und die Lehre von den faktischen Verträgen ....................................................................... 445 1. Die Vertrauenshaftung und die Lehre vom Vertragsschluß durch sozialtypisches Verhalten................... 445 2. Die Vertrauenshaftung und die Lehre vom faktischen oder fehlerhaften Gesellschaftsund Arbeitsverhältnis ............................................................... 447 § 36 Die Anwendbarkeit der Vorschriften über Rechtsgeschäfte auf die Vertrauenshaftung und ihre Grenzen ....................................... 451
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I. Die Vorschriften über die Geschäftsfähigkeit ............................. 452 II. Die Vorschriften über Willensmängel .......................................... 453 [XXVII] III. Die Vorschriften über die Stellvertretung und die Genehmigung .................................................................................. 457 1. Die haftungsbegründende Funktion der Analogie zu den §§ 164 ff. BGB.............................................................. 457 2. Die haftungsbegrenzende Funktion der Analogie zu den §§ 164 ff. BGB.............................................................. 458 3. Die Anwendbarkeit der entwickelten Grundsätze auf die Vertrauenshaftung der öffentlichen Hand ............... 461 IV. Die Vorschriften über die Gesetzes- und die Sittenwidrigkeit .......................................................................................... 463 1. Die Problematik der analogen Anwendung der §§ 134, 138 BGB ....................................................................... 463 2. Die Problematik der analogen Anwendung des § 817 Satz 2 BGB ...................................................................... 464 V. Die Formvorschriften ..................................................................... 465 Zweiter Abschnitt Vertrauenshaftung und Zurechnungslehre ............................................................... 467 § 37 Das Erfordernis der Zurechenbarkeit und seine Grenzen.................. 467 I. Zu Begriff und Wesen der Zurechnung ....................................... 468 1. Die „allgemeinen Zurechnungsausschlußgründe“ ............... 468 2. Haftungsgrund und Zurechnungsprinzip .............................. 469 II. Die Bedeutung des Zurechnungsgedankens für die Vertrauenshaftung ........................................................................... 471 1. Das „reine Rechtsscheinprinzip“ als Ausnahme vom Erfordernis der Zurechenbarkeit ................................... 471 2. Das Zurechnungserfordernis als Grundsatz ......................... 472 § 38 Die maßgeblichen Zurechnungsprinzipien ........................................... 473 I. Das Veranlassungsprinzip .............................................................. 473 1. Das Veranlassungsprinzip als reine Kausalhaftung .............. 474 2. Das Versagen des Veranlassungsprinzips in den Fällen des Unterlassens ............................................................ 474 3. Das Versagen des Veranlassungsprinzips gegenüber dem Problem der Zurechnung....................................... 475 II. Das Verschuldensprinzip ............................................................... 476 1. Die grundsätzliche Tauglichkeit des Verschuldensprinzips als Zurechnungskriterium und die Grenzen seiner Eignung .......................................................... 476
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2. Der Anwendungsbereich des Verschuldensprinzips im geltenden Recht und seine Grenzen, insbesondere die Unzulässigkeit einer Verbindung des Rechtsscheingedankens mit dem Verschuldensprinzip .............................. 477 III. Das Risikoprinzip ............................................................................ 479 1. Das allgemeine Erklärungsrisiko............................................. 481 2. Das Irreführungsrisiko ............................................................. 482 3. Das Mißbrauchsrisiko .............................................................. 482 4. Das Richtigkeitsrisiko ............................................................... 484 5. Die Risikoproblematik bei Willensmängeln .......................... 486 6. Das kaufmännische Organisationsrisiko................................ 486 7. Sonderprobleme der Risikozurechnung bei Urkunden ....... 487 8. Sonderprobleme der Risikozurechnung in den Fällen des Unterlassens ........................................................................ 488 Viertes Kapitel Das System der Vertrauenshaftung Erster Abschnitt Die allgemeinen Merkmale der Vertrauenshaftung ................................................. 491 [XXVIII] § 39 Der Vertrauenstatbestand ........................................................................ 491 I. Die Grundlagen des Vertrauenstatbestandes .............................. 492 II. Die Feststellung des Vertrauenstatbestandes und die Ermittlung seiner Reichweite......................................................... 493 III. Der Inhalt des Vertrauenstatbestandes und die Besonderheiten des „Rechtsscheins“ ............................................................ 495 1. Die Beziehung auf eine gegenwärtige oder auf eine zukünftige Lage ......................................................................... 495 2. Die Beziehung auf eine rechtlich mögliche oder auf eine rechtlich unmögliche Lage und die Problematik der „inhaltlichen“ oder „urkundlichen“ Einwendungen ........................................................................................ 495 3. Die Beziehung auf eine Rechtstatsache oder auf eine natürliche Tatsache ................................................................... 496 4. Die Beziehung auf ein Verhalten des Betroffenen ............... 497 IV. Dauer und Zerstörung des Vertrauenstatbestandes ................... 498 1. bei den natürlichen äußeren Tatbeständen............................ 498 2. bei den künstlichen äußeren Tatbeständen ........................... 500 V. Die Rechtsnatur des Vertrauenstatbestandes .............................. 502 § 40 Die Voraussetzungen auf seiten des Vertrauenden.............................. 503 I. Der gute Glaube .............................................................................. 504
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II. Die Kenntnis des Vertrauenstatbestandes ................................... 507 1. bei den künstlichen äußeren Tatbeständen ........................... 507 2. bei den natürlichen äußeren Tatbeständen............................ 509 III. Die Disposition oder Vertrauensinvestition ................................ 510 1. Die Anforderungen an Art und Umfang der Disposition ................................................................................ 511 2. Die Ausnahmen vom Erfordernis der Disposition.............. 512 3. Die bloße Wahrscheinlichkeit einer Disposition und die Problematik der Beweislast ............................................... 513 IV. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Vertrauen und der Disposition ........................................................................ 514 V. Die Schutzwürdigkeit des Erwerbsvorganges ............................. 516 § 41 Die Zurechenbarkeit ................................................................................ 517 § 42 Die Rechtsfolgen des Vertrauensschutzes und ihre Reichweite ......... 518 I. Die Beschränkung des Rechtsschutzes auf die Person des Vertrauenden und ihre Grenzen ............................................ 518 1. Die Rechtsfolgen im Verhältnis zwischen dem Vertrauenden und dem Haftenden ............................................... 519 2. Die Rechtsfolgen im Verhältnis zu Dritten........................... 520 II. Art und Umfang des Rechtsschutzes ........................................... 521 1. Die Entstehung eines vollwertigen Rechts ............................ 521 2. Der Anspruchsinhalt ................................................................ 521 3. Die Besonderheiten hinsichtlich der dinglichen Rechtslage .................................................................................. 523 Zweiter Abschnitt Die einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung und ihr Zusammenspiel....... 525 § 43 Funktion und Aufbau der einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung .................................................................................... 526 I. Die Rechtsscheinhaftung ............................................................... 526 1. Die Funktion ............................................................................. 526 2. Tatbestandlicher Aufbau und Anwendungsbereich ............. 527 [XXIX] II. Die Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit ................................................................................. 528 1. Die Funktion ............................................................................. 528 2. Tatbestandlicher Aufbau und Anwendungsbereich ............. 530 III. Die Erklärungshaftung ................................................................... 532 1. Die Funktion ............................................................................. 533 2. Tatbestandlicher Aufbau und Anwendungsbereich ............. 534 IV. Die Anvertrauenshaftung ............................................................... 539
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§ 44 Die wechselseitige Ergänzung der einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung.............................................................................. 541 I. Differenzierungen auf Grund der Unterschiede des Vertrauenstatbestandes................................................................... 542 1. Erkennbarkeit oder Unerkennbarkeit des Mangels für einen objektiven Beobachter ............................................. 542 2. Gegenwärtige oder zukünftige Rechtslage ............................ 543 3. Rechtstatsache oder natürliche Tatsache ............................... 545 4. Beziehung auf ein Verhalten des Betroffenen oder eines Dritten .............................................................................. 545 II. Differenzierungen auf Grund der Unterschiede der Zurechnungsproblematik ............................................................... 547 1. Fehlen der allgemeinen Zurechnungsvoraussetzungen ................................................................................... 547 2. Willensmängel i. S. der §§ 118 ff. BGB.................................. 548 3. Abhandenkommen einer Urkunde ......................................... 548 4. Fehlen des Erklärungsbewußtseins ........................................ 548 5. Irrtum über die Richtigkeit einer Erklärung .......................... 551 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 553 Sachregister ................................................................................................................... 557 [VII] Vorwort Seit BALLERSTEDT und COING die „Vertrauenshaftung“ in den Rang eines eigenständigen Rechtsinstituts erhoben haben, ist dieser Ansatz immer wieder aufgegriffen und für eine Vielzahl verschiedener Problemkreise fruchtbar gemacht worden. Allen bisherigen Versuchen ist jedoch die Schwäche gemeinsam, daß sie sich auf eine mehr oder weniger punktuelle Erörterung von Einzelfragen beschränken und ohne hinreichende Berücksichtigung verwandter Problemstellungen und übergreifender Zusammenhänge entwickelt worden sind. Diesem Mangel einer durchgängigen Theorie, der nicht nur die Überzeugungskraft vertrauensrechtlicher Lösungsvorschläge stark beeinträchtigt, sondern der wegen der Gefahr von Wertungswidersprüchen auch eine ernste Bedrohung für Gerechtigkeit und Rechtssicherheit darstellt, möchte die vorliegende Untersuchung durch eine ordnende Gesamtdarstellung abhelfen. Allerdings stehen einem solchen Unternehmen in mehrfacher Hinsicht außerordentliche Schwierigkeiten entgegen. Diese beruhen vor allem darauf, daß die Bedeutung des Vertrauensgedankens zur Zeit der Schaffung des BGB noch nicht genügend ins Bewußtsein getreten war und daß die Vertrauenshaftung da-
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her nicht als ein systemtragender Bestandteil des deutschen Privatrechts, sondern allenfalls als eine systemfremde Ausnahmeerscheinung betrachtet wurde. Die gesetzliche Regelung ist dementsprechend weitgehend unzulänglich: sie ist nicht nur in höchstem Maße lückenhaft, sondern teilweise auch nicht frei von inneren Widersprüchen. Diese Mängel sind durch die seitherige Rechtsentwicklung noch vermehrt worden; denn im Laufe der Zeit ist in nahezu jedem Rechtsgebiet – im bürgerlichen Recht ebenso wie im Handels- und Wertpapierrecht, im Gesellschafts- und Konzernrecht, ja sogar im Versicherungsrecht und im Arbeitsrecht – ein systemloser Wildwuchs vertrauensrechtlicher Haftungstatbestände entstanden, die heute z. T. bereits gewohnheitsrechtlich verfestigt und daher nicht mehr korrigierbar sind. Jeder Versuch, die Problematik der Vertrauenshaftung dogmatisch zu bewältigen, sieht sich daher einer doppelten Aufgabe gegenüber: zum einen gilt es, die Lücken der gesetzlichen und gewohnheitsrechtlichen Regelung auszufüllen und die dafür zu entwickelnden Lösungen rechtsquellenmäßig ausreichend abzusichern, und zum anderen muß die Fülle der Einzelerscheinungen möglichst weitgehend auf widerspruchsfreie und einheitliche Grundsätze zurückgeführt werden, ohne daß dabei jedoch die Systemreinheit durch eine Mißachtung des geltenden Rechts erzwungen werden darf. Daraus wird deutlich, daß das Thema der Vertrauenshaftung in besonderem Maße eine beständige Reflexion über methodologische Grundfragen, vor allem über die Problematik der Rechtsfortbildung und der juristischen System- und Theoriebildung voraussetzt. Die entsprechenden Überlegungen sind indessen im Interesse der Darstellung in der vorliegenden Arbeit meist nicht explizit gemacht worden. Sie [VIII] haben ihren Niederschlag vielmehr weitgehend in meiner 1969 erschienenen Schrift über „Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz“ gefunden, die sehr wesentlich auf den bei der Bearbeitung der Vertrauenshaftung gewonnenen Erkenntnissen beruht. So habe ich hier praktisch zu verwirklichen versucht, was ich dort theoretisch gefordert habe: die Argumentation mit Hilfe allgemeiner Rechtsprinzipien und das Systemdenken zu einer Synthese zu verbinden. Dementsprechend wird die entscheidende Aufgabe darin gesehen, das allgemeine Rechtsprinzip des Vertrauensschutzes zu subsumtionsfähigen Normen zu konkretisieren und dabei eine auf einheitlichen Kriterien beruhende Ordnung, also ein System zu entwickeln. Zu diesem Zwecke wird eine Vielzahl verschiedener Gedankenoperationen vorgenommen; deren wichtigste sind die Herausarbeitung der dem Vertrauensprinzip immanenten Merkmale (§§ 39 f., 42), dessen Verfestigung zu besonderen Erscheinungsformen wie dem Rechtsscheingedanken oder dem Verbot des venire contra factum proprium, seine Verbindung mit anderen Rechtsgrundsätzen wie dem der Zurechnung (§§ 37 f., 41), die Abstimmung mit gegenläufigen Prinzipien, insbesondere mit dem der Privatautonomie (§ 34 III sowie auch z. B. §§ 4 III, 5 IV, 20), und schließlich die Bestimmung der spezifischen Funktion, die der Vertrauenshaftung und ihren verschiedenen Tatbeständen innerhalb des geltenden Rechts zukommt
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(§§ 34 I, 35 I bzw. § 43). Daß das Endergebnis ein zwar differenziertes, aber insgesamt doch verhältnismäßig einfaches und vor allem widerspruchsfreies System sein würde (§§ 43 f.), war dabei freilich nicht von vornherein sicherzustellen. Es hat sich jedoch – übrigens durchaus entgegen meinen ursprünglichen Vermutungen – gezeigt, daß sich hinter der auf den ersten Blick willkürlich erscheinenden Vielfalt vertrauensrechtlicher Haftungsfiguren eine überzeugungskräftige innere Ordnung verbirgt, die geradezu an das Wirken einer „geheimen Vernunft“ denken läßt. Das zweite Haupthindernis, das neben den methodologischen Schwierigkeiten einer Gesamtdarstellung der Vertrauenshaftung entgegensteht, ist die ungeheure Fülle des zu bewältigenden Materials. Ich habe deshalb schließlich meinen Plan, alle Tatbestände mit gleicher Gründlichkeit und Vollständigkeit zu erörtern, einstweilen zurückstellen müssen. Daher sind jene Fälle, in denen die Vertrauenshaftung lediglich zu Schadensersatzansprüchen führt, in der vorliegenden Arbeit weitgehend ausgeklammert und einer späteren Untersuchung vorbehalten worden. Sie sind aber immerhin in den Grundzügen umrissen und insoweit in die Darstellung einbezogen worden, als dies erforderlich ist, um das wechselseitige Zusammenspiel der verschiedenen vertrauensrechtlichen Anspruchsgrundlagen und das Gesamtsystem der Vertrauenshaftung deutlich werden zu lassen (§ 43 III und IV bzw. § 44); außerdem sind sie bei einer Reihe sonstiger Fragen des „Allgemeinen Teils“, bei denen der Zusammenhang dies nahelegte, mitberücksichtigt worden. Gleichwohl ist mir diese Selbstbeschränkung nicht leicht gefallen. Sie war jedoch unerläßlich, um die Veröffentlichung des Buches nicht unabsehbar lange hinauszuzögern und seinen Umfang nicht übermäßig anschwellen zu lassen. Darüber hinaus schien sie mir auch von der Sache her vertretbar. Denn abgesehen davon, daß ich meine Position hinsicht- [IX] lich der vertrauensrechtlichen Schadensersatzhaftung bereits in einigen Aufsätzen näher dargelegt habe, dürfte deren systematische Darstellung auch weniger dringlich sein als die der übrigen Tatbestände der Vertrauenshaftung: schon hier und nicht erst bei der Behandlung der Schadensersatzhaftung fällt die Entscheidung über die praktisch wichtigste und demgemäß im Mittelpunkt der gesamten Problematik stehende Frage nach der Rechtsfolge – d. h. danach, ob der Vertrauende einen Anspruch auf „Vertrauensentsprechung“ oder nur einen Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens erhält (vgl. zum Unterschied näher § 2 II); die dann noch verbleibenden speziellen Probleme der Schadensersatzhaftung aber sind heute wohl nur noch zu einem verhältnismäßig kleinen Teil ungeklärt. Die Arbeit ist aus meiner Habilitationsschrift hervorgegangen, die im Sommersemester 1967 der juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München unter dem Titel „Die Rechtsscheinhaftung im deutschen Privatrecht“ vorgelegen hat. Diese ist von meinem hochverehrten Lehrer KARL LARENZ betreut worden, und ich möchte daher die Gelegenheit benutzen, um ihm auch an dieser Stelle noch einmal meinen herzlichsten Dank für die vielfältige wissen-
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schaftliche und persönliche Förderung auszusprechen, die ich von ihm stets erfahren habe. Außerdem gilt mein Dank meinen Assistenten, Herrn Assessor INGO KOLLER und den Herren Referendaren HEIKO MORISSE, HEINZ JÜRGEN RÖPER und WERNER SCHLENTHER, die mir bei der Vorbereitung des Manuskripts und bei der Drucklegung wertvolle Hilfe geleistet haben. Hamburg, im Oktober 1970
Claus-Wilhelm Canaris [1] Einleitung
§ 1 Abgrenzung des Themas Das Thema der vorliegenden Schrift ist die „Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht“. Es handelt sich also weder um eine rechtsphilosophische noch um eine rechtssoziologische noch um eine rechtstheoretische Untersuchung über den Vertrauensgedanken, sondern um eine rechtsdogmatische, d. h. auf das geltende Recht bezogene Arbeit. Auch insoweit ist aber nicht etwa die Bedeutung des Vertrauensgedankens für das gesamte Recht oder auch nur für das gesamte Privatrecht in ihrer ganzen Breite Gegenstand der Erörterung,1 sondern nur ein bestimmter Ausschnitt der Problematik, der im Anschluß an einen verbreiteten Sprachgebrauch mit dem Terminus „Vertrauenshaftung“ bezeichnet wird. Das Thema ist daher auf der Seite der Tatbestandsvoraussetzungen durch den Begriff des „Vertrauens“ und auf der Seite der Rechtsfolgen durch den Begriff der „Haftung“ näher abgegrenzt. I. Das Merkmal des „Vertrauens“ Von „Vertrauenshaftung“ zu sprechen ist nur dort sinnvoll, wo das Vertrauen für den Eintritt der Rechtsfolge überhaupt eine Rolle spielt. Aus dem Zusammenhang der vorliegenden Arbeit auszuscheiden sind daher zunächst die Tatbestände des „absoluten Verkehrsschutzes“. Damit sind jene Fälle gemeint, in denen das Gesetz aus Gründen der Verkehrssicherheit eine an sich zweifelhafte oder sogar nur scheinbar bestehende Rechtslage „absolut“ festlegt, so daß die Rechtsfolgen für und gegen jedermann und insbesondere auch zugunsten dessen eintreten, der 1 Vgl. dazu für das Privatrecht Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen, 1950, und von Craushaar, Der Einfluß des Vertrauens auf die Privatrechtsbildung, 1969; für das öffentliche Recht Stich, Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, Diss. Mainz 1954; Mainka, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, 1963; für die gesamte deutsche Rechtsordnung Lenz, Das Vertrauensschutz-Prinzip, 1968.
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überhaupt nicht auf sie vertraut hat oder der bösgläubig und damit des Vertrauensschutzes nicht würdig war. Der Unterschied zur Vertrauenshaftung wird am besten an dem Gegensatz zwischen der Lehre vom „Scheinkaufmann“ und der Regelung des „Kaufmanns kraft Eintragung“ nach § 5 HGB klar: im ersten Falle handelt es sich um Vertrauenshaftung, weil anerkanntermaßen nur der Vertrauende, nicht aber z. B. auch ein bösgläubiger Dritter oder der Scheinkaufmann selbst geschützt wird, im zweiten Fall dagegen liegt ein Tatbestand des „absoluten Verkehrsschutzes“ vor, weil sich nach herrschender und richtiger Ansicht2 auch der Bösgläubige und der Eingetragene auf die Eintragung berufen können und weil die Rechtsfolge sich daher nicht aus dem Vertrauensgedanken erklären läßt. Der tiefere Grund für diese „Absolutheit“ [2] des Rechtsschutzes dürfte dabei in dem Bestreben des Gesetzes zu sehen sein, im Interesse einer unbedingten Verkehrssicherheit von vornherein jeden Streit über die fragliche Rechtsfolge auszuschließen.3 Andere Beispiele, die in diesen Zusammenhang gehören, sind etwa § 409 BGB4 oder bestimmte Regeln aus dem Recht der Kapitalgesellschaften.5 Weiterhin sollte man auch dann nicht von „Vertrauenshaftung“ sprechen, wenn der Gedanke des Verkehrs- und Vertrauensschutzes zwar eine gewisse Rolle für die Schaffung des fraglichen Rechtsinstituts gespielt haben mag, wenn es aber in concreto nicht auf das Vorliegen eines entsprechenden Vertrauens ankommt. Daher gehört z. B. die „Schlüsselgewalt“ der Ehefrau gemäß § 1357 BGB oder die gesetzliche Festlegung des Umfangs der Vertretungsmacht eines Prokuristen oder eines OHG-Gesellschafters gemäß §§ 49 f. HGB bzw. § 126 HGB nicht in den Zusammenhang der „Vertrauenshaftung“ im Sinne der in dieser Arbeit zugrunde gelegten Terminologie; denn die Bindung tritt hier nicht nur ein, weil und soweit der Dritte auf die Vertretungsmacht vertraut, und außerdem können die Rechtsfolgen nicht nur von dem Vertrauenden geltend gemacht werden, wie das für die Vertrauenshaftung charakteristisch ist,6 sondern z. B. auch von dem Vertretenen oder dem Vertreter. Die Vertretungsmacht ist hier also
2 Vgl. z. B. von Gierke § 13 II 2; Schlegelberger-Hildebrandt § 5 Rdz. 1; RGR-Komm. (Brüggemann) § 5 Anm. 3; Baumbach-Duden § 5 Anm. 1 A und F. 3 Daß es der Sinn des § 5 HGB ist, die Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich des Vorliegens der Kaufmannsmerkmale zu vermeiden, ergibt sich eindeutig daraus, daß die Vorschrift nicht eingreift, wenn es schon am Begriff des Gewerbes fehlt oder wenn das Unternehmen nicht betrieben wird; denn wenn es um echten Vertrauensschutz ginge, müßte § 5 HGB – Gutgläubigkeit des Dritten vorausgesetzt – auch in diesen beiden Fällen gelten, wohingegen deren Ausklammerung bei der hier vertretenen Interpretation folgerichtig ist, weil insoweit keine vergleichbaren Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen können. 4 Daß es hier nicht auf guten Glauben ankommt, ist anerkannt; vgl. RGZ 126, 183 (185); BGH LM Nr. 6 zu MRG 53; Soergel-Schmidt § 409 Rdz. 2; Enn.-Lehmann § 80 II 1 b; Larenz, Schuldrecht A. T. § 30 IV = S. 353 m. weiteren Nachw. in Fn. 2. 5 Vgl. näher unten § 15 II 1–3. 6 Vgl. unten § 42 I.
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nicht lediglich ein „Reflex“ des Vertrauensschutzes, sondern „echte“ Vertretungsmacht. Als drittes und letztes setzt „Vertrauenshaftung“ im hier verwendeten Sinne des Wortes schließlich voraus, daß der Gedanke des Vertrauensschutzes nicht lediglich eine ergänzende Hilfsfunktion für den Eintritt der Rechtsfolge erfüllt, sondern deren tragenden Grund bildet. Daher sind z. B. die §§ 123 II 1 und 437, 440 BGB keine Tatbestände der Vertrauenshaftung, sondern der Haftung kraft Rechtsgeschäfts, obwohl der Vertrauensgedanke hier zweifellos nicht ohne Bedeutung ist.7 Aus demselben Grunde erscheint es unzweckmäßig, die Einstandspflicht für eine unerlaubte Handlung dann als Vertrauenshaftung zu bezeichnen, wenn dabei der Vertrauensgedanke eine Rolle spielt, – was z. B. bei § 823 II (etwa i. V. m. § 263 oder § 266 StGB) oder bei § 826 BGB, aber auch bei den Verkehrssicherungspflichten und den Rechtspflichten aus vorangegangenem Tun durchaus der Fall sein [3] kann; denn das Schwergewicht liegt hier auf dem deliktischen Unrecht, für das der Mißbrauch des Vertrauens lediglich eines unter mehreren Elementen ist, und daher geht es um „Deliktshaftung“ und nicht um „Vertrauenshaftung“. II. Das Merkmal der Haftung „Haftung“ bedeutet, daß die Rechtsfolge in der Begründung einer Pflicht besteht. Ob dies eine Erfüllungs- oder eine Schadensersatzpflicht ist, spielt dabei keine Rolle. Insbesondere ist es sprachlich und sachlich unbedenklich, auch bei der Auferlegung von Erfüllungspflichten von „Haftung“ zu reden; die „Haftung“ des falsus procurator nach § 179 I BGB oder die „Bereicherungshaftung“, die ja – nicht anders als etwa ein Kaufvertrag – z. B. auf Übereignung einer Sache gerichtet sein kann, belegen das hinreichend. „Haftung“ heißt dagegen nicht, daß die Entstehung der Rechtspflicht auf dem Gedanken der Zurechnung beruhen müßte. Eine solche Festlegung der Terminologie wäre nicht nur sprachlich unrichtig, weil z. B. die „Bereicherungshaftung“ und die „Aufopferungshaftung“ grundsätzlich nichts mit Zurechnungsgesichtspunkten zu tun haben,8 sondern sie wäre auch sachlich verfehlt, weil sie die Gefahr einer vorzeitigen Verengung des Themas, wo nicht gar einer petitio principii mit sich brächte. Der unterscheidende Wert des Kriteriums der „Haftung“ liegt vielmehr in der Abgrenzung gegenüber den Tatbeständen des „Rechtsverlusts“: der gutgläubige Erwerb, der Schutz des Vertrauens auf eine Empfangslegitimation – also z. B. die Fälle der §§ 407 f., 797, 808, 851 BGB – sowie die Verwirkung und der Einwand des venire contra factum proprium gehö7 8
Vgl. näher unten § 33 II 2 und III. Vgl. dazu auch unten S. 470
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ren trotz ihrer Ableitbarkeit aus dem Vertrauensgedanken nicht zum Gegenstand dieser Arbeit, da die Rechtsfolge insoweit nicht in der Begründung, sondern im Verlust eines Rechts besteht. Die Ausklammerung dieser Problemkreise ist dabei auch von der Sache her durchaus berechtigt, zum einen, weil sie ohnehin schon oft genug untersucht worden sind, und zum anderen, weil sie sowohl hinsichtlich der Fragestellungen als auch hinsichtlich der Lösungsmöglichkeiten trotz mancher Verwandtschaften weitgehend eigenständigen Charakter aufweisen. § 2 Einführung in die Problematik und Gang der Untersuchung Der Vertrauensgedanke gehört zweifellos zu den fundamentalsten Prinzipien einer jeden Rechtsordnung, ja, man mag ihn zu den „obersten Rechtsgrundsätzen“ zählen und ihn als Bestandteil der – material verstandenen – Rechtsidee selbst ansehen.1 Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die bloße Berufung auf das Gebot des Vertrauensschutzes regelmäßig nur eine äußerst geringe Überzeugungskraft besitzt und lediglich einen unter vielen „topoi“ darstellt, der, wie das der Natur eines „topos“ entspricht, auch unerheblich sein kann. Der tiefere Grund für [4] diese unbezweifelbare Schwäche des Vertrauensgedankens liegt in der außerordentlichen Vielgestaltigkeit, die für ihn sowohl hinsichtlich seines Anwendungsbereichs als auch hinsichtlich der aus ihm folgenden Rechtswirkungen charakteristisch ist.2 Dementsprechend ist gegenüber allen rein deduktiven Ableitungen aus dem Vertrauensprinzip äußerste Zurückhaltung angebracht, und daher kommt es für dessen Konkretisierung in erster Linie auf die Wertungen des positiven Rechts und nicht auf irgendwelche apriorischen Überlegungen an. Diese Einsicht ist von entscheidender Bedeutung für die Wahl der Untersuchungsmethode; denn daraus ergibt sich: I. Die Notwendigkeit induktiven Vorgehens Angesichts des nahezu unbegrenzten Spielraums, den der Gesetzgeber bei der Konkretisierung des Vertrauensprinzips hat, droht jede Arbeit über die Ver1 Vgl. z. B. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1969, S. 197 (Ziff. 3), 198 (Ziff. 5), 212; vgl. auch die Rückführung der „Dolus-Sätze“ auf die Gerechtigkeit S. 203, 212. 2 Daraus erklärt sich die Skepsis, die im Schrifttum nicht selten gegenüber Argumentationen mit Hilfe des Vertrauensgedankens anzutreffen ist; repräsentativ z. B. Wiedemann, Die Haftung des Gesellschafters in der GmbH, 1968, S. 8: „Es handelt sich, ähnlich wie bei der Zurechnung, um kein materiales Wertprinzip, das aus sich heraus greifbare Elemente anbietet, wo Vertrauen schutzwürdig ist und wo nicht“.
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trauenshaftung das Ziel, einen Beitrag zur Rechtsdogmatik zu leisten, von vornherein zu verfehlen, wenn sie nicht streng auf das geltende Recht bezogen ist. Daher können philosophische Untersuchungen des Vertrauensgedankens3 ebensowenig die Grundlage der Erörterung bilden wie soziologische,4 und selbst der Wert material-rechtstheoretischer Überlegungen, wie sie jüngst von CRAUSHAAR angestellt hat,5 erscheint im Hinblick auf ihre positiv-rechtliche Fruchtbarkeit fragwürdig. Auszugehen ist vielmehr von einer sorgfältigen Analyse aller jener Tatbestände, die de lege lata Fälle der Vertrauenshaftung im eingangs gekennzeichneten Sinne des Wortes darstellen können; neben dem Gesetz sind dabei auch Gewohnheitsund Richterrechtsbildungen in die Betrachtung einzubeziehen,6 weil – und soweit – auch sie Bestandteil des geltenden Rechts sind. Im folgenden wird somit induktiv vorgegangen und demgemäß der „Besondere Teil“ dem „Allgemeinen Teil“ vorangestellt. Bei dieser Arbeitsweise steht man freilich sofort vor einer außerordentlichen Schwierigkeit: die einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung sind nicht nur über die verschiedensten Rechtsgebiete verstreut – vom Bürgerlichen Recht über das Handels-, Gesellschafts- und Wertpapierrecht bis hin zum Versicherungs- und zum Arbeitsrecht –, sondern sie sind auch nahezu ausnahmslos unab- [5] hängig voneinander entstanden, so daß man in die Gefahr gerät, sich in einem zusammenhanglosen Nebeneinander heterogener Einzelheiten zu verlieren. Das aber wäre sowohl mit den Grundsätzen wissenschaftlichen Arbeitens als auch mit dem fundamentalen Gebot der inneren Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung unvereinbar, und daher ergibt sich die Notwendigkeit, Ordnung in die Vielfalt zu bringen und folglich die induktive durch die systematische Methode7 zu ergänzen.8
3 Vgl. z. B. Nicolai Hartmann, Ethik, 4. Aufl. 1962, S. 426 ff.; Diesel, Die Macht des Vertrauens, 1947, S. 26 ff. 4 Vgl. z. B. Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 1968; zum Verhältnis zwischen Vertrauen und Recht vgl. vor allem S. 32 ff. 5 Vgl. aaO. 6 Dementsprechend wird sich die Methode der Untersuchung z. T. zu wandeln haben; so ist z. B. für das zweite Kapitel anders als für das erste die Analyse richterlicher Urteile charakteristisch, weil die dort behandelten Formen des Vertrauensschutzes nur in der Einzelfallbetrachtung voll deutlich werden. 7 Zu dieser vgl. eingehend meine Schrift über Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, die gewissermaßen das methodologische Pendant zu der vorliegenden dogmatischen Untersuchung bildet und die weitgehend aus den Erfahrungen hervorgegangen ist, die ich bei der Bearbeitung der „Vertrauenshaftung“ gewonnen habe. 8 Dabei entsteht allerdings die Gefahr des Zirkelschlusses, vgl. dazu näher unten S. 107.
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II. Die „Zweispurigkeit“ der Vertrauenshaftung Sucht man demgemäß nach einem leitenden Gesichtspunkt, an Hand dessen sich die einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung gliedern lassen, so stößt man alsbald auf einen grundlegenden Unterschied hinsichtlich der Rechtsfolgen: der Vertrauende wird entweder so gestellt, wie es der von ihm angenommenen Lage entspricht, oder er wird so gestellt, als hätte er die wahre Lage gekannt und daher nicht vertraut; in Anlehnung an den Unterschied zwischen dem positiven und dem negativen Interesse kann man im ersten Fall, in dem der Vertrauende einen Anspruch auf „Vertrauensentsprechung“ erhält, von „positivem Vertrauensschutz“ sprechen und im zweiten Fall, in dem ihm lediglich ein Anspruch auf Ersatz des „Vertrauensschadens“ gewährt wird, von „negativem Vertrauensschutz“. Der praktische Unterschied zwischen diesen beiden Haftungsarten wird exemplarisch deutlich an dem Streit um die Rechtsfolgen der „Anscheinsvollmacht“: während die h. L. dem Vertrauenden hier die Rechte geben will, die er beim Vorliegen einer echten Vollmacht hätte, und somit die Form des „positiven“ Vertrauensschutzes wählt, spricht eine im Vordringen begriffene Gegenansicht ihm lediglich Schadensersatzansprüche aus culpa in contrahendo zu und beschränkt ihn damit auf den „negativen“ Vertrauensschutz.9 Angesichts dieser Gegensätzlichkeit der Rechtsfolgen – Erfüllungshaftung oder eine verwandte Rechtsfolge10 im einen Fall, bloße Schadensersatzhaftung im anderen – muß der Unterschied zwischen „positivem“ und „negativem“ Vertrauensschutz und die sich daraus ergebende „Zweispurigkeit“ als schlechthin konstitutiv für das System der Vertrauenshaftung bezeichnet werden, und daher ist es die zentrale Aufgabe einer jeden Bearbeitung dieses Themas, die Anwendungsbereiche der beiden Haftungsformen in tatbestandlich fest umrissener Weise voneinander abzugrenzen.11 [6] Dabei muß man sich von vornherein darüber im klaren sein, daß sich nicht aus dem Vertrauensgedanken selbst entnehmen läßt, wann welche der beiden Schutzformen zum Zuge kommt.12 Allerdings legen deren Vor- und Nachteile gewisse Zuordnungen nahe. So kommt der „positive“ Vertrauensschutz der „generalisierenden“, am Zwecke des Verkehrsschutzes ausgerichteten Tendenz des Vertrauensprinzips stark entgegen und kann daher überall dort, wo die VerkehrsVgl. dazu näher unten § 5 IV. Der „positive“ Vertrauensschutz kann nicht mit der „Erfüllungshaftung“ identifiziert werden, mag diese auch sein Hauptanwendungsfall sein, vgl. die Beispiele unten § 42 II 2. 11 Zur Lösung vgl. unten § 44. 12 Das wird häufig übersehen; charakteristisch etwa von Craushaar S. 14 und S. 29, der die „Zweispurigkeit“ der Vertrauenshaftung völlig verkennt. Ähnlich verfehlt ist es, wenn mitunter – so z. B. bei der „Anscheinsvollmacht“ – die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs mit der schlichten Bezugnahme auf § 242 BGB begründet wird, obwohl sich aus diesem doch ebenso gut ein bloßer Schadensersatzanspruch ergeben könnte – wie allein schon der Hinweis auf das bekanntlich auch auf § 242 BGB gestützte Institut der culpa in contrahendo beweist. 9
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interessen besonderes Gewicht haben wie etwa im Handels-, Gesellschafts- und Wertpapierrecht, eine gewisse Vorrangstellung beanspruchen. Es liegt z. B. auf der Hand, daß den Interessen eines Kaufmanns durch einen Anspruch auf „Vertrauensentsprechung“ regelmäßig besser Rechnung zu tragen ist als durch einen Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens; denn dann entfällt die Notwendigkeit, einen Schaden nachzuweisen13 und dessen Höhe im einzelnen zu beziffern, und damit wird eine Fülle von Streitigkeiten und Prozeßrisiken vermieden, ein unerfreulicher Aufwand an Kosten, Mühe und Zeit gespart und eine klare Kalkulationsgrundlage geschaffen. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, daß dem „positiven“ Vertrauensschutz ein gewisser Schematismus zu eigen ist und daß der „negative“ Vertrauensschutz regelmäßig den Grundsätzen der „Billigkeit“ wesentlich besser entspricht, weil er den Vertrauenden nur im Umfang der von diesem tatsächlich vorgenommenen Dispositionen oder Vertrauensinvestitionen schützt.14 Der Rückgriff auf diese Haftungsform liegt daher vor allem dort nahe, wo es um die „individualisierende“, den Geboten der traditionellen Rechtsethik und der bona fides zugeordnete Tendenz des Vertrauensprinzips geht. Indessen können derartige Überlegungen allenfalls einen ersten Hinweis geben, in welcher Richtung die maßgeblichen Abgrenzungskriterien zu suchen sind, während die eigentliche Entscheidung insoweit stets dem positiven Recht vorbehalten bleibt. Überblickt man nun dieses auf der Suche nach Tatbeständen des „positiven“ Vertrauensschutzes, die ja allein den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bilden,15 so drängt sich als erstes – und, wie sich zeigen wird, in der Tat grundlegendes – Institut die Rechtsscheinhaftung auf. [7]
13 Außerdem gibt es Fälle, in denen ein Schaden überhaupt nicht entstanden ist, gleichwohl aber ein erhebliches Bedürfnis für einen Vertrauensschutz besteht; man denke etwa daran, daß ein Kaufmann auf die Gültigkeit einer von ihm vorgeschlagenen Gerichtsstandsklausel vertraut: daß deren Verbindlichkeit für seine Betriebsorganisation u. U. von wesentlicher Bedeutung sein kann, liegt ebenso auf der Hand wie daß ein Schadensersatzanspruch im Falle ihrer Nichtigkeit keinen angemessenen Rechtsbehelf darstellt. 14 Vgl. auch unten § 43 III 1. 15 Vgl. das Vorwort.
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Besonderer Teil Die einzelnen Tatbestände der Vertrauenshaftung [9] Erstes Kapitel Die Rechtsscheinhaftung Von Rechtsscheinhaftung spricht man herkömmlicherweise dann, wenn die Rechtsordnung einen „an sich“ nicht gegebenen Anspruch deshalb gewährt, weil der Schein seines Bestehens entstanden war; ein kurzer Blick auf anerkannte Beispiele der Rechtsscheinhaftung wie die Scheinvollmacht, die Scheingesellschaft, den Scheinkaufmann oder den wertpapierrechtlichen Einwendungsausschluß kraft Rechtsscheins macht das hinreichend deutlich. Als charakteristische Merkmale der Rechtsscheinhaftung erweisen sich also zum einen das Vorliegen eines „Rechtsscheins“ als Tatbestandsvoraussetzung und zum anderen die Gleichstellung von Rechtsschein und Rechtswirklichkeit als Rechtsfolge.1 Die Rechtsscheinhaftung ist daher in der Tat eine Form des „positiven Vertrauensschutzes“ im soeben gekennzeichneten Sinne, weil der Vertrauende so gestellt wird, als bestünde die von ihm angenommene Rechtslage wirklich. Mit dieser ersten, vorläufigen Begriffsbestimmung ist nun freilich noch nicht viel gewonnen. Vor allem ist sie keinesfalls ausreichend, um, entsprechend der oben2 aufgestellten Forderung nach einer Verbindung von induktiver und systematischer Methode, die Formulierung einer „allgemeinen“ Theorie der Rechtsscheinhaftung zu erlauben, d. h. einer Theorie, die sich nicht resignierend mit der Aufzählung einzelner gesetzlich oder gewohnheitsrechtlich anerkannter Fälle begnügt, sondern nach gemeinsamen Kriterien fragt und mit deren Hilfe sowohl die inneren Zusammenhänge zwischen den anerkannten Tatbeständen sichtbar macht als auch nicht ausdrücklich geregelte Probleme zu lösen sucht. Allerdings ist bei einem solchen Unternehmen von vornherein eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung geboten; denn zum einen muß man sich vor der Gefahr hüten, die ersichtlich verhältnismäßig stark differenzierten gesetzlichen Wertungen durch eine zu allgemeine Theorie zu mißachten, und zum anderen darf man nicht verkennen, daß die Rechtsscheinhaftung wegen ihrer weitreichenden Rechtsfolgen regelmäßig eine besondere Härte für den Haftenden darstellt und daß ihre rechtsethische Überzeugungskraft daher grundsätzlich nicht sonderlich groß ist.3
Vgl. genauer unten § 39 III bzw. § 42 sowie zusammenfassend § 43 I 2. Vgl. § 2 I a. E. 3 Vgl. dazu auch unten S. 533 f. mit Fn. 43 a. 1 2
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Erster Abschnitt Kritik bisher entwickelter „allgemeiner“ Rechtsscheintheorien Der Versuch, eine mehr oder weniger „allgemeine“ Theorie über den Anwendungsbereich der Rechtsscheinhaftung zu formulieren, ist keineswegs neu. Inwie- [10] weit ihm bisher Erfolg beschieden war, soll im folgenden näher untersucht werden, um für die anschließende Entwicklung des eigenen Lösungsvorschlags sowohl etwaige fruchtbare Ansätze aufzuspüren als auch bereits widerlegte Irrwege zu vermeiden. § 3 Die älteren „allgemeinen“ Rechtsscheintheorien I. Die Lehre Herbert Meyers In seiner Arbeit über „Das Publizitätsprinzip im Deutschen Bürgerlichen Recht“1 hat es HERBERT MEYER unternommen, das Rechtsscheinprinzip als ein „beherrschendes Prinzip unseres ganzen bürgerlichen Rechts“2 nachzuweisen. „Überall“, so führt er zur Begründung aus, „schützt im Verkehr der Menschen untereinander das Recht die typische Form als die regelmäßige, erkennbare, kundbare äußere Erscheinung der Rechte ...“.3 Dogmatisch arbeitet er dabei mit dem Institut der Vermutung, die er nicht nur dort annimmt, wo sie vom Gesetz angeordnet wird, sondern bei „jeder erkennbaren typischen Erscheinungsform des Rechts“.4 Der Rechtsschein und die von diesem begründete Vermutung soll zwar grundsätzlich durch „Anfechtung“ wieder beseitigt werden können,5 doch soll dies dann nicht gelten, wenn Rechte erworben worden sind, die „bei Aufdeckung des Scheins hinfällig werden müßten“ und wenn „die Veranlassung des
1 München 1909. Schon vor Meyer hat Ernst Jacobi auf die hohe Bedeutung des Rechtsscheingedankens hingewiesen (vgl. Die Wertpapiere im Bürgerlichen Recht des deutschen Reiches, 1901, S. 95 f.; Das Wertpapier als Legitimationsmittel, 1906, S. 46 f.; vgl. auch ZHR 63, 98 f.) und diesen insbesondere im Wertpapierrecht fruchtbar gemacht. Die Lehre Jacobis ist gleichwohl in diesem Zusammenhang nicht zu erörtern, weil er sie nicht zu einer allgemeinen Rechtsscheintheorie ausgeweitet hat. Zur Erklärung der Irrtumsanfechtung des BGB mit Hilfe des Rechtsscheingedankens durch Jacobi (Willenserklärungen S. 32 ff.) vgl. unten § 33 II 2. 2 aaO. S. 96; ähnlich Vom Rechtsschein des Todes, 1912, S. 13 ff. 3 Publizitätsprinzip S. 96. 4 aaO. S. 97; Rechtsschein des Todes S. 13 f. 5 Publizitätsprinzip S. 96 f.; Rechtsschein des Todes S. 14.
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Scheins auf Seiten dessen gelegen hat, gegen den er sich kehrte“;6 der Veranlassung stellt es Meyer gleich, wenn jemand die Beseitigung eines gegen ihn sprechenden Rechtsscheins unterläßt, obwohl er die Möglichkeit dazu hat.7 Daß diese Theorie viel zu allgemein gefaßt ist, um mit dem geltenden Recht vereinbar zu sein, ist auf den ersten Blick deutlich. So steht sie z. B. im scharfen Widerspruch zur Regelung der Lehre von den Willensmängeln im BGB, da bei diesen die Anfechtung trotz des Scheins einer vollgültigen Willenserklärung und trotz des „Hinfälligwerdens“ von Rechten zulässig, ja z. T. wie z. B. im Falle des § 118 nicht einmal erforderlich ist; ähnlich kraß ist der Gegensatz auch zur Regelung [11] des Einwendungsausschlusses im Zessionsrecht, wo nach § 404 BGB und auf Grund des Umkehrschlusses aus § 405 BGB keineswegs schon die bloße Veranlassung des Scheins einer wirksamen Verpflichtung – etwa durch Begebung einer Schuldurkunde – zur Haftung gegenüber einem gutgläubigen Erwerber führt (vgl. eingehend unten § 11 VI 1). Meyer hat denn auch nicht den geringsten Versuch unternommen, seine Theorie aus dem Gesetz zu begründen, sondern dem Gesetzgeber im Gegenteil die Kompetenz zur Entscheidung dieser Fragen weitgehend abgesprochen.8 Es ist daher nicht verwunderlich, daß er trotz vereinzelter Zustimmung9 überwiegend auf scharfe Ablehnung gestoßen ist.10 II. Die Lehre Wellspachers Fast zur selben Zeit wie Meyer hat MORITZ WELLSPACHER sein Prinzip des Schutzes des „Vertrauens auf äußere Tatbestände“ formuliert:11 „Wer im Vertrauen auf einen äußeren Tatbestand rechtsgeschäftlich handelt, der zufolge Gesetzes oder Verkehrsauffassung die Erscheinungsform eines bestimmten Rechtes, Rechtsverhältnisses oder eines anderen rechtlich relevanten Momentes bildet, ist in seinem Vertrauen geschützt, wenn jener Tatbestand mit Zutun desjenigen
6 Rechtsschein des Todes S. 15; der Sache nach ebenso ZHR 81, 407; zurückhaltender in der Formulierung noch Publizitätsprinzip S. 96. 7 Rechtsschein des Todes S. 16; vgl. aber auch den Rückgriff auf das Verschuldensprinzip ZHR 81, 391 f. 8 Vgl. Rechtsschein des Todes S. 14. 9 Vgl. z. B. Otto Fischer, Sein und Schein im Rechtsleben, insbesondere Sp. 14 Fn. 1 a. E.; verwandte Gedanken finden sich auch schon (vor Meyer) bei Wilutzky, Das Recht 1907, Sp. 925 ff. 10 Vgl. schon die Rezension J. v. Gierkes ZHR 70, 382 ff. (394 ff.); vgl. ferner Krückmann JherJb. 57, 149; Oertmann ZHR 95, 443 ff.; Manigk, Heymann-Festschrift S. 596; Müller-Erzbach JherJb. 83, 265; v. Tuhr II 1 S. 135; Enn.-Nipperdey § 80 II 3; Lehmann-Hübner § 23 I; Eichler, Rechtslehre vorn Vertrauen S. 102. 11 Das Vertrauen auf äußere Tatbestände im bürgerlichen Rechte, 1906.
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zustande gekommen ist, dem der Vertrauensschutz zum Nachteile gereicht“.12 Wellspacher unterscheidet dabei „künstliche äußere Tatbestände“, wozu er insbesondere die Registereintragungen und den Erbschein rechnet, sowie „natürliche äußere Tatbestände“.13 – Es liegt auf der Hand, daß es sich hier der Sache nach um dieselbe Verbindung von Rechtsscheinprinzip und Veranlassungshaftung handelt wie bei Meyer. Wellspachers Lehre ist daher denselben Einwänden ausgesetzt. Allerdings hat er im Gegensatz zu Meyer sehr wohl erkannt, daß sein Prinzip im deutschen bürgerlichen Recht keine allgemeine Geltung beanspruchen kann und insbesondere mit den §§ 118 ff. BGB unvereinbar ist.14 Daß es in seiner Verabsolutierung aber auch rechtspolitisch stärksten Bedenken begegnet und daß die zwischen Erfüllungs- und Schadensersatzhaftung differenzierende Regelung des BGB jedenfalls im Grundsatz sachgerechter ist,15 hat Wellspacher dagegen nicht gesehen, und so muß seine [12] Konzeption der Rechtsscheinlehre heute auch de lege ferenda als überholt betrachtet werden.16 III. Die Lehre Oertmanns Über 20 Jahre später hat OERTMANN erneut versucht, eine „allgemeine“ Rechtsscheinlehre zu formulieren, doch faßt er seine Theorie wesentlich enger als Meyer und Wellspacher. Er will einen allgemeinen Schutz des guten Glaubens an einen Scheintatbestand nämlich nur beim Fehlen „bloßer Wirksamkeitsvoraussetzungen“ anerkennen, nicht dagegen bei „eigentlichen Tatbestandsmängeln“.17 Oertmann vermeidet dadurch zwar den Widerspruch zur Regelung der Willensmängel im BGB, da diese zu den „Tatbestandsmängeln“ i. S. seiner Terminologie gehören, doch ist auch seine Lehre nicht haltbar. Denn sie geht einerseits nicht weit genug, anderseits, und das ist entscheidend, viel zu weit. Sie geht nicht weit genug insofern, als es durchaus Fälle gibt, in denen der gute Glaube an ein Tatbestandsstück, z. B. das Vorliegen eines Vertragsangebotes, geschützt wird.18 Sie aaO. S. 115. aaO. S. 22 ff. bzw. S. 58 ff. 14 aaO. S. 116 f. Die Polemik Meyers (Publizitätsprinzip S. 96 Fn. 8) gegen Wellspacher geht 12 13
fehl.
Vgl. oben S. 6 sowie unten S. 533 f. mit Fn. 44. Damit soll die dogmatische Leistung Wellspachers, die in seiner Zeit außerordentlich war, nicht geschmälert werden. Sein Buch ist den undifferenzierten Gedanken H. Meyers und anderer älterer Anhänger der Rechtsscheinlehre weit überlegen und bietet in Einzelfragen auch dem heutigen Leser noch manche Anregungen. 17 Vgl. ZHR 95, 443 ff. (S. 461 im Anschluß an Die Rechtsbedingung, 1924, S. 6 ff.). Zum Begriff der Wirksamkeitsvoraussetzung vgl. heute z. B. Enn.-Nipperdey § 145 II B 3; Flume § 2, 3 c. 18 Vgl. unten S. 69 und S. 549 Fn. 46. 15 16
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geht zu weit insofern, als es eine Reihe von Wirksamkeitsvoraussetzungen gibt, hinsichtlich derer der gute Glaube keineswegs allgemein geschützt wird. So zählt Oertmann z. B. mit Recht die Verfügungsmacht zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen,19 und doch ergeben der Wortlaut des § 932 II BGB und der Umkehrschluß aus § 366 HGB eindeutig, daß es insoweit keinen allgemeinen Schutz des guten Glaubens gibt, und zwar auch dann nicht, wenn der Betroffene den Rechtsschein irgendwie veranlaßt hat;20 so nennt er ferner mit Recht als Beispiel einer Wirksamkeitsvoraussetzung das Vorliegen der Vertretungsmacht,21 und doch ist es zumindest für die Außenvollmacht evident, daß der Dritte ihrer Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit trotz guten Glaubens schutzlos ausgesetzt ist (vom nicht hierher gehörigen § 122 BGB abgesehen), obwohl der Geschäftsherr den Rechtsschein regelmäßig durchaus „veranlaßt“ haben wird; so gehört schließlich, um ein letztes unter mehreren weiteren Beispielen zu nennen, der Bestand der Forderung zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Zession, und doch sind hier der Haftung für veranlaßten Rechtsschein enge Grenzen gesetzt, wie sich ohne weiteres aus dem Umkehrschluß aus § 405 BGB ergibt.22 Auch Oertmanns Theorie ist somit nicht in der Lage, eine brauchbare „allgemeine“ Formulierung der Rechtsscheinlehre zu liefern. [13] IV. Die Lehre Müller-Erzbachs Auch die Lehre MÜLLER-ERZBACH von den „Kundgebungen im fremden Interessenbereich“23 gehört der Sache nach in den Zusammenhang der „allgemeinen“ Rechtsscheintheorien, da er versucht, für eine Reihe von hierher zu zählenden Erscheinungen wie die Beitrittserklärungen zu Gesellschaften, die Erklärungen auf Umlaufpapieren und die Vollmachtskundgebungen24 ein gemeinsames Kriterium herauszuarbeiten. Dieses sieht er darin, daß die fraglichen Erklärungen „dem Kundgebenden erkennbar in den Bereich fremder, überragender und unübersehbarer Interessen gerichtet sind und diese maßgebend berühren“;25 dabei soll die „erhöhte Bestandsfestigkeit“ der Erklärung durch die „Stärke“ des Gläubigerinteresses26 „hervorgerufen“27 werden. Vgl. aaO. S. 461. Vgl. freilich auch unten § 7 V. 21 Vgl. aaO. S. 461 und Rechtsbedingung S. 23, 31 f., 210 ff. 22 Vgl. eingehend unten § 11 VI 1. 23 JherJb. 83, 257 ff.; ihm folgend Lehmann-Hübner § 34 I 4. 24 Vgl. aaO. S. 268 ff. bzw. 331 ff. bzw. 350 ff. 25 Vgl. S. 259 f. 26 Vgl. S. 259 f., 261, 262, 265, 274, 285, 286, 298, 301 f., 332, 338 und öfter. 27 Vgl. z. B. S. 265, 274. 19 20
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Aus dieser Terminologie wird unschwer deutlich, in welchem Maße MüllerErzbach hier in den Bahnen des „kausalen Rechtsdenkens“ befangen ist, und gerade die vorliegende Theorie liefert einen anschaulichen Beleg für die Unhaltbarkeit dieser Lehre:28 die Behauptung, die „Stärke“ des Gläubigerinteresses „rufe die Bestandsfestigkeit hervor“, sei also kausale Wirkungskraft für sie, läßt die eigentlichen Gerechtigkeitsgesichtspunkte völlig im dunkeln; denn warum aus der Stärke des Interesses auf seine erhöhte Schutzwürdigkeit geschlossen werden kann, sagt Müller-Erzbach mit keinem Wort, und so tritt auch bezeichnenderweise der Vertrauensgedanke als rechtsethische Rechtfertigung bei ihm weitgehend in den Hintergrund. Es kommt hinzu, daß sich mit dem von Müller-Erzbach für maßgeblich erklärten Kriterium auch praktisch nicht arbeiten läßt. Denn wie soll man den Grad der „Stärke“ feststellen, der für die „Verselbständigung“ erforderlich ist? Der Hinweis auf die gesetzliche Interessenbewertung29 führt insoweit keinen Schritt weiter, weil die Frage nach dem „Gerechtigkeitsgrund“, also nach der ratio legis durch diese Theorie ja gerade erst geklärt werden soll, so daß man in einen Zirkel gerät; und der Gedanke der Einflußnahme in einem fremden Interessenbereich ist ebenso unbrauchbar, weil so ziemlich jede rechtlich relevante Betätigung sich darunter subsumieren läßt und insbesondere jede Willenserklärung eine „Kundgebung in fremdem Interessenbereich“ darstellt, gleichwohl aber doch nur ausnahmsweise einen „erhöhten Bestandsschutz“ genießt.30 Freilich könnte man wenigstens aus der Zusammenstellung der Fallgruppen bei Müller-Erzbach ein gemeinsames Kriterium abzuleiten suchen, und zwar, wie das auch bei ihm selbst einmal anklingt,31 [14] insofern, als es hier stets um den Schutz des guten Glaubens an das Bestehen eines Rechtsverhältnisses usw. zwischen Dritten, also um „Drittschutz“, nicht dagegen um ein Rechtsgeschäft mit dem Vertrauenden selbst, also um „Partnerschutz“ geht. Auch hieraus ließe sich indessen kein verallgemeinerungsfähiges Prinzip gewinnen, wie schon bei der Kritik der insoweit verwandten Lehre Oertmanns deutlich geworden sein dürfte; allein der Hinweis auf den beschränkten Gutglaubensschutz im Zessionsrecht widerlegt jede Theorie eines „allgemeinen Drittschutzes“.
28 Zu ihrer Kritik vgl. z. B. Fechner AcP 151, 352 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1969, S. 53 m. w. Nachw. in Anm. 1. 29 Vgl. vor allem S. 301 ff. 30 Das wird von Müller-Erzbach zwar nicht verkannt, vgl. S. 265, doch nicht als mit seiner Theorie vereinbar bewiesen. 31 Vgl. S. 261; vgl. auch S. 260 oben.
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V. Die Lehre Stolls Im Zusammenhang der Versuche, allgemeine Grundsätze über die Anwendbarkeit des Rechtsscheingedankens zu entwickeln, ist schließlich noch die Lehre HEINRICH STOLLS zu nennen. Er hat seine unter dem Stichwort „Haftung aus Bescheinigung“32 stehende Theorie allerdings von vornherein auf Urkunden beschränkt, insoweit aber in der Tat allgemeine Prinzipien herauszuarbeiten versucht. Dabei unterscheidet er zwischen der „Inhalts-“ und der „Legitimationswirkung“ einer Urkunde.33 Hinsichtlich der ersteren, unter der er die Einstandspflicht für die inhaltliche Richtigkeit der Urkunde versteht, lehnt er eine allgemeine Haftung ab und will eine Verpflichtung nur bei bewußt unrichtigen Angaben annehmen, diese jedoch „weniger“ aus dem Rechtsscheingedanken, „als vielmehr“ aus dem „estoppel-Prinzip“ herleiten.34 Hinsichtlich der letzteren dagegen nimmt er eine umfassende Rechtsscheinhaftung an und behauptet: „Wer einem anderen eine Urkunde ausstellt, in der er ihn ermächtigt, für ihn zu handeln, muß die Handlung des anderen gegen sich gelten lassen“.35 Dieser Rechtssatz soll – und das ist das entscheidende Charakteristikum dieser Lehre – auch dann eingreifen, wenn die Ausstellung der Urkunde (nicht etwa nur ihre Begebung!) auf einem Willensmangel beruht oder wenn die Urkunde dem Unterzeichner gestohlen worden oder sonst abhanden gekommen ist.36 Auch die Lehre Stolls hält der Kritik nicht stand; denn einerseits erscheint ihre Begrenzung auf Urkunden willkürlich, anderseits sind auch die für diese behaupteten Regeln mit dem geltenden Recht unvereinbar. Hinsichtlich der ersteren Frage muß man sich zunächst klar machen, daß eine Urkunde entgegen einer offenbar verhältnismäßig verbreiteten Auffassung keinen stärkeren Vertrauenstatbestand darstellt als andere Grundlagen des Rechtsscheins: eine mündliche Erklärung von Person zu Person verdient nicht weniger Vertrauen als eine schriftliche, im Gegenteil, die Urkunde unterliegt wegen der Möglichkeit des Diebstahls oder der Fälschung sogar zusätzlichen Fehlerquellen. So wären denn auch alle von Stoll erörterten [15] Beispielsfälle37 keinesfalls anders zu entscheiden gewesen, wenn statt der Urkunde eine mündliche Erklärung zugrunde gelegen hätte,38 da der Vertrauende dann (mindestens) im selben Maße schutzwürdig gewesen wäre. Dem entspricht es, daß das geltende Recht Urkunde und Mitteilung in der Tat Vgl. AcP 135, 89 ff. (101 ff.); weitgehend zustimmend Krückmann AcP 137, 167 ff. Vgl. S. 103 f., 111 f., 113 ff. 34 Vgl. S. 113 ff., insbesondere S. 115 und S. 116. 35 Vgl. S. 111. 36 Vgl. S. 110 f. bzw. S. 107. 37 Vgl. S. 91 ff. 38 Das war im Beispiel Nr. 1 (S. 91) sogar der Fall, da es hier um die mündliche Bestätigung der Echtheit eines Wechselakzepts ging. 32 33
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grundsätzlich gleichstellt, wie z. B. in den §§ 170 ff. und 409 BGB; nur in § 405 BGB hat es das unterlassen, doch ist das richtiger Ansicht nach eine Lücke, die es im Wege der Analogie auszufüllen gilt39 – oder doch wenigstens eine Regelwidrigkeit, die nicht verallgemeinert werden darf. Daraus ergibt sich zugleich zum zweiten, daß auch die von Stoll behauptete Unanwendbarkeit der §§ 118 ff. BGB auf Urkunden unzutreffend ist. Denn wie sollte man wohl den Wertungswiderspruch rechtfertigen, der darin liegt, daß nach der Lehre Stolls z. B. eine schriftlich erteilte Außenvollmacht nicht wegen einer Drohung oder wegen eines Irrtums anfechtbar ist, wohl aber eine entsprechende mündliche Erklärung,40 obwohl diese doch, wie gesagt, keinen schwächeren Vertrauenstatbestand darstellte?! Müssen aber demnach grundsätzlich schon Willensmängel relevant sein, so gilt dies erst recht für das Abhandenkommen, und wiederum bestätigt das Gesetz dieses Ergebnis, indem es in § 172 I BGB für die Scheinvollmacht ausdrücklich und klar die „Aushändigung“ der Urkunde fordert41 – eine Wertung, die folgerichtig nicht auf die Vollmachtsurkunden beschränkt bleiben kann, sondern mindestens auf alle übrigen Legitimationsurkunden (mit Ausnahme der Wertpapiere), also gerade auf die von Stoll zum Gegenstand seiner Theorie gemachten Papiere, übertragen werden muß. Man darf sich dabei nicht vom Blick auf das Wertpapierrecht verwirren lassen;42 im Gegenteil beweisen die §§ 794, 935 II BGB durch ihren Ausnahmecharakter die Unrichtigkeit der Theorie Stolls: man kann Ausnahmevorschriften zwar in engen Grenzen, hier z. B. auf andere Umlaufpapiere analog anwenden, darf sie aber nicht, wie Stoll das tut, von der Ausnahme zur Regel verkehren.43 Für andere Urkunden als Umlaufpapiere gelten daher grundsätzlich die gewöhnlichen Regeln des BGB, und diese gewähren allenfalls analog § 122 BGB das negative Interesse, führen aber, wie z. B. im Falle des abhanden gekommenen Briefentwurfs nahezu allgemein anerkannt [16] ist,44 anders als die Rechtsscheinhaftung nicht zu einer Erfüllungspflicht. Besondere Regeln über eine „Haftung aus Bescheinigung“ oder eine „allgemeine Urkundshaftung“ lassen sich somit nicht aufstellen.45
Vgl. unten § 9 II 2. Vgl. eingehend unten § 5 I 2. 41 Das läßt sich auch nicht hinweginterpretieren, vgl. unten § 5 I 3. 42 Sofern die Urkunde zur Vorlage gegenüber einem unbestimmten Personenkreis bestimmt ist, ist die Lage allerdings der bei Umlaufpapieren verwandt; folgerichtig ist hier in der Tat die Anwendbarkeit der Vorschriften über Willensmängel einzuschränken (vgl. unten S. 36 f. und S. 455), doch gilt das nicht nur bei Urkunden, sondern entsprechend auch bei mündlichen Erklärungen, so daß auch darin keine Besonderheit der Rechtsscheinhaftung bei Urkunden liegt. 43 Zur methodologischen Unzulässigkeit eines solchen Vorgehens vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 181 f. m. Nachw. 44 Vgl. dazu eingehend unten § 34 I 5. 45 So i. E. auch Westermann JuS 63, 4 f. 39 40
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§ 4 Die Lehre Coings von der „Vertrauenshaftung kraft schlüssigen Verhaltens“ In jüngerer Zeit waren es vor allem COING und VON GODIN, die den Gedanken der Vertrauenshaftung aufgegriffen und den Versuch unternommen haben, ihn in eine „allgemeine“ Theorie zu fassen. Coing hat im Anschluß an einige Entscheidungen des RG1 ein Prinzip der „Vertrauenshaftung kraft schlüssigen Verhaltens“ behauptet2 und dieses folgendermaßen formuliert: „Wenn eine Partei ein Verhalten zeigt, welches, redliche und vernünftige Einstellung vorausgesetzt, nur mit einem bestimmten rechtsgeschäftlichen Willen vereinbar ist, so muß sich die betreffende Partei behandeln lassen, als habe sie einen entsprechenden Willen stillschweigend erklärt“.3 Coing4 betont mit Recht, daß sich dieser Satz mangels jeder finalen Selbstgestaltung [17] der Partei nicht aus den Grundsätzen der Privatautonomie und der Rechtsgeschäftslehre ableiten lasse, sondern im Vertrauensprinzip wurzele. Daher seien die Vorschriften über Rechtsgeschäfte grundsätzlich nicht anwendbar. Nur die Bestimmungen über die Geschäftsfähigkeit griffen angesichts ihres Schutzzweckes ein, während für eine Anfechtung
Vgl. vor allem RGZ 95, 122 (124); 134, 195 (197); SeuffArch 78 Nr. 62 (S. 102 f.). Staudinger-Coing Vorbem. vor §§ 116 ff. Rdzn. 3 e ff. Zustimmend RGR-Komm. zum BGB (Krüger-Nieland) vor § 116 Anm. 6 und 8 ff.; BGH NJW 63, 1248 (Sp. 2 unter 3 a); vgl. auch BGH WM 62, 301 (302). Ablehnend Enn.-Nipperdey § 153 IV B 2 a ß; Hanau AcP 165, 230 ff.; Bydlinski S. 79 f.; der Sache nach auch Flume AcP 161, 52 ff. (64 f.) und Allg. Teil II § 5, 4 (vgl. insbesondere S. 74 Fn. 26) und § 10. Eng verwandt mit der Lehre Coings ist die – ungefähr gleichzeitig und unabhängig von Coing entwickelte – Theorie v. Godins, der für einen weitgehenden Vertrauensschutz bei „scheinbaren Erklärungen“ eintritt, vgl. RGR-Komm. z. HGB, 2. Aufl. 1953, Bd. III, § 346 Anm. 2 = S. 20–28 (von Ratz in der 3. Aufl. 1968 nicht übernommen; der Sache nach ähnlich freilich § 346 Anm. 92). v. Godin geht über Coing sogar noch hinaus, insofern er den Vertrauensschutz nicht mit dem Verschuldens-, sondern mit dem Veranlassungsprinzip verbinden will (vgl. S. 24 f.). Was im Text gegen Coing gesagt wird, gilt daher insoweit erst recht gegen v. Godin. Eine teilweise Übernahme der Gedanken Coings findet sich bei Siebert, Faktische Vertragsverhältnisse, 1958, S. 27 ff. und Soergel, 9. Aufl. 1959, § 157 Rdzn. 9 ff., 43 ff., 58 ff. In dogmatischer Hinsicht unterscheidet sich Siebert jedoch insofern von Coing, als er nicht ein eigenes Institut der Vertrauenshaftung neben die Bindung kraft Rechtsgeschäfts stellen, sondern statt dessen den Begriff der Willenserklärung durch den Einbau „objektiver Elemente“ entsprechend erweitern will, vgl. aaO. Rdzn. 61 f. und dazu unten S. 430 f.; im praktischen Ergebnis weicht Siebert dadurch nicht unwesentlich von Coing ab, daß er auch bei konkludentem Verhalten Irrtümer über tatsächliche Umstände als erheblich ansieht und nur die Berücksichtigung von Irrtümern über die aus den Tatsachen zu folgernde Bedeutung des Verhaltens, also über die Konkludenz, ausschließt, vgl. aaO. Rdzn. 63 f. Die Lehre Sieberts ist von Knopp in der 10. Aufl. 1967 nur z. T. übernommen worden; vgl. § 157 Rdzn. 4 ff. und 83 ff. 3 aaO. Rdz. 3 e. 4 aaO. Rdz. 3 f. 1 2
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wegen eines Willensmangels kein Raum sei.5 Allerdings will Coing die Haftung dadurch abschwächen, daß er – im Anschluß an die Rechtsprechung des BGH zur Anscheinsvollmacht – an Stelle des strengen Veranlassungsprinzips das Verschuldensprinzip heranzieht; danach soll eine Haftung nur eintreten, „wenn der Handelnde die Wirkung seines Verhaltens auf Dritte bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können und müssen“.6 Der Sache nach handelt es sich hier um eine Rechtsscheinhaftung für konkludentes Verhalten in Verbindung mit dem Verschuldensprinzip. Coing hat sich allerdings gegen die Einordnung seiner Theorie in die Rechtsscheinlehre ausdrücklich verwahrt und lediglich eingeräumt, es handele sich um eine „verwandte Erscheinung“: es liege nicht der „Schein eines Rechts, einer Rechtsbeziehung oder einer rechtlichen Erklärung“, sondern nur „ein bestimmtes Verhalten“ vor.7 Warum das der Annahme einer Rechtsscheinhaftung entgegenstehen soll, ist indessen nicht recht verständlich. Jedenfalls steht außer Frage, daß der Scheintatbestand auch in einem „Verhalten“ (im Gegensatz zur ausdrücklichen Erklärung) und u. U. – wie z. B. bei der Duldungs- und Anscheinsvollmacht – sogar in einem Unterlassen liegen kann,8 und so gerät Coing denn auch alsbald mit seiner eigenen Terminologie in Widerspruch, wenn er die „Vollmacht kraft Rechtsscheins“ als einen Fall der „Vertrauenshaftung kraft schlüssigen Verhaltens“ bezeichnet.9 Auch ist Coing nicht zuzustimmen, wenn er meint, es läge nicht der „Schein einer rechtlichen Erklärung“ vor. Zwar geht es nicht um den Schein einer ausdrücklichen Erklärung, wohl aber um den einer Willenserklärung durch konkludentes Verhalten:10 das äußere Erscheinungsbild des Verhaltens einer Person fordert den Rückschluß auf einen in [18] Wahrheit nicht gegebenen rechtsgeschäftlichen Willen heraus, das Verhalten ist also in Wahrheit nicht schlüssig, sondern nur scheinschlüssig.11 5 aaO. Rdzn. 3 e a. E. und 3 f. a. E.; zustimmend Krüger-Nieland aaO. Anm. 10; differenzierend Siebert aaO. Rdzn. 63 f.; für eine verhältnismäßig weitgehende Berücksichtigung von Willensmängeln v. Godin aaO. S. 24 (bezüglich § 123 BGB) und S. 27 f. (bezüglich § 119 I BGB). 6 aaO. Rdz. 3 f. a. E.; weitergehend v. Godin aaO. S. 24 f. 7 Vgl. aaO. Rdz. 3 f.; insoweit a. A. offenbar Krüger-Nieland aaO. Anm. 6 a. E. 8 Vgl. allgemein unten § 39 I = S. 492. 9 Vgl. aaO. Rdz. 7. 10 Allerdings will Coing unter Willenserklärung nur eine ausdrückliche Erklärung verstehen, während das „konkludente Verhalten mit Geschäftswillen“ lediglich wie eine solche zu bewerten sein soll, vgl. Rdzn. 1 ff. vor § 116 ff. Da jedoch auch Coing anerkennt, daß die Bindung des Handelnden in diesen Fällen „auf dem vorhandenen Geschäftswillen“ beruht, und sie scharf von den Fällen trennt, in denen dieser (genauer: das Erklärungsbewußtsein) fehlt (vgl. aaO. Rdz. 3 e a. A.), besteht lediglich ein terminologischer Unterschied gegenüber der h. L.; im Hinblick auf die Rechtsscheinhaftung ändert sich jedenfalls nichts: auch vom Boden der Terminologie Coings aus geht es um eine Haftung, die zu denselben Folgen wie ein Rechtsgeschäft führt, obwohl nicht dessen Voraussetzungen, sondern nur ein entsprechender Schein vorliegt. 11 Um der terminologischen Klarheit willen wird in dieser Arbeit von konkludentem Handeln bzw. Verhalten nur gesprochen, wenn hinter ihm ein entsprechendes Erklärungsbewußtsein steht, also ein Rechtsgeschäft vorliegt; fehlt jenes dagegen, so wird die Bezeichnung
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Steht somit die Bindung an den Schein einer rechtsgeschäftlichen Selbstbindung durch konkludentes Verhalten in Frage, so ist weder sachlich noch terminologisch ein Anlaß ersichtlich, die Problematik aus dem Zusammenhang der Rechtsscheinlehre auszuklammern. Die Kritik der Theorie Coings wird zum einen nach der rechtsquellenmäßigen Ableitbarkeit des von ihm behaupteten Rechtssatzes und zum anderen nach dessen widerspruchsloser Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht fragen müssen. Um beide steht es schlecht. I. Das Fehlen einer Grundlage im geltenden Recht Eine klare rechtsquellenmäßige Begründung seiner Lehre ist bei Coing nicht erkennbar. Daß man sie nicht einfach in der Evidenz des Vertrauensgedankens sehen kann, bedarf angesichts der oben eingehend dargelegten Vielgestaltigkeit der Möglichkeiten des Vertrauensschutzes keiner besonderen Begründung mehr. Dasselbe gilt für die Berufung auf § 242 BGB:12 es ist zwar richtig, daß nicht nur im Rahmen bereits bestehender Vertragsverhältnisse, sondern ganz allgemein innerhalb des rechtsgeschäftlichen Kontaktes zwischen den Parteien die Grundsätze von Treu und Glauben gelten, doch hat man daraus bisher regelmäßig nicht eine Erfüllungshaftung, sondern mit Recht lediglich eine Haftung auf das negative Interesse aus „culpa in contrahendo“ abgeleitet. Warum Coing an deren Stelle die Erfüllungshaftung setzen will,13 bedürfte einer eingehenden Rechtfertigung. Die Theorie der „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“ läßt sich somit nicht nur nicht [19] aus § 242 BGB ableiten, sondern sie gerät im Gegenteil sogar in einen Wertungswiderspruch zu den ebenfalls aus § 242 BGB entwickelten Regeln über die „culpa in contrahendo“. „scheinschlüssiges“ oder „scheinkonkludentes“ Handeln bzw. Verhalten gebraucht. Diese Terminologie dürfte den zugrunde liegenden sachlichen Gegensatz besser kennzeichnen als die – z. T. in dieselbe Richtung zielende – Unterscheidung Flumes (§ 5, 4) zwischen „konkludentem Handeln“ und „konkludentem Verhalten“. Abgesehen davon, daß diese Ausdrücke sprachlich zu dicht beieinander liegen, um eine einprägsame Unterscheidung zu ermöglichen, ist die Gegenüberstellung auch begrifflich inkorrekt, weil „Handeln“ nicht ein Gegensatz, sondern ein Unterfall von „Verhalten“ ist. Auch kann ein rechtsgeschäftlicher Wille sich u. U. in einem bloßen Unterlassen äußern, und dann sollte man nicht von konkludentem „Handeln“, sondern von konkludentem „Verhalten“ sprechen, also gerade den Terminus benutzen, den Flume den Fällen eines fehlenden Willens vorbehalten will. 12 Diesen zieht der BGH heran (NJW 63, 1248); zur Kritik der Entscheidung vgl. unten S. 22 f. Besonders charakteristisch für diese Begründung ist auch die unten à 5 IV dargestellte Rechtsprechung des BGH zur „Anscheinsvollmacht“. 13 Allerdings sagt Coing das nicht ausdrücklich, sondern berührt die culpa in contrahendo in diesem Zusammenhang gar nicht. Der Sache nach handelt es sich aber weitgehend um diese Problematik, die man sonst mit den Regeln über die c. i. c. oder mit analoger Anwendung des § 122 BGB zu lösen versucht.
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Nicht besser steht es mit der Begründung aus § 157 BGB, auf den sich das RG zur Rechtfertigung des von Coing zugrunde gelegten Satzes mitunter beruft.14 Angesichts des Mißbrauches, den das RG hier mit dieser Bestimmung treibt, ist es nützlich, sich den Wortlaut des § 157 BGB zu vergegenwärtigen: „Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“ Ohne daß hier im einzelnen auf die Bedeutung dieser Vorschrift eingegangen werden muß, steht doch nach Wortlaut und Sinn des Gesetzes so viel einwandfrei fest, daß § 157 eine Auslegungsvorschrift ist und sonst nichts: er setzt unmißverständlich das Vorliegen eines Vertrages voraus und gibt der Rechtsprechung daher nicht die Ermächtigung, auch dort rechtsgeschäftliche Wirkungen eintreten zu lassen, wo eine privatautonome Selbstgestaltung der Parteien nicht gegeben ist. Gerade um solche Fälle aber geht es, wie Coing mit Recht betont, bei der „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“. Ob der Schein eines Rechtsgeschäfts einem solchen gleichzustellen ist oder nicht, ist aber aus § 157 BGB nicht zu entnehmen, und insbesondere enthält dieser keine Wertung für den Fall, daß es am Erklärungsbewußtsein fehlt oder daß ein sonstiger Irrtum vorliegt – was gegenüber manchen Tendenzen in der Literatur unterstrichen werden muß.15 Ob für § 346 HGB etwas anderes gilt, kann in diesem Rahmen dahingestellt bleiben.16 Denn daraus würde nicht die von Coing behauptete allgemeine Vertrauenshaftung, sondern höchstens eine solche im Handelsverkehr folgen; die aus § 346 HGB entwickelten Grundsätze lassen sich jedenfalls nicht einfach auf § 157 BGB übertragen:17 § 157 spricht nur von „Verträgen“, § 346 dagegen allgemein von „Handlungen und Unterlassungen“, § 157 erfaßt nur die „Auslegung“, § 346 dagegen auch die „Wirkung“. Die Lehre Coings findet daher weder in § 242 noch in § 157 noch in einer anderen Vorschrift des geltenden Rechts eine Stütze. II. Das Fehlen eines entsprechenden Richterrechts Coing hat sich denn auch nicht ausdrücklich darauf berufen, daß sich die „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“ mit den herkömmlichen Mitteln der Rechtsfortbildung begründen lasse, sondern hat sie vielmehr lediglich auf in der Rechtsprechung entwickelte Grundsätze gestützt. Dabei geht er nicht Vgl. RGZ 95, 122 (124); vgl. auch Soergel-Siebert § 157 Rdzn. 7 ff., 43 ff., 58 ff. Vgl. vor allem RGR-Komm. zum HGB (v. Godin) § 346 Anm. 2 (S. 19); Soergel-Siebert § 157 Rdzn. 43 ff., 58 ff.; mit Recht sehr zurückhaltend dagegen Hefermehl, vgl. bei Soergel-Siebert Rdz. 41 vor § 116, bei Erman § 157 Anm. 3 c; bei Schlegelberger § 346 Rdz. 30. – Zur Kritik der Lehre Sieberts vgl. unten S. 430 f. 16 Vgl. dazu unten S. 220 f. 17 Vgl. aber RG aaO. S. 124. 14 15
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darauf ein, [20] ob er diese Grundsätze schon als gewohnheitsrechtlich gesichert ansieht oder worin er sonst deren Verbindlichkeit für das geltende Recht erblickt; das bloße Vorliegen eines „Richterrechts“ kann hierfür jedenfalls nicht genügen.18 Im übrigen ist hinsichtlich der Bildung von Gewohnheitsrecht durch die Gerichte wie überhaupt hinsichtlich der Verwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung als Hilfskriterien der Rechtsfortbildung an eine immanente Schranke zu erinnern: allenfalls die Problemlösungen, nicht aber die abstrakt gefaßten „Rechtssätze“ als solche sind maßgeblich,19 so daß von der Rechtsprechung formulierte allgemeine Grundsätze nur mit größter Vorsicht aus dem Zusammenhang der Entscheidung gelöst werden dürfen. Analysiert man unter diesem Gesichtspunkt die von Coing angeführten Urteile, so ist der Ertrag außerordentlich gering: Die Problematik läßt sich z. T. mit den herkömmlichen Mitteln der Rechtsgeschäftslehre, z. T. mit dem Institut der Verwirkung und ähnlichen Prinzipien, z. T. mit wesentlich spezielleren Rechtsscheingrundsätzen, als sie der Lehre Coings zugrunde liegen, und z. T. schließlich mit einer Schadensersatzhaftung lösen. In die Rechtsgeschäftslehre einzuordnen ist z. B. der „Nachnahmefall“,20 den Coing und ihm folgend Siebert und Krüger-Nieland als Leitentscheidung anführen.21 Dort sagt das RG in der Tat in geradezu programmatischer Weise: „Es ist im heutigen Rechte anerkannt, daß jemand seine Handlungen gegen sich gelten zu lassen hat, nicht nur so, wie er sie nach seinem inneren, nicht geäußerten Willen gemeint hat, sondern so, wie sie von der Verkehrssitte, d. h. von den Verkehrsanschauungen, aufgefaßt werden“.22 Die Möglichkeit einer Anfechtung nach § 119 I BGB erörtert das RG gar nicht, sondern verweist nur nachdrücklich darauf, das Vorliegen eines inneren Willens zum Vertragsschluß sei unerheblich. Der zur Entscheidung stehende Fall bot indessen zu einem so weit gefaßten Grundsatz keinen Anlaß. Der Bekl. war von der Kl., einer Kleinbahngesellschaft, zur Entladung eines für ihn bestimmten Waggons gegen Zahlung einer Nachnahme aufgefordert worden. Er lehnte die Bezahlung jedoch ab und entlud den Wagen nicht. Einige Zeit später traf ein zweiter Wagen für ihn ein. Als er diesen entladen wollte, verwechselte er die beiden Waggons und entlud versehentlich den mit der Nachnahme belasteten. Von Angestellten der Kl. auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht, fuhr der Bekl. gleichwohl mit der Entladung dieses Wagens fort in dem Glauben, „es werde mit der sofortigen Bezahlung der Nachnahme nicht so genau genommen“. Das RG hat der Klage auf Bezahlung der Nachnahme
Vgl. statt aller Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1969, S. 403 ff. Vgl. näher Canaris ZHR 131, 278 f. 20 RGZ 95, 122. 21 Vgl. Coing aaO. Rdz. 3 e; Siebert, Faktische Vertragsverhältnisse S. 29; Krüger-Nieland aaO. Anm. 8. 22 aaO. S. 124. 18 19
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht stattgegeben mit der Begründung, der Bekl. habe sich durch das Entladen des Wagens konkludent zur Zahlung verpflichtet.
Die Entscheidung ist im Ergebnis zutreffend, stellt jedoch keinen Fall einer „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“ dar. Denn der Bekl. war sich der [21] Tatsache vollkommen bewußt, daß die Auslieferung der Ladung nur gegen Bezahlung der Nachnahme erfolgen sollte und daß seine Entladung des Wagens daher nur als Bereitschaft zur Bezahlung der Nachnahme gedeutet werden konnte.23 Es lag daher (wissentliches) rechtsgeschäftliches Handeln vor.24 Für die Lehre Coings wäre die Entscheidung nur dann verwertbar, wenn die Angestellten des Kl. den Irrtum des Bekl. nicht aufgeklärt hätten; denn dann hätte der Bekl. ohne sein Wissen den Anschein erweckt, er sei zur Bezahlung der Nachnahme bereit. Ob das RG aber in diesem Falle genauso entschieden hätte und insbesondere ob es die Anfechtung wegen Irrtums über die Bedeutung der Entladung dann ausgeschlossen hätte, ist mehr als zweifelhaft.25 Da der Fall aber jedenfalls nicht so gelagert war, kann die Entscheidung zur Stützung der Lehre Coings nicht herangezogen werden.26 Rechtsgeschäftliches Handeln lag auch in den „Vinkulationsbriefentscheidungen“ des RG27 vor. Diese werden daher zu Unrecht von Siebert28 als Beleg für die Lehre von der Vertrauenshaftung bei fehlendem Erklärungsbewußtsein herangezogen. Das RG hat vielmehr ausdrücklich festgestellt, daß „die Bekl. ... sich nicht verhehlen konnte, daß der Kl. hierin und in ihrem Schweigen eine Annahme seines Angebots erblicken und zu erblicken auch berechtigt sein würde.29 Das RG hat nicht etwa gesagt: „sich bei verkehrsgemäßer Sorgfalt nicht verhehlen konnte ...“, und man wird daher aus dieser Stelle nicht die Ansicht herauslesen dürfen, ein fahrlässiger Schlüssigkeitsirrtum sei unbeachtlich, sondern in ihr lediglich die 23 Der Bekl. hat jedenfalls nicht vorgetragen, er sei sich darüber im unklaren gewesen, wie sein Verhalten gedeutet werden mußte; er hätte mit dieser Behauptung nach Lage des Falles auch nicht gehört werden können (vgl. die Ausführungen unten S. 23, die hier entsprechend gelten). Wenn er sich aber der Bedeutung seines Verhaltens bewußt war, so hatte er das Erklärungsbewußtsein, und das Fehlen eines entsprechenden Willens wäre ein geheimer Vorbehalt gewesen. Das wahre Motiv des Bekl. wird ganz deutlich in dem Satz, er habe geglaubt, es werde mit der sofortigen (!) Bezahlung der Nachnahme „nicht so genau genommen“: er wußte also durchaus, daß er nun „an sich“ zur Zahlung verpflichtet sei, hoffte aber auf Kulanz, – befand sich also lediglich in einem unbeachtlichen Motivirrtum; vgl. auch Hanau AcP 165, 258. 24 So mit Recht Flume § 5, 3 b, der den Fall als Musterbeispiel einer schlüssigen Willenserklärung durch Inanspruchnahme einer entgeltlich angebotenen Leistung anführt; Hanau aaO. S. 258 f., der einen geheimen Vorbehalt im Sinne des § 116 BGB annimmt; vgl. auch unten § 33 II 1 a. E. = S. 420 f. 25 Es wäre z. B. unvereinbar mit der Behandlung des verwandten Irrtums in der Entscheidung RGZ 101, 320 (322). 26 So auch Hanau aaO. S. 259. 27 Vgl. RGZ 54, 213; 88, 69; vgl. auch RGZ 101, 320. 28 Vgl. Soergel-Siebert § 157 Rdz. 45. 29 Vgl. RGZ 54, 219.
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Feststellung zu erblicken haben, auf Grund allgemeiner Wahrscheinlichkeitssätze müsse sich der Kl. der Bedeutung seines Verhaltens bewußt gewesen sein, also das Erklärungsbewußtsein gehabt haben. Anderenfalls läge im übrigen auch nur einer jener Fälle vor, in denen der Handelnde „die Augen vor der Bedeutung seines Tuns verschlossen hat“; diese verdienen, worauf sogleich zurückzukommen ist, in der Tat eine Sonderbehandlung. [22] In die Rechtsgeschäftslehre einzuordnen ist schließlich auch die Entscheidung des BGH im „Baumaterialfall“,30 in der dieser sich der Lehre Coings angeschlossen hat.31 In dem zugrunde liegenden Fall hatte die Kl. dem Bekl. ein Vertragsangebot unter Bezugnahme auf ihre Lieferbedingungen gemacht, der Bekl. hatte auf Grund seiner eigenen Geschäftsbedingungen bestellt und die Kl. daraufhin noch einmal erklärt, sie wolle nur zu ihren Bedingungen leisten. Der Bekl. nahm dann die Leistung der Kl. widerspruchslos entgegen. Der BGH entschied, der Bekl. müsse sich nunmehr „so behandeln lassen, als hätte er sich mit dem Vorschlag des Unternehmers, nach dessen Geschäftsbedingungen zu leisten, einverstanden erklärt“. Dabei berief er sich der Sache nach auf die Lehre Coings31: „Darüber hinaus machen es Treu und Glauben sowie die Rücksicht auf die Verkehrssitte erforderlich, daß derjenige, der durch schlüssiges Verhalten den Eindruck erweckt, als habe er einen Geschäftswillen gehabt und geäußert, ohne daß ein solcher Wille tatsächlich vorhanden ist, sich so behandeln lassen muß, als habe er einen Geschäftswillen erklärt. Man mag hier von einem fingierten Geschäftswillen sprechen; die Wertung eines durch schlüssiges Handeln in Erscheinung getretenen, in Wirklichkeit nicht vorhandenen Geschäftswillens als rechtserhebliche Erklärung gebietet aber der Schutz des Rechtsverkehrs“.32
Auch dieser „Rechtssatz“ wird durch die zugrunde liegende Problematik in keiner Weise gerechtfertigt. Denn die Lösung des Falles ergab sich ohne weiteres aus den herkömmlichen Auslegungsgrundsätzen. Das erste Angebot der Kl. hatte der Bekl. abgelehnt und seinerseits ein Gegenangebot gemacht (§ 150 II BGB); dieses lehnte die Kl. wiederum ab, wobei sie ihr ursprüngliches Angebot erneuerte (§ 150 II BGB). Wenn der Bekl. nunmehr die Leistung widerspruchslos entgegennahm, so konnte darin nur die Annahme des letzten Angebots der Kl., also der Lieferung zu ihren Bedingungen, erblickt werden:33 es liegt ähnlich wie bei der konkludenten Vertragsannahme durch Inanspruchnahme einer entgeltlich angebotenen Leistung.34 30 BGH NJW 63, 1248; vgl. auch die ähnliche Formulierung im „Witwengeldfall“ BGH WM 62, 301 (302) und dazu unten S. 340 f. 31 Der BGH zitiert allerdings Coing nicht, sondern nur den RGR-Komm. Anm. 6 vor § 116 BGB; die Ausführungen von Krüger-Nieland aaO. sind jedoch eine vollständige Übernahme der Lehre Coings. Was die Verweisung des BGH aaO. auf Enn-Nipperdey § 153 IV bedeuten soll, ist unerfindlich: abgesehen davon, daß man nicht weiß, welche Stelle in Bezug genommen ist – der Abschnitt § 153 IV umfaßt acht Seiten! – lehnt Nipperdey die vom BGH übernommene Lehre auch ausdrücklich ab, vgl. aaO. S. 949 bei Fn. 24. 32 aaO. Sp. 2. 33 Richtig BGH LM Nr. 3 zu § 150 BGB in einem ganz ähnlichen Fall. 34 Vgl. dazu Flume § 5, 3 b.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht Daß der Bekl. auch ein entsprechendes Erklärungsbewußtsein gehabt hat – der BGH spricht vom „Geschäftswillen“ –, geht aus der Entscheidung deutlich hervor. Denn der BGH führt aus, der maßgebliche Stellvertreter des Bekl. habe aus dem Schriftwechsel ersehen, daß die Kl. bei ihrem ursprünglichen Angebot blieb; „daran, daß die Kl. auf die Einbeziehung ihrer Lieferungsbedingungen entscheidenden Wert legte, konnte ... für den Besteller kein Zweifel bestehen“. Der Bekl. kannte also alle für die Wertung seines Verhaltens maßgeblichen Tatsachen, und es konnte sich daher allenfalls fragen, ob er aus diesen unzutreffende rechtliche Schlüsse gezogen hatte. Daß er sich insoweit im Irrtum befand, ist jedoch bezeichnenderweise in der Entscheidung mit keinem Wort angedeutet, und offensichtlich hat der Bekl. in dieser Richtung auch nichts vorgetragen, sondern sich ledig- [23] lich auf die rein rechtliche Behauptung gestützt, in den betreffenden Vorgängen sei kein Vertragsschluß zu erblicken gewesen. Wahrscheinlich hatte er lediglich erwartet, man werde sich über die Lieferungsbedingungen schon noch in seinem Sinne einigen, und es insoweit „darauf ankommen“ lassen; dann läge allenfalls ein unbeachtlicher Motivirrtum oder ein geheimer Vorbehalt i. S. des § 116 S. 1 BGB vor.35
Wollte der Bekl. bei dieser Sachlage vortragen, er hätte geglaubt, der Vertrag sei zu seinen Geschäftsbedingungen zustandegekommen, so würde er aller Wahrscheinlichkeit nach schon an der Beweisfrage scheitern. Sollte ihm aber doch ein entsprechender Beweis glücken, so tauchte eine – nicht auf den vorliegenden Zusammenhang beschränkte – Variante des allgemeinen Problems des Rechtsirrtums auf: die Frage, wie jemand zu behandeln ist, der vor den aus bestimmten Tatsachen zu folgernden rechtlichen Schlüssen „geradezu die Augen verschließt“. Die Problematik ist z. B. bekannt aus dem Recht des gutgläubigen Erwerbs in den Fällen, wo nur positive Kenntnis schadet: diese Kenntnis muß sich auf die fehlende Rechtsstellung, z. B. den Mangel des Eigentums des Vormannes, beziehen, und es ist denkbar, daß jemand zwar die Tatsachen kennt, aus denen dieser Mangel folgt, den entsprechenden Schluß auf die Eigentumslage aber nicht zieht. Die dort entwickelte Lösung36 ist auch hier brauchbar: wer „die Augen vor der wahren Rechtslage verschließt“, wird so behandelt, als hätte er Kenntnis gehabt.37 Gegenüber der Berufung auf einen Inhaltsirrtum i. S. des § 119 I BGB kann man dies ohne weiteres mit einer Einrede aus § 242 BGB begründen; in den Fällen fehlenden Erklärungsbewußtseins wird man auf die „Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit“38 zurückgreifen müssen. Jedenfalls aber handelt es sich insoweit um Extremfälle und „Randberichtigungen“ der Rechtsgeschäftslehre, die die viel weiterreichende Lehre Coings nicht stützen können. – Wie man auch immer zu Vgl. auch unten § 33 II 1 a. E. = S. 420 f. Vgl. z. B. Westermann § 85 II 6 b; Baur § 23 IV 1 a; vgl. ferner (zu § 990 I 2 BGB) BGHZ 26, 256 (260); 32, 76 (92). 37 Vgl. auch Flume § 5, 2 e a. E., der in ähnlichen Fällen die Berufung auf einen Irrtum über die Konkludenz des Schweigens ausschließen will. 38 Vgl. unten § 28 X. 35 36
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diesem zuletzt erörterten Problem stehen mag, eines sollte klar sein: der zu entscheidende Fall rechtfertigt den vom BGH aufgestellten Satz in keiner Weise; allenfalls wäre darüber zu befinden gewesen, welche Bedeutung einem Rechtsirrtum über die Folgerungen, die aus bestimmten bekannten Tatsachen zu ziehen sind, zukommt, doch waren nicht einmal in dieser Hinsicht genügend Anhaltspunkte im Vortrag des Bekl. gegeben. Auch diese Entscheidung bestätigt daher nicht die Lehre Coings. In anderen Fällen, in denen das RG mit dem fraglichen Satz arbeitet, ergibt sich die Lösung richtigerweise aus dem Gedanken der Verwirkung oder aus dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens. Hierher gehört z. B. der von Coing zur Stützung seiner Lehre herangezogene39 Mietzinsfall,40 in dem der Vermieter jahrelang bestimmte Zuschläge zum [24] Mietzins nicht eingezogen hatte. Das RG sah darin einen konkludenten Verzichtsvertrag; zutreffend wäre dagegen die Lösung mit Hilfe des Instituts der Verwirkung gewesen,41 was insbesondere daraus deutlich wird, daß das RG der Länge des verflossenen Zeitraums maßgeblichen Einfluß beimißt. – Weiter sind in diesem Zusammenhang zwei Entscheidungen zum Verlust des Wandlungsrechts zu nennen,42 wo das RG ebenfalls unter Heranziehung des von Coing vertretenen Satzes einen Verzichtsvertrag fingiert, statt zutreffend auf den Gedanken der Verwirkung oder des „venire contra factum proprium“ zurückzugreifen. Diese beiden Institute aber haben mit der Lehre Coings nichts zu tun, zum einen, weil man aus ihnen herkömmlicherweise lediglich einen Rechtsverlust, nicht aber auch die Begründung eines Anspruchs ableitet,43 zum anderen und vor allem, weil es insoweit nicht allein auf die Bedeutung des früheren Verhaltens – wie nach der Lehre Coings –, sondern auch auf die Wertung des jetzigen Verhaltens, also z. B. der verspäteten Geltendmachung des Anspruchs, ankommt.44 Aus ähnlichen Gründen läßt sich auch das erste Hofübergabeurteil des BGH,45 auf das sich Coing ebenfalls beruft,46 nicht als Beleg verwenden. Denn wenn die Hofübergabeentscheidungen überhaupt haltbar sind, dann keinesfalls mit der Begründung, das Verhalten des Altbauern habe seinerzeit nur als Hoferbeneinsetzung verstanden werden können, sei also in dieser Hinsicht (schein)konkludent gewesen – worauf es nach der Lehre Coings allein ankommen könnte –, sondern allenfalls mit der Begründung, jetzt, nach jahrelanger Tätigkeit des Jungbauern auf dem Hof usw. sei jede andere Lösung als dessen Anerkennung als Erbe Vgl. aaO. Rdz. 3 e (unter 6 b und d); vgl. auch Krüger-Nieland aaO. Anm. 8. RGZ 134, 195. 41 So mit Recht Flume AcP 161, 73 f. und A. T. II § 10, 3 b; Hanau AcP 165, 259 f. 42 Vgl. RGZ 54, 80 (82) und dazu Manigk, Das rechtswirksame Verhalten S. 98; RGZ 123, 212 (214 f.) und dazu Enn.-Nipperdey § 153 bei und mit Fn. 24. 43 Diese Beschränkung ist allerdings höchst fragwürdig, vgl. das zweite Kapitel dieser Arbeit. 44 Zur praktischen Bedeutung dieses Unterschieds vgl. Flume aaO. 45 BGH NJW 54, 1644. 46 aaO. Rdz. 3 e (unter 6 c a. E.); ebenso Krüger-Nieland aaO. Anm. 8 a. E. 39 40
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht mit Treu und Glauben unvereinbar.47 Eine solche Lösung mit Hilfe einer „Erwirkung“ oder eines anspruchsbegründenden „venire contra factum proprium“ aber wäre etwas grundlegend anderes als Coings „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“.48 Jedenfalls aber würde es sich hier um einen Extremfall handeln, der der von Coing vorgenommenen Verallgemeinerung nicht zugänglich ist.
Eine dritte Gruppe von Entscheidungen ist in der Tat in die Rechtsscheinhaftung einzuordnen, beruht jedoch auf wesentlich begrenzteren Rechtsscheinprinzipien als die Lehre Coings. Hier ist zunächst die zweite „Leitentscheidung“, die Coing anführt,49 der „Kunstdüngerfall“,50 zu erwähnen. In dem zugrunde liegenden Fall hatte der Bekl. lange Zeit über geduldet, daß ein Dritter in seinem Namen51 Geschäfte mit dem Kl. abschloß, ohne eine Vollmacht zu besitzen. Das RG hat entschieden, der Bekl. hafte dem Kl. aus den Geschäften auf Erfüllung, und hat dabei unter Berufung auf die Nachnahmeentscheidung einen ähnlichen allgemeinen Grundsatz formuliert wie dort. Allein hier handelte es sich um die bewußte Schaffung [25] eines Rechtsscheins gegenüber dem Kl.: der Bekl. wußte (und wollte sogar!), daß der Kl. vom Vorliegen einer Innenvollmacht für den Dritten ausging.52 Die Bindung an einen wissentlich geschaffenen Scheintatbestand (die in der Tat als allgemeiner Grundsatz des geltenden Rechts anzuerkennen ist53) reicht aber nicht annähernd so weit wie das von Coing postulierte Haftungsprinzip; dessen besondere Brisanz liegt im Gegenteil gerade darin, daß jemand ohne die Möglichkeit der Irrtumsanfechtung an ein Verhalten gebunden werden soll, über dessen Bedeutung er sich nicht im klaren war. Um Fälle bewußter Schaffung eines Scheintatbestandes geht es auch bei der Problematik des Blankettmißbrauch;54 daher lassen sich auch die hierzu ergangenen Entscheidungen, soweit in ihnen der fragliche „Rechtsatz“ ausgesprochen ist,55 nicht als Stütze der Lehre Coings heranziehen. – Dasselbe gilt schließlich von der Entscheidung des BGH im „Radiogerätefall“,
Vgl. eingehend unten § 30 II 1. Vgl. auch unten S. 531 Fn. 33. 49 Vgl. aaO. Rdz. 3 e (unter 6 b). 50 RG SeuffArch. 78 Nr. 62. 51 Oder unter seinem Namen; in diesem Fall wäre nicht anders zu entscheiden, vgl. unten § 7 II. 52 Es handelte sich um eine konkludente Deklaration einer angeblich erteilten Innenvollmacht, nicht um eine externe Erteilung (vgl. dazu allgemein unten S. 41). Daher ist es nicht zutreffend, wenn Hanau AcP 165, 259 Fn. 130 auch diesen Fall über § 116 S. 1 BGB lösen will: es fehlte dem Kläger wie dem falsus procurator gegenüber schon am objektiven Tatbestand einer Willenserklärung, so daß die Voraussetzungen des § 116 nicht erfüllt sind. 53 Vgl. unten §§ 5–9. 54 Vgl. dazu unten § 6. 55 Vgl. RG SeuffArch. 84 Nr. 191 (S. 323); vgl. auch RGZ 81, 260. Zu den Entscheidungen vgl. auch Manigk, Heymann-Festschrift S. 667 f. bzw. S. 623 f. 47 48
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wo der BGH mit einer Vertragsfiktion arbeitet, statt die Lösung in der Einstandspflicht für die bewußte Schaffung eines Rechtsscheins zu suchen.56
Noch am ehesten im Sinne Coings verwertbar ist die Rechtsprechung zur Anscheinsvollmacht und zum Schweigen auf Bestätigungsschreiben;57 denn hier soll in der Tat eine Bindung an ein Verhalten eintreten, dessen Bedeutung dem in Anspruch Genommenen nicht bewußt war.58 Bei der Anscheinsvollmacht liegt jedoch eine Besonderheit schon darin, daß nicht der Schein eines Rechtsgeschäfts mit dem Vertrauenden, sondern mit einem Dritten, nämlich dem Stellvertreter vorliegt,59 – während es in den übrigen von Coing erörterten Fällen um Rechtsgeschäfte mit dem Vertrauenden selbst geht; der Unterschied ist insofern von Bedeutung, als im ersten Fall die Regeln des BGB über Erklärungsbewußtsein und Irrtumsanfechtung ihrem eigenen Tatbestand nach nicht eingreifen – es liegt keine Willenserklärung, sondern nur eine deklaratorische Kundgabe vor –, während sie im zweiten Fall an sich einschlägig sind, so daß ihre Einschränkung einer zusätzlichen Begründung bedürfte. Im übrigen und vor allem aber lassen sich die Regeln über die Anscheinsvollmacht und das Bestätigungsschreiben nicht ins bürgerliche Recht übertragen und nicht in solchem Maße verallgemeinern, wie das Coing tut; darauf ist noch genauer zurückzukommen.60 [26] Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung ist denkbar negativ: eine Begründung, warum ein ungeschriebenes Institut der „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“ anzuerkennen sein soll, läßt sich weder aus dem Gesetz noch aus einem überpositiven allgemeinen Rechtsprinzip entwickeln; darüber hinaus ist der der Lehre Coings zugrunde liegende „Rechtssatz“ in der Rechtsprechung zwar verschiedentlich abstrakt ausgesprochen worden, wird jedoch durchweg durch die jeweiligen Problemlösungen nicht gerechtfertigt, so daß man ihn nicht einmal als Richterrecht,61 geschweige denn als Gewohnheitsrecht ansehen kann. Als dritter und schwerwiegendster Einwand kommt schließlich hinzu, daß die Theorie Coings nicht nur aus dem geltenden Recht nicht zu begründen ist, sondern diesem sogar widerspricht. Dies folgt aus der Irrtumsregelung des BGB.
Vgl. BGH MDR 58, 232 und dazu eingehend unten § 7 II. Vgl. Coing aaO. Rdz. 7 bzw. 3 e a. E. und 6 a; Krüger-Nieland aaO. Anm. 9 bzw. 8. 58 Zur Problematik vgl. unten §§ 18 und 19 II. 59 Vgl. unten S. 50 bei und in Fn. 82. 60 Vgl. unten § 20. 61 Er ist mit anderen Entscheidungen sogar unvereinbar; so mit Recht Flume § 5, 4 m. Nachw. in Fn. 27; vgl. ferner z. B. RGZ 101, 320 (322); BGH JR 56, 59 (unter Ziff. 2). 56 57
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III. Die Wertungswidersprüche gegenüber der Irrtumsregelung des BGB Nach Coing soll bei der „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“ jede Irrtumsanfechtung ausgeschlossen sein.62 Soweit es dabei um die Anfechtung wegen Irrtums über die Bedeutung des scheinkonkludenten Verhaltens geht, begründet das Coing damit, daß sonst „die ganze Annahme einer stillschweigenden Willenserklärung in diesem Fall ihren wesentlichen Sinn verlieren“ würde.63 Sieht man diesen „wesentlichen Sinn“ mit Coing darin, den Handelnden an die Bedeutung seines Verhaltens zu binden, so ist das allerdings richtig. Gerade das aber ist eine petitio principii und der entscheidende Fehler. Denn ließe man die Anfechtung zu, so wäre der andere Teil keineswegs schutzlos, sondern hätte den Anspruch auf das negative Interesse nach § 122 BGB. Warum das nicht genügen soll, wäre erst noch zu begründen;64 das geltende deutsche Recht wird nun einmal vom Grundsatz der Zweispurigkeit des Vertrauensschutzes beherrscht,65 und es bedarf daher immer einer besonderen Rechtfertigung, wenn von der Schadensersatz- zur Erfüllungshaftung übergegangen werden soll.66 Vor allem aber führt der Ausschluß der Anfechtung zu einem untragbaren Wertungswiderspruch gegenüber der Behandlung des fehlenden Erklärungs- [27] bewußtseins bei ausdrücklichen Willenserklärungen:67 es ist unstreitig, daß in einem. solchen Fall entweder überhaupt keine Willenserklärung vorliegt68 oder daß sie nichtig bzw. wenigstens nach § 119 I anfechtbar ist – daß i. E. jedenfalls höchstens der Ersatz des negativen Interesses gemäß oder analog § 122 BGB in Betracht kommt.69 Warum soll bei konkludenten Willenserklärungen dann auf Erfüllung gehaftet werden? Und weiter: bei einer ausdrücklichen Willenserklärung berechtigen Irrtümer i. S. von §§ 119, 123 BGB zur Anfechtung und bei einer konkludenten Willenserklärung nach Meinung Coings offenbar auch, falls diese von einem entsprechenden Erklärungsbewußtsein getragen ist; warum soll es anders 62 aaO. Rdzn. 3 e und f; zustimmend Krüger-Nieland aaO. Anm.10; differenzierend SoergelSiebert § 157 Rdzn. 63 f. 63 Vgl. aaO. Rdz. 3 e (unter 6 d). 64 Das gilt auch gegenüber Siebert aaO. Rdzn. 58 ff.; vgl. zur Lehre Sieberts auch unten S. 430 f. 65 Vgl. oben § 2 I. 66 Vgl. auch die analogen Ausführungen zur Behandlung des Schweigens im Rechtsverkehr unten S. 224 ff. 67 Vgl. zum folgenden auch Enn.-Nipperdey § 153 IV B 2 a β; Hanau aaO. S. 231; Bydlinski S. 79 f.; die Schwierigkeiten sind schon klar erkannt bei Manigk, Das rechtswirksame Verhalten, S. 247 f., der sich im Grunde um die Klärung derselben Problematik wie Coing bemüht, jedoch die Anfechtung unbegrenzt zuläßt und daher nicht denselben Einwänden ausgesetzt ist. Vgl. zu Manigks Lehre ausführlich unten S. 197 f. 68 So z. B. Coing selbst bei Staudinger § 119 Rdz. 4 a. E. 69 Vgl. dazu ausführlich unten S. 548 ff.
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sein, wenn ein konkludentes Verhalten, das nicht auf einem Erklärungsbewußtsein beruht, z. B. durch einen Eigenschaftsirrtum i. S. von § 119 II oder durch Drohung i. S. von § 123 I70 veranlaßt ist? Der Wertungswiderspruch wird auch nicht dadurch gemildert, daß Coing eine Vertrauenshaftung nur dann annimmt, wenn der Handelnde sich über die Bedeutung seines Verhaltens schuldhaft im unklaren ist; denn das Fehlen des Erklärungsbewußtseins oder ein anderer rechtserheblicher Irrtum werden vom BGB auch dann anerkannt, wenn sie verschuldet sind.71 Auch daraus, daß nur Gutgläubige nach der Lehre Coings geschützt werden sollen, läßt sich der Widerspruch nicht erklären: die Irrtumsregelung des BGB gilt auch gegenüber Gutgläubigen, wie sich insbesondere aus § 122 II unmißverständlich ergibt. Es müßte also entweder dargetan werden, daß bei scheinkonkludentem Verhalten der Geschäftsgegner im Vergleich zu einer ausdrücklichen Willenserklärung erhöht schutzwürdig oder daß der Handelnde vermindert schutzwürdig ist. Das genaue Gegenteil trifft zu. Denn eine ausdrückliche Willenserklärung stellt i. d. R. gegenüber dem bloßen konkludenten Verhalten den stärkeren Vertrauenstatbestand dar: auf Wort oder Unterschrift seines Partners kann man sich eher verlassen als auf ein Verhalten (u. U. ein bloßes Unterlassen!),72 dessen primärer Sinn nicht auf eine rechtsgeschäftliche Regelung, sondern auf einen rein tatsächlichen Erfolg zielt und das [28] angesichts dieser Komplexität erhöhte Fehlerquellen enthält. Es bliebe daher höchstens die Annahme, der Handelnde sei in diesem Falle weniger schutzwürdig. Auch davon kann aber keine Rede sein. Ob jemand ohne Erklärungsbewußtsein eine ausdrückliche Willenserklärung abgibt oder ob er ohne Erklärungsbewußtsein (schein)schlüssig handelt, macht insoweit keinen Unterschied; eher im Gegenteil: da die Gefahr, daß jemandem eine ausdrückliche Erklärung ohne entsprechendes Erklärungsbewußtsein unterläuft, äußerst gering ist, ein bloßes Verhalten dagegen weitaus leichter als Willenserklärung mißdeutbar sein kann, ist der konkludent Handelnde sogar schutzwürdiger. Die Lehre Coings von der „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“ gerät daher allenthalben mit der Irrtumsregelung des BGB in so krasse Wertungswidersprüche,73 daß ihre Anerkennung zu einem schweren inneren 70 Der Fall der Drohung ist bei Coing allerdings offensichtlich nicht berücksichtigt, da er aaO. Rdz. 3 f (unter 7 c) meint, die Anwendung des § 123 BGB sei „nicht notwendig, da nur Redliche geschützt werden“. Dabei ist übersehen, daß eine Drohung nach § 123 I im Gegensatz zur arglistigen Täuschung auch dann zur Anfechtung berechtigt, wenn sie nicht vom Erklärungsgegner ausging und dieser sie auch nicht kannte oder kennen mußte. – Für die Berücksichtigung des § 123 auch im Rahmen der Vertrauenshaftung v. Godin aaO. S. 24; der Sache nach auch Siebert aaO. Rdz. 63 a. E. 71 Im Fall des § 118 BGB sogar bei bewußter Fahrlässigkeit! 72 Vgl. auch Flume § 10, 5 (S. 132). 73 Nicht jedoch in Normwidersprüche! Daher ist es nicht nur überspitzt formuliert, sondern sachlich unrichtig, wenn Hanau (aaO. S. 231) behauptet, Coing wolle „das Recht der Willenser-
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Bruch in unserer Rechtsordnung und zur ungleichen Behandlung gleicher Tatbestände, also zu offener Ungerechtigkeit führen würde. Eine derartige Rechtsfortbildung wäre daher selbst dann ausgeschlossen, wenn sich für sie irgendeine Stütze hätte finden oder der Nachweis ihrer Anerkennung in der Rechtsprechung hätte führen lassen: das BGB hat unmißverständlich anders gewertet, und diese Wertung ist de lege lata verbindlich. Was oben schon verschiedentlich gegen die allgemeinen Rechtsscheintheorien eingewandt wurde und was Wellspacher bereits im Jahre 1906 der Sache nach klar ausgesprochen hat,74 gilt daher in besonderem Maße gegenüber der Lehre Coings: die Anerkennung eines allgemeinen „positiven“ Vertrauensschutzes ist mit der Irrtumsregelung des BGB unvereinbar.
klärung mit dem Hebel von Treu und Glauben aus den Angeln heben“. Die Lehre Coings läßt in Wahrheit das Recht der Willenserklärung völlig unberührt und stellt dem nur ein anderes Institut an die Seite, dessen Ausgestaltung im Vergleich zu den entsprechenden Regelungen im Recht der Willenserklärung unbefriedigend ist. 74 Vertrauen auf äußere Tatbestände S. 117.
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Zweiter Abschnitt Die Rechtsscheinhaftung im bürgerlichen Recht Erster Unterabschnitt Der Minimaltatbestand: Die Rechtsscheinhaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestandes Versucht man, aus den Fehlern der bisherigen „allgemeinen“ Rechtsscheintheorien zu lernen, so drängt sich als erstes der Verzicht auf eine Einheitsformel auf; denn alle derartigen Theorien erwiesen sich einerseits stets als zu weit, indem sie auch unzutreffende Fälle umfaßten, andererseits aber häufig auch als zu eng, indem sie für [29] anerkannte Rechtsscheintatbestände nicht paßten. Daher liegt der Gedanke nahe, daß sich die Rechtsscheinhaftung statt dessen nur aus einem Zusammenspiel mehrerer Prinzipien erklären läßt. Als erstes gälte es dann, das in seinem Anwendungsbereich weiteste Prinzip zu erfassen und als den Minimaltatbestand zu formulieren. Sucht man danach, so wird man hier in besonderem Maße das Augenmerk auf einen Ausgleich für die eingangs1 betonte rechtsethische Schwäche der Rechtsscheinhaftung zu richten und dementsprechend den Rechtsscheingedanken mit einem besonders durchschlagskräftigen Zurechnungsprinzip zu verbinden haben. Nimmt man hinzu, daß ein wesentlicher Einwand gegen die bisherigen Theorien nicht zuletzt in deren undifferenzierter Anknüpfung an das Veranlassungs- oder auch an das Verschuldensprinzip lag, und fragt man weiter, welches Zurechnungskriterium dann eigentlich noch bleibt, so stößt man unschwer auf den Ausweg: die Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes. In der Tat fällt eine erste Prüfung der Frage, ob sich hieraus ein allgemeines Prinzip entwickeln läßt, verhältnismäßig vielversprechend aus. Zugunsten eines derartigen Prinzips spricht zunächst stark, daß ihm, wie gefordert, ein vergleichsweise hoher rechtsethischer Wert und eine entsprechend große Überzeugungskraft innewohnen. Denn wer bewußt den Schein eines in Wahrheit nicht gegebenen Rechts usw. schafft, weiß immerhin, was er tut, und weiß, daß der Vertrauende sein Verhalten u. U. nach diesem Scheintatbestand einrichten wird; er „kann sich daher nicht beklagen“ – um einen gebräuchlichen topos zu verwenden –, wenn er „beim Wort genommen“ wird. In diesem letzteren Gesichtspunkt klingt zugleich ein zweiter Grund für die innere Überzeugungskraft des vorgeschlagenen Prinzips an: es ist eng verwandt mir der Bindung an das gegebene Wort, insbesondere mit dem fundamentalen Rechtsgedanken des 1
Vgl. oben S. 9 sowie unten S. 533 f. mit Fn. 43 a.
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§ 116 S. 1 BGB,2 wie auch mit dem Verbot des „venire contra factum proprium“;3 denn wer zunächst bewußt das Vorliegen eines bestimmten Tatbestandes vortäuscht, sich dann aber auf dessen Nichtexistenz beruft, handelt ähnlich unlauter wie der Wortbrüchige und setzt sich in krasser Weise mit seinem eigenen Verhalten in Widerspruch. Andererseits ist hier der Vertrauende besonders schutzwürdig, da man im redlichen Geschäftsverkehr grundsätzlich auch von der Redlichkeit des Partners ausgehen darf und daher im allgemeinen nicht damit zu rechnen braucht, daß dieser wissentlich einen Scheintatbestand schafft und sich dann nicht an diesem festhalten lassen will. Dies alles wird besonders deutlich, wenn man sich als Gegensatz die Lage bei der bloßen Veranlassung oder lediglich fahrlässigen Verursachung eines Rechtsscheins vor Augen führt: wer unwissentlich einen Scheintatbestand schafft, erscheint weitaus eher schutzwürdig, und umgekehrt kann der Vertrauende sich hier nicht ohne weiteres darauf verlassen, daß seinem Partner nicht ein derartiger Irrtum (!) unterläuft. [30] Mit dieser Begründung dürfte zugleich dem Mißverständnis vorgebeugt sein, der besondere Gerechtigkeitsgehalt des vorgeschlagenen Prinzips liege darin, daß derjenige, der den Scheintatbestand geschaffen hat, hier eine „Sanktion“ oder gar eine Strafe „verdiene“; lediglich die Interessenlage und die Schutzwürdigkeit beider Beteiligter sind verschieden, je nachdem, ob jener die Bedeutung seines Tuns kennt oder nicht. Jeder Gedanke an eine „Sanktion“ oder dgl. muß im übrigen schon daran scheitern, daß Verschuldensgesichtspunkte für die Haftung belanglos sind. Wer z. B. einer vertrauenswürdigen Person aus einem vernünftigen Grunde eine Vollmachtsurkunde oder ein Blankett aushändigt, verletzt weder eine Rechtspflicht gegenüber einem Dritten noch eine Obliegenheit gegenüber sich selbst und handelt daher nicht schuldhaft. Daß er gleichwohl für die Folgen eines Mißbrauchs der Urkunde einzustehen hat, beruht vielmehr auf dem Gesichtspunkt der Risikozurechnung: er hat die Gefahr des Mißbrauchs und der Irreführung des Dritten geschaffen, und er ist daher „näher daran“ als der Getäuschte, die Folgen zu tragen; er hat zwar nichts rechtlich zu Mißbilligendes getan, aber er handelt „auf eigene Gefahr“, wenn er einen Scheintatbestand in den Verkehr bringt. In der Tat wird sich erweisen, daß stets der Gedanke der Risikozurechnung eine entscheidende Rolle spielt, um welche Frage der Rechtsscheinhaftung es auch immer gehen mag.4 Der wirkliche Gehalt des vorgeschlagenen Rechtsscheinprinzips wird daher nur aus seiner Verbindung mit dem Gedanken der Risikozurechnung voll deutlich. Die rechtsethische Überzeugungskraft eines Rechtsgedankens genügt indessen für sich allein noch keineswegs, um daraus ein de lege lata verbindliches allgemeines Prinzip zu entwickeln. Hinzukommen muß vielmehr seine VereinVgl. näher unten S. 420 Fn. 37 und S. 434. Zur Abgrenzung vgl. unten § 43 I und II, insbesondere Fn. 17. 4 Vgl. allgemein unten § 38 III. 2 3
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barkeit mit den Wertungen des gesetzten Rechts. Auch in dieser Beziehung erweist sich nun die hier vertretene Ausformung des Rechtsscheingedankens den bisherigen Theorien als überlegen. Insbesondere besteht nicht die Gefahr, daß Wertungswidersprüche mit der Irrtumsregelung des BGB entstehen; denn da der Handelnde sich hier der Bedeutung seines Tuns ja bewußt ist, kommen die wichtigsten Irrtumsfälle von vornherein nicht in Betracht – und soweit die Schaffung des Scheintatbestandes durch einen nach §§ 118, 119 oder 123 BGB erheblichen Willensmangel beeinflußt ist, kann man die Haftung entsprechend einschränken,5 ohne das Prinzip als solches preiszugeben. Auch zu den Regeln über die „culpa in contrahendo“ besteht kein Gegensatz, da diese einen viel weiteren Anwendungs-bereich haben: erstens gelten sie nicht nur bei der Schaffung eines Rechtsscheins, und zweitens und vor allem finden sie bei jedem Grad von Verschulden Anwendung, nicht nur bei „Vorsatz“ (was der bewußten Schaffung entspräche). Im Gegenteil zeigt § 463 S. 2 BGB, daß die Ersatzpflicht aus c. i. c. bei „arglistiger“ Vorspiegelung nicht vorhandener Tatsachen u. U. zur Haftung auf das positive Interesse, d. h. zu „positivem Vertrauensschutz“ gesteigert werden kann – ein der Einstandspflicht für die bewußte Schaffung eines Rechtsscheins durchaus verwandter Fall, der noch durch die ähnliche Wertung des [31] § 179 I BGB ergänzt wird. Das Erfordernis, daß der Scheintatbestand wissentlich gesetzt sein muß, genügt daher, um zu erklären, warum statt des „negativen“ Vertrauensschutzes, wie er nach den Regeln über die c. i. c. an sich eintreten würde, „positiver“ Vertrauensschutz gewährt wird. Eine gewisse Schwäche des ins Auge gefaßten Prinzips scheint demgegenüber auf den ersten Blick darin zu liegen, daß es im BGB allenfalls unvollkommen Ausdruck gefunden hat. Immerhin kann man in diesem Zusammenhang aber die §§ 171 f. und 405 BGB nennen, wenngleich die §§ 171 f. z. T. noch weiter reichen und andererseits § 405 BGB jedenfalls seinem Wortlaut nach nicht weit genug reicht.6 Eine gewisse Stütze ist auch in dem soeben schon erwähnten § 179 I BGB enthalten, wonach der „falsus procurator“ auf Erfüllung haftet, wenn er den Mangel seiner Vertretungsmacht kannte; wenn das auch keine Rechtsscheinhaftung im eigentlichen Sinne ist,7 so fügt sich die Vorschrift doch insofern in das postulierte Prinzip ein, als auch hier die Haftung bei bewußter Unwahrheit der Erklärung vom „negativen“ zum „positiven“ Vertrauensschutz gesteigert wird – und ähnliches gilt auch für § 463 S. 2 BGB. Man ist sogar geradezu versucht zu sagen, daß diese beiden Vorschriften ihre (scheinbare) Systemwidrigkeit – die Haftung auf Erfüllung bzw. auf das positive Interesse ist im Rahmen der Erklärungshaftung bzw. der c. i. c. an sich systemwidrig8 – nur verlieren, wenn man der Vgl. zusammenfassend unten § 36 II. Vgl. näher unten § 10 bzw. § 9 II und III. 7 Vgl. unten S. 535 Fn. 51. 8 Vgl. näher unten § 43 III. 5 6
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bewußten Erweckung eines unbegründeten Vertrauens allgemein eine besondere, haftungssteigernde Rolle zuerkennt. – Das Prinzip der Bindung an einen wissentlich geschaffenen Scheintatbestand findet schließlich noch eine weitere Grundlage im geltenden Recht in den heute bereits gewohnheitsrechtlich gesicherten Regeln über die „Duldungsvollmacht“. Denn diese gehören dogmatisch in den Zusammenhang der Rechtsscheinhaftung,9 und da für dieses Institut die Kenntnis des Geschäftsherrn vom Auftreten des falsus procurator ja wesentlich ist, geht es wiederum um die Einstandspflicht für die bewußte Schaffung eines Rechtsscheins. Die genannten Tatbestände lassen sich nun natürlich z. T. ohne weiteres im Wege der Analogie erweitern; so liegt es nahe, der Aushändigung einer Vollmachtsurkunde die Begebung eines „Blanketts“, der Scheinvollmacht die Scheinbotenmacht, die Scheinzustimmung und die Scheingesellschaft, den in § 405 BGB genannten Einwendungen andere dem Schuldner bekannte Einwendungen gleichzustellen usw. Allmählich könnte sich so eine „Induktionsbasis“ entwickeln lassen, die schließlich breit genug ist, um in der Tat den Rückschluß auf das Vorliegen eines „allgemeinen“ Prinzips zuzulassen.10 Eine abschließende Verifizierung der aufgestellten Hypothese sowie die unerläßliche Konkretisierung des postulierten [32] Prinzips zu festumrissenen, subsumtionsfähigen Tatbeständen sind indessen nur durch eine genaue Untersuchung der einzelnen Problemkreise möglich, und in diese ist daher nunmehr einzutreten.
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Vgl. unten § 5 II 1. Vgl. näher die Zusammenfassung unten S. 106 f.
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§ 5 Die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Vollmachtsrecht I. Die gesetzlichen Tatbestände der Scheinvollmacht nach §§ 171 I, 172 I BGB Als wichtigste Grundlage der Rechtsscheinhaftung im bürgerlichen Recht sind nach h. L.1 die §§ 171 I, 172 I BGB anzusehen. Sie sind daher als erste darauf zu untersuchen, wie weit sie die Anerkennung eines allgemeinen Prinzips der Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins zu stützen vermögen. 1. Die Einordnung der §§ 171 ff. in die Rechtsscheinhaftung ist freilich umstritten.2 Nach einer früher weit verbreiteten und neuerdings von FLUME mit Nachdruck wieder aufgegriffenen Gegenansicht soll es sich hier nämlich um Fälle rechtsgeschäftlich begründeter Vertretungsmacht handeln.3 Diese Theorie muß indessen daran scheitern, daß sich die §§ 171 I, 172 I nur auf deklaratorische Erklärungen beziehen,4 daß aber ein Rechtsgeschäft stets ein konstitutiver Akt ist. Schon der Wortsinn läßt insoweit keinen Zweifel, wenn es heißt: „... daß er einen anderen bevollmächtigt habe“. Es wird also durch die Mitteilung i. S. des § 171 I nicht konstitutiv eine Rechtsfolge in Geltung gesetzt, sondern deklaratorisch auf ein bereits vorgenommenes Rechtsgeschäft mit dem Stellvertreter hingewiesen; nicht die Erteilung einer Außenvollmacht gegenüber dem Dritten, sondern die Mitteilung einer bereits erteilten Innenvollmacht gegenüber dem Vertreter steht in Frage. Dies ergibt sich auch aus dem systematischen Zusammenhang des § 171 I mit § 167 I: dieser regelt schon die rechtsgeschäftliche Erteilung einer Vollmacht gegenüber dem Dritten, und es wäre unverständlich, wenn § 171 I dasselbe noch einmal bestimmte. Auch kommt es anerkanntermaßen nicht darauf an, ob der 1 Vgl. RGZ 138, 265 (269; zu § 172); BGHZ 40, 65 (67 f.) und 297 (304); Wellspacher aaO. S. 79 ff.; v. Seeler ArchBürgR 28, 1 ff. und 36 ff.; Enn.-Nipperdey § 184 II 3; Larenz A. T. § 37 IV a; Staudinger-Coing §§ 171 f. Rdz. 3; Soergel-Schultze-von Lasaulx § 171 Rdz. 2; Erman-Böhle-Stamschräder § 172 Anm. 2; Palandt-Danckelmann §§ 170 ff. Anm. 5 (inzident). 2 Die im älteren Schrifttum mitunter anzutreffende Lehre, die §§ 171 f. BGB stellten Tatbestände einer „gesetzlichen Vertretungsmacht“ dar (vgl. z. B. Oertmann § 171 Anm. 1 a β m. Nachw.), ist allerdings nicht als echte Alternative zur h. L. anzusehen; denn sie betrifft höchstens die Einordnung der Vorschriften in das „äußere“ System des Gesetzes und läßt die entscheidende Frage nach ihrer ratio legis und damit nach ihrer Stellung im „inneren“ System offen. 3 § 49, 2 a und c; diese Ansicht war vor dem Erscheinen der Arbeiten von Wellspacher und von Seeler ganz herrschend, vgl. die Nachw. bei Wellspacher aaO. S. 83 Fn. 11. 4 Vgl. schon Prot. I S. 146; vgl. ferner Hupka, Die Vollmacht, 1900, S. 163 und 169; Goldberger, Der Schutz gutgläubiger Dritter im Verkehr mit Nichtbevollmächtigten nach Bürgerlichem Gesetzbuch, 1908, S. 41; Planck-Flad § 171 Anm. 4; Oertmann § 171 Anm. 1 a α; StaudingerCoing §§ 171 f. Rdz. 2 ; Enn.-Nipperdey § 184 II 3 a ; Larenz aaO.
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[33] Mitteilende das Bewußtsein hatte, eine selbständige Regelung in Geltung zu setzen – ein Ergebnis, das mit den Grundsätzen über das Erklärungsbewußtsein und daher mit der Rechtsgeschäftslehre unvereinbar ist. Die Unterscheidung zwischen deklaratorischer Mitteilung und konstitutiver Bevollmächtigung ist auch keineswegs gekünstelt und entgegen der Ansicht FLUMES5 auch dem Laien durchaus nicht fremd. Dies wird besonders deutlich bei den „typischen“ Innenvollmachten, insbesondere bei den Generalvollmachten. So wird niemand, dem ein Kaufmann etwa mitteilt: „Wir schicken Ihnen zur Regelung des Falles unseren Prokuristen Herrn X“, oder dem eine Urkunde vorgelegt wird des Inhalts: „Herr X ist mein Vermögensverwalter und Generalbevollmächtigter“ auf den Gedanken kommen, dadurch solle ihm gegenüber eine Vollmacht erteilt werden;6 er wird vielmehr mit Selbstverständlichkeit davon ausgehen, daß ein entsprechendes Rechtsgeschäft zwischen dem Geschäftsherrn und dem Vertreter irgendwann in der Vergangenheit vorgenommen worden ist. Bei Spezialvollmachten mag die Abgrenzung mitunter schwierig sein, und insbesondere ist in der Aushändigung einer Vollmachtsurkunde nicht selten eine durch den Stellvertreter als Boten überbrachte Außenvollmacht zu erblicken;7 doch können diese (durch Auslegung zu lösenden) Schwierigkeiten in Randbereichen die Richtigkeit der Unterscheidung im Kernbereich nicht in Frage stellen. Zuzugeben ist allerdings, daß die Kundgebungen nach § 171 I und die Aushändigung einer Vollmachtsurkunde i. d. R. nicht bloße Deklaration sind, sondern ein Element der Bekräftigung enthalten8 und eine zusätzliche Legitimation darstellen. Eine „deklaratorische Erklärung mit Legitimationscharakter“ hat jedoch nichts Befremdliches; ein Musterbeispiel dieser Art ist der Erbschein, der auch nur eine angeblich bestehende Rechtsposition bestätigt, gleichwohl aber Legitimationsfunktion besitzt. Das Element der Bekräftigung, das in der Mitteilung nach § 171 I und in der Aushändigung einer Vollmachtsurkunde liegt, kann daher allenfalls dazu führen, diesen Tatbeständen eine Sonderstellung innerhalb der Rechtsscheinlehre einzuräumen,9 nicht aber dazu, sie ganz aus dieser zu verbannen. Demgegenüber dürfte gerade die Rechtsgeschäftslehre außerstande sein, dieses bekräftigende Element richtig einzuordnen, da eben keine Regelung in Geltung gesetzt werden soll; ihre Möglichkeiten – etwa die Annahme einer zusätzlichen Außenvollmacht für den Fall einer Unwirksamkeit der Innenvollmacht10 oder eines rechtsgeschäftlichen Verzichts auf eventuelle Einwendungen – haben durchweg Fiktionscharakter. Vgl. aaO. S. 825. Die Erteilung der Prokura als Außenvollmacht ist nach verbreiteter Ansicht sogar rechtlich unmöglich! Vgl. statt aller Capelle § 7 III a. E. m. Nachw. 7 Vgl. auch von Tuhr II 2 S. 380. 8 Vgl. Flume aaO. S. 824 im Anschluß an die Motive S. 237; vgl. auch schon Hupka aaO. S. 164 und S. 167, 168 f. 9 Selbst das ist fragwürdig, vgl. unten § 10 I und II. 10 Vgl. Goldberger aaO. S. 39 f. 5 6
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Zusätzliche Gründe gegen die Rechtsgeschäftstheorie bestehen bei § 172 I. Zwar kann auch die Vollmachtsurkunde u. U. eine rein deklaratorische Wiederholung der zuvor erteilten Innenvollmacht darstellen, so daß das bisher Gesagte auch auf [34] § 172 I zutrifft, doch steht daneben als zweiter Fall die Erteilung einer Außenvollmacht durch Überbringung der Urkunde, und auch dabei ergeben sich Schwierigkeiten, die die Rechtsgeschäftstheorie nicht zu bewältigen vermag. Das sei an einem alten11 Schulbeispiel erläutert: Ein Kaufmann, der für längere Zeit verreisen muß, händigt seinem Angestellten eine Urkunde aus mit dem Wortlaut: „Hiermit bevollmächtige ich Herrn X, für mich Textilien im Werte bis zu 10 000.- DM einzukaufen.“ Er verabredet mit ihm, daß X die Vollmacht nur nach vorheriger telephonischer Anweisung benutzen darf. Als X die Marktlage für günstig hält, schließt er den Kauf ab, ohne die Weisung seines Prinzipals abzuwarten. Da die Preise weiter fallen, will dieser nach seiner Rückkehr das Geschäft nicht gelten lassen.
Die Urkunde enthielt hier ihrem Wortlaut nach nicht lediglich einen Hinweis auf eine schon bestehende Innenvollmacht des X, sondern sie sollte diesen unmittelbar gegenüber dem Dritten legitimieren: sie war eine durch einen Boten überbrachte Außenvollmacht. Dennoch läßt sich dieser Fall nicht mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre lösen. Denn der Prinzipal hat keine Regelung „in Geltung gesetzt“, sondern dem X nur den „Entwurf“ einer Willenserklärung ausgehändigt,12 nicht anders als in dem oben13 erwähnten Brieffall: es fehlt das für ein Rechtsgeschäft erforderliche Element der Endgültigkeit. Auch daraus, daß X die Vollmacht als Bote überbracht hat, läßt sich nichts für eine rechtsgeschäftliche Bindung entnehmen. Diese wird dadurch nämlich nicht zu einer Willenserklärung des Prinzipals, da X vorsätzlich von dessen Weisungen abgewichen ist und dieser Fall hinsichtlich der rechtsgeschäftlichen Problematik nicht anders behandelt werden kann als die übrigen Fälle einer vorsätzlichen Verfälschung der Erklärung durch den Boten, bei der ja anerkanntermaßen eine rechtsgeschäftliche Bindung des Geschäftsherrn von vornherein nicht in Betracht kommt;14 im übrigen müßte sonst wenigstens die Anfechtung nach § 120 BGB zulässig sein. Gleichwohl kann kein Zweifel daran bestehen, daß § 172 I BGB gerade Fälle wie den vorliegenden meint und daß der Prinzipal daher ohne die Möglichkeit einer Anfechtung ge11 Vgl. schon v. Seeler aaO. S. 2; in konstruktiver Hinsicht bleibt seine Erörterung des Falles freilich in mehreren Punkten unklar. 12 Die Aushändigung der Urkunde als solche ist kein Rechtsgeschäft, da durch sie allein nichts in Geltung gesetzt wird, vgl. z. B. Oertmann § 172 Anm. 1 c α; Goldberger aaO. S. 56 f.; Macris, Die stillschweigende Vollmachterteilung, 1941, S. 141 f. (jeweils m. Nachw. zum älteren Schrifttum); a. A. aus dem heutigen Schrifttum wohl nur Kuhn in RGR-Komm. § 172 Anm. 2 und Flume aaO. S. 826, beide jedoch ohne nähere Begründung. 13 Vgl. S. 15 f. 14 Vgl. die Nachw. unten S. 65 Fn. 49. Der vorliegende Fall liegt insofern besonders, als der Bote nicht eine andere Erklärung an die Stelle der des Geschäftsherrn setzt, sondern den „Entwurf“ einer Erklärung zu einem Rechtsgeschäft macht.
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bunden ist. Auch aus diesem Grund läßt sich § 172 daher nicht mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre erklären. Demgegenüber gelingt dies der Rechtsscheintheorie ohne weiteres, ja, der zuletzt erörterte Fall ist geradezu ein Musterbeispiel der Einstandspflicht für einen wissentlich geschaffenen Scheintatbestand: wer einem anderen eine Vollmachtsurkunde [35] aushändigt, obwohl eine Vollmacht nicht oder noch nicht erteilt ist, der bringt bewußt einen Scheintatbestand in den Verkehr und muß daher das damit verbundene Mißbrauchsrisiko tragen. Ähnlich bestätigt auch § 171 I BGB dieses Prinzip; denn auch wenn jemand eine Vollmacht nach außen kundgibt, obwohl sie intern nicht erteilt ist, schafft er wissentlich einen Scheintatbestand. Die §§ 171 I, 172 I bilden daher in der Tat eine wichtige gesetzliche Bestätigung dieses Prinzips – mögen sie auch daneben noch andere Fälle umfassen und eine zweite Funktion erfüllen, auf die erst später einzugehen ist.15 2. Allerdings muß man sich hüten, aus dieser dogmatischen Einordnung vorschnell Schlüsse auf die Rechtsfolgen zu ziehen. Insbesondere ergibt sich aus ihr nicht ohne weiteres, daß die Vorschriften über Willensmängel unanwendbar sind; zwar gelten diese natürlich nicht unmittelbar, doch bleibt die Möglichkeit einer Analogie unberührt, und eine solche liegt hier von vornherein deshalb verhältnismäßig nahe, weil die §§ 116 ff. BGB der Sache nach letztlich allgemeine Zurechnungsprobleme betreffen, die sich nicht nur bei der Vornahme eines Rechtsgeschäfts, sondern auch bei der Schaffung eines Scheintatbestandes ergeben können: hier wie dort geht es um die Frage, ob ein willentliches Verhalten trotz eines „Willensmangels“ zurechenbar ist.16 Die als ganz herrschend zu bezeichnende Gegenansicht17 verdient – abgesehen von ihrer begriffsjuristischen Begründungsweise – schon deshalb keine Zustimmung, weil sie den besonderen Zweck der §§ 171 I, 172 I mißachtet: diese sollen das Fehlen einer Außenvollmacht ausgleichen, weil angesichts der besonderen „Legitimation“ kein Anlaß besteht, daß der Dritte den Geschäftsherrn um eine solche ersucht, und dieser braucht daher nicht besser zu stehen als bei Erteilung einer echten Außenvollmacht; das aber bedeutet, daß die Mitteilung i. S. des § 171 I und die Aushändigung einer Urkunde zwar nicht aus denselben Gründen wie die ihnen zugrunde liegende Innenvollmacht „anfechtbar“ bzw. „nichtig“ sind, wohl aber immer dann den §§ 116 ff. BGB unterliegen, wenn das bei einer entsprechenden Außenvollmacht auch der Fall wäre. Darüber noch hinauszugehen und die Berücksichtigung von Willensmängeln völlig auszuschließen, besteht nicht nur kein Anlaß, sondern führt auch zu untragVgl. § 10. Vgl. eingehend unten § 36 II. 17 Vgl. Wellspacher aaO. S. 89 ff.; Enn.-Nipperdey § 184 II 3 b (anders offenbar § 203 III 8 b bei Fn. 32); Oertmann § 171 Anm. 2 a; Staudinger-Coing §§ 171 f. Rdzn. 3, 5 und 10 a. E.; SoergelSchultze-von Lasaulx § 171 Rdz. 2; Erman-Böhle-Stamschräder § 171 Anm. 6; zwischen § 171 und § 172 differenzierend jetzt Larenz A. T. § 37 IV a a. E. 15 16
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baren Wertungswidersprüchen mit der Behandlung der echten Außenvollmacht. Schon die Ergebnisse sollten die Gegenansicht zur Aufgabe ihres Standpunktes bewegen. Wenn der Geschäftsherr sich z. B. bei einer echten Außenvollmacht verspricht oder verschreibt und sagt: „Ich erteile Herrn X Vollmacht“, während er in Wahrheit „Herrn Y“ sagen oder schreiben wollte, kann er ohne Zweifel nach § 119 I anfechten. Daß es bei einer lediglich deklaratorischen Mitteilung über die erfolgte Bevollmächtigung anders sein sollte, ist angesichts der engen Verwandtschaft der [36] beiden Fälle ein mit dem Gebot der Gerechtigkeit, Gleiches gleich zu behandeln, unvereinbarer Widersinn. Ähnlich ungereimt ist das Ergebnis im Falle des § 123 I BGB: ob z. B. jemand den Geschäftsherrn widerrechtlich durch Drohung dazu bestimmt, eine Außenvollmacht zu erteilen oder ob er ihn dazu bestimmt, eine – in Wahrheit nicht erfolgte bzw. nach § 123 I anfechtbare – Bevollmächtigung kundzutun, kann unmöglich einen Unterschied machen. Nicht anders liegt es im Fall der Scherzerklärung: wie eine echte Außenvollmacht so ist auch die Mitteilung über eine Innenvollmacht analog § 118 BGB nicht bindend zuzurechnen, wenn der Geschäftsherr davon ausgeht, der Dritte werde den Mangel der Ernstlichkeit erkennen.18 – Auch Fälle eines fehlenden Erklärungsbewußtseins sind möglich. So ist daran zu denken, daß der Vertretene eine Vollmachtsurkunde ungelesen unterschreibt in der Meinung, es handele sich um eine Glückwunschbotschaft; ähnlich liegt ein Inhaltsirrtum i. S. des § 119 I BGB vor, wenn ihm z. B. an Stelle eines Kaufangebotes eine Vollmachtsmitteilung untergeschoben wird. Keinesfalls kann in diesen Fällen anders entschieden werden, je nachdem, ob es sich um die Erteilung einer echten Außenvollmacht oder um die Deklaration einer Innenvollmacht handelt; wie bei jener das Fehlen des Erklärungsbewußtseins bzw. ein Irrtum über den Inhalt der Erklärung relevant ist, so muß bei dieser das Fehlen des Mitteilungsbewußtseins bzw. ein Irrtum über den Inhalt der Mitteilung berücksichtigt werden. – Schließlich sei noch an den Fall des § 120 BGB erinnert: ob ein Bote eine echte Außenvollmacht versehentlich falsch überbringt oder ob er eine entsprechende Mitteilung unrichtig ausrichtet (es wird hier regelmäßig um den Umfang der Vertretungsmacht gehen), muß zweifellos unerheblich sein, ebenso wie es keinen Unterschied machen kann, ob sich bei einer Erklärung an die Öffentlichkeit durch Zeitungsannonce der Druckfehler bei einer konstitutiven oder bei einer deklaratorischen Erklärung i. S. d. § 171 eingeschlichen hat. Freilich drängt sich gegen diese Argumentation ein Einwand auf: sie paßt strenggenommen nur dort, wo wirklich statt der Kundgabe genauso gut eine echte Außenvollmacht erteilt werden könnte. Nun gibt es aber, wie schon erwähnt, typische Innenvollmachten, und man könnte daher daran denken, wenigstens bei diesen Mängel der Kundgabe nicht wie Mängel der Außenvollmacht 18 Analog § 122 BGB ist das negative Interesse zu ersetzen, vgl. auch Goldberger aaO. S. 70 sowie unten § 44 II 2.
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zu behandeln, sondern strengeren Regeln zu unterwerfen. Dagegen spricht indessen, daß der Begriff der „typischen“ Innenvollmacht verhältnismäßig fließend, dementsprechend wenig praktikabel und vor allem dem Gesetz gänzlich unbekannt ist. Eine Ausnahme könnte man daher nur dann annehmen, wenn sich der Nach-weis führen ließe, daß für einen festumrissenen Sondertatbestand die gesetzliche Interessenbewertung nicht paßt. Dies dürfte nun in der Tat für den Fall zutreffen, daß die Vollmacht auf die Vornahme von Rechtsgeschäften mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen gerichtet ist. Da es sich dabei ausnahmslos um „typische Innenvollmachten“ handelt – eine derartige Vollmacht erteilt man nicht extern immer erneut gegenüber [37] dem jeweiligen Dritten, sondern ein für alle Mal gegenüber dem Vertreter! –, steht die Analogie zur Außenvollmacht nicht unbedingt im Wege. Da zudem das Merkmal des „unbestimmten Personenkreises“ dem verschwommenen Begriff „typische Innenvollmacht“ insoweit klare Umrisse verschafft, kann man auch nicht den Einwand fließender Grenzen und mangelnder Praktikabilität erheben. Vor allem aber unterscheidet sich dieser Fall von dem im Gesetz zugrunde gelegten Normalfall der Vollmacht wesentlich hinsichtlich der Stärke des Verkehrsschutzbedürfnisses: durch die Anfechtung einer derartigen Vollmacht würde eine Fülle von Geschäften mit einer Vielzahl von Personen rückwirkend zusammenbrechen, was zwar nicht den einzelnen Geschäftspartner stärker belastet als bei der Anfechtung einer normalen Vollmacht, wohl aber ein erhebliches Maß an Unruhe und Unsicherheit in den Verkehr bringt und dadurch die Interessen der Allgemeinheit beeinträchtigt. So hat man es auch bei anderen Rechtsinstituten, insbesondere bei der fehlerhaften Gesellschaft, stets als besonders schwerwiegenden Einwand gegen die unbeschränkte Anwendung der Regeln über Willensmängel angesehen, daß von der Nichtigkeit eine unbestimmte Vielzahl von Personen betroffen würde. Bedenkt man, daß bei der fehlerhaften Gesellschaft die Problematik des Einwendungsausschlusses mit der des Vertretungsrechts identisch oder (bei OHG und KG) doch wenigstens eng verwandt ist,19 so ist es nur folgerichtig, für das Vertretungsrecht nachzuholen, was dort längst anerkannt ist und was man sinnvollerweise nicht wieder rückgängig machen sollte. Somit ist weder der heute h. L., nach der die Berücksichtigung von Willensmängeln bei der Scheinvollmacht allgemein ausgeschlossen ist, noch der früher h. L., die ihre Geltendmachung uneingeschränkt zulassen wollte,20 zu folgen. Zu-
Vgl. unten S. 74 f., 124 f. Vgl. schon Mot. I 238 und Prot. I 146; ferner Clarus SeuffBl. 64, 166 f.; Hupka aaO. S. 164 ff. und 169 f.; Crome, System des deutschen Bürg. Rechts I, 1900, § 104 I 1 i. V. m. § 72, 1 c; Endemann, Lb. des Bürg. Rechts I, 9. Aufl. 1903, S. 404 Fn. 15; Kohler, Lb. des Bürg. Rechts I, 1906, § 193 V; Cosack Lb. des Bürg. Rechts I, 8. Aufl. 1927, § 102 II 4; von Tuhr II 1 S. 302 bei Fn. 27 a und II 2 S. 383 und 389 f.; Planck-Flad § 171 Anm. 3 und § 172 Anm. 1 a α; Düringer-Hachenburg-Hoeniger Anm. 48 vor § 48 (nur für § 171); Biermann, Festgabe für Dernburg S. 110; Goldberger aaO. S. 64 ff.; Manigk, Heymann-Festschrift S. 604 f.; Macris aaO. S. 174 ff. 19 20
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treffend ist vielmehr eine Mittellösung: ist die Vollmacht auf den Abschluß von Rechtsgeschäften mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen gerichtet,21 so ist die Berücksichtigung von Mängeln gegenüber gutgläubigen Dritten generell ausgeschlossen. In allen übrigen Fällen dagegen sind zwar Mängel, die lediglich die zugrunde liegende Innenvollmacht betreffen, zugunsten gutgläubiger Dritter präkludiert,22 nicht dagegen Mängel, die die Kundgabe selbst, d. h. die Mitteilung [38] oder die Ausstellung bzw. die Aushändigung der Urkunde, ergreifen; diese können vielmehr unter denselben Voraussetzungen wie Mängel einer entsprechenden Außenvollmacht geltend gemacht werden. 3. Die bisherigen Ausführungen bezogen sich in gleicher Weise auf die Mitteilung einer Vollmacht wie auf die Aushändigung einer Vollmachtsurkunde:23 Beispiele und Argumente passen hier wie dort gleichermaßen, ganz abgesehen davon, daß das BGB die Gleichstellung ausdrücklich vorschreibt. Man darf sich dabei nicht von wertpapierrechtlichen Vorstellungen beirren lassen: der Einwendungsausschluß im Recht der Umlaufpapiere ist ein Spezifikum dieses Rechtsgebietes, und eine allgemeine gesteigerte Vertrauenshaftung bei Urkunden ist dem geltenden bürgerlichen Recht fremd.24 Das wird verkannt, wenn man mit der wohl h. L.25 die Haftung nach § 172 I BGB auch im Fall des Diebstahls der Urkunde bejaht. Dem steht schon der Wort-
Aus dem neueren Schrifttum Lehmann-Hübner § 36 V 2 b β a. E.; Flume § 49, 2 c (= S. 826 ff.); Larenz A. T. § 37 IV a a. E. (nur für § 171). 21 In welchem Umfang von ihr Gebrauch gemacht worden ist, ist unerheblich. 22 Daß dies auch hinsichtlich solcher Mängel gilt, die der Geschäftsherr nicht kennt, ist allerdings mit dem Prinzip der Einstandspflicht für einen bewußt geschaffenen Scheintatbestand nicht zu erklären, vgl. dazu unten S. 108. 23 Für eine unterschiedliche Behandlung Düringer-Hachenburg-Hoeniger Anm. 48 vor § 48 mit dem heute überholten Argument, bei § 171 liege eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung, bei § 172 dagegen ein bloßer Realakt vor. Ebenso i. E. aber jetzt wieder Larenz A. T. § 37 IV a = S. 569. Die grundsätzliche Geltung der Vorschriften über Willensmängel läßt sich bei der Urkunde zumindest für den Fall der konstitutiv durch die Überbringung der Urkunde erteilten Vollmacht sogar besonders leicht begründen: sie folgt – ähnlich wie bei § 405 BGB (vgl. insoweit unten S. 87) – aus der Lehre von den Doppelwirkungen. Denn hier liegt an sich eine echte externe Vollmacht vor (nicht nur die Deklaration einer internen), und die Regeln der §§ 116 ff. BGB sind daher unmittelbar anwendbar; daß die Vollmacht nicht in Geltung gesetzt und schon aus diesem Grunde unwirksam ist, kann der Berücksichtigung anderer Mängel, etwa eines Schreibfehlers, nach der Lehre von den Doppelwirkungen nicht entgegenstehen. 24 Vgl. oben § 3 V. 25 Vgl. Isay, Die Geschäftsführung, 1900, S. 239; Hupka aaO. S. 174; von Seeler aaO. S. 40 f.; Weinschenk LZ 1931 Sp. 1310 ff.; Staudinger-Coing §§ 171 f. Rdz. 6; SoergelSchultze-von Lasaulx § 172 Rdz. 2; Erman-Böhle-Stamschräder § 172 Anm. 2; Enn.-Nipperdey § 188 I 1 c. Wie im Text i. E. OLG Dresden SeuffArch. 66 Nr. 156; Ramdohr GruchBeitr. 44, 805; Wellspacher aaO. S. 86 Fn. 19; Cosack aaO. § 102 II 1 a. E.; Endemann aaO. S. 405 Fn. 18; Oertmann § 172 Anm. 1 c α und ZHR 95, 471 f.; Düringer-Hachenburg-Hoeniger Anm. 44 vor § 48; Goldberger
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laut des § 172 entgegen, der unmißverständlich die „Aushändigung“ der Urkunde durch den Geschäftsherrn verlangt. Man kann sich darüber auch nicht im Wege einer „teleologischen Umbildung“ hinwegsetzen, da die Wertung des § 172 I insoweit durchaus vernünftig und systemgerecht ist, wie z. B. der Umkehrschluß aus den für Inhaberpapiere geltenden Ausnahmevorschriften der §§ 794, 935 II BGB, vor allem aber das argumentum a fortiori aus der Berücksichtigung von Willensmängeln bei der Begebung der Urkunde zeigt: wenn § 172 I schon bei einer auf einem Willensmangel beruhenden Aushändigung nicht eingreift, kann er erst recht nicht [39] bei einem völligen Fehlen der Aushändigung gelten. Auch hat der Geschäftsherr dann nicht eine einer Außenvollmacht vergleichbare Kundgabe vorgenommen, so daß auch insoweit die ratio legis des § 172 I nicht erfüllt ist. Vielmehr liegt es ebenso wie sonst beim Abhandenkommen des „Entwurfs“ einer Willenserklärung: es wird allenfalls auf das negative Interesse gehaftet,26 und daran ändert sich auch nichts, wenn der Geschäftsherr die Urkunde fahrlässig in den Verkehr gelangen läßt, da eine Einstandspflicht für einen fahrlässig verursachten Rechtsschein dem geltenden Recht fremd ist.27 Entsprechend dem zum Problem der Willensmängel Ausgeführten wird man eine Ausnahme allerdings dann machen müssen, wenn die Vollmachtsurkunde zum Abschluß von Rechtsgeschäften mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen bestimmt war; die oben vorgebrachten Argumente passen mutatis mutandis auch hier, und zusätzlich kann man darauf hinweisen, daß die Urkunde dann einem „Umlaufpapier“ in der Tat verhältnismäßig ähnlich wird. Im übrigen aber kann man für die bürgerlich-rechtliche Rechtsscheinhaftung aus § 172 I BGB den Grundsatz ableiten: die relevante Schaffung eines Scheintatbestandes liegt nicht schon in der Ausstellung, sondern erst in dem In-Verkehr-Bringen einer Urkunde. II. Die Duldungsvollmacht als Scheininnenvollmacht Von einer Duldungsvollmacht spricht man im Anschluß an die Rechtsprechung des BGH dann, „wenn der Vertretene das ihm bekannte Verhalten des Vertreters duldet und diese Duldung vom Geschäftsgegner nach Treu und Glauben und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte dahin gedeutet werden darf, daß der Vertreter vom Vertretenen Vollmacht, für ihn zu handeln, erhalten hat“.28 Die eigentliche Bedeutung dieser Formulierung erhellt erst aus ihrer Gegenüberstellung mit der sogenannten „Anscheinsvollmacht“. Diese liegt, ebenfalls mit den aaO. S. 57 f; Krause, Schweigen im Rechtsverkehr S. 153; Macris aaO. S. 73 Fn. 2, 75, 87; Flume § 49, 2 c (S. 827); offengelassen von OLG Stuttgart MDR 56, 673. 26 Vgl. unten § 34 I 5 m. Nachw. in Fn. 10 und § 44 II 3. 27 Vgl. unten S. 478 f. 28 BGH LM Nr. 4 zu § 167 BGB 2. Leitsatz.
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Worten des BGH,29 vor, wenn der Vertretene das Verhalten des Vertreters „zwar nicht kannte, es aber bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte kennen und verhindern können und der Geschäftsgegner das Verhalten des Vertreters nach Treu und Glauben dahin auffassen durfte, daß es dem Vertretenen bei verkehrsmäßiger Sorgfalt nicht habe verborgen bleiben können und daß dieser es also dulde“. Der entscheidende Unterschied ist demnach darin zu erblicken, daß der Vertretene das Verhalten des Vertreters bei der Duldungsvollmacht kennt, bei der Anscheinsvollmacht dagegen lediglich kennen müßte. Dieser Gegensatz ist, wie sogleich zu zeigen sein wird, in der Tat von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der beiden Institute und rechtfertigt, sie jeweils gesondert zu betrachten. [40] 1. Die dogmatische Einordnung der Duldungsvollmacht ist seit jeher umstritten. Auch hier stehen sich eine „Rechtsgeschäftstheorie“30 und eine „Rechtsscheintheorie“31 gegenüber.32 Nach der ersten Ansicht soll in dem Verhalten des Vertretenen eine „stillschweigende“ oder konkludente Bevollmächtigung liegen. Dabei wird jedoch bezeichnenderweise regelmäßig33 nicht gesagt, ob eine Innen- oder BGH aaO. 1. Leitsatz. Aus dem älteren Schrifttum vgl. vor allem Hupka aaO. S. 119 ff.; Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte, 3. Aufl. 1911, S. 274 ff.; Brodmann, Ehrenbergs Handbuch IV 2, 1918, S. 120; Hamburger, Treu und Glauben im Verkehr, 1930, S. 156 ff.; Planck-Flad § 167 Anm. 6; Oertmann § 167 Anm. 2; Manigk, Festschrift für Heymann S. 590 ff. (639 ff.); vgl. ferner die Darstellungen bei Krause, Schweigen im Rechtsverkehr S. 34 ff. und bei Macris, Die stillschweigende Vollmachterteilung S. 53 ff. Aus dem neueren Schrifttum vgl. vor allem Staudinger-Coing § 167 Rdzn. 9 d und e; SoergelSchultze-von Lasaulx § 167 Rdz. 13 a. E.; RGR-Komm. zum HGB (Würdinger) § 54 Anm. 12; Flume aaO. § 49, 3; Lehmann-Hübner § 36 V 2 a β; Westermann JuS 63, 5; Hübner, NipperdeyFestschrift I S. 384; unklar Enn.-Nipperdey § 184 II 2 a und 4, wo nicht deutlich wird, ob Nipperdey neben der Duldungsvollmacht als „stillschweigender“ echter Bevollmächtigung auch eine Duldungsvollmacht als Scheinvollmacht anerkennt (vgl. zum Unterschied unten S. 41). Die Stellung des BGH ist nicht immer eindeutig, vgl. BGH LM Nr. 10 zu § 167 BGB mit Nachweisen (unter Ziff. 3), wo offen gelassen wird, ob zwischen der Duldungsvollmacht als echter konkludenter Bevollmächtigung und als Scheinvollmacht zu unterscheiden ist. Richtig dagegen wohl BGHZ 30, 391 (395 f.). 31 Auch diese haben Wellspacher und von Seeler begründet, vgl. Vertrauen auf äußere Tatbestände S. 95 ff. bzw. ArchBürgR28, 51 f. Aus dem älteren Schrifttum vgl. ferner vor allem Krause aaO. S. 138 ff. (148 f.) und die Darstellung bei Macris aaO. S. 72 ff. Es ist jedoch zu beachten, daß früher regelmäßig nicht zwischen der „Duldungsvollmacht“ und der „Anscheinsvollmacht“ i. S. des heutigen Sprachgebrauchs unterschieden wurde. Aus dem neueren Schrifttum vgl. Fikentscher AcP 154, 1 ff.; RGR-Komm. (Kuhn) § 167 Anm. 4; Palandt-Danckelmann §§ 170 ff. Anm. 4 a. A.; differenzierend Bruck-Möller § 45 Anm. 31 (S. 1081); Larenz A. T. § 37 IV b. 32 Eine Sonderstellung nimmt die Theorie der Aufsichtspflichtverletzung ein, die vor allem von Fabricius (JuS 1966, 55 ff.) vertreten wird; vgl. dazu unten S. 198. 33 Eine Ausnahme bildet Flume, der die Duldungsvollmacht dem Tatbestand des § 171 einordnet (vgl. aaO. S. 828) und der sie daher (vgl. aaO. § 49, 2 a und c) als externe Vollmacht ansieht; damit steht es allerdings nicht in Einklang, daß Flume die Duldungsvollmacht hin29 30
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eine Außenvollmacht anzunehmen ist, und darin tritt die entscheidende Schwäche dieser Lehre zu Tage. Untersucht man nämlich die Entscheidungen zur Duldungsvollmacht unter diesem Gesichtspunkt, so ergibt sich, daß es typischerweise um die Problematik der Innenvollmacht geht. Nun ist es zwar selbstverständlich möglich, daß eine Vollmacht gegenüber dem Vertreter durch konkludentes Handeln erteilt wird, doch setzt dies voraus, daß diesem gegenüber die Voraussetzungen eines Rechtsgeschäfts gegeben sind. Für den Vertreter ist es jedoch häufig offensichtlich, daß der Vertretene ihm in Wahrheit gar keine Vollmacht erteilen will, sondern ihn nur stillschweigend gewähren läßt und sich die Genehmigung der jeweiligen Geschäfte vorbehält; ihm gegenüber fehlt es daher an der Konkludenz des Verhaltens des Geschäftsherrn. [41] In der Tat wird denn auch nirgendwo darauf abgestellt, ob der Vertreter auf eine Vollmacht schließen kann, sondern nur darauf, ob der Dritte dies darf. Will man im Rahmen der Rechtsgeschäftslehre bleiben, so wäre demnach zu fordern, daß das Verhalten des Vertretenen als schlüssige Vollmachtserteilung gegenüber dem Dritten zu verstehen ist, daß also eine konkludente Außenvollmacht vorliegt. Eine derartige Annahme wäre jedoch unhaltbar; denn sie ließe sich mit der charakteristischen Eigenart der in Frage stehenden Fälle nicht in Einklang bringen. Diese hat schon Wellspacher darin gesehen, daß „überhaupt nicht ein Schluß aus einem bestimmten äußeren Verhalten auf einen rechtsgeschäftlichen Willen gezogen wird, sondern daß der Dritte lediglich auf eine irgend einmal stattgefundene Vollmachtserteilung, also auf ein bestehendes Vollmachtsverhältnis schließt“.34 Und ähnlich heißt es in der oben mitgeteilten Formulierung des BGH bezeichnenderweise: „... und diese Duldung vom Geschäftsgegner ... dahin gedeutet werden darf, daß der Vertreter Vollmacht ... erhalten hat“, nicht etwa: „... daß er bevollmächtigt wird“. In der Tat erscheint es dem Dritten nicht so, als würde ihm gegenüber eine Außenvollmacht erteilt, wenn z. B. der Vertreter über längere Zeit Vertragsabschlüsse mit ihm vornimmt und der Geschäftsherr dies „duldet“; er geht vielmehr regelmäßig – nicht anders als im Fall des § 171 I BGB – davon aus, daß dem Vertreter Vollmacht erteilt worden ist. Das Verhalten des Geschäftsherrn hat ihm gegenüber also lediglich deklaratorischen, nicht konstitutiven Charakter, so daß es auch hier schon an den objektiven Voraussetzungen einer Willenserklärung fehlt: nicht um die Erteilung einer Außenvollmacht geht es, sondern um die konkludente „Deklaration“ einer Innenvollmacht. Diese Besonderheit der Problematik wird von den Anhängern der Rechtsgeschäftstheorie – von HUPKA über
sichtlich der Wirkung interner Erlöschensgründe wie eine interne Vollmacht behandelt, vgl. aaO. à 51, 9 a. E. und dazu unten S. 147 Fn. 8. 34 Vgl. aaO. S. 97; vgl. auch von Tuhr II 2 S. 393 ff.; Goldberger aaO. S. 12 f.; besonders klar Krause aaO. S. 139 f. und Macris aaO. S. 59 ff.
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MANIGK bis FLUME – durchweg übersehen. An ihr muß diese Lehre scheitern, gleichgültig, welcher Theorie vom Wesen des Rechtsgeschäfts man folgt.35 Aus dem Gesagten erhellt, daß bei der systematischen Einordnung der Duldungsvollmacht zwei Fälle scharf zu unterscheiden sind: im ersten Fall erscheint das Verhalten des Geschäftsherrn dem Vertreter als schlüssige Erteilung einer Innenvollmacht oder dem Dritten als schlüssige, konstitutive Erteilung einer Außenvollmacht;36 dann liegt echte, d. h. rechtsgeschäftliche, Vollmacht vor. Im zweiten Fall ist es für den Vertreter deutlich, daß eine Innenvollmacht nicht gewollt ist, für den Dritten dagegen entsteht der Eindruck, daß eine solche in der Vergangenheit erteilt worden ist; dann läßt sich die Problematik mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre nicht lösen.37 Nur von diesem zweiten Fall der Duldungsvollmacht, dem konkludenten Verhalten mit deklaratorischem Sinn, ist im folgenden die Rede. [42] Er ist entgegen der h. L. als Tatbestand der Scheinvollmacht anzusehen und läßt sich ohne weiteres in das hier entwickelte System der Vertrauenshaftung einordnen: es handelt sich um einen Fall der Bindung an einen wissentlich geschaffenen Scheintatbestand;38 denn durch sein Dulden hat der Geschäftsherr bei dem Dritten bewußt den Eindruck entstehen lassen, es sei eine Bevollmächtigung erfolgt. Dabei mag hier dahinstehen, ob man das mit einer analogen Anwendung des § 171 I BGB begründen kann oder ob unter „Mitteilung“ i. S. dieser Vorschrift nur ausdrückliche, nicht auch schlüssige Erklärungen zu verstehen sind;39 jedenfalls kann kein Zweifel daran sein, daß die Duldungsvollmacht angesichts einer kontinuierlichen, weit in das vorige Jahrhundert zurückreichenden Rechtsprechung und angesichts der i. E. einmütigen Zustimmung der Wissenschaft heute als gewohnheitsrechtlich gesichert anzusehen ist. 2. Mit dieser systematischen Einordnung ist zugleich schon entschieden, daß die Duldungsvollmacht – im Gegensatz zur Anscheinsvollmacht40 – nicht auf das Handelsrecht beschränkt, sondern ein Institut des allgemeinen bürgerlichen Rechts ist. Das
35 Mit Recht weist Krause aaO. S. 139 f. darauf hin, daß nicht einmal vom Standpunkt der Erklärungstheorie eine echte Vollmacht vorliegt; unzutreffend Macris aaO. S. 54 ff. (55) in Widerspruch zu seinen eigenen richtigen Ausführungen S. 59 ff. 36 Letzteres wird allerdings praktisch kaum vorkommen. 37 Richtig daher insoweit von Tuhr II 2 S. 393 ff. 38 Dieser ist schon dann bewußt geschaffen, wenn die Zahl der Fälle, in denen der Geschäftsherr das Handeln des Vertreters gekannt hat, für den Rückschluß auf die Vollmacht objektiv ausreicht; nicht erforderlich ist also, daß er alle Fälle kannte, und vollends unerheblich ist, ob er von dem Agieren des Vertreters gerade hinsichtlich des jeweils in Frage stehenden Geschäfts und gerade mit diesem Dritten wußte oder auch nur wissen konnte: wer den Scheintatbestand bewußt schafft, trägt die damit verbundenen Gefahren, insbesondere das „Irreführungsrisiko“, vgl. oben S. 30 und unten S. 482. 39Vgl. dazu unten § 10 II. 40 Vgl. unten § 18 II.
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wird von den Vertretern der Rechtsgeschäftstheorie ohne weiteres anerkannt,41 weil sie ja eine gewöhnliche konkludente Willenserklärung annehmen. Es wird dagegen von den Anhängern der Rechtsscheinlehre teilweise verkannt, weil nicht hinreichend zwischen den Tatbeständen der Duldungs- und der Anscheinsvollmacht differenziert wird.42 Dieser Unterschied ist jedoch auch vom Boden der Rechtsscheintheorie von höchster Bedeutung, weil sich nur die Duldungsvollmacht als Vertrauenshaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestandes erklären läßt. Dieses Prinzip aber ist nicht ein solches des Handelsrechts, sondern verdient im gesamten Zivilrecht Anerkennung. Die Gründe, die es tragen, weisen keinerlei handelsrechtliche Besonderheiten auf: auch ein Nichtkaufmann „kann sich nicht beklagen“, wenn er an einen Rechtsschein, den er bewußt gesetzt hat, gebunden wird, und auch im nichtkaufmännischen Verkehr darf sich der gutgläubige Dritte darauf verlassen, daß ihm nicht bewußt ein der Wahrheit widersprechender Sachverhalt vorgetäuscht wird. Spezifisch handelsrechtliche Gesichtspunkte wie das [43] gesteigerte Verkehrsschutzinteresse und die damit verbundene Tendenz zur Typisierung43 oder die besonderen kaufmännischen Sorgfaltspflichten44 spielen für die Duldungsvollmacht anders als für die Anscheinsvollmacht keine Rolle. 3. Mit der Einordnung der Duldungsvollmacht in die Rechtsscheinhaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestandes ist auch bereits die Grundlage gegeben, von der aus die Problematik der Willensmängel zu lösen ist.45 Die Frage liegt hier insofern anders als bei der „Anscheinsvollmacht“, als der Geschäftsherr das Handeln des Vertreters kennt und nicht nur kennen müßte; der wichtigste Fall eines Irrtums über die Bedeutung seines Verhaltens scheidet damit von vornherein aus. Denkbar ist jedoch im Gegensatz zu dieser Unkenntnis der zugrunde liegen41 Vgl. z. B. Flume aaO. S. 830; für Manigk (vgl. aaO. S. 659 f. und Das rechtswirksame Verhalten S. 282) gilt dies allerdings nicht, doch erklärt sich das daraus, daß er auch die Problematik der „Anscheinsvollmacht“ (im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs) mit seiner – an sich der Rechtsgeschäftstheorie zuzurechnenden – Lehre lösen will. 42 Vgl. z. B. Krause aaO. S. 156; vgl. auch Fabricius aaO. S. 57 mit Fn. 57, der allerdings nicht die Rechtsschein- sondern die „Haftungstheorie“ vertritt, vgl. unten S. 198. 43 Vgl. dazu vor allem Manigk aaO. S. 663 f. 44 Vgl. z. B. die Hinweise auf „handelsrechtliche Erklärungspflicht“ bei Manigk aaO. S. 665 (ähnlich z. B. S. 662) und auf die „erhöhte Überwachungspflicht“ eines Kaufmanns bei Krause aaO. S. 156. 45 Gegen jede Berücksichtigung Krause aaO. S. 157 ff. (Krauses Ansicht beruht auf der begriffsjuristischen Voraussetzung, ein Scheintatbestand könne nicht angefochten werden, vgl. dazu allgemein unten S. 453 f.; zu dem von Krause angeschnittenen Problem des Verhältnisses von Scheinvollmacht und Mängeln der echten Vollmacht vgl. unten S. 112 f., insbesondere Fn. 11). Wie Krause auch die h. L.; vgl. Wellspacher aaO. S. 98 und 100; Enn.-Nipperdey § 184 II 4 a. E.; Staudinger-Coing Rdz. 7 vor § 116; zu eng auch Macris aaO. S. 197 f., der nur die Anfechtung nach § 123 BGB, nicht nach § 119 zulassen will.
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den Tatsachen ein Irrtum lediglich über die Konkludenz des Handelns. Dieser ist grundsätzlich relevant;46 denn wenn der Vertretene gar nicht damit rechnet, daß der Dritte aus seinem Verhalten auf das Vorliegen einer Innenvollmacht schließen könnte, schafft er nicht wissentlich einen Scheintatbestand gegenüber dem anderen. Im übrigen ist auch hier letztlich entscheidend wieder die funktionelle Gleichstellung und damit die Gleichbehandlung mit der echten Außenvollmacht: wer eine Außenvollmacht durch konkludentes Verhalten erteilt, ist daran nach den Regeln über das Fehlen des Erklärungsbewußtseins nicht gebunden, wenn er nicht um die Schlüssigkeit seines Handelns weiß; denn für die Vollmacht gilt insoweit nichts anderes als für jede andere Willenserklärung auch. Eine deklaratorische Bekundung der Vollmacht aber in diesem Punkt anders zu beurteilen als ihre konstitutive Erteilung gegenüber dem Dritten, besteht hier ebenso wenig ein Anlaß wie hinsichtlich der oben erörterten Irrtumsproblematik in den Fällen der §§ 171 I, 172 I. Soweit allerdings die Berufung auf einen Irrtum über die Konkludenz bei Willenserklärungen ausgeschlossen ist, muß sie es auch hier sein. Nach der oben47 vertretenen Ansicht ist das dann der Fall, wenn die Bedeutung des Verhaltens evident ist, der Geschäftsherr vor [44] ihr geradezu die „Augen verschlossen“ hat; nach der unten48 entwickelten Theorie von der „Vertrauenshaftung kraft verkehrsmäßig typisierten Verhaltens“ gilt das ferner im Handelsrecht, sofern die Bedeutung des Verhaltens durch Handelsbrauch oder Verkehrssitte typisiert ist. Im übrigen wird ein Schlüssigkeitsirrtum auch kaum je vorkommen, geschweige denn nachzuweisen sein. Nicht ganz zu Unrecht meint Schlossmann, ein derartiger Fall sei „eigentlich gar nicht anders möglich, als wenn der Kaufmann ein Idiot wäre; ... . Wer würde denn einem geistig normalen Menschen, der sich so verhalten hat, glauben, daß er diese Bedeutung seines Verhaltens nicht gekannt habe“?49 In der Tat gilt auch hier, was oben50 zum entsprechenden Problem beim Rechtsgeschäft ausgeführt wurde: der Handelnde wird in aller Regel wissen, welche Schlüsse ein Dritter aus seinem Verhalten ziehen kann, er wird nur damit rechnen, für dieses Verhalten nicht einstehen zu müssen, – was einem geheimen Vorbehalt,51 einem Motivirrtum oder einem Rechtsfolgeirrtum,52 aber niemals einem rechtlich relevanten Irrtum entsprechen kann. 46 Soweit im Schrifttum die gegenteilige Ansicht vertreten wird, hängt dies ausnahmslos damit zusammen, daß anders als hier Anscheins- und Duldungsvollmacht gleich behandelt werden, vgl. z. B. Manigk aaO. S. 658 ff.; Macris aaO. S. 189; dann ist es natürlich folgerichtig, einem Irrtum über die Konkludenz die Bedeutung zu versagen, sofern dieser, wie regelmäßig, auf Fahrlässigkeit beruht. 47 Vgl. S. 23. 48 Vgl. § 20 I. 49 Die Lehre von der Stellvertretung II S. 509. 50 Vgl. S. 20 f. mit Fn. 23 und unten S. 420 f. 51 In der Praxis wird der Geschäftsherr sich verhältnismäßig oft innerlich vorbehalten, den Dritten darauf zu verweisen, sein Schluß aus dem Dulden sei eben falsch gewesen, – je nach-
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Eng verwandt ist der Fall, daß der Geschäftsherr sich zwar der Schlüssigkeit seines Verhaltens bewußt ist, jedoch erwartet, der Dritte werde das Fehlen einer Vollmacht erkennen; möglich ist sowohl eine „Scherzerklärung“ wie eine „fehlgeschlagene Scheinerklärung“. Man denke etwa daran, daß jemand sich im Beisein des Vertretenen als dessen Bevollmächtigter bezeichnet und dieser dazu schweigt, – sei es, weil er das Ganze für einen Scherz hält und erwartet, der Dritte werde dies auch tun, sei es, weil ein anwesender Vierter getäuscht werden soll und der Geschäftsherr irrtümlich annimmt, der Dritte werde den Scheincharakter durchschauen. In derartigen Fällen tritt keine Bindung kraft Duldungsvollmacht ein, weil der Vertretene sich des Rechtsscheins insoweit nicht bewußt war. Der Tatbestand entspricht vielmehr dem des § 118 BGB, und daher greifen dieselben Rechtsfolgen ein: nicht Erfüllungshaftung, sondern Verpflichtung zum Ersatz des negativen Interesses analog § 122 BGB.53 Nichts anderes gilt für die übrigen Willensmängel. Die Geltendmachung einer Drohung ist daher analog § 123 I BGB zulässig, wenn der Geschäftsherr durch diese zu der Duldung bestimmt worden ist; davon kann natürlich keine Rede sein, wenn er nach dem Aufhören der Zwangslage auch weiterhin das Auftreten des Vertreters [45] geduldet hat. Für die Relevanz einer arglistigen Täuschung kommt es analog § 123 II 1 auf die Person des Dritten an, nicht auf die des Vertreters. Auch ein Eigenschaftsirrtum nach § 119 II ist wie bei einer entsprechenden Außenvollmacht zu behandeln; der Geschäftsherr ist also beispielsweise nicht gebunden, wenn er durch einen Irrtum über die Person des Dritten oder des Vertreters zu der Duldung bestimmt worden ist.54 Selbstverständlich gilt auch bei der Duldungsvollmacht die oben55 entwickelte Einschränkung der Berücksichtigung von Willensmängeln: sofern es sich um die Deklaration einer Vollmacht handelt, die auf den Abschluß von Rechtsgeschäften mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen gerichtet ist – was bei der Duldungsvollmacht verhältnismäßig oft der Fall sein wird –, ist die Berücksichtigung des Mangels zugunsten Gutgläubiger ausgeschlossen. Im übrigen sind Willensmängel, die für das Dulden kausal waren, unter denselben Voraussetzungen wie bei einer entsprechenden (konkludenten) Außenvollmacht zu beachten. dem, ob er das Vertretergeschäft für vorteilhaft hält oder nicht. In derartigen Fällen wird wieder besonders deutlich, daß die Bindung an einen bewußt gesetzten Rechtsschein der Unbeachtlichkeit der Mentalreservation bei Willenserklärungen entspricht, vgl. allgemein unten S. 420 Fn. 37. 52 Vgl. auch Manigk aaO. S. 650 ff. 53 Vgl. auch unten § 44 II 2. 54 Voraussetzung ist allerdings, daß man einen solchen Irrtum bei der Außenvollmacht überhaupt als Anfechtungsgrund anerkennt, vgl. dazu z. B. Rosenberg, Stellvertretung im Prozeß S. 736 ff. einerseits, Planck-Flad § 167 Anm. 4 a andererseits. Daß der Vertreter nicht „Geschäftsgegner“ der Außenvollmacht ist, schließt die Anfechtung wegen Irrtums über seine Person nicht notwendig aus, vgl. statt aller Staudinger-Coing § 119 Rdz. 25. 55 Vgl. S. 36 f.
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4. Die Duldungsvollmacht ersetzt wie jeder Scheintatbestand nur gerade das Tatbestandsmerkmal bzw. die Wirksamkeitsvoraussetzung, hinsichtlich deren Rechtsscheinregeln gelten. Sie ersetzt also nur das Fehlen der Vollmacht, heilt dagegen nicht andere Mängel, insbesondere nicht Mängel des Vertretergeschäftes. Das wird verkannt, wenn man wie FIKENTSCHER56 und der BGH57 annimmt, bei der Scheinvollmacht sei ein „Vertretungswille“ des Vertreters nicht erforderlich. Zwar kommt es hinsichtlich der Frage, ob der Vertreter den Geschäftsherrn oder sich selbst verpflichten wollte, in der Tat nur darauf an, wie der Dritte sein Verhalten insoweit deuten durfte,58 doch ist es schon im Ausgangspunkt verfehlt, dies in irgendeinen Zusammenhang mit den Besonderheiten der Scheinvollmacht zu bringen;59 es ergibt sich vielmehr aus den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen, wonach für die Auslegung einer Willenserklärung grundsätzlich die Verständnismöglichkeit des Adressaten maßgeblich ist. Eine ganz andere Frage ist, ob § 119 I BGB eingreift, wenn das Handeln des Vertreters bei objektiver Deutung als ein solches in fremdem Namen anzusehen war, dieser subjektiv aber die Erklärung im eigenen Namen abgeben wollte. Es liegt dann ein Inhaltsirrtum i. S. des § 119 I vor. Daß dennoch die Erklärung ausnahmsweise nicht anfechtbar sein soll, kann jeden- [46] falls nicht aus den Regeln über die Scheinvollmacht geschlossen werden;60 denn danach wird, wie gesagt, nur der Mangel der Vollmacht, nicht aber ein Mangel des Vertretergeschäftes geheilt. Es könnte sich allenfalls aus einer „Umkehrung“ des § 164 II BGB ergeben, doch würde das voraussetzen, daß diese allgemein, d. h. auch für den Fall einer echten, fehlerfreien Vollmacht anzunehmen wäre.61 Eine solche Umkehrung ist jedoch, wie FLUME überzeugend
Vgl. AcP 154, 13 ff. BGH LM Nr. 2 zu § 2032 BGB; zustimmend Lehmann-Hübner § 36 V b γ α α. 58 Vgl. die Begründung Fikentschers und des BGH aaO. 59 So aber ersichtlich Fikentschers und der BGH aaO. 60 Eine Ausnahme wird man insoweit allerdings machen müssen, wenn durch die Irrtumsanfechtung der Sache nach doch nur das Fehlen der Vollmacht geltend gemacht wird. So dürfte es in dem vom BGH LM Nr. 2 zu § 2032 entschiedenen Fall gelegen haben. Hier hatte ein Miterbe ein zum Nachlaß gehöriges Baugeschäft im Innenverhältnis allein übernommen; nach außen war jedoch der Schein entstanden, das Geschäft werde von ihm im Namen der gesamten Erbengemeinschaft geführt. Hier ist es tatsächlich sinnvoll, eine Anfechtung auszuschließen, die darauf gestützt wird, der handelnde Miterbe habe nur im eigenen Namen auftreten wollen, also keinen Vertreterwillen gehabt; denn dieser Willensmangel kann nur durch die Aufdeckung des Innenverhältnisses bewiesen werden, und der Sinn des Instituts der Scheinvollmacht ist gerade, den Dritten vor solchen unerkennbaren internen Abreden zu schützen. Man kann daher hier in der Tat sagen, die Anfechtung laufe im Ergebnis nur auf die Geltendmachung des Fehlens der Vollmacht hinaus; denn es geht hier – im Gegensatz zum Normalfall – gar nicht darum, das Vertretergeschäft als ganzes hinfällig zu machen, sondern nur darum, die Mithaftung der übrigen Gesellschafter trotz eines entsprechenden Rechtsscheins zu beseitigen. 61 Umgekehrt will Fikentscher aaO. S. 15 ff. aus der angeblichen Unerheblichkeit des „Vertretungswillens“ bei der Scheinvollmacht Rückschlüsse auf die Lage bei der echten Vollmacht 56 57
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dargetan hat,62 mit der ratio legis des § 164 II nicht vereinbar.63 Das Fehlen des Vertreterwillens macht das Vertretergeschäft daher anfechtbar, bei einer Scheinvollmacht nicht anders als bei einer echten Vollmacht. III. Die Scheinvollmacht kraft Einräumung einer Stellung Die konkludente Deklaration einer Vollmacht kann nicht nur in einem „Dulden“ der Tätigkeit des Vertreters liegen, sondern auch in der Übertragung einer bestimmten Stellung. Das kommt insbesondere dann in Betracht, wenn nach der Verkehrsanschauung mit der Einräumung einer solchen Position typischerweise die Erteilung von Vertretungsmacht verbunden ist. 1. Auch hier ist die Abgrenzung gegenüber der echten Vollmacht problematisch. Wieder geht es um die Frage, ob der Dritte davon ausgeht, daß die Vollmacht im [47] Innenverhältnis erteilt sei oder nach außen erteilt werde, ob also in der Anstellung insoweit ein deklaratorischer oder ein konstitutiver Akt zu sehen ist. Gewiß wäre es nun ganz lebensfremd, eine Außenvollmacht durch Erklärung gegenüber dem Dritten anzunehmen; man müßte dann unterstellen, daß diese durch das bloße Agieren des Vertreters jeweils an den Dritten übermittelt würde, daß jener die Vollmacht sozusagen als wandelnder Bote mit sich trüge – eine abwegige Konstruktion. Es ist jedoch zu bedenken, daß eine Bevollmächtigung auch durch Erklärung an die Öffentlichkeit möglich ist.64 Eine solche in der Übertragung einer bestimmten Position, mit der üblicherweise Vertretungsmacht verbunden ist, zu erblicken, ist, anders als bei der Duldungsvollmacht,65 keineswegs von vornherein ausgeschlossen. Es läge dann eine konkludente Erklärung an die Öffentlichkeit vor. Indessen hat auch diese Konstruktion für den Regelfall etwas Künstliches:66 wer z. B. mit einem Vermögensverwalter oder einem Gutsverwalter verhandelt, sieht nicht in dem Anstellungsakt eine besondere Legitimation gegenüber der Allgemeinheit, sondern setzt voraus, daß diesem eine entsprechende Vollmacht im Innenverhältnis zugrunde liegt. Letztlich dürfte die ganze Entwickziehen. Das ist aus den im Text dargelegten Gründen nicht zu billigen, von Fikentschers Ausgangspunkt aus aber folgerichtig. 62 Vgl. § 44 III; vgl. auch Staudinger-Coing § 164 Rdz. 5; Enn.-Nipperdey § 178 II 2 vor a. 63 Aus den Ausführungen von Flume aaO. erhellt auch, daß § 164 II BGB nicht etwa ein Fall der „Vertrauenshaftung“ ist, sondern seine Rechtfertigung unabhängig von allen Vertrauensgesichtspunkten findet. A. A. z. B. Manigk, Das rechtswirksame Verhalten S. 287; Jacobi, Die Theorie der Willenserklärungen S. 11 Fn. 1 a. E. (Rechtsscheinhaftung); Riezler, Venire contra factum proprium, S. 122 (Rechtsscheinhaftung); Weimar MDR 59, 905. 64 Das ergibt sich aus analoger Anwendung von § 171 I BGB. 65 In das bloße Gewährenlassen kann man schlechterdings kein konstitutives Element hineindeuten, auch nicht im Verhältnis zur „Allgemeinheit“. 66 Vgl. auch Wellspacher aaO. S. 101 ff.
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lung der Theorie von der „Erklärung an die Öffentlichkeit“, die auch in § 171 I BGB ihren Niederschlag gefunden hat, nur darauf zurückzuführen sein, daß Rechtsprechung und Lehre ausschließlich im Banne des Willensdogmas standen und deshalb gar nicht auf den Gedanken kamen, die Problematik der deklaratorischen Erklärungen, um deren Bewältigung es in Wahrheit geht, durch die Herausarbeitung eigenständiger Regeln zu lösen. Diese aber finden ihre ratio iuris im Rechtsscheingedanken.67 Dementsprechend sollte man auch hier nicht mit einer konkludenten Willenserklärung an die Öffentlichkeit arbeiten, sondern anerkennen, daß in der Einräumung einer bestimmten Position im Normalfall allenfalls die konkludente Deklaration einer bestehenden Innenvollmacht liegt. 2. Auch für diese muß der Geschäftsherr jedoch grundsätzlich einstehen, da er wissentlich einen Scheintatbestand schafft, wenn er nicht wirklich eine Vollmacht erteilt hat. Voraussetzung ist allerdings das Bewußtsein, daß mit der Übertragung der fraglichen Stellung nach der Verkehrssitte typischerweise die Erteilung einer Innenvollmacht verbunden ist. Es gilt dasselbe, was oben zur „Duldungsvollmacht“ ausgeführt wurde.68 Insbesondere ist zu beachten, daß ein Irrtum über die Verkehrssitte und die daraus folgende Schlüssigkeit des Verhaltens nur sehr selten vorliegen wird und daß an einen entsprechenden Nachweis verhältnismäßig scharfe Anforderungen zu stellen sind. Gelingt dieser jedoch, so ist für eine Rechtsscheinhaftung im [48] bürgerlichen Recht grundsätzlich kein Raum; inwiefern im Handelsrecht Besonderheiten gelten, ist in diesem Zusammenhang nicht zu erörtern.69 Auch im übrigen, z. B. hinsichtlich sonstiger Willensmängel, ist in vollem Umfang auf die Ausführungen zur „Duldungsvollmacht“ zu verweisen. Die Scheinvollmacht kraft Anstellung unterscheidet sich von ihr nur darin, daß es hier um eine Erklärung durch positives Tun, dort um eine „Erklärung“ durch Dulden geht; gemeinsam ist beiden Tatbeständen, daß es sich um die Schaffung eines Scheintatbestandes durch konkludentes Verhalten mit deklaratorischem Sinn handelt. IV. Die „Anscheinsvollmacht“ im bürgerlichen Recht Von einer Anscheinsvollmacht spricht man im Anschluß an die Rechtsprechung des BGH dann, wenn der Vertretene das Handeln des Vertreters „zwar nicht kannte, es aber bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte kennen und verhindern können und der Geschäftsgegner das Verhalten des Vertreters nach Treu und Glauben dahin auffassen durfte, daß es dem Vertretenen bei verkehrsmäßiger Vgl. eingehend unten § 14 II. Vgl. S. 43 f. 69 Vgl. unten § 18 I. 67 68
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Sorgfalt nicht habe verborgen bleiben können und daß dieser es also dulde“.70 Diese Terminologie ist wenig glücklich, weil sie, vor allem durch die ständige Gegenüberstellung mit der Duldungsvollmacht, den Eindruck entstehen läßt, als handele es sich hier um den eigentlichen oder gar um den einzigen Fall der Scheinvollmacht. In Wahrheit sind, wie gezeigt, auch die §§ 171 I, 172 I BGB und ein Teil der Fälle der Duldungsvollmacht Tatbestände der Scheinvollmacht, und die sogenannte Anscheinsvollmacht ist diesen gegenüber dogmatisch nicht der Normalfall, sondern die Ausnahme. Ihre Besonderheit liegt in der Abschwächung der Anforderungen, die an die Zurechenbarkeit des Scheintatbestandes gestellt werden: während dem Vertretenen in den bisher erörterten Fällen bewußt war, daß Dritte auf das Vorliegen einer Vollmacht schließen könnten, soll es hier genügen, daß der Vertretene dies lediglich wissen mußte. An die Stelle der bewußten Schaffung eines Scheintatbestandes tritt also dessen lediglich fahrlässige Verursachung. Es fragt sich, ob das für eine Haftung nach Rechtsscheingrundsätzen genügt. Das in der Rechtsprechung entwickelte Institut der „Anscheinsvollmacht“ hat im Schrifttum ganz überwiegend Zustimmung gefunden, und zwar, worauf es im vorliegenden Zusammenhang allein ankommt, auch insoweit, als der BGH71 seine [49] Anerkennung nicht auf das Handelsrecht beschränkt, sondern allgemein auf das bürgerliche Recht ausdehnt.72 Auf grundsätzliche Ablehnung ist diese Lehre vor allem bei FLUME73 gestoßen. Dieser will in den einschlägigen Fällen lediglich Ansprüche aus culpa in contrahendo gewähren, und wenn seiner Begründung in der Grundhaltung auch nicht gefolgt werden kann, weil sie sich ihrer inneren Konsequenz nach nicht nur gegen die besondere Form der „Anscheinsvollmacht“, sondern gegen die Möglichkeit einer Rechtsscheinhaftung schechthin
70 Vgl. BGH LM Nr. 4 zu § 167 BGB 1. Leitsatz; vgl. ferner BGHZ 5, 111 (116); BGH LM Nr. 8, 10, 11, 13 zu § 167 BGB; Nr. 9 zu § 164; Nr. 3 zu § 157 (Ga); Nr. 1 zu § 1357; Nr. 2 zu § 2032 BGB. In der Rechtsprechung des RG wurde zwischen Duldungs- und Anscheinsvollmacht weder der Sache noch der Terminologie nach unterschieden, vgl. die Darstellung der älteren Rechtsprechung bei Krause aaO. S. 22 ff. und bei Macris aaO. S. 9 ff. 71 Vgl. BGH LM Nr. 1 zu § 1357 BGB; Nr. 4 zu § 167 BGB; Nr. 2 und 9 zu § 164 BGB; vgl. auch schon RG DR 1942, 172. 72 Zustimmend Fikentscher AcP 154, 5 f.; Westermann JuS 63, 6; Enn.-Nipperdey § 184 II 3 c bei Fn. 29; Soergel-Schultze-von Lasaulx § 167 Rdz. 22; RGR-Komm. (Kuhn) § 167 Anm. 7; Erman-Böhle-Stamschräder § 167 Anm. 4; Palandt-Danckelmann §§ 170 ff. Anm. 4; der Sache nach wohl auch Lehmann-Hübner § 36 V 2 b γ; unklar Staudinger-Coing § 167 Rdz. 9 t. Aus dem älteren Schrifttum vgl. schon Heymann, RG-Festschrift IV, 1929, S. 330 f.; Macris aaO. S. 206 f.; Stoll AcP 135, 112. 73 Vgl. JT-Festschrift I S. 180 ff. und aaO. § 49, 4; i. E. ebenso schon Titze JW 1925, 1753; Lenz JR 1931, 151; wie Flume jetzt Medicus § 5 III 3 c; Diederichsen, Der Allgemeine Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches für Studienanfänger, 1969, Rdz. 300; z. T. auch Larenz A. T. § 37 IV b; ähnlich i. E. ferner Rothoeft, System der Irrtumslehre als Methodenfrage der Rechtsvergleichung, 1968, S. 97 f., der die §§ 119, 122 analog anwenden will.
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richtet,74 so wird in diesem Ergebnis seiner Kritik doch in der Tat der entscheidende Einwand gegen die h. L. sichtbar: dieser ist wieder die Frage entgegenzuhalten, warum sie unter Mißachtung der „Zweispurigkeit“ des Vertrauensschutzes75 ohne weiteres Erfüllungsstatt Schadensersatzansprüche zuspricht. Das aber ist ein Bedenken, das die h. L. nicht einmal gesehen, geschweige denn ausgeräumt hat. Sie beschränkt sich vielmehr auf den allgemeinen Hinweis, die Anscheinsvollmacht finde ihre Rechtfertigung in § 242 BGB und sei daher ein Institut des allgemeinen bürgerlichen Rechts, nicht nur des Handelsrechts.76 Darüber, daß diese Begründung unzureichend ist, braucht nach den bisherigen Ausführungen77 kein Wort mehr verloren zu werden: aus § 242 läßt sich allenfalls ableiten, daß überhaupt Vertrauensschutz zu gewähren ist, i. d. R. aber nicht, welche Art des Schutzes angemessen ist.78 Auch mit der Annahme eines Gewohnheitsrechts kann man insoweit allenfalls für das Handelsrecht, nicht aber für das bürgerliche Recht arbeiten. Am ehesten erschiene daher noch eine Weiterbildung der gesetzlich anerkannten Fälle der Scheinvollmacht in den §§ 171 I, 172 I und der Regeln über die Duldungs- [50] vollmacht als tragfähige Begründung.79 Indessen fehlt bei diesen gerade jenes Element, das die entscheidende Besonderheit der „Anscheinsvollmacht“ ausmacht: die Unkenntnis des Geschäftsherrn vom Vorliegen eines Scheintatbestandes. Denn wer einem anderen Mitteilung über eine erfolgte Bevollmächtigung macht, wer eine Vollmachtsurkunde in den Verkehr bringt oder wer das Auftreten eines falsus procurator längere Zeit duldet, der weiß, daß Dritte nunmehr u. U. vom Bestehen einer Vollmacht ausgehen werden; wer dagegen nur deswegen gegen das Auftreten eines Scheinvertreters nichts unternimmt, weil er es nicht kennt, der hat ein derartiges „Mitteilungsbewußtsein“ nicht. Daran muß die Analogie scheitern,80 zumal wenn man mit der richtigen Ansicht grundsätzlich die Vorschriften über Willensmängel auf die Scheinvollmacht entsprechend anwendet: wenn Willensmängel generell berücksichtigt werden, muß das auch für 74 Vgl. näher unten § 34 II 1. Eine weitere Schwäche der Lehre Flumes liegt darin, daß er ersichtlich auch für das Handelsrecht keine Ausnahme zulassen will, vgl. dazu unten § 18 II. 75 Vgl. oben § 2 II. 76 Vgl. die Zitate oben Fn. 72. 77 Vgl. insbesondere S. 18 f. 78 Der Ausnahmefall einer „Erfüllungshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit“ scheidet hier ohne weiteres aus. 79 So vor allem Macris aaO. S. 200 ff.; ähnlich Enn.-Nipperdey § 184 II 3 c. – Macris faßt die Tatbestände der §§ 171, 172 unter dem Begriff der Vollmachtskundgebung zusammen (vgl. S. 116 ff., 140 ff., 154 ff.), stellt dem die konkludente Kundgabe gleich und subsumiert dann unter diese ohne weiteres die Fälle der Anscheinsvollmacht. Abgesehen davon, daß das ein Musterbeispiel schlechtester Begriffsjurisprudenz ist, ist die Subsumtion auch logisch verfehlt: aus der Gleichstellung der konkludenten Kundgabe folgt in keiner Weise, daß es auf ein Kundgebungsbewußtsein nicht ankommt (vgl. aber Macris aaO. S. 202). 80 Vgl. auch Manigk aaO. S. 603 Fn. 22 und S. 634; Krause aaO. S. 156.
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das Fehlen des „Mitteilungsbewußtseins“, das dem Fehlen des „Erklärungsbewußtseins“ entspricht, gelten.81 Damit ist bereits der Grund berührt, der entscheidend gegen die Anerkennung der „Anscheinsvollmacht“ im allgemeinen bürgerlichen Recht spricht. Wenn nämlich der Geschäftsherr ohne Erklärungsbewußtsein durch (schein)konkludentes Verhalten dem Dritten gegenüber den Anschein erweckt, er erteile jemandem Vollmacht, wenn also eine scheinkonkludente Außenvollmacht vorliegt, so ist darin anerkanntermaßen gar keine oder allenfalls eine anfechtbare Willenserklärung zu sehen. Wenn er nun aber ohne Mitteilungsbewußtsein durch (schein)konkludentes Verhalten den Schein schafft, er habe jemandem Vollmacht erteilt, wenn also die scheinkonkludente Deklaration einer Innenvollmacht in Frage steht,82 so kann er unmöglich schärfer haften.83 Alles andere müßte zu nicht zu rechtfertigenden Wertungswidersprüchen führen. Man muß sich also entweder entschließen, bei der konkludenten Erteilung einer Außenvollmacht eine unanfechtbare Bindung des Geschäftsherrn trotz fehlenden Erklärungsbewußtseins zu bejahen, oder aber man muß das Institut der Anscheins- [51] vollmacht für das bürgerliche Recht aufgeben. Im ersten Falle müßte man dartun, warum gerade bei der Außenvollmacht in dieser Hinsicht anderes als bei den übrigen Willenserklärungen gelten soll – ein Unterfangen, das mangels jeglicher gesetzlicher Anhaltspunkte von vornherein zum Scheitern verurteilt sein dürfte; oder man müßte begründen, warum allgemein konkludentes Verhalten insoweit strenger als ausdrückliche Erklärungen zu behandeln ist – womit man sich in die oben84 eingehend dargelegten Widersprüche der Lehre Coings verstricken würde. Die Lösung kann daher nur im zweiten Sinne ausfallen: das Institut der Anscheinsvollmacht verdient nach geltendem bürgerlichem Recht keine Anerkennung. Wieder erweist sich also die Irrtumsregelung des BGB als unüberschreitbare Schranke für einen umfassenden Ausbau der Rechtsscheinhaftung. Nur dort, wo wissentlich ein Scheintatbestand geschaffen wird, droht nicht die Gefahr von Wertungswidersprüchen. Man mag das rechtspolitisch kritisieren, de lege lata ist die Entscheidung des Gesetzgebers jedenfalls verbindlich. Sie ist indessen grundsätzlich85 auch de lege ferenda zu billigen; denn wenn jemand sich der Scheinkonkludenz seines Verhaltens nicht bewußt ist, tritt die Härte der Rechtsscheinhaftung Vgl. oben S. 36, 43. Darum geht es bei der „Anscheinsvollmacht“; die Ausführungen zur Duldungsvollmacht oben S. 40 f. gelten insoweit entsprechend. 83 A. A. Macris aaO. S. 202 auf Grund seiner begriffsjuristischen Einstellung. Macris sieht zwar den Wertungswiderspruch zur gesetzlichen Behandlung der Außenvollmacht, setzt sich über ihn aber hinweg, weil er dieses Institut überhaupt ablehnt (vgl. S. 122 ff.); eine solche Argumentation, die die Wertung des Gesetzes zweifach vergewaltigt, ist nicht vertretbar. 84 Vgl. § 4 III. 85 Im Handelsrecht gelten Ausnahmen, vgl. unten §§ 18 ff. 81 82
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besonders deutlich zu Tage, weil sie nicht durch das Korrektiv erhöhter Zurechenbarkeit ausgeglichen wird.86 Es wäre daher auch verfehlt, die Anscheinsvollmacht etwa mit der Begründung zu rechtfertigen, für den Dritten liege es genauso wie bei der Duldungsvollmacht und er müsse daher auch genauso geschützt werden; denn es sind die Interessen zweier Personen im Spiel, und die des Geschäftsherrn sind hier fraglos stärker schutzwürdig als bei der Duldungsvollmacht. Die Bedenken werden auch nicht dadurch ausgeräumt, daß man die Haftung nur bei Fahrlässigkeit des Geschäftsherrn bejaht. Abgesehen davon, daß das bei der Rechtsscheinhaftung systemwidrig ist,87 sind nach dem BGB unzweifelhaft auch verschuldete Irrtümer, insbesondere das verschuldete Fehlen des Erklärungsbewußtseins, relevant. Aus einer fahrlässigen Pflichtverletzung88 folgt nach geltendem Recht eben keine Erfüllungshaftung, sondern nur Schadensersatzhaftung;89 warum diese zur Lösung des Problems der Anscheinsvollmacht unzureichend oder auch nur unbefriedigend sein soll, ist grundsätzlich nicht einzusehen. Jedenfalls bedürfte es besonderer Gründe, um an die Stelle des „negativen“ Vertrauensschutzes den „positiven“ zu setzen. Diese sind, wie noch zu zeigen sein wird,90 in der Tat im Handelsrecht gegeben: dort geht es darum, den Verkehr vor den mit der arbeitsteiligen Organisation eines kaufmännischen Unternehmens verbundenen spezifischen Gefahren zu schützen. [52] Es ist daher kein Zufall, daß sich das Institut der Anscheinsvollmacht im Handelsrecht entwickelt hat, und zwar gerade an Fällen, in denen Organisationsrisiken eine maßgebliche Rolle spielten.91 Dem entspricht es, daß im bürgerlichen Recht überhaupt kein praktisches Bedürfnis für die Anerkennung der Anscheinsvollmacht besteht. Der BGH hat sich bisher, soweit ersichtlich, nur in drei Fällen mit der Anscheinsvollmacht außerhalb des Handelsrechts und des kaufmannsähnlichen Geschäftsverkehrs zu befassen gehabt und zudem in allen drei Fällen die Anwendung der Regeln über die Anscheinsvollmacht i. E. abgelehnt.92 Soweit die Problematik im bürgerlichen Recht auftaucht, geht es typischerweise entweder um Rechtsanwälte und Inhaber größerer Bauernhöfe oder um Verwandte des Geschäftsherrn. In den ersten beiden Fällen sind, soweit eine kaufmannsähnliche Organisation vorliegt, in Fortbildung der heute nicht mehr voll zeitgerechten §§ 1 ff. HGB die Grundsätze des Handelsrechts anwendbar;93 im zweiten Fall dagegen würde die Anscheinsvollmacht i. E. zu einer gesetzlich Vgl. dazu oben S. 29. Vgl. unten S. 477 ff. 88 Zur Lehre von der Obliegenheitsverletzung vgl. unten S. 198 f. 89 Zur abweichenden Ansicht von Fabricius vgl. unten S. 198. 90 Vgl. unten § 18 II. 91 Vgl. unten S. 192 f. 92 Vgl. BGH LM Nr. 2 zu § 164; Nr. 1 zu § 1357; Nr. 4 zu § 167 BGB = MDR 53, 345. 93 Vgl. unten S. 193 f. m. Nachw. in Fn. 25 und allgemein § 20 III 1. 86 87
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nicht anerkannten Vertretungsmacht naher Verwandter und insbesondere zu einer Ausweitung der Vorschriften über die Schlüsselgewalt führen, also zu einer unzulässigen Rechtsfortbildung contra legem. Man sollte daher zu der zurückhaltenden Rechtsprechung des RG zurückkehren und die Anscheinsvollmacht – anders als die Duldungsvollmacht94 – grundsätzlich auf das Handelsrecht beschränken.95 Dort ist sie historisch gewachsen, und dort ist sie auch systematisch kein Fremdkörper: das Handelsrecht kennt die Bindung an bestimmte typisierte Erklärungsformen, anders als das allgemeine Zivilrecht, auch bei Fehlen des Erklärungsbewußtseins, und das Handelsrecht kennt auch eine Rechtsscheinhaftung nach strengeren Zurechnungsprinzipien als das bürgerliche Recht.96 V. Die Sonderproblematik der Quittung (§ 370 BGB) Nach § 370 BGB gilt „der Überbringer einer Quittung als ermächtigt, die Leistung zu empfangen“. Sofern diesem wirklich eine Empfangslegitimation durch Rechtsgeschäft eingeräumt worden ist, besitzt die Vorschrift keine eigenständige Bedeutung. Sofern es daran jedoch fehlt, kann der von § 370 gewährte Schutz nur aus dem Rechtsscheingedanken erklärt werden, und es erhebt sich daher die Frage, wie die Bestimmung in die Rechtsscheinlehre einzuordnen ist. Dabei steht allerdings von vornherein fest, daß keine Vertrauenshaftung im eingangs97 definierten Sinne vorliegt, weil als Rechtsfolge nicht das Entstehen einer Pflicht, sondern der Verlust eines Rechts eintritt. Gleichwohl gebietet der Zusammenhang mit der Scheinvollmacht, § 370 an dieser Stelle wenigstens kurz zu erörtern; denn [53] sofern die Einziehung der Forderung im fremden Namen erfolgt, geht es um ein Problem der Scheinvollmacht. 1. Wenn der Gläubiger einem anderen eine Quittung aushändigt, diesem jedoch die Einziehung der Forderung einstweilen untersagt, so liegt keine rechtsgeschäftliche Legitimation vor.98 Der Gläubiger schafft dann jedoch i. d. R. wissentlich einen Scheintatbestand, und es ist daher nach dem hier entwickelten Rechtsscheinprinzip folgerichtig, daß er an diesen gebunden ist. Jedoch taucht an diesem Punkt bereits die erste Besonderheit des § 370 auf. Der Gläubiger könnte nämlich einwenden, er sei sich nicht darüber im klaren gewesen, daß aus der Innehabung der Quittung die Berechtigung zur Entgegennahme der Vgl. oben § 5 I 2. Dafür auch Krause aaO. S. 156; Manigk aaO. S. 659 f. und Das rechtswirksame Verhalten S. 282 (beide allerdings wohl auch hinsichtlich der „Duldungsvollmacht“ im heutigen Sinne des Wortes); Larenz A. T. § 37 IV b a. E.; Canaris NJW 66, 2350. 96 Vgl. §§ 18 ff., insbesondere § 20 I und II. 97 Vgl. § 1 II. 98 Zur Begründung vgl. die Ausführungen zur entsprechenden Problematik im Rahmen des § 172 I BGB, oben S. 34. 94 95
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Leistung folge, und es ist unzweifelhaft, daß § 370 BGB diesem Einwand des fehlenden Schlüssigkeitsbewußtseins die Relevanz versagt. Das steht insofern mit dem hier entwickelten Prinzip in Widerspruch, als der Gläubiger in einem solchen Fall nicht bewußt einen Scheintatbestand hinsichtlich der Empfangslegitimation geschaffen hat. Daß er gleichwohl an den Rechtsschein gebunden ist, erklärt sich aus der gesetzlichen Typisierung der Bedeutung einer Quittung nach § 370, die die Berufung auf einen Irrtum insoweit ausschließt.99 Die „typisierte Erklärungsbedeutung“ (mit der Folge der Irrelevanz eines sie betreffenden Irrtums) ist an sich eine Erscheinung des Handelsrechts,100 und es ist denn auch sicher kein Zufall, daß § 370 aus dem HGB stammt und erst durch die Reichstagskommission ins BGB übernommen wurde.101 Die Unbeachtlichkeit eines Irrtums über die Bedeutung der Quittung ist jedoch nicht nur als positiv-rechtlich statuiert hinzunehmen, sondern auch sachlich zu billigen: der Schluß von der Innehabung einer Quittung auf die Empfangszuständigkeit ist so naheliegend und in einem solchen Maße verkehrsüblich, daß man ihn nicht nur von einem Kaufmann, sondern auch von jedem anderen Verkehrsteilnehmer ohne weiteres erwarten darf. Insoweit ist § 370 daher keine eigentliche Regelwidrigkeit, sondern nur eine sinnvolle Besonderheit im System der bürgerlich-rechtlichen Rechtsscheinhaftung. 2. Noch in einem zweiten Punkt könnte § 370 von den bisher entwickelten Grundsätzen abweichen. Das Gesetz stellt nämlich lediglich darauf ab, daß der Scheinberechtigte die Quittung „überbringt“, und es scheint daher gleichgültig zu sein, wie er sie erlangt hat. Nach allgemeiner Ansicht soll der Leistende in der Tat selbst dann befreit werden, wenn die Quittung dem Gläubiger gestohlen worden oder sonst abhanden gekommen ist.102 Dem ist nicht zu folgen. Die Interpretation der h. L. steht nämlich in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu der sachlich eng verwandten Vorschrift des § 172 I, wo für eine Rechtsscheinhaftung unmißverständlich die „Aushändigung“ der Urkunde an den Scheinberechtigten verlangt wird.103 Bei einer Angleichung der Vorschriften aneinander aber kann nur § 172 I und nicht § 370 maßgeblich sein,104 zum einen, weil der Wortlaut des § 370 auch der einschränkenden, [54] der h. L. entgegengesetzten Auslegung Raum läßt,105 während der Wortlaut des
Vgl. auch Manigk, Heymann-Festschrift S. 617. Vgl. dazu eingehend unten § 20 I. 101 Vgl. Prot. I S. 341. 102 Vgl. schon Prot. I S. 341; vgl. ferner Keyssner, Koch-Festgabe, 1903, S. 142; Wellspacher aaO. S. 102 Fn. 15; Goldberger aaO. S. 82 m. Nachw. aus dem älteren Schrifttum in Fn. 3; von Tuhr II 2 S. 395 bei Fn. 117; Planck-Siber § 370 Anm. 1 vor a; Oertmann § 370 Anm. 1 c und ZHR 95, 472 f.; Reichel JW 31, 552; Heck, Schuldrecht § 55, 10 b; Enn.-Lehmann § 61 I 1; Esser § 70, 6 c a. E.; Erman-Westermann § 370 Anm. 1; Palandt-Heinrichs § 370 Anm. 1; Westermann JuS 63, 7. 103 Vgl. dazu oben I 3. 104 Vgl. auch Canaris, Systembegriff und Systemdenken in der Jurisprudenz, 1969, S. 117 f. 105 Man könnte sogar in dem Ausdruck „Überbringer“ einen gewissen sprachlichen Anhaltspunkt dafür sehen, daß die Quittung mit dem Willen des Gläubigers in die Hand des 99
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Scheinberechtigten gelangt sein muß, vgl. schon Prot. zum ADHGB S. 1323 f.; Keyssner aaO.; Goldberger aaO. 106 Vgl. Prot. zum ADHGB S. 1322 ff. 107 Vgl. Prot. I S. 341.
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§ 6 Der Blankettmißbrauch Eng verwandt mit der Lehre von der Scheinvollmacht ist die Problematik des Blankettmißbrauchs. Von einem „Blankett“ spricht man dann, wenn eine Urkunde zwar vom Aussteller unterschrieben ist, im übrigen aber nur eine unvollständige oder überhaupt keine Erklärung enthält. Wird nun diese Urkunde in einer Weise ergänzt, die dem Willen des Ausstellers widerspricht, so erhebt sich die Frage, ob und in welchem Umfang dieser gutgläubigen Dritten auf Grund seiner Blankounterschrift haftet, und dabei drängt es sich auf den ersten Blick geradezu auf, hier wieder auf das Prinzip der Einstandspflicht für einen wissentlich geschaffenen Scheintatbestand zurückzugreifen. In konstruktiver Hinsicht ist die Problematik verschieden, je nachdem, ob das Blankett in Gegenwart des Dritten oder schon vorher ausgefüllt wird; im ersten Fall kann man von „offener“, im zweiten von „verdeckter“ Ausfüllung sprechen. Beide Tatbestände, die im Schrifttum nicht hinreichend unterschieden werden, sind im folgenden getrennt zu untersuchen. I. Die „offene“ Blankettausfüllung 1. Daß der Aussteller aus einem mißbräuchlich vervollständigten Blankett grundsätzlich in Anspruch genommen werden kann, wird in Rechtsprechung und Lehre [55] i. E. überwiegend anerkannt.1 Umstritten ist jedoch auch hier die dogmatische Begründung dieser Haftung und, in engem Zusammenhang damit, die Frage, ob die Bindung des Ausstellers endgültig ist oder durch Anfechtung analog § 119 I oder § 120 BGB auf das negative Interesse herabgemindert werden kann. Auch hier hat man versucht, die Problematik mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre zu lösen. Meist wird einfach behauptet, auf Grund der Unterschrift
1 Vgl. RGZ 57, 167; 81, 257; 105, 183; 138, 165; RG SeuffArch. 79 Nr. 141; 84 Nr. 191; HRR 1932 Nr. 434; Dresden OLG 22, 345; OLG Stuttgart Recht 1915 Nr. 1944; BGHZ 40, 65 und 297. von Tuhr II 1 S. 414 ff. und 571 f.; Enn.-Nipperdey § 155 I 2 c und § 167 II 1 mit Fn. 4; Lehmann-Hübner § 31 V 1 a und § 34 III 1 a a. E.; Flume § 15 II 1 d und § 23 2 c; Enn.-Lehmann § 192 II 3; Planck-Flad § 119 Anm. II 3 und § 126 Anm. 2 d; Oertmann § 126 Anm. 3 a β ββ; StaudingerCoing § 119 Rdz. 12; Soergel-Hefermehl § 119 Rdz. 5 a. A.; RGR-Komm. (Krüger-Nieland) § 126 Anm. 6; Erman-Westermann § 119 Anm. 3 und § 126 Anm. 6; Palandt-Danckelmann § 126 Anm. 3 b und §§ 170 ff. Anm. 5; Demelius AcP 153, 33 ff.; Möller WM 1965, 94 ff. Anders Hausmann GruchBeitr. 58, 313 ff.; z. T. auch Macris aaO. S. 212 ff., insbesondere S. 215 f., sowie Zwirner, Das Blankett als Willenserklärung, Diss. Greifswald 1918, S. 105 f.; K. H. Müller, Die Blankettunterschrift in ihrer Bedeutung für das Bürgerliche Recht, Diss. Rostock 1931, S. 62 ff.; Nikisch, Das Blankett im Bürgerlichen Gesetzbuch, Diss. Marburg 1936, S. 32 f.
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sei die Erklärung eine solche des Ausstellers.2 Diese Begründung ist ersichtlich nur auf die „verdeckte“ Ausfüllung zugeschnitten3 und für die „offene“ keinesfalls brauchbar; denn hier ist für den Dritten augenscheinlich, daß eine Willenserklärung des Ausstellers gerade nicht vorliegt, daß vielmehr das wesentliche Element eines Rechtsgeschäfts, die Endgültigkeit, fehlt: hier wird, immer mit den Augen des Dritten gesehen, nicht eine fertige Erklärung des Ausstellers überbracht,4 sondern lediglich ein „Entwurf“, der erst durch den Blankettinhaber „perfiziert“, d. h. in Geltung gesetzt wird. Das Rechtsgeschäft als Akt5 wird also für den Dritten erkennbar nicht durch den Aussteller, sondern durch den Blankettinhaber vorgenommen, und folglich bindet das Rechtsgeschäft als Regelung jenen nur dann rechtsgeschäftlich, wenn ihm das Handeln des Ausfüllenden nach den Regeln der Rechtsgeschäftslehre zuzurechnen ist. Dies zu begründen, unternimmt die „Vollmachtstheorie“.6 Nach ihr handelt der [56] Blankettinhaber bei der Ausfüllung als Vertreter des Ausstellers. Das ist nun allerdings streng genommen nicht richtig; denn der Ausfüllende gibt keine eigene Erklärung ab, sondern er „perfiziert“ eben nur diejenige des Ausstellenden:7 es liegt nicht eine Erklärung des Vertreters mit Wirkung für und gegen den Geschäftsherrn vor, sondern eine Erklärung des Ausstellers, deren letztes und entscheidendes Tatbestandsstück allerdings durch den Blankettinhaber hinzuge-
2 Vgl. z. B. von Tuhr aaO. S. 415 bei Fn. 84; Macris aaO. S. 214; Flume aaO. S. 253; vgl. auch Oertmann aaO., der meint, der Aussteller mache „die demnächstige Ausfüllung antizipativ zum Bestandteil seiner eigenen Erklärung“ (vgl. aber auch aaO. a. E., wo Oertmann sich ohne Übergang auf den Rechtsscheingedanken beruft!). 3 Vgl. insoweit unten S. 64 f. 4 Deshalb kann entgegen der Ansicht von von Tuhr (aaO. S. 415 Fn. 79 und LabandFestschrift, 1908, S. 93; vgl. auch Staudinger-Coing aaO., wo auf § 120 BGB hingewiesen wird) und Möller WM 64, 808 ff. der Ausfüllende auch nicht als Bote angesehen werden. 5 Zum Unterschied zwischen dem Rechtsgeschäft als Akt und als Regelung vgl. Flume § 6, 1 und § 46, 1. 6 Diese ist von Siegel, Die Blanketterklärung, Diss. München 1908, S. 13 ff. (vgl. auch derselbe LZ 1909 Sp. 531 ff. und AcP 111, 95 ff.) begründet und von Voss JherJb. 56, 412 ff. weiterentwickelt worden; vgl. ferner Bornemann, Die Blankobürgschaft, Diss. Marburg 1934, S. 30 ff. 7 Vgl. schon Flechtheim, Die Beweisbedeutung der Privaturkunde nach Reichscivilprozeßrecht, Diss. Erlangen 1897, S. 47 f.; von Tuhr, Laband-Festschrift S. 92 f. und Allg. Teil II 1 S. 415 mit weiteren Nachweisen in Fn. 82; Regelsberger KritVJSchr. 48, 510 f.; eingehend ferner Feldmann, Haftung und Anfechtung bei mißbräuchlich ausgefüllten Blankourkunden des bürgerlichen Rechts, Diss. Frankfurt a. M. 1955, S. 17 ff. (19); Möller, Die abredewidrige Ausfüllung von Blankowechseln, Diss. Münster 1958, S. 41 f.; der Versuch von Bornemann aaO. S. 11 f. (30 ff.), die Vollmachtstheorie i. e. S. unter Berufung auf die Rechtsprechung des RG zur Unterzeichnung mit dem Namen des Vertretenen zu retten, überzeugt nicht, vgl. Feldmann aaO. S. 20 ff. – Auch wenn man die von Müller-Freienfels (Die Vertretung beim Rechtsgeschäft, 1955) entwickelte Einheitstheorie zugrunde legt, dürfte sich der Einwand des Textes nicht ausräumen lassen.
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fügt wird. Immerhin steckt in dieser Lehre für die Fälle der „offenen“ Ausfüllung8 ein richtiger Kern. Denn ist die Befugnis des Blankettinhabers auch nicht als Vertretungsmacht i. S. der §§ 164 ff. BGB zu qualifizieren, so steht sie dieser doch insofern nahe,9 als auch sie kraft Rechtsgeschäftes die Rechtsmacht gibt, rechtsgeschäftliche Wirkungen zwischen dem Aussteller und einem Dritten zu begründen.10 Ihre genaue Einordnung in die Rechtsgeschäftslehre ist nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit,11 es genügt, wenn sie hier vorläufig12 der Vertretungsmacht und der Verfügungsmacht als verwandtes Institut an die Seite gestellt wird.13 Damit ist nun freilich nur geklärt, daß und warum dem Aussteller das Handeln des Blankettinhabers bei Bestehen der Ausfüllungsbefugnis zuzurechnen ist. In der [57] Frage des Blankettmißbrauchs gerät man dagegen in Schwierigkeiten. Denn wie der Geschäftsherr bei Fehlen oder Überschreitung der Vollmacht grundsätzlich nicht verpflichtet wird, so läßt sich auch bei einem „Mißbrauch“ der Ausfüllungsbefugnis die Haftung des Blankettzeichners nicht ohne weiteres begründen. Die Ausfüllungsbefugnis, deren Erteilung an sich analog § 167 I BGB sowohl intern als auch extern erfolgen kann, wird nämlich typischerweise intern, d. h. durch Rechtsgeschäft gegenüber dem Blankettnehmer, eingeräumt, und daher kommt es für die Auslegung dieses Geschäfts und folglich für die Bestimmung des rechtsgeschäftlich festgelegten Umfangs der Ausfüllungsbefugnis auf die Person des (bösgläubigen!) Blankettnehmers, nicht auf die des Dritten an, so daß sich dieser bei rein rechtsgeschäftlicher Betrachtungsweise alle Einschränkungen der Ausfüllungsbefugnis entgegenhalten lassen muß. Daß diese i. d. R. nicht ihm gegenüber erklärt wird, ergibt sich dabei vor allem daraus, daß in dem Blankett 8
S. 64.
Für die mißbräuchliche „verdeckte“ Ausfüllung ist sie jedenfalls unhaltbar, vgl. unten
9 Vgl. auch Voss aaO. S. 437 („vollmachtsartige Ermächtigung“); von Tuhr aaO. S. 415 („der Vollmacht ähnliche ... Befugnis“); Feldmann aaO. S. 27 f. 10 Diese „Fremdwirkung“ unterscheidet die Ausfüllungsbefugnis typologisch von den Gestaltungsrechten, denen man sie daher ebensowenig zuzählen kann, wie man dies bei Vollmacht und Ermächtigung tut (vgl. dazu statt aller Müller-Freienfels, Die Vertretung beim Rechtsgeschäft S. 40 ff. m. Nachw. S. 35 Fn. 3; Flume § 45 II 1); a. A. h. L. im wertpapierrechtlichen Schrifttum, vgl. z. B. Ulmer S. 197; Jacobi, Wechsel- und Scheckrecht S. 482 ff.; Baumbach-Hefermehl Art. 10 WG Rdz. 3. 11 Flume § 15 II 1 d = S. 253 bezeichnet sie als „Legitimation“, ein Terminus, den er auch verschiedentlich für die Vollmacht braucht. Ob sich daraus ein klar umrissener Oberbegriff entwickeln läßt, müßte einmal in einer Spezialuntersuchung geklärt werden. 12 In anderer Hinsicht, nämlich hinsichtlich der Übertragungsproblematik, paßt die Analogie zur Vollmacht nicht, sondern nur die zur Rechtsübertragung, so daß man wohl mit einer gewissen Berechtigung von einer „Doppelnatur“ der Ausfüllungsbefugnis sprechen kann; vgl. unten S. 63 f. 13 Möglicherweise lassen sich noch andere verwandte Rechtsfiguren finden. In diesem Zusammenhang ist z. B. an die unten bei und in § 9 Fn. 37 geschilderte Problematik oder an die Befugnisse des verwaltenden Ehegatten bei der Gütergemeinschaft zu denken.
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selbst nur die (unvollständige) Erklärung des Ausstellers hinsichtlich des abzuschließenden Rechtsgeschäfts (der Bürgschaft, des Darlehens usw.) enthalten, von der Ausfüllungsbefugnis aber überhaupt nicht die Rede ist; diese wird darin vielmehr typischerweise lediglich vorausgesetzt,14 und nur die Tatsache, daß der Ausfüllende die Urkunde in Händen hat, erlaubt dem Dritten den indirekten Rückschluß, daß jenem demnach auch die Ausfüllungsbefugnis erteilt worden sein müsse. Insoweit trägt das Blankett also für den Dritten nur deklaratorischen Charakter. Hat die Ausfüllungsbefugnis aber demnach wegen ihrer internen Erteilung nur den mit dem Blankettnehmer vereinbarten Inhalt und überschreitet dieser bei einem „Mißbrauch“ somit nicht nur sein Dürfen nach innen, sondern auch sein rechtsgeschäftlich eingeräumtes Können nach außen,15 so läßt sich die Haftung des Geschäftsherrn hier folgerichtig nicht mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre begründen. Jedoch legt schon das bisher Gesagte den Gedanken nahe, die Analogie zur Vollmacht noch weiter zu führen und auch die Regeln über die Scheinvollmacht analog anzuwenden. Hier ist vor allem an § 172 BGB zu denken; denn in der Tat besteht eine Verwandtschaft zwischen einer Vollmachtsurkunde und einem Blankett.16 Freilich darf man auch die Unterschiede nicht übersehen. So ist eine VollVgl. auch Voss aaO. S. 440, 451, 464. Der Ausdruck Blankettmißbrauch ist daher insofern irreführend, als man bei der Vollmacht und auch sonst meist nur dann von Mißbrauch spricht, wenn die Grenzen des Dürfens im Rahmen des Könnens überschritten werden. 16 Die Anwendung der §§ 171 f. BGB ist erstmals von Voss aaO. S. 440 ff. (vgl. auch S. 444 Fn. 40) vorgeschlagen worden; ebenso Bornemann aaO. S. 35 ff.; Wächter, Die Blankobürgschaft und die Folgen der mißbräuchlichen Ausfüllung, Diss. Köln 1940, S. 44 f.; Demelius AcP 153, 33 ff.; Palandt-Danckelmann §§ 170 ff. Anm. 5; Flume § 15 II 1 d und § 23, 2 c (Flume sieht allerdings in den §§ 171 f. Fälle rechtsgeschäftlicher Bindung, vgl. § 49, 2 c, und kann daher nur bedingt in diesem Zusammenhang genannt werden); gegen die Analogie Feldmann aaO. S. 43 ff. dessen Einwände jedoch nur für die Fälle verdeckter Ausfüllung passen. Aus der Rspr. vgl. RGZ 81, 257 (261); 138, 265 (269); OLG Stuttgart Recht 1915 Nr. 1944; BGHZ 40, 65 (67 f.) und 297 (304 f.). Der BGH unterscheidet freilich nicht hinreichend zwischen den beiden Absätzen des § 172: nur hinsichtlich eines späteren Erlöschens der Ausfüllungsbefugnis ist die Analogie zu § 172 II brauchbar, während hinsichtlich ihres anfänglichen Fehlens allein § 172 I in Betracht kommt; in der Entscheidung BGHZ 40, 297 war daher die Berufung auf § 172 II unzutreffend. Auch im übrigen gibt die Begründung des BGH zu schwersten Bedenken Anlaß, weil sie Formulierungen enthält, die in ihrer Allgemeinheit nicht nur durch den zu entscheidenden Fall nicht gefordert, sondern einfach falsch sind: „Im Interesse der Sicherheit des Rechtsverkehrs wird danach geschützt, wer im Vertrauen auf den äußeren Schein eines bestimmten Rechts oder Rechtsverhältnisses rechtsgeschäftlich handelt. Der Vertrauensschutz gereicht dabei demjenigen zum Nachteil, der den äußeren Schein hervorgerufen hat oder mit dessen Zutun der äußere Schein entstanden ist“ (aaO. S. 304). Diese Sätze dürfen auf keinen Fall aus dem Zusammenhang, in dem sie stehen, gelöst werden; anderenfalls müßten sie zu unabsehbaren Konsequenzen führen, vgl. oben §§ 3 f. Vor allem daß der BGH ersichtlich auf das „Veranlassungsprinzip“ abstellt, statt seine Ausführungen auf die bewußte Schaffung eines Scheintatbestandes, um die es bei Blankourkunden allein geht, zu beschränken, ist äußerst gefährlich. 14 15
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machtsurkunde unmittelbar darauf gerichtet, die Vertretungsmacht kundzutun, während das Blankett nur einen mittelbaren Rückschluß auf das Bestehen des Ausfüllungsrechts zuläßt und primär anderen Zwecken dient; dementsprechend enthält das Blankett – in scharfem Gegensatz zur Vollmachtsurkunde – regelmäßig keine Bestimmung über den Umfang der Ausfüllungsbefugnis, was, wie sogleich zu zeigen ist, erhebliche praktische Folgen hat. Das ändert jedoch nichts daran, daß auch ein Blankett einen gewissen Scheintatbestand hinsichtlich der Ausfüllungsbefugnis darstellt;17 denn es wird ja dem Blankettnehmer gerade deshalb in die Hand gegeben, damit er es – u. U. in Gegenwart des Dritten – ausfüllt und sich [58] durch seinen Besitz „legitimiert“,18 ohne daß der Dritte bei dem Aussteller soll rückfragen müssen. Es ist daher anzuerkennen, daß der Besitz eines Blanketts einen Rechtsschein hinsichtlich der Ausfüllungsbefugnis begründet. Diesen hat der Aussteller bewußt hervorgerufen, als er das Blankett in den Verkehr brachte, und die Einstandspflicht für ein mißbräuchlich ausgefülltes Blankett ist daher geradezu ein Musterbeispiel der Rechtsscheinhaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestandes. [59] 2. Zweifelhaft ist hier im Gegensatz zu § 172 BGB die Reichweite des Scheintatbestandes. Denn da das Blankett anders als die Vollmachtsurkunde die Legitimation, wie gesagt, nicht unmittelbar deklariert, sondern nur voraussetzt, läßt sich daraus ihr Umfang nicht ohne weiteres entnehmen. Man wird daher davon ausgehen müssen, daß ein Rechtsschein nur hinsichtlich der Befugnis zur Ausfüllung im Rahmen des Üblichen besteht.19, 20 Was „üblich“ ist, läßt sich nur nach den Um17 A. A. Haussmann aaO. S. 310 und 316; ihm folgend Meyer, Das Akzept S. 87 (widersprüchlich, da Meyer zuvor ausdrücklich das Bestehen eines Rechtsscheins bejaht hat); Schumann, Die Fälschung nach dem neuen Wechsel- und Scheckrecht, 1935, S. 100; Macris aaO. S. 215 f. Die beliebte Begründung, der Dritte vertraue lediglich auf die Behauptung des Blankettinhabers von seiner Ausfüllungsbefugnis, ist unzutreffend; der Dritte vertraut vielmehr auf den Besitz des Blanketts und die damit typischerweise verbundene Ausfüllungsbefugnis. Freilich steckt in der kritisierten Ansicht ein richtiger Kern, vgl. dazu sogleich im Text unter Ziff. 2 und die Kritik an der ihrerseits zu weitgehenden Gegenansicht unten Fn. 20. Widersprüchlich Rehfeldt § 20 B II (S. 55), der das Vorliegen eines Rechtsscheins verneint, gleichwohl aber gutgläubigen Erwerb zuläßt, und Beuthien BB 66, 603 ff., der sich ebenfalls einerseits der hier abgelehnten Ansicht anschließt (vgl. S. 604 unter II 1), andererseits aber behauptet: „Wer ein Wechselblankett in den Verkehr bringt, begründet damit den Rechtsschein, daß alle späteren ... Nehmer berechtigt sein sollen, das Blankett in den vom Vormann angegebenen Grenzen auszufüllen“ (vgl. S. 606 unter VI). 18 Das ist nicht etwa ein Widerspruch zu der oben aufgestellten Behauptung, es liege eine interne Erteilung der Ausfüllungsbefugnis zugrunde: das Blankett soll diese lediglich deklarieren, nicht extern begründen; auch hier handelt es sich also um eine deklaratorische Erklärung mit Legitimationscharakter, vgl. dazu oben S. 33. 19 Damit wird auch dem richtigen Kern, der in der Ablehnung jeglichen Rechtsscheins hinsichtlich der Ausfüllungsbefugnis (vgl. die Zitate oben Fn. 17) steckt, Rechnung getragen. 20 Viel zu weit Voss aaO. S. 453: „Soweit die Blankettlage es gestattet, sind die Möglichkeiten der Ausfüllung unbegrenzt“. Ähnlich und ebenfalls zu weitgehend Oertzen ArchBürgR 33, 169; Wächter aaO. S. 44; Jacobi, Wechsel- und Scheckrecht S. 496 („... ist das Gestaltungsrecht
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ständen des jeweiligen Falles sagen. Insbesondere kommt es maßgeblich darauf an, welcher Teil der Erklärung noch ergänzungsbedürftig ist. Fehlt z. B. nur der Name des Berechtigten, so wird es meist innerhalb des Üblichen liegen, daß irgendeine beliebige Person eingesetzt werden darf. Fehlt dagegen die Summe, so ist größere Strenge geboten; hinsichtlich gänzlich aus dem Rahmen fallender Beträge wird man das Bestehen eines Rechtsscheins regelmäßig verneinen müssen. Dasselbe gilt bezüglich der Art des Geschäfts; z. B. besteht kein Rechtsschein für eine Befugnis, ein ganzes Unternehmen durch die Ausfüllung eines Blankos zu veräußern, wohl aber z. B. für die Befugnis, für einen Getreidehändler eine durchschnittliche Menge Weizen zu kaufen. Äußerste Zurückhaltung ist am Platze bei einem Blankett, das nur die Unterschrift und sonst nichts enthält. Hier wird man eine Ausfüllungsbefugnis nur hinsichtlich solcher Geschäfte annehmen können, die wirtschaftlich einigermaßen bedeutungslos sind. Insgesamt kann man sagen: ein Rechtsschein ist dann zu verneinen, wenn sich ein vernünftiger Verkehrsteilnehmer bei redlicher Einstellung und Beachtung seines wohlverstandenen eigenen Interesses nicht auf das Geschäft eingelassen hätte. Daß ein Scheintatbestand vorlag, daß also der Schluß auf eine Ausfüllungsbefugnis gerade hinsichtlich dieses Geschäfts gerechtfertigt war, muß wie stets der Dritte beweisen; dann wird sein guter Glaube vermutet, und der Aussteller muß daher beweisen, daß der Dritte den Mißbrauch kannte bzw. auf Grund der besonderen Umstände dieses Falles oder kraft seiner individuellen Kenntnisse erkennen mußte. Nach ähnlichen Grundsätzen ist zu entscheiden, ob auch bei einer gedruckten Unterschrift die Haftung nach den Regeln über den Blankettmißbrauch zu bejahen ist.21 Auch dies ist eine Frage des Scheintatbestandes.22 Werden also üblicherweise derartige Geschäfte auf Karten abgeschlossen, die lediglich den gedruckten Namen des Prinzipals und im übrigen die Unterschrift eines Angestellten tragen, so ist eine [60] Bindung zu bejahen. Was üblich ist, ergibt sich dabei vor allem aus den Gepflogenheiten der entsprechenden Verkehrskreise und den bisherigen Beziehungen der Vertragspartner sowie aus der Art und der wirtschaftlichen Bedeutung des fraglichen Geschäfts. Im Falle RGZ 105, 183 wäre daher eine Bindung wohl abzulehnen gewesen. 3. Aus der Einordnung des Blankettmißbrauchs in die Rechtsscheinhaftung und aus der Analogie zum Stellvertretungsrecht ist auch die Problematik der Willensmängel zu lösen. Von größter praktischer Bedeutung ist hier zunächst die Frage, ob der Aussteller seine Erklärung anfechten kann mit der Begründung, der Blankettnehunbeschränkt“); zu weit auch Beuthien aaO. S. 606 Sp. 1 („in den vom Vormann angegebenen Grenzen“). 21 Vgl. RGZ 105, 183; BGHZ 21, 122 (128); zur Entscheidung des RG vgl. Baer, Scheinvollmacht S. 18 ff.; Manigk, Heymann-Festschrift S. 627 ff.; Macris aaO. S. 216 f.; Demelius AcP 153, 35 f. 22 Vgl. auch Demelius aaO. S. 36; ähnlich Manigk aaO. S. 629.
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mer habe seine Befugnis mißbraucht. Die ganz h. L. bejaht dies.23 Dem ist nicht zuzustimmen.24 Es liegt nämlich weder unter Rechtsscheingesichtspunkten ein Grund vor, die Zurechnung des Scheintatbestandes abzulehnen und die Milderung der Einstandspflicht auf das negative Interesse zuzulassen, noch läßt sich das mit der Parallele zum Stellvertretungsrecht vereinbaren. Denn die Erwartung, die Urkunde werde nicht mißbraucht werden, schließt die Zurechnung nicht aus; vielmehr trägt der Aussteller das Mißbrauchsrisiko.25 So ist bezeichnenderweise im Rahmen der unmittelbaren Anwendung des § 172 noch niemals behauptet worden, die Haftung des Geschäftsherrn entfalle, wenn er nicht mit einem Mißbrauch der Urkunde gerechnet hätte. Dazu besteht auch nicht der geringste Anlaß: auch wenn der Aussteller an einen Mißbrauch nicht denkt, hat er bewußt einen Scheintatbestand in den Verkehr gebracht; eine analoge Anwendung der §§ 119 ff. scheitert daran, daß kein relevanter Irrtum vorliegt: es handelt sich allenfalls um einen unbeachtlichen Motivirrtum.26 Der Ausschluß der Anfechtbarkeit ergibt sich außerdem aus der Analogie zum Stellvertretungsrecht: so wie dort der Geschäftsherr nicht anfechten kann mit der Begründung, der Vertreter habe seine Vollmacht mißbraucht bzw. nur auf Grund einer Scheinvollmacht gehandelt, so kann er auch hier nicht unter Berufung auf den [61] Blankettmißbrauch anfechten.27 – Das gilt auch für die Umwandlung eines Blanketts in einen Wechsel in dem Fall, daß dieses noch keinen Wechselcharakter trug,28 sich aber ohne Verfälschung des bisherigen Textes zu einem solchen ergänzen ließ; denn auch sonst kommt es 23 Vgl. RGZ 105, 183 (185); Siegel, Blanketterklärung S. 46 ff. und AcP 111, 95 f.; Macris aaO. S. 215; Manigk, Das rechtswirksame Verhalten S. 290; Feldmann aaO. S. 54 ff.; von Tuhr II 1 S. 415; Enn.-Nipperdey § 155 I 2 c und § 167 II 1 (vgl. aber auch Fn. 4; wann die Zulassung der Anfechtung nach Rechtsscheingesichtspunkten ausgeschlossen bzw. „verkehrswidrig“ ist, sagt Nipperdey allerdings nicht; in Wahrheit läßt sich die Frage auch nur generell bejahen oder verneinen); Lehmann-Hübner § 31 V 1 a und § 34 III 1 a a. E.; Enn.-Lehmann § 192 II 3; Planck-Flad § 119 Anm. II 3; Oertmann § 126 Anm. 3 a β ββ; Staudinger-Coing § 119 Rdz. 12; Soergel-Hefermehl § 119 Rdz. 5 a. A.; RGR-Komm. (Krüger-Nieland) § 126 Anm. 6; Erman-Westermann § 119 Anm. 3; Möller WM 64, 808 ff. 24 Ebenso i. E. Voss aaO. S. 417 und 459 ff. (461); Bornemann aaO. S. 39; Wächter aaO. S. 45 (mit unzutreffender Begründung); Demelius aaO. S. 37; Flume § 23, 2 c; ebenso wohl auch RGZ 81, 257; 138, 265; BGHZ 40, 65 und 297, wo jeweils die Anfechtbarkeit zwar nicht ausdrücklich abgelehnt, aber § 172 analog angewandt wird. 25 Vgl. allgemein unten § 38 III 3. 26 Eine analoge Anwendung des § 120 kommt bei der „offenen“ Ausfüllung schon deshalb nicht in Betracht, weil der Blankettnehmer hier weder nach innen noch nach außen eine botenähnliche Stellung hat, vgl. oben S. 55; auch im übrigen ist sie nicht haltbar, vgl. unten S. 64 f. 27 Vgl. auch Manigk, Festschrift für Heymann S. 627 und S. 629 f. (vgl. aber auch Das rechtswirksame Verhalten S. 289 f.); Krause, Schweigen im Rechtsverkehr S. 38 Fn. 139; Demelius AcP 153, 35, 36; Flume § 23, 2 c. 28 A. A. h. L.; vgl. z. B. Ulmer, Das Recht der Wertpapiere, 1938, S. 52; Feldmann aaO. S. 58; Staub-Stranz, 13. Aufl. 1934, Art. 10 WG Anm. 3 a; Jacobi, Wechsel- und Scheckrecht, 1955, S. 479 f. (vgl. auch S. 117 Fn. 3); noch enger Schumann, Die Fälschung nach dem neuen Wechselund Scheckrecht, 1935, S. 100.
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nicht darauf an, ob der Blankettzeichner gerade mit der fraglichen Art des Mißbrauchs gerechnet hat oder rechnen mußte, und besondere Gründe, die hier eine Abweichung von diesem Grundsatz rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich,29 – zumal eine Umwandlung in einen Wechsel ohne Verfälschung überhaupt nur denkbar ist, wenn der Blankettzeichner nahezu alle wesentlichen Bestandteile der Urkunde offengelassen und somit wissentlich ein ungewöhnlich hohes Risiko geschaffen hat. Allerdings wird man die Haftung dann zu verneinen haben, wenn die Unterschrift in dem Augenblick, als der Unterzeichner das Papier in den Verkehr brachte, noch keinen rechtsgeschäftlichen Charakter trug; zu denken ist etwa an ein Autogramm, über das später eine Willenserklärung gesetzt wurde, oder auch an eine Blankounterschrift, die jemand seiner Sekretärin auf einem Briefbogen gegeben hat, damit diese den diktierten Brief nach seiner Abreise darüber setze. Denn in derartigen Fällen stellt die Unterschrift allein nach den Umständen noch keinen Scheintatbestand dar, eben weil ihr jeder rechtsgeschäftliche Bezug fehlt, und der Unterschreibende bringt daher nicht bewußt einen Scheintatbestand in den Verkehr. Hinsichtlich sonstiger Willensmängel gilt dasselbe, was oben zu dieser Problematik im Rahmen der §§ 171 f. BGB ausgeführt wurde. Dabei ist zu beachten, daß ein Blankett regelmäßig nicht als Grundlage von Rechtsgeschäften mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen dient und daß folglich die §§ 116 ff. BGB sowohl auf die Ausstellung als auch auf die Aushändigung der Urkunde grundsätzlich anwendbar sind. Der Aussteller kann daher z. B. anfechten, wenn er sich in der Urkunde verschreibt oder über den Inhalt des von ihm verfaßten Teiles im Irrtum ist30 oder wenn er durch Drohung i. S. des § 123 I BGB zur Aushändigung gezwungen wird. Soweit es für die Geltung der Erklärung auf die Person des Adressaten ankommt, also z. B. hinsichtlich der §§ 116 S. 2, 117 I, 118, 123 II, ist zu [62] beachten, daß Erklärungsgegner hinsichtlich des vom Blankettzeichner selbst ausgefüllten Teils nicht der Blankettnehmer, sondern der Dritte ist;31 denn mit diesem schließt der Aussteller das Geschäft ab. Hinsichtlich der Erteilung der Ausfüllungsbefugnis, die analog § 167 I einseitiges Rechtsgeschäft ist, ist allerdings der 29 Zum Einwand, der Formzweck könne umgangen werden, vgl. unten § 22 III 6 a. E. = S. 249; vgl. im übrigen aber auch unten Fn. 35. 30 Die Analogie zu § 166 I BGB paßt insoweit nicht, da hinsichtlich dieses Teils der Erklärung die Willensbildung durch den Aussteller selbst und nicht durch den Ausfüllungsberechtigten erfolgt; in anderen Fällen paßt sie nicht, weil es um die Fehlerhaftigkeit der Erteilung bzw. der Kundgabe der Ausfüllungsbefugnis geht, was der Fehlerhaftigkeit der Bevollmächtigung bzw. der Vollmachtskundgabe, nicht der Fehlerhaftigkeit des Vertretergeschäftes entspricht. 31 Dies ist möglicherweise in der Entscheidung BGHZ 40, 65 (69) verkannt, wo der BGH eine Täuschung durch den Blankettnehmer offenbar unabhängig von der Bösgläubigkeit (i. S. des § 123 II 1) des Dritten für erheblich hält.
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Blankettnehmer Adressat; denn es handelt sich, wie dargelegt, um eine interne Erteilung. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Ausfüllungsbefugnis nicht intern geblieben ist, sondern durch die Vorlegung des Blanketts dem Dritten „kundgegeben“ wurde. Es sind daher nicht die Regeln über die „reine“ Innenvollmacht, sondern die über die kundgegebene Innenvollmacht entsprechend anwendbar, und demzufolge sind Mängel der internen Erteilung der Ausfüllungsbefugnis gegenüber dem Dritten nur dann relevant, wenn sie auch die Kundgabe, d. h. die Ausstellung oder die Aushändigung des Blanketts, erfassen und diese in analoger Anwendung der §§ 116 ff. fehlerhaft machen.32 Daher kommt es für die §§ 116 S. 2, 117 I, 118, 123 II auch insoweit auf die Person des Dritten an. Hinsichtlich eventueller Willensmängel bei der Ausfüllung ist analog § 166 I auf den Ausfüllenden, nicht auf den Aussteller abzustellen.33 4. Wird das Blankett dem Aussteller gestohlen oder kommt es ihm sonst abhanden, so hat er den Scheintatbestand nicht wissentlich in den Verkehr gebracht und haftet daher nicht,34 da folgerichtig auch insoweit § 172 I und die oben § 5 I 3 dazu entwickelten Regeln analoge Anwendung finden. Auch hier darf man sich dabei nicht durch wertpapierrechtliche Vorstellungen beirren lassen: daß man aus einem gestohlenen Blankowechsel haftet, ist keine Besonderheit des Blankos, sondern eine solche der Umlaufpapiere.35 – Auch wenn dem Blankettinhaber die Urkunde abhanden kommt und dann mißbräuchlich ausgefüllt wird, haftet der Aussteller nicht; denn nur diesem hat er Vertrauen geschenkt, und nur für dessen Mißbrauch muß er daher das Risiko tragen. – Der Dritte ist in derartigen Fällen durch einen Anspruch gegen den Ausfüllenden analog § 179 BGB geschützt. 5. Ein schwieriges Sonderproblem ergibt sich, wenn nicht der Blankettinhaber die Ausfüllung vornimmt, sondern der Dritte das Blankett erwirbt und es anschließend selbst ausfüllt. Fraglich ist, ob er auch in diesem Falle geschützt wird und, wenn ja, welcher Zeitpunkt für seinen guten Glauben maßgeblich ist: der des Erwerbs oder der der Ausfüllung.36 Dem Dritten hier jeden Schutz überhaupt zu versagen, wäre eine willkürliche Schlechterstellung [63] gegenüber der Lage bei der Ausfüllung durch den Blankettinhaber selbst: ob dieser das Blanko vervollständigt, oder ob der Dritte es mit seinem Einverständnis tut, macht hinsichtlich der Schutzwürdigkeit der Beteiligten keinen Unterschied. Voraussetzung ist allerdings, daß der Dritte bei der Ausfüllung nicht weiter geht, als der Rechtsschein hinsichtlich der Ausfül-
Die Ausführungen unten § 10 IV und V gelten entsprechend. So schon Voss aaO. S. 458 f.; ebenso Flume aaO. S. 455. 34 Ebenso i. E. Flume aaO. S. 253 und S. 455. 35 Hinsichtlich der Frage des Abhandenkommens kommt es daher anders als sonst (vgl. oben bei Fn. 28) darauf an, ob die Urkunde das Blankett eines Umlaufpapiers darstellte, also z. B. schon Wechselcharakter trug; denn wenn das nicht der Fall ist, läßt sich insoweit eine Haftung weder nach wertpapierrechtlichen noch nach bürgerlichrechtlichen Regeln begründen. 36 Die Frage ist im Wertpapierrecht viel diskutiert und lebhaft umstritten, vgl. statt aller Baumbach-Hefermehl Art. 10 WG Rdz. 7 und Beuthien BB 66, 603 ff. jeweils m. Nachw. 32
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Vgl. dazu oben S. 59; verkannt bei Beuthien aaO. (wie Fn. 20). Vgl. dazu Siegel, Blanketterklärung S. 20 ff.; Voss aaO. S. 426 f. 39 Diese Differenzierung wird im Schrifttum, soweit ersichtlich, nirgends vorgenommen. 40 Zu dieser Analogie vgl. im übrigen unten § 12 IV 3. 41 Vgl. auch Voss aaO. S. 466 f., der hier §§ 413, 407 BGB anwenden will (?). 42 Ob dieses schon vor seinem Erwerb durch den Dritten als Anwartschaft bezeichnet werden kann, mag hier dahinstehen. Nach dem Erwerb des Blanketts hat der Dritte, zumindest im zweiten im Text behandelten Fall, jedenfalls ein unzerstörbares Anwartschaftsrecht, das z. B. auch gepfändet werden kann. 37 38
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Problematik der Untervollmacht zu behandeln, wie das an sich folgerichtig wäre; vielmehr wird man der Ausfüllungsbefugnis insoweit eine gewisse Zwitterstellung zuerkennen müssen, die auf ihrer Verbindung mit dem in dem Blanko verkörperten zukünftigen Recht beruht. Die Zulassung gutgläubigen Erwerbs ist dabei auch bei solchen Rechten nicht systemwidrig, [64] die unter die §§ 398 ff., 413 BGB fallen; denn Recht und Ausfüllungsbefugnis sind „verkörpert“,43 und der Aussteller hat bewußt einen Scheintatbestand geschaffen.44 Ähnlich wird der Blankettzeichner mit der Einwendung des Mißbrauchs auch dann präkludiert, wenn der Blankettinhaber zunächst sich selbst als Berechtigten einsetzt und dann die „verbriefte“ Forderung an einen Gutgläubigen zediert:45 auch hier hat der Geschäftsherr bewußt einen Scheintatbestand in den Verkehr gebracht, für den er einstehen muß; außerdem ist in diesem Zusammenhang auf die unten § 9 III in Weiterbildung des § 405 BGB entwickelten Grundsätze für den Einwendungsausschluß im Zessionsrecht zu verweisen, die auch für den vorliegenden Fall passen. – Daraus folgt schließlich, daß auch ein gutgläubiger Vierter geschützt wird, wenn der Dritte bei der Ausfüllung bösgläubig war und dann die Forderung – als Nichtberechtigter! – abtritt.
II. Die „verdeckte“ Blankettausfüllung Füllt der Inhaber des Blanketts dieses nicht in Gegenwart des Dritten, sondern schon vorher aus, so ist die Lage insofern anders, als der Dritte dann nur die vollständige Erklärung des Ausstellers zu Gesicht bekommt. Eine solche „verdeckte“ Ausfüllung dürfte, zumindest in den Mißbrauchsfällen, die Regel sein.46 1. Auch hier ist die dogmatische Begründung der Haftung, über deren Bejahung i. E. gleichfalls weitgehend Einigkeit zu bestehen scheint,47 schwierig. Die entsprechende Anwendung des Vollmachtsrechts stößt auf ganz erhebliche Bedenken, weil der Ausfüllende hier dem Dritten gegenüber gar nicht in einer vertreterähnlichen Weise auftritt und nach innen jedenfalls nicht im Rahmen seiner vollmachtsähnlichen Befugnis handelt. Nach außen erscheint er vielmehr wie ein Bote, da er eine vollständige Erklärung des Ausstellers überbringt. Läßt sich bei dieser Sachlage dessen Haftung mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre begründen? Der Rückgriff auf die „Legitimation“ des Blankettinhabers zur Ausfüllung Vgl. oben S. 57 f. und die Zitate zum Stand der Meinungen Fn. 17 und Fn. 20. Vgl. auch die unten § 9 III zum Einwendungsausschluß im Zessionsrecht entwickelten Regeln. Anerkennt man sie, so entfallen die Bedenken von Beuthien BB 66, 604. 45 A. A. Voss aaO. S. 457 f. 46 Es ist wohl kein Zufall, daß die Rechtsprechung sich bisher, soweit ersichtlich, nur mit Fällen der verdeckten Ausfüllung zu befassen hatte. 47 Vgl. die Zitate oben Fn. 1. Freilich wird im Schrifttum regelmäßig zwischen verdeckter und offener Ausfüllung nicht geschieden, doch sind die meisten Äußerungen eher auf die verdeckte abgestellt. 43 44
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scheidet ohne weiteres aus, da diese intern geblieben und bei der Ausfüllung eben überschritten worden ist. Also bleibt nur die analoge Anwendung der Grundsätze über die Zurechnung der Erklärung eines Boten. Diese wird nun in § 120 BGB allerdings grundsätzlich bejaht. Fragt man jedoch nach dem Rechtsgrund dieser Vorschrift, so zeigt sich sogleich, daß sie auf den „verdeckten“ Blankettmißbrauch nicht paßt:48 die Erklärung wird dem Erklärenden bei § 120 BGB nur deshalb zugerechnet, weil er sie in der Tat selbst abgefaßt und „in Geltung gesetzt“ und sich des Boten lediglich als eines unselbständigen Hilfsmittels für die Überbringung (nicht die Schaf- [65] fung!) der Erklärung bedient hat. Ganz anders hier: Der Aussteller hat ebenso wie bei der offenen Ausfüllung nur einen „Entwurf“ angefertigt, das entscheidende Teilstück aber, die Ingeltungsetzung, dem Blankettnehmer überlassen; dieser ist daher nicht bloßer Gehilfe bei der Überbringung der Erklärung. Wie schlecht § 120 paßt, wird im übrigen auch daraus ersichtlich, daß dieser bei bewußter Abweichung des Boten von seinem Auftrag nach allgemeiner Ansicht nicht eingreift,49 was allein zur Ablehnung der Analogie genügt: Blankettmißbrauch ist immer bewußte Mißachtung des Willens des Ausstellers. Daß es dem Dritten so scheint, als habe der Aussteller die Erklärung selbst in Geltung gesetzt und als bediene er sich des Überbringers nur als Boten, ist vom Boden der Rechtsgeschäftslehre aus, jedenfalls nach der in dieser Arbeit zugrunde gelegten „Geltungstheorie“,50 unerheblich. Eine Begründung der Haftung des Blankettzeichners mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre ist daher auch hier nicht möglich. Wieder bleibt somit als Ausweg nur die Rechtsscheinhaftung. In der Tat hat der BGH auf diese zurückgegriffen,51 ohne eine rechtsgeschäftliche Lösung auch nur in Betracht zu ziehen. Allerdings ist sehr zweifelhaft, ob hier, also in den Fällen verdeckter Ausfüllung, die Analogie zu § 172 BGB, auf die sich der BGH stützt, noch tragfähig ist.52 Denn abgesehen davon, daß auch hier die Urkunde nicht unmittelbar auf die Deklaration der „Legitimation“ gerichtet ist, geht es hier nicht um den Schutz des guten Glaubens an die der Vertretungsmacht verwandte Ausfüllungsbefugnis, sondern um den Schutz des guten Glaubens an die inhaltliche „Richtigkeit“ der überbrachten Urkunde; genauer gesagt: der Dritte vertraut nicht darauf, daß der Urkundeninhaber den Aussteller verpflichten kann, sondern darauf, daß der Aussteller selbst eine vollständige Verpflichtungserklärung abgegeben hat Unzutreffend daher Möller WM 64, 808 f. Vgl. z. B. Enn.-Nipperdey § 167 III 2; Flume § 23, 3; Staudinger-Coing § 120 Rdz. 5 m. weiteren Nachw. 50 Vgl. dazu unten § 33 I sowie im vorliegenden Zusammenhang auch § 34 I 5. Anders ist vielleicht vom Boden der Erklärungstheorie aus zu entscheiden. 51 Vgl. BGHZ 40, 65 und 297. In beiden Fällen lag eine verdeckte Ausfüllung vor. 52 Ausdrücklich gegen die Analogie Feldmann aaO. S. 43 ff. Im übrigen kam entgegen der Ansicht des BGH nicht Abs. II, sondern Abs. I in Betracht, vgl. oben Fn. 16. 48 49
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und daß jener zur Überbringung der Urkunde berechtigt ist, also auf die Ausfüllung durch den Aussteller und die Botenmacht des Überbringers. Eine „Rechtsähnlichkeit“ zur Vollmachtsurkunde dürfte sich bei dieser Sachlage kaum noch begründen lassen. Gleichwohl versteht es sich von selbst, daß der Dritte nicht schlechter und der Aussteller nicht besser stehen darf als bei Vorlegung des noch unausgefüllten Blanketts, und daher können, wo schon nicht § 172 I BGB selbst, so doch wenigstens die aus diesem entwickelten Regeln über die „offene“ Blankettausfüllung entsprechend angewandt werden – eine Argumentation, an der in methodologisch sehr reizvoller Weise der allmähliche Übergang von der Einzelanalogie zur Entwicklung des „allgemeinen“ Prinzips der Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins deutlich wird.52a [66] 2. Demgemäß gelten auch hinsichtlich der Reichweite des Scheintatbestandes die Ausführungen zur offenen Ausfüllung entsprechend. Hier kommt es dabei nicht darauf an, ob ein Vertragsschluß durch Blankett im Rahmen des Üblichen liegt, sondern darauf, ob ein Vertragsschluß durch eine von einem Boten überbrachte schriftliche Erklärung üblich ist. Auch dies wird man, jedenfalls sofern jegliche persönliche Vorverhandlungen mit dem Aussteller fehlen, bei wirtschaftlich besonders schwerwiegenden Geschäften regelmäßig zu verneinen haben; niemand verkauft z. B. sein gesamtes Geschäft lediglich durch eine von einem Boten überbrachte Urkunde, und auch die Übernahme einer Bürgschaft in Höhe von 1 000 000 DM auf diese Weise ist durchaus unüblich.53 Auch hier kommt es im wesentlichen darauf an, ob ein vernünftiger Verkehrsteilnehmer sich bei redlichem Verhalten und Wahrung seiner eigenen Belange auf ein derartiges Geschäft eingelassen hätte. 3. Auch hinsichtlich der Berücksichtigung von Willensmängeln ist auf die Ausführungen zur offenen Ausfüllung zu verweisen. Daher ist auch hier eine Anfechtung mit der Begründung, der Blankettnehmer habe seine Ausfüllungsbefugnis mißbraucht, nicht zulässig. Daß insoweit keine Analogie zu § 120 möglich ist,54 ergibt sich dabei schon daraus, daß dieser, wie gesagt, bei bewußter Abweichung des Boten unanwendbar ist. Im übrigen ist die im Vergleich zu § 120 strengere Haftung des Blankettzeichners dadurch wertungsmäßig gerechtfertigt, daß dieser hier bewußt einen über die bloße Entsendung eines Boten hinausgehenden Vertrauenstatbestand gegenüber dem Dritten in Form der Urkunde geschaffen hat.
Vgl. auch unten S. 106 f. Vgl. auch RGZ 136, 422 (426 f.); daß die Urkunden keine Blankos waren, sondern schon ausgefüllt übergeben wurden, ist allerdings entgegen der Ansicht des RG unerheblich, vgl. unten § 7 I. 54 Für diese z. B. Staudinger-Coing § 119 Rdz. 12. 52a 53
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§ 7 Weitere mit der Scheinvollmacht verwandte Tatbestände wissentlicher Schaffung eines Rechtsscheins Bei der Behandlung des Blankettmißbrauchs hat sich immer wieder die Analogie zu den Regeln über die Scheinvollmacht als fruchtbar erwiesen. Es liegt daher nahe zu fragen, inwieweit diese sich auch auf andere mit der Vollmacht verwandte Institute ausdehnen lassen, und so zu versuchen, eine Verbreiterung der gesetzesimmanenten Grundlage eines allgemeinen Prinzips der Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins zu erreichen. Zu denken ist z. B. an die der Vollmacht anerkanntermaßen weitgehend ähnlichen Zustimmungen oder an die – gegen Ende des letzten Paragraphen schon angeklungene – Problematik der Scheinbotenschaft. I. Die Scheinbotenschaft Man braucht die zum Blankettmißbrauch ergangene Entscheidung BGHZ 40, 65 nur leicht abzuwandeln, um das Problem der Scheinbotenschaft in reiner Form vor [67] Augen zu haben. Hätte hier nämlich der Käufer den Darlehensantrag an das Finanzierungsinstitut selbst vollständig ausgefüllt und ihn dann dem Verkäufer zur Weiterleitung überlassen, so könnte von einem Blankettmißbrauch nicht die Rede sein, sondern es ginge statt dessen ausschließlich um das Problem der Botenschaft. Nun war diese dem Verkäufer aber nur für den Fall des Zustandekommens des Kaufvertrages eingeräumt worden,1 und der Käufer hatte daher noch kein Rechtsgeschäft in Geltung gesetzt, sondern lediglich den Entwurf eines solchen geschaffen, da er die Erklärung nicht auf den Weg zu ihrem Adressaten gebracht hatte.2 Mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre läßt sich also wiederum keine Bindung erreichen,3 doch kann nicht zweifelhaft sein, daß die Haftung des Käufers nicht anders als in dem vom BGH entschiedenen Falle zu bejahen sein muß; das wird besonders deutlich, wenn man hinzunimmt, daß der Verkäufer sich in jenem Falle hinsichtlich der Ausfüllung völlig im Rahmen des Vereinbarten gehalten hatte, so daß der „Mißbrauch“ genau wie in dem hier gebildeten Beispiel nur in der vorzeitigen Weiterleitung des Antrags lag. Man wird den Fall daher ohne weiteres auf Grund einer Analogie zu den im letzten Paragraphen entwickel1 Der Fall ist hier in diesem Punkte etwas verändert, um das Problem des anfänglichen Fehlens der Botenmacht (an Stelle des analog §§ 171 II, 172 II BGB zu lösenden Problems ihres nachträglichen Erlöschens) hereinzubringen. 2 Das oben S. 34 bzw. S. 64 f. zur Vollmachtsurkunde bzw. zum verdeckten Blankettmißbrauch Gesagte gilt entsprechend. 3 Vgl. auch unten § 34 I 5.
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ten Regeln über den verdeckten Blankettmißbrauch, die ihrerseits wieder auf dem Wege über den offenen Blankettmißbrauch an § 172 BGB anknüpfen, lösen können und gewinnt damit ein weiteres Beispiel der Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes, da der Käufer hier bewußt die den Rechtsschein begründende Urkunde dem Verkäufer überlassen hat. Auch zur Duldungsvollmacht läßt sich eine Analogie ziehen. Dies wäre der richtige Gesichtspunkt für die Lösung des vom BGH entschiedenen „Radioempfängerfalles“4 gewesen. Hier hatte der Bekl. einem Dritten mehrfach gestattet, auf seinen Namen mit der Kl. Radiokäufe für eigene Rechnung abzuschließen. Der Dritte bezahlte die ersten Rechnungen, schloß jedoch nach einiger Zeit erneut und diesmal ohne Billigung des Bekl. Käufe ab, für die die Kl. Rechnungen an den Bekl. sandte. Dieser widersprach seiner Zahlungspflicht erst nach Erhalt mehrerer Rechnungen, und der BGH sah in diesem Zögern die stillschweigende Annahme von in den Rechnungsübersendungen angeblich liegenden konkludenten Vertragsangeboten. Das ist offensichtlich unhaltbar.5 Denn die Kl. ging bei der Rechnungsstellung ersichtlich davon aus, daß der Vertrag bereits geschlossen sei, und hatte daher erkennbar nicht den Willen, ihn erst jetzt abzuschließen, so daß es mangels des objek- [68] tiven Tatbestandes eines Angebotes auf die ebenfalls äußerst fragwürdige Konstruktion einer Annahme durch Stillschweigen nicht einmal mehr ankam. In Wahrheit ging es vielmehr darum, daß der Bekl. längere Zeit das unberechtigte Auftreten des Dritten als seines Boten bewußt geduldet hatte, und da dieses Dulden durch sein Schweigen auf die Rechnungsübersendungen auch nach außen in Erscheinung getreten war,6 liegt es in den wesentlichen Punkten ebenso wie bei der Duldungsvollmacht. Insgesamt ist daher festzustellen, daß es auch eine Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung des Scheins der Botenschaft gibt; das Vertrauen richtet sich hier darauf, daß der Geschäftsherr die Erklärung selbst in Geltung gesetzt hat und daß der Bote zu ihrer Überbringung befugt ist. Die Einzelheiten, z. B. die Feststellung des Scheintatbestandes und die Bestimmung seiner Reichweite, sind ebenso wie bei den verwandten Instituten, hier also z. B. dem verdeckten Blankettmißbrauch bzw. der Duldungsvollmacht zu lösen.
4 Vgl. LM Nr. 4 zu § 157 (Gb) BGB. Der Tatbestand ist leider recht lückenhaft und im folgenden daher aus den Gründen des Urteils ergänzt. 5 Gegen die Begründung des BGH auch Baumgärtel MDR 58, 400; ihm folgend Siebert-Knopp § 157 Rdz. 19. 6 Zu diesem Erfordernis vgl. allgemein unten § 39 III 4. Es war z. B. hinsichtlich des ersten unbefugten Geschäftes nicht erfüllt, da der Bekl. vorher überhaupt nicht nach außen in Erscheinung getreten war (der Dritte hatte die Rechnungen selbst bezahlt!); insoweit kommt daher keine Rechtsscheinhaftung, sondern allenfalls eine Erfüllungshaftung aus § 242 BGB, etwa im Hinblick auf das Verbot des venire contra factum proprium in Betracht.
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II. Das Handeln „unter“ fremdem Namen Der „Radioempfängerfall“ bedarf nur einer geringfügigen Abwandlung, damit aus der Problematik der Scheinbotenschaft die des Handelns unter fremdem Namen wird, nämlich dahin, daß der Dritte nicht vorgibt, vom Bekl. stammende Kaufangebote zu überbringen, sondern dieser selbst zu sein.7 Hat nun in einem solchen Fall der Namensträger einen Scheintatbestand dahingehend geschaffen, daß wirklich er selbst gehandelt hat – etwa durch anstandslose Bezahlung der entsprechenden Rechnungen, durch Ausführung der fraglichen Aufträge, durch Beantwortung darauf bezüglicher telephonischer Anfragen usw. in früheren derartigen Fällen – und ist ferner das Rechtsgeschäft nach den Regeln über das Handeln unter fremdem Namen als mit ihm abgeschlossen, also als analog § 177 BGB genehmigungsfähig anzusehen,8 so stellt sich die Frage nach einer Rechtsscheinhaftung, und das heißt hier im praktischen Ergebnis: nach einer Einstandspflicht unabhängig von einer Genehmigung. In Anbetracht der engen Verwandtschaft zwischen dem Handeln im fremden Namen und dem Handeln unter fremdem Namen ist diese nun ohne weiteres auf Grund einer Analogie zu den Regeln über die Scheinvollmacht, im Beispiel also über die Duldungsvollmacht zu bejahen. – Unter diesem Gesichts- [69] punkt wäre daher z. B. auch die Problematik zu lösen, wenn in dem oben9 erwähnten Beispiel des verreisten Kaufmanns dieser seinem Angestellten nicht eine Vollmachtsurkunde, sondern schon ein fertiges Kaufangebot ausgehändigt hätte und letzterer dieses weisungswidrig zur Post gäbe.10 Darin läge eine „verkappte Stellvertretung“ (unter Abwesenden), also ein Handeln unter fremdem Namen,11 und wenn auch mangels Endgültigkeit der Willensbildung eine rechtsgeschäftliche Bindung wiederum zu verneinen wäre,12 so wäre doch analog § 172 I BGB eine Rechtsscheinhaftung zu bejahen, – ein weiterer Tatbestand der Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins. Ein Sonderfall des Handelns unter fremdem Namen ist das Handeln unter fremder Firma. Dieses kann im vorliegenden Zusammenhang vor allem dann praktisch werden, wenn jemand das Geschäft eines Minderkaufmanns13 unter derselben Firma fortführt und dieser den Geschäftsübergang nicht in der geeigneten Weise 7 Daß dies in dem vom BGH entschiedenen Fall nicht zutraf, verkennen Baumgärtel aaO. und, ihm folgend, Philipowski, Die Geschäftsverbindung, 1963, S. 38. 8 Wann dies der Fall ist, gehört nicht in den Zusammenhang dieser Arbeit; vgl. dazu z. B. Larenz, Festschrift für Lehmann, 1956, Bd. I S. 234 ff.; Enn.-Nipperdey § 183 III; Flume § 44 IV. 9 Vgl. S. 34. 10 Als Beispiel aus der Rspr. vgl. RGZ 105, 183. 11 Vgl. Reichel, Höchstpersönliche Rechtsgeschäfte, 1931, S. 139; Larenz aaO. S. 238. 12 Vgl. oben I bei Fn. 2 und unten § 34 I 5. 13 Bei einem Vollkaufmann ist die Problematik nach § 15 HGB zu lösen.
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kundmacht; der Veräußerer haftet dann anerkanntermaßen gutgläubigen Dritten aus den Geschäften des Übernehmers.14 Dies ergibt sich nicht immer unmittelbar aus den Regeln über die Duldungsvollmacht,15 so z. B. nicht bei Geschäften mit Kunden, die den bisherigen Inhaber nicht persönlich kennen, oder bei Geschäften unter Abwesenden; denn dann tritt der neue Inhaber nicht als Vertreter des bisherigen auf, sondern nur unter dessen Firma, und seine Haftung folgt daher in diesem Fall nicht unmittelbar aus den Grundsätzen der Scheinvollmacht, sondern nur aus der soeben entwickelten Analogie zu diesen. III. Die Fälschung und die Verfälschung im bürgerlichen Recht Vom Handeln unter fremdem Namen ist es nur ein Schritt zur Problematik der Fälschung. Auch hier kommt eine Rechtsscheinhaftung des „Namensträgers“ durchaus in Betracht. So mag man daran denken, daß jemandem ein gefälschter Schuldschein vorgelegt wird und er bei dem Unterzeichner anfragt, ob dessen Unterschrift in Ordnung ginge. Bejaht dieser das bewußt wahrheitswidrig und erwirbt darauf der Anfragende die Forderung, so greift die Rechtsscheinhaftung ein;16 denn der „Namensträger“ hat bewußt17 den Rechtsschein gesetzt, daß diese Forderung gegen ihn besteht. Beispiele der Einstandspflicht für eine Verfälschung, also für eine nachträgliche Änderung des Inhalts einer Urkunde lassen sich dagegen, abgesehen von den Fällen [70] des Blankettmißbrauchs, nur schwer finden. Denn da es eine allgemeine Einstandspflicht für die bloße „Veranlassung“ oder die fahrlässige Ermöglichung eines Rechtsscheins im bürgerlichen Recht nicht gibt,18 genügt dafür nicht etwa die „verkehrswidrige“ Ausfüllung einer Urkunde, mag sie auch in grob fahrlässiger Weise eine Verfälschung begünstigen; erforderlich ist vielmehr, daß eine mangelhaft ausgefüllte19 Urkunde im Bewußtsein der Verfälschungsmöglichkeit in den Verkehr gebracht wird, und das wird nur selten der Fall sein.
14 Vgl. BGH NJW 66, 1915; Schlegelberger-Hildebrandt § 4 Rdz. 22 ; RGR-Komm. (Brüggemann) § 4 Anm. 16, beide m. Nachw. aus der älteren Rspr. 15 Vgl. aber BGH aaO. 16 Vgl. auch unten § 9 IV. 17 An dieser Voraussetzung ist im bürgerlichen Recht grundsätzlich festzuhalten. Im Wertpapierrecht kann man dagegen weitergehen, vgl. unten § 22 III 3 und 4. 18 Vgl. unten § 38 II 2. 19 Der Aussteller trägt also selbstverständlich niemals das normale Verfälschungsrisiko, selbst wenn es ihm bewußt ist; denn dieses beherrscht er nicht, und insoweit stammt der „Mangel“ auch nicht aus seiner „Sphäre“ (vgl. dazu unten § 38 III 7). In Betracht kommt also von vornherein allenfalls, ihm ein selbstgeschaffenes erhöhtes Verfälschungsrisiko aufzuerlegen.
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IV. Die Scheineinwilligung und die Scheinermächtigung i. S. der §§ 112 f. BGB Auch die Einwilligung ist mit der Vollmacht in mancher Hinsicht verwandt, und so drängt es sich auf, auch auf sie die §§ 171 I, 172 I BGB und die Regeln über die Duldungsvollmacht analog anzuwenden.20 Freilich wird die Auslegung hier sehr häufig ergeben, daß die Erklärung gegenüber dem Dritten als echte rechtsgeschäftliche externe Einwilligung zu werten ist, doch ist es auch durchaus denkbar, daß es sich lediglich um die Deklaration einer intern erteilten Einwilligung handelt; insbesondere bei Generaleinwilligungen liegt das verhältnismäßig nahe, da sie – ebenso wie Generalvollmachten – typischerweise intern erteilt und daher nach außen i. d. R. nur deklariert werden. Dabei sind auch Fälle einer „Duldungseinwilligung“ möglich;21 man denke etwa daran, daß ein gesetzlicher Vertreter bestimmte Geschäfte eines Minderjährigen immer wieder diesem gegenüber genehmigt und ihre Erfüllung zugelassen hat und daß dadurch nach außen der Schein eines beschränkten Generalkonsenses entstanden ist, während intern ein solcher dem Minderjährigen erkennbar keineswegs erteilt war. – Ein dem § 172 I entsprechender Fall kann sich z. B. ergeben, wenn der gesetzliche Vertreter dem Minderjährigen vorsorglich schon eine Einwilligungsurkunde aushändigt, ihm aber untersagt, einstweilen davon Gebrauch zu machen.22 In derartigen Fällen liegt eine Anwendung der Regeln über die Scheinvollmacht denkbar nahe, da auch hier der Schein einer „Legitimation“23 geschaffen wird, – [71] und zwar bewußt, so daß Übereinstimmung mit dem Prinzip der Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes besteht. Nur ein Einwand ist für bestimmte Fallgruppen auszuräumen: anders als regelmäßig24 bei der Scheinvollmacht trifft bei der Scheineinwilligung die Rechtsscheinhaftung häufig nicht denjenigen selbst, der den Scheintatbestand setzt, sondern einen anderen, z. B. den Minderjährigen. Indessen ist auch in diesem Falle die Einstandspflicht zu bejahen, da dieser sich das Handeln jenes zurechnen lassen muß nicht anders als bei einer echten rechtsgeschäftlichen Einwilligung25 und auf 20 Gegen die Analogie ohne nähere Begründung v. Tuhr II 2 S. 224 Fn. 94; für die Analogie beiläufig Flume § 31, 5 b (S. 563); wohl auch Oertmann § 182 Anm. 9; eingehender Alfred Kraus, Der Schutz des Vertrauens auf den „äußeren Tatbestand“ im Stellvertretungsrecht des bürg. Rechts, Diss. Köln 1933, S. 39 ff. – Im übrigen beziehen sich die Äußerungen der Literatur, soweit ersichtlich, nur auf die Problematik des Erlöschens der Einwilligung, also auf die analoge Anwendung der §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB, vgl. die Nachweise unten § 12 Fn. 25. 21 Ein gesetzlich typisierter Fall dürfte § 1431 III BGB sein. 22 Vgl. das Beispiel S. 34, das sich ohne weiteres entsprechend abwandeln läßt. 23 So der Terminus Flumes, vgl. § 15 II 1 d = S. 253. 24 Aber nicht ausnahmslos, da durchaus auch Scheinvollmachten zu Lasten Dritter vorkommen, vgl. unten § 36 III 1. 25 Vgl. unten § 36 III.
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Regreßansprüche im Innenverhältnis beschränkt ist. Insbesondere darf man sich nicht durch den – ohnehin in dieser Formulierung sehr anfechtbaren – Satz „Schutz mangelnder Geschäftsfähigkeit geht vor Vertrauensschutz“ verwirren lassen; denn richtig verstanden besagt er nur, daß der Geschäftsunfähige und der beschränkt Geschäftsfähige vor einer Vertrauenshaftung durch eigenes Handeln zu schützen sind, weil ihnen insoweit die erforderliche Zurechnungsfähigkeit fehlt,26 wohingegen es hier ja um die Schaffung eines Scheintatbestandes zu ihren Lasten durch fremdes Handeln geht. Daher bestehen auch keine Bedenken dagegen, u. U. auch eine Scheinermächtigung, insbesondere eine Duldungsermächtigung i. S. des § 113 BGB anzunehmen. Im Falle des § 112 BGB ist dagegen zu bedenken, daß die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts natürlich nicht durch die Schaffung des Rechtsscheins hinsichtlich des Vorliegens einer Ermächtigung des Vertreters ersetzt werden kann und daß auch nicht etwa das Gericht selbst einen entsprechenden Rechtsschein schaffen kann, da es sich insoweit um einen förmlichen Hoheitsakt handelt; für eine Rechtsscheinhaftung ist daher hier grundsätzlich kein Raum,27 es sei denn, die gerichtliche Genehmigung geht der Ermächtigung ausnahmsweise voraus.28 Insgesamt ist also festzustellen, daß auch bei bewußter29 Schaffung des Scheins einer Einwilligung die Rechtsscheinhaftung eingreift. V. Die Scheinermächtigung und insbesondere die Duldungsermächtigung im Falle des § 185 I BGB Die Schaffung des Scheins einer Ermächtigung i. S. des § 185 I BGB gehört an sich nicht in den Rahmen dieser Arbeit, da es dabei nicht um die Problematik der Vertrauenshaftung, sondern um die des gutgläubigen Erwerbs geht.29a Der enge sachliche Zusammen- [72] hang mit den soeben erörterten Tatbeständen legt jedoch auch dazu einige Bemerkungen nahe. Es liegt nämlich auf der Hand, daß die Regeln über die Scheinvollmacht und die Scheineinwilligung ohne weiteres analog auf die Schaffung des Scheins einer Ermächtigung i. S. des § 185 I angewendet werden können, da diese nur einen Unterfall der Einwilligung
Vgl. näher unten § 36 I. Vgl. auch Staudinger-Coing § 112 Rdz. 7; Düringer-Hachenburg, Allg. Einleitung vor § 1 HGB Rdz. 104 (S. 134 f.). Der Fall, daß die Genehmigung vorliegt, ist allerdings in beiden Kommentaren übersehen. – Vgl. in anderem Zusammenhang ferner Flume § 49, 3 (S. 831 f.). 28 Ob das zulässig ist, ist allerdings strittig, jedoch richtigerweise zu bejahen; vgl. StaudingerCoing § 112 Rdz. 7 m. Nachw. 29 Zu einer weitergehenden Haftung vgl. unten §§ 11 I, 12 IV 2. 29a Vgl. zur Themenabgrenzung insoweit oben § 1 II. 26 27
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht darstellt und da sie mit der Vollmacht eng verwandt ist.30 Dadurch gerät man nicht etwa in Widerspruch zu dem allgemein anerkannten Rechtssatz, daß es nach §§ 892 f., 932 ff. BGB keinen Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsmacht gibt. Denn dieser besagt richtig verstanden nur, daß Grundbucheintrag bzw. Besitz des Verfügenden insoweit nicht als hinreichender Scheintatbestand anzusehen sind, während hier nicht ein derartiger gesetzlich typisierter Scheintatbestand in Frage steht, sondern ein „natürlicher“ wie z. B. eine Erklärung oder ein konkludentes Verhalten des wahren Berechtigten. Auch gilt diese Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes keineswegs nur bei Sachen, sondern ebenso bei Rechten,31 und es liegt daher nicht nur hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen, sondern auch hinsichtlich des Anwendungsbereichs ein so wesentlicher Unterschied gegenüber der Regelung des gutgläubigen Erwerbs im Sachenrecht vor, daß die Gefahr eines Wertungswiderspruchs nicht besteht. Die praktische Bedeutung einer solchen Scheinermächtigung dürfte freilich geringer sein, als man vielleicht zunächst meint. Denn die Ermächtigung wird typischerweise als Spezialund nicht als Generaleinwilligung erteilt, was wohl mit ihrem „objektsbezogenen“ Charakter (im Gegensatz zur „personenbezogenen“ Vollmacht) zusammenhängt, und daraus folgt zum einen, daß nicht selten in der „Mitteilung“ an den Dritten ohnehin eine echte rechtsgeschäftliche Ermächtigung zu sehen ist, und zum anderen, daß auch aus einem länger dauernden „Dulden“ häufig nur auf eine Reihe von fallweise erteilten Spezialermächtigungen, nicht aber ohne weiteres auf eine (auch noch für zukünftige Geschäfte gültige) Generalermächtigung zu schließen ist. Immerhin sind aber auch typische interne (beschränkte) Generalermächtigungen und die Schaffung eines entsprechenden Rechtsscheins nach außen denkbar. So ist z. B. beim verlängerten Eigentumsvorbehalt der Vorbehaltskäufer i. d. R. intern zu Verfügungen über die nach der Verarbeitung entstehenden neuen Sachen ermächtigt; wenn nun der Dritte zwar hinsichtlich des Eigentums bösgläubig, hinsichtlich der – in Wahrheit ausnahmsweise nicht bestehenden – Verfügungsmacht aber gutgläubig ist und sich dieser gute Glaube auf eine entsprechende deklaratorische Kundgabe des wahren Berechtigten, z. B. auf eine vorhergehende Duldung ähnlicher unbefugter Veräußerungen des Vorbehaltskäufers gründet, dann muß sich jener nach dem Prinzip der Einstandspflicht für einen wissentlich geschaffenen Scheintatbestand den Rechtsschein zurechnen lassen. Entsprechendes gilt auch, wenn der wahre Berechtigte nicht lediglich den Schein der Verfügungsmacht, sondern sogar den Schein der Rechtsinhaberschaft eines anderen durch sein Verhalten schafft, also z. B. schriftlich oder mündlich bewußt wahrheitswidrig erklärt, er habe diesem das Recht übertragen oder dgl.31
30 Vgl. statt aller Thiele, Die Zustimmungen in der Lehre vom Rechtsgeschäft, 1966, S. 146 ff. 31 Vgl. auch unten § 9 II 3 und III 3 a. E.
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VI. Die Scheingenehmigung Daß ebenso wie eine Scheineinwilligung auch eine Scheingenehmigung in Analogie zu den für jene entwickelten Regeln anzuerkennen ist, bedarf keiner näheren Begründung mehr. Dabei ergeben sich Besonderheiten freilich insofern, als die Genehmigung dem Vertragsschluß nachfolgt und als dieser daher hier anders als [73] sonst nicht die im Vertrauen auf den Scheintatbestand vorgenommene „Disposition“ sein kann; da indessen auch andere Maßnahmen des Vertrauenden denkbar sind – er beginnt z. B. mit der Produktion des bestellten Materials, schließt einen Deckungskauf ab usw. – besteht jedenfalls ein Anwendungsbereich für die Scheingenehmigung – unabhängig von der – generell zu stellenden und daher nicht hier zu erörternden – Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen auf das Erfordernis einer „Disposition“ sogar verzichtet werden kann.32 Keine Besonderheiten bestehen hinsichtlich der Zurechnungsproblematik, und das bedeutet, daß auch hier grundsätzlich die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes erforderlich ist. Daher liegt nicht nur keine echte rechtsgeschäftliche Genehmigung, sondern auch keine zurechenbare Scheingenehmigung vor, wenn jemand ohne Erklärungsbewußtsein ein den Eindruck einer Genehmigung erweckendes Verhalten an den Tag legt,33 und man kann folglich in diesem Falle eine solche auch nicht auf Grund einer Interpretation des Verhaltens nach „Treu und Glauben“ annehmen;34 das gilt auch und erst recht bei bloßem Stillschweigen,35 so daß in diesem eine Genehmigung nicht allein deshalb erblickt werden kann, weil der Schweigende nach Treu und Glauben zu einer Antwort an den Vertrauenden verpflichtet gewesen wäre.36 Ausnahmen bestehen allerdings im Handelsrecht;37 im übrigen aber ist auch hier wieder nachdrücklich an die sonstigen Möglichkeiten der Vertrauenshaftung, wie etwa an die Lehre von der culpa in contrahendo oder an die Erfüllungshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens und kraft Erwirkung,38 zu erinnern. Vgl. dazu unten § 40 III. Auch nicht, wenn er dabei fahrlässig handelt, vgl. oben § 4 III und § 5 IV. 34 Unzutreffend daher insoweit RG WarnRspr. 1926 Nr. 154 (S. 229); SeuffArch. 87 Nr. 100 (S. 185 f.); Philipowski BB 64, 1069 ff. Zur Kritik der RG-Entscheidungen vgl. auch unten bei Fn. 39. 35 Die Rspr. lehnt die Annahme einer Genehmigung bei fehlendem Erklärungsbewußtsein denn auch ganz überwiegend ab, vgl. die Nachw. bei Philipowski BB 64, 1069 Fn. 1. 36 Unzutreffend daher insoweit RGZ 103, 95 (98); RG JW 1928, 638; JW 1931, 522 (524); BGH LM Nr. 4 zu § 177 BGB (Rücks.); Manigk, Heymann-Festschrift S. 647; Philipowski BB 64, 1069 ff. Die Entscheidungen haben jedoch i. E. die Annahme einer Genehmigung durchweg abgelehnt. 37 Vgl. unten § 20. 38 Vgl. unten § 28 III und § 31 I 2. 32 33
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht Scharf von der Scheingenehmigung zu unterscheiden ist die nachträgliche Schaffung, Aufrechterhaltung oder Bekräftigung des Scheins einer bestimmten Rechtslage. Der objektive Tatbestand einer Genehmigung und demnach auch der der Scheingenehmigung setzt nämlich voraus, daß dem anderen Teil die Genehmigungsbedürftigkeit des fraglichen Rechtsgeschäfts bewußt war oder daß er mit ihr zumindest rechnete. Daran fehlt es, wenn der Dritte glaubt, das Geschäft sei ohnehin wirksam. Dann ist zwar eine echte interne Genehmigung möglich, nicht aber eine externe Scheingenehmigung oder die externe Schaffung des Scheins einer internen Genehmigung; denn da der Dritte davon ausgeht, das Geschäft gelte an sich bereits, kann er das Verhalten dessen, gegen den der Schein spricht, unmöglich dahin verstehen, daß das Geschäft erst genehmigt, d. h. in Geltung gesetzt worden sei, sondern vielmehr nur als deklaratorische Bestätigung einer ohnehin gegebenen Rechtslage. Das wird [74] häufig verkannt;39 ein Musterbeispiel für einen derartigen Mißbrauch des Instituts der Genehmigung ist die „Genehmigungstheorie“ im Wechselrecht.40 – Allerdings ist ein „Mischfall“ denkbar: u. U. rechnet der Dritte damit, daß das Geschäft entweder von Anfang an wirksam war oder doch wenigstens nachträglich genehmigt worden ist. Dann liegen objektiv die Voraussetzungen einer Genehmigung vor, da immerhin Zweifel an der Wirksamkeit bestanden und somit die Möglichkeit der Genehmigungsbedürftigkeit nicht auszuschließen war; folglich können die Regeln über die Genehmigung und mithin auch die über die Scheingenehmigung grundsätzlich Anwendung finden. Ein gesetzliches Beispiel dieser Art stellen die §§ 75 h, 91 a HGB dar.41
VII. Die Schein-BGB-Gesellschaft und die Scheinmitgliedschaft in einer BGB-Gesellschaft Auch die Problematik der wissentlichen Schaffung eines Rechtsscheins im Recht der BGB-Gesellschaft läßt sich weitgehend mit Hilfe der Regeln über die Scheinvollmacht lösen. Dabei sind zwei Fragen zu unterscheiden: erstens die Haftung eines an der Vornahme des fraglichen Rechtsgeschäfts unbeteiligten Scheingesellschafters und zweitens die Verpflichtung des Handelnden selbst. Was die erste Frage angeht, so liegt hier eine entscheidende Besonderheit darin, daß bei der BGB-Gesellschaft nach §§ 714, 709 1 BGB grundsätzlich Gesamtvertretung besteht. Nun können aber aus dem Rechtsscheingedanken niemals weitergehende Rechte abgeleitet werden, als sie bestünden, wenn der Schein der 39 So z. B. in den oben bereits kritisierten Entscheidungen RG WarnRspr. 1926 Nr. 154 und RG SeuffArch. 87 Nr. 100. Der Dritte ging hier jeweils ersichtlich davon aus, daß der Vertreter Vollmacht hatte; daher konnte schon objektiv in dem Verhalten des Geschäftsherrn ihm gegenüber keine Genehmigung (und folglich auch keine Scheingenehmigung) liegen. Richtig dagegen BGH WM 64, 224 (225 Sp. 2 unter b aa); vgl. ferner unten § 28 I a. E. 40 Vgl. dazu unten § 22 III 3. 41 Vgl. dazu unten § 19 III.
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Wirklichkeit entspräche, und das bedeutet, daß der Schein einer BGBGesellschaft oder der Mitgliedschaft in einer solchen für sich allein noch nicht zu einer Verpflichtung der ihr angeblich angehörenden Gesellschafter nach § 427 BGB genügt; denn eine Gesellschafter kann die übrigen wegen §§ 714, 709 nur dann verpflichten, wenn ausnahmsweise Einzelvertretungsmacht vereinbart ist oder wenn er von jenen eine besondere Vollmacht hat, und daher muß insoweit ein zusätzlicher Scheintatbestand hinzukommen. Daraus folgt dogmatisch, daß es in dieser Frage ausschließlich um Probleme der Scheinvertretungsmacht geht, und daraus ergibt sich praktisch, daß eine Rechtsscheinhaftung verhältnismäßig selten sein wird. Aber natürlich gibt es auch hier relevante Fälle einer Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes, so wenn die übrigen Scheingesellschafter das Auftreten eines einzelnen schon mehrfach hingenommen und z. B. die entsprechenden Geschäfte anstandslos erfüllt haben, also im Fall der Duldungsvertretungsmacht,42 oder wenn [75] sie einem ihrer Mitglieder einen Gesellschaftsvertrag, in dem Einzelgeschäftsführung vereinbart ist, vorzeitig – d. h. vor dem (aus der Urkunde nicht ersichtlichen) Zeitpunkt des vertraglich vereinbarten Beginns der Gesellschaft – ausgehändigt haben und dieser das Schriftstück nun mißbraucht, also in einem dem Tatbestand des § 172 I BGB rechtsähnlichen Fall. Auch hier ist aber die grundsätzliche Ablehnung der Regeln über die „Anscheinsvollmacht“ und die statt dessen befürwortete Beschränkung auf kaufmännische und kaufmannsähnliche Unternehmen zu beachten,43 so daß es nicht genügt, wenn die übrigen das Auftreten des Scheingesellschafters lediglich hätten kennen müssen.44 Auch soweit es um die bloße Überschreitung der Vertretungsmacht (bei einer „wirklichen“ BGB-Gesellschaft), also z. B. um die Mißachtung einer im Gesellschaftsvertrag vereinbarten Beschränkung der Vertretungsmacht auf die Haftung mit dem Gesellschaftsvermögen, geht, sind die aus den §§ 714, 709 I BGB folgenden Grenzen der Rechtsscheinhaftung zu beachten: da der Geschäftspartner sich nicht ohne weiteres auf die Einzelvertretungsmacht des mit ihm abschließenden Gesellschafters verlassen kann, verdient er erst recht i. d. R. keinen Schutz in seinem Vertrauen auf die Unbeschränktheit der Vertretungsmacht; vielmehr bedarf es auch insoweit eines zusätzlichen Scheintatbestandes,45 der insbesondere 42 Vgl. dazu auch Lobedanz, Der Einfluß von Willensmängeln auf Gründungs- und Beitrittsgeschäfte, 1938, S. 38 ff. 43 Vgl. oben § 5 IV und unten § 18 II. 44 Vgl. auch unten S. 169 zur Schein-OHG m. Nachw. in Fn. 6. 45 Vgl. auch Hueck, Gesellschaftsrecht § 9 IV 1 a. E. (nicht ganz eindeutig, da Hueck zunächst generell Erkennbarkeit für den Dritten zu fordern scheint); Lehmann, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 1959, S. 87; Larenz, Schuldrecht B. T. § 56 Mb a. E.; Erman-Schultze-Wenck § 714 Anm. 3 a. E. (vgl. aber auch Anm. 3 a. A., wo Erkennbarkeit gefordert wird); der Sache nach richtig auch Palandt-Thomas § 714 Anm. 3 c und OLG Stuttgart MDR 54, 169 (170). Anders RGZ 155, 75 (87; obiter); Enn.-Lehmann § 178 B 3 a; Haupt-Reinhardt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 1952, § 8
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wiederum in der Duldung entsprechender Überschreitungen der Vertretungsmacht liegen kann. Es sind freilich auch Fälle denkbar, in denen die Problematik nicht mehr durch bloße Anwendung der Stellvertretungsregeln zu lösen ist: sofern jemand den Schein seiner Zugehörigkeit zu einer (wirklich bestehenden) BGB-Gesellschaft, in der der Grundsatz der Gesamtvertretung abbedungen ist, hervorruft, geht es nicht um eine Scheinvertretungsmacht, sondern allein um eine Scheinmitgliedschaft. Auch hier wird man eine Rechtsscheinhaftung aber ohne weiteres bejahen können, sei es, daß man eine Analogie zur Scheinvollmacht annimmt, sei es, daß man die soeben entwickelten Regeln über die Scheingesellschaft entsprechend weiterbildet. Anders ist die Lage hinsichtlich der Haftung des handelnden Scheingesellschafters selbst. Insoweit wird man nämlich in aller Regel ohne jeden Rückgriff auf die Rechtsscheinhaftung auskommen; denn entweder ist der Handelnde schon nach den Regeln [76] der Rechtsgeschäftslehre gebunden, da der Vertragsschluß im Namen einer BGB-Gesellschaft durch eines ihrer Mitglieder stets zugleich auch ein Vertragsschluß im eigenen Namen ist und der Scheingesellschafter daher bei objektiver Auslegung ohne weiteres selbst Vertragspartei und damit Schuldner gemäß § 427 BGB ist,46 oder aber er haftet wenigstens nach § 179 I BGB,46a da er bei der hier zur Diskussion stehenden Fallgestaltung ja Kenntnis von der wahren Rechtslage hat. Diese Konstruktionen versagen allerdings, wenn ausnahmsweise die objektive Auslegung zur Annahme eines Handelns ausschließlich im fremden Namen führt und auch eine entsprechende Vertretungsmacht gegeben war, gleichwohl aber für den Geschäftspartner der Schein bestand, als sei der Handelnde Mitglied der Gesellschaft – z. B. weil sich dieser bei einer früheren, mit dem jetzigen Vertragsschluß in keinem Zusammenhang stehenden und daher im Rahmen der objektiven Auslegung außer Betracht bleibenden Gelegenheit als Mitglied der Gesellschaft ausgegeben hatte.47 Dann bleibt in der Tat nur der Rückgriff auf die Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins – eine Analogie zur Scheinvollmacht dürfte insoweit nicht mehr
III 2; Staudinger-Geiler-Kessler § 714 Rdz. 12; Würdinger, Recht der Personalgesellschaften, 1957, S. 90; Soergel-Schultze-von Lasaulx § 714 Rdz. 8; die beiden letzteren verkennen besonders deutlich, daß der Vorrang des Verkehrsschutzes im Recht der BGB-Gesellschaft eben nicht gilt (arg. §§ 714, 709 und die Schwerfälligkeit dieser Regelung) und daß sich hier zu den §§ 125 IV HGB, 26 II 1, 70 BGB gerade keine Parallele findet. 46 Auch die nach § 119 I BGB an sich mögliche Anfechtung mit der Begründung, er habe ausschließlich im fremden Namen handeln wollen, ist ihm hier nach § 164 II BGB versagt; zu dieser Bedeutung des § 164 II vgl. Flume § 44 III. 46a Das gilt insbesondere im Fall einer Gesamtnichtigkeit nach § 139 BGB; vgl. zu dieser Flume § 32, 2 b m. Nachw. sowie neuestens BGH JR 70, 180. 47 Als Beispiel vgl. LAG Stuttgart AP 51 Nr. 226 (Larenz).
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möglich sein –, und diese greift durch, ohne daß es darauf ankommt, ob das frühere Auftreten gerade dem jetzigen Geschäftspartner gegenüber erfolgt ist.48 VIII. Die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Vereinsrecht Gibt das zuständige49 Organ wissentlich50 eine unrichtige Erklärung zum Vereinsregister ab, so greift zwar nicht der – auf die „negative Publizität“ beschränkte – Schutz des § 68 BGB ein, doch ist der Verein gleichwohl nach Rechtsscheingrundsätzen gebunden. Das ergibt sich ohne weiteres aus einer Analogie zu § 171 I BGB, und daher gilt jedenfalls insoweit50 dasselbe wie bei den Erklärungen zum Handelsregister.51 Auch wenn das zuständige Organ die Beseitigung einer ihm bekannten unrichtigen Eintragung unterläßt, ist eine Rechtsscheinhaftung zu bejahen, da kein Grund ersichtlich ist, aus dem gerade hier eine Ausnahme von diesem sonst allgemein geltenden52 Prinzip zu machen ist. [77] IX. Der Scheinerfüllungsgehilfe i. S. des § 278 und des § 701 II BGB Auch hinsichtlich der Einstandspflicht für Erfüllungsgehilfen können Rechtsscheinprobleme auftauchen: wenn jemand zu Unrecht den Eindruck hervorruft, er bediene sich eines anderen als seines Gehilfen, so fragt sich, ob er dessen Handeln nach Rechtsscheingrundsätzen gegen sich gelten lassen muß.53 48 A. A. LAG Stuttgart und Larenz aaO., doch steht diese Ansicht in Widerspruch zu sonst nahezu allgemein anerkannten Regeln, vgl. unten § 38 III 2 und 39 III 4. 49 Nur das Handeln des zuständigen Organs muß sich der Verein zurechnen lassen, vgl. unten § 36 III 2. 50 Zu weiterreichenden Haftungsprinzipien vgl. unten § 11 I a. A. 51 Anders Soergel-Schultze – v. Lasaulx § 68 Rdz. 1; der Sache nach auch das übrige Schrifttum, vgl. v. Tuhr I S. 536; Planck-Knoke § 68 Anm. 1; Oertmann § 68 Anm. 5; Staudinger-Coing § 27 Rdz. 20 und § 68 Rdz. 5. 52 Vgl. unten § 38 III 8. 53 Die Abgrenzung gegenüber anderen Fällen der Rechtsscheinhaftung ist mitunter nicht ganz einfach. Nicht um einen Fall der Scheinerfüllungsgehilfenschaft, sondern um eine besondere Form der Scheinvollmacht geht es z. B., wenn jemand den Eindruck schafft, er habe einem (echten) Erfüllungsgehilfen die Vollmacht zur Beiziehung eines weiteren, mittelbaren Erfüllungsgehilfen erteilt (richtig daher insoweit BGH LM Nr. 2/3 zu § 278 BGB; Fikentscher AcP 154, 9; unklar Soergel-Schmidt § 278 Rdz. 10). – Ebenfalls um die Problematik der Scheinvollmacht geht es auch, wenn ein Theater oder ein Verein nicht hinreichend deutlich machen, daß sie die Garderobe oder das Restaurant nicht im eigenen Namen betreiben, sondern verpachtet haben und daß daher die Garderobenfrauen und die Kellner usw. Erfüllungsgehilfen des Pächters sind (vgl. dazu RG JW 24, 95; Weimar MDR 59, 905 f.). Denn der Vertrag wird hier bei objekti-
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Mit dem Scheinbevollmächtigten noch verhältnismäßig eng verwandt ist der Scheinverhandlungsgehilfe. Man mag z. B. daran denken, daß jemand sich zwar nicht als abschlußbevollmächtigt, wohl aber zu Unrecht als verhandlungsbefugt geriert und der Geschäftsherr dies duldet. Dann liegt kein eigentlicher Fall der Duldungsvollmacht vor, da nicht der Schein einer Vertretungsmacht für den Abschluß eines Rechtsgeschäfts besteht, wohl aber doch ein eng verwandter Fall: es geht um den Schein der Befugnis zur Aufnahme des rechtsgeschäftlichen Kontaktes, ein Vorgang, der zwar kein Rechtsgeschäft darstellt, aber nach den Regeln über die culpa in contrahendo Folgen wie aus einem solchen nach sich ziehen kann. Angesichts der starken Ähnlichkeit zwischen der Abschlußvollmacht und der Verhandlungsbefugnis wird man diesen Fall ohne Bedenken schon auf Grund einer bloßen Einzelanalogie der Duldungsvollmacht gleichstellen dürfen. Dies hat zur Folge, daß der Geschäftsherr die Aufnahme des rechtsgeschäftlichen Kontaktes gegen sich gelten lassen muß, daß dementsprechend das gesetzliche Schuldverhältnis der Vertragsverhandlungen als mit ihm zustande gekommen anzusehen ist und daß er für ein Verschulden seines Scheingehilfen nach § 278 BGB einzustehen hat. Der Verhandlungsgehilfe ist, soweit es um die Problematik des § 278 BGB geht, nichts anderes als ein Unterfall des Erfüllungsgehilfen. Es ist daher kein Grund ersichtlich, Rechtsscheingrundsätze nicht ganz allgemein auf den Scheinerfüllungs- [78] gehilfen anzuwenden,54 wenngleich zur Begründung dabei wohl nicht mehr die Einzelanalogie zur Scheinvollmacht ausreicht, sondern der Rückgriff auf das hier vertretene allgemeine Rechtsscheinprinzip erforderlich wird. Als Beispiel sei ein vom LG Kleve entschiedener Fall54 angeführt: Der Veranstalter eines Balles hatte wissentlich geduldet, daß jemand eine Fahrradwache einrichtete unter Umständen, die bei den Besuchern den unrichtigen Eindruck hervorrufen mußten, dieser sei dazu angestellt. Das LG hat den Veranstalter nach Rechtsscheingrundsätzen über § 278 BGB für einen Schaden haften lassen, den ein Besucher durch Verschulden des Wächters erlitt. Die Entscheidung ist vom hier vertretenen Standpunkt aus grundsätzlich zu billigen, da der Geschäftsherr bewußt den Schein gesetzt hatte, der Wächter sei sein Erfüllungsgehilfe.55 Allerdings wäre zu ver Auslegung regelmäßig mit dem Theater bzw. der Stadt oder mit dem Verein und nicht mit dem Pächter geschlossen, und das Problem liegt daher darin, ob die Garderobenfrau bzw. der Kellner insoweit die erforderliche Vertretungsmacht hatten; ist das zu bejahen – und das wird nach den Regeln über die Rechtsscheinhaftung „kraft Einräumung einer Stellung“ (vgl. oben § 5 III und unten § 18 I) meist der Fall sein –, so ergibt sich die Anwendung des § 278 BGB – etwa bei einem Verlust oder einer Beschädigung der Garderobe – zwangsläufig, ohne daß es dazu eines erneuten Rückgriffs auf den Rechtsscheingedanken bedarf. Zweifelhaft kann hier allerdings die „Kausalität des Rechtsscheins“ sein, vgl. dazu sogleich im Text bei Fn. 56. 54 Vgl. auch LG Kleve MDR 54, 675; Bruck-Möller § 45 Anm. 28; sehr zurückhaltend SoergelSchmidt § 278 Rdz. 10. 55 Er war es nicht, da nach h. L. Erfüllungsgehilfe nur ist, wer mit Wissen und Willen des Schuldners bei der Erfüllung tätig wird (vgl. z. B. Enn.-Lehmann § 44 II 1; Larenz Schuldrecht A. T. § 19 VIII), was mehr ist als bloße Kenntnis von der Tätigkeit. Daß das auch sachgerecht
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prüfen gewesen, ob der Rechtsschein kausal für das Handeln des Dritten war,56 also ob dieser sein Fahrrad dem Wächter nicht auch dann anvertraut hätte, wenn er gewußt hätte, daß jener allein in eigener Verantwortung tätig war; richtiger Ansicht nach hätte dem Veranstalter ein entsprechender Beweis offengestanden,57 der ihm – unter Berücksichtigung der Grundsätze über den prima-facie-Beweis – vermutlich auch gelungen wäre. Entsprechend der oben58 entwickelten grundsätzlichen Ablehnung der „Anscheinsvollmacht“ genügt es dagegen nicht, daß der Geschäftsherr das Handeln des Erfüllungsgehilfen lediglich hätte kennen müssen. Allerdings haftet er dem Dritten i. d. R. schon aus eigenem Verschulden, falls bereits ein Schuldverhältnis bestand: es gehört dann zu seinen Sorgfaltspflichten, Unbefugte von der Einwirkung auf die Güter seines Partners fernzuhalten. Wurde der rechtsgeschäftliche Kontakt dagegen erst durch den Scheingehilfen vermittelt, so ist eine Einstandspflicht grundsätzlich abzulehnen. Eine Ausnahme gilt bei kaufmännischen und kaufmannsähnlichen Betrieben.59 In diesem Zusammenhang ist ferner die Einstandspflicht des Gastwirts für seine Leute zu nennen, soweit diese nach § 701 II BGB auch dann eingreift, wenn jene zur Entgegennahme der Sachen des Gastes nicht befugt, aber „nach den Umständen [79] als dazu bestellt anzusehen“ sind. Darin wird man in der Tat einen Fall der Rechtsscheinhaftung sehen dürfen;60 denn echte Erfüllungsgehilfen – um dieses Problem geht es mutatis mutandis auch hier – sind nur diejenigen Leute des Wirtes, die zur Entgegennahme der Sachen wirklich bestellt sind, nicht auch die übrigen.61 Die Richtigkeit dieser dogmatischen Einordnung zeigt sich dabei nicht zuletzt auch daran, daß der Ausschluß der Gastwirtshaftung ohne weiteres (und nicht nur in den Grenzen des § 254 BGB) gerechtfertigt erscheint, wenn der Gast weiß oder wenn es für ihn offensichtlich ist, daß derjenige, dem er seine Sachen anvertraut, entgegen dem äußeren Schein nicht zur Annahme befugt ist.
ist, ergibt die „Probe“ der Bösgläubigkeit: weiß der Dritte oder ist es für ihn offenkundig, daß der Geschäftsherr das Tätigwerden des „Gehilfen“ keineswegs als eine Erfüllung von an sich ihm obliegenden Pflichten ansieht, so verdient er keinen Schutz, wenn er sich gleichwohl mit ihm einläßt. 56 An diesem Merkmal wird es i. d. R. auch dann fehlen, wenn der Dritte das fragliche Rechtsgut schon vor dem Eingreifen des unbefugten Erfüllungsgehilfen der Einwirkungsmöglichkeit des anderen Teils ausgesetzt hatte. 57 Vgl. allgemein unten § 40 IV a. E. 58 Vgl. § 5 IV. 59 Das unten § 18 II zur Anscheinsvollmacht Gesagte gilt entsprechend. 60 Vgl. auch Wellspacher aaO. S. 111 ff.; Otto Fischer, Sein und Schein im Rechtsleben, 1909, Sp. 21; Brülle, Der Rechtsschein bei den gesetzlichen Vollmachten des Privatrechts, Diss. Breslau 1916, S. 41 f.; Oertmann ZHR 95, 479 f.; Manigk, Heymann-Festschrift S. 616 f. 61 Vgl. oben Fn. 55.
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§ 8 Die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Familienrecht Auch im Familienrecht ist die Problematik der Rechtsscheinhaftung nicht unbekannt. Sie spielt insbesondere im ehelichen Güterrecht und bei der Schlüsselgewalt eine Rolle. So fragt sich z. B., ob die Rechtswirkungen des § 1422 und der §§ 1437 ff. bzw. 1459 ff. BGB auch dann eintreten, wenn lediglich der Schein einer Gütergemeinschaft vorliegt, oder ob die Verfügungsbeschränkungen der §§ 1365 ff. BGB gegenüber gutgläubigen Dritten nicht durchgreifen, wenn die Ehegatten den Schein der Gütertrennung geschaffen haben. Wird der Rechtsschein einer Ehe hervorgerufen, so geht es vor allem darum, ob der Mann Rechtsgeschäfte der Frau, die bei Verheirateten im Rahmen der Schlüsselgewalt lägen, gegen sich gelten lassen muß. I. Der Scheingüterstand 1. Wer eine Erklärung zum Güterrechtsregister abgibt, deren Unrichtigkeit ihm bekannt ist, wird an den dadurch geschaffenen Rechtsschein gebunden. Dieser Satz, der den Minimaltatbestand1 des „positiven“ Vertrauensschutzes im Güterrecht bildet, ist i. E. nahezu allgemein anerkannt.2 Er wird meist auf die entsprechende Anwendung der Rechtssätze über die „Erklärungen an die Öffentlichkeit“ im Handelsrecht, insbesondere über die Erklärungen zum Handelsregister oder auf eine Analogie zu § 171 BGB gestützt. Beide Begründungen sind jedoch äußerst frag- [80] würdig. Die Berufung auf die im Handelsrecht gewohnheitsrechtlich geltenden Rechtssätze genügt für sich allein schon deshalb nicht, weil die diesen zugrunde liegende Theorie von der Erklärung an die Öffentlichkeit verfehlt ist3 und weil im übrigen die Voraussetzungen der Gewohnheitsrechtsbildung außerhalb des Handelsrechts keinesfalls erfüllt sind. Gegen die analoge Anwendung des § 171 BGB spricht, daß sich die dafür erforderliche „Rechtsähnlichkeit“ zwischen der Vollmacht und der Rechtslage bei den verschiedenen Güterständen wohl kaum begründen läßt. Das ist besonders deutlich hinsichtlich der Gütertrennung; diese ist nämlich für den Dritten allein insoweit von Bedeutung, als sie den Ausschluß der Verfügungsbeschränkungen nach §§ 1365 ff. BGB zur Folge Zu einer darüber hinausgehenden Haftung vgl. unten § 11 IV. Vgl. (z. T. i. E. wesentlich weitergehend) Kipp-Wolff, 6. Aufl. 1928, § 42 VI 2 und 3; Beitzke, 14. Aufl. 1968, § 12 V 5; Gernhuber, 1964, § 33 IV 2; Dölle, 1964, § 46 III 3 b und c; SoergelLange § 1412 Rdz. 13 und vor § 1558 Rdz. 4; Erman-Bartholomeyczik § 1412 Anm. 4 b; gegen einen erweiterten Vertrauensschutz Kleinhenne, Vertrauensschutz bei Verfügungen über gütergemeinschaftliches Vermögen, Diss. Erlangen 1910, S. 22 ff., 35 ff., 43 ff. 3 Vgl. unten § 14 II. 1 2
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hat, und dabei kann keine Rede davon sein, daß durch den Vertrag der eine Ehegatte dem anderen irgendeine besondere, der Vertretungs- oder Verfügungsmacht vergleichbare Befugnis einräumt: es wird lediglich die Zuordnung des beiderseitigen Vermögens geregelt, und damit tritt ipso iure als gesetzliche Nebenfolge der Wegfall der Beschränkungen nach §§ 1365 ff. BGB ein. Eher schon könnte die analoge Anwendung des § 171 BGB bei der Gütergemeinschaft passen, da die Vertretungsmacht i. S. der §§ 164 ff. BGB und die Verwaltungsbefugnis i. S. der §§ 1422 ff. BGB immerhin eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen, doch erweist sich bei näherer Prüfung auch hier die Analogie als nicht tragfähig. Denn abgesehen davon, daß die Verwaltungsbefugnis keine Verpflichtungsmacht umschließt,4 sich also schon dadurch wesentlich von der Vollmacht unterscheidet, und daß die Haftung des anderen Ehegatten nach §§ 1437 ff. bzw. 1459 ff. dementsprechend kraft Gesetzes eintritt, ist vor allem auch die Möglichkeit zu bedenken, daß der verwaltungsbefugte Ehegatte selbst durch Handlungen des nichtverwaltungsbefugten nach § 1437 II 1 BGB persönlich verpflichtet werden kann – ein Fall, in dem nicht der geringste Ansatz einer der Vollmacht vergleichbaren Legitimation vorliegt.5 Daß über die Anerkennung des Vertrauensschutzes i. E. gleichwohl Einigkeit besteht, beweist indessen auch hier wieder die außerordentliche Durchschlagskraft des Rechtsscheingedankens und bestätigt zugleich mittelbar die Richtigkeit des hier entwickelten allgemeinen Prinzips; denn aus der „Rechtsscheinhaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestandes“ ergibt sich ohne weiteres die auch von der h. L. angestrebte Lösung,6 und man sollte daher zur Begründung auf diesen Haftungsgrundsatz zurückgreifen. [81] 2. Die daraus folgende Einstandspflicht ist nicht auf Erklärungen zum Güterrechtsregister beschränkt, sondern gilt ebenso für die ausdrückliche oder konkludente „Kundgabe“ des Güterstandes auf andere Weise. Das wird zwar in der Literatur, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich hervorgehoben, folgt aber ohne weiteres aus allgemeinen Rechtsscheinsätzen: überall wird die Haftung auch auf andere Erklärungen als solche an die Öffentlichkeit und auf schlüssiges Handeln ausgedehnt – so z. B. in § 171 I BGB und bei der Duldungsvollmacht und sogar bei den er-
Vgl. statt aller Gernhuber § 38 VI 2. Das Zustimmungserfordernis nach § 1438 I BGB hat nicht etwa den Sinn, dem nichtverwaltungsbefugten Ehegatten eine Art Vollmacht zu geben, sondern soll nur mittelbare Beeinträchtigungen der Befugnisse des verwaltenden Gatten verhindern. 6 Mit Hilfe dieses Rechtsprinzips läßt sich allerdings nur der eine Teil der Problematik lösen: die Frage, ob gutgläubige Dritte geschützt werden, wenn in Wahrheit überhaupt kein Güterrechtsvertrag bestand. Die zweite Frage ist, ob der Dritte auch dann geschützt wird, wenn zwar ein Vertrag geschlossen war, aber an (den Eheleuten unbekannten) Mängeln litt; insoweit ist die Lösung aus einem anderen allgemeinen Prinzip der Vertrauenshaftung zu gewinnen, vgl. eingehend unten § 11 IV. 4 5
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wähnten handelsrechtlichen Sätzen.7 Nur dadurch dürfte sich übrigens – zusammen mit dem besonderen Erfordernis der Zurechenbarkeit – dem Vorwurf begegnen lassen, die Bindung an eine Erklärung zum Güterrechtsregister sei in Wahrheit eine gesetzeswidrige Erschleichung einer teilweisen positiven Publizität des Registers: die Rechtsscheinhaftung ist, anerkennt man sie in dem hier vertretenen Umfang, eben gar kein Spezifikum des „Registerschutzes“, sondern ein gleichrangig neben diesem stehendes, eigenständiges Institut.8 – Dementsprechend ist z. B. in Anlehnung an die Regeln über die Duldungsvollmacht auch hier ausreichend, daß ein Ehegatte sich mit Wissen des anderen9 so geriert, als sei er allein zur Verwaltung des angeblichen Gesamtguts befugt oder als bestünde Gütertrennung. Soweit es sich um den Rechtsschein einer Gütergemeinschaft handelt, ist freilich zu beachten, daß nach § 1421 S. 2 im Zweifel beide Ehegatten gemeinsam das Gesamtgut verwalten, und die Lage ist daher insoweit ähnlich wie bei der Schein-BGB-Gesellschaft:10 es genügt nicht der Schein des Vorliegens einer Gütergemeinschaft, sondern es muß der Schein der Alleinverwaltungsbefugnis hinzukommen – sofern nicht beide Ehegatten handeln oder ausnahmsweise Rechtsscheinregeln auch im Rahmen eines mitwirkungsfreien Rechtsgeschäftes nach §§ 1454 f. BGB zum Zuge kommen. Auch wenn der betreffende Ehegatte es unterlassen hat, eine ihm bekannte unrichtige Eintragung im Register zu beseitigen, ist eine Rechtsscheinhaftung zu bejahen,11 da der wissentlichen Schaffung eines Scheintatbestandes seine wissentliche Aufrechterhaltung gleichzustellen ist.12 Hinsichtlich der Notwendigkeit „unverzüglichen“ Einschreitens gegen die Eintragung und der dazu erforderlichen Maßnahmen usw. gelten die Ausführungen zur insoweit gleichliegenden Proble- [82] matik bei Eintragungen im Handelsregister entsprechend.13 Ebenso wie dort befreit die irrtümliche Annahme, die Eintragung sei richtig, nicht von der Haftung.14 Anders als dort genügt hier jedoch entsprechend den für das bürgerliVgl. unten S. 492 f. Vgl. auch unten S. 157. 9 Fahrlässige Unkenntnis genügt dagegen entsprechend dem hier vertretenen Standpunkt zur „Anscheinsvollmacht“ (vgl. oben § 5 IV und allgemein unten § 38 II 2) folgerichtig nicht. 10 Vgl. dazu oben § 7 VII. 11 Ebenso i. E. Kipp-Wolff § 42 VI 3; Beitzke § 12 V 5; Gernhuber § 33 IV 2; Dölle § 46 III 3 c; Soergel-Lange vor § 1558 Rdz. 4; Erman-Bartholomeyczik § 1412 Anm. 4 b; Palandt-Lauterbach Anm. 1 vor § 1558. Soweit das Schrifttum dabei bloße „Zurechenbarkeit“ (so Lange aaO.) oder bloßes „Verschulden“ (so Bartholomeyczik aaO.) genügen lassen will, ist dem nicht zuzustimmen, vgl. sogleich im Text; wie hier i. E. eindeutig Lauterbach aaO. und wohl auch Dölle aaO. 12 Vgl. unten § 38 III 8. 13 Vgl. unten S. 490 m. Nachw. in Fn. 68. 14 Dies folgt aus der Übertragung der unten § 11 IV entwickelten Regeln über den Einwendungsausschluß und gehört daher streng genommen nicht in den vorliegenden Zusammenhang: es geht um die Tragung des „Richtigkeitsrisikos“ (vgl. dazu allgemein unten § 38 III 4 und 8). 7 8
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che Recht entwickelten,15 vom Handelsrecht abweichenden16 Zurechnungsgrundsätzen nicht die – sei es auch verschuldete – Unkenntnis der Eintragung. 3. Hinsichtlich der analogen Anwendbarkeit der Vorschriften über Rechtsgeschäfte besteht bezüglich der Beachtlichkeit von Willensmängeln eine Besonderheit insofern, als diese auch dann zugunsten Gutgläubiger präkludiert sind, wenn sie die Anmeldung zum Register oder die sonstige „Kundgabe“ (und nicht lediglich den zugrunde liegenden Vertrag) betreffen. Denn die Wirkungen eines Ehevertrages könnten, auch soweit sie den Dritten betreffen, nicht ebensogut extern durch Rechtsgeschäft mit diesem herbeigeführt werden, so daß die Kundgabe nicht „rechtsgeschäftsvertretende Funktion“ hat, und außerdem ist das Vorliegen eines Güterstandes typischerweise für Rechtsgeschäfte mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen von Bedeutung; daher liegen die Voraussetzungen eines generellen Ausschlusses der Berücksichtigung von Willensmängeln vor.17 Auch die Formvorschriften finden keine entsprechende Anwendung, und insbesondere steht die Formbedürftigkeit der Güterrechtsverträge einer Rechtsscheinhaftung nicht im Wege, da der Schutzzweck des Formerfordernisses durch diese nicht umgangen wird.18 4. Spezifische Schwierigkeiten ergeben sich hinsichtlich der Frage, in welchem Umfang Rechtsscheinregeln eingreifen. Problematisch ist insoweit zunächst, ob die Verfügungsbeschränkungen der §§ 1365 ff. BGB entfallen, wenn der Rechtsschein geschaffen wurde, daß zwischen den Eheleuten nicht der gesetzliche Güterstand gilt. Dies ist im Verhältnis zu gutgläubigen Dritten in der Tat zu bejahen, so daß es entgegen der allgemeinen Meinung einen, wenn auch beschränkten, Schutz des guten Glaubens auch gegenüber diesen Vorschriften gibt. Ihr Zweck steht nicht entgegen. Denn ein Ehegatte kann durch Rechtsgeschäft – sei es durch Abschluß eines Güterrechtsvertrages, sei es durch Zustimmung zu einem bestimmten Geschäft – den Verfügungen des anderen volle Wirksamkeit verschaffen, und er muß es daher angesichts der funktionellen Verwandtschaft von rechtsgeschäftlicher Bindung und Rechtsscheinhaftung19 auch durch die bewußte Schaffung eines entsprechenden Scheintatbestandes können; Bedenken könnten sich insoweit allenfalls ergeben, wenn man [83] entgegen der hier vertretenen Ansicht eine Haftung auch dort bejaht, wo der Ehegatte nicht bewußt eine Erklärung abgibt. Im übrigen verdienen einige Besonderheiten bei der Gütergemeinschaft Hervorhebung. Was zunächst die Verfügungsmacht eines (scheinbar) allein verwaltungsbefugten Ehegatten angeht, so wird man die Anwendung von Rechtsscheinregeln unbedenklich bejahen können. Zweifelhaft ist dagegen, wie weit auch die Haftung Vgl. zusammenfassend unten S. 150, 517 und 528 und auch soeben Fn. 9. Vgl. unten §§ 18 ff. und speziell zur Registereintragung S. 161. 17 Vgl. auch oben zur Scheinvollmacht S. 36 f. und allgemein unten S. 455. 18 Vgl. näher unten S. 465 f. 19 Vgl. dazu allgemein unten § 35 I. 15 16
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des Gesamtgutes und die gesamtschuldnerische Verpflichtung der Ehegatten nach §§ 1437 ff. bzw. 1459 ff. BGB anzunehmen ist. Hier können Rechtsscheingrundsätze keineswegs unbeschränkt zur Anwendung kommen. So haften das Gesamtgut und dementsprechend der verwaltende Ehegatte persönlich bei Bestehen einer Gütergemeinschaft z. B. auch für die vor Abschluß des Ehevertrages begründeten Schulden, doch kommt eine Rechtsscheinhaftung insoweit grundsätzlich20 nicht in Betracht, da der Rechtsschein für die Begründung der (alten!) Schuld nicht kausal gewesen sein kann. Ebensowenig greift die Rechtsscheinhaftung hinsichtlich nichtrechtsgeschäftlicher, insbesondere hinsichtlich deliktischer Verpflichtungen ein; zwar würde bei Bestehen der Gütergemeinschaft auch insoweit eine Gesamtgutsverbindlichkeit gegeben sein, doch gilt die Rechtsscheinhaftung anerkanntermaßen nur innerhalb des rechtsgeschäftlichen Verkehrs.21 Fraglich ist schließlich, ob man bei der Scheingütergemeinschaft eine persönliche Haftung des verwaltenden Gatten für die Schulden des nichtverwaltenden anerkennen soll. Denn Sinn dieser Haftung ist nicht etwa eine Erweiterung der Kreditgrundlage der Eheleute oder ähnliches, sondern durch sie soll lediglich erreicht werden, daß dem verwaltenden Ehegatten alle Schulden „gleich lästig“ sind22 – also ein Ziel, das mit Verkehrsschutzgesichtspunkten nichts zu tun hat. Dennoch wird man die Rechtsscheinhaftung insoweit bejahen müssen, weil (und soweit) sich nicht ausschließen läßt, daß der Dritte das Geschäft mit dem nichtverwaltungsbefugten Ehegatten gerade im Vertrauen auf die persönliche Mithaftung des – vielleicht besonders kreditwürdigen – verwaltenden Ehegatten vorgenommen hat; es genügt insoweit, dem Dritten den Beweis aufzuerlegen, daß er das Geschäft in Kenntnis des Rechtsscheins der Gütergemeinschaft abgeschlossen hat, und dem verwaltenden Ehegatten den Gegenbeweis zu gestatten, daß jener es auch unabhängig von seiner Mithaftung vorgenommen hätte.23 II. Die Scheinehe 1. Nach § 27 EheG werden gutgläubige Dritte in ihrem Vertrauen auf das Bestehen einer Ehe auch dann geschützt, wenn diese rechtskräftig für nichtig erklärt worden ist. Tragender Grund des Gutglaubensschutzes ist hier jedoch nicht, daß den Ehegatten die Schaffung eines Vertrauenstatbestandes zugerechnet wird, sondern daß [84] die Eheschließung durch einen staatlichen Hoheitsakt vollzogen ist und daher erhöhte Bestandsfestigkeit verdient. Diese Auslegung läßt sich in doppelter Hinsicht auf das Gesetz stützen; zum einen umfaßt § 27 EheG auch den Fall der Zu den Ausnahmen vgl. die hier entsprechend geltenden Ausführungen unten § 15 II 5. Vgl. unten § 35 II. 22 Vgl. Gernhuber § 38 VII 13 (= S. 396). 23 Vgl. allgemein unten § 40 IV a. E. 20 21
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Geschäftsunfähigkeit eines Ehegatten (§ 18 I EheG), und das bedeutet, daß der Schutz offenbar auch gegenüber Unzurechnungsfähigen eintreten soll, also seinen Grund nicht in Zurechnungsgesichtspunkten haben kann;24 zum anderen findet § 27 nach allgemeiner Ansicht25 keine Anwendung im Falle der Nichtehe, mag auch nach außen ein noch so starker Schein einer Ehe entstanden sein, und das zeigt, daß nicht die Schaffung des Rechtsscheins durch die Ehegatten, sondern der staatliche Hoheitsakt die entscheidende Vertrauensgrundlage ist. § 27 EheG ist daher ein Fall des „reinen Rechtsscheinprinzips“, d. h. der Rechtsschein wird von der Rechtsordnung für relevant erklärt, ohne daß es auf eine Zurechnung ankommt.26 2. Anders liegt es insoweit in dem von § 27 EheG nicht erfaßten Fall der Nichtehe, insbesondere dem des Konkubinats. Problematisch ist hierbei vor allem, ob der Mann Rechtsgeschäfte der Frau, die bei Bestehen einer Ehe im Rahmen der Schlüsselgewalt lägen, zugunsten gutgläubiger Dritter gegen sich gelten lassen muß. Das Schrifttum versucht die Frage meist durch die Annahme einer stillschweigenden Vollmacht im Umfang der Schlüsselgewalt zu lösen.27 Der Fiktionscharakter dieser Konstruktion ist indessen leicht zu durchschauen. Weder nach innen noch nach außen wird nämlich, rein objektiv gesehen, eine besondere Befugnis rechtsgeschäftlich begründet, sondern es wird lediglich das Bestehen einer Ehe deklariert, mit der von Gesetzes wegen die Vertretungsmacht im Sinne des § 1357 BGB verbunden ist. Deshalb ist auch mit dem Institut der Scheinvollmacht nicht weiterzukommen.28 Denn es kann keine Rede davon sein, daß eine Ehefrau notwendiger- oder auch nur typischerweise eine entsprechende rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht besäße; vielmehr ist § 1357 BGB eine positivrechtliche Entscheidung des Gesetzgebers, die auch anders hätte ausfallen können und bei deren Fehlen alles auf die Umstände des jeweiligen Falles und die Willensäußerungen der beteiligten Personen ankäme. Nicht um den Schein einer Vollmacht, sondern allein um den einer Ehe geht es daher, und erst aus dem Schein der Ehe folgt dann der Rückschluß auf die gesetzliche Vertretungsmacht im Rahmen der Schlüsselgewalt. Die bisherigen Lösungsversuche vermögen daher nicht zu befriedigen. Vom hier vertretenen Standpunkt aus fällt die Begründung dagegen leicht: wer z. B. im Konkubinat, das nach außen als Ehe erscheint, lebt, setzt wissentlich einen [85] Rechtsschein und ist daher an diesen gebunden. Damit ist zugleich die 24 Freilich ist dieser Schluß nicht ganz zwingend, da die Gegenansicht § 27 EheG auf Grund einer „teleologischen Reduktion“ entsprechend einschränken könnte. 25 Vgl. statt aller Dölle § 24 III 1 m. Nachw. in Fn. 112. 26 Vgl. allgemein unten § 37 II 1. 27 Vgl. vor allem Kipp-Wolff § 28 III; vgl. ferner Planck-Unzner § 1344 Anm. 2 und 19; Mitteis, Familienrecht, 1949, S. 45 (unter e); v. Godin, EheG, 2. Aufl. 1950, § 27 Anm. 5; Dölle § 24 III 6 c und 7 a. E. (vgl. aber auch § 45 V 5, wo auf den Rechtsscheingedanken zurückgegriffen wird). 28 Vgl. aber Dölle § 24 III 6 c mit Fn. 162.
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Grenze der Einstandspflicht bezeichnet: auch hier kann es nicht genügen, daß der Rechtsschein lediglich fahrlässig hervorgerufen wird,29 weil es eine allgemeine Haftung für fahrlässig verursachten Rechtsschein nicht gibt.30 Der Bräutigam wird daher aus einem eigenmächtigen Kauf seiner Verlobten z. B. auch dann nicht verpflichtet, wenn er entgegen der allgemeinen Sitte der betreffenden Gegend den Verlobungsring rechts trägt, sich mit ihr in einem Doppelzimmer eingemietet hat und die Dorfbevölkerung daraus schließt, das sei „nur bei Verheirateten möglich“. Anders wird es erst in dem Augenblick, wo er merkt, daß man ihn für verheiratet hält; dabei genügt schon, daß seine Braut in seiner Gegenwart sich als seine Frau ausgibt oder erkennbar als solche behandelt wird. Praktisch wird es kaum vorkommen, daß zwar bei objektiver Betrachtung der Schein einer Ehe zu bejahen ist, daß dies aber dem Mann verborgen blieb.31 Auch hier gilt daher, was schon zur „Anscheinsvollmacht“ gesagt wurde: das Bedürfnis für eine Ausweitung der Haftung auch auf die fahrlässige Verursachung des Rechtsscheins ist so gering, daß es die darin liegende Systemwidrigkeit und insbesondere die Gefahr des Wertungswiderspruchs mit der Regelung der Willensmängel im BGB32 nicht zu rechtfertigen vermag. Allenfalls kann man in derartigen Fällen eine Haftung analog § 122 BGB erwägen oder mit Ansprüchen aus c. i. c. bzw. pVV. helfen, sofern deren Voraussetzungen vorliegen.
29 Ebenso i. E. Planck-Unzner § 1344 Anm. 2; weitergehend, vom Standpunkt der h. L. zur Anscheinsvollmacht aus folgerichtig, Dölle aaO. Fn. 162 a. E. 30 Vgl. unten § 38 II 2. 31 „Verschließt er die Augen“ vor der Schlüssigkeit seines Verhaltens, so haftet er, vgl. oben S. 23. 32 Vgl. § 5 IV und auch § 4 III.
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§ 9 Der „Drittschutz“ beim Scheingeschäft, insbesondere § 405 BGB, und die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins im Zessionsrecht Neben den §§ 171 ff. BGB kommt als zweiter positiv-rechtlicher Ansatzpunkt für die Rechtsscheinhaftung im bürgerlichen Recht § 405 BGB in Betracht. Allerdings hat diese Vorschrift ihrer tatbestandsmäßigen Formulierung nach verhältnismäßig enge Grenzen, die sich für die Entwicklung eines „allgemeinen“ Prinzips der Rechtsscheinhaftung u. U. als störend erweisen könnten, und in der Tat haben die Verfasser des BGB z. B. hinsichtlich des Scheingeschäfts einen allgemeinen Schutz des guten Glaubens, wie er vom Boden der Rechtsscheinlehre aus an sich folgerichtig erschiene, bewußt abgelehnt.1 Indessen ist deren Ansicht nicht ohne weiteres verbindlich, sofern sie im Gesetz keinen zwingenden Niederschlag gefunden hat, und da zudem die Bedeutung des Rechtsscheingedankens zur Zeit der Entstehung des BGB noch nicht voll erkannt war, ist es methodisch nicht von vornherein ausgeschlossen, die Regelung des § 405 über ihren engen Wortlaut hinaus zu erweitern und mit den Erfordernissen „allgemeiner“ Rechtsscheinprinzipien in Einklang zu [86] bringen. Als Grundlage für einen solchen Versuch ist zunächst die Bestimmung selbst einer näheren Untersuchung zu unterziehen. I. Der unmittelbare Anwendungsbereich des § 405 BGB 1. Daß § 405 BGB einen Fall der Rechtsscheinhaftung darstellt, ist nahezu unbestritten.2 Freilich ist damit der eigentliche Haftungsgrund noch nicht mit voller Klarheit erkannt, da es eine allgemeine Einstandspflicht für die bloße Veranlassung eines Scheintatbestandes nach geltendem Recht, wie in § 3 dargelegt, nicht gibt und die Berufung auf den Rechtsscheingedanken allein daher zur Erklärung des § 405 BGB nicht ausreicht. Auch der Hinweis darauf, daß es hier um den Schutz des guten Glaubens an das Bestehen einer verbrieften Forderung gehe, führt nicht weiter;3 denn auch einen allgemeinen Schutz des Vertrauens auf Ur-
Vgl. Mot. I S. 193; Prot. I S. 204. Schon in den Protokollen wird der Gedanke des Vertrauensschutzes mit großer Klarheit betont, vgl. Prot. I S. 390. Vgl. ferner z. B. Wellspacher, Vertrauen auf äußere Tatbestände S. 60 ff. (62); Stoll AcP 135, 113 ff.; Larenz, Schuldrecht A. T. § 30 I; Erman-Westermann § 405 Anm. 1. 3 Verfehlt daher Endemann, Lb. des Bürg. Rechts Bd. I, 9. Aufl. 1903, § 152, 1 c, Fn. 17, der „unbedenklich“ § 796 BGB anwenden will. Mit Recht gegen ihn Wellspacher aaO. S. 65 Fn. 11; gegen die Erklärung des § 405 BGB aus dem Urkundscharakter mit Recht auch Westermann JuS 63, 5. 1 2
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kunden kennt das BGB nicht,4 was gerade aus § 405 selbst deutlich wird: warum sollte sonst nur die Berufung auf die Einwendungen des Scheingeschäfts und der Unabtretbarkeit ausgeschlossen sein, während alle anderen Einwendungen nicht abgeschnitten sind? Mit dieser Fragestellung ist jedoch der richtige Ansatzpunkt gewonnen: die ratio legis des § 405 kann nur ermittelt werden, wenn man sich darüber Rechenschaft gibt, warum gerade diese beiden Einwendungen von der Vorschrift erfaßt werden. Die Antwort fällt von dem hier vertretenen Standpunkt aus leicht: weil derjenige, der ein Scheingeschäft in einer Urkunde niederlegt oder der den Ausschluß der Abtretbarkeit nicht in die Urkunde aufnimmt, bewußt den Rechtsschein eines gültigen Geschäftes bzw. einer abtretbaren Forderung schafft und weil andererseits derjenige, der im Vertrauen auf eine solche Urkunde ein Rechtsgeschäft vornimmt, nicht damit zu rechnen braucht, daß diese beiden Einwendungen gegeben sind – eben weil sie dem Aussteller der Urkunde bekannt sind und man sich im redlichen Verkehr darauf verlassen darf, daß nicht bewußt ein der Wahrheit widersprechender Schein erzeugt wird. Daß darin der tiefere Grund der Haftung nach § 405 BGB liegt, klingt denn auch in der Literatur verschiedentlich an,5 und so wird man in der Tat sagen können, daß die Vorschrift einen Unterfall der „Rechtsscheinhaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestandes“ darstellt. Das ist natürlich im Auge zu behalten, wenn alsbald die Möglichkeit von Analogieschlüssen zu § 405 [87] näher geprüft wird, doch soll, um der Gefahr des Zirkelschlusses6 so weit wie möglich vorzubeugen, in erster Linie versucht werden, diese Analogien ohne Rückgriff auf das „allgemeine“ Prinzip einsichtig zu machen. 2. Im Rahmen des unmittelbaren Anwendungsbereichs von § 405 ist aber zuvor noch ein anderes Problem zu klären, das ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für die Zurechnung des Scheintatbestandes und für das allgemeine System der Rechtsscheinhaftung ist: die Frage, inwieweit Willensmängel bei der Ausstellung oder Aushändigung der Urkunde einer Anwendung des § 405 entgegenstehen. Nach einer von WELLSPACHER7 begründeten, heute ganz herrschenden Ansicht sollen die Vorschriften der §§ 116 ff. BGB nicht anwendbar sein, da „in der Ausstellung einer Urkunde an sich keine Willenserklärung gelegen“ sei; statt dessen seien die im Rahmen des § 935 BGB entwickelten Grundsätze heranzuziehen. Daher werde der Schutz des § 405 BGB durch Irrtum, Drohung oder Betrug Vgl. oben § 3 V. Vgl. Z. B. Planck-Siber § 405 Anm. 1; Oertmann § 405 Anm. 2; Friedrichs, Der Vertrauensschutz bei der Zession verbriefter Forderungen, Diss. Göttingen 1938, S. 19; Stoll aaO. S. 113 ff., der sich allerdings vorwiegend auf § 116 BGB beruft (S. 114 f.). 6 Zu dieser vgl. näher unten S. 107. 7 aaO. S. 67 f.; ebenso Klein SeuffBl. 74, 729 f.; Stoll aaO. S. 110 f.; Soergel-Schmidt § 405 Rdz. 2; Erman-Westermann § 405 Anm. 2 (vgl. aber auch Anm. 3 a. E.). 4 5
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nicht ausgeschlossen, wohl aber durch mangelnde Geschäftsfähigkeit des Ausstellers, absoluten Zwang oder Diebstahl der Urkunde. Dieser Lehre ist nicht zu folgen. Ihrem methodischen Ausgangspunkt nach stellt sie nämlich, wie schon im Zusammenhang der Scheinvollmacht nachgewiesen wurde, ein Beispiel überholter Begriffsjurisprudenz dar, und insbesondere verkennt sie, daß die §§ 116 ff. allgemeine Zurechnungsprobleme betreffen und daher der Analogie fähig sind.8 Es kommt hinzu, daß die Theorie Wellspachers zu schweren Wertungswidersprüchen gegenüber dem Normalfall der Zession führt. Das wird besonders deutlich in jenen Fällen, in denen nicht nur die Ausstellung oder die Aushändigung der Urkunde, sondern auch das zugrunde liegende Geschäft von dem Willensmangel ergriffen wird. Denn bei jeder gewöhnlichen Forderung, die auf einem fehlerhaften Rechtsgeschäft beruht, kann der Mangel gemäß § 404 BGB ohne weiteres auch dem Zessionar entgegengesetzt werden, und warum etwas anderes gelten soll, nur weil zusätzlich noch der Einwand des Scheingeschäfts vorliegt, ist nicht einzusehen: auch wenn dieser gemäß § 405 präkludiert ist, muß dem Schuldner nach der Lehre von den Doppelwirkungen9 die Anfechtung trotz der Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts möglich sein,10 und daher kann hier schon aus diesem Grunde an der Geltung der Vorschriften über Willensmängel kein Zweifel sein. Es bleiben somit allenfalls die Fälle, in denen nur die Ausstellung oder die Aushändigung der Urkunde unter dem Einfluß eines Willensmangels erfolgte. Zu denken ist dabei zunächst an den Fall, daß sich der Aussteller in der Urkunde verschreibt oder aus [88] einem sonstigen Grunde versehentlich etwas anderes beurkundet, als bei dem Scheingeschäft verabredet wurde. Auch hier besteht indessen kein Anlaß, ihm die Berufung auf den Mangel zu versagen. Denn er hat insoweit nicht bewußt einen Scheintatbestand gesetzt, und außerdem zwingt wieder der Vergleich mit dem Normalfall der Zession zu diesem Ergebnis: beurkundet jemand eine Forderung versehentlich falsch, so kann er sich nach § 404 BGB darauf auch gegenüber einem Gutgläubigen berufen; bei einem Scheingeschäft kann es nicht anders sein, weil der Scheincharakter insoweit ohne jede Bedeutung ist.10a – Im übrigen kommen vor allem die Tatbestände von Drohung und Täuschung i. S. des § 123 BGB in Vgl. oben § 5 I 2 und vor allem unten § 36 II. Grundlegend Kipp, Festschrift für v. Martitz, 1911, S. 211 ff. 10 Vgl. auch Erman-Westermann § 405 Anm. 3 a. E., wo allerdings zu Unrecht nicht zwischen der zugrunde liegenden Willenserklärung und der Hingabe der Urkunde getrennt wird, sondern von der „in der Urkundenhingabe liegenden Willenserklärung“ (!) die Rede ist. 10a Eine andere Frage ist, ob der Schuldner wenigstens entsprechend dem Inhalt des Scheingeschäfts haftet. Das wird man ohne weiteres bejahen können, wenn dieses als bloßes „Minus“ gegenüber dem Inhalt der Urkunde anzusehen ist, doch sollte es auch im Falle eines „aliud“ gelten, sofern dieses wirtschaftlich vergleichbar erscheint und sofern man daher in der Urkunde insoweit noch einen Scheintatbestand sehen kann; denn es besteht kein Anlaß, den Schuldner wegen seines Versehens nun von jeder Haftung freizustellen. 8 9
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Betracht. Insoweit ist zu differenzieren. Wenn der Aussteller veranlaßt wird, der Urkunde einen anderen Inhalt zu geben, als ihn das Scheingeschäft hatte, so liegt in Wahrheit die Vornahme eines neuen, selbständigen Scheingeschäftes vor, und die Anfechtung ist daher wieder schon nach der Lehre von den Doppelwirkungen wegen eines Mangels des beurkundeten Geschäfts selbst zulässig. Schwieriger ist die Lösung, wenn nur der Vorgang der Ausstellung oder der Aushändigung der Urkunde als solcher durch den Willensmangel beeinflußt ist, wenn also jemand nach Abschluß eines Scheingeschäfts durch Drohung oder Täuschung dazu veranlaßt wird, darüber eine – inhaltlich dem Scheingeschäft voll entsprechende – Urkunde auszustellen und (bzw. oder) diese auszuhändigen. Das beurkundete Geschäft ist dann, abgesehen von dem durch § 405 präkludierten Mangel des Scheingeschäfts, fehlerlos. Fehlerhaft ist dagegen die Schaffung des Scheintatbestandes, und es fragt sich daher, ob dies seine Zurechnung ausschließt. Das aber ist für die Rechtsscheinhaftung allgemein zu bejahen, da § 123 BGB auf sie grundsätzlich analoge Anwendung findet,11 und für die vorliegende Problematik kann, zumal angesichts ihrer engen Verwandtschaft mit den bisher erörterten Varianten, folgerichtig nichts anderes gelten. Im Ergebnis sind somit Willensmängel gegenüber der Haftung aus § 405 durchweg erheblich. Allein so läßt sich die Wertungseinheit mit der Rechtsgeschäftslehre und dem allgemeinen Zessionsrecht wahren. Diesen Zusammenhang verkennen Wellspacher und seine Anhänger, wenn sie statt dessen auf die zu § 935 BGB entwickelten Grundsätze zurückgreifen wollen: die Rechtsscheinhaftung nach § 405 steht der Selbstbindung durch Rechtsgeschäft wesentlich näher als der Problematik des Gutglaubenserwerbs im Mobiliarsachenrecht,12 ganz abgesehen davon, daß es dort nicht um die Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins geht. – Selbstverständlich ist eine Haftung nach § 405 BGB in den Fällen, in denen sie sogar nach der Lehre Wellspachers abzulehnen ist, auch vom hier vertretenen [89] Standpunkt aus nicht gegeben. Wenn der Aussteller z. B. nicht voll geschäftsfähig ist, folgt dies daraus, daß ihm dann die erforderliche Zurechnungsfähigkeit fehlt,13 wenn die Urkunde gestohlen worden ist,14 aus einem argumentum a fortiori zur Berücksichtigung der Willensmängel und aus der Analogie zu § 172 I BGB.15
Vgl. unten § 36 II. Vgl. näher unten § 36 Fn. 10. 13 Vgl. unten § 36 I. Nach Klein SeuffBl. 1909, 729 und ihm folgend Soergel-Schmidt § 405 Rdz. 2 sollen beschränkt Geschäftsfähige nicht geschützt werden; a. A. mit Recht schon Wellspacher aaO. S. 68. 14 Für Haftung auch in diesem Falle Stoll AcP 135, 107; Friedrichs aaO. S. 28; zur Kritik vgl. oben § 3 V. 15 Zu § 172 I vgl. insoweit oben § 5 I 3; zu der im Text vorgenommenen Analogie in methodischer Hinsicht näher Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 117 f. mit Fn. 24. 11 12
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II. Die Haftung auf Grund eines Scheingeschäfts über den unmittelbaren Anwendungsbereich des § 405 BGB hinaus Wie bereits erwähnt, muß der Drittschutz beim Scheingeschäft über den beschränkten Bereich einer unmittelbaren Anwendung des § 405 hinaus ausgedehnt werden, wenn man, wie hier, von einer allgemeinen Einstandspflicht für bewußt gesetzten Rechtsschein ausgeht. Nach überwiegender Ansicht ist § 405 jedoch eng auszulegen und der Analogie nur sehr beschränkt zugänglich.16 Das wird meist mit der angeblichen Analogiefeindlichkeit von Ausnahmevorschriften begründet. Diese Begründung ist indessen heute methodologisch überholt, und außerdem stellt § 405 bei richtigem Verständnis gar keine Ausnahme dar, sondern beruht, wie gezeigt, auf dem erwähnten allgemeinen Rechtsprinzip.17 Auch abgesehen davon ist aber die Beschränkung des Drittschutzes auf den engen Anwendungsbereich des § 405 BGB weder praktisch erfreulich noch wertungsmäßig überzeugend. 1. Dementsprechend hat neuerdings FLUME den Versuch unternommen, eine allgemeine Haftung aus einem Scheingeschäft gegenüber gutgläubigen Dritten zu begründen.18 Nach seiner Ansicht legitimiert derjenige, der „in einer als Scheingeschäft abgegebenen Erklärung dokumentiert, daß ein anderer ihm gegenüber oder von ihm ein Recht erworben habe, dadurch den anderen, im eigenen Namen über das Recht zu verfügen“. Über § 405 BGB hinausgehend soll diese Legitimation nicht nur in einer Urkunde, sondern auch darin enthalten sein können, daß „der Scheinberechtigte ... mit dem Einverständnis des wirklich Berechtigten dem Dritten gegenüber die Geltung des Scheingeschäfts behauptet“. In § 405 erblickt Flume dementsprechend einen gesetzlich zugelassenen Fall einer Verpflichtungsermächtigung.19 – Diese Konstruktion muß an ihrem Fiktionscharakter scheitern. Eine interne Ermächtigung gegenüber dem Partner des Scheingeschäfts scheidet ohne weiteres aus, weil diesem klar ist, daß ein Rechtserwerb Dritter aus dem Scheingeschäft nicht gewollt [90] ist; nach den beiden Beteiligten bekannten Umständen fehlt es daher bereits am objektiven Tatbestand einer auf eine Legitimation gerichteten Willenserklärung. Flume hat denn auch ersichtlich nicht eine interne, sondern eine externe Ermächtigung im Auge. Auch hinsichtlich einer solchen liegen jedoch schon die objektiven Voraussetzungen einer entsprechenden Willenserklärung nicht vor. Insoweit kann es nach allgemeinen Auslegungsregeln nur auf die Umstände ankommen, die dem Empfänger der Willenserklärung, hier also dem Dritten, erkennbar sind. Für diesen aber liegt in der Urkunde bzw. in der entspre16 Vgl. z. B. RGZ 71, 30 (31); 74, 416 (421); Soergel-Schmidt § 405 Rdz. 1; Palandt-Heinrichs § 405 Anm. 1 (durchweg zur Frage der analogen Anwendung des § 405 auf andere Einwendungen als die des Scheingeschäfts, vgl. dazu unten III); vgl. auch Ramdohr GruchBeitr. 44, 686. 17 Zu dem naheliegenden Einwand des Zirkelschlusses vgl. unten S. 107. 18 Vgl. § 20, 2 c. 19 Vgl. aaO. S. 411 und S. 412.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht chenden Behauptung des Scheinberechtigten nicht eine – durch den letzteren als Boten überbrachte – Ermächtigung, d. h. der konstitutive Akt eines Rechtsgeschäfts, sondern die rein deklaratorische Erklärung, es bestehe ein bestimmtes Recht. Sein Glaube richtet sich ausschließlich darauf, daß zwischen Scheinschuldner und Scheinberechtigtem ein Rechtsgeschäft vorgenommen worden ist, nicht darauf, daß gleichzeitig ihm gegenüber eine Willenserklärung abgegeben wird. Ihm erscheint es überdies so, als verfüge der Scheinberechtigte über sein eigenes Recht; bei einer externen Ermächtigung müßte jedoch objektiv der Eindruck gegeben sein, dieser verfüge über ein fremdes Recht bzw. begründe eine fremde Verpflichtung. Die Konstruktion Flumes würde daher geradezu voraussetzen, daß der Dritte die mangelnde Rechtsinhaberschaft des Scheinberechtigten kennt; dann aber wäre er bösgläubig, so daß sich das Problem seines Schutzes gar nicht stellte. Es liegt also weder intern noch extern eine Ermächtigung vor, und da es daher insoweit schon am objektiven Tatbestand einer Willenserklärung fehlt, verfängt auch Flumes Hinweis auf § 116 BGB20 nicht.21 Einen anderen Weg schlägt KALLIMOPOULOS vor.22 Nach seiner Meinung sind die Simulanten auf Grund des Verbots des venire contra factum proprium gehindert, sich gutgläubigen Dritten gegenüber auf die Nichtigkeit des Scheingeschäfts zu berufen, falls diesen gegenüber „ein konkretes Verhalten der Simulanten zu verzeichnen ist, durch welches sie auf das Vorhandensein und damit die Ernstlichkeit des Rechtsgeschäfts aufmerksam wurden“.23 Auch wenn man davon absieht, daß Kallimopoulos dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens eine viel zu weitgehende und de lege lata unhaltbare Formulierung gibt24 und daß er mit keinem Wort auf die Frage eingeht, ob dieses auch anspruchsbegründenden und nicht nur anspruchsvernichtenden Charakter hat,25 ist sein Lösungsvorschlag unbrauchbar. Denn eine Erfüllungshaftung aus § 242, wie sie hier vorläge, stellt immer nur die „ultima ratio“ dar und kann daher nur dann zum Zuge kommen, wenn speziellere Institute nicht eingreifen.26 Ein solches bietet sich aber hier in dem Gedanken der Rechtsscheinhaftung an, und der Gesetzgeber selbst hat diese in § 405 BGB, der bei Kallimopolous bezeichnenderweise keine Rolle spielt, zur Lösung der Problematik verwendet. Der Rückgriff auf § 242 würde daher den Nachweis voraussetzen, daß mit dem Institut der Rechtsscheinhaftung und insbesondere mit einer Weiterentwicklung des § 405 nicht zum Ziel zu kommen ist. Das Gegenteil trifft zu, wie sogleich zu zeigen ist.
20 Dieser stellt allerdings eine der Einstandspflicht für die bewußte Schaffung eines Scheintatbestandes verwandte Vorschrift dar, vgl. schon oben S. 29 und unten S. 420 Fn. 37, sowie Stoll aaO. S. 114 f. 21 Gegen Flume jetzt auch Larenz A T. S. 372 Fn. 3; vgl. auch schon Wellspacher aaO. S. 62 unter Hinweis auf eine ältere französische Theorie. 22 Die Simulation im bürgerlichen Recht, 1966, S. 26 ff., 122 ff., 152 ff. 23 Vgl. aaO. S. 130. 24 Vgl. aaO. S. 26 und 128 und dazu unten § 43 Fn. 33. 25 Vgl. dazu unten §§ 27 ff. 26 Vgl. unten S. 529 f. und S. 542 bei Fn. 2.
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2. Ohne weiteres läßt sich zunächst begründen, daß § 405 BGB nicht nur auf Urkunden, sondern über seinen Wortlaut hinaus auch auf eine ausdrückliche Erklä- [91] rung des Scheinschuldners Anwendung findet.27 Daß § 405 diese nicht der Urkunde gleichstellt, ist eine „planwidrige Unvollständigkeit“ vom Boden des Gesetzes selbst aus, also eine Lücke. Dies ergibt sich schon daraus, daß das BGB in den vergleichbaren Fällen der §§ 409 und 170 ff. die „Anzeige“ und die Aushändigung einer Urkunde gleich behandelt. Auch ist eine ausdrückliche Erklärung kein schwächerer Vertrauenstatbestand als eine Urkunde, sondern im Gegenteil ein stärkerer.28 Sie ist daher in diesem Zusammenhang nicht anders zu bewerten als jene, und folglich fordert der Gleichheitssatz, sie im Wege der Analogie zu § 405 BGB gleichzustellen.29 Auch dabei handelt es sich um Haftung für die bewußte Setzung eines Rechtsscheins, nicht etwa um Bindung an ein Rechtsgeschäft; denn die Erklärung des Scheinschuldners gegenüber dem Zessionar, er habe mit dem Zedenten ein Rechtsgeschäft vorgenommen, ist rein deklaratorischer Natur und zielt nicht auf die Begründung eines selbständigen Verpflichtungsgrundes im Verhältnis zum Zessionar ab. – Für eine „Erklärung an die Öffentlichkeit“ gilt analog § 171 BGB dasselbe.30 Etwas schwieriger liegt es, wenn der Scheinschuldner nicht durch eine ausdrückliche Erklärung, sondern durch ein konkludentes Verhalten dem Zessionar zu erkennen gibt, er habe mit dem Zedenten ein Rechtsgeschäft vorgenommen.31 Gegen eine Analogie zu § 405 könnte man hier immerhin anführen, daß ein konkludentes Verhalten angesichts seiner Komplexität und leichteren Mißdeutbarkeit nicht eine so starke Vertrauensgrundlage darstellt wie eine Urkunde. Es ist indessen zu bedenken, daß das konldudente Verhalten in unserer Rechtsordnung grundsätzlich der ausdrücklichen Erklärung gleichgestellt ist und daß dies insbesondere auch im Rahmen der Rechtsscheinhaftung gilt.32 Von dieser Regel im vorliegenden Falle abzuweichen, besteht kein Anlaß; denn es handelt sich hier ja um die Einstandspflicht für die bewußte Setzung eines Rechtsscheins, und der Scheinschuldner verdient daher keinen besonderen Schutz. Allerdings ist zu betonen, daß der Scheinverpflichtete sich der Konkludenz seines Handelns bewußt sein muß, daß ihm also klar sein muß, der Dritte könne 27 Vgl. auch Kiehl GruchBeitr. 63, 572 ff. Zustimmend Oertmann § 117 Anm. 2 c β gegen Ende; Baer, Scheingeschäfte, 1931, S. 25; Otto Krauss, Die Lehre vom Scheingeschäft, Diss. Gießen 1930, S. 140 f.; Büsse, Das Scheingeschäft, Diss. Erlangen 1935, S. 28 f. 28 Vgl. oben § 3 V = S. 14. 29 Zur Lückenfeststellung mit Hilfe des Gleichheitssatzes vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 71 ff. Es handelt sich im vorliegenden Fall um ein gutes Beispiel einer Analogie als Mittel der Lückenfeststellung, vgl. dazu allgemein Canaris aaO. 30 Vgl. Kiehl aaO. S. 573 und das übrige Fn. 27 zitierte Schrifttum sowie Kallimopoulos aaO. S. 130 f. 31 Vgl. dazu auch Kallimopoulos aaO. S. 131. 32 Vgl. unten S. 492.
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aus seinem Verhalten den Schluß auf das Vorliegen eines wirksamen Geschäftes ziehen. Dies folgt aus dem zugrunde gelegten Rechtsprinzip, da anderenfalls der Schein- [92] schuldner nur bewußt ein Scheingeschäft vornimmt, nicht aber auch bewußt einen entsprechenden Rechtsschein gegenüber Dritten schafft; es ergibt sich weiter aus der Anlehnung an § 405, weil auch dort der Scheinschuldner den Scheintatbestand bewußt in den Verkehr bringt. Beachtet man diese Einschränkung, so kann ein relevanter Scheintatbestand u. U. auch durch bloßes Schweigen geschaffen werden. Als Beispiel mag man etwa an den Fall denken, daß jemand in Gegenwart des Scheinschuldners gegenüber einem Dritten auf einen mit jenem geschlossenen33 Vertrag Bezug nimmt, der in Wahrheit ein Scheingeschäft ist. Gewährt der Dritte daraufhin z. B. dem Scheinberechtigten ein Darlehen und läßt er sich dessen angebliche Forderung sicherungshalber abtreten,34 so kann der Scheinschuldner sich dem Dritten gegenüber nicht auf den Scheincharakter berufen. Dabei handelt es sich nicht etwa um die Einstandspflicht für ein bloßes Unterlassen, so daß sich die Frage, ob das Schweigen rechtswidrig war, gar nicht stellt, sondern um eine schlüssige Erklärung durch Schweigen.35 Damit ist der Zusammenhang zur letzten und schwierigsten Frage gegeben, zur Frage nämlich, ob der Scheinschuldner auch dann haftet, wenn er lediglich geduldet hat, daß der Scheinberechtigte das Geschäft dem Dritten gegenüber als gültig behandelt, bzw. wenn er dem Scheinberechtigten eine entsprechende Erlaubnis erteilt hat. Dabei geht es hier nicht um die Fälle, in denen der Schuldner dem Dritten tatsächlich haften und die Wirkungen des Rechtsgeschäfts lediglich gegenüber seinem Partner ausschließen will; denn dann handelt es sich nicht um Rechtsscheinhaftung,36 sondern um echte rechtsgeschäftliche Bindung.37 Will der 33 Falls ein Scheingeschäft gar nicht vorgenommen war, gilt nichts anderes, vgl. unten S. 99 i. V. m. S. 101 (Ziff. 3 a. A.). 34 Läßt er sie sich nicht abtreten, so kann er sie – über § 405 BGB hinausgehend – pfänden, vgl. unten § 42 II 2 a. E. 35 Es gilt entsprechend, was Flume (§ 5, 2) über das Schweigen als Willenserklärung ausführt – mit dem Unterschied, daß es hier um eine deklaratorische Erklärung geht. Besonders aufschlußreich sind auch in diesem Zusammenhang die Ausführungen unter c und d aaO. 36 Mit Recht hat das RG daher in einem derartigen Fall die Anwendung des § 405 BGB abgelehnt, vgl. RGZ 60, 21; vgl. dazu Fuchs, Scheinhändel, 1918, S. 132 ff.; Friedrichs aaO. S. 20 f.; RGR-Komm. (Löscher) § 405 Anm. 5; vgl. auch RG Recht 1917 Nr. 1244 sowie RGZ 124, 217 (220); RGZ 131, 239 (243 f.) und RG JW 1931, 3097 (vgl. dazu auch unten Fn. 74). 37 Die Konstruktion ist allerdings schwierig. Das RG hat mit einer Analogie zu den Regeln über die Blankourkunde gearbeitet, vgl. RGZ 60, 23. Eine andere Möglichkeit wäre die Annahme einer Verpflichtungsermächtigung, doch wird diese von der h. L. für das geltende Recht nicht anerkannt (Vgl. Flume § 57, 1 d m. Nachw. in Fn. 11; z. T. gegen die h. L. Thiele, Die Zustimmungen S. 207 ff.). Auch an die Erfüllung eines Darlehensversprechens durch Auszahlung der Valuta an einen Dritten (vgl. RGZ 124, 217, 220 und 131, 239, 243 f.) oder an einen echten Vertrag zugunsten Dritter (vgl. RG Recht 1917 Nr. 1244 und Erman-Westermann § 405 Anm. 1 a. E.) könnte man denken. Der Frage kann hier nicht weiter nachgegangen werden, da sie die Rechtsgeschäftslehre, nicht die Lehre von der Vertrauenshaftung betrifft.
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Schein- [93] schuldner sich dagegen – seinem Partner erkennbar38 – nicht verpflichten, so bleibt zum Schutz des Dritten nur die Vertrauenshaftung. Eine wertvolle Hilfe für die Lösung des Problems bildet die Parallele zur Duldungsvollmacht.39 Auch dabei duldet jemand, daß ein anderer sich zu Unrecht als durch ihn berechtigt ausgibt. Hinter den Regeln über die Duldungsvollmacht steht nun in der Tat ein erweiterungsfähiger Rechtsgedanke.40 Dementsprechend ist auch hier die Haftung des Duldenden grundsätzlich zu bejahen, doch ist dieselbe Einschränkung wie bei der Duldungsvollmacht zu machen: es genügt nicht, daß der Scheinverpflichtete ein entsprechendes Verhalten lediglich dem Scheinberechtigten gegenüber an den Tag legt, sondern es ist erforderlich, daß dies dem Dritten gegenüber geschieht. Dieser muß also auch hier Anlaß zu der Annahme haben, der Schuldner wisse und dulde, daß der Zessionar das Geschäft als gültig hinstellt. Denn nur dann vertraut er auf ein Verhalten des Scheinverpflichteten selbst, und dieser muß daher für den durch sein Dulden, d. h. durch konkludentes Handeln gesetzten Rechtsschein einstehen. Tritt das Einverständnis des Scheinschuldners mit dem Auftreten des Scheinberechtigten dagegen gegenüber dem Dritten überhaupt nicht in Erscheinung, so vertraut dieser lediglich der Behauptung seines Geschäftspartners, er sei berechtigt; die bloße Behauptung eines Scheinberechtigten von seiner angeblichen Berechtigung kann aber niemals ein hinreichender Scheintatbestand für die Haftung eines anderen begründen, sondern grundsätzlich nur den Erklärenden selbst verpflichten.41 Der Rechtsscheingedanke versagt also in diesem Falle als Anspruchsgrundlage, und es bleibt daher allenfalls der Rückgriff auf eine Erfüllungshaftung aus § 242 BGB, die insbesondere im Falle der Kollusion zu bejahen ist.42 3. Nicht nur durch die Beschränkung auf Urkunden ist § 405 BGB zu eng, sondern auch durch die Beschränkung auf Zessionen. Denn auch bei anderen Vorgängen des rechtsgeschäftlichen Verkehrs kann das Vertrauen auf die Gültigkeit eines nach § 117 I nichtigen Geschäfts für einen Dritten bestimmend sein. Daher sind jedenfalls die Fälle der Verpfändung und der Nießbrauchsbestellung im Wege der Analogie gleichzustellen.43 Mit Recht hat das RG § 405 ferner analog auf den Fall angewandt, daß nicht zwischen Schuldner und Zedent, sondern 38 Nur auf dessen Kenntnis kommt es an, weil dem Dritten gegenüber kein Rechtsgeschäft vorliegt, vgl. auch die Kritik an der Theorie Flumes oben S. 89 f. 39 Der Hinweis von Flume aaO. § 20, 2 c (S. 412) ist daher durchaus berechtigt, nur daß es auch bei der Duldungsvollmacht entgegen der Ansicht Flumes um Haftung für Rechtsschein, nicht um rechtsgeschäftliche Bindung geht, vgl. dazu oben § 5 II 1. 40 Vgl. unten S. 492. 41 Vgl. allgemein unten § 39 III 4. 42 Vgl. unten § 26 I 2. 43 So mit Recht RG WarnRspr. 1914 Nr. 245 (für Verpfändung); Ramdohr GruchBeitr. 44, 684 f.; Friedrichs aaO. S. 34 f.; Stoll aaO. S. 114; Planck-Siber § 405 Anm. 6; Soergel-Schmidt § 405 Rdz. 5; Enn.-Lehmann § 79 Fn. 8.
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zwischen Erstzedent und Zweitzedent ein beurkundetes Scheingeschäft, d. h. eine Scheinzession, vorgenommen [94] wurde.44 Nach den obigen Ausführungen ist dem eine ausdrückliche oder konkludente Anzeige der Abtretung gleichzustellen. Für die Scheinübertragung eines anderen Rechts als einer Forderung gilt nach § 413 BGB dasselbe. Auch bei einer Scheinübertragung einer Sache greift der entwickelte Grundsatz des Gutglaubensschutzes unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 932 ff., 892 BGB ein; denn der Verkehrsschutz kann dort nicht schwächer sein als im Zessionsrecht.45 4. Zusammenfassend ist zu sagen: Ein ausnahmsloser Schutz des Vertrauens Dritter auf die Gültigkeit eines Scheingeschäfts ist dem geltenden Recht zwar fremd,46 doch ist der Einwand des Scheingeschäfts gegenüber einem Gutgläubigen immer dann nach Rechtsscheinregeln ausgeschlossen, wenn derjenige, zu dessen Nachteil sich die Präklusion auswirkt, die Gültigkeit des Geschäfts irgendwie nach außen kundgetan hat; fehlt es an diesem Erfordernis, so kommt in besonderen Fällen, insbesondere bei Kollusion, auch eine Erfüllungshaftung aus § 242 in Betracht,47 so daß der Dritte i. E. nahezu immer geschützt wird. Für die eingangs gestellte dogmatische Frage aber, inwieweit jemand de lege lata an einen wissentlich geschaffenen Scheintatbestand gebunden ist, hat sich damit ergeben, daß die gesetzliche Regelung des Drittschutzes beim Scheingeschäft hinreichend ausdehnungsfähig ist, um der Anerkennung jenes Prinzips als eines „allgemeinen“ nicht entgegenzustehen; dabei ließ sich die erforderliche Erweiterung des § 405 durchweg bereits mit den Mitteln der Einzelanalogie erreichen, so daß die Gefahr eines Zirkelschlusses insoweit vermieden werden konnte. III. Die analoge Anwendung des § 405 BGB auf andere als die dort genannten Einwendungen und der Einwendungsausschluß im Zessionsrecht Bisher war nur vom Scheingeschäft die Rede. Die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes liegt aber nicht nur in diesem Falle vor, sondern i. d. R. auch bei jedem anderen Rechtsgeschäft, bei dem dem Schuldner eine Einwendung bekannt ist und über das er gleichwohl eine Urkunde ausstellt. Wie bisher 44 Vgl. RGZ 90, 274. Die Entscheidung wird allgemein gebilligt, vgl. z. B. Baer, Scheingeschäfte S. 24 f.; Heck, Schuldrecht § 67, 4 c; Stoll aaO. S. 113 f.; Krückmann AcP 137, 175 ff. (mit abweichender Begründung); Friedrichs aaO. S. 36; Erman-Westermann § 405 Anm. 4; Palandt-Heinrichs § 405 Anm. 2. 45 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen über die „Duldungsermächtigung“ oben § 7 V. 46 So auch Kiehl GruchBeitr. 63, 572 f.; Baer aaO. S. 26 ff.; Flume § 20, 2 c (S. 411); Kallimopoulos aaO. S. 129 f.; a. A. wohl Dernburg, Bürgerliches Recht Bd. I § 142 (S. 480). 47 Vgl. unten § 26 I 2.
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nach der analogen Anwendbarkeit des § 405 auf nicht geregelte Fälle der Verlautbarung eines Scheingeschäfts gefragt wurde, so muß daher nunmehr die Möglichkeit einer Anwendung auf andere als die dort genannten Einwendungen geprüft werden. Dabei ist zwischen vertraglichen und gesetzlichen Einwendungen zu unterscheiden. [95] 1. Nach § 405 BGB ist nur die Nebenabrede der Unabtretbarkeit ausgeschlossen. Nach einer vor allem im älteren Schrifttum vertretenen Meinung48 soll § 405 BGB analoge Anwendung auf alle anderen ursprünglichen Nebenabreden, nicht jedoch auf nachträgliche Zusatzvereinbarungen49 finden. Zur Begründung der Analogie wird vorgebracht, auch bei anderen vertraglichen Einwendungen als der der Unabtretbarkeit hätten die Parteien „bewußt einen äußeren Tatbestand geschaffen, der der Wahrheit widersprach, aber von Dritten für wahr gehalten werden durfte“.50 Diese Überlegung wirkt auf den ersten Blick einleuchtend, scheint sie doch in Einklang mit dem Prinzip einer allgemeinen Einstandspflicht für bewußt gesetzten Rechtsschein zu stehen. Indessen sind die Ergebnisse doch bedenklich. Soll z. B. der Schuldner, der eine besondere Abrede über die Fälligkeit nicht in die Schuldurkunde hat aufnehmen lassen, einem gutgläubigen Zessionar nach § 271 BGB sofort zur Leistung verpflichtet sein? Sollen mündliche Nebenabreden über den Leistungsort oder über die Zahlungsweise – z. B. die Vereinbarung der Ratenzahlung – gutgläubigen Dritten gegenüber nur deshalb nicht wirken, weil über die Schuld eine Urkunde ausgestellt worden ist? Oder muß nicht vielmehr der Zessionar von vornherein mit dem Bestehen derartiger Abreden rechnen? Mit Recht weist Siber darauf hin, daß die vollständige Beurkundung aller Vertragspunkte ungebräuchlich ist.51 Auch ist zu bedenken, daß ein Schuldschein i. d. R. gar nicht mit Rücksicht auf Dritte, sondern als bloße Beweisurkunde für den Gläubiger ausgestellt wird.52 Die Voraussetzungen der Rechtsscheinhaftung, wie sie oben herausgearbeitet wurden, sind daher nicht ohne weiteres gegeben: weder setzt der Schuldner bewußt den Schein einer vollständigen Beurkundung, wenn er Nebenabreden, deren schriftliche Niederlegung nicht üblich ist, wegläßt, noch kann der Zessionar ohne weiteres darauf vertrauen, daß redliche Parteien alle Sondervereinbarungen in die Urkunde aufgenommen haben. 48 Vgl. Hachenburg, Das Bürgerliche Gesetzbuch, 2. Aufl. 1900, S. 199; Wellspacher aaO. S. 64 f.; Oertmann § 405 Anm. 2; Friedrichs aaO. S. 27; Stoll AcP 135, 115 f., der das Ergebnis allerdings nicht aus § 405, sondern aus allgemeinen Rechtsscheingrundsätzen ableiten will. Endemann I § 152, 1 c, der meist für diese Ansicht in Anspruch genommen wird, spricht nicht von „Neben-“ sondern von „Gegenabreden“ und meint damit wohl die unten bei Fn. 54 erörterten Fälle. 49 Vgl. Wellspacher aaO. 50 So Oertmann aaO. 51 Vgl. Planck-Siber § 405 Anm. 2 a. E. 52 Bei den beiden in § 405 genannten Einwendungen liegt es insofern anders, als diese von vornherein eine gewisse „Drittrichtung“ haben, vgl. sogleich im Text.
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Das heißt nun aber keineswegs, daß § 405 BGB auf keine andere Nebenvereinbarung als den Ausschluß der Abtretbarkeit Anwendung finden könnte. Vielmehr ist in zweifacher Hinsicht zu differenzieren. Zunächst ist § 405 dann analog anzuwenden, wenn die Weglassung der Nebenabrede gerade zu dem Zweck erfolgt ist, um einem Dritten gegenüber den Anschein einer vollständigen Urkunde zu [96] erwecken.53 Der Schuldner kann sich dann nicht beklagen, weil er insoweit bewußt einen Rechtsschein gesetzt hat, der Dritte ist schutzwürdig, weil er mit einer absichtlichen Täuschung nicht zu rechnen brauchte. Der Fall ist dem der Mentalreservation ähnlich, und daher greift die dem § 116 S. 1 BGB verwandte Haftung für wissentlich geschaffene Scheintatbestände ein. Liegt eine solche Täuschungsabsicht nicht vor, so ist je nach der Art der Einwendung zu differenzieren. Dabei ist die Besonderheit des in § 405 ausdrücklich aufgenommenen Ausschlusses der Abtretbarkeit und die des Scheingeschäftes als Abgrenzungshilfe zu berücksichtigen: der Ausschluß der Abtretbarkeit betrifft typischerweise die Interessen Dritter, ihm ist eine gewisse „Drittrichtung“ immanent; und die Einwendung des Scheingeschäfts berührt den Bestand der Forderung überhaupt und nimmt dieser daher ebenso wie der Ausschluß der Abtretbarkeit jede Verkehrsfähigkeit, so daß auch bei ihr von einer „Drittrichtung“ gesprochen werden kann. Demnach wird man darauf abzustellen haben, ob der Forderung durch die Abrede die Verkehrsfähigkeit im wesentlichen genommen wird oder nicht. Die meisten Nebenvereinbarungen können dementsprechend auch gutgläubigen Dritten entgegengesetzt werden, insbesondere die üblichen Vereinbarungen über die Leistungsmodalitäten wie Fälligkeit, Zahlungsort, Befugnis zur Ratenzahlung usw. Ausgeschlossen ist dagegen vor allem der Einwand der „Gegenabrede“,54 also der Vereinbarung, der Schuldner brauche nicht zu zahlen oder nur zu zahlen, wenn er wolle oder wenn er über die nötigen Geldmittel verfüge usw., ein Tatbestand, der nicht unbedingt ein Scheingeschäft zu sein braucht, diesem aber jedenfalls im Hinblick auf die Interessen Dritter eng verwandt ist. Ähnlich muß eine Bedingung in die Urkunde aufgenommen sein, wenn sie Dritten gegenüber wirken soll, da sie zu den ungewöhnlichen Nebenabreden gehört, mit denen man nicht zu rechnen braucht, und da auch sie der Forderung weitgehend die Verkehrsfähigkeit nimmt. Ähnliches gilt für die Behandlung nachträglicher Einwendungen, d. h. solcher, die erst nach Aushändigung der Urkunde entstanden sind. Was zunächst den nachträglichen Ausschluß der Abtretbarkeit anbetrifft, so wird in der Literatur mit Recht angenommen, daß der Aussteller eine entsprechende Ergänzung der Bescheinigung herbeiführen muß, wenn er eine Haftung gegenüber gutgläubigen Dritten ver53 Im Normalfall des § 405 ist das nicht erforderlich wegen der sogleich im Text näher zu erörternden immanenten „Drittrichtung“ der in § 405 genannten Einwendungen. 54 Vgl. Endemann I § 152, 1 c; vgl. auch RG Recht 1917 Nr. 1244 (der Wille der Parteien, dem Dritten ein Recht nach § 328 BGB einzuräumen, ist entgegen der Ansicht des RG jedoch nicht erforderlich) und RGR-Komm. (Löscher) § 405 Anm. 2.
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meiden will.55 Hinsichtlich anderer nachträglicher Nebenabreden kann man folgerichtig nicht anders entscheiden, sofern sie zu jenen zählen, bei denen nach dem soeben Gesagten eine Präklusion überhaupt in Betracht kommt. Dagegen kann nicht eingewandt werden, die Aufnahme späterer Vereinbarungen in die Urkunde sei nicht verkehrsüblich;56 denn es kommen vom hier vertretenen Standpunkt aus [97] ja überhaupt nur „ungewöhnliche“ Abreden in Betracht, die der Forderung die Verkehrsfähigkeit nehmen, und dabei kann man eine entsprechende „Diligenzpflicht“57 unbedenklich bejahen. Wenn z. B. die Schuld nachträglich durch actus contrarius aufgehoben wird, der Schuldner aber gleichwohl dem Gläubiger bewußt die Schuldurkunde beläßt, so ist der Sachverhalt in bezug auf Dritte einem Scheingeschäft so ähnlich, daß sich ohne weiteres die analoge Anwendung des § 405 rechtfertigt. Freilich ist hier besonders zu beachten, daß die Haftung auf die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes beschränkt ist. Demgemäß wird der Schuldner mit seiner Einwendung nicht präkludiert, wenn er dem Gläubiger die Urkunde nicht bewußt belassen, sondern lediglich vergessen hat, sie zurückzufordern. Denn in den hier in Frage stehenden Fällen wird der Rechtsschein nicht schon durch die Hingabe des – ursprünglich ja richtigen! – Schuldscheins, sondern erst durch das spätere Unterlassen der Rückforderung hervorgerufen, und der Schuldner setzt daher nicht wissentlich einen Scheintatbestand, wenn er in diesem Augenblick gar nicht mehr an die Schuldurkunde denkt; die lediglich fahrlässige Schaffung eines Scheintatbestandes führt aber grundsätzlich nicht zur Rechtsscheinhaftung,58 und außerdem ließe sich in einem derartigen Falle auch die für die Analogie erforderliche „Rechtsähnlichkeit“ mit dem Tatbestand des § 405 nicht mehr begründen. Dagegen steht der Haftung grundsätzlich nicht entgegen, daß der Rechtsschein hier durch ein Unterlassen entsteht; denn dieses ist nach allgemeinen Rechtsscheinregeln59 dem positiven Tun grundsätzlich gleichzustellen. Allerdings ergibt sich daraus eine – praktisch sehr wichtige – Einschränkung: es genügt, daß der Schuldner „alles in seiner Macht Stehende“ getan hat, um den Scheintatbestand zu beseitigen;60 verweigert der Gläubiger die Rückgabe des Schuldscheins,61 so haftet der Schuldner daher nicht, wenn er binnen angemessener Frist eine einstweilige Verfügung beantragt bzw. Klage erhebt, und zwar auch
So Planck-Siber § 405 Anm. 2. So aber Wellspacher aaO. S. 65 f. 57 Vgl. Wellspacher aaO. 58 Vgl. unten § 38 II 2. 59 Vgl. unten § 38 III 8. 60 Vgl. allgemein unten S. 490. 61 Die Anspruchsgrundlage ergibt sich aus analoger Anwendung des § 371 oder aus vertraglicher Nebenpflicht. 55 56
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dann nicht, wenn die angebliche Forderung schon vorher an einen gutgläubigen Dritten zediert wurde. 2. Bei den gesetzlichen Einwendungen lehnt die ganz h. L. eine analoge Anwendung des § 405 ab62 mit der – von vornherein wenig überzeugungskräftigen63 – Begründung, dieser stelle eine Ausnahmevorschrift dar. Vom Boden der hier vertretenen [98] Rechtsscheintheorie aus müßte man die Analogie dagegen hinsichtlich sämtlicher Einwendungen, die dem Schuldner bekannt sind, grundsätzlich bejahen.64 In der Tat sprechen nun gegen die h. L. schwerwiegende Argumente. So ist zunächst zu fragen, warum das Gesetz den Einwendungsausschluß ausgerechnet auf die beiden in § 405 BGB genannten Einwendungen beschränkt. Eine einleuchtende Antwort hierauf aber läßt sich nicht finden. Ersichtlich fehlte den Verfassern des BGB vielmehr eine durchdachte Konzeption der – damals theoretisch noch völlig unbewältigten – Rechtsscheinproblematik; daß sie eine Haftung gerade für das Scheingeschäft angeordnet haben, dürfte letztlich allein auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß die Problematik des „Drittschutzes“ für dieses seit langem diskutiert wurde, für andere Einwendungen aber noch nicht im selben Maße ins Bewußtsein gedrungen war.65 Ein derartiger dogmengeschichtlicher Zufall vermag jedoch unter Gerechtigkeitsaspekten keine hinreichende „Erklärung“ für die unterschiedliche Behandlung des Scheingeschäfts einerseits und aller übrigen Nichtigkeitsgründe andererseits zu bieten, und daher drängt sich immer wieder die Frage nach einem objektiv-teleologischen Kriterium auf, das als ratio legis hinter der Regelung des § 405 BGB stehen könnte. Hierauf aber ist keine andere Antwort ersichtlich als die oben66 gegebene, der Schuldner hafte, weil er wissentlich einen Scheintatbestand in den Verkehr gebracht habe – und das eben führt mit Notwendigkeit zu der Konsequenz, § 405 grundsätzlich auf alle dem Schuldner bekannten Einwendungen entsprechend anzuwenden. In der Tat ist nun die Interessenlage bei diesen regelmäßig genau dieselbe wie beim Scheingeschäft; denn einerseits erscheint auch hier der Schuldner grundsätzlich nicht schutzwür62 Vgl. RGZ 70, 30 (31); 74, 416 (421); RG DJZ 1909, 715; JW 1931, 2294 Nr. 4 (S. 2296 f.); BGHZ 25, 27 (30); Hachenburg, Das Bürgerliche Gesetzbuch S. 199; Oertmann § 405 Anm. 2; Soergel-Schmidt § 405 Rdz. 1; RGR-Komm. (Löscher) § 405 Anm. 2; Palandt-Heinrichs § 405 Anm. 1; Larenz, Schuldrecht A. T. § 30 I (S. 344); Westermann JuS 63, 5; vgl. auch Stoll aaO. S. 100 f. (vgl. aber auch S. 114 f.); teilweise gegen die h. L. Friedrichs aaO. S. 28. 63 Vgl. oben S. 89 (vor 1). 64 Vgl. auch Stoll AcP 135, 113 ff. (115 und 116), der jedoch „weniger“ den Rechtsscheingedanken „als vielmehr“ das „estoppel-Prinzip“ und das Verbot des venire contra factum proprium zur Begründung heranziehen will (vgl. zur Lehre Stolls eingehend oben § 3 V); ihm folgend Moecke, Kausale Zession und gutgläubiger Forderungserwerb, 1962, S. 63, der noch weitergehend die wertpapierrechtlichen Grundsätze analog anwenden will (vgl. S. 63 ff., 74 ff.), was sowohl de lege lata als auch de lege ferenda entschieden abzulehnen ist (vgl. unten § 11 V 1). 65 Vgl. die Begründung für die Einführung des § 405 Prot. II S. 784 ff., die völlig durch die Blickrichtung auf den alten Streit um den Drittschutz beim Scheingeschäft bestimmt ist. 66 Vgl. S. 86.
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dig, wenn er wissentlich einen unrichtigen Schuldschein begibt, und auf der anderen Seite kann der Dritte ganz allgemein und nicht nur für den Fall des Scheingeschäfts darauf vertrauen, daß über eine Schuld, deren Nichtbestehen dem Schuldner bekannt ist, keine Urkunde ausgestellt wird. Erweist sich die vorgeschlagene Analogie somit schon im Hinblick auf § 405 BGB selbst als folgerichtig, so kommt unterstützend noch hinzu, daß sich das Prinzip einer Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins bei allen bisher erörterten Problemkreisen als tragfähig erwiesen hat; es entstünde daher die Gefahr erheblicher Wertungswidersprüche, wollte man nur im Zessionsrecht anders entscheiden als bei den übrigen Tatbeständen der Rechtsscheinhaftung. Die Richtigkeit dieser Ansicht wird denn auch bestätigt, wenn man die in Betracht kommenden Einwendungen im einzelnen untersucht. Was zunächst den Fall [99] des durchschauten geheimen Vorbehalts nach § 116 S. 2 BGB betrifft, so handelt es sich insoweit sogar geradezu um ein Musterbeispiel einer Analogie.67 Denn dieser Tatbestand ist mit dem Scheingeschäft insofern auf das engste verwandt, als auch hier beide Parteien um das Fehlen eines Verpflichtungswillens wissen; der Unterschied liegt nur darin, daß dies zwischen ihnen nicht in Erscheinung getreten ist, und dieser Umstand kann im Verhältnis zu Dritten unmöglich eine Rolle spielen und daher keinesfalls eine Abweichung gegenüber der Wertung des § 405 rechtfertigen. Ja, man ist geradezu geneigt, mit einem argumentum a fortiori zu arbeiten: wenn der Schuldner gutgläubigen Dritten schon bei einem Scheingeschäft haftet, muß dies erst recht bei dem rechtsethisch noch viel bedenklicheren geheimen Vorbehalt der Fall sein; daß der Zedent diesen durchschaut hat, kann dem Zessionar, der ja auf die Urkunde, und nicht etwa nur auf das Wort des Zedenten vertraut, unmöglich schaden. – Ebenfalls mit einer schlichten Einzelanalogie ist ferner ohne weiteres bei der Scherzerklärung gemäß § 118 BGB auszukommen.68 Das wird besonders gut deutlich am Fall des „fehlgeschlagenen Scheingeschäfts“, der anerkanntermaßen unter § 118 BGB zu subsumieren ist. Dieser unterscheidet sich nämlich vom Fall des eigentlichen Scheingeschäfts i. S. des § 117 BGB nur dadurch, daß hier eine Partei entgegen den Erwartungen der anderen den Scheincharakter nicht erkennt. Für das Verhältnis des Schuldners zu Dritten aber kann es schlechterdings keinen Unterschied machen, ob der Gläubiger die Absicht des Schuldners, das Geschäft nur zum Schein vorzunehmen, durchschaut hat oder nicht.69 Wenn § 405 aber demnach auf das fehlgeschlagene Scheingeschäft analoge Anwendung findet,70 so muß das folgerichtig auch für die übrigen Fälle des § 118 BGB gelten.71 Für eine Gleichstellung insoweit schon Hachenburg aaO. S. 198; Friedrichs aaO. S. 22. Vgl. auch Friedrichs S. 22 ff. 69 Für analoge Anwendung des § 405 offenbar auch Flume § 20, 3 = S. 414. 70 Verfehlt ist es freilich, wenn das RG die Berufung auf § 118 BGB auch gegenüber dem Geschäftspartner versagt, nur weil die nicht ernstlich gemeinte Erklärung in einer Urkunde nieder67 68
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Verhältnismäßig eng verwandt mit dem Scheingeschäft ist weiterhin der Fall, daß der Schuldner dem Gläubiger den Schuldschein aushändigt, bevor die Schuld überhaupt begründet worden ist; zu denken ist vor allem daran, daß er den Erhalt eines Darlehens bestätigt, ehe ihm dieses ausgezahlt worden ist oder sogar ohne daß ein entsprechender Darlehensvertrag abgeschlossen wurde. Auch hier erscheint eine [100] Analogie zu § 405 BGB entgegen der h. L.72 ohne weiteres gerechtfertigt, da es im Verhältnis zu Dritten nicht wesentlich anders liegt als bei einem Scheingeschäft. Unterstützend ist dabei auf eine Analogie zu anderen Rechtsscheintatbeständen hinzuweisen; insbesondere die Ähnlichkeit mit der Aushändigung einer Blanketturkunde oder einer bereits ausgefertigten, aber dem Gläubiger einstweilen noch nicht vorzulegenden Bürgschaftserklärung liegt auf der Hand, und da dort eine Rechtsscheinhaftung analog § 172 I BGB zu bejahen ist,73 kann hier i. E. folgerichtig nichts anderes gelten.74 Auch bei den Tatbeständen der §§ 134, 138 und 306 BGB erscheint die Haftung des Schuldners gerechtfertigt, wenn er trotz Kenntnis der Nichtigkeit des Geschäfts eine Urkunde über seine (angebliche) Schuld ausstellt. Sind sich hier beide Parteien der Unwirksamkeit bewußt und fertigen sie gleichwohl ein Schriftstück gelegt ist, vgl. RGZ 168, 204 (205 f.). Einen so weitgehenden Vertrauensschutz kennt nicht einmal das Wertpapierrecht, wo unmittelbare Einwendungen, d. h. solche, die gerade gegenüber dem Anspruchsgegner bestehen, uneingeschränkt geltend gemacht werden können. In dem vom RG entschiedenen Fall war allerdings möglicherweise die Täuschung des Vertretenen beabsichtigt; dann wäre dieser in der Tat zu schützen, und zwar nach den Grundsätzen der „Vertrauenshaftung kraft dolosen Verhaltens“, vgl. näher unten § 26 I 2. 71 Glaubt der Schuldner allerdings, der Dritte werde den Scherz- oder Scheincharakter durchschauen, so haftet er auf Grund der analogen Anwendung des § 118 auf die Rechtsscheinhaftung (vgl. unten § 36 II mit Fn. 13) nicht analog § 405, sondern nur analog § 122 BGB; vgl. auch unten § 26 Fn. 13 und § 44 II 2. 72 Vgl. RGZ 71, 30 (31); Soergel-Schmidt § 405 Rdz. 1 (unter fälschlicher Berufung auf die Entscheidung RGZ 60, 21, die eine ganz andere Problematik betraf, vgl. oben Fn. 37); vgl. auch BGH WM 60, 317 und dazu allgemein unten IV. 73 Vgl. oben § 6 bzw. § 7 I. 74 Auch die Aushändigung eines Sparbuches, auf das die verbriefte Einlage in Wahrheit nicht geleistet ist, gehört in diesen Zusammenhang. Nicht mit Hilfe der Fiktion von „stillschweigenden“ Auskunftsverträgen, sondern mit dem Prinzip der Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins, insbesondere mit einer Analogie zu § 405 BGB wären daher die Fälle RGZ 131, 239 und RG JW 1931, 3097 zu lösen gewesen (vgl. ferner RGZ 124, 217, 222 f.). Daß den Sparkassenangestellten die Vertretungsmacht für den Abschluß eines „Kreditvertrages“ fehlte – es geht insoweit offenbar um die auch in RGZ 60, 21 behandelte und oben bei und in Fn. 36 f. näher erörterte Problematik rechtsgeschäftlicher Bindung gegenüber einem Dritten –, ist für die Haftung kraft Rechtsscheins unerheblich; dafür kommt es vielmehr nur darauf an, ob die Angestellten die Vertretungsmacht für die Ausstellung von Sparbüchern hatten, da dann die Schaffung des entsprechenden Scheintatbestandes der Sparkasse zurechenbar ist (vgl. unten § 36 III 1 = S. 457), und diese war offenbar – mindestens in Form der „Duldungsvollmacht“ – gegeben. Allerdings war der Dritte, dem die angebliche Forderung verpfändet bzw. abgetreten wurde, hier in Anbetracht der Umstände, insbesondere auch im Hinblick auf die ungewöhnliche Höhe der Summe, wohl bösgläubig (vgl. vor allem JW 31, 3098 Sp. 2).
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über den Vertrag an, so ist die Lage mit der bei einem Scheingeschäft sogar nahezu identisch; weiß nur der Schuldner um die Nichtigkeit, so kann aber nicht anders entschieden werden, da es für das Verhältnis zwischen ihm und dem Dritten, um das es ja allein geht, keine Rolle spielt, ob auch der Gläubiger bösgläubig war oder nicht. Bei gesetzes- und sittenwidrigen Geschäften sind allerdings die Regeln über die „inhaltlichen“ Einwendungen zu beachten mit der Folge, daß der Dritte nicht geschützt wird, wenn der Gesetzes- bzw. der Sittenverstoß aus der Urkunde erkennbar war;75 dadurch ist zugleich der Gefahr vorgebeugt, daß das gesetzesbzw. sittenwidrige Geschäft auf dem Umweg über die Rechtsscheinhaftung als solches, d. h. in seinem rechtlich mißbilligten Gehalt, Geltung erlangen könnte und daß so der Zweck der §§ 134, 138 BGB umgangen wird.76 – Gewisse Besonderheiten gelten bei der Ein- [101] wendung der Formnichtigkeit, da hier eine Abstimmung mit den – vorrangigen – Formzwecken unerläßlich ist. Dementsprechend ist zu differenzieren: soweit es um diejenige Leistung geht, die den Gesetzgeber zur Statuierung des Formzwangs veranlaßt hat, greift die Rechtsscheinhaftung nicht durch, soweit es dagegen um die Gegenleistung geht, erscheint auch hier eine Einstandspflicht gegenüber Dritten unbedenklich, da es im Verhältnis zu ihnen keine Rolle spielt, ob die fragliche Schuld auf einem formbedürftigen Rechtsgeschäft beruht oder nicht;77 im Falle des § 313 BGB würde das z. B. bedeuten, daß der Dritte zwar nicht geschützt wird, wenn er auf Grund einer (wissentlich unrichtigen) schriftlichen Erklärung des Verkäufers den angeblichen Auflassungsanspruch erwirbt, wohl aber u. U., wenn er sich den „verbrieften“ Anspruch auf den Kaufpreis abtreten läßt.78 Für nachträgliche gesetzliche Einwendungen gilt folgerichtig dasselbe, was oben79 hinsichtlich des entsprechenden Problems bei den vertraglichen Einwendungen ausgeführt wurde: der Schuldner haftet, wenn er bewußt dem Gläubiger den Schuldschein beläßt und nicht alles in seiner Macht Stehende unternimmt, um ihn wiederzuerlangen. Insbesondere muß er nach erfolgter Erfüllung die Herausgabe erzwingen; behauptet der Gläubiger, zur Herausgabe außerstande zu sein, so wird man gegenüber Dritten nicht das öffentlich beglaubigte Anerkenntnis über das Erlöschen der Schuld nach § 371 S. 2 BGB, das nur Beweisfunktion
Vgl. allgemein unten § 39 III 2. Vgl. dazu näher unten § 36 IV 1. 77 Vgl. im grundsätzlichen eingehend unten § 36 V. 78 Falls ihm freilich die Vertragsurkunde selbst vorgelegt wird, wird er nicht geschützt, da dann eine „inhaltliche“ Einwendung gegeben ist; praktische Bedeutung hat die Rechtsscheinhaftung hier daher nur, sofern in der Urkunde überhaupt nicht auf den Schuldgrund Bezug genommen wird oder sofern der Schuldner das Bestehen eines formgültigen, nicht in dieser Urkunde enthaltenen Vertrages behauptet. 79 Vgl. S. 96 f. 75 76
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inter partes hat, genügen lassen können, sondern analog § 176 BGB eine öffentliche Kraftloserklärung zu fordern haben.80 3. Die volle praktische wie dogmatische Bedeutung der im Vorstehenden entwickelten Grundsätze wird erst dann deutlich, wenn man die Ergebnisse dieses Abschnitts mit denen des vorhergehenden verbindet: dort wurde die Rechtsscheinhaftung über Urkunden hinausgehend auf mündliche Erklärungen und auf konkludentes Verhalten ausgedehnt – und diese Erweiterung der Einstandspflicht ist nun selbstverständlich auf alle in § 405 nicht genannten, aber gleichzustellenden Einwendungen zu übertragen. Damit ist trotz der engen Fassung des § 405 BGB auch insoweit die lückenlose Geltung des Prinzips der Haftung für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes dargetan. Zugleich aber mündet die Untersuchung, die mit einer zunächst sehr vorsichtigen Ausweitung des § 405 BGB [102] begann, an dieser Stelle in ein für die herkömmliche Dogmatik ausgesprochen überraschendes Ergebnis: das geltende Recht kennt ein Prinzip des Einwendungsausschlusses im Zessionsrecht. Dieses läßt sich folgendermaßen formulieren: der Schuldner einer Forderung, der deren Bestand irgendwie kundgetan hat, ist nach Rechtsscheinregeln gegenüber gutgläubigen Dritten mit allen ihm bekannten gesetzlichen Einwendungen und mit solchen rechtsgeschäftlichen Einwendungen, die der Forderung die Verkehrsfähigkeit nehmen, präkludiert. Dasselbe gilt nach dem oben81 Gesagten im Verhältnis zwischen dem wahren Inhaber einer Forderung und deren gutgläubigem Erwerber, sofern jener die Zession an den Scheinberechtigten irgendwie kundgetan hat; auch insoweit gibt es also entgegen der allgemeinen Ansicht einen, wenn auch beschränkten gutgläubigen Erwerb im Zessionsrecht. IV. Die „Annahme“ einer Forderung durch den Schuldner als Beispiel des Einwendungsausschlusses im Zessionsrecht Die gefundenen Regeln über den Einwendungsausschluß sind von entscheidender Bedeutung für die Lösung eines – praktisch sehr bedeutsamen – Problems, das unter dem wenig glücklichen Stichwort der „Annahme“ einer Forderung durch den Schuldner bekannt ist. Es geht dabei um den im Wirtschaftsleben verhältnismäßig häufigen Fall, daß der Zessionar beim Schuldner der Forderung anfragt, ob dieser die Forderung oder die Abtretung „anerkenne“ oder „annehme“. Die Formulierungen sind verschieden und lassen es oft an der wünschens80 Anders wird man wohl nur entscheiden können, wenn man die Anwendbarkeit des § 172 und damit auch die des § 176 entgegen der in dieser Arbeit vertretenen Ansicht streng auf solche Rechtsgeschäfte beschränkt, die unmittelbar auf eine Legitimation des Urkundeninhabers gerichtet sind. 81 Vgl. S. 93 f.
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werten Klarheit fehlen, der Zweck einer derartigen Anfrage ist dagegen meist eindeutig: der Zessionar will sich Gewißheit über Bestehen und Abtretbarkeit der Forderung verschaffen, um danach seine weiteren Dispositionen gegenüber dem Zedenten, insbesondere in der Frage einer eventuellen Kreditgewährung, einzurichten. Wie eine „Annahme“ oder „Anerkennung“ der Forderung durch den Schuldner rechtlich zu qualifizieren ist, muß als bisher ungeklärt bezeichnet werden. 1. Durchaus herrschend ist die „Verzichtstheorie“. Danach soll in der Antwort des Schuldners entweder ein rechtsgeschäftlicher Verzicht auf seine Einwendungen gegen den Zedenten oder eine rein deklaratorische und deshalb angeblich unverbindliche „Wissenserklärung“ über das Bestehen der Forderung liegen. Wann das eine und wann das andere anzunehmen sei, beurteile sich „nach den Umständen des Einzelfalles“. Umstritten ist, ob bei der Bejahung eines Verzichts alle Einwendungen oder nur die zur Zeit der Erklärung schon bestehenden82 oder gar nur die dem Schuldner bekannten83 ausgeschlossen sind. Charakteristisch für diese Sicht des [103] Problems, in der Rechtsprechung84 und Schrifttum85 ausnahmslos befangen sind, ist die starre Alternative zwischen rechtsgeschäftlicher Bindung einerseits und nichtrechtsgeschäftlicher, allenfalls deliktisch zu beurteilender, aber jedenfalls nicht „verbindlicher“ Auskunft andererseits.86 Diese Fragestellung ist unrichtig, und dementsprechend sind auch die gegebenen Antworten unhaltbar. Selbstverständlich ist es denkbar, daß im Einzelfall ein Verzichtsvertrag zwischen Schuldner und Zessionar abgeschlossen wird; das kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Schuldner ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der
So von Lüpke BB 58, 653. In dieser Richtung BGH WM 1962, 742. 84 Vgl. RGZ 77, 157 (158 f.); 83, 184 (186); 125, 252 (254); 169, 324 (wo allerdings nicht auf Auslegung, sondern auf § 242 BGB abgestellt wird, vgl. S. 326); RG JW 1909, S. 48 Nr. 9; LZ 1916 Sp. 803 Nr. 10 = SeuffArch. 71, Nr. 226; LZ 1920 Sp. 434 Nr. 4; HRR 1929 Nr. 1994; HRR 1932 Nr. 439; JW 1938, S. 1247 Nr. 13; BGH LM Nr. 2 zu § 406 BGB; BGH WM 1956, 221, (222); 1956, 1211 (1213); 1957, 1432 (1434); 1959, 406 (407); 1960, 317 (319 f.); 1961, 823; 1962, 742; OLG Celle NJW 1952, 791; AG München DNotZ 1954, 40; LG Waldshut NJW 1955, 387; neuestens noch BGH BB 70, 148. 85 Vgl. Enn.-Lehmann § 79 II 2 a. E.; Blomeyer § 43 IV 3 a. E.; Planck-Siber § 404 Anm. 1 vor a; Soergel-Schmidt § 404 Rdz. 7; Erman-Westermann § 404 Anm. 5; Palandt-Heinrichs § 404 Anm. 2 d; von Lüpke BB 58, 653. 86 Ein Fortschritt sind demgegenüber die Ausführungen von Strecker BB 65, 479, doch ist seine eigene Lösung, die Annahme eines konkludenten Auskunftsvertrages, (vgl. auch BGH WM 1957, 1432, 1434) ebenso dem Einwand der Fiktion ausgesetzt wie die h. L. Im übrigen verkennt Strecker auch, daß Schadensersatz durchaus nicht immer die sachgerechteste Lösung ist, sondern daß vielmehr auch „positiver“ Vertrauensschutz nach Rechtsscheinregeln in Betracht kommt, vgl. unten im Text. 82 83
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Sicherung des Zedenten hat87 (obwohl man nicht übersehen darf, daß u. U. die Annahme eines Kreditauftrags i. S. des § 778 BGB dem Parteiwillen besser entspricht und zu sachgerechteren Ergebnissen führt). Das Vorliegen eines Verzichtsvertrages ist jedoch die große Ausnahme. Wenn sogar entschiedene Anhänger dieser Theorie einräumen, die Erklärung des Schuldners werde „über ihren Wortsinn hinaus – im Sinne einer Verpflichtungserklärung – ausgelegt“,88 so drängt sich der Verdacht der Fiktion geradezu unabweislich auf, – zumal der Verzichtsvertrag ohnehin oft genug in dieser Richtung mißbraucht worden ist. In Wahrheit fehlt es in der Tat im Regelfall schon am objektiven Tatbestand einer Willenserklärung, und zwar auf beiden Seiten. Auszugehen ist von der Tatsache, daß der Schuldner typischerweise keinerlei Interesse an der Sicherung seines Gläubigers, d. h. des Zedenten hat;89 deshalb besteht für ihn nicht der geringste Anlaß, seine eigene Stellung durch den Verzicht auf Einwendungen zu verschlechtern, nur damit der Zessionar dem Zedenten Kredit gewährt oder ihm in anderer Hinsicht entgegenkommt. Ebensowenig hat der Schuldner im Normalfall, um den es hier allein geht, Veranlassung, dem Zessionar gegenüber besondere Konzessionen zu machen und diesem eine „selbständige“, von Einwendungen gegenüber dem ursprünglichen Gläubiger freie Rechtsstellung einzuräumen; das liefe vielmehr [104] darauf hinaus, daß der Schuldner dem Zessionar das Risiko seines Kredits an den Zedenten mindestens teilweise abnimmt, ein Verhalten, das i. d. R.90 außerhalb aller kaufmännischen Vernunft und aller Lebenserfahrung liegt. Diese Einsicht ist entscheidend für das Verständnis der beiderseitigen Erklärungen. Eben weil der Schuldner im Normalfall keinerlei Anlaß zu einem Einwendungsverzicht hat, kann schon in der Anfrage des Zessionars, ob er die Abtretung oder die Forderung „anerkenne“ oder „annehme“ kein entsprechendes Vertragsangebot gesehen werden. Warum sollte denn auch der Zessionar dem Schuldner eine freiwillige Verschlechterung seiner Stellung ansinnen? Er kann doch vernünftigerweise nicht erwarten, daß dieser antwortet: „Es besteht zwar eine Einwendung, aber ich verzichte auf sie“, sondern nur, daß er antwortet: „Mir ist keine Einwendung bekannt“ oder „Es besteht diese oder jene Einwendung“. Deshalb ist schon die Anfrage des Zessionars rechtlich gar nicht als Antrag zum 87
252.
Vgl. z. B. den Fall RG SeuffArch. 71 Nr. 226 (S. 394); vgl. auch RGZ 77, 157 und 125,
So von Lüpke aaO. S. 653 Sp. 2 unter Ziff. 4. Richtig Strecker aaO. S. 480 mit Fn. 30. 90 Ausnahmen sind selbstverständlich möglich, s. oben, doch genügt natürlich auch ein Eigeninteresse des Schuldners an den Beziehungen zwischen Alt- und Neugläubiger für sich allein nicht zur Bejahung eines rechtsgeschäftlichen Einwendungsverzichts. Es bedarf vielmehr einer umfassenden Interpretation des Verhaltens der Beteiligten und insbesondere der Berücksichtigung der Regeln über das Erklärungsbewußtsein; fehlt letzteres, wird der Schuldner dem Zessionar häufig aus culpa in contrahendo oder analog § 122 BGB zum Ersatz des durch die Kreditgewährung an den Zedenten erlittenen Schadens verpflichtet sein. 88 89
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Abschluß eines Verzichtsvertrages, sondern als ein bloßes Auskunftsbegehren zu bewerten. Dementsprechend setzt auch der Schuldner mit seiner Antwort nichts „in Geltung“, sondern gibt in der Tat nur eine „Wissenserklärung“, keine Willenserklärung ab.91 Wie schon mehrfach zeigt sich auch hier wieder die Bedeutung des Unterschieds zwischen konstitutiven und deklaratorischen Erklärungen.92 Im übrigen sollte man erwarten, daß die Rechtsprechung auf die Möglichkeit eines Irrtums des Schuldners über die ihm zugerechnete Bedeutung seiner Erklärung wenigstens einginge – ist es doch naheliegend, daß er mit einer derart gewaltsamen Auslegung nicht gerechnet hat. In den Entscheidungen finden sich jedoch durchweg93 keine Ausführungen über das Erklärungsbewußtsein oder die Frage der Anfechtbarkeit nach § 119 I BGB, und das ist höchst bezeichnend: es ist ein sicheres Indiz dafür, daß in Wahrheit gar nicht auf den Parteiwillen abgestellt, sondern mit Fiktionen gearbeitet wird. Die „Verzichtstheorie“ ist daher zur Lösung der Regelfälle untauglich. 2. Wie bereits gesagt, hat sich die h. L. den Zugang zur Problematik durch die starre Alternative zwischen rechtsgeschäftlicher Bindung einerseits und unverbindlicher Wissenserklärung andererseits selbst versperrt. Dabei liegt es gerade bei der hier zu erörternden Problematik besonders nahe, eine Lösung mit den Mitteln der [105] Vertrauenshaftung zu versuchen.94 Denn das Problem besteht ersichtlich darin, daß der Zessionar hinsichtlich seines weiteren Verhaltens gegenüber dem Zedenten auf die Erklärung des Schuldners vertraut, was diesem auch durchaus bewußt ist. Eine rein deklaratorische Erklärung braucht also keineswegs nur unter deliktischen Gesichtspunkten relevant zu sein, da die Parteien sich im rechtsgeschäftlichen Verkehr bewegen und die Grundvoraussetzung einer Vertrauenshaftung damit gegeben ist. Nach den im letzten Abschnitt entwickelten Regeln über den Einwendungsausschluß im Zessionsrecht ist dabei nun ohne weiteres klar, daß der Schuldner mit allen ihm bekannten Einwendungen präkludiert ist, wenn er die Forderung
91 Richtig RG LZ 1920, Sp. 434 Nr. 4, wo der Fall allerdings in tatsächlicher Hinsicht besonders eindeutig lag. 92 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kritik an der „Genehmigungstheorie“ bei der Anfrage über die Echtheit eines Wechsels, unten § 22 III 3. 93 Eine Ausnahme bildet nur die Entscheidung des LG Waldshut NJW 1955, 387, das, zu Unrecht, einen bloßen Rechtsfolgenirrtum annimmt. 94 Der Vertrauensgedanke klingt in der Rechtsprechung gelegentlich an, vgl. z. B. den Hinweis auf § 242 BGB und die Erfordernisse der Verkehrssicherheit in RGZ 169, 324 (326), auf die Notwendigkeit des Vertrauensschutzes in BGH WM 1956, 1211 (1213) und auf § 242 BGB in BGH WM 1962, 742 (vgl. vor allem 2. Leitsatz und unter 4 der Gründe). – Vgl. auch den Hinweis auf das Verbot des „venire contra factum proprium“ bei Strecker aaO. S. 481 unter Ziff. 4.
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oder die Abtretung „annimmt“ oder „anerkennt“.94a Denn seine Erklärung setzt dann den Rechtsschein, daß gegen die Forderung keine ihm bekannten Einwendungen bestehen; der Zessionar ist insoweit schutzwürdig, da er darauf vertrauen darf, daß der Schuldner ihm nicht bewußt eine falsche Auskunft gibt. Auch hier handelt es sich also um ein Beispiel der Einstandspflicht für einen wissentlich geschaffenen Scheintatbestand. Es zeigt sich dabei wieder, daß dieses Prinzip bei deklaratorischen Erklärungen weitgehend dieselbe Funktion erfüllt wie die Bindung durch eine Willenserklärung. Schwieriger ist die Frage zu beurteilen, ob der Schuldner nicht nur mit den Einwendungen präkludiert ist, die er kennt, sondern auch mit solchen, mit denen er lediglich rechnet. Insoweit kommt es entscheidend auf Wortlaut und Sinn der Anfrage an. Nur wenn aus ihr ersichtlich ist, daß der Zessionar auch über derartige Einwendungen Auskunft begehrt, liegen die Voraussetzungen der hier angenommenen Rechtsscheinhaftung vor. Dann freilich muß der Schuldner eine vollständige Erklärung abgeben, wenn er überhaupt antwortet. – Hinsichtlich solcher Einwendungen dagegen, die der Schuldner nicht kennt, wenn auch vielleicht „kennen müßte“, und mit denen er auch nicht rechnet, greift die Präklusionswirkung grundsätzlich nicht ein.95 Eine Ausnahme besteht allerdings, sofern die Erklärung des Schuldners bürgschaftsähnlichen Charakter hat.96 Im übrigen gilt jedoch der Grundsatz, daß eine Einstandspflicht für die Veranlassung oder die lediglich fahrlässige Verursachung eines Scheintatbestandes dem geltenden Recht fremd ist.97 Es ist daher allenfalls die Mög- [106] lichkeit des negativen Vertrauensschutzes in der Form einer Schadensersatzpflicht gegeben;98 diese ist in Weiterentwicklung der Lehre von der culpa in contrahendo auf die Verletzung einer gesetzlichen Schutzpflicht zu stützen, wobei hier das Problem der Einbeziehung Dritter in den Bereich der Schutzpflichten auftaucht.99 Im übrigen sind die Einzelfragen nach den allgemeinen Regeln der Rechtsscheinhaftung zu entscheiden. Das Fehlen der vollen Geschäftsfähigkeit auf sei94a I. E. richtig daher neuesten BGH NJW 70, 321 – jedenfalls, sofern die Zessionarin nicht bösgläubig war (anders insoweit BGH aaO. S. 322; dagegen i. E. mit Recht Reinicke NJW 70, 887 f.). 95 Es sei denn, sie ist vertraglich vereinbart, doch sind an eine entsprechende Vertragsauslegung besonders strenge Anforderungen zu stellen. 96 Vgl. unten § 11 VI 2. 97 Vgl. zusammenfassend unten § 38 II 2. 98 Das dürfte im Ergebnis auch durchaus gerecht sein: der Schuldner hat hier nicht bewußt die Unwahrheit gesagt, und für eine gesteigerte Haftung besteht daher kein Anlaß. Der Gläubiger mag also seinen Schaden nachweisen und sich ein Mitverschulden über § 254 BGB anrechnen lassen. 99 Zur Ausdehnung der Schutzpflichten gegenüber Dritten auf alle Fälle rechtsgeschäftlichen Kontakts und zu ihrer Ableitung aus dem Vertrauensgedanken vgl. Canaris JZ 65, 477 f.; vgl. ferner BGH WM 60, 317 (319), wo allerdings wohl sogar die Voraussetzungen der Rechtsscheinhaftung vorlagen, sowie unten § 44 II 5.
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ten des Erklärenden schließt die Haftung daher aus, nicht dagegen auf seiten des Anfragenden.100 In den Fällen der §§ 119, 123 BGB ist die Zurechenbarkeit der „Erklärung“ abzulehnen, wobei es bei arglistiger Täuschung hinsichtlich der von § 123 II 1 geforderten Bösgläubigkeit auf die Person des Zessionars ankommt; die Ausführungen oben I 2 gelten hier entsprechend. Selbstverständlich kann der Schuldner nicht anfechten mit der Begründung, er habe mit seiner Haftung nicht gerechnet: dieser Fall entspricht nicht dem § 119 I, sondern dem § 116 Satz 1 BGB. – Der Neugläubiger wird nicht geschützt, wenn er bösgläubig ist. Nach allgemeinen Grundsätzen ist eine Rechtsscheinhaftung ferner dann abzulehnen, wenn die Erklärung nicht für weitere Dispositionen des Zessionars ursächlich geworden ist, diesem vielmehr z. B. nur zur Klärung der Rechtslage gedient hat.101
100 Die h. L. kommt bei Geschäftsunfähigkeit des Anfragenden in Schwierigkeiten, da der Verzichtsvertrag nichtig ist, die Versagung des Vertrauensschutzes aber innerlich unbegründet erscheint. Freilich ist der Fall praktisch kaum relevant, da dann regelmäßig auch die Zession nichtig sein wird. 101 Vgl. die bei Strecker aaO. S. 481 vor Ziff. 3 erwähnten Fälle.
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Zusammenfassung Damit ist der Kreis der bürgerlich-rechtlichen Institute, bei denen eine „Rechtsscheinhaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestandes“ relevant werden kann, weitgehend abgeschritten. Andere Fälle mögen sich finden lassen,1 doch würde ihre Erörterung wohl kaum neue Aspekte aufwerfen. Auch erscheint die mit den vorstehenden Untersuchungen gewonnene Grundlage breit genug, um die eingangs aufgestellte Hypothese, es handele sich hier um ein allgemeines Prinzip des bürgerlichen Rechts, zu bestätigen. Methodologisch gesehen wurde dabei so vorgegangen, daß zunächst positivrechtliche Anknüpfungspunkte gesucht und in den §§ 171 I, 172 I und 405 BGB gefunden wurden; hiervon ausgehend ließ sich jeweils eine Reihe von Problemen im Wege der bloßen Auslegung lösen; daran [107] schloß sich als nächste Stufe die Erweiterung des Anwendungsbereiches mit Hilfe von Einzelanalogien an; die so gefundenen Tatbestände ermöglichten z. T. ihrerseits wieder eine Analogie in anderen Fällen, in denen der Rückgriff auf die geschriebene Norm allein nicht mehr recht überzeugend war; damit war schließlich die „Induktionsbasis“ breit genug, um in einer letzten Stufe die hinter den Einzeltatbeständen stehende ratio legis zu einem allgemeinen Rechtsprinzip erweitern zu können, – zumal die sich dabei ergebenden Lösungen z. T. im Ergebnis ohnehin bereits weitgehend anerkannt sind. So läßt sich etwa eine „Reihe“ bilden von der unmittelbaren Anwendung des § 172 I BGB über die offene Blankettausfüllung zur verdeckten Blankettausfüllung und von dort weiter zur Scheinbotenmacht durch Überbringung einer vom Aussteller fertig ausgefüllten Urkunde und zum Handeln unter fremdem Namen durch unbefugte Absendung des Schreibens eines anderen; eine ähnliche „Reihe“ kann man z. B. von § 171 I BGB über die Scheinermächtigung und die Schein-BGBGesellschaft zur Scheingütergemeinschaft oder von der Duldungsvollmacht über die Duldungsbotenmacht zur Duldungseinwilligung und zur Duldungsermächtigung aufstellen. So entwickelt sich mit Hilfe derartiger „Reihen“2 allmählich, gewissermaßen punktuell, ein allgemeines Rechtsprinzip. Daß dabei stets die Gefahr eines Zirkelschlusses gegeben ist, weil im Hintergrund jeder Auslegung und jeder Einzelanalogie letztlich natürlich doch bereits das postulierte allgemeine Prinzip steht, ist freilich nicht zu leugnen. Dabei handelt es sich aber nur um einen Unterfall des in der Hermeneutik auch sonst wohlbekannten Zirkels zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen,3 der allem „Verstehen“ eigentümlich ist und dessen Gefah1 Vgl. etwa die bei Bruck-Möller, Komm. zum VVG, 8. Aufl. 1961, § 45 Anm. 28 angeführten Beispiele. 2 Zum verwandten Problem der „Typenreihe“ vgl. Larenz, Methodenlehre S. 447 f. 3 Grundlegend Schleiermacher, Werke I 7, 1838, S. 37, 143 ff.; weitere Nachweise bei Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 90 Fn. 20.
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ren sich daher nicht von vornherein völlig ausschließen lassen. Ob dies gelungen ist, wird vielmehr letztlich weitgehend von der Überzeugungskraft der Ergebnisse abhängen. Diese aber beurteilt sich bei einem „allgemeinen“ Rechtsprinzip u. a. maßgeblich nach dessen rechtsethischem Gewicht4 – und das ist hier, wie bereits eingangs näher dargelegt,5 sehr groß.
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Vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 99 f. Vgl. S. 29.
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Zweiter Unterabschnitt Die erste Erweiterung: Die Einstandspflicht für die Schaffung eines Scheintatbestandes in Unkenntnis seines Scheincharakters Ist mit der Anerkennung einer allgemeinen Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins auch das Fundament gelegt, so handelt es sich dabei doch, wie von Anfang an betont,1 nur um den Minimaltatbestand. Es fragt sich [108] daher, ob sich diesem weitere Haftungsprinzipien an die Seite stellen lassen und welche das gegebenenfalls sind.2 Dabei rückt, führt man den bisherigen Denkansatz folgerichtig weiter, als erstes jene Fallgruppe ins Blickfeld, in der der Scheinschuldner zwar bewußt eine bestimmte Rechtslage verlautbart, diese aber selbst als bestehend ansieht; ebenso wie in den im vorigen Abschnitt behandelten Fällen – und anders als z. B. in den Fällen der „Anscheinsvollmacht“ – erfolgt also die den Rechtsschein begründende Kundgabe mit Erklärungsbewußtsein, aber anders als bisher erkennt der Scheinschuldner deren Unrichtigkeit nicht, d. h. er schafft einen Scheintatbestand, ohne daß ihm dessen Scheincharakter bewußt ist. Daß auch in einigen derartigen Fällen die Rechtsscheinhaftung eingreift, daß also das im vorigen Abschnitt entwickelte Haftungsprinzip wirklich nur den Minimaltatbestand und nicht zugleich auch schon die Grenze der Rechtsscheinhaftung bezeichnet, zeigt ein Blick auf das Vollmachtsrecht; denn hier ist es allgemein anerkannt, daß z. B. § 171 I BGB auch dann Anwendung findet, wenn der Geschäftsherr die Vollmacht im irrigen Glauben an ihr Bestehen kundgegeben hat.3 Daß anderseits nicht in allen derartigen Fällen eine Rechtsscheinhaftung Anerkennung verdient, daß also das Prinzip einer Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes in der Tat die weitreichendste Haftungsgrundlage darstellt und nicht in dem nunmehr zu entwickelnden neuen Prinzip aufgehen kann, beweist ohne weiteres der Hinweis auf das Zessionsrecht; denn dort war es schon kühn, den Schuldner in jedem Fall für eine Kundgabe einstehen zu lassen, deren Unrichtigkeit ihm bewußt ist,4 und es wäre mit der Regelung der §§ 398 ff. BGB und insbesondere mit dem Umkehrschluß aus § 405 BGB unter allen Umständen unvereinbar, ihm nun auch noch die Haftung für eine irrtümlich falsche Kundgabe aufzuerlegen.5
Vgl. oben S. 29. Zu den verschiedenen Prinzipien und ihrer Stufung vgl. zusammenfassend unten S. 150 und S. 542. 3 Vgl. die Nachweise unten § 10 Fn. 3. 4 Vgl. oben § 9 III. 5 Vgl. schon oben S. 10 f. und eingehend unten § 11 VI 1. 1 2
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Damit wird zugleich schon deutlich, welche Schwierigkeiten sich bei der Herausarbeitung eines allgemeinen Prinzips für die nun zur Erörterung stehende Fallgruppe ergeben: das geltende Recht kennt sowohl Tatbestände, in denen eine Haftung unzweifelhaft anerkannt ist, als auch Tatbestände, in denen sie ebenso unzweifelhaft ausgeschlossen ist, und es wird daher unerläßlich sein, ein zusätzliches Kriterium zu finden, das beide Gruppen unterscheidet. Es kommt hinzu, daß das rechtsethische Gewicht dieses zweiten Haftungsprinzips notwendigerweise geringer ist als das des zuvor entwickelten. Denn anders als derjenige, der den Scheincharakter seiner Kundgabe durchschaut, ist der Irrende, der selbst an deren Richtigkeit glaubt, weit eher schutzwürdig; oder systematisch genauer formuliert: während es bisher nur um die – verhältnismäßig leicht zu entscheidende – Auferlegung des „Irreführungs-“ und des „Mißbrauchsrisikos“ ging, steht jetzt zusätzlich die – wesentlich diffizilere – Zuteilung des „Richtigkeitsrisikos“ in Frage.6 Soll das gesuchte Prinzip trotz dieser [109] Schwäche gleichwohl überzeugungskräftig sein, so wird man bestrebt sein müssen, diese durch ein besonderes Element auf der Gegenseite, also durch eine erhöhte Schutzwürdigkeit des Vertrauenden auszugleichen. Vergleicht man nun unter diesem Gesichtspunkt die soeben als Beispiele herangezogenen Tatbestände der Vollmachtskundgabe einerseits und der Kundgabe des Bestehens einer Schuld anderseits, so ist in der Tat festzustellen, daß der Dritte bei der Vollmacht wesentlich schutzwürdiger erscheint als der Zessionar. Denn die Erteilung der Vollmacht „zielt“ auch dann, wenn sie gegenüber dem Vertreter erfolgt, von vornherein auf den Dritten, da sie ja zur Grundlage eines Rechtsgeschäfts von und mit diesem bestimmt ist, und sie berührt daher ihrer eigenen Sinnrichtung nach jedenfalls dessen Interessen; die Begründung einer Schuld, z. B. aus einem Darlehens- oder Kaufvertrag, entfaltet dagegen ihren primären Zweck ausschließlich im Verhältnis zwischen den betreffenden Parteien selbst und besitzt somit keine derartige „Drittrichtung“. Damit könnte sich u. U. in der Tat das gesuchte Kriterium abzeichnen; ob es de lege lata wirklich tragfähig ist, läßt sich jedoch – ebenso wie bei dem zuerst entwickelten Prinzip – erst nach einer eingehenden Einzeluntersuchung der in Betracht kommenden Institute sagen. Überprüft man nun, welche dies sind, so stößt man sogleich auf den Zusammenhang mit der Problematik des Einwendungsausschlusses. Denn ein Irrtum des Kundgebenden über die Richtigkeit seiner Kundgabe – nur um diese Fälle geht es hier ja! – ist kaum denkbar, wenn das fragliche Rechtsgeschäft überhaupt nicht vorgenommen wurde, und so bleiben praktisch im wesentlichen die Fälle übrig, in denen das Geschäft zwar abgeschlossen wurde, in denen es aber an irgendwelchen dem Kundgebenden unbekannten Mängeln leidet und aus diesem Grund nichtig ist. Können diese nun dem vertrauenden Dritten auf Grund des Eingrei6
Zur Terminologie und zur Problematik vgl. näher unten § 38 III 2–4.
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fens der Rechtsscheinhaftung nicht entgegengesetzt werden, so bedeutet das, daß die entsprechenden Einwendungen ihm gegenüber präkludiert sind. Es geht also in der Tat wesentlich um die Problematik des Einwendungsausschlusses, und diese wird im folgenden daher im Vordergrund stehen, während die übrigen hierher gehörigen Fälle – man denke z. B. immerhin daran, daß eine Innenvollmacht nach außen versehentlich mit einem anderen Umfang kundgegeben wird, als sie intern erteilt war – wegen ihrer äußerst geringfügigen praktischen Bedeutung nicht ausdrücklich erörtert werden, sondern jeweils entsprechend hinzuzudenken sind. § 10 Der Einwendungsausschluß im Stellvertretungsrecht Von einem Einwendungsausschluß im Stellvertretungsrecht zu sprechen, wirkt zunächst überraschend. Man kennt eine derartige Problematik zwar aus dem Gesellschaftsrecht und dem Recht der Umlaufpapiere, hier dagegen erscheint sie ungewohnt. Dennoch besteht sie auch im Stellvertretungsrecht, wenngleich dies bisher hinsichtlich der dogmatischen Konstruktion überhaupt nicht und im prak[110] tischen Ergebnis nur teilweise anerkannt ist und man statt dessen versucht hat, die in Wahrheit in diesen Zusammenhang gehörenden Schwierigkeiten bei Mängeln der Innenvollmacht auf andere Weise zu lösen.1 I. Die §§ 171 I, 172 I BGB als Tatbestände des Einwendungsausschlusses kraft Rechtsscheins Wie zu Beginn dieses Abschnitts schon angedeutet, ist wiederum von den §§ 171 I, 172 I BGB auszugehen. Diese gelten nämlich anerkanntermaßen nicht nur dann, wenn der Kundgabe überhaupt keine Vollmacht zugrunde liegt und wenn der Kundgebende daher wissentlich einen Scheintatbestand schafft,2 sondern auch dann, wenn die Innenvollmacht fehlerhaft ist und die Kundgabe im
1 Vgl. dazu Hupka, Die Vollmacht, 1900, S. 129 ff.; Rosenberg, Stellvertretung im Prozeß, 1908, S. 712 ff.; Jehle, Die Vollmacht und die Willensmängel des Vollmachtgebers, Diss. Tübingen 1908, S. 68 ff.; Planck-Flad § 167 Anm. 4; Müller-Freienfels, Die Vertretung beim Rechtsgeschäft, 1955, S. 402 ff.; Staudinger-Coing § 167 Rdzn. 24 ff.; Enn.-Nipperdey § 203 III 8; Flume § 52, 5. 2 Vgl. dazu oben § 6 I 1. Der im Schrifttum (vgl. die folgende Fn.) häufig erwähnte Fall, daß der Geschäftsherr irrtümlich eine in Wahrheit überhaupt nicht erteilte Vollmacht als bestehend ansieht, dürfte praktisch kaum denkbar sein; in Betracht kommt höchstens, daß er den Umfang einer erteilten Vollmacht versehentlich falsch kundgibt.
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irrigen Glauben an ihre Wirksamkeit erfolgt;3 in diesem zweiten Fall aber führen sie dazu, daß der Dritte gegenüber dem Mangel geschützt wird und das heißt eben: daß die entsprechende Einwendung präkludiert ist. Die h. L. sieht darin indessen gleichwohl keinen Fall des Einwendungsausschlusses, sondern erklärt die Rechtsfolgen aus dem der Kundgabe angeblich innewohnenden selbständigen Legitimationselement; dabei kann sie sich auf die Ansicht der Verfasser des BGB berufen, nach der in der Kundgabe „nicht bloß ein Hinweis auf die Tatsache der Bevollmächtigung, sondern die Erklärung, daß der Dritte sich darauf verlassen kann, daß die betreffende Person Vertretungsmacht habe“ liegen soll, und die dementsprechend die Kundgebung ausdrücklich als „selbständige Bevollmächtigung“ bezeichneten.4 Danach stellen also die Erteilung der Innenvollmacht und die Kundgabe zwei streng zu trennende selbständige Legitimationsakte dar,5 wohingegen bei einer Einordnung der Proble- [111] matik in die Lehre vom Einwendungsausschluß nur eine einzige Legitimation – nämlich die durch die Innenvollmacht – gegeben ist, deren Fehlen aber gutgläubigen Dritten auf Grund des durch die Kundgabe geschaffenen Rechtsscheins – nicht aber auf Grund einer selbständigen rechtsgeschäftlichen Legitimation! – nicht entgegengesetzt werden kann. Die der h. L. zugrunde liegende Vorstellung ist oben6 bereits zurückgewiesen worden; sie muß vor allem an dem rein deklaratorischen Charakter der Kundgabe und an der daraus folgenden Unmöglichkeit, die angebliche Legitimation mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre verständlich zu machen, scheitern.6 Sieht man dagegen in den §§ 171 I, 172 I, soweit sie hier zur Erörterung stehen, Fälle eines Einwendungsausschlusses kraft Rechtsscheins, so lassen sich diese Tatbestände ohne weiteres dogmatisch erklären und bruchlos in das System des geltenden Rechts einordnen; insbesondere fügen sie sich dann harmonisch in den Zusammenhang so eng verwandter Erscheinungen wie des Einwendungsausschlusses im Gesellschaftsrecht – der weitgehend ein Problem der Scheinvollmacht darstellt!7 – oder auch des Einwendungsausschlusses im Wertpapierrecht ein, – Institute, die heute auch niemand mehr aus irgendwelchen „selbständigen“ Haftungserklärungen abzuleiten versucht. 3 Vgl. schon Mot. I S. 237; vgl. ferner RGZ 97, 273 (276); 108, 125 (127); RG HRR 1937, 548 (wo allerdings zu Unrecht § 172 II analog statt § 172 I unmittelbar angewandt wird); OLG München HRR 1936, 865; BGH LM Nr. 1 zu § 173 BGB; Planck-Flad § 167 Anm. 4 d α; Oertmann § 167 Anm. 5 a a. E. und § 171 Anm. 1 a α; Staudinger-Coing §§ 171 f. Rdzn. 3 und 7 a. E.; Soergel-Schultze-von Lasaulx § 171 Rdz. 1; RGR-Komm. (Kuhn) § 171 Anm. 1 und § 172 Anm. 1; Palandt-Danckelmann §§ 170 ff. Anm. 1 a. E.; Enn.-Nipperdey § 203 III 8 b a. E.; z. T. a. A. nur Rosenberg aaO. S. 742 (vgl. auch S. 721 f.). 4 Vgl. Mot. I S. 237 bzw. S. 238; sich eng an sie anschließend Flume § 49, 2 a. 5 Repräsentativ hierfür z. B. Planck-Flad § 164 Anm. 4 d (hinsichtlich der Anfechtungsproblematik). 6 Vgl. § 5 I 1, insbesondere S. 32 f. 7 Vgl. unten § 11 III 2.
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Damit ist indessen nur die dogmatische Einordnung vorgenommen, nicht aber auch schon die viel wesentlichere Frage nach dem Grund geklärt, warum das Gesetz gerade hier eine so weitgehende Rechtsscheinhaftung anordnet. Die Antwort wird man in dem schon einmal8 herangezogenen Gedanken zu suchen haben, daß der Dritte im Falle der Kundgabe einer Innenvollmacht durch den Geschäftsherrn keinen Anlaß hat, von diesem zusätzlich noch eine besondere Außenvollmacht zu verlangen, und daß er daher hier nicht schlechter als bei einer solchen stehen darf. Die Außenvollmacht schützt nun den Dritten, da sie ja ein abstraktes Rechtsgeschäft ihm gegenüber ist, grundsätzlich vor allen Mängeln aus dem Innenverhältnis zwischen Geschäftsherrn und Vertreter; insbesondere kommt es auf seine Person und nicht wie bei der Innenvollmacht auf die des Vertreters an, soweit die Kenntnis oder Erkennbarkeit bestimmter Umstände für die Geltung der Vollmacht von Bedeutung ist wie in den Fällen der §§ 116 S. 2, 117 I, 123 II 1 und bei der objektiven Auslegung oder soweit sonst hierfür die Person des Erklärungsgegners irgendeine Rolle spielt wie z. B. bei § 118. Genau denselben Schutz gegenüber internen Mängeln aber gewährleisten die §§ 171 I, 172 I, und dies ist in der Tat sachgerecht, da man von dem Dritten, wie schon gesagt, angesichts des Vorliegen einer Vollmachtskundgabe nicht erwarten kann, daß er den Geschäftsherrn zur Erteilung einer zusätzlichen Außenvollmacht auffordert.9 [112] II. Der Einwendungsausschluß bei der konkludenten Kundgabe, insbesondere bei der Duldungsvollmacht Die vorstehenden Ausführungen haben keineswegs ausschließlich dogmatische Bedeutung. Sieht man nämlich den Grund für die Unbeachtlichkeit interner Mängel im Falle der §§ 171 I, 172 I in dem Legitimationselement von Mitteilung und Vollmachtsurkunde, so ist es von vornherein ausgeschlossen, zu einem ähnlichen Einwendungsausschluß auch bei einer lediglich konkludenten Kundgabe der Vollmacht zu gelangen;10 denn diese enthält im Regelfall unzweifelhaft eine solche „Bestärkung“ nicht: wer z. B. duldet, daß ein anderer als sein Prokurist tätig Vgl. oben S. 35 (wenn auch mit umgekehrter Stoßrichtung). Vgl. im übrigen auch unten § 11 VII. 10 Ob eine Mitteilung i. S. des § 171 I auch konkludent erfolgen kann, ist bestritten. Bejahend z. B. Rümelin AcP 93, 301; von Seeler ArchBürgR 28, 51; Macris S. 201 ff. (für analoge Anwendung); Düringer-Hachenburg-Hoeniger Anm. 47 vor § 48 a. A.; Soergel-Schultze-von Lasaulx § 171 Rdz. 3; verneinend Biermann S. 111; Wellspacher S. 100 (der allerdings den noch weniger passenden § 172 analog anwenden will); Goldberger, Der Schutz gutgläubiger Dritter im Verkehr mit Nichtbevollmächtigten, 1908, S. 46; Manigk, Heymann-Festschrift S. 607 f. Gänzlich vernachlässigt wird dieses Problem bei Waldeyer, Vertrauenshaftung kraft Anscheinsvollmacht bei anfechtbarer und nichtiger Bevollmächtigung, Diss. Münster 1969. 8 9
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ist, erklärt dadurch nicht dem Dritten, dieser könne sich „auf das Bestehen der Prokura unbedingt verlassen“. Faßt man dagegen den Schutz des Dritten gegenüber Einwendungen aus dem Innenverhältnis als Reflex des in der Kundgabe liegenden Vertrauenstatbestandes auf, so läßt er sich grundsätzlich auch auf die Fälle konkludenten Handelns übertragen, – hat sich doch im Verlauf der bisherigen Erörterungen immer wieder gezeigt, daß hinsichtlich der Rechtsscheinhaftung ausdrückliche Erklärung und konkludentes Handeln regelmäßig gleichzustellen sind. In der Tat sprechen nun schwerwiegende Gründe für die Bejahung eines Einwendungsausschlusses auch in diesem Falle. Denn auch wenn der Geschäftsherr die Innenvollmacht lediglich konkludent deklariert, hat der Dritte keinen Anlaß, die Erteilung einer Außenvollmacht ihm gegenüber oder eine ausdrückliche Mitteilung zu fordern; wer würde denn z. B. von einem Kaufmann verlangen, daß dieser einen Handlungsbevollmächtigten, der seit langem mit seinem Wissen unbeanstandet als solcher auftritt, noch besonders legitimiert? Läßt man hier interne Einwendungen gegen die Vollmacht uneingeschränkt zu, so wird der vom Gesetz durch das Institut der abstrakten Außenvollmacht bezweckte Verkehrsschutz weitgehend vereitelt – und das gerade in einem Gebiet, wo für ihn ein besonderes Bedürfnis besteht, da es insoweit regelmäßig um Generalvollmachten geht, die typischerweise Innenvollmachten sind und bei denen die externe Erteilung und die ausdrückliche Kundgabe daher praktisch die große Ausnahme darstellen. Ein zweiter Gesichtspunkt kommt hinzu. Wenn eine Innenvollmacht überhaupt nicht erteilt war, der Geschäftsherr aber ein entsprechendes Auftreten des Vertreters bewußt geduldet hat, so braucht der Dritte nach den Regeln über die Duldungsvollmacht mit internen Einwendungen nicht zu rechnen. Daraus entsteht ein [113] gewisser Wertungswiderspruch11 zur Behandlung der Fälle, in denen zwar die Vollmacht erteilt, aber fehlerhaft ist und in denen der Geschäftsherr gleichwohl das Auftreten des Vertreters geduldet hat: läßt man hier Einwendungen gegen die Innenvollmacht auch gegenüber dem Dritten zu, so steht er
11 Dieser wird sehr klar herausgearbeitet von Krause, Schweigen im Rechtsverkehr, S. 156 ff. Krause geht jedoch einerseits zu weit, andererseits nicht weit genug: er geht zu weit, indem er jede Anfechtbarkeit der Scheinvollmacht gänzlich ausschließt (vgl. dazu oben § 5 II 3); er geht nicht weit genug, indem er bei der echten Vollmacht überhaupt keinen Einwendungsausschluß anerkennen will (vgl. im Text); gegen Krause insoweit auch Macris aaO. S. 90 f.; Demelius AcP 153, 13; Waldeyer aaO. S. 139 i. V. m. S. 136 f. Methodisch ist zu der Ansicht von Krause zu vermerken, daß eine Lehre, die einen derart krassen – und auch von Krause selbst so empfundenen – Wertungswiderspruch bestehen lassen will, nicht richtig sein kann: entweder steht der Wertungswiderspruch der beabsichtigten Rechtsfortbildung entgegen, oder er muß aufgelöst werden. – Es ist ein wesentlicher Vorzug der im Text vertretenen Ansicht, daß bei ihr keine Wertungswidersprüche entstehen können.
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schlechter als bei der Duldungsvollmacht.12 Allerdings handelt es sich bei dieser um Haftung für einen wissentlich geschaffenen Scheintatbestand, und der Wertungswiderspruch ist daher schon beseitigt, wenn man wenigstens solche Einwendungen ausschließt, die dem Geschäftsherrn bekannt sind,13 – ein Ergebnis, das in der Tat ohne weiteres aus dem im vorigen Abschnitt entwickelten allgemeinen Rechtsprinzip folgt. Man sollte jedoch noch einen Schritt weitergehen und den Geschäftsherrn ebenso wie in den Fällen der §§ 171 I, 172 I auch mit unbekannten Einwendungen gegen die Innenvollmacht präkludieren. Dafür spricht entscheidend der zuvor herausgearbeitete Grund: da der Dritte keinen Anlaß hat, auf die Erteilung einer Außenvollmacht oder einer ausdrücklichen Deklaration zu dringen, muß er wie bei einer Außenvollmacht geschützt sein. Dem juristischen Laien muß es jedenfalls ganz unverständlich sein, daß er besser stehen soll, wenn er sich die Vollmacht ausdrücklich bestätigen läßt, als wenn er sich mit ihrer konkludenten Deklaration zufrieden gibt, ja, er wird die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Erklärung als absurd zurückweisen, wenn das Bestehen der Vollmacht aus dem Verhalten des Geschäftsherrn ohnehin klar hervorging. Allerdings ist zuzugeben, daß diese Ansicht praktisch verhältnismäßig einschneidende Konsequenzen hat: bei den meisten Vollmachten, die auf Dauer gerichtet und längere Zeit in Geltung sind, werden Einwendungen gegen die Innenvollmacht zugunsten gutgläubiger Dritter präkludiert. Jedoch wird damit für die Vollmacht nur eine Entwicklung nachgeholt, die in anderen, eng verwandten Fällen längst abgeschlossen ist. So können interne Mängel der BGB-Gesellschaft nach heute nahezu unbe[114] strittener Ansicht gutgläubigen Dritten nicht entgegengesetzt werden,14 sobald diese nach außen „ins Leben getreten“ ist; daß dies für die „ins Leben getretene“ Vollmacht anders sein soll, ist um so befremdlicher, als bei der schwerfälligen BGB-Gesellschaft ein besonderes Verkehrsschutzbedürfnis vom Gesetz an sich nicht anerkannt ist15 und als zudem die Problematik des Drittschutzes hier ausschließlich eine solche des Vollmachtsrechts ist.16 Im einzelnen sind dieselben Anforderungen zu stellen wie bei der „Duldungsvollmacht“. Daraus, wie auch aus der Gleichstellung mit den §§ 171 I, 12 Ansätze zu einer Harmonisierung der Regeln über die Scheinvollmacht und über die fehlerhafte Innenvollmacht schon bei v. Seeler ArchBürgR 28, 35 f.; Regelsberger KrVJSchr. 47, 289 ff und JherJb. 58, 164 ff.; Jacobi KrVJSchr. 49, 104 ff. und JW 1925, 2449; Demelius AcP 153, 13; neuestens Waldeyer aaO. passim. 13 Wer mit der h. L. eine „Anscheinsvollmacht“ bei fahrlässiger Verursachung des Scheins einer Vollmacht anerkennt, muß zur Vermeidung des Widerspruchs dem Geschäftsherrn jedenfalls auch solche Einwendungen nehmen, die er schuldhaft nicht kennt. 14 Vgl. dazu unten § 11 II m. Nachw. in Fn. 18. 15 Es besteht im Zweifel Gesamtvertretung nach §§ 714, 709 BGB! Auch gibt es hier nach dem Gesetz weder eine externe noch auch nur eine abstrakte Vollmacht, vgl. unten § 11 II 2. 16 Vgl. unten § 11 II 2.
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172 I, folgt vor allem, daß der Geschäftsherr Kenntnis von dem Agieren des Vertreters – nicht von dem gerade in Frage stehenden konkreten Rechtsgeschäft! – haben muß, daß die Vollmacht also mit seinem Wissen „ins Leben getreten“ sein muß; fahrlässige Unkenntnis genügt also grundsätzlich nicht.17 Die Vollmacht muß weiter nach außen in Erscheinung getreten sein; in der Regel ist also auch hier zu fordern, daß der Vertreter eine gewisse Zeit als solcher agiert hat. Hiervon muß der Dritte Kenntnis haben, d. h. er muß aus dem Verhalten, sei es auch aus dem bloßen Dulden des Geschäftsherrn schließen, daß eine Vollmacht erteilt ist und mit dessen Wissen gebraucht wird. III. Die Einwendungen bei der intern gebliebenen, „reinen“ Innenvollmacht Dieser letztere Gesichtspunkt enthält zugleich den entscheidenden Ansatz für die Lösung der weiteren Frage, ob es auch einen Einwendungsausschluß bei der nicht kundgegebenen, also intern gebliebenen Innenvollmacht gibt. Sie ist nach dem Gesagten folgerichtig zu verneinen. In der Tat versagen hier sowohl die Analogie zu den §§ 171 I, 172 I und zur Duldungsvollmacht, da es an dem maßgeblichen tertium comparationis – eben der Kundgabe – fehlt, als auch der Rückgriff auf allgemeine Rechtsscheinprinzipien, da diese stets das Vorliegen eines objektiven Scheintatbestandes voraussetzen und dieser nur in einem nach außen in Erscheinung getretenen Verhalten des Geschäftsherrn, nicht aber in der bloßen Behauptung des angeblichen Vertreters von seiner Vollmacht gesehen werden kann.18 Das ist auch nicht unbillig. Denn da der Dritte hier ausschließlich auf die Behauptung des Vertreters vertraut, ist es nur folgerichtig, wenn er auch lediglich gegen diesen einen Anspruch – nämlich aus § 179 BGB – hat. Eventuellen Mängeln des Innenverhältnisses hat er sich „blind“ ausgesetzt, und er verdient daher gegenüber einer Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit der Vollmacht ebensowenig Schutz wie gegenüber deren [115] gänzlichem Fehlen oder gegenüber vom Vertreter verschwiegenen Beschränkungen; will er sich schützen, so mag er eine Außenvollmacht oder eine Mitteilung über das Bestehen der Innenvollmacht vom Geschäftsherrn verlangen, wozu er hier mangels jeglicher Vollmachtskundgabe anders als in den bisher behandelten Fällen allen Anlaß hat. Dogmatisch folgt daraus, daß man hinsichtlich der Behandlung von Mängeln der Vollmacht nicht wie bisher üblich nur zwei Typen zu unterscheiden hat, sondern drei: die Außenvollmacht, die kundgegebene Innenvollmacht und die intern gebliebene, „reine“ 17 Das folgt aus der Ablehnung der „Anscheinsvollmacht“, vgl. oben § 5 IV; vgl. auch soeben Fn. 13. 18 Vgl. unten § 39 III 4. Zu weitgehend daher Regelsberger KrVJSchr. 47, 290 und vor allem Jacobi KrVJSchr. 49, 95 f.
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Innenvollmacht. Bei der ersten und bei der letzten sind die gesetzlichen Nichtigkeitsvorschriften grundsätzlich19 sachgerecht und uneingeschränkt anwendbar, bei der zweiten ergeben sich Modifikationen auf Grund der Rechtsscheinlehre;20 einer Umbildung des Gesetzes wegen der angeblich zu „doktrinären“ Durchführung der Repräsentationstheorie bedarf es dagegen entgegen der h. L.21 grundsätzlich19 nicht. IV. Einwendungen gegen die Kundgabe selbst Die bisherigen Ausführungen bezogen sich lediglich auf Einwendungen gegen die Innenvollmacht. Diese sind nicht zu verwechseln mit Mängeln, die die Kundgabe selbst ergreifen. Insoweit gilt auch hier, was bereits oben22 im Rahmen der Scheinvollmacht ausgeführt wurde: sie sind grundsätzlich in analoger Anwendung der §§ 116 ff. BGB beachtlich, weil der Dritte zwar nicht schlechter, aber auch nicht besser als bei einer echten Außenvollmacht stehen soll; nur bei der Kundgabe einer Vollmacht, die auf den Abschluß von Rechtsgeschäften mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen gerichtet ist, werden gutgläubige Dritte auch gegenüber Mängeln der Kundgabe selbst geschützt22. V. Behandlung der einzelnen Einwendungen bei der Innenvollmacht Damit ist die Grundlage geschaffen, um die Regeln über den Schutz gutgläubiger Dritter vor Einwendungen gegen die „ins Leben getretene“ Innenvollmacht im einzelnen darzustellen. Soweit es dabei um einen Mangel der Kundgabe selbst geht, wird im folgenden nur vom Normalfall ausgegangen; die Ausnahme für den Fall der Vollmacht zu Rechtsgeschäften mit einem unbestimmten Personenkreis ist jeweils hinzuzudenken. 1. Durchschaut der Vertreter den geheimen Vorbehalt, so ist die Vollmacht grundsätzlich nichtig. Der gutgläubige Dritte braucht die Nichtigkeit bei der kund- [116] gegebenen Vollmacht jedoch nur dann gegen sich gelten zu lassen, wenn er die Einwendung kannte oder sie für ihn evident war. – Ähnlich liegt es 19 Zu – nicht in den Zusammenhang der Vertrauenshaftung gehörigen – Ausnahmen vgl. Müller-Freienfels aaO. S. 407; Staudinger-Coing § 167 Rdz. 27 a. E.; Flume § 52, 5 d bei Fn. 40. Die dort entwickelten Grundsätze beanspruchen m. E. auch über den Fall des § 123 hinaus Geltung, z. B. für § 116 S. 2 und 117 I. 20 Vgl. dazu im einzelnen auch sogleich unten V. 21 Vgl. das oben Fn. 1 angegebene Schrifttum. 22 Vgl. oben S. 36 f.
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beim Scheingeschäft: nach § 117 I kommt es zwar grundsätzlich auf das Einverständnis des Vertreters an, doch wird der Dritte nach „In-Vollzug-Setzung“ gegen den Einwand geschützt;23 bei der reinen Innenvollmacht muß er sich diesen dagegen grundsätzlich24 entgegenhalten lassen.25 – Eine Scherzerklärung ist nach § 118 nichtig, wenn sie in der Erwartung abgegeben wurde, der Vertreter werde den Mangel der Ernstlichkeit nicht verkennen. Wird sie irgendwie kundgetan, kommt es darauf an, ob der Geschäftsherr bei der Kundgabe davon ausging, der Dritte werde den Scherzcharakter durchschauen. Ist dies nicht der Fall, ist die Einwendung des § 118 zugunsten eines Gutgläubigen präkludiert; ist es der Fall, so ist die Kundgabe selbst von dem Mangel betroffen und der Geschäftsherr haftet dem Dritten daher nur analog § 122 BGB.26 – Ähnlich ist im Falle des § 119 BGB zu entscheiden. Eine Irrung oder ein Inhaltsirrtum können dem gutgläubigen Dritten daher nur dann entgegengesetzt werden, wenn sie nicht nur für die Erteilung der Innenvollmacht maßgeblich waren, sondern auch (oder nur) bei ihrer Kundgabe vorlagen. – Auch gegenüber einer Anfechtung wegen arglistiger Täuschung i. S. d. § 123 BGB wird der gutgläubige Dritte geschützt.27 Ist nicht nur die Bevollmächtigung, sondern auch deren Kundgabe durch die Täuschung bestimmt, was regelmäßig der Fall sein wird, so ist zwar an sich auch die Kundgabe mangelhaft, doch ändert dies i. E. nichts: analog § 123 II 1 BGB kommt es auf Kenntnis bzw. fahrlässige Unkenntnis des Dritten an;28 bei der reinen Innenvollmacht ist dagegen die Person des Vertreters maßgeblich.29 Die Anfechtung wegen Drohung dürfte meist durchgreifen, da die Drohung regelmäßig auch die Kundgabe beeinflußt haben wird und dann grundsätzlich relevant ist. – Auch die Einwendungen der Gesetzes- und Sittenwidrigkeit nach §§ 134, 138 BGB können, sofern sie die abstrakte (!) Innenvollmacht überhaupt ergreifen,30 präkludiert sein.31 23 Dies ergibt sich im übrigen auch aus den Grundsätzen über das kundgegebene Scheingeschäft, vgl. oben § 9 II. 24 Eine Ausnahme gilt im Fall der Kollusion, vgl. dazu unten § 26 I 1. 25 Zu weitgehend daher Hupka aaO. S. 131 ff.; Rosenberg aaO. S. 751 f.; zu eng andererseits Staudinger-Coing § 167 Rdz. 25; vgl. auch Jehle aaO. S. 78 ff. 26 Vgl. dazu und zur Haftung bei der reinen Innenvollmacht auch unten § 44 I 4. 27 Aus der Rechtsprechung vgl. RGZ 159, 363 (368 f.); RG HRR 1937, 548; OLG München HRR 1936, 865. 28 A. A. Hupka aaO. S. 170 Fn. 1; wie im Text i. E. z. B. Jehle aaO. S. 111; Goldberger aaO. S. 71 f.; Macris aaO. S. 179; Planck-Flad § 172 Anm. 1 b. 29 Dieses Ergebnis läßt sich entgegen der Ansicht von Flume § 52, 5 d gegen Ende nicht mit Hilfe des § 123 II 2 BGB abwenden; denn diese Vorschrift betrifft eine völlig andere Fallkonstellation, da sie als Erweiterung des S. 1 die Beteiligung von vier (und nicht nur wie hier von drei!) Personen voraussetzt, vgl. BGHZ 31, 321 (327). 30 Vgl. dazu Rosenberg aaO. S. 747 ff.; Waldeyer aaO. S. 67 ff. m. Nachw. – Bedenklich ist es, die Vollmacht mit dem Kausalverhältnis zwischen Geschäftsherrn und Vertreter durch analoge Anwendung des § 139 BGB zu verknüpfen (so aber RGZ 81, 49 [51] und Flume § 32, 2 a = S. 572, obwohl er ausdrücklich auch für die Innenvollmacht am Abstraktionsprinzip festhält, vgl. § 50,
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2. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn die Vollmacht wegen Formmangels nichtig ist.32 Dies wird vor allem bei unwiderruflichen Vollmachten zur [117] Veräußerung eines Grundstückes praktisch. Hinsichtlich der Lösung muß man sich zunächst klar machen, daß die Kundgabe als solche niemals formbedürftig ist, also z. B. auch durch privat-schriftliche Urkunde erfolgen kann, obwohl für die Vollmachtserteilung selbst notarielle Beurkundung erforderlich wäre. Dies folgt daraus, daß der Schutzzweck des Formerfordernisses bei einer lediglich deklaratorischen Kundgabe nicht erfüllt sein kann: durch diese wird der Geschäftsherr niemals endgültig gebunden, da sie eben nichts selbständig in Geltung setzt, sondern nur (angeblich) bereits Geltendes verlautbart; wenn also der Vertretene z. B. erklärt, er habe einen anderen unwiderruflich bevollmächtigt,33 so kann er gleichwohl widerrufen bzw. den Schein der Vollmacht oder der Unwiderruflichkeit durch einen entsprechenden actus contrarius zerstören: ob die Vollmacht widerruflich ist, richtet sich ausschließlich nach ihr selbst, nicht nach ihrer Deklaration. Daraus folgt, daß es grundsätzlich auch einen Schutz des guten Glaubens gegenüber Formmängeln gibt.34 Im einzelnen sind dabei mehrere Fallgruppen zu 2 a. E.); denn der Zusammenhang zwischen Kausalverhältnis und Vollmacht ist regelmäßig so eng, daß nicht zu erkennen ist, welche besonderen Umstände jeweils für die Anwendung des § 139 BGB entscheidend sein sollen, und die Ausnahme der akzessorischen Vollmacht droht daher auf diese Weise zur Regel zu werden. – Eine ganz andere Frage ist, ob nicht die Vollmacht Teil eines Geschäftes zwischen Geschäftsherrn und Drittem sein kann, wie das bei der Auflassungsvollmacht nicht selten der Fall ist, vgl. RGZ 94, 147 (149); 97, 273 (275); Staudinger-Coing § 139 Rdz. 2. Bedenken auf Grund der Abstraktheit der Vollmacht bestehen hier nicht, weil es insoweit ja nicht um die Verknüpfung mit dem Innenverhältnis zwischen Geschäftsherrn und Vertreter geht. 31 Vgl. auch den Fall RGZ 97, 273 (kritisch dazu Kiehl LZ 1924, Sp. 424 ff., jedoch zu Unrecht, vgl. unten Fn. 34), der allerdings streng genommen in einen anderen Zusammenhang gehört, vgl. unten VI bei Fn. 42. 32 Vgl. als Beispiele RGZ 108, 125; RG SeuffArch. 78, 271 Nr. 167 (z. T. wörtlich mit RGZ 108, 125 übereinstimmend); RG GruchBeitr. 68, 538; Das Recht 1928 Nr. 516; JW 1929, 1968; 1931, 522; BGH LM Nr. 1 zu § 173 BGB; vgl. auch RGZ 69, 232, wo das RG allerdings die Formbedürftigkeit der Vollmacht von vornherein verneint hat, so daß sich die Frage des Einwendungsausschlusses gar nicht stellte (unzutreffend daher die Interpretation der Entscheidung durch Demelius AcP 153, 16). 33 Hier können sich allerdings Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben, da die externe (konstitutive) Erteilung einer unwiderruflichen Vollmacht durchaus denkbar ist, mag bei der unwiderruflichen Vollmacht auch die interne Erteilung die Regel sein. 34 A. A. offenbar Kiehl LZ 1924, Sp. 424 ff. Die Kritik von Kiehl beruht auf einer ständigen Verwechslung von Mängeln des Vertretergeschäfts und Mängeln der Vollmacht. Die Gefahr der Gesetzesumgehung besteht entgegen seiner Ansicht nicht: im Wucherfall (vgl. Sp. 431 f.) muß der Dritte in der Tat geschützt werden, weil und sofern er es auch bei einer entsprechenden (statt der Anzeige ebensogut möglichen) Außenvollmacht wäre; im Formfall (vgl. Sp. 432) ist das Formerfordernis gar nicht umgangen, weil die Anzeige jederzeit widerruflich ist (vgl. zuvor im Text), ähnlich wie eine statt der Anzeige erteilte normale (d. h. widerrufliche) Außenvollmacht.
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unter- [118] scheiden. Zunächst ist denkbar, daß die Umstände, aus denen das Formerfordernis folgt, aus der Kundgabe überhaupt nicht erkennbar sind (wie z. B. bei einer Vollmachtsurkunde, in die die Unwiderruflichkeit nicht aufgenommen ist); dann liegen die Voraussetzungen des Gutglaubensschutzes ohne weiteres vor. Im entgegengesetzten Fall ist dagegen eine zusätzliche Unterscheidung zu machen: es kommt darauf an, ob die Vollmacht in der vorgelegten Urkunde erteilt oder ob sie in dieser lediglich deklariert bzw. sogar nur mündlich kundgegeben wurde. Im ersten Fall wird der Dritte unter keinen Umständen geschützt, ohne daß sein guter Glaube, insbesondere seine Fähigkeit, aus den Umständen den juristischen Schluß auf das Formerfordernis zu ziehen und den Mangel der Form zu erkennen, eine Rolle spielt.35 Hier liegt nämlich eine „inhaltliche“ Einwendung vor, d. h. eine solche, die aus der Urkunde unmittelbar hervorgeht, und dabei gibt es keinen Schutz des guten Glaubens – ein Rechtssatz, der im Wertpapierrecht allgemein anerkannt ist36 und seinem inneren Gehalt nach nicht auf dieses Rechtsgebiet beschränkt bleiben kann; denn in einem solchen Fall fehlt es schon an dem erforderlichen Scheintatbestand.37 Daß nur dieses Ergebnis richtig sein kann, folgt auch aus dem Vergleich mit der Erteilung einer Außenvollmacht: wird eine solche unwiderruflich erteilt, so ist sie formbedürftig, und der Dritte wird gegenüber dem Mangel der Form grundsätzlich auch dann nicht geschützt, wenn ihm jegliche Rechtskenntnisse fehlen und er daher das Formerfordernis nicht kennen konnte. Schwierigkeiten bereitet die dritte Fallgruppe: wie ist zu entscheiden, wenn dem Dritten zwar nicht die Urkunde, in der die Vollmacht begründet wurde, vorgelegt wird, wenn aber aus der Kundgabe die Umstände, auf denen das Formerfordernis beruht, hervorgehen? Wenn also der Geschäftsherr z. B. dem Dritten mündlich erklärt, er habe den Vertreter unwiderruflich bevollmächtigt oder wenn dieser eine entsprechende privatschriftliche Vollmachtsurkunde vorlegt? Entsprechend dem soeben Ausgeführten wird man dem Dritten die Berufung darauf, er habe aus – sei es auch noch so unverschuldeter – Rechtsunkenntnis den Schluß auf die Erforderlichkeit der Form nicht gezogen, verwehren müssen.38 Relevant ist 35 Völlig verkannt von Waldeyer aaO. S. 127 ff. Nicht eindeutig BGH LM Nr. 1 zu § 173 BGB, wo einerseits darauf abgestellt wird, daß die Umstände, aus denen das Formerfordernis folgte, nicht aus der Urkunde ersichtlich waren, wo es andererseits aber heißt, dem rechtsunkundigen Dritten könne nicht ein Formmangel schaden, der selbst dem Notar verborgen geblieben sei; letzteres ist richtiger Ansicht nach unerheblich. Wie im Text i. E. Düringer-Hachenburg-Hoeniger Anm. 43 a. E. vor § 48; Enn.-Nipperdey § 184 II 3 b bei Fn. 25; Soergel-Schultze-v. Lasaulx § 173 Rdz. 1; Erman-Böhle-Stamschräder § 173 Anm. 2; RGR-Komm. (Kuhn) § 172 Anm. 3; RGZ 108, 125 (128); RG SeuffArch. 78, 271 Nr. 167 (weitgehend wörtlich wie RGZ 108, 128); RG GruchBeitr. 68, 538 (543 f.); RG JW 1929, 1969; RG HRR 1930, 964. 36 Vgl. unten § 22 II 1. 37 Vgl. unten § 39 III 2. 38 So wohl auch RG JW 1929, 1969.
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dagegen das Vorbringen, er habe geglaubt, die Form sei intern erfüllt: aus der Kenntnis der die Formbedürftigkeit begründenden Umstände folgt keineswegs ohne weiteres die Kenntnis [119] oder das Kennenmüssen des Formmangels;39 insoweit wird man dem Dritten auch keine besondere Prüfungsobliegenheit auferlegen können,40 da es grundsätzlich Sache der am Rechtsgeschäft beteiligten Personen – hier also des Geschäftsherrn und des Vertreters – ist, für die Erfüllung der Form zu sorgen. VI. Der Einwendungsausschluß bei der Außenvollmacht Der Einwendungsausschluß ist eine Form des Drittschutzes, d. h. des Schutzes des Vertrauens auf die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäftes zwischen Dritten. Daher gibt es bei der Außenvollmacht grundsätzlich41 keinen Einwendungsausschluß zugunsten des Empfängers der Vollmacht; denn dieser ist hier insoweit eben nicht „Dritter“, sondern Adressat der Erklärung, oder – in der Terminologie des Wertpapierrechts gesprochen – ihm gegenüber liegt eine „unmittelbare“ Einwendung vor, die hier wie dort stets beachtlich ist. – Das Problem des Drittschutzes und damit des Einwendungsausschlusses kann sich jedoch auch bei der Außenvollmacht ergeben: wenn diese einem gutgläubigen Vierten kundgegeben wird und der Geschäftsherr diese Kundgabe, etwa durch Errichtung einer Vollmachtsurkunde, bewußt ermöglicht hat.42 Hier gelten die zum Einwendungsausschluß bei der kundgegebenen Innenvollmacht entwickelten Regeln entsprechend.
39 Ergibt sich freilich dieser selbst aus der Kundgabe – was denkbar selten vorkommen wird –, so liegt eine inhaltliche Einwendung vor, und der Gutglaubensschutz ist daher zu versagen; vgl. auch RGZ 108, 125 (128), wo (obiter) Kundgabe und Vorlegung der konstitutiven Vollmachtsurkunde insoweit mit Recht gleichgestellt werden. 40 A. A. RG LZ 1919 Sp. 243 Nr. 6. 41 Eine Ausnahme wird man entsprechend dem oben IV a. E. und § 6 I 2 Gesagten zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen bei solchen Außenvollmachten machen müssen, die zur Grundlage einer unbestimmten Vielzahl von Rechtsgeschäften bestimmt sind. 42 Vgl. den Fall RGZ 97, 273.
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§ 11 Der Einwendungsausschluß bei den übrigen Rechtsinstituten und seine Grenzen Anders als im Stellvertretungsrecht gibt es in den übrigen Rechtsgebieten, in denen ein Einwendungsausschluß in Betracht kommt, keine gesetzliche Grundlage – von § 405 BGB abgesehen, der aber keinesfalls auch unbekannte Einwendungen erfaßt und daher in diesem Zusammenhang von vornherein unbrauchbar ist. Bei dem Versuch, gleichwohl auch hier ein eventuell im Hintergrund stehendes allgemeines Rechtsprinzip aufzudecken, wird man daher wiederum zunächst die Möglichkeit von Einzelanalogien zu prüfen haben und anschließend fragen müssen, inwieweit wenigstens die dabei maßgeblichen Wertungsgesichtspunkte – wo schon nicht die entsprechenden Normen – auf andere Gebiete übertragbar sind. [120] I. Die analoge Anwendung der Regeln über den Einwendungsausschluß im Stellvertretungsrecht auf Erklärungen zum Vereinsregister, Zustimmungen und Blanketterklärungen Ohne weiteres einleuchtend ist die Analogie zu § 171 I BGB bei Erklärungen zum Vereinsregister;1 denn auch dabei geht es um die Deklaration einer rechtsgeschäftlich erteilten Vertretungsmacht, und auch dabei trifft der Gedanke zu, daß der Dritte angesichts dieser Kundgabe keinen Anlaß hat, eine zusätzliche Legitimation des Vorstandes zu verlangen. – Ähnliches gilt für die Zustimmungen, insbesondere die Ermächtigungen.2 Ebenso wie die Vollmacht stellen diese nämlich „Legitimationserklärungen“ dar, d. h. Rechtsgeschäfte, durch die einem anderen die Rechtsmacht eingeräumt wird, rechtsgeschäftliche Wirkungen in einem fremden Rechtskreis herbeizuführen; ebenso wie jene können sie sowohl extern als auch intern erteilt werden, und es entsteht daher dasselbe Problem der unterschiedlichen Ausgestaltung des Schutzes gegenüber internen Mängeln bei der Außenund bei der Innenzustimmung; und ebenso wie im Stellvertretungsrecht ist schließlich zu sagen, daß der Dritte bei der kundgegebenen internen Zustimmung keinen Anlaß hat, noch zusätzlich eine externe Erklärung zu fordern, und daher denselben Schutz wie bei dieser verdient. Die §§ 171 I, 172 I BGB und die Regeln über die Duldungsvollmacht gelten daher auch insoweit analog. – Schließlich sind auch hinsichtlich der Ausfüllungsbefugnis bei einer Blanketturkunde, der ebenfalls eine Legitimationserklärung zugrunde liegt, interne Einwendungen präkludiert.3 Vgl. auch oben § 7 VIII m. Nachw. in Fn. 51. Vgl. auch oben § 7 IV–VI. 3 Vgl. näher bereits oben S. 62 (vor 4.). 1 2
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II. Der Einwendungsausschluß im Recht der BGBGesellschaft Besonders nahe liegt eine Analogie zum Stellvertretungsrecht ferner bei der BGB-Gesellschaft. Zudem scheint sich hier auch insofern ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt zu bieten, als die Lehre vom Einwendungsausschluß kraft Rechtsscheins historisch gesehen im Gesellschaftsrecht einen ihrer frühesten Anwendungsbereiche gefunden hat; denn diese war das Mittel, mit dessen Hilfe man ursprünglich den Schutz der Gesellschaftsgläubiger vor Mängeln des Gesellschaftsvertrages erreichte. 1. Indessen ist es heute mehr als zweifelhaft, ob hier für die Rechtsscheinlehre überhaupt noch Raum ist. Seit nämlich auch für das Innenverhältnis die uneingeschränkte Anwendbarkeit der Nichtigkeits- und Anfechtungsregeln immer mehr zurückgedrängt und durch eine bloße Auflösbarkeit ersetzt worden ist, zieht die h. L. hieraus ein argumentum a fortiori für das Außenverhältnis: wenn schon die Gesellschaft im Innenverhältnis als wirksam behandelt werde, so müsse dasselbe „erst recht“ im Außenverhältnis gelten, ohne daß es – und darin liegt die entscheidende Besonderheit dieser Lehre – auf den guten Glauben des Dritten ankommen [121] könne.4 Dogmatisch würde das zur Folge haben, daß der Einwendungsausschluß im Gesellschaftsrecht nahezu5 vollständig aus der Lehre von der Rechtsscheinhaftung herausgelöst wird. Es fragt sich jedoch, ob die h. L. Zustimmung verdient. Methodisch ohne weiteres überzeugend ist der Schluß vom Innenverhältnis auf das Außenverhältnis nur dann, wenn man den Grund für die Nichtberücksichtigung der Nichtigkeitsgründe allein in dem bloßen Faktum, daß die Gesellschaft „ins Leben getreten“ ist, sieht;6 denn dieses Faktum besteht in der Tat im Verhältnis zu Dritten nicht anders als im Verhältnis der Gesellschafter untereinander. Indessen ist diese Lehre weder herrschend noch richtig.7 Stellt man sich
4 Vgl. BGH NJW 66, 107; Hueck AcP 149, 12, Gesellschaftsrecht § 14 II 3 b a. E. und Das Recht der OHG § 7 II; Erman, Personalgesellschaften auf mangelhafter Vertragsgrundlage, 1947, S. 18 Fn. 30 und S. 42 f.; Staudinger-Geiler-Kessler § 705 Rdz. 106; Soergel-Schultze-v. Lasaulx § 705 Rdz. 76; Palandt-Thomas § 705 Anm. 3 d a. E.; Schlegelberger-Gessler § 123 Rdz. 17; RGRKomm. (Fischer) § 105 Anm. 104; Baumbach-Duden § 105 Anm. 8 G; Ganssmüller DB 55, 258 (unter b); wohl auch Gierke, Handelsrecht § 32 II 2 b (S. 192). 5 Es bleiben nur die wenigen Fälle, in denen die Anerkennung der Gesellschaft im Innenverhältnis wegen der besonderen Schwere des Mangels ausgeschlossen ist. 6 Repräsentativ für diese Auffassung vor allem Simitis, Die faktischen Vertragsverhältnisse, 1957; vgl. dazu Ballerstedt AcP 157, 117. 7 Vgl. die Kritik an der Überbewertung des Faktischen bei Hueck OHG-Recht § 7 vor I, insbesondere Fn. 6; Lehmann NJW 58, 1 (vgl. aber auch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 1959, § 5 III 1); Larenz, Schuldrecht B. T. § 56 VII; Flume § 8, 3; Soergel-Schultze- v. Lasaulx § 705 Rdz. 56.
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demgegenüber auf den Boden der Lehre von der „Nichtigkeitsbeschränkung“8 oder von der Modifizierung der Abwicklungsregeln,9 so ist keineswegs selbstverständlich, daß im Außenverhältnis „erst recht“ gelten müsse, was im Innenverhältnis anerkannt ist. Vielmehr trifft auch insoweit die Polemik HUECKS gegen die sozusagen naturwissenschaftliche These zu, eine Gesellschaft „könne nur entweder vorhanden sein oder nicht vorhanden sein“,10 und es ist daher nicht recht verständlich, warum HUECK und die h. L. diese zutreffende methodische Einsicht auf die Probleme des Innenverhältnisses beschränken und sie nicht auch auf die Beziehung zwischen Innen- und Außenverhältnis anwenden. Richtigerweise kann in Wahrheit auch in dieser Frage nur entscheidend sein, ob sich sachliche, d. h. wertungsmäßig einleuchtende und nicht nur pseudokonstruktive Gründe finden lassen, die für die Gleichstellung der fehlerhaften mit einer mangelfreien Gesellschaft sprechen. Ist das Vorhandensein solcher Gründe nun auch nicht von vornherein auszuschließen, so fällt doch auch insoweit eine genauere Prüfung negativ aus. Vor allem liefert eine Untersuchung der Interessenlage keinerlei Argumente für die h. L. Ausgangspunkt muß dabei der entscheidende praktische Unterschied gegenüber [122] der Rechtsscheinlösung sein, also die Tatsache, daß nach der h. L. auch Bösgläubige geschützt werden.11 Warum aber jemand, der sich wissentlich oder doch in ganz unvernünftiger Weise12 mit einer mangelhaften Gesellschaft eingelassen hat, Schutz verdienen soll, ist nicht einzusehen; insbesondere kann er auch nicht darauf vertrauen, eine solche Gesellschaft werde vielleicht trotz des Mangels aufrechterhalten bleiben oder wenigstens das mit ihm geschlossene Geschäft gleichwohl durchführen. Auch kann man nicht sagen, der Dritte verdiene gegenüber den „leichteren“ Mängeln, die lediglich zur Auflösung führen, stärkeren Schutz als gegenüber den „schwereren“, die volle Nichtigkeit nach sich ziehen, und es sei daher folgerichtig, wenn ihm – wie nach der h. L. – lediglich bei den letzteren Bösgläubigkeit schade;13 denn dann würde z. B. derjenige geschützt, 8 Vgl. die Darstellung bei Siebert, Faktische Vertragsverhältnisse, 1958, S. 47 f. m. Nachw. in Fn. 155. 9 In diesem Sinne dürfte die Lehre von Larenz aaO. zu verstehen sein. 10 Vgl. OHG-Recht § 7 Fn. 6; vgl. auch den Text bei Fn. 6. 11 Zu einem weiteren wesentlichen Unterschied im Ergebnis und zur Überlegenheit der hier vertretenen Ansicht auch in dieser Frage vgl. unten § 15 II 5. 12 Zu den an den guten Glauben zu stellenden Anforderungen vgl. allgemein unten § 40 I. 13 Zusätzlich könnte man sich auf die Rechtslage im Eherecht berufen, vgl. §§ 27, 37 I EheG. Indessen ist eine Analogie hierzu nicht möglich, da die Eheschließung auf Grund des mit ihr verbundenen konstitutiven staatlichen Hoheitsaktes eine wesentlich stärkere Bestandsgarantie bietet als die Gründung einer Personengesellschaft und da der Drittschutz hier dementsprechend auch auf einem ganz anderen Rechtsprinzip beruht, nämlich auf dem Gesichtspunkt des gesteigerten Verkehrsschutzes bei Hoheitsakten statt wie bei den Personengesellschaften auf dem Zurechnungsgedanken, vgl. auch oben § 8 II 1 zu § 27 EheG sowie unten § 37 II 1 zur Lage bei den Kapitalgesellschaften.
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der weiß, daß eine Gesellschaft nur durch widerrechtliche Drohung zustande gekommen ist, nicht aber derjenige, der weiß, daß sie lediglich zum Schein eingegangen worden ist,14 – und wie will man diesen Unterschied wertungsmäßig erklären?! – Was weiterhin die Interessen der Gesellschafter betrifft, so kann man diesen hinreichend Rechnung tragen, indem man ihnen die Möglichkeit gibt, analog § 177 BGB den mit dem Bösgläubigen geschlossenen Vertrag zu genehmigen, falls sie an ihm festhalten wollen. – Allgemeine Verkehrsinteressen schließlich sind ebenfalls nicht beeinträchtigt, da die Zahl der bösgläubigen Gesellschaftsgläubiger naturgemäß sehr klein sein wird und da daher nicht etwa eine Vielzahl von Geschäften zusammenbricht, was in der Tat durch die damit verbundene Unsicherheit eine ernste Belastung des Verkehrs wäre. Es bleibt daher allenfalls der Einwand, wegen der Notwendigkeit, den Mangel durch Kündigung analog § 723 BGB oder durch Auflösungsklage analog § 133 HGB geltend zu machen, könne ein „unerträglicher“ Schwebezustand entstehen, – ein Argument, das auf den ersten Blick auch insofern besonders stark erscheint, als es ohne weiteres die unterschiedliche Behandlung der nichtigen und der lediglich auflösbaren Gesellschaft im Verhältnis zu Dritten erklären könnte. Insoweit ist zwischen schon durchgeführten und noch nicht abgewickelten Verträgen zu unterscheiden. Im ersten Falle entsteht überhaupt kein Schwebezustand: der Vertrag ist als vollwirksam zu betrachten, bis über das Schicksal der Gesellschaft entschieden [123] ist; wird diese wegen des Mangels aufgelöst, ist der Vertrag mit dem bösgläubigen Dritten nach Bereicherungsrecht rückgängig zu machen.15 Konstruktiv ist dies aus der Tatbestandswirkung zu erklären, die die Ausübung eines Gestaltungsrechts bzw. die Rechtskraft eines Gestaltungsurteils inter omnes hat; die Gestaltung erfolgt hier gegenüber dem schlechtgläubigen Dritten mit ex-tunc-Wirkung, was nur den befremden kann, der von einer unmittelbaren Anwendung der §§ 723 BGB, 133 HGB ausgeht, nicht aber den, der mit der richtigen Ansicht diese Vorschriften lediglich analog anwendet als das vergleichsweise sachgerechteste Mittel zur Geltendmachung des Mangels und der sie daher entsprechend modifizieren kann.16 – War der Vertrag bei der Entdeckung des Fehlers dagegen noch nicht durchgeführt, so kann bis zur Klärung des Schicksals der Gesellschaft in der Tat ein gewisser Schwebezustand eintreten. Der Dritte „kann sich jedoch nicht beklagen“, da er sich dieser Unsicherheit ja bewußt oder in unvernünftiger Weise12 selbst ausgesetzt hat. Verlangen die Gesellschafter 14 Zur bloßen Auflösbarkeit bzw. Vollnichtigkeit des Innenverhältnisses in diesen Fällen vgl. statt aller Hueck aaO. § 7 III 4 d bzw. b. 15 Berechtigt und verpflichtet ist die Gemeinschaft der Gesellschafter, hier also eine (u. U. in Liquidation befindliche) Gesamthandsgemeinschaft, bei Vollnichtigkeit des Innenverhältnisses dagegen eine Bruchteilgemeinschaft. 16 Zur methodologischen Zulässigkeit von Modifizierungen bei der Analogie vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 149 f.
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trotz Kenntnis des Mangels Leistung, so liegt darin eine Genehmigung des Vertrages analog § 177 BGB, oder, wenn nur einige mit dem Leistungsverlangen einverstanden sind, das Angebot zu einer Neuvornahme, und der Dritte kann sich nun mit Sicherheit an diejenigen halten, die dem Leistungsverlangen zugestimmt haben. Fordert er selbst Leistung, so wird man den Gesellschaftern eine aufschiebende „Einrede der Gestaltbarkeit“ zugestehen müssen, die auch sonst in unserer Rechtsordnung bei derartigen Schwebezuständen gewährt wird17 und die sich aus einer Weiterentwicklung des Grundsatzes „dolo facit qui petit quod redditurus est“ ergibt. Im übrigen kann der Dritte den Schwebezustand beendigen, indem er die Gesellschafter analog § 177 II BGB zur Genehmigung auffordert. Unlösbare Schwierigkeiten entstehen also nicht, im Gegenteil: die gesetzesnahe Berücksichtigung des Schwebezustandes ist wesentlich interessegerechter als die undifferenzierte Einheitslösung der h. L. Es zeigt sich somit, daß sich keine sachlichen Gründe für die h. L. anführen lassen. Methodisch folgerichtig ist daher allein, sich auch in dieser Frage nicht weiter als unbedingt nötig vom Gesetz zu entfernen und dementsprechend den Grundsatz der Relativität der Nichtigkeitsbeschränkung auch auf das Außenverhältnis auszudehnen. Das bedeutet, daß auch hier eine Wirksamkeit der Gesellschaft nur insoweit anzunehmen ist, als dies von der Sache her geboten erscheint, und das ist nur zum Zwecke des Vertrauensschutzes, also nur zugunsten gutgläubiger Dritter der Fall. [124] 2. Damit ist der Raum frei für die Wiedereinordnung der Problematik in den Zusammenhang der Rechtsscheinhaftung, und es bleibt daher nur die Frage zu klären, worin innerhalb dieser der Grund des Einwendungsausschlusses, über dessen Anerkennung auch bei der BGB-Gesellschaft i. E. Einigkeit besteht,18 zu sehen ist. Die Antwort fällt nicht schwer, wenn man sich an die oben § 7 VII herausgearbeitete Erkenntnis erinnert, daß die Problematik der Schein-BGBGesellschaft nahezu vollständig eine solche der Scheinvollmacht ist. Dieser Gedanke gilt in analoger Weise auch hinsichtlich des Vertrauensschutzes bei der fehlerhaften Gesellschaft. Auch hier muß man unterscheiden zwischen der Verpflichtung des nach außen handelnden Gesellschafters selbst und der Verpflichtung der übrigen, von ihm vertretenen Gesellschafter. Da die BGB-Gesellschaft als solche nicht Trägerin von Rechten und Pflichten sein kann, tritt der sie vertre17 Vgl. z. B. die Einrede der Anfechtbarkeit und der Aufrechenbarkeit nach § 770 BGB und § 129 II und III HGB bzw. die verwandte Einrede der Wandlungsmöglichkeit. Die Bedenken von Bötticher gegen eine derartige Einrede (vgl. Festschrift für Schima, 1969, S. 102 f.) passen hier nicht, weil (und soweit) die Gesellschafter es nicht in der Hand haben, die Gestaltungswirkung sofort herbeizuführen. 18 Vgl. RG JW 1933, 1996; DR 1943, 801; Würdinger, Recht der Personalgesellschaften, 1957, § 9 I 2 b und c; Staudinger-Geiler-Kessler § 705 Rdzn. 105 f.; Soergel-Schultze v. Lasaulx § 705 Rdzn. 66 und 76; Erman-Schulze-Wenck § 705 Anm. 4 a; Palandt-Thomas § 705 Anm. 3 d a. E.; Larenz, Schuldrecht B. T. § 56 VII (S. 310); Esser § 96 V.
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tende Gesellschafter immer im Namen der Mitglieder auf; soweit es ihn selbst angeht, handelt er dabei im eigenen Namen, soweit die übrigen verpflichtet werden, im fremden Namen. Seine eigene Verpflichtung bleibt nun von vornherein von Mängeln des Gesellschaftsvertrages unberührt. Denn sein Glaube an die Fehlerlosigkeit der Gesellschaft ist allenfalls ein unbeachtlicher Motivirrtum für den Abschluß des Geschäfts mit dem Dritten; die Wirksamkeit der Gesellschaft ist auch nicht etwa subjektive Geschäftsgrundlage, da dies ein Umstand ist, der ausschließlich seiner Risikosphäre zuzurechnen ist, also anerkanntermaßen nicht Geschäftsgrundlage sein kann.18a Hinsichtlich der Verpflichtung des oder der für die Gesellschaft handelnden Gesellschafter selbst bedarf es also bei der BGBGesellschaft19 eines Einwendungsausschlusses überhaupt nicht.19a – Ganz anders stellt sich die Lage hinsichtlich der Verpflichtung der übrigen Gesellschafter dar. Diese kann der Dritte über §§ 427, 164 BGB nur dann in [125] Anspruch nehmen, wenn der handelnde Gesellschafter Vertretungsmacht hatte. Die Vertretungsmacht aber ergibt sich i. d. R.20 aus dem Gesellschaftsvertrag (entweder unmittelbar oder aus § 714 BGB i. V. m. der vertraglichen Regelung der Geschäftsführung). Und hier enthält das Gesetz nun – was bisher merkwürdigerweise nicht erkannt worden zu sein scheint – einen schweren Fehler oder, an der Regelung der §§ 164 ff. BGB gemessen, wohl richtiger eine Lücke: die Vollmacht der BGB-Gesellschafter ist eine „kausale“ oder besser akzessorische Innenvollmacht,21 eben weil sie im Gesellschaftsvertrag erteilt wird oder doch über § 714 an diesen anknüpft. Weitgehend hieraus ist die Problematik des Einwendungsausschlusses bei der BGB-Gesellschaft entstanden, da deshalb alle Mängel des Gesellschafts18a Allerdings könnte seine Verpflichtung u. U. gemäß § 139 BGB entfallen, weil sie nicht auf einem selbständigen Vertrag mit ihm allein beruht, sondern nur einen Teil eines einheitlichen Rechtsgeschäfts mit allen Gesellschaftern bildet und die Verpflichtung der übrigen wegen Fehlens der Vertretungsmacht unwirksam sein könnte. Auch dieser Einwand steht seiner Haftung indessen nicht entgegen; zwar ist § 139 BGB in derartigen Fällen grundsätzlich einschlägig (vgl. z. B. Flume § 32, 2 b; BGH JR 70, 180), doch haften die übrigen Gesellschafter, wie sogleich zu zeigen sein wird, dem Dritten, und daher ist für die Anwendung des § 139 BGB insoweit kein Raum. Wollte man anders entscheiden, so müßte man freilich auch gegenüber dem Handelnden mit der Lehre vom Einwendungsausschluß arbeiten, da er sonst nach § 179 II BGB regelmäßig nur auf das negative Interesse haften würde. 19 Anders liegt es bei der OHG: hier tritt der Handelnde nur als Vertreter der Gesellschaft als solcher auf (arg. § 124 I HGB), und daher ergibt sich auch seine eigene Verpflichtung lediglich als gesetzliche Nebenfolge der Haftung der OHG (§ 128 HGB); Mängel des Gesellschaftsvertrages würden hier daher grundsätzlich auch die Haftung des Handelnden aus § 128 HGB zu Fall bringen. 19a Vgl. aber auch Fn. 18 a a. E. 20 Natürlich kann sie auch auf einer besonderen Vollmacht beruhen; dann sind Mängel des Gesellschaftsvertrages ohnehin unerheblich. 21 A. A. Lobedanz, Der Einfluß von Willensmängeln auf Gründungs- und Beitrittsgeschäfte, 1938, S. 37 f., der Gesellschaftsvertrag und Vollmacht als zwei verschiedene Rechtsgeschäfte ansieht und die Nichtigkeit der Vollmacht daher nur aus § 139 BGB folgert.
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vertrages ohne weiteres auch die Vollmacht ergreifen. Es liegt auf der Hand, daß diese Regelung einen Rückschritt hinter die „Entdeckung“ der abstrakten Außenvollmacht durch Laband bedeutet und mit dem Verkehrsschutzbedürfnis unvereinbar ist. Zugleich setzt sich der Gesetzgeber mit seiner eigenen Wertung bei der Außenvollmacht in Widerspruch, wenn er keinen Einwendungsausschluß bei Mängeln des Gesellschaftsvertrages statuiert: auch hier gilt, daß der Dritte keinen Anlaß hat, eine gesonderte Vollmachtserteilung sich gegenüber zu fordern, da ihm ja die Innenvollmacht durch das Agieren der handelnden Gesellschafter in aller Regel „kundgegeben“ ist; auch hier würde ihm daher der mit der Schaffung der abstrakten Außenvollmacht beabsichtigte Verkehrsschutz vorenthalten, falls ihm Mängel des Gesellschaftsvertrages ohne weiteres entgegengehalten werden könnten. Die Lösung ergibt sich demnach folgerichtig aus den oben entwickelten Regeln über den Einwendungsausschluß im Stellvertretungsrecht und fügt sich so gleichzeitig harmonisch in den systematischen Zusammenhang ein, in den sie gehört. Durch die Invollzugsetzung der Gesellschaft und das Auftreten der vertretungsberechtigten Gesellschafter nach außen ist deren Vollmacht „ins Leben getreten“ und „kundgegeben“. Einwendungen aus dem Innenverhältnis sind daher zugunsten gutgläubiger Dritter ebenso präkludiert wie bei der gewöhnlichen kundgegebenen Innenvollmacht; dabei handelt es sich nicht um einen Fall des § 171 I BGB, sondern um eine Kundgabe durch konkludentes Verhalten, insbesondere durch „Dulden“ des Auftretens der vertretungsberechtigten Gesellschafter.22 Soweit der Mangel auch die Kundgabe selbst ergreift, ist zu berücksichtigen, daß die auf dem Gesellschaftsvertrag beruhende Vollmacht typische Innenvollmacht und auf den Abschluß von Rechtsgeschäften mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen gerichtet ist; folglich23 werden auch Mängel der Kundgabe zugunsten gutgläubiger Dritter präkludiert – was i. E. allgemeine Ansicht sein dürfte. [126] III. Der Einwendungsausschluß im Vereinsrecht Hinsichtlich des Einwendungsausschlusses im Vereinsrecht ist zu differenzieren. Was zunächst den rechtsfähigen Verein betrifft, so können hier Fehler des Gründungsaktes nach der Eintragung keinesfalls mehr geltend gemacht werden; allenfalls kommt eine Löschung mit ex-nunc-Wirkung in Betracht.23a Da diese
Vgl. auch Lobedanz aaO. S. 38 ff. Vgl. § 10 IV a. E. und allgemein unten S. 455. 23a Vgl. Enn.-Nipperdey § 107 VI 2 mit Fn. 32; Staudinger-Coing § 21 Rdz. 29; Soergel-Schultzevon Lasaulx Rdz. 7 vor § 55 m. weiteren Nachw. 22 23
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Rechtswirkung ihrem Zweck gemäß23b absolut, d. h. auch zugunsten des Vereins selbst und auch zugunsten Bösgläubiger eintritt, handelt es sich dabei indessen nicht um einen Fall der Rechtsscheinhaftung, sondern um einen solchen des „absoluten Verkehrsschutzes“.23c Mängel der einzelnen Beitrittserklärung werden dagegen anders als im Recht der Kapitalgesellschaften grundsätzlich nicht präkludiert, da die bei diesen für die entgegengesetzte Lösung vorgebrachten Gründe23d hier nicht passen;23e folglich können sich auch insoweit keine Rechtsscheinprobleme ergeben. – Demgegenüber sind beim nicht-rechtsfähigen Verein und beim Vorverein grundsätzlich die für die BGB-Gesellschaft entwickelten Regeln über den Einwendungsausschluß kraft Rechtsscheins anzuwenden, soweit eine persönliche Haftung der Mitglieder gegenüber Dritten in Betracht kommt; das ergibt sich unabhängig von der – streitigen und zweifelhaften – systematischen Einordnung dieser Korporationen jedenfalls aus der Gleichheit der Interessenlage. IV. Der Einwendungsausschluß im ehelichen Güterrecht Anders als im Vereins- und Gesellschaftsrecht ist die Problematik des Einwendungsausschlusses im ehelichen Güterrecht nicht mit einer einfachen Übertragung der zum Stellvertretungsrecht entwickelten Grundsätze zu lösen; denn wie oben dargelegt,24 läßt sich zwischen Vollmacht und Güterrecht keine methodisch einwandfreie Analogie ziehen. Dennoch kommen auch hier ähnliche Gedanken zum Tragen. Dies ist besonders offensichtlich, soweit es um die Problematik der Verfügungsbefugnis geht. Wenn der Dritte davon Kenntnis hat, daß z. B. Gütergemeinschaft mit Alleinverwaltungsrecht des Mannes oder daß Gütertrennung besteht, hat er keinen Anlaß, sich die Verfügungsmacht oder die Zustimmung des anderen Ehegatten im Falle der §§ 1365 ff. BGB noch gesondert nachweisen bzw. erteilen zu lassen. Auch hier gilt daher ganz analog den bisherigen Ausführungen, daß er nicht schlechter stehen darf, als wäre die entsprechende Verfügungsbefugnis bzw. Zustimmung ihm gegenüber erteilt. Folglich müssen Mängel eines Ehevertrages [127] zugunsten gutgläubiger Dritter als präkludiert angesehen werden, sobald der Vertrag irgendwie nach außen kundgegeben worden
Vgl. dazu besonders klar Nipperdey aaO. Fn. 32. Zur Terminologie vgl. oben § 1 I; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zur entsprechenden Problematik bei den Kapitalgesellschaften unten § 15 II 1. 23d Vgl. dazu unten § 15 II 2. 23e So mit Recht z. B. Larenz A. T. § 16 I a 1 = S. 181; Soergel-Schultze-von Lasaulx Rdzn. 52 f. vor § 21 m. ausf. Nachw. zum Streitstand. 24 Vgl. § 8 I 1. 23b 23c
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ist; dies gilt hier auch hinsichtlich solcher Mängel, die die „Kundgabe“ selbst ergreifen.25 Etwas schwieriger ist die Begründung dagegen, soweit die gesetzliche Haftung bei der Gütergemeinschaft nach §§ 1437 ff. und 1459 ff. BGB in Frage steht. Auch hier muß man aber sagen, daß der Dritte keinen Anlaß hat, die Haftung des Gesamtgutes oder die persönliche Haftung des anderen Ehegatten durch ein besonderes, ihm gegenüber vorzunehmendes Rechtsgeschäft, etwa durch eine Außenvollmacht oder eine Bürgschaft, herbeizuführen; auch hier verdient er daher Schutz vor Einwendungen aus dem Innenverhältnis, wenn er mit den Ehegatten im Vertrauen auf die ihm kundgegebene Rechtslage ein Rechtsgeschäft vornimmt. Etwaigen Unbilligkeiten wird durch das Erfordernis der „Kausalität des Rechtsscheins“ vorgebeugt. V. Der Einwendungsausschluß im Recht der Schuldübernahme Die folgerichtige Weiterentwicklung der bisherigen Überlegungen führt weiterhin auch zu einer Lösung der Problematik des Einwendungsausschlusses im Recht der Schuldübernahme. Diese ist nämlich wieder durch den Gegensatz von externer und interner Vornahme des Rechtsgeschäfts gekennzeichnet: nach §§ 414 f. BGB kann die Schuldübernahme sowohl durch Vertrag zwischen Neuschuldner und Gläubiger – „externe“ Übernahme – als auch durch Vertrag zwischen Neuschuldner und Altschuldner – „interne“ Übernahme – erfolgen. Das hat dieselben Konsequenzen für die Behandlung von Einwendungen wie im Vollmachtsrecht.26 Denn während der Gläubiger bei der externen Übernahme ohne weiteres vor sämtlichen Einwendungen aus dem Innenverhältnis sicher ist, muß er bei der internen zwar gemäß § 417 II BGB nicht mit Einwendungen aus dem Kausalverhältnis, wohl aber mit Einwendungen gegen den Schuldübernahmevertrag selbst rechnen. In welchem Maße das seine Stellung gefährdet, mag an dem Beispiel der arglistigen Täuschung verdeutlicht werden: bei strenger Anwendung des Gesetzes käme es bei der internen Übernahme für § 123 II 1 BGB nicht auf den guten Glauben des Gläubigers, sondern allein auf den des Altschuldners als des Vertragspartners an,27 – wohingegen sich bei der externen Übernahme die Anwendbarkeit des § 123 II 1 allein aus der Person des Gläubigers beurteilen
Vgl. oben § 8 I 3. Vgl. insoweit oben S. 111. 27 Vgl. BGHZ 31, 321 m. Nachw. 25 26
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würde. Bei diesem Gegensatz läßt es die h. L. in der Tat bewenden.28 Dem ist jedoch nicht zu folgen. [128] 1. Soweit der Neuschuldner die Übernahme im Bewußtsein ihrer Fehlerhaftigkeit mitteilt, ergibt sich der Einwendungsausschluß schon aus dem Prinzip der Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes; insbesondere ist an die Ausführungen zum Drittschutz beim Scheingeschäft und an die Ausweitung dieser Regeln zu erinnern.29 Die erforderliche „Disposition“ des Gläubigers kann man ohne weiteres in seiner Genehmigung erblicken.30 2. Aber auch hinsichtlich unbekannter Einwendungen ist der h. L. zu widersprechen. Sie kann nämlich zur Rechtfertigung des unterschiedlichen Schutzes des Gläubigers bei der externen und der internen Übernahme lediglich konstruktive, nicht aber auch wertungsmäßig überzeugende Gründe anführen. Insbesondere kann man nicht sagen, der Gläubiger handele auf eigene Gefahr, wenn er sich auf die Genehmigung eines fremden Rechtsgeschäfts einlasse, statt, wie das Gesetz es ihm ermögliche, selbst die Schuldübernahme nach § 414 BGB mit dem Neuschuldner vorzunehmen; denn er hat nicht den geringsten Anlaß, auf dem Abschluß eines besonderen externen Schuldübernahmevertrages zu bestehen, wenn ihm der Neuschuldner die Übernahme mitteilt und ihn zur Genehmigung auffordert, und jeder Laie würde denn auch ein entsprechendes Ansinnen mit Recht als absurd zurückweisen. Daher gilt mutatis mutandis auch hier, was zur Vollmacht immer wieder ausgeführt wurde: der Gläubiger darf bei der mitgeteilten internen Schuldübernahme nicht schlechter stehen als bei der externen. Die richtige Lösung ergibt sich somit nicht aus konstruktiven Kunstgriffen wie der Umdeutung der Mitteilung in ein Angebot zu einem externen Übernahmevertrag31 oder der ebenso fiktiven Annahme eines rechtsgeschäftlichen Einwendungsverzichts32 und auch nicht aus der analogen Anwendung des auf einen ganz anderen Fall zugeschnittenen33 § 123 II 2 BGB34 oder des § 417 II BGB,35 sondern allein aus dem Gedanken des Ver-
28 Vgl. RGZ 119, 418 (420); BGH aaO.; OLG Hamburg NJW 66, 985; Larenz, Schuldrecht A. T. § 31 I b (S. 364); Enn.-Lehmann § 85 I 2; RGR-Komm. (Löscher) Anm. 7 vor § 414; PalandtHeinrichs § 417 Anm. 2 und 3 b; Erman-Westermann § 417 Anm. 2 (für Nichtigkeit; anders für Anfechtbarkeit, vgl. Anm. 3); Hirsch JR 60, 294 ff.; a. A. Heck, Schuldrecht § 73, 7 b und 8; Esser § 56 I 3; Flume § 29, 3 a. E.; Brox JZ 60, 369. 29 Vgl. oben § 9 II 3 und III 4. 30 Vgl. auch Kallimopoulos, Die Simulation im bürgerlichen Recht, 1966, S. 208 (zum Scheingeschäft). 31 Vgl. Enn.-Lehmann aaO. 32 Vgl. RGR-Komm. aaO. 33 So mit Recht BGH aaO. 34 So Esser aaO.; diese Lösung ist im übrigen auch deshalb unbefriedigend, weil sie nur für den Fall der arglistigen Täuschung paßt, obwohl sich die Problematik grundsätzlich bei allen Einwendungen in gleicher Weise stellt. 35 So Flume aaO.
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trauensschutzes36 und der daraus folgenden Lehre vom Einwendungsausschluß kraft Rechtsscheins.36a Die Regeln über den Einwendungsausschluß bei der kundgegebenen Innenvollmacht, wie sie oben37 im einzelnen entwickelt wurden, sind daher auf die mit[129] geteilte interne Schuldübernahme sinngemäß zu übertragen. Der Gläubiger wird dementsprechend grundsätzlich vor sämtlichen Mängeln des Übernahmevertrages, also z. B. vor den Einwendungen der §§ 116 S. 2, 117 I, 118, 119, 123, 125, 134, 138 BGB geschützt.38 Mängel der Mitteilung selbst muß er sich dagegen unabhängig von seinem guten Glauben entgegenhalten lassen, da die Gründe für den Ausschluß derartiger Einwendungen hier nicht passen.39 Es zeigt sich vielmehr im Gegenteil mit besonderer Deutlichkeit, daß nur die in dieser Arbeit vertretene Ansicht, nach der die §§ 116 ff. BGB grundsätzlich auf die Rechtsscheinhaftung analoge Anwendung finden, zu sachgerechten Ergebnissen und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen führt. Die Rechtslage kann nämlich unmöglich eine andere sein je nachdem, ob der Übernehmer sich z. B. bei der Mitteilung über eine interne Übernahme verspricht, verschreibt usw. oder ob dies beim rechtsgeschäftlichen Abschluß einer externen Übernahme geschieht; ob er durch Drohung i. S. des § 123 I BGB zu einer derartigen Mitteilung veranlaßt wird oder ob er zu einer Übernahme durch Vertrag mit dem Gläubiger genötigt wird usw. Im übrigen sind die Einzelheiten aus den allgemeinen Regeln der Rechtsscheinhaftung zu entscheiden. Aus diesen ergeben sich insbesondere auch die Grenzen des Einwendungsausschlusses, – die übrigens von den Gegnern der h. L. nicht genügend beachtet werden.40 So ist vor allem darauf hinzuweisen, daß nur der Gutgläubige geschützt wird. Einschränkungen gelten ferner, wenn die Mitteilung nicht durch den Neu-, sondern den Altschuldner erfolgt. Denn dann ist der Grundsatz zu beachten, daß sich das Vertrauen stets auf ein Verhalten des in Anspruch Genommenen, hier also des Übernehmers richten muß.41 In Anlehnung an die Regeln über die Duldungsvollmacht wird der Gläubiger daher in diesem Falle nur geschützt, wenn er nach den Umständen darauf vertrauen konnte, der Neuschuldner kenne und billige die Mitteilung, und wenn dieser von ihr
36 A. A. ohne nähere Begründung BGH aaO. S. 328; der Hinweis des BGH auf die abweichenden Entscheidungen im Rahmen des § 25 HGB macht besonders deutlich, in welchem Maße die Vertrauenshaftung kasuistisch und ohne Rücksicht auf allgemeine Zusammenhänge entwickelt wird. 36a Vgl. inzwischen auch Rimmelspacher JR 69, 207 f. 37 § 10 V. 38 Hinsichtlich der §§ 125, 134, 138 BGB ist freilich jeweils zu prüfen, ob nicht deren Schutzzweck umgangen wird; vgl. dazu allgemein unten § 36 IV und V. 39 Zu diesen vgl. zusammenfassend unten S. 455. 40 Vgl. die Nachw. in Fn. 28 a. E. 41 Vgl. allgemein unten § 39 III 4.
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wußte.42 Diese Einschränkung ist durchaus sachgerecht und bestätigt so mittelbar die Richtigkeit des hier vertretenen Lösungsansatzes. Hat nämlich der Gläubiger keinen Anhalt für das Einverständnis des Übernehmers, so mag er sich den Vertrag von diesem bestätigen lassen; verläßt er sich „blind“ auf die Behauptung des Altschuldners, so verdient er gegenüber eventuellen Mängeln des Übernahmevertrages im Verhältnis zum Neuschuldner ebensowenig Schutz wie gegenüber seinem gänzlichen Fehlen.43 [130] VI. Der Ausschluß unbekannter Einwendungen im Zessionsrecht Es bleibt abschließend nur noch der Einwendungsausschluß im Zessionsrecht zu erörtern, doch ist diese Problematik schon im bisherigen Verlauf der Untersuchung weitgehend geklärt worden;44 dabei wurde herausgearbeitet, daß zwischen solchen Einwendungen, die dem Scheinschuldner bekannt sind, und solchen die ihm unbekannt sind, zu unterscheiden ist: mit den ersteren wird er präkludiert, während die letzteren ihm grundsätzlich erhalten bleiben.45 1. Weiter läßt sich in der Tat grundsätzlich nicht gehen; denn einer Ausdehnung der Rechtsscheinhaftung auf unbekannte Einwendungen stehen sowohl der Grundsatz des § 404 BGB und das argumentum e contrario aus § 405 BGB46 als auch die Tatsache unüberwindbar entgegen, daß sonst die wertpapierrechtlichen Sondervorschriften in methodisch unzulässiger Weise von einer Ausnahme zur allgemeinen Regel verkehrt würden. Vor allem aber ist diese Beschränkung auch innerlich begründet. Sie rechtfertigt sich insbesondere aus dem das gesamte Zessionsrecht beherrschenden und z. B. in den §§ 404, 406 ff. BGB zum Ausdruck kommenden Gedanken, daß sich die Position des Schuldners durch die Abtretung nicht verschlechtern darf, weil er an dem Zessionsvertrag nicht beteiligt ist, obwohl dieser durch den Gläubigerwechsel unmittelbar in seine Rechtsstellung eingreift.47 Damit steht in Zusammenhang, daß den Schuldner bei der Zession die Interessen des Dritten – in scharfem Gegensatz zu den bisher behandelten Fällen! – grundsätzlich „nichts angehen“, weil nicht er es ist, der mit diesem in irgendeinen rechtsgeschäftlichen Kontakt treten will; demgemäß sieht das Gesetz auch 42 Darüber hinaus wird der Gläubiger im Falle der Kollusion zwischen Alt- und Neuschuldner geschützt, vgl. dazu allgemein unten § 26. 43 Vgl. auch die entsprechende Argumentation bei der reinen Innenvollmacht oben § 10 III. 44 Vgl. § 9 III. 45 Vgl. § 9 III und S. 108. 46 Die Möglichkeit einer Analogie scheidet hier mit Selbstverständlichkeit aus, weil die Grundlage des Ähnlichkeitsschlusses allenfalls in der Kenntnis des Schuldners von der Einwendung liegen kann (vgl. dazu oben S. 98) und es daran hier gerade fehlt. 47 Vgl. dazu auch unten § 12 VII.
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keine der Außenvollmacht oder der externen Schuldübernahme entsprechende Möglichkeit einer Vornahme des Rechtsgeschäfts zwischen Drittem und Schuldner (statt zwischen Drittem und zedierendem Gläubiger) vor, und auch das bisher stets verwendete Argument, der Dritte dürfe nicht schlechter stehen als bei einem „externen“ Rechtsgeschäft, scheidet daher grundsätzlich aus. 2. Damit ist allerdings zugleich die Grundlage zur Herausarbeitung der Ausnahmefälle geschaffen, in denen auch im Zessionsrecht der Ausschluß unbekannter Einwendungen gerechtfertigt ist. Dies erscheint nämlich nach dem Gesagten dann folgerichtig, wenn ausnahmsweise doch einmal „genausogut“ wie eine Zession ein Rechtsgeschäft zwischen Schuldner und Drittem vorgenommen werden könnte und wenn dessen Interessen jenen daher durchaus etwas „angehen“. Als Beispiel sei der Fall RGZ 60, 21 erwähnt. Hier hatte der Schuldner eine Forderung nur deshalb [131] begründet48 und beurkundet, damit der Gläubiger sich durch ihre sicherungsweise Zession Kredit beschaffe. Kennt der Zessionar diese Zweckbestimmung,49 so erscheint es sachgerecht, ihn vor Einwendungen gegen die Forderung auch dann zu schützen, wenn sie dem Schuldner unbekannt waren, wenn also z. B. der Gläubiger diesen durch arglistige Täuschung zur Eingehung der Schuld veranlaßt hat; denn hier hat die Begründung der Forderung ihren primären Zweck in der Sicherstellung des Dritten, und dieser darf daher in der Tat nicht schlechter stehen, als wenn sie unmittelbar durch Rechtsgeschäft mit ihm selbst geschaffen worden wäre. Anders gewendet: die Begründung der Forderung und die Aushändigung der Urkunde haben hier bürgschaftsähnlichen Charakter; denn es liegt ähnlich, als hätte der Schuldner dem Gläubiger eine Blankobürgschaftsurkunde übergeben, in die dieser dann den Zessionar als Berechtigten eingesetzt hätte. In diesem Falle aber wäre der Dritte vor „internen“ Einwendungen sicher, da das Rechtsgeschäft dann ihm selbst gegenüber vorgenommen wäre; da er angesichts des – ihm bekannten49 – bürgschaftsähnlichen Charakters der Forderungsbegründung keinen Anlaß hat, vom Schuldner die zusätzliche Übernahme einer Bürgschaft zu verlangen, verdient er denselben Schutz wie bei einer echten Bürgschaft. Er braucht sich daher nur solche Einwendungen entgegenhalten zu lassen, die dem Schuldner auch gegen eine entsprechende Bürgenverpflichtung zuständen, also z. B. den Einwand der Drohung i. S. des § 123 I BGB. Andere Beispiele, die in diesen Zusammenhang gehören, tauchen bei der „Annahme“ oder „Anerkennung“ einer Zession oder Forderung durch den Schuldner auf.50 Obwohl auch hier, wie dargelegt, grundsätzlich nur solche Ein48 Im Verhältnis zum Erstgläubiger lag ein Scheingeschäft nach § 117 I BGB vor, doch spielt das im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle, vgl. dazu oben § 9 bei und mit Fn. 37. 49 Kennt er sie nicht, ist er nicht schutzwürdiger als bei einer gewöhnlichen Zession, d. h., § 404 BGB ist uneingeschränkt anzuwenden. Er hätte dann durchaus Anlaß, auf der Eingehung einer Bürgschaft zu bestehen und sich so die gewünschte Sicherung zu verschaffen. 50 Vgl. dazu oben § 9 IV.
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wendungen ausgeschlossen sind, die dem Schuldner bekannt waren, kann doch in Ausnahmefällen ein weitergehender Einwendungsausschluß gerechtfertigt erscheinen. Dies ist dann der Fall, wenn dem Zessionar nach der (durch Auslegung zu ermittelnden) Absicht der Parteien durch die „Annahme“ oder „Anerkennung“ der Forderung eine „selbständige“ oder „gesicherte“ Stellung eingeräumt werden sollte,51 wiederum also, wenn jene bürgschaftsähnlichen Charakter hatte. Freilich wird man wegen der sonst drohenden Gefahr einer Umgehung des § 766 BGB außerhalb des Handelsrechts i. d. R.52 verlangen müssen, daß die Forderungsbegründung bzw. die „Annahme“ schriftlich erfolgt. [132] VII. Die Formulierung des zugrunde liegenden Rechtsprinzips und seine Grenzen Damit ist der Punkt erreicht, an dem der Versuch einer Formulierung des gesuchten „allgemeinen“ Rechtsscheinprinzips gemacht werden muß. Überblickt man die Ergebnisse der beiden vorstehenden Paragraphen, so wird man nun in der Tat die eingangs53 aufgestellte Hypothese als bestätigt ansehen können, daß der entscheidende Grund für die hier erörterte über den Minimaltatbestand hinausgehende Rechtsscheinhaftung in der „Drittrichtung“ der fraglichen Rechtsgeschäfte zu sehen ist. Denn nicht nur die Vollmacht, sondern auch die Bestellung eines Vereinsvorstandes, die Zustimmungen, die Einräumung einer Blankettausfüllungsbefugnis, die Gründung einer Gesellschaft, der Abschluß eines Güterrechtsvertrages und die Schuldübernahme sind Rechtsgeschäfte, die ihrem eigenen Sinn nach typischerweise die Grundlage von rechtsgeschäftlichen Dispositionen Dritter bilden. Auf alle übrigen Rechtsgeschäfte aber trifft das regelmäßig nicht zu, und in der Tat kennt das Zessionsrecht – das insoweit ja nicht nur die Rechtsgrundlage für Forderungsabtretungen, sondern gemäß § 413 BGB auch für die Übertragung anderer Rechte bildet und dessen Regeln im Rahmen der Rechtsscheinhaftung außerdem auch bei anderen Rechtsakten als bei Zessionen entsprechend gelten54 – wie soeben dargelegt grundsätzlich keinen entsprechenden Rechtsscheinschutz; soweit es davon Ausnahmen gibt, aber trifft wieder das Kriterium der „Drittrichtung“ zu wie in den zuletzt unter VI 2 erörterten Fällen oder im Recht der Umlaufpapiere, deren Schaffung wegen ihres Umlaufzwecks geradezu das Musterbeispiel eines „drittgerichteten“ Rechtsgeschäfts ist und die daher das gefundene Ergebnis zusätzlich bestätigen. Dieses ist auch keineswegs eine positivrechtliche Als Beispiele vgl. RGZ 77, 157; 125, 252; RG SeuffArch.71 Nr. 226. Anders in garantievertragsähnlichen Fällen, für deren Vorliegen ein Eigeninteresse des Schuldners an der Sicherstellung des Zessionars ein wesentliches Indiz sein kann. 53 Vgl. S. 108 f. 54 Vgl. oben § 9 II 3 und III 4. 51 52
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Zufälligkeit, sondern besitzt tieferen Gerechtigkeitsgehalt. Daß das hinsichtlich der Ablehnung eines gesteigerten Rechtsscheinschutzes im Zessionsrecht so ist, wurde soeben unter VI 1 näher begründet. Es trifft aber auch umgekehrt hinsichtlich dessen Anerkennung bei den anderen behandelten Instituten zu. Denn bei einem Rechtsgeschäft, das seinem eigenen Sinn nach die Interessen eines Dritten berühren soll,55 ist es nur folgerichtig, daß dieser auch in erhöhtem Maße geschützt wird, wenn die Rechtsordnung schon auf seine Beteiligung an der Vornahme des – ihn betreffenden! – Aktes verzichtet; und dementsprechend ist auf der anderen Seite der Kundgebende in geringerem Maße schutzwürdig, schafft er hier doch bewußt eine besondere Gefährdung für den Dritten, die es rechtfertigt, ihm insoweit das Risiko der Richtigkeit seiner Erklärung aufzuerlegen.56 Zusammenfassend läßt sich somit sagen: Wer ein Rechtsgeschäft vornimmt, das typischerweise zur Grundlage von Rechtsgeschäften Dritter bestimmt ist, und die [133] getroffene Regelung bewußt nach außen kundtut, haftet gutgläubigen Dritten auch dann nach Rechtsscheingrundsätzen, wenn er die Unrichtigkeit seiner Kundgabe nicht kannte, insbesondere auch dann, wenn das Rechtsgeschäft an ihm unbekannten Mängeln litt; bei allen anderen Rechtsgeschäften, d. h. bei solchen, die nicht „drittgerichtet“ sind, verbleibt es dagegen bei dem Minimaltatbestand einer Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins.
55 Dieser Gesichtspunkt hat möglicherweise auch Müller-Erzbach bei seiner – im übrigen unrichtigen (vgl. oben § 3 IV) – Lehre von den „Kundgebungen in fremden Interessenbereich“ vorgeschwebt. 56 Vgl. insoweit auch unten § 38 III 4.
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Dritter Unterabschnitt Die zweite Erweiterung: Die Einstandspflicht für den Rechtsschein des Fortbestandes einer Rechtslage Die Ausführungen des vorigen Abschnitts bezogen sich der Sache nach lediglich auf anfängliche Einwendungen, d. h. solche, die bereits im Augenblick der den Scheintatbestand begründenden Kundgabe vorlagen. Nun können aber nachträgliche Einwendungen für den Dritten ebenso gefährlich sein; denn sein Rechtserwerb hängt grundsätzlich nicht nur davon ab, daß z. B. die Vollmacht ursprünglich wirksam erteilt oder der Gesellschaftsvertrag zustande gekommen ist, sondern auch davon, daß die Vollmacht nicht inzwischen widerrufen worden oder aus einem anderen Grund erloschen ist bzw. daß die Gesellschaft nicht beendet worden ist. Auch insoweit ist die Problematik freilich bereits gelöst für den Fall, daß dem Scheinschuldner das Bestehen des Scheintatbestandes bekannt ist und daß er gleichwohl dessen Beseitigung in zurechenbarer Weise unterlassen hat: er haftet dann auf Grund des im ersten Abschnitt entwickelten Rechtsprinzips.1 Auch wo dieses nicht durchgreift, stellt sich jedoch die Frage, ob der Dritte in seinem Vertrauen auf den Fortbestand der ursprünglichen Rechtslage geschützt wird. Dabei ist nicht nur an den Fall zu denken, daß das fragliche Rechtsverhältnis wirklich bestanden hat, sondern mutatis mutandis auch an den Fall, daß schon hinsichtlich seines anfänglichen Bestehens lediglich ein Rechtsschein vorlag. § 12 Der Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand einer ursprünglich wirklich bestehenden Rechtslage Auszugehen ist wiederum von den gesetzlich geregelten Tatbeständen, und anschließend ist dann zu prüfen, inwieweit diese einer Analogie und einer Ausweitung zu einem allgemeinen Rechtsprinzip zugänglich sind. I. Die negative Publizität des Vereins- und des Güterrechtsregisters Als erstes sind in diesem Zusammenhang die §§ 68 und 1412 II BGB zu nennen. Denn bei ihnen geht es in der Tat um den Schutz des Vertrauens auf den 1
Vgl. näher § 9 III 1 = S. 97; vgl. freilich auch unten § 12 V 1.
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Fort- [134] bestand einer bestimmten Rechtslage,2 – und nicht auch um den Ausschluß anfänglicher Einwendungen, da der gute Glaube an die ursprüngliche Richtigkeit einer Registereintragung in den Fällen „negativer Publizität“ ja gerade nicht geschützt wird. Hervorzuheben ist dabei, daß es sich hier – wie stets bei den Tatbeständen des Registerschutzes – um Fälle „reiner“ Rechtsscheinhaftung handelt,3 daß es also auf die Zurechenbarkeit des – in dem Schweigen des Registers liegenden – Scheintatbestandes nicht ankommt. Der Dritte wird daher z. B. auch dann geschützt, wenn derjenige, gegen den das Schweigen des Registers spricht, die Berichtigung im Zustande der Geschäftsunfähigkeit oder auf Grund physischen Zwanges unterlassen hat, oder wenn die Berichtigung wegen eines Fehlers des Registergerichts unterbleibt und dieser für den Antragsteller unerkennbar ist – z. B. weil ihm zu Unrecht eine Mitteilung über die angeblich erfolgte Änderung gemacht worden ist. II. Der unmittelbare Anwendungsbereich der §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB Ergänzend neben die Tatbestände des Registerschutzes treten als zweite gesetzliche Grundlage die §§ 170, 171 II, 172 II, 173, die eine eng verwandte Funktion erfüllen.4 Danach wird der gutgläubige Dritte grundsätzlich gegenüber einem nachträglichen Erlöschen der Vollmacht geschützt. 1. Die dogmatische Einordnung dieser Vorschriften ist umstritten. Die h. L. sieht in ihnen Tatbestände der Rechtsscheinhaftung, da die Vollmacht eben in Wahrheit erloschen sei und nur zugunsten gutgläubiger Dritter als fortbestehend gelte.5 Dem ist neuerdings FLUME in Wiederaufnahme einer älteren Lehre6 mit der Begründung entgegengetreten, eine extern erteilte oder (i. S. der §§ 171 I, 172 I) nach außen kundgegebene Vollmacht könne nur extern widerrufen werden und
2 Außerdem um den in diesem Zusammenhang uninteressanten Schutz des guten Glaubens an das Bestehen der „normalen“ Rechtslage i. S. der §§ 70, 1412 I BGB. 3 Vgl. dazu näher unten § 37 II 1. 4 Die Vorschriften über den Registerschutz sind zwar insofern sachgerechter, als sie die geeignete Grundlage für die sonst sehr schwierige Unterrichtung eines unbestimmten Personenkreises von den fraglichen Rechtstatsachen schaffen, doch ist dieser Weg im Vollmachtsrecht wegen der Häufigkeit und der Kurzlebigkeit der meisten Vollmachten nicht praktikabel; wo dieses Hindernis nicht besteht wie bei der Prokura, hat der Gesetzgeber auch hier folgerichtig die registerrechtliche Lösung gewählt (vgl. § 15 HGB). 5 Vgl. v. Seeler ArchBürgR 28, 38 ff. (39); Wellspacher aaO. S. 87; Oertmann § 171 Anm. 2 e und § 172 Anm. 3 c; Staudinger-Coing § 170 Rdz. 1; der Sache nach wohl auch Goldberger, Der Schutz gutgläubiger Dritter im Verkehr mit Nichtbevollmächtigten, 1908, S. 30 ff.; Enn.Nipperdey §§ 187 f. 6 Vgl. die Nachweise und die Kritik bei Goldberger aaO. S. 19 f. und S. 30 mit Fn. 21.
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bestehe daher wirklich, nicht nur scheinbar bis zum Widerruf fort;7 § 173 BGB entspreche bei dieser Konstruktion den Regeln über den Mißbrauch der Vollmacht. – Der Wortlaut des Gesetzes gibt angesichts seiner Widersprüchlichkeit (einerseits „bleibt ... in Kraft“ bzw. „bleibt bestehen“ in §§ 170, 171 II, 172 II, andererseits „das Erlöschen der Vertretungsmacht“ in § 173) nichts her. Eher schon kann man aus § 168 S. 3 ein [135] Argument ableiten, und zwar zugunsten der h. L.; denn wenn das Gesetz hier die entsprechende Anwendung des § 167 I auf den Widerruf anordnet, so kann das doch wohl nur bedeuten, daß der Widerruf wie die Erteilung, also extern oder intern erfolgen kann. Vor allem aber paßt die Ansicht Flumes allenfalls auf einen einzigen Tatbestand, nämlich auf den Widerruf der Außenvollmacht,8 während sie in den übrigen Fällen sinnwidrig erscheint. Wenn nämlich z. B. der Tod des Geschäftsherrn oder eines Gesellschafters (nach § 168 S. 1 i. V. m. einer von § 672 S. 1 abweichenden Vereinbarung, bzw. nach § 168 S. 1 i. V. m. § 727 I BGB) das „Erlöschen“ der Vollmacht bewirkt, so tritt dieses nach Wortlaut und Sinn des Gesetzes zweifellos schon dann ein, wenn der Erlöschensgrund objektiv gegeben ist, und nicht erst, wenn der Dritte von ihm Kenntnis hat.9 Und auch beim Widerruf erscheint Flumes Konstruktion zumindest für die typischen Innenvollmachten sachwidrig. Niemand wird z. B. eine Prokura gegenüber allen seinen Geschäftspartnern widerrufen, sondern immer nur gegenüber dem Prokuristen, und der Dritte wird einen solchen Widerruf ihm gegenüber auch dann nicht erwarten, wenn er von der Prokuraerteilung in Kenntnis gesetzt worden ist; er kann und wird vielmehr allenfalls davon ausgehen, daß er von dem erfolgten Widerruf (deklaratorisch) benachrichtigt wird. Alles in allem ist daher entgegen der Ansicht Flumes mit der h. L. davon auszugehen, daß die Vollmacht unabhängig von der Art ihrer Erteilung oder ihrer Kundgabe auch intern wirksam widerrufen werden kann. Das heißt nun allerdings noch nicht ohne weiteres, daß es sich unbedingt um Fälle der Rechtsscheinhaftung handeln müßte; denn die Frage, worin hier eigentlich der Scheintatbestand liegen soll, macht gewisse Schwierigkeiten. In der Erteilung der Außenvollmacht bzw. in der Kundgabe der Innenvollmacht kann man ihn nämlich nicht erblicken, da dadurch nicht der Schein des Fortbestandes, sondern allenfalls der des ursprünglichen Bestehens geschaffen wird:10 die Erklärung besagt nur, daß die Vollmacht jetzt, im Augenblick der Verlautbarung besteht, nicht auch, daß sie in Zukunft nicht erlöschen wird. Das Vertrauen des Dritten richtet sich insoweit denn auch gar nicht primär auf den Akt der externen Bevollmächtigung bzw. der Kundgabe, sondern darauf, daß der Vertreter sich weiterhin als bevollVgl. § 51, 9. Diesen Fall hat Flume ersichtlich allein vor Augen. 9 Daß auch in diesen Fällen die §§ 170, 171 II, 172 II, 173 gelten, dürfte unstreitig sein; vgl. statt aller Goldberger aaO. S. 31 ff. 10 Das verkennt v. Seeler aaO. S. 39. 7 8
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mächtigt ausgibt und daß ihm, dem Dritten, ein Erlöschen der Vollmacht inzwischen nicht zur Kenntnis gebracht worden ist. Mit einer derartigen Benachrichtigung zu rechnen, hat er nun allerdings nur deshalb Anlaß, weil die Vollmacht ihm gegenüber erteilt bzw. ihm kundgegeben worden war, und insofern spielt die ursprüngliche Bevollmächtigung bzw. die Kundgabe durchaus eine – wenn auch nur mittelbare – Rolle für die Schaffung des Scheintatbestandes. Der Scheintatbestand gründet sich hier also auf die Behauptung des Vertreters in Verbindung mit der ursprünglichen externen Vollmachtserteilung oder -kundgabe und dem Ausbleiben eines externen Widerrufs bzw. einer [136] entsprechenden deklaratorischen Mitteilung durch den Geschäftsherrn. Bei der Vollmachtsurkunde liegt der Scheintatbestand darin, daß der Vertreter die Urkunde noch in Händen hat, daß der Geschäftsherr sie also nicht eingezogen hat. Daher besteht in der Tat ein Rechtsschein hinsichtlich des Fortbestandes der Vollmacht, und die §§ 170, 171 II, 172 II, 173 sind folglich mit der h. L. in die Rechtsscheinhaftung einzuordnen. 2. Was die Verknüpfung des Rechtsscheins mit dem Verhalten des Geschäftsherrn betrifft, so liegt sie in einem Unterlassen: im Unterlassen des externen Widerrufs oder einer externen deklaratorischen Erlöschensanzeige bzw. im Unterlassen der Einziehung der Vollmachtsurkunde. Es fragt sich daher, ob dieses Unterlassen zurechenbar sein muß. Mit dem Veranlassungsprinzip kann man insoweit von vornherein nicht arbeiten,11 da es bei Unterlassungen jedenfalls unbrauchbar ist.12 Daß das Verschuldensprinzip nicht herangezogen werden kann, steht nach Wortlaut und Sinn des Gesetzes ebenfalls außer Frage; denn die Haftung tritt ersichtlich z. B. auch dann ein, wenn der Geschäftsherr die Vollmachtsurkunde überhaupt nicht zurückerlangen konnte oder wenn der Widerruf ohne sein Verschulden nach der Absendung untergegangen ist. Es bliebe daher allenfalls das Risikoprinzip. Auch mit dessen Hilfe läßt sich jedoch eine Zurechnung nicht begründen, weil das Unterlassen keineswegs immer auf einen „Mangel“ in der „Sphäre“ des Vertretenen zurückgeht und dieser mitunter nicht einmal die Möglichkeit zum Handeln hat.13 Das ist besonders offenkundig bei den Erlöschensgründen, die – im Gegensatz zum Widerruf – unabhängig vom Verhalten des Geschäftsherrn eintreten; man denke etwa daran, daß die Vollmacht nach § 168 S. 1 mit dem Eintritt der Geschäftsunfähigkeit oder mit dem Tode des Vertretenen erlischt:14 auch dann gelten die §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB9, obwohl das Unterbleiben einer Benachrichtigung dem Geschäftsunfähigen oder Vgl. aber Goldberger aaO. S. 17; Krause, Schweigen S. 151 ff. (153). Vgl. unten § 38 I 2. 13 Vgl. zu diesem Erfordernis allgemein unten § 38 III 8 = S. 490. 14 § 672 S. 1 BGB kann abbedungen werden; bei der Gesellschaft führt der Tod eines Gesellschafters i. d. R. zum Erlöschen der Vollmacht nach § 168 S. 1. Selbst wenn die Vollmacht fortbesteht, sind Tod und Eintritt der Geschäftsunfähigkeit nicht ohne Einfluß auf ihren Umfang, vgl. Flume § 51, 5 und 6. 11 12
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dem – vielleicht noch nicht einmal ermittelten – Erben keinesfalls zurechenbar ist. Es kommt also ersichtlich auf eine Zurechnung des Unterlassens überhaupt nicht an, und das ist auch sinnvoll. Läßt nämlich das Gesetz den Widerruf oder das sonstige Erlöschen der Vollmacht schon ohne jede Beteiligung des Dritten zu, obwohl die Beendigung der Legitimation diesen unmittelbar angeht und dessen rechtliche Dispositionen beeinflussen kann, so ist es nur folgerichtig, wenn es ihn unbedingt, d. h. unabhängig von der Erfüllung irgendwelcher Voraussetzungen in der Person des Geschäftsherrn, in seinem guten Glauben schützt; es handelt sich dabei lediglich um das Korrelat dafür, daß er als der eigentlich Betroffene an dem Erlöschen selbst nicht beteiligt ist. Dabei dürfte freilich auch hier ein Element der Risikozurechnung [137] mithineinspielen, nur knüpft dieses nicht an die Schaffung des Scheintatbestandes durch das Unterlassen der Erlöschensanzeige an, sondern an die vorhergehende externe Erteilung oder Deklaration der Vollmacht. Durch diese hat der Geschäftsherr nämlich das Vertrauen des Dritten in Anspruch genommen und eine gewisse Gefahr dafür geschaffen, daß dieser sich auf die Vollmacht verläßt, obwohl sie bereits erloschen ist; er ist daher „näher daran“ als der Dritte, das Risiko zu tragen, daß dieser von internen Erlöschensgründen – also von Umständen, die ausschließlich in der „Sphäre“ des Geschäftsherrn liegen! – nicht rechtzeitig Kenntnis erhält. Besonders einleuchtend ist dieser Zusammenhang bei der Aushändigung einer Vollmachtsurkunde: darin liegt die Schaffung einer nicht unerheblichen Gefahrenquelle, und es ist daher nur folgerichtig, dem Geschäftsherrn das Risiko dafür aufzuerlegen, daß er die Urkunde rechtzeitig wiedererlangt. So ergibt sich bei den §§ 170, 171 II, 172 II, 173 hinsichtlich der Zurechnungsproblematik die Besonderheit, daß die Zurechnung nicht an das den Rechtsschein erzeugende Verhalten – das Unterlassen der Erlöschensanzeige –, sondern an ein diesem vorausgehendes, den Rechtsschein noch nicht unmittelbar schaffendes Verhalten – die externe Erteilung oder Deklaration der Vollmacht – anknüpft. 3. Der Dritte wird somit in seinem guten Glauben an den Fortbestand der Vollmacht grundsätzlich geschützt. Voraussetzung ist dabei nach dem Gesetz freilich, daß die Vollmacht extern erteilt oder nach außen kundgegeben worden ist; bei der reinen Innenvollmacht15 kennt das BGB dagegen hinsichtlich des Fortbestandes ebensowenig eine Rechtsscheinhaftung wie hinsichtlich ihres ursprünglichen Fehlens oder ihrer anfänglichen Fehlerhaftigkeit. Auch im übrigen versagt der Schutz des Dritten in mehreren Fällen. Zunächst kann der Geschäftsherr die Vollmacht stets durch Erklärung ihm gegenüber widerrufen. Das gilt auch im Falle der öffentlichen Kundgabe i. S. des § 171 I und der Aushändigung
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Zum Begriff vgl. oben § 10 III.
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einer Vollmachtsurkunde.16 Denn warum die §§ 171 II, 172 II hier leges speciales zu § 168 S. 3 i. V. m. § 167 I sein sollten, ist nicht einzusehen; die §§ 171 II, 172 II besagen richtig verstanden lediglich, daß die Vornahme des actus contrarius genügt, um den Schutz des Dritten auszuschließen, nicht auch, daß sie erforderlich ist. Die Gegenansicht geht über das sachlich gebotene Maß des Schutzes hinaus: der Dritte braucht nur gegenüber einem internen Erlöschen, nicht aber auch gegenüber einem externen Widerruf geschützt zu werden. Aus diesem letzteren Gesichtspunkt erklärt sich weiter auch, daß der Schutz der §§ 170, 171 II, 172 II ausgeschlossen ist, sobald ein Widerruf zugegangen ist, und zwar unabhängig davon, ob der Dritte ihn – darin liegt der praktische Unterschied zur Gegenansicht – kannte oder i. S. des § 173 kennen mußte; die deklaratorische Kundgabe, daß die Vollmacht – intern – erloschen sei, [138] ist dem konstitutiven Widerruf insoweit gleichzustellen, da damit der Rechtsschein zerstört ist. Im übrigen genügt jeweils der der Kundgabe entsprechende actus contrarius, bei der Kundgabe an die Öffentlichkeit also ein Widerruf oder eine deklaratorische Erlöschensanzeige an die Öffentlichkeit, bei der Aushändigung einer Vollmachtsurkunde deren Einziehung. Die Regelung der §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB läßt sich also folgendermaßen zusammenfassen: 1. Bei der echten Außenvollmacht und bei der kundgegebenen Innenvollmacht wird der Dritte in seinem guten Glauben daran, daß die Vollmacht nicht aus einem „internen“ Grunde erloschen ist, geschützt. 2. Der Schutz greift nicht ein, wenn dem Dritten ein Widerruf oder eine deklaratorische Erlöschensanzeige zugegangen ist. 3. Der Schutz greift ferner dann nicht ein, wenn der Geschäftsherr einen der Art ihrer Erteilung oder ihrer Deklaration entsprechenden actus contrarius vorgenommen hat. 4. Im übrigen, aber nur im übrigen kommt es auf guten Glauben i. S. des § 173 an.17 III. Die analoge Anwendung des § 171 II BGB auf das konkludente Verhalten, insbesondere auf die Vollmachtskundgabe durch „Dulden“ Auch wenn man § 171 II nur bei einer ausdrücklichen Vollmachtskundgabe für unmittelbar einschlägig ansieht, kann man ihn ebenso wie Abs. I18 auf das
16 A. A. Planck-Flad § 171 Anm. 7; Flume § 51, 9 = S. 857; wie im Text i. E. Hupka, Die Vollmacht, 1900, S. 432 ff.; Oertmannn § 171 Anm. 2 d und § 172 Anm. 3 c; Staudinger-Coing §§ 171 f. Rdzn. 10 f.; Enn.-Nipperdey § 188 I 1. 17 Zu den an diesen zu stellenden Anforderungen vgl. unten S. 506. 18 Vgl. insoweit oben § 10 II.
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konkludente Verhalten doch zumindest analog anwenden,19 – zumal der insoweit gleichliegende § 170 dieses schon seinem Wortlaut nach mitumfaßt; denn auch sonst wird im Rahmen der Rechtsscheinhaftung kein Unterschied zwischen ausdrücklichen und schlüssigen Erklärungen gemacht, und auch hier paßt die ratio legis des § 171 II: der Dritte hat keinen Anlaß, stets erneut nach dem Fortbestand der Vollmacht zu fragen, wenn z. B. der Geschäftsherr längere Zeit hindurch das Auftreten eines anderen als seines Bevollmächtigten geduldet hat, und umgekehrt kann man von dem Geschäftsherrn ohne weiteres erwarten, daß er auch das Ende einer lediglich konkludent deklarierten Vollmacht nach außen kundtut. Oder soll der Dritte nicht geschützt werden, wenn z. B. der Geschäftsherr jahrelang seine gesamte Korrespondenz mit ihm von einem Vertreter erledigen ließ und dieser nun nach Widerruf seiner Vollmacht noch ein bestimmtes Geschäft mit ihm vornimmt, ohne daß ihm eine Mitteilung über das Erlöschen der Vollmacht zuging?! Daß hier gewisse Schwierigkeiten hinsichtlich der Art des Widerrufs entstehen können, ist zwar zuzugeben, kann aber an der grundsätzlichen Richtigkeit dieses Ergebnisses nichts ändern; auf jene soll erst im Zusammenhang des „Widerrufs“ einer konkludenten Scheinvollmacht, wo sie eine größere praktische Rolle spielen, näher eingegangen werden.20 [139] IV. Die analoge Anwendung der §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB auf andere Rechtsinstitute Ebenso wie hinsichtlich der §§ 171 I, 172 I stellt sich als nächstes die Frage nach der analogen Anwendung auf andere Rechtsinstitute als die Vollmacht, und dabei tauchen wieder dieselben Problemkreise auf wie in den vorigen Abschnitten. 1. Die Problematik der Schein-BGB-Gesellschaft ist eine solche der Scheinvollmacht.21 Daher können die §§ 170, 171 II, 172 II, 173 auf die BGB-Gesellschaft ohne weiteres Anwendung finden. Von besonderer praktischer Bedeutung ist dabei die Analogie zu § 171 II im Falle der konkludenten Kundgabe gegenüber einem unbestimmten Personenkreis; denn diese führt zum Schutz des guten Glaubens an den Fortbestand einer „ins Leben getretenen“ oder „in Vollzug gesetzten“ Gesellschaft. Der Scheintatbestand kann dabei in derselben Weise zerstört werden wie im Falle der Duldungsvollmacht gegenüber einem unbestimmten Personenkreis.22 Was bei der BGB-Gesellschaft gilt, muß erst recht für 19 Zur abweichenden Ansicht Flumes vgl. unten § 13 Fn. 8; wie im Text i. E. wohl auch BGH NJW 55, 825 (826 unter 2 b; insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 16, 394). 20 Vgl. § 13 II 2. 21 Vgl. oben § 7 VII und § 11 II. 22 Vgl. dazu unten S. 147 f.
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die OHG und die KG anerkannt werden. Auch bei diesen werden Dritte daher in ihrem guten Glauben an den Fortbestand der Gesellschaft analog §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB geschützt, soweit nicht schon § 15 HGB als lex specialis eingreift.23 2. Die Einwilligung zu einem Rechtsgeschäft ist der Vollmacht so ähnlich, daß sich bei der externen und der kundgegebenen Einwilligung die Analogie zu §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB geradezu aufdrängt.24 Diese wird denn auch von der ganz h. L. mit Recht befürwortet.25 3. Eng verwandt mit der Vollmacht ist auch die Ausfüllungsbefugnis beim Blankett.26 Auch hier muß der Dritte daher gegenüber einem internen Erlöschen, insbesondere gegenüber einem internen Widerruf der kundgegebenen Ausfüllungsbefugnis geschützt werden; da die Kundgabe regelmäßig durch Vorlegung des Blanketts erfolgt, ist die Heranziehung des Rechtsgedankens des § 172 II sachgerecht.27 Folgerichtig ist analog § 176 BGB eine Kraftloserklärung des Blankos zulässig.28 [140] 4. Ohne weiteres überzeugungskräftig ist eine Analogie zu den §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB schließlich bei der Botenschaft; denn auch hier ist kein Grund ersichtlich, warum der Dritte gegenüber nachträglichen internen Erlöschensgründen, insbesondere gegenüber einem Widerruf schwächer geschützt werden sollte als bei der Vollmacht.28a 5. Weniger selbstverständlich ist die Analogie im ehelichen Güterrecht29 Da indessen hinsichtlich der bisher entwickelten Rechtsscheinsätze sich dort jeweils dieselben Prinzipien als tragfähig erwiesen wie im Vollmachtsrecht,30 liegt auch in Vgl. unten § 14 I. Vgl. im übrigen schon oben § 7 IV–VI und § 11 I. 25 Vgl. Planck-Flad § 183 Anm. 2; Oertmann § 182 Anm. 9; Staudinger-Coing § 183 Rdz. 4 m. Nachw.; Soergel-Schultze-v. Lasaulx § 183 Rdz. 5 a. E.; Erman-Böhle-Stamschräder § 183 Anm. 4; Enn.-Nipperdey § 204 II 3 a. E.; Flume § 55 bei Fn. 2; eingehend Merten, Einwilligung beim unwirksamen Rechtsgeschäft, Diss. Jena 1913, S. 81 ff. m. Nachw. zum älteren Schrifttum. 26 Vgl. oben § 6 I 1. 27 Ebenso i. E. Voss JherJb. 56, 454; von Tuhr, Laband-Festschrift, 1908, S. 94 Fn. 2 (wo allerdings – offenbar versehentlich – auf § 172 I abgestellt wird); BGHZ 40, 65 (unzutreffend BGHZ 40, 297, wo es ausschließlich um das anfängliche Fehlen der Ausfüllungsbefugnis ging; auch im Falle BGHZ 40, 65 dürfte nicht nur ein nachträgliches Erlöschen – durch den Rücktritt –, sondern auch ein ursprüngliches Fehlen vorgelegen haben). 28 A. A., jeweils ohne Begründung, v. Tuhr aaO.; BGHZ 40, 65 (68, obiter); wie im Text schon Voss aaO. S. 464 ff. 28a Unrichtig daher OLG Stuttgart DRZ 50, 470, wo die §§ 170, 171 II BGB analog anzuwenden gewesen wären (ablehnend i. E. auch Zweigert in der Anmerkung aaO. und Flume § 14 Fn. 44); vgl. ferner BGH WM 62, 575 (576), wo eine Analogie zu § 172 II BGB am Platze war, wo jedoch außerdem noch ein Formmangel vorlag, der als „urkundliche“ Einwendung nicht nach den Regeln über die Rechtsscheinhaftung zu überwinden war. 29 Zu den entgegenstehenden Schwierigkeiten vgl. oben S. 79 f. 30 Vgl. oben § 8 I und § 11 IV. 23 24
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diesem Fall eine Übertragung nahe. Das gilt um so mehr, als das Gesetz selbst in § 1412 II BGB den guten Glauben an den Fortbestand eines Güterrechtsvertrages schützt. Der auf diese Weise gewährte Schutz ist jedoch nicht lückenlos, da § 1412 ausdrücklich voraussetzt, daß der bisherige Vertrag eingetragen war; angesichts dieses unmißverständlichen Wortlauts kann die Vorschrift keinesfalls auf alle lediglich eintragungsfähigen Tatsachen angewandt werden – zumal die entgegengesetzte Ansicht sogar im Falle des § 15 HGB, dessen Wortlaut nicht so eindeutig ist, unhaltbar ist.31 Es bleibt daher eine Lücke für den Fall, daß der Ehevertrag nicht eingetragen war, aber auf andere Weise nach außen kundgegeben wurde. Diese ist sachgerecht mit Hilfe des den §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB zugrunde liegenden Rechtsgedankens zu schließen. V. Das den §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB zugrunde liegende Prinzip und seine Grenzen Damit ist im Grunde schon vorgegriffen auf die sich nunmehr abschließend stellende Aufgabe: die Klärung der Frage, inwieweit hier ein allgemeines Rechtsprinzip gegeben ist und wo die Grenzen der Verallgemeinerungsfähigkeit der §§ 170, 171 II, 172 II, 173 liegen. 1. Wieder ist dabei der Vergleich mit dem Zessionsrecht sehr hilfreich. Für dieses wurde nun oben31a bereits herausgearbeitet, unter welchen Voraussetzungen hier ein Schutz gegenüber nachträglichen Einwendungen, insbesondere gegenüber einem nachträglichen Erlöschen der Forderung gewährt werden kann: nur dann, wenn der Schuldner bewußt einen Scheintatbestand hinsichtlich des Fortbestandes der Forderung schafft oder aufrechterhält. Das steht in scharfem Gegensatz zu dem Grundsatz der §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB; denn während es hier auf eine [141] Zurechnung des den Rechtsschein begründenden Unterlassens überhaupt nicht ankommt,32 sind dort die schärfsten Anforderungen an die Zurechenbarkeit zu stellen: nur wissentliche Setzung des Rechtsscheins genügt! Das führt zu erheblichen praktischen Unterschieden. So haftet der Schuldner dem gutgläubigen Dritten z. B. schon dann nicht, wenn er – sei es auch grob fahrlässig – vergißt, sich den Schuldschein nach Erfüllung zurückgeben zu lassen; der Vollmachtgeber haftet dagegen selbst dann, wenn er vergeblich alles in seiner Macht Liegende zur Wiedererlangung der Vollmachtsurkunde getan hat. Entsprechend muß es genügen, daß der Scheinschuldner eine Anzeige über das Erlöschen der Schuld an den potentiellen Zessionar absendet, weil er dann alles seinerseits Erforderliche zur Zerstörung des Rechtsscheins getan hat (sofern der Vgl. unten § 14 I 1. Vgl. § 9 III 1 a. E. = S. 96 f. und 2 a. E. = S. 101. 32 Vgl. oben II 2. 31
31a
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Gläubiger die Rückgabe der Schuldurkunde verweigert und gerichtliche Maßnahmen noch nicht zum Ziel geführt haben); im Falle des § 172 II kommt es dagegen auf den Zugang einer den Rechtsschein zerstörenden Mitteilung an. Vielleicht noch krasser ist der Unterschied, wenn über die Schuld keine Urkunde ausgestellt, sondern ihr Bestehen nur mündlich kundgegeben worden ist. Hier ist eine Mitteilung an den Dritten im Gegensatz zu § 171 II überhaupt nicht erforderlich, weil einerseits durch die ursprüngliche Kundgabe kein Rechtsschein hinsichtlich des Fortbestandes der Schuld erzeugt wurde und weil andererseits der Dritte anders als bei der Vollmacht durch das Erlöschen der Forderung grundsätzlich nicht unmittelbar „betroffen“ ist und daher keine Benachrichtigung erwarten kann, so daß deren Unterbleiben keinen Rechtsschein erzeugt. 2. Damit ist bereits der innere Grund für die verschiedene Ausgestaltung der Rechtsscheinhaftung bei der Vollmacht und den verwandten Instituten einerseits und bei der Forderung und den nach § 413 BGB gleichzustellenden Rechten andererseits angedeutet. Er liegt nicht anders als beim Ausschluß der anfänglichen Einwendungen33 im Unterschied von „drittgerichteten“ und nicht „drittgerichteten“ Rechtsverhältnissen. Das Erlöschen der Vollmacht, der Gesellschaft oder der Ausfüllungsbefugnis geht nämlich typischerweise Dritte an, weil diese Rechtsinstitute ihrem eigenen Zweck nach die Grundlage von Rechtsgeschäften Dritter bilden, und daher ist hier ein gesteigertes Verkehrsschutzbedürfnis anzuerkennen. Vom Erlöschen einer Forderung oder eines ähnlichen Rechts sind dagegen mangels einer derartigen „Drittrichtung“ grundsätzlich nur der Gläubiger und der Schuldner „betroffen“, und daher können hier Dritte mit einer Nachricht über das Erlöschen im allgemeinen auch dann nicht rechnen, wenn sie dem Schuldner erkennbar an dem Bestand der Forderung irgendwie interessiert sind; anders wird man ebenso wie bei unbekannten ursprünglichen Einwendungen34 nur entscheiden können, wenn die Forderung ausnahmsweise einmal „drittgerichtet“ ist, also ihren primären Sinn in der Sicherstellung des Dritten hat. Ein gesteigerter Verkehrsschutz durch eine verschärfte Rechtsscheinhaftung ist daher auch hinsichtlich des nachträglichen Erlöschens [142] eines kundgegebenen Rechtsverhältnisses nur bei drittgerichteten Rechtstatsachen gegeben, bei diesen aber auf Grund des in den §§ 170, 171 II, 172 II, 173 nur unvollkommen zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsprinzips grundsätzlich zu bejahen. Bei nicht „drittgerichteten“ Rechtsverhältnissen, insbesondere bei Forderungen bleibt es dagegen auch hinsichtlich dieses Problems bei dem Minimaltatbestand der Rechtsscheinhaftung, d. h. bei der Einstandspflicht nur für die wissentliche Schaffung oder Aufrechterhaltung eines Scheintatbestandes.
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Vgl. dazu in diesem Zusammenhang oben S. 109 und S. 132. Vgl. dazu oben § 11 VI 2.
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VI. Die Ausgrenzung der §§ 169, 674, 729 BGB aus der Rechtsscheinhaftung In einem gewissen Zusammenhang mit den §§ 170 ff. BGB steht § 169 BGB. Danach gilt eine Vollmacht, die nach § 168 S. 1 an sich mit dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis erloschen ist, auch dem Dritten gegenüber als fortbestehend, wenn das Rechtsverhältnis und damit die Vollmacht zugunsten des gutgläubigen Vertreters nach §§ 674, 729 BGB als fortbestehend angesehen wird.35 Man könnte auf den ersten Blick annehmen, auch hier liege ein Fall der Rechtsscheinhaftung gegenüber dem Dritten vor. Das trifft jedoch nicht zu. Es geht in § 169 nämlich ausschließlich um die reine Innenvollmacht – die entsprechende Regelung für die Außenvollmacht und die kundgegebene Innenvollmacht enthalten die §§ 170, 171 II, 172 II! –, und daher ist der Dritte nicht schutzwürdig; denn ihm gegenüber ist die Vollmacht nicht kundgegeben und er verdient somit gegenüber ihrem Erlöschen ebensowenig Schutz wie gegenüber ihrer ursprünglichen Fehlerhaftigkeit.36 Ratio legis ist deshalb in Wahrheit nicht der Schutz des Dritten, sondern der Schutz des Vertreters: wenn zwar das Kausalverhältnis nach §§ 674, 729 fortbestünde, die Vollmacht jedoch erloschen wäre, so könnte der Dritte den Vertreter aus § 179 II in Anspruch nehmen, und das gewährte Privileg wäre z. T. hinfällig; nur aus diesem Grunde wird die Vollmacht auch gegenüber dem Dritten als fortbestehend angesehen, und wenn § 169 davon eine Ausnahme bei Bösgläubigkeit des Dritten macht, so nicht deshalb, weil es um den Schutz des Vertrauens des Dritten ginge, sondern allein deshalb, weil dann der Dritte nach § 179 III 1 keinen Anspruch gegen den Vertreter hat und der Grund für die Wirksamkeit des Vertretergeschäftes damit entfällt. § 169 stellt also keinen Fall der Vertrauenshaftung des Vertretenen gegenüber dem Dritten dar. Auch im Verhältnis zum Vertreter dürfte aber keine Rechtsscheinhaftung vorliegen. Die Aufrechterhaltung der Vollmacht kann insoweit nicht unabhängig von der Fiktion des Fortbestandes des zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses nach §§ 674, 729 betrachtet werden. Bei letzterem aber sollte man nicht von Rechtsscheinwirkungen sprechen.37 Dem steht schon entgegen, daß es hier gar nicht um den charakteristischen Zweck des Rechtsscheingedankens geht: Fragen des Verkehrsschutzes spielen keine Rolle38. Auch ist nicht recht ersichtlich, worin der Scheintatbestand eigentlich bestehen soll; denn man kann keineswegs sagen, jedes Rechtsverhältnis erzeuge den Schein, daß es nicht ohne Kenntnis des Betroffenen erlösche.39 Auch kann der Beauftragte anders als der Dritte im Falle der §§ 170, 171 II, 172 II, 173 wohl kaum mit einer Benachrichtigung über das Erlöschen des Auftrags 35 Letzteres wird in § 169 allerdings nicht angeordnet, sondern vorausgesetzt und ergibt sich aus unmittelbarer oder analoger Anwendung des § 168 S. 1. 36 Vgl. dazu oben § 10 III. 37 So aber Krückmann JherJb. 57, 119; zweifelnd Oertmann ZHR 95, 480 ff. 38 Dies wird auch deutlich in der Terminologie von Ramdohr GruchBeitr. 44, 690 ff., der hier treffend vom „Innenschutz“ im Gegensatz zum „Außenschutz“ spricht. 39 Unzutreffend Oertmann aaO. S. 481.
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rechnen, da dieses seinen Grund nicht wie dort regelmäßig im Widerruf gegenüber einem anderen [143] hat – ein Widerruf kommt beim Auftrag von vornherein nur gegenüber dem Beauftragten in Betracht –, sondern in Gründen, die vom Willen und von der Einflußmöglichkeit des Auftraggebers unabhängig sind und bei deren Eintreten daher häufig für diesen nicht einmal die Möglichkeit einer Benachrichtigung bestehen wird; man kann hier also nicht sagen, das Unterlassen einer Mitteilung an den Beauftragten begründe einen Rechtsschein. Schließlich liegt es im Vergleich zu §§ 170, 171 II, 172 II, 173 auch insofern wesentlich anders, als dort der Vertreter die Fortdauer seiner Vollmacht behauptet oder sogar noch im Besitz der Urkunde ist, was den Scheintatbestand zwar nicht allein zu begründen vermag, ihn aber doch wesentlich mitträgt; bei §§ 674, 729 fehlt dazu jedes Analogon. Daher geht es hier nicht um Rechtsscheinhaftung, sondern allein um die sachgemäße Abwicklung eines Geschäftsführungsverhältnisses;40 daß dabei Fragen des Vertrauensschutzes eine Rolle spielen, ist nicht zu leugnen, doch liegt nicht überall Vertrauens- und Rechtsscheinhaftung vor, wo das Gesetz dem Vertrauensgedanken in irgendeiner Weise Bedeutung zumißt.41
VII. Exkurs: Die verwandte Problematik der §§ 407 f. BGB Schließlich sei noch kurz auf die §§ 407 f. BGB eingegangen. Sie gehören an sich nicht unmittelbar zum Gegenstand dieser Arbeit, da es in ihnen nicht um die Begründung einer Verpflichtung, also um „Haftung“ im oben § 1 II definierten Sinn geht, doch weisen sie eine so enge Verwandtschaft mit den zuvor erörterten Problemkreisen auf, daß sie wenigstens zu streifen sind. Interessant sind dabei vor allem die Fragen des Scheintatbestandes und der Zurechenbarkeit. Was zunächst die erstere betrifft, so wird der Rechtsschein im Falle des § 407 durch die – ausdrückliche oder konkludente – Behauptung des Altgläubigers von der Fortdauer seiner Berechtigung in Verbindung mit dem ursprünglichen Bestehen dieser Berechtigung und dem Unterbleiben einer Nachricht über den Forderungserwerb seitens des Neugläubigers begründet. Diese Umstände zusammen schaffen eine tatsächliche Wahrscheinlichkeit dafür, daß der bisherige Gläubiger auch weiterhin Inhaber der Forderung ist; insbesondere darf der Schuldner darauf vertrauen, daß jeder Zessionar ihm schon in seinem eigenen Interesse sofort Mitteilung vom Erwerb der Forderung macht. Nicht ganz unproblematisch ist das Vorliegen eines Scheintatbestandes allerdings im Falle des § 408.42 Nach dem Wortlaut des Gesetzes könnte man meinen, der Schuldner werde schon dann geschützt, wenn er an den „Dritten“ – also den Zweitzessionar – auf Grund der bloßen Tatsache, daß dieser seinen Rechtserwerb behauptet hat, leistet; dann wäre er jedoch nicht schutzwürdig, Vgl. auch Oertmann aaO. S. 481. Vgl. näher oben § 1 I. 42 Vgl. auch Westermann JuS 63, 5 unter IV 6 40 41
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht da eine solche Behauptung genausogut falsch sein kann und die bloße Berühmung des angeblich Berechtigten dementsprechend niemals einen ausreichenden Scheintatbestand bildet.43 In einschränkender Interpretation des § 408 ist daher vielmehr zu fordern, daß der Schuldner irgendwelche objektiven Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Zession des Altgläubigers an den „Dritten“ hat, daß ihm der Altgläubiger also z. B. Mitteilung von dieser Zession gemacht hat, daß ihm eine Urkunde darüber vorgelegt wird oder – in Anlehnung an die Regeln über die Duldungsvollmacht – daß er zumindest annehmen darf, der Altgläubiger kenne und dulde die „Berühmung“ des „Dritten“.44 Nur bei dieser Interpretation recht- [144] fertigt sich auch die Verweisung des § 408 auf § 40745 (in der somit gleichzeitig ein wesentliches Hilfsargument für die vorgeschlagene Einschränkung des § 408 liegt!); denn dann geht es auch in § 408 um den Schutz des guten Glaubens an den Fortbestand der Legitimation des Altgläubigers, die dieser hier anders als bei § 407 nicht zur eigenen Empfangnahme der Leistung oder zu einem Rechtsgeschäft mit dem Schuldner über die Forderung, sondern zu deren Abtretung an den „Dritten“ benutzt hat. Hinsichtlich der Zurechnungsproblematik handelt es sich um ein besonders anschauliches Beispiel des „reinen“ Rechtsscheinprinzips,46 d. h. es kommt auf eine Zurechnung des Scheintatbestandes – entgegen der h. L.47 – überhaupt nicht an. Im praktischen Ergebnis wird das z. B. daran deutlich, daß die Befreiungswirkung des § 407 auch dann eintritt, wenn der Zessionar alles in seiner Macht Stehende zur Benachrichtigung des Schuldners unternommen, dieser die Mitteilung aber gleichwohl nicht erhalten hat – z. B. weil sie auf der Post verloren gegangen ist oder sogar weil er sie noch nicht gelesen hat48 – oder wenn der Zessionar keinerlei Möglichkeit zu einer Benachrichtigung hatte – etwa weil er, was im Falle der cessio legis durchaus denkbar ist, von seinem Rechtserwerb noch nicht einmal wußte. Dogmatisch erklärt sich dieser Verzicht auf jede Zurechnung – ebenso wie übrigens die im System der Rechtsscheinhaftung an sich ungewöhnliche Einschränkung der Bösgläubigkeit auf positive Kenntnis – wiederum49 aus dem Grundgedanken des Zessionsrechts, daß der Schuldner durch die ohne seine Mitwirkung erfolgende Abtretung keine Nachteile erleiden darf; denn so gesehen ist es nur folgerichtig, daß der ihm zu diesem
43 44
digen.
Vgl. allgemein unten § 39 III 4. Bei dieser Interpretation des § 408 dürften sich die Bedenken von Westermann aaO. erle-
45 Diese wird daher von Esser 2. Aufl. § 91, 5 b zu Unrecht kritisiert. Entgegen der Meinung Essers gehört § 408 sachlich nicht zum Problemkreis des § 409, weil es nicht um den Schutz des Schuldners im Verhältnis zum Altgläubiger, den § 409 betrifft, geht, sondern um den Schutz des Schuldners im Verhältnis zum berechtigten Neugläubiger, auf den sich § 407 bezieht. 46 Zu diesem vgl. allgemein unten § 37 II 1. 47 Vgl. Oertmann ZHR 95, 478 f. (der zudem zu Unrecht insoweit nicht auf den Zessionar abstellt); Krause aaO. S. 152 f.; Westermann JuS 63, 7 (unter V 6), die jeweils mit dem Veranlassungsprinzip arbeiten. 48 Es ist anerkannt, daß ihm grundsätzlich nur die Kenntnis von der Mitteilung, nicht schon deren Zugang schadet, vgl. z. B. Soergel-Schmidt § 407 Rdz. 4 m. Nachw. 49 Vgl. schon oben S. 130.
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Zwecke gewährte Schutz ohne weiteres, d. h. unabhängig von irgendwelchen Voraussetzungen auf seiten des Zessionars eintritt.
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§ 13 Der Schutz des Vertrauens auf den „Fortbestand“ einer scheinbaren Rechtslage, insbesondere der „Widerruf“ der Scheinvollmacht und die „Auflösung“ der Scheingesellschaft Bisher war nur von den Fällen die Rede, in denen eine ursprünglich wirklich bestehende Rechtslage sich nachträglich verändert hat. Analoge Probleme ergeben sich aber auch dann, wenn eine in Wahrheit nicht bestehende Rechtslage kundgegeben worden ist und nunmehr „geändert“ wird. Dem Einwand, eine Rechtslage, die niemals bestanden habe, könne sich begrifflich auch nicht ändern, ist ohne weiteres durch den Hinweis auf die Lehre von den „Doppelwirkungen im Recht“1 zu [145] begegnen. In der Tat drängen sich die praktischen Beispiele für diese Problematik geradezu auf. So fragt es sich z. B., welchen Einfluß etwa der Tod oder der Eintritt der Geschäftsunfähigkeit des Vertretenen bei der Scheinvollmacht oder eines Scheingesellschafters bei der Scheingesellschaft hat oder ob und unter welchen Voraussetzungen die – dem Widerruf bei der echten Vollmacht entsprechende – Beendigung des Dulden bei der Duldungsvollmacht oder die „Auflösung“ einer Scheingesellschaft Wirkung auch gegenüber Dritten entfaltet. Mit den im ersten und zweiten Unterabschnitt entwickelten Regeln ist diese Problematik nicht zu lösen; denn die Kundgabe der Vollmacht, der Gesellschaft usw. besagt immer nur, daß diese jetzt, d. h. im Augenblick der Kundgabe, besteht, nicht auch, daß sie in Zukunft nicht erlöschen wird, und daher wird dadurch nur der Einwand des ursprünglichen Nichtbestehens der Vollmacht, der Gesellschaft usw. ausgeschlossen, nicht aber ohne weiteres auch der Einwand des nachträglichen „Widerrufs“ bzw. der „Auflösung“ usw. Es gibt daher ein selbständiges Problem der Dauer des Rechtsscheins, insbesondere des „Widerrufs“ der Scheinvollmacht2 und der „Auflösung“ der Scheingesellschaft. I. Die unmittelbare Anwendung der §§ 171 II, 172 II, 173 BGB auf die Scheinvollmacht Teilweise hat das Gesetz diese Problematik unmittelbar gelöst: die §§ 171 II, 172 II, 173 BGB beziehen sich ihrem klaren Wortlaut wie auch ihrem Zusammenhang mit den Absätzen I nach nicht nur auf den Fall, daß ursprünglich eine Vollmacht wirklich bestand, sondern auch auf den Fall, daß eine solche in Wahrheit nicht erteilt war und die Kundgabe daher lediglich eine Scheinvollmacht 1 Grundlegend Kipp, Doppelwirkungen im Recht, in: Festschrift für v. Martitz, 1911, S. 211 ff. 2 Vgl. auch Fikentscher AcP 154, 8. Die dort Fn. 27 angeführten Entscheidungen befassen sich allerdings nicht mit dieser Problematik.
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hervorgerufen hatte, und auch ihrem Sinne nach passen die §§ 171 II, 172 II, 173 ebenso auf die Scheinvollmacht wie auf die echte Vollmacht: wieder gilt, daß der Dritte bei der Scheinvollmacht weder schlechter noch besser stehen soll als bei der echten Außenvollmacht. Daraus ergeben sich drei Rechtssätze: 1. Auch bei der Scheinvollmacht darf der Dritte grundsätzlich auf die Fortdauer der Vertretungsmacht vertrauen, ohne daß es auf die Zurechenbarkeit des Unterlassens einer entsprechenden Mitteilung durch den Vertretenen ankommt3. 2. Auch die Scheinvollmacht kann durch entsprechenden actus contrarius zerstört werden. 3. Interne Erlöschensgründe muß der Dritte gegen sich gelten lassen, wenn er sie kennt oder kennen muß (§ 173 BGB). Nähere Erörterung fordern nur der zweite und der dritte Satz. Als actus contrarius ist bei der Mitteilung gegenüber dem Dritten nur ein entsprechender „Widerruf“ ihm gegenüber anzusehen. Dieser braucht nicht den Wortlaut eines (konstitutiven) Widerrufs im eigentlichen Sinne zu haben, sondern kann – entsprechend der besonderen Problemlage – auch in der (deklaratorischen) Klarstellung des ursprünglichen Fehlens der Vollmacht gesehen werden; das ist insofern von praktischer Bedeutung, als in einem derartigen Falle dem Dritten sein guter Glaube nichts mehr nützt, [146] sobald ihm die den Rechtsschein zerstörende Mitteilung zugegangen ist – mag er sie auch ohne Verschulden noch nicht kennen. – Bei der Erklärung an die Öffentlichkeit ist als actus contrarius auch der „Widerruf“ gegenüber einem bestimmten Dritten anzuerkennen,4 der dann jedoch natürlich nur diesem gegenüber wirkt. Für interne Erlöschensgründe gilt grundsätzlich nichts anderes als bei der echten Vollmacht. So kann sich der Dritte nicht auf eine Scheinvollmacht berufen, wenn z. B. Tod oder Eintritt der Geschäftsunfähigkeit des Vertretenen eine echte Vollmacht zum Erlöschen gebracht hätten und er diese Ereignisse kannte oder kennen mußte. Gewisse Schwierigkeiten tauchen hinsichtlich des internen „Widerrufs“ einer Scheinvollmacht auf. Dieser ist zwar oft nicht im wörtlichen Sinne möglich, weil (und sofern) zwischen Geschäftsherrn und Vertreter Klarheit über das Fehlen einer Vollmacht besteht und weil daher ein Widerruf psychologisch nicht in Betracht kommt, doch gibt es analoge Erscheinungen. So mag man daran denken, daß der Geschäftsherr eine noch nicht erteilte Vollmacht nach außen kundgegeben hat, sich nach einiger Zeit aber anders besinnt und dem Vertreter untersagt, das entsprechende Geschäft abzuschließen; die Lage ist dann nicht anders, als hätte er zunächst eine Innenvollmacht erteilt und dem Dritten kundgegeben und dann intern widerrufen: der Dritte wird nicht geschützt, wenn er den internen „Widerruf“ kannte oder kennen mußte (§ 173). Ein dem internen Widerruf entsprechender Tatbestand kann im übrigen auch konkludent geschaffen werden, insbesondere dadurch, daß Vertreter und Geschäftsherr „stillschwei3 4
Zur Zurechnungsproblematik vgl. näher oben § 12 II 2. Die Ausführungen oben § 12 bei Fn. 16 = S. 137 gelten entsprechend.
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gend“ darüber einig sind, daß von der Scheinvollmacht kein Gebrauch mehr gemacht werden solle. II. Die analoge Anwendung der §§ 171 II, 173 BGB auf die konkludente Vollmachtskundgabe Ebenso wie bei der echten Vollmacht5 sind auch bei der Scheinvollmacht die §§ 171 II, 173 analog auf das konkludente Verhalten anwendbar; wieder gilt, daß der Dritte bei der Scheinvollmacht nicht schlechter stehen soll als bei der echten Außenvollmacht, da er keinen Anlaß hat, sich eine solche erteilen zu lassen. Auch hier darf der Dritte also grundsätzlich auf den Fortbestand der Vertretungsmacht vertrauen; auch hier nützt ihm sein guter Glaube nichts, wenn ein den Schein der Vollmacht zerstörender actus contrarius bzw. ein externer „Widerruf“ wirksam geworden ist; auch hier muß er interne Erlöschensgründe gegen sich gelten lassen, wenn er sie kannte oder kennen mußte. 1. In einigen Einzelheiten bedarf die Analogie allerdings noch der Präzisierung. So liegt bei der Scheinvollmacht kraft Anstellung der actus contrarius folgerichtig darin, daß der Geschäftsherr dem Scheinvertreter die entsprechende Position nach außen nimmt, da lediglich deren Einräumung der actus primus war. Einer beson- [147] deren Mitteilung an einen Dritten oder einer ausdrücklichen Erklärung an die Öffentlichkeit bedarf es daher nicht.6 Auf die Bösgläubigkeit des Dritten hinsichtlich der Beendigung der Stellung kommt es ebensowenig wie auf Zugangsgesichtspunkte an; die Scheinvollmacht wird vielmehr durch die in der Entziehung der Position liegende nicht empfangsbedürftige konkludente Erklärung ohne weiteres zerstört, ebenso wie sie durch eine derartige Erklärung begründet worden war.7 Das alles ergibt sich aus der Gleichstellung des actus contrarius mit dem actus primus gemäß § 171 II. 2. Bei der Duldungsvollmacht ist zu differenzieren. Lag sie gegenüber einem bestimmten Dritten vor, ließ also z. B. der Geschäftsherr seine Korrespondenz mit diesem von dem Vertreter erledigen, so ist analog § 171 II ein „Widerruf“ gegenüber dem Vertreter nicht genügend, sondern eine entsprechende Mitteilung an den Dritten erforderlich;8 denn der actus primus lag in einem dem Dritten gegenüber Vgl. oben § 12 III. Ebenso i. E. Flume § 51, 9 a. E. (S. 859), der darin allerdings eine Abweichung von den §§ 170 ff. zu sehen scheint (vgl. auch die übernächste Fn.). Eine solche liegt jedoch nicht vor, da § 171 II nur analog gilt und diese Analogie auch hinsichtlich der Art des externen „Widerrufs“, d. h. des actus contrarius, zu entsprechenden Modifikationen führt, vgl. im Text. 7 Nach der oben § 5 III 1 vertretenen Ansicht handelt es sich dabei jeweils um deklaratorische Erklärungen. 8 a. A. BGH LM Nr. 10 zu § 167 BGB (Bl. 2 Vorder- und Rücks.), wo übersehen ist, daß die Duldungsvollmacht als Scheinvollmacht eine Kundgabe gegenüber dem Dritten darstellt; 5 6
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in Erscheinung getretenen Dulden, und folglich kann auch der actus contrarius nur eine dem Dritten gegenüber in Erscheinung tretende (ausdrückliche oder konkludente) Beendigung des Duldens sein. Bestand die Duldungsvollmacht dagegen gegenüber einem unbestimmten Personenkreis, handelte es sich also um eine nicht empfangsbedürftige konkludente Erklärung an die Öffentlichkeit, so ergeben sich hinsichtlich des actus contrarius Schwierigkeiten. Sicher ist nicht eine Mitteilung an alle in Betracht kommenden Dritten erforderlich, weil das der Lage bei der Vollmachtskundgabe gegenüber einem bestimmten Dritten entspräche; sicher ist andererseits eine solche Mitteilung genügend ebenso wie eine ausdrückliche Erklärung an die Öffentlichkeit, etwa in einer in dem betreffenden Geschäftskreis verbreiteten Zeitung. Fraglich ist nur, in welcher Art sonst der actus contrarius erfolgen kann. Man wird es insoweit genügen lassen müssen, daß der Geschäftsherr gegenüber beliebigen Dritten die Duldung beendet, ebenso wie man den Schein einer Vollmacht aus dem Dulden der Geschäftsabschlüsse mit einer unbestimmten Zahl von Personen gefolgert hat; wie groß diese Zahl sein muß, läßt sich hier ebenso wenig wie dort generell sagen. [148] Beim internen „Widerruf“, d. h. bei der Beendigung des Duldens nur gegenüber dem Vertreter, gilt § 173 analog. Während also bei einem externen „Widerruf“ dessen Zugang unabhängig vom bösen Glauben des Dritten genügt, um die Haftung des Geschäftsherrn auszuschließen, kommt es hier darauf an, ob der Dritte die Beendigung des Duldens kannte oder kennen mußte. Dabei ist zu beachten, daß der Dritte nach Ablauf einer gewissen Zeit u. U. eine Erkundigungsobliegenheit hat;9 besondere Strenge ist insoweit bei der Duldungsvollmacht geboten, weil in dieser ein vergleichsweise schwacher Vertrauenstatbestand liegt und der Dritte daher und auf Grund der übrigen Besonderheiten der Lage weniger Anlaß hat, mit einer Benachrichtigung über den Widerruf zu rechnen. III. Die analoge Anwendung der §§ 171 II, 172 II, 173 BGB auf andere Scheintatbestände als die Scheinvollmacht Auf Grund der oben § 12 IV entwickelten Analogie ist der Rechtsgedanke der §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB auf die Scheingesellschaft, die ScheineinwilliFlume aaO. § 51, 9 a. E. (S. 859), der die Anwendung der §§ 170 ff. ohne Begründung ablehnt, obwohl er in der Duldungsvollmacht eine externe Vollmacht sieht (vgl. § 49, 2 = S. 828, wo die Duldungsvollmacht „mit Selbstverständlichkeit“ unter § 171 subsumiert wird). Wie im Text i. E. RG SeuffArch. 74 Nr. 82 (S. 149); BGHZ 17, 13 (17 f.); BGH WM 60, 863 (866) (beide zur analogen Problematik bei der Scheingesellschaft; vgl. dazu unten III); BGH LM Nr. 13 zu § 167 BGB (Bl. 2 Rücks.); Goldberger aaO. S. 81 f. 9 Vgl. unten S. 506.
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gung, die Scheinausfüllungsbefugnis und die Scheingüterstände zu übertragen. Daraus ergibt sich vor allem, daß auch hier eine lediglich „interne“ Beendigung des Scheintatbestandes Dritten gegenüber nicht ohne weiteres relevant ist. So kann z. B. der Schein des Bestehens einer Gesellschaft mit Wirkung gegenüber Dritten nicht durch eine bloße interne Beendigung der Mitwirkung des betreffenden Scheingesellschafters zerstört werden,10 sondern nur durch eine externe Kundgabe, die den „actus contrarius“ zur Schaffung des Rechtsscheins darstellen muß.11 Wird die Scheingesellschaft oder die Scheinmitgliedschaft nur intern beendet, so ist aber immerhin § 173 BGB zu beachten, und das bedeutet vor allem, daß der Dritte nach Ablauf einer längeren Zeit u. U. eine Prüfungsobliegenheit hat.12 IV. Abgrenzung gegenüber der „Anscheinsvollmacht“ Abschließend ist zu betonen, daß sich die im Vorstehenden entwickelten Grundsätze nicht etwa aus den Regeln über die Anscheinsvollmacht bzw. deren Weiterentwicklung ergeben,13 sondern allein aus analoger Anwendung der für die gesetzlich geregelten Fälle der Scheinvollmacht geltenden §§ 171 II, 172 II, 173 BGB. Der Gegensatz ist nicht rein dogmatischer Art, sondern hat erhebliche praktische Folgen. So kommt es vom hier vertretenen Standpunkt aus z. B. in keiner Weise darauf an, [149] ob der Geschäftsherr die Zerstörung des Vertrauens des Dritten schuldhaft unterlassen hat; insbesondere trägt er bei einer ausdrücklichen Mitteilung an den Dritten das Risiko des Zugangs, ein Ergebnis, das zweifellos dem Gesetz entspricht, sich jedoch mit der Lehre von der Anscheinsvollmacht nicht begründen läßt, weil den Geschäftsherrn i. d. R. am Untergang seiner Erklärung während der Beförderung, z. B. auf der Post, keinerlei Verschulden trifft. Auch hier gilt also entsprechend, was oben14 herausgearbeitet wurde: nur hinsichtlich des Entstehens der Scheinvollmacht kommt es auf Zurechnungsgesichtspunkte an; für den Schutz des Dritten gegenüber ihrem „Erlöschen“ sind diese dagegen unerheblich. [150]
10 Ebenso i. E. wohl BGHZ 17, 13 (17 f.); BGH WM 60, 863 (866); anders aber BGH LM Nr. 10 zu § 167 (zur Duldungsvollmacht im Falle einer Schein-BGB-Gesellschaft). 11 Das dazu oben § 12 II 3 = S. 137 f. und soeben § 13 II Gesagte gilt entsprechend. 12 Vgl. näher unten S. 506; ebenso i. E. BGHZ 17, 13 erster Leitsatz (in den Gründen offen gelassen; vgl. S. 18, wo eine Prüfungspflicht aus „Billigkeitserwägungen“ in Betracht gezogen wird). 13 So versucht der BGH LM Nr. 10 (unter II 6) und Nr. 13 (unter II 3 b) zu § 167 BGB die Problematik zu lösen; ähnlich auch Goldberger aaO. S. 81 f. 14 Vgl. § 12 II 2.
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Zusammenfassung Damit ist die Erörterung der Rechtsscheinhaftung im bürgerlichen Recht abgeschlossen. Es hat sich erwiesen, daß sie sich zwar nicht in einem einzigen Rechtssatz formulieren, aber doch auf wenige verhältnismäßig einfache Prinzipien zurückführen läßt. 1. Wer wissentlich einen Rechtsschein schafft oder nicht beseitigt, muß sich zugunsten gutgläubiger Dritter so behandeln lassen, als entspräche der Schein der Rechtswirklichkeit. Dies ist der „Minimaltatbestand“ der Rechtsscheinhaftung, der für alle Rechtstatsachen gilt. Nur für „drittgerichtete“ Rechtstatsachen gelten dagegen die beiden folgenden Rechtsgrundsätze: 2. Wer eine Rechtstatsache, die typischerweise zur Grundlage von Rechtsgeschäften Dritter bestimmt ist, bewußt nach außen kundgibt, haftet gutgläubigen Dritten auch dann nach Rechtsscheingrundsätzen, wenn er die Unrichtigkeit seiner Kundgabe nicht kannte, insbesondere wenn das zugrunde liegende Rechtsgeschäft an ihm unbekannten Mängeln litt. 3. Wer eine Rechtstatsache, die typischerweise zur Grundlage von Rechtsgeschäften Dritter bestimmt ist, bewußt nach außen kundgibt, kann sich gegenüber gutgläubigen Dritten nicht auf deren nachträgliches Erlöschen berufen, auch wenn ihm das Unterbleiben einer Erlöschensanzeige nicht zurechenbar ist; entsprechend wird auch der gute Glaube an den Fortbestand einer kundgegebenen scheinbaren Rechtslage geschützt. Zwei weitere Probleme haben sich als fundamental herausgestellt: die Frage, wie Willensmängel, die die Kundgabe selbst ergreifen, zu behandeln sind, und die Frage, ob auch eine Einstandspflicht für einen Vertrauenstatbestand gegeben sein kann, dessen Schaffung demjenigen, gegen den er spricht, nicht bewußt war. Aus der Beantwortung der ersten Frage ergab sich das vierte Prinzip : 4. Die Zurechnung des Rechtsscheins ist grundsätzlich ausgeschlossen, wenn die Schaffung des Scheintatbestandes auf einem Willensmangel i. S. der § 116 ff. BGB beruhte; eine Ausnahme gilt nur hinsichtlich der Kundgabe solcher Rechtsgeschäfte, die zur Grundlage von Rechtsgeschäften einer unbestimmten Vielzahl von Personen bestimmt sind. Die zweite Frage wurde dagegen für das bürgerliche Recht generell verneint, weil sonst untragbare Wertungswidersprüche gegenüber der Regelung des fehlenden Erklärungsbewußtseins im BGB entstanden wären. Ob für das Handelsrecht etwas anderes gilt, wird noch zu prüfen sein. 5. Hat ein staatlicher Hoheitsakt an der Schaffung des Scheintatbestandes mitgewirkt (wie im Beispiel der fehlerhaften Ehe), so tritt die Haftung unabhängig von jeglichen Zurechnungsgesichtspunkten ein.
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Dritter Abschnitt Die Rechtsscheinhaftung in den übrigen Gebieten des Zivilrechts Die bisherigen Erörterungen haben gezeigt, daß sich im bürgerlichen Recht auf der Grundlage der positivrechtlichen Ansatzpunkte des BGB ein verhältnismäßig [151] weitgehender Rechtsscheinschutz verwirklichen läßt. Indessen war es nicht dieses Gebiet, sondern das Handels- und Wertpapierrecht, das historisch gesehen den Wegbereiter der Rechtsscheinhaftung gebildet hat. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß hier ein gesteigertes Verkehrsschutzbedürfnis besteht und daß diesem der Rechtsscheingedanke in ganz besonderem Maße entgegenkommt. Dementsprechend hat sich im Handels- und Wertpapierrecht schon verhältnismäßig früh eine Reihe von – heute z. T. bereits gewohnheitsrechtlich verfestigten – Rechtssätzen über die Rechtsscheinhaftung gebildet, und es gilt daher nunmehr zu klären, inwieweit sich diese ohne weiteres in die bisher entwickelten allgemeinen Prinzipien einordnen lassen oder inwieweit ihnen andersartige Rechtsgedanken zugrunde liegen. Erster Unterabschnitt Die Erklärung der traditionellen handelsrechtlichen Rechtsscheinhaftung mit Hilfe der bürgerlich-rechtlichen Rechtsscheinprinzipien § 14 Rechtsscheinhaftung und Handelsregister Wichtigstes Mittel zur Verwirklichung des Verkehrs- und Vertrauensschutzes im Handelsrecht ist das Handelsregister, und dementsprechend ist der Ausgangspunkt der handelsrechtlichen Rechtsscheinhaftung § 15 HGB. I. Der Anwendungsbereich des § 15 Abs. I HGB und seine Grenzen 1. § 15 Abs. I HGB erfüllt dieselbe Funktion wie die §§ 68, 1412 II BGB und bringt daher gegenüber diesen dogmatisch gesehen nichts wesentlich Neues: er
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dient hauptsächlich1 dem Schutz des guten Glaubens an den Fortbestand einer bestimmten Rechtstatsache. Auch diesen gewährleistet er freilich nicht vollständig, da er nur für eintragungspflichtige Rechtstatsachen gilt. In den übrigen Fällen greifen jedoch insoweit ohne weiteres die oben in den §§ 12 f. entwickelten Rechtssätze ergänzend ein;2 insbesondere sind die §§ 170, 171 II, 172 II, 173 BGB in dem praktisch sehr wichtigen Fall der Handlungsvollmacht sogar unmittelbar anwendbar. [152] Das wichtigste noch ungelöste Problem im Bereich des § 15 I HGB ist die Frage, ob dieser auch bei Nichteintragung der voreintragungspflichtigen Tatsache zum Zuge kommt. Die h. L.3 bejaht das, doch ist sie schon vor Jahrzehnten von A. HUECK, mit dessen Argumenten sie sich niemals auseinandergesetzt hat, widerlegt worden.4 Sie führt nicht nur, wie Hueck gezeigt hat, zu absurden Ergebnissen und zu krassen Wertungswidersprüchen, sondern sie verstößt vor allem auch ohne Grund gegen den die ganze Rechtsscheinlehre beherrschenden Gedanken, daß stets ein Scheintatbestand gegeben sein muß und daß daher grundsätzlich nur der gute Glaube an eine irgendwie kundgemachte Rechtslage geschützt wird. An einer derartigen Kundmachung fehlt es nämlich – anders als bei einer „Voreintragung“, die ja selbst eine solche darstellt! – in den einschlägigen Fällen häufig, und wo sie doch stattgefunden hat, greift schon das erwähnte, aus den §§ 170, 171 II, 172 II BGB entwickelte allgemeine Prinzip ein, so daß es insoweit des Rückgriffs auf § 15 I HGB gar nicht bedarf. Nur bei dieser Lösung ist einerseits der – letztlich wohl auch hinter der h. L. stehenden – Notwendigkeit, einen Vertrauensschutz in den Fällen zu gewähren, in denen die fragliche Rechtstatsache trotz ihrer Nichteintragung bekannt geworden ist, Rechnung zu tragen und kann an1 Daneben dient er auch noch dem Schutz des guten Glaubens bei Abweichungen von der „normalen“, insbesondere von der durch das dispositive Recht als Regelfall festgelegten Rechtslage. 2 Dabei wird man eine Kombination mit § 15 HGB insofern für möglich ansehen dürfen, als man die Eintragung des „Erlöschens“ einer Scheinprokura, einer Schein-OHG oder des Scheins eines anderen an sich eintragungsfähigen Rechtsverhältnisses zulassen sollte, wenn die Eintragung die Voraussetzungen eines actus contrarius zu der vorhergehenden Kundgabe erfüllt, wenn also die Kundgabe in Form einer (ausdrücklichen oder konkludenten) Erklärung an die Allgemeinheit erfolgt ist; denn mag auch das „Entstehen“ der – lediglich scheinbaren! – Rechtstatsache nicht eintragungsfähig gewesen sein, so stellt doch die Eintragung die sachgerechteste Form eines „Widerrufs“ gegenüber der Öffentlichkeit dar, und außerdem ist auch insoweit der Grundsatz zu beachten, daß die Rechtsfolgen bei einer scheinbaren Rechtslage denen bei der entsprechenden wirklichen Rechtslage so weit wie möglich gleichzustellen sind. Registerrechtliche Förmlichkeiten sind dabei sinngemäß abzuwandeln, so daß nur die wahre Rechtslage klarzustellen, nicht etwa die Scheinrechtslage voreinzutragen und wieder zu löschen ist (wodurch ja Falsches eingetragen würde!). 3 Vgl. statt aller Keim, Das sogenannte Publizitätsprinzip im deutschen Handelsrecht, 1930, S. 73 f.; Schlegelberger-Hildebrandt § 15 Rdz. 13 (letzter Absatz); RGR-Komm. (Würdinger) § 15 Anm. 5 m. Rspr.-Nachw. 4 Vgl. AcP 118, 350 ff.; zustimmend Naendrup, Heymann-Festschrift, 1931, S. 920 Fn. 212.
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derseits der Gefahr vorgebeugt werden, daß eine Rechtsscheinhaftung ohne einen entsprechenden Scheintatbestand bejaht wird; denn nur die Heranziehung des den §§ 170, 171 II, 172 II, 173 zugrunde liegenden Prinzips, nicht aber auch die von der h. L. befürwortete einschränkungslose Anwendung des § 15 I HGB erlaubt die von der Sache her gebotene Differenzierung danach, ob die fragliche Rechtstatsache verlautbart war oder nicht. 2. § 15 I HGB enthält nun freilich nur den Grundsatz der „negativen Publizität“ und betrifft folglich lediglich den Fall, daß eine eintragungspflichtige Tatsache nicht im Register verlautbart ist, nicht aber auch den zumindest ebenso wichtigen Fall, daß sie zwar eingetragen ist, daß die Eintragung aber falsch ist. Das ist zweifellos eine Lücke im System des handelsrechtlichen Rechtsscheinschutzes, und daher haben Rechtsprechung und Wissenschaft eine Reihe von Möglichkeiten entwickelt, um hier gleichwohl zu einem befriedigenden Vertrauensschutz zu kommen. Vor allem die „Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit“ und die beiden „gewohnheitsrechtlich anerkannten Sätze über Erklärungen zum Handelsregister“ sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Mögen diese durch die unlängst erfolgte Einfügung des neuen Abs. III in § 15 HGB auch einiges von ihrer praktischen Bedeutung [153] verloren haben, so verdienen sie doch nichtsdestoweniger auch heute noch eine nähere Untersuchung; denn zum einen sind sie dogmengeschichtlich und systematisch insofern von großem Interesse, als sie einen der wesentlichsten Ansatzpunkte für die Entstehung der Rechtsscheinlehre darstellen, und zum anderen haben sie, wie noch zu zeigen sein wird,4a nach wie vor auch einen nicht unerheblichen praktischen Anwendungsbereich. II. Ablehnung der Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit „Eine für die Allgemeinheit bestimmte, in diesem Sinne öffentliche Erklärung hat eine selbständige juristische Bedeutung; wer sie in handelsüblicher Weise abgibt, muß sich gefallen lassen, daß jeder Dritte ihren Inhalt für richtig hält.“ So lautet diese Theorie in der Formulierung EHRENBERGS.5 Sie hat in der Rechtsprechung des RG eine bedeutsame Rolle gespielt6 und ist auch von der Wissenschaft weitgehend übernommen worden.7 Gleichwohl verdient sie keine Zustimmung. Vgl. unten IV 2. Ehrenbergs Handbuch I, 1913, S. 645. 6 Vgl. z. B. RGZ 51, 33 (37); 76, 439 (441); 89, 97 (98) und 163; 93, 227 (228); 142, 98 (104, 105, 107, 108); 145, 155 (158); 164, 115 (123). Zur älteren Rspr. vgl. die Darstellung bei Fester, Die Bedeutung des Eintrags im Handelsregister, Diss. Marburg 1911, S. 66 ff. 7 Außer Ehrenberg aaO. vgl. z. B. Jacobi JherJb. 70, 303 f. und 332 f.; Schlegelberger-Hildebrandt § 5 Rdzn. 9 ff. und § 15 Rdz. 22; Schlegelberger-Gessler § 123 Rdz. 11; RGR-Komm. (Weipert) § 105 4a 5
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1. Die Theorie von der Erklärung an die Öffentlichkeit ist wohl das wichtigste Beispiel für das Mißverständnis, „rechtsgeschäftliche“ Wirkungen könnten nur aus einem Rechtsgeschäft folgen. Ganz im Banne des „Willensdogmas“ stehend, sah man offenbar keinen anderen Weg als den der Annahme einer Willenserklärung, um z. B. die Rechtssätze über die Scheingesellschaft oder den Scheinkaufmann zu begründen. So heißt es in der Rechtsprechung des RG immer wieder, in dem Auftreten des Scheingesellschafters liege die „Erklärung, als Gesellschafter haften zu wollen“8 oder in der Eröffnung des Geschäftsbetriebes einer fehlerhaften Gesellschaft sei die „Erklärung an die Öffentlichkeit“ zu erblicken, „haften zu wollen“, auch wenn die Gesellschaft nicht bestehe.9 Insbesondere eine Erklärung zum Handels- [154] register sei „eine besonders deutliche und allgemein gehaltene Erklärung, ... wie ein Gesellschafter haften zu wollen“.10 Im Schrifttum werden die Regeln über den Scheinkaufmann z. T. noch heute auf die „in der Eröffnung und Unterhaltung eines dem Anschein nach kaufmännischen Betriebes liegende Kundgabe des Willens, im Verkehr als Kaufmann gelten zu wollen“, gestützt.11 Ersichtlich soll also die „Erklärung an die Öffentlichkeit“ rechtsgeschäftlichen (oder doch wenigstens rechtsgeschäftsähnlichen12) Charakter haben. Daß diese Theorie unhaltbar ist, läßt sich unschwer beweisen. Die Konstruktion einer Erklärung, als Gesellschafter oder als Kaufmann haften zu wollen, beruht nämlich auf einer offensichtlichen Fiktion. Niemand will sich z. B. mit der Anmeldung einer OHG zum Handelsregister verpflichten, für deren Schulden auch in dem Falle aufzukommen, daß er etwa durch arglistige Täuschung zum Beitritt bewogen worden ist;13 er will vielmehr nur seiner gesetzlichen AnmelAnm. 78; v. Gierke § 12 V l a und § 13 III 2; Capelle § 3 III 4 a; Lehmann, Handel und Gewerbe, 3. Aufl. 1943, § 10 IV 1; Hueck, Das Recht der OHG, § 5 III bei Fn. 23; Würdinger, Recht der Personalgesellschaften, 1957, § 23 III 2 und Aktienrecht § 17 B IV 3 a; vgl. ferner die Dissertationen von Fester aaO. S. 59 ff., 93 ff.; Granzow, Der Schutz des Vertrauens auf öffentliche Erklärungen im Handelsverkehr, Breslau 1926, S. 15 ff.; Klügel, Die Haftung aus dem rechtswirksamen und dem Scheineintritt als Gesellschafter usw., Göttingen o. J., S. 47 ff.; Stuckart, Erklärungen an die Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1925, S. 4 ff.; Gallewski, Wie weit können Publizitätsfunktionen des Handelsregisters durch Erklärungen an die Öffentlichkeit erweitert werden? Freiburg 1932, S. 28 ff. 8 Vgl. RGZ 145, 155 (158); Hervorhebung hinzugefügt. 9 Vgl. RGZ 142, 98 (105); Hervorhebung hinzugefügt. 10 Vgl. RG aaO.; Hervorhebung hinzugefügt. 11 Vgl. Schlegelberger-Hildebrandt § 5 Rdz. 10; ganz im Banne des Willensdogmas steht auch der grundlegende Aufsatz von A. Hueck über den Scheinkaufmann ArchBürgR 43, 415 ff. vgl. insbesondere S. 435 f., 449, 451; ähnlich auch Staub-Bondi Anh. zu § 5 Anm. 1; v. Gierke § 13 III 2. 12 So Hildebrandt aaO.; vgl. auch schon Fester aaO. S. 60 ff. 13 Das RG sieht diesen Einwand allerdings und versucht ihm mit der Behauptung zu begegnen, die Bedeutung der Erklärung sei verkehrsmäßig entsprechend typisiert, vgl. RGZ 142, 98 (104). Abgesehen davon, daß eine solche Typisierung nicht besteht und auch gar nicht bestehen kann, weil sie dem typischen Willen nicht nur nicht entspricht, sondern geradezu wider-
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dungspflicht nachkommen und sonst nichts.14 Auch ist mit Hilfe der Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit nicht zu begründen, warum nur Gutgläubige geschützt werden;15 denn die Bindung kraft Rechtsgeschäfts träte unabhängig vom guten Glauben des anderen Teils allein auf Grund der privatautonomen Setzung einer Regelung ein. Schließlich und vor allem aber fehlt es in den hier zu lösenden Fällen an dem essentiale des Rechtsgeschäftsbegriffs: es wird nichts in Geltung gesetzt. Wenn jemand z. B. behauptet, er sei Kaufmann oder Mitglied einer OHG, so gibt er damit lediglich deklaratorisch das Bestehen einer bestimmten Rechtslage kund, an die ex lege die fragliche Folge geknüpft ist. Es ist daher logisch ausgeschlossen, in diese Erklärung den Willen hineinzudeuten, die Rechtsfolge solle ex voluntate eintreten; denn da die Erklärung objektiv und für den anderen Teil erkennbar den Sinn hat, die Rechts- [155] folge gelte ohnehin schon kraft Gesetzes, kann sie nicht außerdem den Sinn haben, die Rechtsfolge solle kraft Rechtsgeschäfts erst noch in Geltung gesetzt werden. In der Tat ist es z. B. gänzlich lebensfremd und geradezu widersprüchlich, in der Behauptung, jemand sei Kaufmann, die Erklärung zu sehen, er wolle wie ein Kaufmann behandelt werden: zu vereinbaren, daß für das Rechtsgeschäft die für Kaufleute geltenden Bestimmungen Anwendung finden sollen, bestünde doch allenfalls dann ein Anlaß, wenn dem anderen Teil bekannt wäre, daß sie nicht ohnehin gelten, oder wenn er wenigstens Zweifel in dieser Richtung hätte. Dann aber wäre er bösgläubig, und die Lehre von der „Erklärung an die Öffentlichkeit“ würde daher nach ihrer eigenen Voraussetzung gerade nicht eingreifen – ein vollendeter Widersinn. In Wahrheit ist die Problematik, die man mit Hilfe dieser Theorie zu lösen versucht, daher ein Musterbeispiel für die in dieser Arbeit immer wieder betonte Notwendigkeit, rechtsgeschäftliche und das heißt konstitutive Erklärungen und rein deklaratorische Kundgaben zu unterscheiden: bei letzteren liegt keine Bindung kraft Rechtsgeschäfts, sondern allenfalls Haftung kraft Rechtsscheins vor. 2. Man könnte nun allerdings versuchen, die Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit dadurch zu retten, daß man sie von ihrer rechtsgeschäftlichen Grundlage löst und in die Rechtsscheinhaftung einordnet. Das würde indessen voraussetzen, daß wenigstens dem Merkmal der „Öffentlichkeit“ ein unterscheidender und erklärender Wert zukommt, daß also für Erklärungen an die Allgemeinheit andere Rechtssätze gelten als für Kundgaben gegenüber einzelnen. Dies spricht, bleibt jedenfalls das Bedenken, daß es sich um eine rein deklaratorische Erklärung handelt, vgl. sogleich im Text. 14 Richtig daher insoweit Wieland I S. 236; zur Kritik an dem rechtsgeschäftlichen Ausgangspunkt der Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit vgl. ferner Müller-Erzbach JherJb. 83, 261 (vgl. aber auch S. 277); Klügel aaO. S. 53 ff.; Larenz JW 1934, 225; Lobedanz, Der Einfluß von Willensmängeln auf Gründungs- und Beitrittsgeschäfte, 1938, S. 76 ff.; Kleppe, Die Anfechtung des Beitritts zu Personal- und Kapitalgesellschaften des Handelsrechts, 1936, S. 16 ff. 15 Für den Schutz Bösgläubiger in der Tat Fester aaO. S. 95, der jedoch keine Gefolgschaft gefunden hat.
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ist indessen nicht der Fall. Denn einerseits beweist das Beispiel der Auslobung, daß keineswegs bei allen Erklärungen an einen unbestimmten Personenkreis die – für die Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit charakteristische – Einschränkung der Regeln über die Willensmängel sinnvoll ist, und andererseits ist in Rechtsprechung16 und Literatur17 anerkannt, daß auch bei Kundgaben gegenüber einem „einzelnen“ dieselben Rechtssätze eingreifen können wie bei „Erklärungen an die Öffentlichkeit“; in der Tat leuchtet es z. B. unmittelbar ein, daß es keinen Unterschied machen kann, ob sich jemand in einer Zeitungsannonce, einem Rundschreiben usw. als Kaufmann bzw. als Mitglied einer OHG ausgegeben hat oder ob er eine entsprechende Erklärung lediglich gegenüber seinem Geschäftspartner abgibt: dieser ist in beiden Fällen gleich schutzwürdig. Allerdings wird mitunter die Ansicht vertreten, für die Erklärungen an die Öffentlichkeit seien insofern Besonderheiten anzuerkennen, als es auf die Kausalität [156] der Erklärung nicht ankomme.18 Soweit damit gemeint ist, der Erklärende sei unabhängig davon gebunden, ob der Dritte überhaupt eine bestimmte Disposition vorgenommen hat,19 handelt es sich um eine Auswirkung der unhaltbaren rechtsgeschäftlichen Qualifizierung der Erklärungen an die Öffentlichkeit: die Bindung kraft einseitigen Rechtsgeschäfts tritt – vorbehaltlich der Frage des Widerrufs – in der Tat unabhängig von einer Maßnahme des Dritten ein; bei einer Einordnung in die Rechtsscheinhaftung läßt sich dies jedoch nicht aufrechterhalten, da der Dritte grundsätzlich nur Schutz verdient, wenn er sein Vertrauen „betätigt“ hat.20 Der Verzicht auf die „Kausalität“ kann aber auch noch einen anderen Sinn haben: er kann als Verzicht auf das Erfordernis der Kenntnis des Dritten von der Erklärung im Augenblick seiner „Disposition“ gemeint sein.21 Indessen ist die Unerheblichkeit der Kenntnis des Scheintatbestandes ein Spezifi-
16 Vgl. z. B. RGZ 89, 163; 164, 115 (123); anders offenbar RGZ 142, 98 (107 f.), doch ist die Entscheidung nicht repräsentativ, da es in Wahrheit um den – i. E. gerechtfertigten – Ausschluß der Haftung gegenüber Altgläubigern ging (vgl. dazu unten § 15 II 5). Vgl. ferner die Nachweise bei Lobedanz aaO. S. 68 ff. 17 Vgl. z. B. Hueck, Das Recht der OHG, § 5 III a. E. (S. 35) für die Scheingesellschaft; Schlegelberger-Hildebrandt § 5 Rdz. 5 a. E. für den Scheinkaufmann; vgl. auch allgemein RGRKomm.2 (Würdinger) § 5 Anm. 9 (wo allerdings nicht die Theorie der Erklärung an die Öffentlichkeit vertreten wird); a. A. folgerichtig Ehrenberg aaO. S. 646: Fester aaO. S. 94; Granzow aaO. S. 21. 18 So wohl RGZ 142, 98 (107 f.); vgl. ferner Fester aaO. S. 95; Lobedanz aaO. S. 87; RGRKomm.2 (Weipert) § 105 Anm. 78 a. E.; Schlegelberger-Gessler § 123 Rdz. 15; Hueck OHG-Recht § 5 Fn. 28; offengelassen BGHZ 17, 13 (18). 19 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem die Problematik der Haftung eines in ein Handelsgeschäft oder eine OHG Eingetretenen gegenüber den Altgläubigern und dazu unten § 15 II 5. 20 Vgl. allgemein unten § 40 III. 21 Das haben insbesondere Weipert, Gessler und Hueck aaO. im Auge.
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kum des Registerschutzes – und selbst dort ist sie höchst problematisch;21a auf die übrigen Fälle der Rechtsscheinhaftung ist sie keinesfalls übertragbar.22 Besondere Rechtssätze über die Erklärung an die Öffentlichkeit lassen sich demnach nicht aufstellen, sofern man nicht doch wieder zu der verfehlten Einordnung in die Rechtsgeschäftslehre Zuflucht nehmen will. Die Lehre von der „Erklärung an die Öffentlichkeit“ ist daher sowohl hinsichtlich ihrer dogmatischen Grundlegung als auch hinsichtlich ihrer praktischen Ausformung unhaltbar. An ihr auch heute noch festzuhalten, wie das z. B. SCHLEGELBERGER-HILDEBRANDT und V. GIERKE tun,23 ist ein methodologischer Anachronismus. III. Die „gewohnheitsrechtlich anerkannten Sätze“ über Erklärungen zum Handelsregister Die wohl wichtigste praktische Konsequenz aus der Lehre von der „Erklärung an die Öffentlichkeit“ sind die beiden heute gewohnheitsrechtlich gesicherten Rechtssätze, die Rechtsprechung und Wissenschaft hinsichtlich der Bindung an eine von Anfang an unrichtige Registereintragung entwickelt haben. Sie lauten in der Formulierung J. V. GIERKES: „Wer eine Anmeldung zum Handelsregister vornimmt, kann von einem gutgläubigen Dritten an dieser Erklärung festgehalten werden, auch wenn [157] sie unrichtig ist“ und „Wer es schuldhafterweise unterläßt, für die Beseitigung einer unrichtigen Eintragung zu sorgen, haftet dem nichtswissenden Dritten nach Maßgabe der unrichtigen Eintragung“.24 Das bedeutet nicht etwa, daß Eintragungen im Handelsregister danach öffentlichen Glauben genössen wie Eintragungen im Grundbuch; von einem solchen echten Registerschutz unterscheiden sich die beiden Rechtssätze vielmehr anerkanntermaßen in dreifacher Hinsicht: zum ersten handelt es sich hier um Tatbestände einer Haftung kraft zurechenbaren Verhaltens und nicht wie dort um Ausprägungen des reinen Rechtsscheinprinzips,25 zum zweiten genügt nicht das bloße Bestehen der Eintragung, sondern diese muß kausal für das Handeln des Dritten gewesen sein,26 und zum dritten ist die Schaffung eines derartigen Scheintatbestandes nicht nur durch
Vgl. dazu unten § 40 II 1. Vgl. auch sogleich bei Fn. 26 und die dort Zitierten sowie unten § 40 II 2. 23 Vgl. § 5 Rdzn. 9 ff. bzw. § 13 III 2 (vgl. auch § 12 V 1 a); vgl. ferner z. B. BGHZ 18, 248 (250); Richert NJW 59, 1807 und MDR 60, 977. 24 Vgl. § 12 V 1 a und b. 25 Zur Terminologie und zur Problematik vgl. näher unten § 37 II 1. 26 Vgl. Ehrenberg aaO. S. 649; RGR-Komm. (Würdinger) § 15 Anm. 23 (unter c); SchlegelbergerHildebrandt § 5 Rdz. 13 und § 15 Rdz. 7; Baumbach-Duden § 15 Anm. 5 B; vgl. aber auch die Zitate oben Fn. 18. 21a 22
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Eintragung im Register, sondern auch außerhalb desselben, z. B. durch mündliche Erklärungen oder durch konkludentes Verhalten,27 möglich. Was nun die dogmatische Einordnung dieser Rechtssätze angeht, so liegt es heute – ebenso wie bei allen anderen ursprünglich aus der Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit abgeleiteten Regeln – auf der Hand, daß sie der Rechtsscheinhaftung zuzuordnen sind. Problematisch ist nur noch ihre Stellung innerhalb dieser. Insoweit ergeben sich zwei verschiedene Fragenkreise: zum einen ist zu klären, ob sie sich ohne weiteres mit Hilfe der im bisherigen Verlauf der Erörterung für das bürgerliche Recht entwickelten und daher grundsätzlich auch für das Handelsrecht geltenden allgemeinen Rechtsscheinprinzipien erfassen lassen, und zum anderen bedarf es der Untersuchung, wie sich die von der h. L. vorgenommene Verknüpfung mit dem Veranlassungs- bzw. dem Verschuldensprinzip zu der schon mehrfach angedeuteten und in dieser Arbeit in der Tat generell befürworteten28 Heranziehung des Risikoprinzips verhält. 1. Was die erste Frage betrifft, so ist von vornherein klar, daß der Minimaltatbestand der Rechtsscheinhaftung, die Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins, zur Erklärung der beiden fraglichen Rechtssätze nicht ausreicht; denn deren Fassung schließt jeden Zweifel daran aus, daß sie nicht nur dann eingreifen, wenn der Betroffene das Vorliegen des Scheintatbestandes durchschaut hat. Dagegen erweisen sich die zusätzlich entwickelten spezielleren Prinzipien29 ohne weiteres auch hier als passend und ausreichend: die zum Handelsregister angemeldeten Rechtsverhältnisse – etwa eine Prokura oder eine Gesellschaftsgründung – sind typischerweise zur Grundlage von Rechtsgeschäften Dritter bestimmt, und daraus ergibt sich, daß die Haftung auch dann eintritt, wenn derjenige, gegen den [158] der Rechtsschein spricht, die fragliche Kundgabe selbst irrtümlich für richtig hält; und die zum Handelsregister angemeldeten Rechtsverhältnisse dienen auch typischerweise als Grundlage von Rechtsgeschäften einer unbestimmten Vielzahl von Personen, und daraus folgt, daß die Vorschriften über Willensmängel auf die Kundgabe keine analoge Anwendung finden. Genau das sind nun die Ergebnisse, zu denen insoweit auch die h. L. kommt,30 und da auch Insoweit a. A. Ehrenberg aaO. S. 645; vgl. im übrigen die Nachw. in Fn. 16 und 17. Vgl. eingehend unten § 38 III. 29 Vgl. die Zusammenfassung oben S. 150. 30 Vgl. z. B. RGZ 142, 98 (104); 145, 155 (158 f.); 165, 193 (204); Ehrenberg aaO. S. 648; Fester aaO. S. 96 ff.; Granzow aaO. S. 43 f.; Stuckart aaO. S. 9 ff.; Gierke § 12 V 1 a α; RGR-Komm. (Würdinger) § 15 Anm. 22; Schlegelberger-Hildebrandt § 5 Rdz. 11 und § 15 Rdz. 22. Im Schrifttum wird freilich i. d. R. nicht hinreichend zwischen Mängeln des kundgegebenen Rechtsgeschäfts und Mängeln der Kundgabe selbst unterschieden; nur hinsichtlich der letzteren kann sich aber die Frage einer analogen Anwendung der §§ 116 ff. BGB überhaupt stellen, da die ersteren lediglich einen – als solchen unbeachtlichen – Motivirrtum bei der Kundgabe zur Folge haben und allenfalls unter dem ganz anderen Gesichtspunkt einer gerechten Verteilung des „Richtigkeitsrisikos“ erheblich sind. 27 28
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die Gleichstellung des Unterlassens mit dem positiven Tun im Gesamtsystem der Rechtsscheinhaftung keine Irregularität bildet,31 bestehen hinsichtlich dieses Problemkreises32 zwischen der bürgerlichrechtlichen und der handelsrechtlichen Rechtsscheinhaftung grundsätzlich33 keine Unterschiede. Die Entwicklung der Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit war daher ebenso überflüssig, wie die Annahme eines besonderen Handelsgewohnheitsrechts verfehlt ist, lassen sich die gewünschten Ergebnisse doch, wie im zweiten Abschnitt ausführlich dargelegt, in verhältnismäßig gesetzesnaher Weise aus dem BGB begründen; für das Handelsrecht besonders fruchtbar hätten dabei vor allem die §§ 170 ff. BGB sein können, die z. B. auf die Prokura unmittelbar anwendbar sind und deren Rechtsgedanke sich auf Grund ihrer (analogen oder sogar unmittelbaren) Geltung für die BGB-Gesellschaft34 geradezu mit einem argumentum a fortiori auf die Schein-OHG und die fehlerhafte OHG hätte übertragen lassen – von wo aus es dann kein allzu kühner Schritt mehr zur Lehre vom Scheinkaufmann gewesen wäre. Die Einordnung in den allgemeineren Zusammenhang zeigt zugleich freilich auch die Grenzen dieser handelsrechtlichen Rechtsscheinhaftung auf. So muß man sich z. B. davor hüten, unter Berufung auf das besondere Verkehrsschutzbedürfnis des Handels etwa einen verschärften Einwendungsausschluß im Zessionsrecht anzunehmen. Ebenso wäre es unzutreffend, im Handelsrecht besondere Grundsätze über die Kundgabe einer Vollmacht oder die Mitteilung einer Schuldübernahme zu behaupten. Vielmehr bleibt es insoweit bei der Regelung des bürgerlichen Rechts; das bedeutet z. B., daß auch unter Kaufleuten bei einer Zession grundsätzlich nur solche Einwendungen ausgeschlossen sind, die der Schuldner kannte,35 [159] und daß bei der Kundgabe einer internen Vollmacht oder einer internen Schuldübernahme grundsätzlich36 nur Mängel des zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts, nicht auch solche der Kundgabe selbst präkludiert sind.37 Weiter zu gehen ist auch dann nicht gerechtfertigt, wenn man entgegen der hier vertretenen Ansicht die Auflösung der handelsrechtlichen Rechtsscheinhaftung in allgemeinere Prinzipien ablehnt und mit einem besonderen Handelsgewohnheitsrecht arbeitet; denn dieses besteht hinsichtlich der insoweit in Frage stehenden Randprobleme zweifellos noch nicht. Vgl. unten § 38 III 8 und auch sogleich S. 159 f. Vgl. aber auch unten §§ 18 ff. 33 Zu einer – von der h. L. freilich bisher noch nicht einmal vorgenommenen – Erweiterung vgl. sogleich unten S. 161 bei Fn. 51. 34 Vgl. § 7 VII und § 11 II. 35 Vgl. oben § 9 IV und § 11 VI. 36 Das heißt vorbehaltlich der Ausnahme hinsichtlich solcher Vollmachten, die die Grundlage von Rechtsgeschäften mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen bilden, also insbesondere hinsichtlich der Prokura und der Handlungsvollmacht. 37 Vgl. oben § 5 I 2 bzw. § 10 IV. 31 32
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2. Bei der Einordnung der beiden Rechtssätze über unrichtige Erklärungen zum Handelsregister in das in dieser Arbeit entwickelte System der Rechtsscheinhaftung ergibt sich nun allerdings, wie bereits angedeutet, eine gewisse Schwierigkeit noch insofern, als die h. L. als Zurechnungskriterium hier das Veranlassungsprinzip38 – für die Fälle der Herbeiführung einer falschen Eintragung durch positives Tun – und das Verschuldensprinzip39 – für die Fälle der Nichtbeseitigung einer falschen Eintragung – heranzieht. Beide Prinzipien sind aber für die Rechtsscheinhaftung generell abzulehnen, das Veranlassungsprinzip, weil es in Wahrheit überhaupt kein taugliches Zurechnungskriterium darstellt,40 und das Verschuldensprinzip, weil seine Verbindung mit der Rechtsscheinhaftung sowohl problem- als auch systemwidrig ist.41 An ihre Stelle ist richtigerweise das Risikoprinzip zu setzen.42 Tut man dies nun auch im vorliegenden Zusammenhang,43 so zeigt sich, daß sich nicht nur die der Zurechnung zugrunde liegenden Gerechtigkeitsgesichtspunkte wesentlich überzeugender erfassen lassen,44 sondern daß sich auch an den Ergebnissen so gut wie nichts ändert, sich vielmehr im Gegenteil einige innere Widersprüche und Ungereimtheiten der h. L. ohne weiteres beseitigen lassen. So will diese die Haftung z. B. dann grundsätzlich nicht eintreten lassen, wenn die Anmeldung zum [160] Handelsregister richtig war, das Gericht jedoch falsch eingetragen hat.45 Das ist von ihrem Standpunkt aus insofern nicht folgerichtig, als die falsche Ein38 Vgl. Meyer ZHR 81, 386 ff.; Altenburg, Das Publizitätsprinzip des Handelsregisters, Diss. Königsberg, 1911, S. 79 ff.; Düringer-Hachenburg-Hoeniger § 15 Anm. 15; RGR-Komm. (Würdinger) § 15 Anm. 22; Schlegelberger-Hildebrandt § 15 Rdz. 22. 39 Vgl. Ehrenberg aaO. S. 651; Granzow aaO. S. 34 ff.; Lehmann, Handel und Gewerbe, aaO. § 10 IV 2; v. Gierke § 12 V 1 b; Capelle § 3 III 4 b; Düringer-Hachenburg-Hoeniger § 15 Anm. 15; RGR-Komm. (Würdinger) § 15 Anm. 24; Schlegelberger-Hildebrandt § 15 Rdz. 22. 40 Vgl. unten § 38 I. 41 Vgl. unten § 38 II 2. 42 Vgl. unten § 38 III. 43 Vgl. schon Müller-Erzbach, Handelsrecht S. 68 und JherJb. 83, 287; vgl. ferner BaumbachDuden § 15 Anm. 5 C („Gefährdungshaftung“); ablehnend Granzow aaO. S. 9. 44 Vgl. näher unten § 38 III. 45 Vgl. Ehrenberg aaO. S. 646 f.; Meyer ZHR 81, 391 f.; Altenburg aaO. S. 85 ff.; Fester aaO. S. 95; Prausnitz ZHR 96, 10 ff., 19 f.; Wieland I S. 238 f.; RGR-Komm. (Würdinger) § 15 Anm. 24. Anders entscheidet die h. L. freilich im Falle des § 172 I HGB, wenn die Einlage des Kommanditisten trotz richtiger Anmeldung falsch eingetragen worden ist: es soll dann nicht darauf ankommen, ob dem Kommanditisten das Unterbleiben einer rechtzeitigen Berichtigung zuzurechnen ist (vgl. z. B. RGR-Komm. [Weipert] § 172 Anm. 4; Schlegelberger-Gessler § 172 Rdz. 3). Darin liegt indessen entgegen dem ersten Anschein kein Widerspruch. Denn an sich haftet der Kommanditist nach § 176 HGB unbeschränkt, und es ist daher sein Risiko, ob es ihm gelingt, seine Einstandspflicht durch eine rechtzeitige Eintragung zu beschränken; es geht also in Wahrheit gar nicht um die im Text behandelte Problematik ursprünglich unrichtiger Eintragungen, sondern um das Mißlingen einer gesetzlich vorgeschriebenen Verlautbarung, also um einen Fall des § 15 I HGB, bei dem es anerkanntermaßen auf eine Zurechnung generell nicht ankommt (vgl. unten § 37 II 1).
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tragung auch hier durchaus durch den Anmeldenden „veranlaßt“ worden ist – sogar i. S. des Adäquanzprinzips46 –, doch ist das Ergebnis in der Tat überzeugend. Mit dem Risikoprinzip steht es ohne weiteres in Einklang, da der für dieses wesentliche „Mangel“ hier nicht aus der „Sphäre“ des Anmeldenden, sondern aus der des Gerichts stammt47 und da daher der Scheintatbestand jenem hiernach nicht zuzurechnen ist (es sei denn, er hat anschließend dessen Beseitigung zurechenbar unterlassen). – Ein weiteres Beispiel, bei dem die h. L. in Schwierigkeiten gerät, ist der Fall, daß der Betroffene eine ohne seine Mitwirkung zustande gekommene Eintragung schuldlos für richtig hält und deshalb ihre Beseitigung unterläßt. An sich müßte die h. L. hier eine Haftung ablehnen, da sie in derartigen Fällen ja mit dem Verschuldensprinzip arbeitet, doch würde das zu einem Wertungswiderspruch zu dem Fall einer schuldlos unrichtigen Anmeldung führen. Denn in diesem trägt der Betroffene unzweifelhaft das „Richtigkeitsrisiko“ unabhängig von seinem Verschulden – die h. L. zieht insoweit das Veranlassungsprinzip heran! –, und es ist nicht einzusehen, warum das in dem ersten Fall anders sein soll, da der Unterschied von Tun und Unterlassen für diese Frage gänzlich unerheblich ist. Mit dem Risikoprinzip kommt man dagegen ohne weiteres zu der angemessenen Gleichbehandlung der beiden Fälle, da es bei Unterlassungen ebenso eingreift wie bei positivem Tun48 und das Risiko eines Irrtums über die Richtigkeit der Eintragung in beiden Fällen gleichermaßen dem Eingetragenen zuweist. Gewisse Abweichungen der Ergebnisse können sich schließlich in den Fällen [161] ergeben, in denen der Eingetragene eine Berichtigung des Registers deshalb unterläßt, weil er von der falschen Eintragung überhaupt keine Kenntnis erlangt hat. Die h. L. müßte hier folgerichtig darauf abstellen, ob diese Unkenntnis auf Verschulden beruht, während vom hier vertretenen Standpunkt aus zu fragen ist, ob dem Betroffenen das Risiko mangelnder Kenntniserlangung zuzurechnen ist. Letzteres ist nun nach dem Ziff. 1 Gesagten grundsätzlich zu verneinen, da die dort zugrunde gelegten allgemeinen Rechtsscheinprinzipien eine Haftung nur bei bewußter Abgabe einer Erklärung zu begründen vermögen und da dieser nur die bewußte Unterlassung einer Berichtigung, also ein Unterlassen in Kenntnis der Eintragung vergleichbar ist – ein Ergebnis, zu dem überraschenderweise auch die h. L. kommt,49 die insoweit das Verschuldensprinzip ohne erkennbaren Grund durchbricht. Ebenso wie bei Kenntnis der Eintragung ist freilich zu entscheiden, wenn 46 Denn ein solcher Fehler des Gerichts liegt keineswegs außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, was die h. L. selbst voraussetzt, wenn sie dem Anmeldenden eine Prüfungsobliegenheit hinsichtlich der Richtigkeit der Eintragung auferlegt, vgl. z. B. RGZ 131, 12 (15 f.); RG JW 1928, 1586 Nr. 31; Müller-Erzbach JherJb. 83, 290; Stuckart aaO. S. 42 m. Nachw. in Fn. 2; RGRKomm. (Würdinger) § 15 Anm. 24. 47 Zur Maßgeblichkeit dieser Gesichtspunkte vgl. unten S. 480. 48 Vgl. näher unten § 38 III 8. 49 Vgl. Lehmann, Handel und Gewerbe aaO. § 10 IV 2; v. Gierke § 12 V 1 b; SchlegelbergerHildebrandt § 15 Rdz. 22; Baumbach-Duden § 15 Anm. 5 B.
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der Anmeldende von dem Fehler im Register nur deshalb nichts erfahren hat, weil er gemäß § 130 II 2 FGG auf die an sich vorgeschriebene Benachrichtigung durch das Gericht verzichtet hat. Denn dann hat er sich wissentlich um die Kenntnis der Eintragung gebracht, und da er dadurch das Risiko, daß ihm ein eventueller Fehler verborgen bleibt, selbst geschaffen hat, muß man sagen, er habe bei seinem Verzicht „auf eigene Gefahr“ gehandelt; in diesem ein Verschulden zu sehen, ist dagegen entgegen der h. L.50 wohl kaum möglich, da der Anmeldende damit nur von der gesetzlichen Möglichkeit des § 130 II 2 FGG Gebrauch macht und man ein derartiges Verhalten nicht gut als vorwerfbare (!) Pflicht- oder Obliegenheitsverletzung bezeichnen kann – womit sich auch in dieser Frage die Überlegenheit des Risikoprinzips über das Verschuldensprinzip bestätigt. – Erfährt der Eingetragene dagegen deshalb nichts von der Unrichtigkeit des Registers, weil das Gericht ohne seine Zustimmung die Benachrichtigung unterläßt oder weil die Mitteilung nicht den falschen Registereintrag, sondern die richtige Rechtslage enthält, so fehlt jede Verknüpfung des Mangels mit seiner Sphäre, und eine Risikozurechnung scheidet daher aus. – Beruht die Unkenntnis des Eingetragenen schließlich darauf, daß er die zugegangene Mitteilung nicht zu Gesicht bekommen hat, so geht es um das allgemeine Problem der Unkenntnis zugegangener Schreiben im Handelsrecht, und es sind daher dieselben Grundsätze anwendbar wie bei der Unkenntnis eines Antrags i. S. des § 362 HGB oder eines Bestätigungsschreibens.51 Damit wird dann allerdings eine Haftung u. U. auch bei einem unbewußten Verhalten bejaht, und das geht über die bisher entwickelten allgemeinen Rechtsscheinprinzipien nun in der Tat hinaus und bedeutet einen Vorgriff auf eine alsbald näher zu erörternde Problematik. [162] IV. Der Anwendungsbereich des § 15 III n. F. HGB und seine Grenzen Eine wesentliche Neuerung innerhalb der handelsrechtlichen Rechtsscheinhaftung stellt der unlängst eingeführte Absatz III des § 15 HGB dar, wonach eine unrichtig bekanntgemachte Tatsache zugunsten gutgläubiger Dritter als richtig gilt. Es fragt sich daher, wie diese Vorschrift in das System der Rechtsscheinhaftung einzuordnen ist; insbesondere ist zu klären, ob sie zu sachlichen Änderungen gegenüber den insoweit bisher geltenden ungeschriebenen Rechtssätzen führt und welcher Anwendungsbereich für diese daneben noch besteht. 1. Was zunächst die erste Frage betrifft, so könnte eine Änderung vor allem im Übergang zum „reinen“ Rechtsscheinprinzip, d. h. im Verzicht auf das Zu50 51
Vgl. z. B. Ehrenberg aaO. S. 651; Meyer ZHR 81, 392; Stuckart aaO. S. 43. Vgl. dazu unten § 19 und die Verallgemeinerung dieser Rechtssätze § 20.
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rechnungserfordernis liegen; denn dieser ist in unserer Rechtsordnung typisch für die Tatbestände des echten Registerschutzes,52 und so war es denn auch in der Tat die Absicht des Gesetzgebers, die Haftung des durch die Bekanntmachung Betroffenen von den Voraussetzungen des Veranlassungs- und des Verschuldensprinzips unabhängig zu machen.53 Indessen hat dieses Ziel im Wortlaut des Gesetzes keinen zwingenden Niederschlag gefunden, und da zudem das „reine“ Rechtsscheinprinzip wegen seiner außerordentlichen Härte rechtspolitisch höchst fragwürdig ist und deshalb stets einer besonderen Rechtfertigung bedarf,54 ist es keineswegs von vornherein sicher, daß § 15 III HGB wirklich im Sinne einer völligen Abkehr vom Zurechnungsgedanken zu interpretieren ist. Die Zweifel werden verstärkt, wenn man sich die praktischen Konsequenzen vergegenwärtigt, zu denen eine solche Auslegung führen würde. Soll es z. B. wirklich rechtens sein, daß ein Kaufmann die Handlungen eines ihm völlig fremden Prokuristen ohne weiteres gegen sich gelten lassen muß, nur weil dieser infolge eines Druckfehlers als sein Prokurist und nicht als der eines anderen Kaufmanns mit ähnlich klingendem Namen bekannt gemacht worden ist – oder daß jemand allein deshalb für die Schulden einer OHG aufkommen muß, weil er infolge eines Druckfehlers oder auf Grund geschickt gefälschter Eintragungsurkunden als deren Mitglied bekannt gemacht worden ist?55 Und soll das vielleicht sogar dann gelten, wenn der Dritte in diesen Fällen grob fahrlässig war – nach dem Wortlaut des Gesetzes schadet nur positive Kenntnis! – oder wenn er von der Bekanntmachung nicht einmal etwas wußte, also gar nicht auf sie vertraut haben kann – was nach den sonst für die Tatbestände des Registerschutzes anerkannten Regeln56 ebenfalls folgerichtig wäre? Sucht man nun nach Rechtfertigungsgründen für eine derartige Regelung, so liegt es nahe, sie zunächst einmal mit den übrigen schon bisher im geltenden Recht enthaltenen Tatbeständen des reinen Rechtsscheinprinzips zu vergleichen. Dabei ergibt sich jedoch sogleich, daß diese zu weit weniger einschneidenden Konse- [163] quenzen führen und daß sich zu ihrer Begründung wesentlich stärkere Gerechtigkeitsgesichtspunkte anführen lassen. Das gilt insbesondere für die Fälle des gutgläubigen Erwerbs nach §§ 892 f., 935 II, 2366 f. BGB, Art. 16 II WG, 21 SchG. Denn hier ist das Risiko für den Betroffenen ungleich geringer, weil er nur einen ganz bestimmten Gegenstand verlieren kann, während ihm im Falle des § 15 III
Vgl. dazu allgemein unten § 37 II 1. Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucksache V/3862 S. 10. 54 Vgl. näher unten § 37 II 2. 55 Vgl. auch die Beispiele bei von Olshausen BB 70, 140 und Lutter EuR 69, 14 ff. 56 Vgl. dazu näher unten § 40 II 1. 52 53
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HGB die Haftung mit seinem gesamten gegenwärtigen und zukünftigen (!) Vermögen droht;57 auch ist im Grundbuchrecht durch das Institut des Widerspruchs eine Möglichkeit gegeben, den spezifischen Gefahren des Registerschutzes wenigstens teilweise zu begegnen, wohingegen § 15 III HGB ein solches Schutzmittel vermissen läßt.57a Nicht weniger starke, wenn auch andersartige Unterschiede bestehen gegenüber den Tatbeständen des negativen Publizitätsprinzips nach §§ 68, 1412 II BGB, 15 I HGB, 29 I GenG, in denen man ebenfalls Ausprägungen des „reinen“ Rechtsscheinprinzips sehen kann.58 Hier geht es nämlich nur um das Unterbleiben einer Eintragung über eine Änderung der bisherigen Rechtslage oder eine Abweichung von der an sich kraft Gesetzes geltenden Regelung, und dabei erscheint es durchaus sachgerecht, daß derjenige, der dieses Ereignis herbeiführt – der also z. B. eine Prokura widerruft, aus einer OHG austritt oder einen Gütervertrag abschließt – bzw. in dessen Sphäre es eintritt,59 das Risiko einer rechtzeitigen Kundmachung trägt. Denn er hat ja die fragliche Rechtslage zunächst verlautbart60 und auf diese Weise selbst die Gefahr geschaffen, daß gutgläubige Dritte bei ihrer Änderung irregeführt werden,61 bzw. er ist von der gesetzlichen Normalregelung abgewichen und hat so die Täuschung des Dritten, der damit grundsätzlich nicht zu rechnen braucht, mitveranlaßt; auch ist die Änderung – anders als in den zu § 15 III angeführten Fällen – in seinem Rechtskreis erfolgt. – So ergibt sich insgesamt, daß der neue Abs. III des § 15 HGB, wollte man ihn wirklich im Sinne des „reinen“ Rechtsscheinprinzips interpretieren, innerhalb unserer Rechtsordnung völlig isoliert dastehen und eine krasse Systemwidrigkeit bilden würde. Es kommt schließlich hinzu, daß die Vorschrift bei dieser Auslegung auch mit dem unser gesamtes Zivilrecht beherrschenden und verfassungsrechtlich gesicherten Prinzip der Privatautonomie unvereinbar ist. Denn wenn dieses auch nicht schlecht- [164] hin verbietet, vertragsgleiche Wirkungen an andere Tatbestände als an Rechtsgeschäfte zu knüpfen,62 so bedarf es dazu doch stets einer besonderen Rechtfertigung, sollen der Gedanke der Abschlußfreiheit und die ihm 57 Treffend von Olshausen aaO. S. 140, der zusätzlich auch noch mit Recht darauf hinweist, daß den fraglichen Gegenständen von vornherein das Risiko eines Verlusts durch gutgläubigen Erwerb gewissermaßen als immanente Schranke innewohnt. 57a Die Möglichkeit, die Vorschriften über den Widerspruch im Registerrecht analog anzuwenden, ist bisher, soweit ersichtlich, nicht in Betracht gezogen worden; vgl. dazu näher unten § 39 IV 2. 58 Vgl. schon oben § 12 I sowie unten § 37 II 1. 59 Gedacht ist hierbei an die – praktisch wohl sehr seltenen – Fälle einer ipso iure eintretenden Rechtsänderung (vgl. z. B. in verwandtem Zusammenhang § 12 II 1 = S. 135. 60 Soweit eine Kundgabe nicht erfolgt ist, haftet er nicht; vgl. insbesondere die Ausführungen zur Problematik der Nichteintragung der voreintragungspflichtigen Tatsache bei § 15 I HGB oben unter I. 61 Vgl. auch zur eng verwandten Problematik der §§ 170, 171 II, 172 II oben § 12 II 2 = S. 137. 62 Vgl. näher unten § 34 III 1.
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zugrunde liegende Wertung nicht denaturiert werden.62 Eine solche Rechtfertigung liegt nun regelmäßig nur in dem – selbständig neben dem Grundsatz der Selbstbestimmung stehenden – Gedanken der Selbstverantwortung,62 und dieser setzt eben zwingend die Zurechenbarkeit der fraglichen Rechtsfolgen voraus. Mag es daneben auch noch andere Gründe geben, die eine Einschränkung der Privatautonomie zu rechtfertigen vermögen, so ist doch nicht ersichtlich, worin sie hier liegen könnten. Insbesondere kann keinesfalls die bloße Berufung auf angebliche Erfordernisse der Verkehrssicherheit ausreichen, um die dargestellten extremen Rechtsfolgen, die Verträgen „zu Lasten Dritter“ gleichkommen, verständlich zu machen, und auch der Hinweis auf die Absicht des Gesetzgebers, durch § 15 III HGB die „Erste Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts in den Mitgliedstaaten“ zu verwirklichen, verfängt insoweit nicht; denn ganz abgesehen von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit eines solchen Rechtfertigungsversuchs stünde dem auch entgegen, daß § 15 III weit über die Anforderungen der „Richtlinie“ hinausgeht, da diese nur Kapitalgesellschaften und auch bei diesen nur ganz bestimmte eintragungspflichtige Tatsachen betrifft und da sie sich überdies bei richtiger Interpretation63 nur auf Divergenzen zwischen Registereintrag und Bekanntmachung und nicht auch auf unrichtige, aber mit dem Register übereinstimmende Bekanntmachungen bezieht. Der Verzicht auf das Zurechnungserfordernis ist somit durch nichts zu rechtfertigen. Es würde vielmehr zu einem schweren Verstoß gegen die materiale Gerechtigkeit und zugleich – wegen der darin liegenden Systemwidrigkeit – zu einer Verletzung des Gebotes der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit führen. Mehr noch: seine Verfassungsmäßigkeit müßte wegen des nicht hinreichend zu begründenden Eingriffs in die Privatautonomie im Hinblick auf Art. 2 GG und wegen der geradezu willkürlich erscheinenden Gefahr des wirtschaftlichen Ruins von in jeder Hinsicht „unschuldigen“ und an der fraglichen Angelegenheit völlig unbeteiligten Personen auch im Hinblick auf das Willkürverbot des Art. 3 GG schwersten Zweifeln begegnen.64 Daß der Gesetzgeber eine in so vielfältiger Hinsicht angreifbare, ja sogar anstößige Regelung gewollt hat, kann man unmöglich annehmen; er dürfte vielmehr in Wahrheit die Folgen der von ihm beabsichtigten Einführung des „reinen“ Rechtsscheinprinzips nicht einmal geahnt haben, und es erscheint daher [165] wegen dieser „Anschauungslücke“ selbst vom Bo-
Überzeugend von Olshausen aaO. S. 138 f. mit Fn. 139. Zum Zusammenhang zwischen Systemrichtigkeit und wertungsmäßiger Folgerichtigkeit sowie zu deren Rückführbarkeit auf die „formale“ Gerechtigkeit i. S. des Gleichheitssatzes vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 16 ff., 112 ff. und passim. Schon die Systemwidrigkeit allein genügt u. U. zur Annahme eines Verstoßes gegen Art. 3 GG, vgl. eingehend Canaris aaO. S. 125 ff. m. Nachw. aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 63 64
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den der subjektiven Auslegungstheorie aus zulässig und geboten, § 15 III HGB in dieser Hinsicht einschränkend zu interpretieren.65 2. Im praktischen Ergebnis folgt daraus, daß zwischen der falschen Bekanntmachung und dem Verhalten des Betroffenen ein Zusammenhang bestehen muß, der einem der im geltenden Recht anerkannten Zurechnungsprinzipien genügt. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß der Gesetzgeber die Haftung so weit wie möglich ausdehnen wollte, und deshalb ist auch dann, wenn man bisher wie die h. L. z. T. mit dem Verschuldensprinzip gearbeitet hat, nunmehr jedenfalls auf den Risikogedanken abzustellen, da dieser den stärksten Schutz für den Dritten gewährleistet; und aus demselben Grunde ist bei der Einzelausformung der Zurechnung bis an die äußerste Grenze dessen zu gehen, was mit dem Risikogedanken noch vereinbar erscheint. Des näheren ist dabei – nicht anders als vor Inkrafttreten des § 15 III HGB – danach zu unterscheiden, ob die Bekanntmachung auf ein Verhalten des Betroffenen zurückzuführen ist oder ob sie unabhängig davon zustande gekommen ist. Im ersten Fall hat man schon bisher die Zurechnung unter Berufung auf das „Veranlassungsprinzip“ grundsätzlich bejaht, und da das, wie gezeigt, im Ergebnis auch bei Zugrundelegung des Risikoprinzips zutreffend war, ist jetzt selbstverständlich genauso zu entscheiden. Nur in einer Frage wird man über den früheren Rechtszustand hinausgehen können und müssen: wenn trotz einer richtigen Anmeldung eine falsche Bekanntmachung erfolgt, sollte man die Haftung des Betroffenen unabhängig davon bejahen, ob diesem das Unterbleiben einer rechtzeitigen Berichtigung zuzurechnen ist, d. h. auch dann, wenn er umgehend alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, diese aber erst nach Vornahme der fraglichen Disposition zum Erfolg geführt haben.66 Denn das Risikoprinzip ist hier, wie gesagt, bis zur äußersten Grenze seiner Möglichkeiten auszuschöpfen, und wenn auch die entgegengesetzte Lösung an sich wesentlich näher liegt, so ist es mit ihm doch auch vereinbar, Fehler des Gerichts und bei der Publikation unterlaufende Druckfehler noch der Sphäre des Anmeldenden zuzurechnen;67 dessen Angelegenheiten sind es ja immerhin, in denen eine Verlautbarung erfolgen soll, und wenn er sich das Publikationsorgan hierfür auch nicht frei wählen kann, so heißt das doch nicht zwingend, daß man dieses nicht als ein noch im Zusammenhang mit seinem Risikobereich stehendes „Instrument“ für die Kundgabe 65 Ebenso i. E. von Olshausen aaO. S. 142 Sp. 1; vgl. auch schon die Warnungen Lutters aaO. S. 14 und 16. 66 Zur bisherigen Rechtslage vgl. oben S. 159 f. m. Nachw. in Fn. 45. 67 In methodischer Hinsicht wird hier gut deutlich, daß der Spielraum bei der Konkretisierung allgemeiner Rechtsprinzipien für den Gesetzgeber und den Richter verschieden groß ist: während jener bis an die äußerste Grenze dessen gehen kann, was mit dem Prinzip noch vereinbar ist, hat dieser bei der Rechtsfortbildung praeter legem grundsätzlich diejenige Lösung zu wählen, die dem Prinzip am nächsten liegt und dessen Gerechtigkeitsgehalt optimal ausschöpft.
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ansehen kann – ähnlich [166] wie man auch bei der Anwendung der §§ 120, 122 BGB die Risikozurechnung nicht daran scheitern läßt, daß die Übermittlungsanstalt nicht frei bestimmt werden konnte.68 Bei der zweiten Fallgruppe dagegen, in der die Bekanntmachung ohne jede Beteiligung des von ihr Betroffenen an der zugrunde liegenden Anmeldung erfolgt ist, dürfte keine Möglichkeit bestehen, über die oben69 hierzu für die frühere Rechtslage entwickelten Grundsätze hinauszugehen. Insbesondere ist schlechterdings keine Rechtfertigung dafür erkennbar, jedermann generell das Risiko dafür aufzuerlegen, daß er keine Kenntnis von einer ihn betreffenden, ohne seine Mitwirkung zustande gekommenen Bekanntmachung erlangt; außer in den Ausnahmefällen, in denen diese Unkenntnis ihren Grund in den spezifischen Organisationsrisiken eines kaufmännischen Betriebs hat,69a läßt sich eine Zurechnung hier daher nicht bejahen. Selbst bei Kenntnis des Betroffenen aber sind insoweit erhebliche Einschränkungen seiner Haftung erforderlich; denn hier kann ein Versehen des Gerichts oder ein Druckfehler bei der Publikation anders als bei der ersten Fallgruppe nicht seiner Sphäre zugerechnet werden, da die Gründe für die Notwendigkeit einer Eintragung hier ja nicht in seinem Rechtskreis liegen und da er auch die Bekanntmachung nicht einmal mittelbar „veranlaßt“ hat, und folglich muß es in diesen Fällen genügen, daß er umgehend alles in seiner Macht Stehende zur Beseitigung des Fehlers getan hat, mag er auch erst zu spät damit zum Ziel gelangt sein.70 Im übrigen müssen, da eine Zurechnung, wie gezeigt, nach wie vor unerläßlich ist, die allgemeinen Zurechnungsvoraussetzungen71 gegeben sein. Bei vis absoluta, mangelnder und beschränkter Geschäftsfähigkeit, Fälschung, Verfälschung und Vertretung ohne Vertretungsmacht haftet der Betroffene daher nicht71; das ist insbesondere auch hinsichtlich der Geschäftsfähigkeit folgerichtig, da eine Zurechnung ohne die erforderliche Zurechnungsfähigkeit ein Widerspruch in sich wäre und da im übrigen bei einem Verzicht auf diese Voraussetzung auch in dieser Frage ein schwerer und durch nichts zu rechtfertigender Wertungswiderspruch zur Lösung aller anderen vergleichbaren Probleme, vor allem auch zu dem zweifellos nicht weniger verkehrsfreundlichen Wertpapierrecht entstünde.72 Alles in allem ergibt sich somit, daß die Einführung des § 15 III HGB hinsichtlich der Zurechnungsproblematik gegenüber der früheren Rechtslage fast 68 Daß § 120 z. B. auf die Post Anwendung findet, wird im Schrifttum regelmäßig als selbstverständlich vorausgesetzt, vgl. z. B. Staudinger-Coing § 120 Rdz. 3; Soergel-Hefermehl § 120 Rdz. 6. 69 Vgl. S. 160 f. 69a Vgl. S. 161 bei Fn. 51. 70 Vgl. im einzelnen unten § 38 III 8 m. Nachw. in Fn. 66. 71 Vgl. näher unten § 37 I 1. 72 Vgl. auch von Olshausen aaO. S. 142 f.
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nichts geändert hat. Nimmt man hinzu, daß dasselbe auch für die Frage gilt, ob auf seiten des Dritten Kenntnis des Scheintatbestandes zu fordern ist,73 so kann man nur feststellen, daß entgegen dem bekannten Worte KIRCHMANNS durch diesen „Feder- [167] strich des Gesetzgebers“ die bisherige Literatur zu den einschlägigen Fragen keineswegs zu „Makulatur“ geworden ist; im Gegenteil: es hat sich wieder einmal erwiesen, wie dringend der Gesetzgeber für eine sachgerechte Lösung seiner Aufgaben auf eine wissenschaftlich fundierte Konzeption angewiesen ist und wie durchschlagskräftig eine gute Theorie gegenüber einem schlechten Gesetz ist. 3. Das ändert freilich nichts daran, daß die bisherigen ungeschriebenen Rechtssätze nunmehr weitgehend gesetzlich positiviert sind, und es fragt sich daher, ob und inwieweit sie neben ihrer unzweifelhaften Bedeutung für die Auslegung oder Restriktion des § 15 III HGB noch einen selbständigen Anwendungsbereich haben. Die Antwort ergibt sich zunächst daraus, daß sie unstreitig nicht nur für Registereintragungen, sondern auch für alle sonstigen Erklärungen gelten74 und daher für diese letzteren nach wie vor von unveränderter Wichtigkeit sind. Im übrigen ist hier zu beachten, daß § 15 III HGB lediglich die Bekanntmachung erfaßt. Daher gelten die gewohnheitsrechtlichen Rechtssätze auch in allen den Fällen weiter, in denen sich das Vertrauen nicht auf jene, sondern nur auf eine unrichtige Eintragung richtet, sei es, daß die Bekanntmachung richtig und nur die Eintragung falsch war,75 sei es, daß zwar auch die Bekanntmachung falsch war, daß aber die Eintragung einen anderen Fehler enthielt,75 oder sei es, daß die Bekanntmachung nicht oder noch nicht erfolgt ist.76
Vgl. dazu unten S. 508 f. Vgl. oben S. 155 und S. 157 m. Nachw. in Fn. 16 und 17. 75 Der Dritte ist in diesen Fällen nicht unbedingt schutzunwürdig, da von ihm nicht ohne weiteres erwartet werden kann, daß er jeweils Eintragung und Register vergleicht. Auch Abs. II des § 15 HGB greift nicht ein, da er offensichtlich einen Gleichlaut von Eintragung und Bekanntmachung voraussetzt. 76 Vgl. des näheren von Olshausen aaO. S. 144 f., wo sich auch noch weitere Fälle finden. 73 74
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§ 15 Rechtsscheinhaftung und Handelsgesellschaft Unter welchen Voraussetzungen eine Rechtsscheinhaftung bei der Handelsgesellschaft eintritt, ist im Grundsätzlichen durch die Ausführungen des vorhergehenden Paragraphen, die ja die handelsrechtliche Rechtsscheinhaftung ganz allgemein betrafen und die daher auch auf die gesellschaftsrechtlichen Fragen Anwendung finden, bereits geklärt. Die dort gewonnenen Erkenntnisse bedürfen indessen z. T. noch einer gewissen Konkretisierung, und außerdem sind noch einige Sonderprobleme zu erörtern. I. Die Scheinhandelsgesellschaft und die Scheinmitgliedschaft in einer Handelsgesellschaft 1. Eine Scheinkapitalgesellschaft wird praktisch kaum vorkommen; denkbar ist es aber immerhin, daß das Bestehen einer AG oder einer GmbH z. B. durch Aufdrucke auf Briefköpfen oder dgl. vorgetäuscht wird. Gutgläubige Dritte werden dann jedenfalls durch einen Anspruch aus § 179 I BGB, der auf das Handeln für ein nicht bestehendes Rechtssubjekt analoge Anwendung findet,1 geschützt, so daß [168] sie sich zumindest an diejenigen halten können, die als Vertreter der Scheingesellschaft aufgetreten sind; daneben haben sie u. U. auch noch Ansprüche aus § 823 II BGB i. V. m. § 263 StGB und aus § 826 BGB oder nach den Grundsätzen über die Schutzpflichtverletzungen gegen eventuelle „Hintermänner“ oder gegen andere an der Täuschung beteiligte Personen. Die Regeln der Rechtsscheinhaftung können hier dagegen regelmäßig nicht zum Zuge kommen. Insbesondere setzt jemand nicht dadurch den Anschein seiner Haftung, daß er sich als Mitglied einer solchen Gesellschaft ausgibt; denn die Mitglieder einer AG oder einer GmbH brauchen grundsätzlich für deren Schulden nicht persönlich einzustehen, und auch die Vorschriften über die Haftung für eine nicht bezahlte Einlage können keine analoge Anwendung finden, da der Dritte mit einem derartigen Anspruch der Gesellschaft grundsätzlich nicht rechnen kann, sondern davon ausgehen muß, daß die Einlage bezahlt ist. Es besteht auch nicht etwa der Rechtsschein, daß die vorgetäuschte Gesellschaft in Höhe ihres angeblichen Grundkapitals oder wenigstens des gesetzlichen Mindestgrundkapitals über Vermögen verfügt und daß dem Dritten daher eine entsprechende Haftungsgrundlage zur Verfügung steht; denn zwar kann man aus der Existenz einer AG oder einer GmbH schließen, daß diese ursprünglich einmal ein derartiges Vermögen besaß, doch ist es völlig ungewiß, ob und in welcher Höhe es jetzt noch vorhanden ist. Im übrigen aber fehlt es insoweit auch deshalb an einem Scheintatbestand, 1
Vgl. unten S. 538 m. Nachw. in Fn. 67.
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weil dieser den Anschein voraussetzt, als bestünde eine ganz bestimmte Rechtslage,2 und das hieße hier: als seien der Gesellschaft bestimmte Vermögensgegenstände zugeordnet. Nur sofern diese Voraussetzung ausnahmsweise einmal erfüllt sein sollte, soweit also z. B. jemand vorgetäuscht hat, sein Grundstück gehöre der angeblichen Gesellschaft, kommt eine Rechtsscheinhaftung in Betracht.3 2. Von größter praktischer Bedeutung ist die Rechtsscheinhaftung demgegenüber bei den Personengesellschaften, weil hier der Grundsatz der Alleinvertretungsmacht und der unbeschränkten persönlichen Haftung der Mitglieder gilt. Insbesondere kommt es nicht selten vor, daß sich z. B. eine BGB-Gesellschaft als OHG geriert oder daß ein Nichtmitglied sich als Teilhaber einer OHG oder KG ausgibt. Anders als bei der BGB-Gesellschaft läßt sich die Problematik hier nicht in die der Scheinvollmacht auflösen;4 denn die Alleinvertretungsmacht der Gesellschafter einer OHG [169] und der Komplementäre einer KG beruht nicht auf einem Rechtsgeschäft, sondern auf gesetzlicher Anordnung, und auch die persönliche Haftung der Mitglieder tritt ex lege ein. Es genügt daher, daß der in Anspruch Genommene in zurechenbarer Weise den Schein seiner Mitgliedschaft hervorgerufen hat; dann haftet er nach §§ 125, 128 HGB, ohne daß es auf einen zusätzlichen Rechtsschein hinsichtlich der Verpflichtungsmacht desjenigen Gesellschafters, der das fragliche Rechtsgeschäft abgeschlossen hat, ankommt. Zurechenbar ist der Rechtsschein, wenn der Betroffene entweder selbst als Gesellschafter aufgetreten ist oder wissentlich geduldet hat, daß ihn ein anderer als solchen bezeichnete;4a letzteres entspricht den Grundsätzen über die „Duldungsvollmacht“. Schuldhafte Unkenntnis von der Behauptung des anderen wird der
Vgl. allgemein unten § 39 III und S. 527 bei Fn. 7. Diese ergibt sich dann aus den Ausführungen oben § 7 V a. E. i. V. mit den Ausführungen unten § 42 II 2 a. E. (zur Haftung in der Zwangsvollstreckung). 4 A. A. Lobedanz, Der Einfluß von Willensmängeln auf Gründungs- und Beitrittsgeschäfte, 1938, S. 81 ff., der meint, die Lage sei dieselbe wie bei der BGB-Gesellschaft (vgl. S. 81), und daher die Grundsätze über die Scheinvollmacht anwenden will (vgl. S. 82, 88 und öfter). Da Lobedanz eigenständige Regeln über die Scheingesellschaft offenbar nicht anerkennen will (vgl. S. 78), gerät er in allen Fragen, in denen es nicht um die Vertretungsmacht geht, in dogmatische Schwierigkeiten; sein Versuch, diese mit Hilfe der Vertragsauslegung zu lösen (vgl. z. B. S. 86, 87 f., 89 f.), ist verfehlt: da der Anschein erweckt wird, die fraglichen Rechtsfolgen träten ohnehin kraft Gesetzes ein, ist es logisch ausgeschlossen, den Erklärungen der Parteien den Sinn beizulegen, sie sollten kraft Rechtsgeschäfts in Geltung gesetzt werden. 4a Ob er den Mangel seiner Mitgliedschaft kannte oder ob er sich insoweit selbst in einem Irrtum befand, ist unerheblich: er trägt nach den einschlägigen allgemeinen Rechtsscheinprinzipien das „Richtigkeitsrisiko“ (vgl. oben § 14 III 1 nach Fn. 29 und allgemein unten § 38 III 4). Daher haftet z. B. auch derjenige, der sich auf Grund eines Irrtums über die Erbfolge als Gesellschaftsmitglied angesehen hat, gutgläubigen Dritten nach den Regeln über die Rechtsscheinhaftung; ebenso i. E. R. Fischer, Festschr. zum 100jährigen Bestehen des HeymannsVerlages, 1965, S. 283. 2 3
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bewußten Duldung im Schrifttum mit Recht,5 aber in Widerspruch zu den von der h. L. behaupteten Regeln über die „Anscheinsvollmacht“ nicht gleichgestellt.6 – Umgekehrt haftet auch die OHG nach Rechtsscheinregeln, wenn der Scheingesellschafter in ihrem Namen Geschäfte vornimmt. Dabei wird man es genügen lassen müssen, daß die Zurechnungsvoraussetzungen in der Person lediglich eines der vertretungsberechtigten OHG-Mitglieder erfüllt sind; denn der Scheingesellschafter erlangt nicht etwa die volle Rechtsstellung eines Mitglieds, was einer Änderung des Gesellschaftsvertrages gleichkäme und wozu daher die Mitwirkung aller Gesellschafter erforderlich wäre, sondern nur die – jederzeit durch Zerstörung des Rechtsscheins zu beseitigende – Möglichkeit zur Verpflichtung der OHG, die ihm das Mitglied kraft seiner Vertretungsmacht auch durch eine entsprechende Vollmacht hätte einräumen können.7 Im übrigen ergeben sich bei der Scheingesellschaft besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage, wie weit die Gleichstellung mit der „echten“ Gesellschaft möglich ist und in welchem Umfang demgemäß Rechtsscheinwirkungen eintreten. Eine sachgerechte Lösung ist dabei nur möglich, wenn man sich von begriffsjuristischen Bedenken freihält und entscheidend auf den Zweck der Rechtsscheinhaftung abstellt. Da diese nun primär ein Instrument des Verkehrsschutzes darstellt, kommt es maßgeblich darauf an, ob die Normen, um deren Anwendung es jeweils geht, in [170] innerem Zusammenhang mit dem Gedanken des Verkehrsschutzes stehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist zunächst die Frage zu beantworten, ob die Scheingesellschaft gemäß § 124 I HGB unter ihrer Firma klagen und verklagt werden kann. Das ist entgegen der h. L.,8 die für ihre Ansicht keine nähere Begründung gibt, zumindest insoweit zu bejahen, als es um die Beklagtenrolle der Schein-OHG geht. Denn § 124 HGB dient der Reibungslosigkeit und Unkompliziertheit des Geschäftsverkehrs unter Kaufleuten, so daß der erforderliche Zusammenhang mit den Zielen der Rechtsscheinhaftung gegeben ist, und es ist daher anzuerkennen, daß gutgläubige Dritte ein schutzwürdiges Interesse daran haben, in den Genuß der Vorteile des § 124 I HGB zu kommen; so müssen sie z. B. darauf vertrauen können, daß die Zustellung an einen Gesellschafter gemäß 5 Mit Recht, weil und soweit es eine allgemeine Einstandspflicht für die unbewußte Schaffung eines Rechtsscheins nicht gibt; vgl. oben § 4 III und § 5 IV sowie unten S. 217 f.; 6 Besonders klar Hueck, OHG-Recht § 5 III = S. 34; vgl. ferner z. B. Wieland I S. 532 e RGR-Komm. (Fischer) § 123 Anm. 14; Schlegelberger-Gessler § 123 Rdz. 11 a. E.; vgl. auch zum analogen Problem im Rahmen des § 123 Hueck aaO. § 5 II = S. 32; Fischer aaO. Anm. 10; Gessler aaO. Rdz. 4. 7 Zur analogen Anwendung der Stellvertretungsvorschriften auf die Zurechnung eines Scheintatbestandes vgl. allgemein unten § 36 III. 8 Vgl. Cohn, Die nichtige offene Handelsgesellschaft, 1930, S. 94; Wieland I S. 532; Lobedanz aaO. S. 90 f.; Hueck OHG-Recht, § 5 III bei Fn. 21; Düringer-Hachenburg-Flechtheim § 123 Anm. 10; Schlegelberger-Gessler § 123 Rdz. 14; a. A. ohne Begründung Richert MDR 60, 978 vor Ziff. 4.
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§ 171 III ZPO oder an einen Angestellten gemäß § 183 I ZPO als Zustellung gegenüber der Scheingesellschaft gilt, oder daß sie diese nach § 17 ZPO an ihrem Sitz verklagen können und nicht jeden Gesellschafter einzeln bei dem für diesen zuständigen Gericht belangen müssen; ebenso muß ihnen die Präklusions- oder Rechtskraftwirkung nach § 129 I HGB erhalten bleiben, was nur bei einer einheitlichen Klage gegen die Scheingesellschaft möglich ist; schließlich gewährt ihnen ein Urteil gegen diese auch in der Zwangsvollstreckung bedeutsame Vorteile, da sie in das gemeinsame Vermögen auf Grund eines Titels gegen die Gesellschaft vollstrecken können, während nach der Gegenansicht gemäß § 736 ZPO folgerichtig ein Titel gegen alle Gesellschafter nötig wäre, wenn z. B. in das Vermögen einer BGB-Gesellschaft, deren Mitglieder diese als OHG bezeichnet haben, vollstreckt werden soll. – Soweit die Scheingesellschaft zulässigerweise verklagt worden ist, muß man ihr nach dem Grundsatz der Waffengleichheit und in Analogie zu § 50 II HS 2 ZPO dann auch die Befugnis zur Erhebung einer Widerklage zugestehen. Die h. L. lehnt auch die Möglichkeit eines Konkurses über die Scheingesellschaft ab.9 Auch in dieser Frage ist ihr zu widersprechen, sofern ein Gesamthandsvermögen (z. B. bei der als OHG auftretenden BGB-Gesellschaft) oder ein Scheinvermögen vorhanden ist. Die Möglichkeit eines gesonderten Konkurses über das Gesellschaftsvermögen bei OHG und KG bedeutet nämlich eine entscheidende Besserstellung der Gesellschaftsgläubiger gegenüber den Privatgläubigern einzelner Gesellschafter, und diesen Vorteil gilt es den Gläubigern einer Schein-OHG oder -KG zu erhalten. Ihr Interesse ist hier nicht weniger schutzwürdig als beim Bestehen einer wirklichen Handelsgesellschaft – man denke insbesondere wieder an das Beispiel der als OHG [171] auftretenden BGBGesellschaft oder Erbengemeinschaft –, und umgekehrt ist das Interesse der Privatgläubiger nicht stärker schutzwürdig: sie können ihren Schuldner ja auch nicht hindern, Teile seines Privatvermögens in eine gültige OHG einzubringen und so ihrem Zugriff zu entziehen, und darum können sie auch keine Sonderstellung beanspruchen, wenn jener Vermögen in eine Scheingesellschaft „einbringt“. Eine gewisse Schwierigkeit liegt allerdings darin, daß die Rechtsscheinregeln grundsätzlich nur gegenüber solchen Gläubigern eingreifen, die gutgläubig sind, daß aber u. U. auch andere Gläubiger mit den Scheingesellschaftern in ihrer gesamthänderischen Verbindung Geschäfte abgeschlossen haben; zu denken ist insbesondere daran, daß eine Erbengemeinschaft oder eine BGB-Gesellschaft gegenüber einigen Geschäftspartnern unter Klarstellung der wahren Rechtslage auftritt, gegen-
9 Vgl. Wieland aaO.; Würdinger, Gesellschaften § 23 III 2 b; Hueck aaO. bei Fn. 19; DüringerHachenburg-Flechtheim aaO. Anm. 10; Schlegelberger-Gessler aaO. Rdz. 14; Jaeger, Konkursordnung, §§ 209 f. Anm. 2; Mentzel-Kuhn, Konkursordnung, § 209 Anm. 2; a. A. Staub-Pinner § 131 Anm. 11; Cohn aaO. S. 100 ff.; Lobedanz aaO. S. 91; Richert MDR 60, 976 ff.
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über anderen dagegen sich als OHG oder KG geriert.10 Die erstgenannten Gläubiger haben dann zweifellos ein schutzwürdiges Interesse daran, ebenfalls auf das Gesamthandsvermögen zurückgreifen zu können. Der Konkurs kann deshalb nur einheitlich gegenüber allen Gesellschaftsgläubigern durchgeführt werden. Auch diejenigen, denen gegenüber kein Rechtsschein bestand, sind daher an dem Konkurs zu beteiligen, was sich hier nicht aus dem Rechtsscheingedanken, sondern aus der Notwendigkeit einer einheitlichen Lösung ergibt; auch in anderen Fällen ist anerkannt, daß der „Einheitszwang“ zu einer Regelung führen kann, die über die Grundsätze der Rechtsscheinhaftung hinausgeht.11 – Entscheidender Zeitpunkt für das Vorliegen des guten Glaubens ist in diesen Fällen nicht der Augenblick der Klageerhebung oder des Konkursantrags, sondern der der Vornahme des Rechtsgeschäfts, auf Grund dessen prozessiert bzw. die Konkurseröffnung betrieben wird. Es geht also nicht etwa um eine besondere Rechtsscheinhaftung im Prozeß oder Konkurs, sondern lediglich um eine verfahrensrechtliche Konsequenz des materiell-rechtlichen Vertrauensschutzes. Andersartige Probleme wirft die Frage auf, inwieweit sich die Scheingesellschafter auf Vorschriften berufen können, die ihnen selbst günstig sind. Fest steht, daß sie nicht von sich aus ihre Anwendung herbeiführen können; denn der Rechtsscheinschutz soll seinem Zwecke nach grundsätzlich nur dem Dritten zugute kommen.11a Daraus folgt jedoch noch nicht, daß dann, wenn dieser sich bei der Geltendmachung seiner Rechte auf Rechtsscheinregeln stützen muß, nicht auch die Scheingesellschafter sich ihrerseits verteidigungsweise auf solche Vorschriften, die sie begünstigen, berufen können; zu denken wäre etwa daran, daß ein nach § 128 HGB in Anspruch genommener Scheingesellschafter Verjährung gemäß § 159 HGB einwendet. Auch diese Frage ist entgegen der h. L.12 zu bejahen. Denn die Sondervorschriften über [172] die Handelsgesellschaften sind nicht willkürliche Einzelregeln, sondern stehen in innerem Zusammenhang; deshalb ist es nicht zu rechtfertigen, jemandem ausschließlich die Nachteile aufzuerlegen, die für OHG und KG gelten: man würde auf diese Weise zu einer Art Meistbegünstigung und zu einer Kombination handelsrechtlicher und bürgerlichrechtlicher Vorschriften kommen, die der Gesetzgeber so nicht statuiert hat. Vor allem ist hier aber an den Grundsatz zu erinnern, daß der gutgläubige Dritte nicht besser gestellt werden soll, als er stünde, wenn der Schein der Rechtswirklichkeit entspräche: dann wären auch die ihm nachteiligen Bestimmungen ohne weiteres 10 Vgl. das Beispiel von Flechtheim aaO.; die Schwierigkeiten hinsichtlich der Behandlung geschäftsunfähiger Scheingesellschafter sind bereits von Cohn aaO. S. 102 überzeugend gelöst worden. 11 Vgl. z. B. unten II 2 = S. 174. 11a Vgl. hierzu und zum folgenden auch unten § 42 I 1. 12 Vgl. RGZ 55, 154 (155 f.); Cohn aaO. S.92; Wieland I S. 532; Stukkart aaO. S. 62; Würdinger, Gesellschaften, § 23 III 2 b; Schlegelberger-Gessler § 123 Rdz. 14 a. E.
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anwendbar. Im übrigen hat man auch im Fall des § 179 I BGB, der zwar kein eigentlicher Tatbestand der Rechtsscheinhaftung, aber doch ein eng verwandter Fall der Erklärungshaftung ist, keinerlei Bedenken, dem in Anspruch Genommenen alle Vorteile des Rechtsgeschäfts zu gewähren, sofern der gutgläubige Dritte den Anspruch aus Vertrauenshaftung geltend macht. Im obigen Beispiel des § 159 HGB ist dem Scheingesellschafter daher die Einrede der Verjährung zu gewähren. Voraussetzung ist, daß die Scheingesellschaft beendet oder daß der betreffende Scheingesellschafter ausgeschieden ist – was z. B. bei einer BGB-Gesellschaft oder einer Erbengemeinschaft, die im Verkehr als OHG oder KG in Erscheinung getreten ist, durchaus vorkommen kann, aber auch bei einer reinen Scheingesellschaft denkbar ist.13 Die Verjährung beginnt analog § 159 II mit dem Tag, wo die Auflösung oder das Ausscheiden in handelsüblicher Weise allgemein bekannt gemacht oder dem betreffenden Gläubiger mitgeteilt worden ist. Bei einem dritten Problemkreis geht es schließlich um die Frage, inwieweit die Sondervorschriften über Kaufleute, insbesondere die §§ 48 ff., 59 ff., 343 ff. HGB anwendbar sind. Das ist jedoch kein spezifisches Problem der Scheingesellschaft, sondern ein solches des Scheinkaufmanns,14 und daher gelten insoweit die unten15 herausgearbeiteten Regeln über diesen. II. Die fehlerhafte Handelsgesellschaft und der fehlerhafte Beitritt zu einer Handelsgesellschaft In den bisherigen Fällen ging es um die Problematik, die entsteht, wenn eine Handelsgesellschaft überhaupt nicht begründet worden ist, ein entsprechender Schein [173] aber nach außen hervorgerufen wurde. Daneben besteht die Möglichkeit, daß ein Gründungs- oder Beitrittsakt zwar stattgefunden hat, jedoch rechtlich fehlerhaft, d. h. nichtig oder anfechtbar ist. 1. Für die Kapitalgesellschaften enthält das Gesetz in den §§ 275 ff. AktG, 75 ff. GmbHG, 94 ff. GenG Sondervorschriften. Wesentlich ist dabei im vorliegenden Zusammenhang vor allem, daß nach dem Wortlaut des Gesetzes auch bösgläubigen Dritten gegenüber die Nichtigkeit nicht geltend gemacht werden kann, sofern das fragliche Rechtsgeschäft vor der Eintragung der Nichtigkeit im Register vorVgl. auch die verwandte Problematik oben § 13. Nicht zuzustimmen ist Lobedanz aaO. S. 83 ff., wenn er meint, hinsichtlich der Frage der Kaufmannseigenschaft bedürfe es bei der Scheingesellschaft niemals des Rückgriffs auf Rechtsscheinregeln; dabei ist z. B. der Fall übersehen, daß die Mitglieder einer BGB-Gesellschaft sich als OHG gerieren. Bei einer fehlerhaften Handelsgesellschaft, die Lobedanz offenbar allein vor Augen hat, dürfte sich die Kaufmannseigenschaft der Mitglieder jedoch in der Tat stets daraus ergeben, daß sie ein Handelsgewerbe führen, so daß sie Kaufleute sind, nicht nur zugunsten gutgläubiger Dritter als solche gelten. 15 Vgl. S. 181 f. 13 14
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genommen wurde (vgl. §§ 277 II AktG, 77 II GmbHG, 97 II GenG). Es handelt sich hier daher nicht um einen Fall der Rechtsscheinhaftung und des Vertrauensschutzes, sondern um einen solchen des absoluten Verkehrsschutzes.16 Diese Regelung dürfte ihren Grund darin haben, daß die Verleihung der Rechtsfähigkeit durch staatlichen Hoheitsakt erfolgt und daß dieser zu einer erhöhten „Bestandfestigkeit“ des zugrunde liegenden privaten Aktes führt, d. h. insoweit heilende Wirkung hat; denn nach der Eintragung muß angesichts der außerordentlich einschneidenden Folgerungen, die die Nichtigkeit einer Kapitalgesellschaft nach sich zöge, jeder Streit über ihre Rechtsfähigkeit von vornherein verhindert werden. Daher ist nicht etwa in die §§ 277 II AktG, 77 II GmbHG, 97 II GenG das Erfordernis der Gutgläubigkeit hineinzuinterpretieren; vielmehr ist anzuerkennen, daß hier nicht ein Tatbestand der Rechtsscheinhaftung, sondern eine andere Art des Verkehrsschutzes gegeben ist. 2. Anders liegt die Problematik, wo nicht der Gründungsakt als ganzer, sondern lediglich eine einzelne Beitrittserklärung fehlerhaft ist. Das RG hat hierzu in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß Mängel der Beitrittserklärung nach Eintragung der Gesellschaft nicht mehr geltend gemacht werden können,17 und das Schrifttum ist ihm dabei ausnahmslos gefolgt.18 Auch hier ist der Einwendungsausschluß absolut, d. h. er tritt nicht nur im Verhältnis zu gutgläubigen Dritten, sondern allgemein, insbesondere auch im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Beitretenden ein. Der Grund dafür kann hier allerdings nicht in dem staatlichen Hoheitsakt der Rechtsverleihung gesehen werden; denn dieser bezieht sich nicht auf die einzelne Beitrittserklärung, und die rechtliche Existenz der Gesellschaft als ganzer würde in keiner Weise in Frage gestellt, wenn man die Geltendmachung der Nichtigkeit einzelner Beitrittserklärungen zuließe. Aber auch mit dem Gedanken des Rechtsscheins ist nicht weiterzukommen: damit ließe sich nur der Einwendungsausschluß im Verhältnis zu gutgläubigen Gesellschaftsgläubigern, nicht [174] auch im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Beitretenden und im Verhältnis zu bösgläubigen Dritten rechtfertigen. Der wahre Grund für die Einschränkung der Nichtigkeits- und Anfechtungsregeln des BGB liegt vielmehr in dem das ganze Recht der Kapitalgesellschaften beherrschenden Prinzip, daß die Haftungsgrundlage der Gesellschaft unter allen Umständen aufgebracht werden und erhalten bleiben muß. Dieses Prinzip ist als vorrangig gegenüber der Regelung der Nichtigkeits- und Anfechtungsgründe im BGB anzusehen und
Zur Terminologie vgl. oben § 1 I. Ausführliche Nachweise z. B. bei Gadow-Heinichen-Schmidt § 2 Anm. 4. 18 Vgl. Gadow-Heinichen-Schmidt aaO. und Gadow-Heinichen-Fischer § 30 Anm. 4; v. GodinWilhelmi Anm. III 2 vor § 16; Baumbach-Hueck Übers. vor § 16 Anm. 1 B; Hueck, Gesellschaftsrecht, § 23 IV 2; Haupt-Reinhardt § 19 I; Lehmann, Gesellschaftsrecht, § 5 II 1; Würdinger, Aktienrecht, § 17 B IV 3 a. 16 17
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verdrängt diese daher.19 Aus ihm folgt ohne weiteres, daß der Einwendungsausschluß nicht nur relativ im Verhältnis zu gutgläubigen Gesellschaftsgläubigern wirkt, sondern absolut gilt: das Grund- oder Stammkapital kann nur dadurch voll aufgebracht und erhalten werden, daß der Beitretende trotz des Mangels zur Einzahlung der fraglichen Summe verpflichtet ist bzw. daß ihm ihre Rückforderung verwehrt wird. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Lösung schließt hier somit eine lediglich relative Nichtigkeitsbeschränkung im Verhältnis zu gutgläubigen Gesellschaftsgläubigern, wie sie oben20 für die BGB-Gesellschaft vertreten wurde, aus. In dogmatischer Hinsicht ergibt sich daraus, daß die Einschränkung von Mängeln einer Beitrittserklärung zu einer Kapitalgesellschaft nicht in den Zusammenhang der Vertrauenshaftung gehört. Das sie bedingende Rechtsprinzip ist vielmehr eine andersartige und selbständige Form des Verkehrsschutzes. Auf die Problematik ist daher nicht im einzelnen einzugehen.21 3. Nicht nur der ursprüngliche Beitritt zu einer Kapitalgesellschaft, sondern auch der spätere Erwerb der Mitgliedschaft kann fehlerhaft sein, und auch dabei ergibt sich u. U. die Problematik von Haftung und Einwendungsausschluß. Es erhebt sich dann nämlich die Frage, ob der Erwerber gegenüber der Gesellschaft die Unwirksamkeit des Übertragungsakts geltend machen kann, um sich so einer Einstandspflicht – z. B. für rückständige Einlagen oder für Nebenleistungen – zu entziehen. Die h. L. verneint dies nun in der Tat, sofern der Mitgliedschaftswechsel im Aktienbuch eingetragen bzw. gemäß § 16 GmbHG angemeldet worden ist und sofern die Eintragung bzw. die Anmeldung dem Erwerber zurechenbar ist.22 Sie begründet das indessen mit einer unwiderleglichen Vermutung,23 und daher läßt sich auch dieses Problem dogmatisch nicht in die Rechtsscheinhaftung einordnen;24 denn einem Rechtsschein ist es eigentümlich, daß er stets durch Aufdeckung der wahren Rechtslage ohne weiteres zerstört werden kann und daß er gegenüber demjenigen, [175] der diese kennt, keinesfalls eine Wirkung entfaltet.25 So geht es hier denn auch in Wahrheit nicht darum, irgendjemand in seinem Vertrauen zu schützen – es kommt z. B. in keiner Weise auf eine „Disposition“ an, sei es auf seiten der Gesellschaft sei es auf seiten des Veräußerers oder sei es auf seiten eines Gläubigers –, sondern darum, unbedingte Klarheit und RechtssiIn methodischer Hinsicht vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 103 f. Vgl. § 11 II. 21 Zu den Besonderheiten bei der Genossenschaft, auf die die Ausführungen des Textes nicht in allen Punkten passen, vgl. Lobedanz aaO. S. 194 ff. 22 Vgl. statt aller Wiedemann, Die Übertragung und Vererbung von Mitgliedschaftsrechten bei Handelsgesellschaften, 1965, S. 135 ff. m. eingehenden Nachweisen; Baumbach-Hueck, AktG, 13. Aufl. 1968, § 67 Rdz. 10. 23 Vgl. Wiedemann aaO. S. 137; Hueck aaO. Rdz. 10. 24 Anders und m. E. wenig glücklich die Terminologie bei Wiedemann aaO., der hier durchweg von Rechtsschein spricht. 25 Vgl. unten § 40 I und § 39 IV. 19 20
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cherheit in der Frage der Mitgliedschaft zu schaffen. Es handelt sich daher auch hier nicht um einen Tatbestand der Vertrauenshaftung, sondern wieder um einen solchen des „absoluten Verkehrsschutzes“.16 4. Um Rechtsscheinprobleme geht es dagegen bei der fehlerhaften Personengesellschaft. Denn auch bei dieser ist ebenso wie bei der BGB-Gesellschaft gemäß der oben20 entwickelten Lehre von „der relativen Nichtigkeitsbeschränkung“ der Schluß vom Innen- auf das Außenverhältnis abzulehnen, so daß entgegen der h. L. Rechtsscheinregeln zum Zuge kommen können. Dabei ist im wesentlichen auf die Ausführungen zur BGB-Gesellschaft zu verweisen. Hervorgehoben sei hier nur noch, daß die h. L. sich für ihre gegenteilige Ansicht nicht etwa auf eine analoge Anwendung der Normen über die Kapitalgesellschaft berufen kann. Denn weder geht es um die Respektierung eines staatlichen Hoheitsaktes, noch gibt es im Recht der Personengesellschaften ein Rechtsprinzip, nach dem das Gesellschaftsvermögen zum Schutze Dritter unter allen Umständen aufgebracht werden muß; im übrigen gilt selbst für die Kapitalgesellschaften, daß die Anwendbarkeit der Nichtigkeitsvorschriften nicht völlig ausgeschlossen ist, sondern nur insoweit, als es der sachliche Anlaß gebietet.26 5. Die Theorie der relativen Nichtigkeitsbeschränkung ist von großer praktischer Bedeutung für die Haftung eines neuen Gesellschaftsmitglieds gegenüber den Altgläubigern. Nach §§ 28, 130, 173 HGB haftet derjenige, der in das Geschäft eines Einzelkaufmanns, eine OHG oder eine KG eintritt, für die vor seinem Eintritt begründeten Schulden. Es fragt sich, ob das auch dann gilt, wenn der Beitritt nichtig oder anfechtbar ist. Das RG hat das in ständiger Rechtsprechung jedenfalls für den Fall bejaht, daß der Eintritt des neuen Gesellschafters im Handelregister eingetragen [176] war.27 Es stützte sich dabei im wesentlichen auf die Theo26 Dieser Gedanke ist in methodisch vorbildlicher Weise bei Lobedanz aaO. durchgeführt. Er folgert aus ihm u. a., daß der Beitretende mit seiner Regreßforderung im Falle von Liquidation und Konkurs zwar nach den Gesellschaftsgläubigern, aber vor den übrigen Gesellschaftern zu befriedigen ist (S. 169 f.), daß bei Nebenleistungs- und noch nicht erfüllten Nachschußpflichten die Vorschriften des BGB uneingeschränkt gelten (S. 170 ff., 173 f.) und daß der Beigetretene die Rückgewähr seiner Einlage aus dem ausgeschütteten Gewinn verlangen kann (S. 180 f.). Dem wird man nur z. T. zustimmen können. Einschränkungen dürften zumindest bei der AG zum Schutze solcher Aktionäre geboten sein, die ihre Aktien erst nach Entstehung der AG, insbesondere an der Börse, erworben haben, da deren Interesse als vorrangig gegenüber dem der Gründungsmitglieder angesehen werden muß; neben das Prinzip des Gläubigerschutzes tritt also das des Aktionärsschutzes. 27 Vgl. RGZ 51, 33 (39 f.); 76, 439 (441); 89, 97 (98); 93, 227 (229); 142, 98 (107 f.; anders aber für den Fall, daß der Beitritt nicht eingetragen war); vgl. ferner KG OLGE 21, 375 (377); OLG Frankfurt SeuffArch 73 Nr. 33 (S. 51); BGH NJW 66, 107. Das Schrifttum ist dem i. E. überwiegend gefolgt. Vgl. Gallewski aaO. S. 76 f.; Mann JW 31, 3062; Müller-Erzbach, Handelrecht S. 84; Staub-Bondi § 28 Anm. 4 und Staub-Pinner § 130 Anm. 6 a. E.; Koenige-Teichmann § 28 Anm. 3 und § 130 Anm. 2; Hueck, OHG-Recht § 27 I 1 b a. E.; RGR-Komm. (Würdinger) § 28 Anm. 4, (Fischer) § 105 Anm. 104 a. E. und (Weipert) § 130 Anm. 18; Schlegelberger-Hildebrandt § 28 Rdz. 6 und -Gessler § 130 Rdz. 27; Baumbach-Duden § 28
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rie von der „Erklärung an die Öffentlichkeit“, nach der in der Anmeldung zum Handelsregister eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung zur Übernahme der Schulden zu erblicken sein soll; mit der Überwindung28 dieser Theorie ist die Begründung des RG hinfällig. Die moderne Literatur geht denn auch einen anderen Weg, um zu demselben Ergebnis zu kommen: sie beruft sich darauf, daß der Mangel im Innenverhältnis nur zur Auflösbarkeit der Gesellschaft mit ex-nuncWirkung führt und daß er daher auch im Außenverhältnis für die Vergangenheit unbeachtlich sein müsse.29 Lehnt man mit der hier vertretenen Ansicht den Schluß vom Innen- auf das Außenverhältnis als begriffsjuristisch ab, so bleibt zur Lösung der Frage nur die Rechtsscheinhaftung. Der Altgläubiger wird daher grundsätzlich nicht geschützt, weil seine Forderung vor dem Eintritt des neuen Gesellschafters entstanden ist und weil das Vertrauen auf dessen Haftung daher für den Abschluß des fraglichen Rechtsgeschäfts gar nicht kausal gewesen sein kann; zu einer Rechtsscheinhaftung besteht aber grundsätzlich nur dann Anlaß, wenn der Dritte sein Vertrauen irgendwie „betätigt“ hat.30, 31 Erforderlich ist daher eine Disposition des Altgläubigers nach Kenntniserlangung vom Beitritt des neuen Gesellschafters. Diese kann z. B. darin liegen, daß er Stundung gewährt oder eine Zwangsvollstreckungsmaßnahme unterläßt; gleichzustellen ist die bloße Nichtgeltendmachung einer fälligen Forderung in Kenntnis der Fälligkeit, da das wirtschaftlich eine Art Kreditgewährung bedeutet. Voraussetzung ist allerdings weiter, daß im Zeitpunkt der fraglichen Disposition eine Zwangsvollstreckung gegen die Gesellschaft oder eines ihrer bisherigen Mitglieder noch Aussicht auf Erfolg gehabt hätte; denn wenn diese schon seinerzeit [177] insolvent waren, hat der Altgläubiger seinen Verlust in Wahrheit durch diese Zahlungsunfähigkeit und nicht durch sein Abwarten im Vertrauen auf die Einstandspflicht des neuen Gesellschafters erlitten, und es besteht daher kein Anlaß, ihm den Rückgriff auf das Vermögen des – fehlerhaft – Beigetretenen zu gestatten. Sind diese Voraussetzungen jedoch erfüllt und hat der Altgläubiger zur Zeit der Disposition Kenntnis vom Beitritt des neuen Gesellschafters, so wird vermutet, daß diese Kenntnis kausal für sein Verhalten war;32 er Anm. A und Anm. zu § 130 i. V. m. § 104 Anm. 8 A und G (vgl. aber auch § 105 Anm. 8 A); v. Gierke § 36 II 4; Schumann I S. 259; Wiedemann aaO. S. 69 f. Ablehnend Düringer-HachenburgHoeniger § 28 Anm. 4; Klügel aaO. (vgl. § 14 Fn. 7) S. 87 ff ; Bauer-Mengelberg JW 31, 781; Larenz JW 1934, 224; Lobedanz aaO. S. 89 f. (mit unzutreffender Begründung); Kleppe aaO. (vgl. § 14 Fn. 14) S. 61; Würdinger, Gesellschaften § 23 IV 3. 28 Vgl. oben § 14 II. 29 Vgl. Hueck, Gessler, Weipert, Duden und den BGH aaO. 30 Vgl. allgemein unten § 40 III; die Berechtigung zu einer Ausnahme (vgl. unten § 40 III 2) besteht hier nicht. 31 Daher ist auch § 15 III n. F. HGB auf Grund einer „teleologischen Reduktion“ hier außer Anwendung zu lassen. 32 Vgl. unten § 40 IV a. E.
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kann daher, sofern er nicht bösgläubig war, den Eingetretenen trotz der Fehlerhaftigkeit des Beitritts in Anspruch nehmen. Allein dieses Ergebnis dürfte eine gerechte Lösung darstellen. Hat der Altgläubiger keinerlei Disposition nach dem Beitritt vorgenommen, so besteht nämlich nicht der geringste Anlaß, seinem Interesse den Vorzug zu geben vor dem eines arglistig Getäuschten, widerrechtlich Bedrohten, Bewucherten, Irrenden usw.; denn er konnte mit einem neuen Schuldner nicht rechnen und hat daher insoweit keine rechtlich schützenswerte Position31. Das zeigt an einem Einzelproblem sehr deutlich, daß weder die Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit noch die Lehre von der absoluten Nichtigkeitsbeschränkung zu sachgerechten Ergebnissen führen; man sollte daher in dieser Frage allein mit dem Gedanken der Rechtsscheinhaftung arbeiten, – zumal die h. L. folgerichtig die Geltendmachung des Mangels selbst dann ausschließen müßte, wenn der Altgläubiger von dem Beitritt überhaupt nichts wußte oder gar bösgläubig war. III. Der Rechtsschein der Einheit verschiedener Rechtssubjekte, insbesondere im Recht der Einmanngesellschaft und im Konzernrecht Ähnliche Fragen wie bei der Scheingesellschaft und der Scheinmitgliedschaft können sich auch dann ergeben, wenn der Anschein entsteht, zwei in Wahrheit voneinander verschiedene Rechtssubjekte bildeten eine Einheit. Das kommt vor allem bei Einmanngesellschaften und bei Konzernen vor. Zu denken ist etwa daran, daß der einzige Gesellschafter einer GmbH „für“ diese einen Vertrag abschließt und dabei deren rechtliche Selbständigkeit nicht offenlegt – er bestellt etwas für „seinen Holzhandel“ oder für „seine Textilfabrik“ – oder daß die Muttergesellschaft eines Konzerns eine Tochter als bloße Betriebsabteilung oder dgl. bezeichnet. Mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre läßt sich dann nur eine Haftung des Einmanns bzw. der Muttergesellschaft begründen: diese werden aus dem Vertrag verpflichtet, da sie bei objektiver Auslegung eine Erklärung im eigenen Namen abgegeben haben,33 wohingegen eine rechtsgeschäftliche Bindung der GmbH bzw. der Tochtergesellschaft auch abgesehen von der Frage der Vertretungsmacht jedenfalls deshalb ausscheidet, weil nicht in ihrem Namen gehandelt wurde. [178] In die dadurch entstandene Schutzlücke kann nun u. U. die Rechtsscheinhaftung treten,34 da hier der Anschein erweckt wurde, als bildeten der Einmann und seine GmbH bzw. die Mutter- und die Tochtergesellschaft rechtlich eine Einheit Eine eventuelle Anfechtung wird durch § 164 II BGB ausgeschlossen. Vgl. auch Bauer, Die rechtliche Struktur der Truste, 1927, S. 64 f.; Bärmann AcP 159, 368; Kalbe, Herrschaft und Haftung bei juristischen Personen, Diss. Heidelberg 1965, S. 48 f.; Rehbinder, Konzernaußenrecht und allgemeines Privatrecht, 1969, S. 157 ff. 33 34
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und als hafte dem Vertragspartner daher auch das Vermögen der letzteren. Dem steht nicht entgegen, daß es sich dabei nicht um einen der schon bisher anerkannten Rechtsscheinfälle handelt; denn zum einen läßt sich die Rechtsscheinhaftung, wie im bürgerlich-rechtlichen Teil ausführlich dargelegt wurde, nicht auf bestimmte Rechtsinstitute beschränken, und zum anderen wäre hier wohl auch schon mit einer schlichten Einzelanalogie zur Scheingesellschaft und zur Scheinmitgliedschaft35 oder mit einer Weiterentwicklung der Regeln über die Rechtsscheinhaftung bei Handeln „unter“ fremdem Namen36 – die ihrerseits auf einer Analogie zur Scheinvollmacht beruhen37 – zum Ziel zu kommen. Die eigentlichen Schwierigkeiten der Problematik liegen demgegenüber bei der Zurechnungsfrage. Ohne weiteres zu bejahen ist die Zurechenbarkeit des Scheintatbestandes nämlich nur dann, wenn die betroffenen Rechtssubjekte beide an seiner Schaffung mitgewirkt haben, wenn also z. B. zwei Schwestergesellschaften eines Konzerns im wechselseitigen Einverständnis ihrer Organe nach außen als rechtliche Einheit aufgetreten sind. Wurde der Rechtsschein dagegen lediglich von einem der beiden gesetzt, so kommt es darauf an, ob dessen Verhalten dem anderen zugerechnet werden kann. Dies richtet sich grundsätzlich nach den allgemeinen Regeln der Rechtsscheinhaftung. Danach besteht eine Einstandspflicht jedenfalls für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes. Dementsprechend haftet z. B. die Obergesellschaft, wenn ihre Organe wissen und dulden, daß sich die Untergesellschaft als unselbständige Betriebsabteilung ausgibt, und ähnlich kann der Einmann persönlich in Anspruch genommen werden, wenn er weiß und duldet, daß der Geschäftsführer seiner GmbH unter seinem Namen Verträge abschließt. Darüber hinaus ist im Handelsrecht aber auch die unwissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes zurechenbar, sofern die Unkenntnis ihren Grund in den typischen Risiken eines kaufmännischen Betriebes hat.38 Danach dürfte eine Einstandspflicht der Obergesellschaft für ein ihr unbekannt gebliebenes, einen Rechtsschein begründendes Verhalten der Untergesellschaft regelmäßig zu bejahen sein, da dessen Verhinderung zu ihren spezifischen Organisationsrisiken gehört; dem Einmann wird man dagegen Kompetenzüberschreitungen des Geschäftsführers der GmbH, von denen [179] er nichts weiß, weit seltener zurechnen können, und insbesondere dann, wenn er selbst keinen kaufmännischen Betrieb hat oder wenn dieser mit der GmbH nicht verflochten ist, wird sich seine Haftung insoweit kaum begründen lassen. – Im umgekehrten Fall, in dem nicht das „beherrschte“, sondern das „beherrschende“ Rechtssubjekt den Rechtsschein Vgl. Rehbinder aaO. S. 168. Keinesfalls liegt hier dagegen ein Handeln in fremdem Namen vor, und daher ist es unhaltbar, wenn Kalbe aaO. die Regeln über die Scheinvollmacht anwenden will; gegen ihn mit Recht auch Rehbinder aaO. S. 159. 37 Vgl. oben § 7 II. 38 Vgl. unten § 20 II. 35 36
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der Einheit setzt, reichen die Zurechnungsmöglichkeiten erheblich weiter. Denn hier werden häufig die Regeln über die Vertretungsmacht, die auf die Schaffung eines Scheintatbestandes analog anzuwenden sind,39 zum Zuge kommen. Hat z. B. die Muttergesellschaft Vollmacht für die Tochtergesellschaft oder ist der Einmann zugleich Geschäftsführer der GmbH, so greift die Rechtsscheinhaftung ohne weiteres ein, ohne daß es auf irgendwelche zusätzlichen Zurechnungsvoraussetzungen – etwa auf die Kenntnis der Organe der Tochtergesellschaft vom Verhalten der Muttergesellschaft – ankommt. Was die Rechtsfolge betrifft, so ergibt diese sich folgerichtig aus dem erzeugten Anschein der Einheit: beide Rechtssubjekte werden (gesamtschuldnerisch) verpflichtet. In den Eingangsbeispielen würde dem Vertragspartner also auch das Vermögen der GmbH bzw. der Untergesellschaft haften.40 In der Tat dürfte allein dieses Ergebnis der Interessenlage gerecht werden; denn der Dritte hat den Kredit vielleicht nur im Vertrauen auf die solide Haftungsgrundlage des „Holzhandels“ oder der „Textilfabrik“ gewährt, und man kann ihn daher jetzt nicht auf Ansprüche gegen den – u. U. im übrigen vermögenslosen – Einmann beschränken, da er dann hinter den (echten) Gesellschaftsgläubigern zurückstände und z. B. im Konkurs der GmbH völlig leer ausginge. Im Ergebnis ist hier somit ein Tatbestand gegeben, in dem die Trennung verschiedener Rechtssubjekte „durchbrochen“ wird,41 – wobei man allerdings wegen des Vorliegen eines besonderen Haftungsgrundes nicht von „Durchgriff“ sprechen sollte. Die praktische Bedeutung der damit eröffneten Möglichkeiten darf man freilich nicht überschätzen. Diese werden nämlich durch das Erfordernis eines Rechtsscheins sehr stark eingeschränkt: die strengen Regeln der Rechtsscheinhaftung können – ebenso wie sonst – nur zur Anwendung kommen, wenn sich das Vertrauen des Dritten wirklich auf den Bestand einer bestimmten Rechtslage richtet,42 und folglich muß hier der Schein rechtlicher und nicht nur „tatsächlicher“ Einheit hervorgerufen worden sein;43 [180] dementsprechend wird der Dritte z. B. nicht geschützt, wenn die Rechtsform der beteiligten Subjekte für ihn erkennbar war und er sich lediglich durch die komplizierten Verhältnisse innerhalb eines Konzerns hat verwirren lassen.
Vgl. allgemein unten § 36 III. A. A. insoweit Rehbinder aaO. S. 158, der jedoch die soeben im Text entwickelten Zurechnungsmöglichkeiten übersieht; die weitere Begründung Rehbinders, das Vertrauen darauf, daß das Vermögen der Untergesellschaft der Obergesellschaft gehöre, verdiene „für den Regelfall keinen besonderen Schutz“, ist unzutreffend: bei der Rechtsscheinhaftung, insbesondere auch bei der Scheingesellschaft und der Scheinmitgliedschaft geht es im Gegenteil geradezu typischerweise um den Schutz des Vertrauens auf die Mithaftung bestimmter Vermögensmassen. 41 Zu weiteren Möglichkeiten hierzu vgl. unten § 30 III 2. 42 Vgl. allgemein unten § 39 III 3. 43 Das verkennt offenbar Pinner JW 26, 1483 f. 39 40
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§ 16 Scheinkaufmann und Scheinreeder I. Der Scheinkaufmann1 Da die Anwendung der handelsrechtlichen Sondervorschriften an das Vorliegen der Kaufmannseigenschaft geknüpft ist, kommt der Frage, ob jemand Kaufmann ist oder nicht, für den Handelsverkehr eine erhebliche praktische Bedeutung zu. Es ist daher kein Zufall, daß die Lehre über den Scheinkaufmann schon verhältnismäßig früh entwickelt wurde. Versuche die Problematik mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre zu lösen, wie das insbesondere HUECK unternommen hat,2 sind bereits oben3 bei der Kritik an der Theorie von der Erklärung an die Öffentlichkeit zurückgewiesen worden. Richtig ist auch hier allein die Einordnung in die Rechtsscheinlehre. 1. Sofern der Scheinkaufmann weiß, daß er in Wahrheit kein Kaufmann ist, ergibt sich seine Haftung schon aus dem Prinzip der Rechtsscheinhaftung kraft wissentlicher Schaffung eines Scheintatbestands. Die Regeln über den Scheinkaufmann sind jedoch auch dann anwendbar, wenn dieser sich selbst irrtümlich für einen Kaufmann hält;4 denn die Kaufmannseigenschaft ist typischerweise als „Vorfrage“ für Rechtsgeschäfte mit Dritten bedeutsam und gehört daher zu jenen Rechtstatsachen, hinsichtlich derer der Erklärende entsprechend den hierzu oben5 entwickelten Grundsätzen auch das „Richtigkeitsrisiko“ trägt. Schließlich kann die Haftung auch dann zu bejahen sein, wenn der Scheinkaufmann nicht einmal das Bewußtsein hatte, als Kaufmann aufzutreten, wenn ihm also das Erklärungsbewußtsein (hinsichtlich der Konkludenz seines Verhaltens) fehlte; Voraussetzung ist dabei allerdings, daß die Bedeutung seiner Verhaltensweise verkehrsmäßig oder gesetzlich typisiert ist.6 Er würde also z. B. als Kaufmann zu behandeln sein, wenn er eine Firma führt, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß dies eine Deklaration der Kaufmannseigenschaft darstellt. Liegt dagegen kein typisiertes Verhalten vor und läßt sich daher nur aus „allen Umständen des Einzelfalles“ entnehmen, daß er – un- [181] wissentlich – als Kaufmann aufgetreten ist, so haftet
Zum Kaufmann kraft Eintragung i. S. v. § 5 HGB vgl. oben S. 1 f. Vgl. ArchBürgR 43, 415 ff. (435 f.). 3 S. 154 f. 4 A. A. Riezler, Venire contra factum proprium, S. 169, der in diesem Falle nur einen Anspruch auf das negative Interesse geben will. Wie im Text i. E. Schlegelberger-Hildebrandt § 5 Rdz. 13 a. E.; Baumbach-Duden § 5 Anm. 2 C. 5 S. 132 f.; vgl. auch unten S. 484 f. 6 Vgl. dazu unten § 20 I; weitergehend offenbar RGR-Komm. (Brüggemann) Anh. zu § 5 Anm. 4 a. E. 1 2
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er (analog § 122 BGB oder nach den Regeln über die culpa in contrahendo) nur auf das negative Interesse.7 2. Ebenso wie bei der Scheingesellschaft ist stark umstritten, in welchem Umfang die handelsrechtlichen Sondervorschriften auf den Scheinkaufmann Anwendung finden. Was zunächst die Anwendbarkeit solcher Normen betrifft, die dem Scheinkaufmann günstig sind, so ist diese auch hier unter den oben8 dafür herausgearbeiteten Voraussetzungen und aus den dort genannten Gründen entgegen der h. L.9 zu bejahen. Des weiteren sind auch die §§ 48 ff. und 59 ff. HGB grundsätzlich anwendbar; eine Prokura, die der Scheinkaufmann erteilt hat, ist dabei nicht als Handlungsvollmacht mit dem Umfang einer Prokura anzusehen,10 sondern als Scheinprokura. Schwierigkeiten bereitet demgegenüber die Anwendung einzelner Vorschriften der §§ 343 ff. HGB. Soweit das HBG eine Abweichung von zwingenden Schutzvorschriften des BGB enthält, wie in den §§ 348, 350, genügt das bloße Auftreten als Kaufmann nicht;11 denn das würde i. E. bedeuten, daß ein Nichtkaufmann diese zu seinem Schutz aufgestellten nicht abdingbaren Bestimmungen durch eine einfache Erklärung außer Kraft setzen könnte, was mit ihrem Zweck nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr kommt eine Vertrauenshaftung hier nur nach den wesentlich engeren aus § 242 BGB abgeleiteten Grundsätzen12 in Betracht, die auch sonst bei formnichtigen Rechtsgeschäften eingreifen.13 – Dasselbe gilt mutatis mutandis für den Fall, daß ein Nichtkaufmann ein kaufmännisches Orderpapier i. S. des § 363 HGB ausgestellt hat; er haftet dann weder nach wertpapierrechtlichen Regeln, da insoweit eine Zurechenbarkeitseinwendung vorliegt,14 noch nach den Regeln über den Scheinkaufmann, da die Beschränkung des § 363 auf Kaufleute zwingend ist und Schutzcharakter hat, sondern nur unter den Voraussetzungen einer Erfüllungshaftung aus § 242 BGB nach den im zweiten Kapitel entwickelten Regeln. – Gegen eine Anwendung der Bestimmungen über das kaufmännische Zurückbehaltungsrecht nach § 369 HGB sind dagegen keine Bedenken ersichtlich.15 7 Vgl. die Ausführungen unten § 20 I 3 zum „individuell-konkludenten“ Verhalten; hier handelt es sich allerdings nicht um eine Willenserklärung, sondern um ein Verhalten mit deklaratorischem Sinn, doch besteht keine Rechtfertigung, dieses in bezug auf die Notwendigkeit des „Erklärungsbewußtseins“ strenger zu behandeln als jene. 8 Vgl. S. 171 f.; vgl. auch unten S. 520 (vor 2.). 9 Vgl. Staub-Bondi § 5 Anh. Anm. 7; Müller-Erzbach S. 63; Granzow aaO. S. 26 ff.; Stuckart aaO. S. 64; v. Gierke § 13 III 3; i. E. ähnlich wie im Text Hueck ArchBürgR 43, 449. 10 So z. B. RGR-Komm. (Brüggemann) Anh. zu § 5 Anm. 6 (unter e bb). 11 A. A. OLG Hamburg JW 1927, 1109 m. zust. Anm. v. Reichel; Schlegelberger-Hildebrandt § 5 Rdz. 15; Baumbach-Duden § 5 Anm. 2 A; Schumann I S.51. 12 Vgl. unten §§ 25 und 27. 13 Ähnlich v. Gierke § 13 III 2; RGR-Komm. (Brüggemann) Anh. zu § 5 Anm. 6 (unter f) und Anm. 7; noch enger Hueck ArchBürgR 43, 451; Granzow aaO. S. 29; Stuckart aaO. S. 66. 14 Vgl. unten § 22 V 1. 15 A. A. RGR-Komm. (Brüggemann) Anh. zu § 5 Anm. 6 (unter f).
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Auch § 366 HGB, der den Gutglaubensschutz gegenüber den §§ 932 ff. BGB wesentlich [182] erweitert, wird man entgegen der h. L.16 anwenden können. Allerdings geht es hier nicht um die Haftung des Scheinkaufmanns selbst, sondern um einen Rechtsverlust des wahren Berechtigten, doch paßt § 366 HGB seiner ratio legis nach auch hier: die Vorschrift dient dem Schutz gutgläubiger Dritter im Verkehr mit einem Kaufmann, und vom Dritten her gesehen macht es keinen Unterschied, ob dieser wirklich Kaufmann ist oder sich nur als solcher geriert. Die Interessen des wahren Berechtigten werden dadurch nicht verletzt: er hätte sein Recht jedenfalls verloren, wenn der Scheinkaufmann sich als Eigentümer ausgegeben hätte; wenn dieser statt dessen lediglich seine Verfügungsmacht behauptet, so ändert das im Verhältnis zum wahren Berechtigten nichts, sondern berührt nur das Verhältnis zu dem gutgläubigen Dritten. Dieser aber ist, wie gesagt, hier genauso schutzwürdig wie bei einem Rechtsgeschäft mit einem echten Kaufmann. Gegen diese Lösung sollte man nicht einwenden, der Rechtsscheingedanke könne niemals zur Abweichung von zwingendem Recht führen:17 er kann ja sogar einem Nichtberechtigten die Möglichkeit geben, wirksam über fremdes Eigentum zu verfügen. Vielmehr ist bei jeder Norm gesondert zu prüfen, ob ihre ratio legis der Anwendung von Rechtsscheinregeln entgegensteht; grundsätzlich zu bejahen ist das aber nur bei Schutzvorschriften zugunsten des Nichtkaufmanns. II. Der Scheinreeder und der Scheinausrüster Auf das engste verwandt mit der Lehre vom Scheinkaufmann ist die Lehre vom Scheinreeder und vom Scheinausrüster.18 Es kann daher im wesentlichen auf die Ausführungen zu jener verwiesen werden; insbesondere gelten auch hier dieselben Zurechnungsgrundsätze, wobei erhebliche praktische Bedeutung vor allem der Einstandspflicht für ein verkehrstypisches Verhalten zukommen dürfte.19 Hinsichtlich der Rechtsfolgen ist dabei besonders zu beachten, daß die Rechtsscheinhaftung nur bei solchen Ansprüchen, die mit einem Vertrag zusammenhängen oder sich aus rechtsgeschäftlichem Kontakt ergeben, zum Zuge kommt;20 16 Vgl. Hueck ArchBürgR 43, 451 f.; Granzow aaO. S. 29; Düringer-Hachenburg-Breit § 366 Anm. 3; RGR-Komm. (Brüggemann) Anh. zu § 5Anm. 6 (unter f.) und § 366 Anm. 19 (Ratz); Schlegelberger-Hefermehl § 366 Rdz. 19; Baumbach-Duden § 366 Anm. 2 A. 17 So aber Hueck aaO. S. 451; Brüggemann aaO. Anm. 6 (unter f.); Schlegelberger-Hildebrandt § 5 Rdz. 14 a. E. 18 Vgl. dazu Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht, 2. Aufl. 1950, S. 117 ff. (120); Schaps-Abraham, Das deutsche Seerecht II, 3. Aufl. 1962, § 510 HGB Anm. 6; SchlegelbergerLiesecke, Seehandelsrecht, 2. Aufl. 1964, § 510 Rdz. 5 ; Prüssmann, Seehandelsrecht, 1968, § 510 Anm. A 1 a. E. 19 Vgl. die Beispiele bei Wüstendörfer aaO. S. 120. 20 Vgl. dazu allgemein unten § 35 II.
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daher gilt z. B. § 485 HGB für den Scheinreeder insoweit nicht, als er auch außerkontrakliche Ansprüche umfaßt. [183]
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§ 17 Die Sonderproblematik des § 25 HGB und verwandter Tatbestände I. § 25 I 1 HGB 1. Nach einer verbreiteten Ansicht soll § 25 HGB einen Tatbestand der Rechtsscheinhaftung darstellen.1 Bei genauerer Prüfung bereitet es jedoch erhebliche Schwierigkeiten, eine einleuchtende ratio legis der Vorschrift festzustellen. Auf den ersten Blick könnte man allerdings meinen, der Rechtsgrund des § 25 HGB sei ähnlich wie im Falle des § 419 BGB in dem Gedanken der Zusammengehörigkeit von Aktiva und Passiva zu sehen; in der Tat wäre es ein vernünftiges gesetzgeberisches Ziel, den Altgläubigern bei der Übertragung eines kaufmännischen Unternehmens ihre bisherige Haftungsgrundlage zu erhalten. Indessen geht aus der Fassung des § 25 HGB unmißverständlich hervor, daß dies nicht sein Sinn ist. Denn dann könnte es nicht darauf ankommen, daß die Firma fortgeführt wird: das Interesse der Altgläubiger an der Erhaltung ihrer Haftungsgrundlage ist bei einem Wechsel der Firma genau dasselbe. Weiter wäre nicht verständlich, daß der Übernehmer seine Haftung gemäß § 25 II HGB ausschließen kann; § 25 HGB müßte vielmehr wie § 419 BGB insoweit zwingend sein. Schließlich wäre nicht zu rechtfertigen, daß der Übernehmer unbeschränkbar auch mit seinem persönlichen Vermögen haftet; § 419 BGB sieht folgerichtig in Abs. II die Möglichkeit einer Beschränkung vor. In der Tat kam es dem Gesetzgeber denn auch nicht auf die Erhaltung der Haftungsgrundlage an. In der Denkschrift heißt es zur Begründung des § 25 HBG vielmehr: „Im Verkehr wird vielfach die Firma ohne Rücksicht auf die Person ihres Inhabers als Eigentümerin des Handelsvermögens, als Trägerin der durch den Handelsbetrieb begründeten Rechte und Pflichten angesehen. Diese Auffassung ist rechtlich allerdings nicht zutreffend, nichtsdestoweniger erscheint es gerechtfertigt, der Verkehrsauffassung, nach welcher der jeweilige Inhaber der Firma als Berechtigter und Verpflichteter angesehen wird, ... entgegenzukommen. Denn der Erwerber eines Geschäfts, der die Firma, wenngleich mit einem Zusatze, fortführt, erklärt dadurch seine Absicht, in die Geschäftsbeziehungen des früheren Geschäftsinhabers so weit als möglich einzutreten“.2 Diese Begründung ist nun allerdings eher geeignet, die Schwierigkeiten noch zu vermehren. Denn sie enthält zwei völlig verschiedene Gedankengänge,3 die zu allem Überfluß auch noch durch „denn“ miteinander verknüpft werden: zunächst 1 Vgl. RGZ 149, 25 (28); 169, 133 (138); BGHZ 18, 248 (250); 22, 234 (239); 29, 1 (3); BGH WM 61, 917 (918); A. Hueck ZHR 108, 8; Schlegelberger-Hildebrandt § 25 Rdzn. 2 und 6 a. A.; wohl auch Baumbach-Duden § 25 Anm. 2 C; Langen JZ 56, 59. 2 Vgl. S. 38. 3 Vgl. auch Pisko, Ehrenbergs Handbuch II, 1914, S. 255.
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wird auf die Verkehrsauffassung abgestellt, die in der Firma angeblich ein eigenständiges Rechtssubjekt sieht, und dann wird die Haftung auf eine Willenserklärung des Erwerbers zurückgeführt. Hinter dem letzteren Gedanken steht erkennbar die verfehlte4 Theorie von der Erklärung an die Öffentlichkeit, und diese erweist sich [184] in diesem besonderen Anwendungsfall als ebenso fiktiv wie im Grundsätzlichen:5 wer ein Geschäft fortführt, setzt nichts „in Geltung“, sondern legt ein rein tatsächliches Verhalten an den Tag. So dürfte es denn heute wohl auch h. L. sein, daß die ratio legis des § 25 I in dem anderen in der Denkschrift angeführten Grund zu suchen ist: in der Berücksichtigung der Verkehrsauffassung hinsichtlich der Eigenständigkeit der Firma.6 Es fragt sich daher, ob sich die Vorschrift von diesem Ausgangspunkt aus in die Rechtsscheinhaftung einordnen läßt. Indessen drängt sich hier sofort der Einwand auf, § 25 setze unzweifelhaft nicht voraus, daß der Altgläubiger im Vertrauen auf die Haftung des neuen Firmeninhabers eine Disposition vorgenommen hat. Einen Vertrauensschutz auch dort zu gewähren, wo der Vertrauende sein Vertrauen gar nicht „betätigt“ hat, ist aber mit den Prinzipien der Rechtsscheinhaftung grundsätzlich unvereinbar,7 und zu behaupten, in § 25 HGB könne der Rechtsschein ausnahmsweise relevant sein, ohne daß der gutgläubige Dritte „durch sein Vertrauen zu bestimmten Entschließungen veranlaßt“ wird,8 ist eine klassische petitio principii: es fragt sich ja gerade, ob § 25 sich in die Rechtsscheinhaftung einordnen läßt, und es müßte daher zumindest dargetan werden, warum der Verzicht auf das Erfordernis der „Disposition“ hier sachlich begründet ist. Weiterhin steht § 25 HGB auch insofern mit den Grundgedanken der Rechtsscheinlehre in Widerspruch, als der gute Glaube des Dritten nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes keine Rolle spielt. In engem Zusammenhang damit steht schließlich die Frage – und damit dringt die Kritik zum Kern der Problematik vor –, worin hier eigentlich der Scheintatbestand liegen soll. Man könnte zunächst daran denken, es werde der Schein einer kumulativen rechtsgeschäftlichen Schuldübernahme geschaffen.9 Indessen kommt eine externe Übernahme nicht in Betracht (selbst wenn man sie ausnahmsweise durch einseitiges Rechtsgeschäft zuließe), weil die Fortführung
Vgl. dazu oben § 14 II. Sie wird gleichwohl noch vielfach herangezogen; vgl. z. B. RGZ 149, 25 (28); BGHZ 18, 248 (250); OLG Saarbrücken JZ 52, 35; Schlegelberger-Hildebrandt § 25 Rdz. 2. 6 Vgl. RGZ 145, 274 (278); BGHZ 29, 1 (3); BGH WM 61, 917 (918); BGH LM Nr. 4 zu § 28 HGB (Bl. 2 Vorders.); RGR-Komm. (Würdinger) § 25 Anm. 1; Schlegelberger-Hildebrandt § 25 Rdz. 1; v. Gierke § 16 I 3 b α aa. 7 Vgl. allgemein unten § 40 III. 8 So BGHZ 22, 239; Schlegelberger-Hildebrandt § 25 Rdz. 6. 9 In diesem Sinn wohl Hueck aaO. 4 5
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der Firma nicht typischerweise10 eine entsprechende Geltungserklärung darstellt. Nicht besser steht es mit der Annahme einer internen kumulativen Schuldübernahme: Veräußerer und Erwerber haben zu einer derartigen Verstärkung der Rechtsposition der Altgläubiger i. d. R. nicht den geringsten Anlaß, und diese können daher auch nicht von einem entsprechenden Vertrag zwischen jenen ausgehen; vielmehr werden Veräußerer und Erwerber allenfalls eine privative Schuldübernahme vereinbaren – ein Fall, den § 25 HGB [185] nicht betrifft – oder eine bloße Erfüllungsübernahme, die den Altgläubigern nach § 329 BGB im Zweifel gar keinen eigenen Anspruch gäbe. Es ist daher ausgeschlossen, in der Firmenfortführung die Deklaration einer kumulativen rechtsgeschäftlichen Schuldübernahme mit Wirkung gegenüber den Altgläubigern zu sehen, und folglich besteht auch kein entsprechender Rechtsschein. Es bleibt somit allenfalls die Annahme, es bestehe ein Rechtsschein hinsichtlich eines gesetzlichen „Übergangs“ der Schulden. In dieser Richtung dürften in der Tat die Vorstellungen der h. L. liegen: das Gesetz will dem Glauben des Kaufmanns an die Haftung der „Firma“ Rechnung tragen, und daher soll wohl in der Firmenfortführung die Schaffung eines entsprechenden Rechtsscheins zu erblicken sein. Indessen ist auch auf diesem Wege nicht weiter zu kommen. Zunächst ist einzuwenden, daß bei folgerichtiger Durchführung dieses Gedankens nur die „Firma“ haften dürfte, daß also, in die Kategorien des geltenden Rechts übersetzt, nur eine Haftung des Erwerbers mit dem übernommenen, nicht auch mit dem persönlichen Vermögen in Betracht käme.11 Vor allem aber scheitert auch bei dieser Interpretation die Einordnung des § 25 HGB in die Rechtsscheinlehre daran, daß hinsichtlich der Haftung der Firma gar kein objektiver Scheintatbestand vorliegt: die Firma als solche kann nach geltendem Recht überhaupt nicht selbständige Trägerin von Rechten und Pflichten sein. Anders gesprochen: § 25 schützt den guten Glauben an eine falsche Rechtsansicht.12 Den Zweck der Vorschrift so
10 In dem Gedanken der typisierten Erklärungsbedeutung läge sonst ein Ansatz für eine Rechtsscheinhaftung (vgl. unten § 20 I), doch setzt dies immer voraus, daß das fragliche Verhalten typischerweise den treffenden Sinn hat (vgl. unten S. 219 und 221 f.). 11 Insoweit dürfte der zweite in der Denkschrift angegebene Grund, die angebliche Erklärung an die Öffentlichkeit, die Fassung des § 25 bestimmt haben. Es zeigt sich hier, daß der Gesetzgeber überhaupt keine durchdachte Konzeption besaß, sondern in dem Bemühen, eine alte Streitfrage (vgl. zum Stand der Meinungen vor Schaffung des § 25 Pisko aaO. S. 242 f.) zu entscheiden, einen „faulen“ Kompromiß zwischen verschiedenen Theorien gewählt hat. Die Konzeptionslosigkeit tritt im übrigen auch bei einem Vergleich mit den verwandten Vorschriften der §§ 28, 130, 173 HGB zu Tage, vgl. unten II mit Fn. 18. 12 Der Unsinn wird dadurch vollendet, daß § 25 selbstverständlich auch dann gilt, wenn der Dritte im Einzelfall zutreffende juristische Vorstellungen hinsichtlich der „Selbständigkeit“ der Firma hat. Es wird also nicht die aktuelle Rechtsunkenntnis, sondern generell eine „verbreitete“ falsche Ansicht geschützt. In der Tat kann der Altgläubiger ja schlecht für seine Rechtskenntnisse „bestraft“ werden, und deshalb blieb dem Gesetzgeber nur diese Lösung. Auch insoweit
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zu formulieren, heißt zugleich ihre Fragwürdigkeit auch in rechtspolitischer Hinsicht evident machen. In der Tat erweist sich hier wieder einmal, daß Rechtsdogmatik stets ein Stück Rechtskritik enthält: § 25 HGB ist nicht nur de lege lata eine gänzlich systemwidrige Norm, die weder in die Vertrauenshaftung einzuordnen noch angesichts ihrer inneren Widersprüchlichkeit13 sonst irgendwie sinnvoll zu interpretieren ist, sondern bedarf auch de lege ferenda der Korrektur.14 2. Diese Kritik hat auch praktische Bedeutung für das geltende Recht. Aus ihr folgt zunächst, daß § 25 HGB keine Verallgemeinerung verträgt und daß aus ihm [186] keine Rückschlüsse für das System der Rechtsscheinhaftung gezogen werden dürfen. Sie ist aber darüber hinaus auch für die Auslegung der Vorschrift selbst von Wichtigkeit. Es scheint heute in Rechtsprechung und Schrifttum Einigkeit darüber zu bestehen, daß § 25 HGB auch dann Anwendung findet, wenn der Übernahmevertrag nichtig oder wirksam angefochten ist.15 Aus den Regeln der Rechtsscheinhaftung läßt sich das nur dann ableiten, wenn der Altgläubiger in Kenntnis der Geschäftsübernahme eine Disposition vorgenommen, also z. B. die Forderung gestundet hat.16 Die h. L. hat jedoch ersichtlich nicht diesen – praktisch wohl äußerst seltenen – Sonderfall im Auge, sondern will Einwendungen offenbar auch sonst ausschließen. Indessen paßt § 25 I 1 hier seinem Sinn nach nicht: es soll ja, wie gesagt, der Glaube an die Haftung der „Firma“ geschützt werden, und an diese, d. h. an das zu dem Geschäft gehörige Vermögen, kann sich der Altgläubiger ja ohne weiteres halten, – bei Nichtigkeit der Übertragungsakte oder nach der Rückübertragung der Vermögensgegenstände unmittelbar, bei Wirksamkeit der Übertragung und vor der Rückübertragung durch Pfändung der entsprechenden Ansprüche des früheren Inhabers. Irgend ein Anlaß, ihm den Zugriff auf das persönliche Vermögen des Übernehmers zu gestatten, ist daher nicht ersichtlich. Im übrigen bestehen zwischen dem Normalfall eines fehlerfreien Übernahmevertrages und dem Ausnahmefall eines fehlerhaften so schwerwiegende Unterschiede, daß man § 25 I 1 auf Grund einer Restriktion selbst dann nicht anwenden dürfte, wenn man ihn für „an sich“ einschlägig hielte: im ersten Fall kann der Übernehmer die Haftung für die Altschulden bei der Aushandlung der Vertragsbedingundürfte übrigens die Lehre von der Erklärung an die Öffentlichkeit maßgeblich gewesen sein, vgl. auch die vorige Fn. 13 Vgl. auch Fn. 11 und 12. 14 Vgl. auch Pisko aaO. S. 243 f., 245 f., 255; Fischer Anm. zu BGH LM Nr. 3 zu § 28 HGB. 15 Vgl. RGZ 149, 25 (28 f.); RG HRR 1932, Nr. 256; BGHZ 18, 248 (251 f.); 22, 234 (239); OLG Düsseldorf BB 63, 58; Pisko aaO. S. 252 (sogar unter Einschluß Bösgläubiger); Staub-Bondi § 25 Anm. 10; RGR-Komm. (Würdinger) § 25 Anm. 8 ff. und 13; Schlegelberger-Hildebrandt § 25 Rdz. 6; Baumbach-Duden § 25 Anm. 2 C; Pawlowski, Rechtgeschäftliche Folgen nichtiger Rechtsgeschäfte, 1966, S. 91 ff. (96 ff.); a. A. Düringer-Hachenburg-Hoeniger § 25 Anm. 20; Ritter §§ 25 ff. Anm. 3; auf den Einzelfall und § 242 BGB abstellend OLG Saarbrücken JZ 52, 35 m. Anm. Weipert. 16 Zu den Einzelheiten vgl. oben § 15 II 5.
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gen, insbesondere der Höhe des Kaufpreises berücksichtigen, im zweiten sind wegen der Nichtigkeit alle seine diesbezüglichen Kalkulationen hinfällig; im ersten Fall begibt er sich i. d. R. „sehend“ und unbeeinflußt in die Gefahr der Haftung – er könnte sie ja nach Abs. II ausschließen –, im zweiten ist sein Handeln dagegen durch einen schweren Mangel – Drohung, Täuschung usw. – beeinträchtigt. Es ist daher mit dem Gebot des negativen Satzes der Gerechtigkeit, Ungleiches verschieden zu behandeln, nicht zu vereinbaren, an beide Fälle gleichermaßen die Rechtsfolgen des § 25 I 1 HGB zu knüpfen. Außerdem ist nachdrücklich auf die Interessenlage zu verweisen: warum soll denn der Schutz der Altgläubiger, die mit einem neuen Schuldner in keiner Weise rechnen konnten und die im Vertrauen auf die Mithaftung keinerlei Disposition vorgenommen haben (!), dem Schutz des Bedrohten, Getäuschten, Bewucherten usw. vorgehen?! Schließlich sei auch noch an die vernünftige Maxime erinnert, daß rechtspolitisch verfehlte oder auch nur systemwidrige und unklare Vorschriften – [187] auf § 25 I 1 passen alle diese Attribute! – eng auszulegen sind. Die h. L. ist somit abzulehnen. Sie ist methodisch unhaltbar und führt zu grob unbilligen Ergebnissen, die man in ihrer Willkürlichkeit geradezu als einen Verstoß gegen den Rechtsgedanken bezeichnen muß. II. § 27, § 28 und §§ 130, 173 HGB Für die Unbeschränkbarkeit der Erbenhaftung im Falle der Firmenfortführung spricht ebensowenig wie bei der Geschäftsübernahme unter Lebenden. Insbesondere läßt sich § 27 HBG aus denselben Gründen wie § 25 nicht in die Rechtsscheinhaftung einordnen. – Ganz abwegig ist es, sogar § 28 HGB in den Zusammenhang der Rechtsscheinhaftung bringen zu wollen,17 kommt es hier doch nach der ausdrücklichen Vorschrift des Gesetzes nicht einmal auf die Fortführung der Firma an, – was allerdings im Vergleich zu § 25 HGB ein willkürlicher Unterschied ist und einen erneuten Beweis für die Konzeptionslosigkeit des Gesetzgebers darstellt.18 Einen faßbaren Sinn hinter der Vorschrift zu entdecken, soweit sie nicht nur die Haftung mit dem gemeinsamen Gesellschaftsvermögen, sondern auch die persönliche Haftung des Eintretenden anordnet, dürfte überhaupt nicht möglich sein;19 jedenfalls versagt auch der Gedanke der Zusammengehörigkeit 17 Unrichtig daher Schlegelberger-Hildebrandt § 28 Rdz. 1, der § 28 als Ausfluß der „Grundsätze des Vertrauensschutzes, wie sie bereits der Regelung in den Fällen des § 25 HGB zugrunde liegen“, erklärt; richtig dagegen insoweit BGH LM Nr. 4 zu § 28 HGB (Bl. 2 Vorders.) und Baumbach-Duden § 28 Anm. A. 18 Diese tritt auch darin zu Tage, daß §§ 130, 173 HGB im Gegensatz zu §§ 25, 28 HGB zwingend sind, – ein durch nichts zu rechtfertigender Unterschied. 19 So mit Recht Fischer Anm. zu BGH LM Nr. 3 zu § 28 HGB.
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von Aktiva und Passiva,20 weil die Haftung dann beschränkbar und insoweit zwingend sein müßte. – Ebensowenig stellen schließlich die §§ 130, 173 HGB Tatbestände der Rechtsscheinhaftung dar: weder besteht ein Scheintatbestand hinsichtlich der Mithaftung des Eintretenden für die bisherigen Schulden, noch ist eine „Disposition“ des Altgläubigers erforderlich. Auch hier ist eine Haftung bei Fehlerhaftigkeit des Beitritts nur unter den engen Voraussetzungen echter Rechtsscheinhaftung zu rechtfertigen.21 Insgesamt erscheint die ganze Regelung der Haftung für Altschulden so voller Unklarheiten und Wertungswidersprüche, daß ihre Verfassungsmäßigkeit im Hinblick auf das Willkürverbot des Art. 3 I GG als äußerst zweifelhaft bezeichnet werden muß.22 Jedenfalls ist dringend zu fordern, daß der Gesetzgeber sie bei nächster Gelegenheit durch eine bessere und einheitliche Konzeption ersetzt. [188] Zweiter Unterabschnitt Die dritte Erweiterung: Die Einstandspflicht für einen ohne Erklärungsbewußtsein geschaffenen Scheintatbestand im Handelsrecht In den bisher erörterten Fällen ging es stets um eine bewußte Erklärung dessen, gegen den der Rechtsschein spricht, mag sie auch im irrigen Glauben an ihre Richtigkeit oder unter dem Einfluß eines Willensmangels abgegeben sein. Ein besonderes Verkehrsschutzbedürfnis besteht aber, wie bereits mehrfach deutlich geworden ist, u. U. auch dann, wenn jemand einen Vertrauenstatbestand schafft, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein, also in den Fällen fehlenden Erklärungsbewußtseins. In der Tat kennt nun das Handelsrecht eine Reihe von Instituten, deren Zweck darin liegt, jemanden an einen solchen unbewußt geschaffenen Vertrauenstatbestand zu binden. So hat z. B. nach § 56 HGB der Angestellte in einem Laden Vertretungsmacht für die üblichen Geschäfte, ohne daß der Geschäftsherr einwenden könnte, einer entsprechenden Bevollmächtigung oder der Schaffung des Scheins einer solchen sei er sich nicht bewußt gewesen. Ferner gilt nach § 362 HGB das Schweigen eines Kaufmanns auf einen Antrag über eine Geschäftsbesorgung unter bestimmten Voraussetzungen als Annahme, ohne daß es darauf ankommt, ob jener ein entsprechendes Bewußtsein hatte, und ähnlich wird das Schweigen auf ein Bestätigungsschreiben i. d. R. auch dann als „Geneh20 Darin sieht der BGH aaO. (Bl. 3 Vorders.) den Grund des § 28; zustimmend BaumbachDuden aaO.; ähnlich RGR-Komm. (Würdinger) § 28 Anm. 1 a. E. und RGZ 164, 120; dagegen mit Recht Fischer aaO. 21 Vgl. oben § 15 II 5. 22 Vgl. näher Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 1969, S. 129.
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migung“ gewertet, wenn dem Empfänger des Schreibens ein dahingehendes Erklärungsbewußtsein fehlte. Mit Hilfe der Rechtsgeschäftslehre läßt sich die Bindung in diesen Fällen nicht erklären, da bei fehlendem Erklärungsbewußtsein keine vollwirksame Willenserklärung vorliegt.1 Auch die im bisherigen Verlauf dieser Arbeit entwickelten allgemeinen Rechtsscheinprinzipien führen aber, wie gesagt, nicht weiter, da sie ebenfalls das Vorliegen eines Erklärungs- oder Kundgabebewußtseins voraussetzen. Sollten sich die in Frage stehenden Erscheinungen überhaupt in die Vertrauenshaftung, insbesondere in die Rechtsscheinhaftung einordnen lassen, so stellt sich daher das zentrale Problem dahin, warum und unter welchen Voraussetzungen auf das Vorliegen des Erklärungsbewußtseins verzichtet werden kann. Um das zu klären, sind zunächst die gesetzlich oder gewohnheitsrechtlich geregelten Fälle näher zu untersuchen, um anschließend wiederum die Frage nach einem eventuell zugrunde liegenden „allgemeinen“ Prinzip und damit nach der Ausweitungsfähigkeit jener Rechtssätze prüfen zu können. Dabei muß von vornherein klar gesehen werden, daß das Fehlen des Erklärungsbewußtseins verschiedene Gründe haben kann und daß sich dementsprechend unterschiedliche Fragestellungen ergeben: es kann zum einen darauf beruhen, daß sich der Betreffende lediglich über die aus seinem Verhalten zu ziehenden Schlüsse im unklaren ist, daß er also z. B. annimmt, sein Schweigen gelte nicht als Zustimmung; es kann zum anderen darauf zurückzuführen sein, daß ihm schon die zugrunde liegenden Tatsachen unbekannt sind, daß er also z. B. vom [189] Eingang des Bestätigungsschreibens keine Kenntnis erlangt hat. Im ersten Fall soll im folgenden von einem (bloßen2) Schlüssigkeitsirrtum, im zweiten von Tatsachenunkenntnis gesprochen werden.
Sie ist entweder von vornherein unwirksam oder anfechtbar, vgl. unten S. 548 ff. Auch die Unkenntnis der Tatsachen führt natürlich zu einem Irrtum über die Schlüssigkeit, doch ist dieser nur deren mittelbare Folge. 1 2
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§ 18 Die Scheinvollmacht im Handelsrecht Das erste in diesem Zusammenhang zu nennende Beispiel ist die Scheinvollmacht; denn bei dieser ist im Handelsrecht seit langem anerkannt, daß sie sowohl trotz eines Irrtums des Geschäftsherrn über die Schlüssigkeit seines Verhaltens – z. B. hinsichtlich der mit der Einräumung einer bestimmten Stellung typischerweise verbundenen Vertretungsmacht – als auch trotz seiner Unkenntnis von den sie begründenden Tatsachen – z. B. des Auftretens des falsus procurator in den Fällen der „Anscheinsvollmacht“ – vorliegen kann. I. Die Scheinvollmacht kraft Einräumung einer Stellung 1. „Wer in einem Laden oder in einem offenen Warenlager angestellt ist“, gilt nach § 56 HGB „als ermächtigt zu Verkäufen und Empfangnahmen, die in einem derartigen Laden oder Warenlager gewöhnlich geschehen“. Dies mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre zu erklären,1 heißt den wahren Sinn der Vorschrift verkennen. Sofern der Angestellte intern Vollmacht hat, bedarf es nämlich des § 56 HGB überhaupt nicht, und in der „Anstellung“ eine externe Vollmachtserteilung zu sehen, wäre lebensfremd: weder übermittelt der Angestellte immer erneut als Bote eine Vollmacht an jeden Kunden, noch liegt eine – konstitutive – Erklärung an die Öffentlichkeit vor.2 Mit Recht heißt es vielmehr schon in den Protokollen zum ADHGB, der Käufer solle die als Verkäufer tätigen Personen „für bevollmächtigt(!) halten dürfen“;3 wie so oft bei der Abgrenzung zwischen rechtsgeschäftlicher Bindung und Rechtsscheinhaftung geht es also wieder um den Unterschied von konstitutiver Erklärung und deklaratorischer Kundgabe: wer einen Verkäufer in einem Laden agieren läßt, setzt damit nicht eine Vollmacht in Geltung, sondern deklariert, daß jener bevollmächtigt(!) worden sei. – Selbst wenn man dem nicht zustimmt, läßt sich § 56 HGB dennoch nicht mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre erklären. Denn sofern der Geschäftsherr nicht weiß, daß sein Verhalten als Bevollmächtigung zu werten ist, fehlt es ihm am Erklärungsbewußtsein; unzweifelhaft kann dieser Einwand aber nicht die Rechtsfolge des § 56 HGB ausschließen, woraus erhellt, daß diese nicht ex voluntate, sondern ex lege eintritt. [190]
So Flume § 49, 3 (S. 829). Vgl. auch oben § 5 III 1. 3 Vgl. Prot. z. ADHGB, 1858, S. 98. 1 2
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Statt dessen ist § 56 mit der h. L.4 in die Rechtsscheinhaftung einzuordnen.5 Denn deren Kategorien vermögen die Vorschrift ohne weiteres zu erklären, und ihre Voraussetzungen sind ausnahmslos erfüllt. Insbesondere besteht Einigkeit darüber, daß das Erfordernis der Gutgläubigkeit in § 56 hineinzuinterpretieren ist.6 Auch kann man in der „Anstellung“ in dem Laden ohne weiteres einen Scheintatbestand hinsichtlich einer vorangegangenen internen Bevollmächtigung sehen, da eine solche in aller Regel wirklich stattgefunden haben wird und ihr Vorliegen daher verkehrstypisch ist;7 daß das Gesetz an diese typische Bedeutung anknüpft und sie generalisiert, ist im Rahmen der Rechtsscheinhaftung nichts Ungewöhnliches, wie z. B. die Erhebung des Besitzes zum generellen Scheintatbestand im Mobiliarsachenrecht zeigt. Das Vorliegen eines Rechtsscheins kann allerdings im Einzelfall widerlegt sein, wenn die Lage insoweit atypisch ist; das ist etwa hinsichtlich der Befugnis der Angestellten zur Entgegennahme von Zahlungen beim Vorhandensein einer Kasse anzunehmen.8 Hinsichtlich der Zurechnung des Scheintatbestandes ist eine Abweichung von den für das bürgerliche Recht entwickelten Prinzipien nur insofern gegeben, als der Geschäftsherr sich nicht darauf berufen kann, er sei sich der Bedeutung der „Anstellung“ nicht bewußt gewesen;9 wollte man § 56 anders auslegen, hätte er praktisch keinen Anwendungsbereich. Dagegen kann von einer „Anstellung“ keine Rede sein, wenn der Geschäftsherr von dem Tätigwerden des falsus procurator im Laden keine Kenntnis hat, und die h. L. fordert daher für § 56 mit Recht, daß jener mit Wissen des Prinzipals im Laden usw. im Verkehr mit Kunden tätig ist.10 Ob man i. E. noch weiter gehen kann, ist keine Frage des § 56, sondern der
4 Vgl. v. Seeler ArchBürgR 28, 47; Wellspacher aaO. S. 108 f.; Oertmann ZHR 95 483 f.; Manigk aaO. S. 597; Krause aaO. S. 155; Demelius AcP 153, 32; Westermann JuS 63, 5; Baumbach-Duden § 56 Anm. A; Palandt-Danckelmann §§ 170 ff. Anm. 4. 5 Hinsichtlich der abweichenden Erklärungsversuche von Manigk (Heymann-Festschrift S. 590 ff.), Reimer Schmidt (Die Obliegenheiten, 1953, S. 123 ff.) und Fabricius (JuS 66, 55 ff.) gilt die Kritik unten § 18 I 1 entsprechend. 6 Meist wird § 54 III HGB analog angewandt; vgl. z. B. Ritter § 56 Anm. 4; RGR-Komm. (Würdinger) § 56 Anm. 4; Schlegelberger-Schröder § 56 Rdz. 1; Baumbach-Duden § 56 Anm. A; v. Gierke § 22 VIII 3; Manigk aaO. S. 618 f.; Krause aaO. S. 155. 7 Vgl. auch Hupka, Die Vollmacht, 1900, S. 124; Manigk aaO. S. 614 f. 8 Vgl. Düringer-Hachenburg-Hoeniger § 56 Anm. 2; Ritter § 56 Anm. 4; RGRKomm. (Würdinger) § 56, Anm. 4; Schlegelberger-Schröder § 56 Rdz. 1; Baumbach-Duden § 56 Anm. B a; v. Gierke § 22 VIII 3. 9 Zur grundsätzlichen Beachtlichkeit eines Schlüssigkeitsirrtums im Rahmen der Rechtsscheinhaftung vgl. oben § 5 II 3 = S. 43 und unten § 20 vor I = S. 217 f. 10 Vgl. RGZ 108, 48 (49 f.); Wellspacher aaO. S. 109; Ritter § 56 Anm. 3; RGR-Komm. (Würdinger) § 56 Anm. 1; Schlegelberger-Schröder § 56 Rdz. 2; Baumbach-Duden § 56 Anm. B b; MüllerErzbach S. 131; v. Gierke § 22 VIII 1 vor a; Schumann I S. 140; Capelle § 7 B VIII 2 a.
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– insoweit u. U. ergänzend heranzuziehenden – Regeln über die „Anscheinsvollmacht“.11 [191] 2. An § 56 anknüpfend, aber weit über diesen hinausgehend haben Rechtsprechung und Lehre den Satz entwickelt, daß eine Scheinvollmacht überall dort anzunehmen ist, wo jemandem – trotz atypischer interner Bindungen – nach außen eine Stellung eingeräumt wird, mit der verkehrstypisch eine bestimmte Vollmacht verbunden ist.12 Dem ist zuzustimmen, da § 56 HGB, wie soeben ausgeführt, in der Tat nur durch die ihm entsprechende Verkehrssitte gerechtfertigt ist und da kein Grund ersichtlich ist, diese lediglich bei der Anstellung in einem Laden, nicht aber auch bei der Einräumung einer anderen, verkehrstypisch auf eine Vertretungsmacht hinweisenden Stellung zur Grundlage einer Rechtsscheinhaftung zu machen.13 Freilich ist Vorsicht bei der Annahme einer derartigen Scheinvollmacht geboten: es ist jeweils genau zu prüfen, ob die fragliche Stellung wirklich verkehrstypisch eine entsprechende Vollmacht einschließt; fehlt es daran, so liegt in der Stellung allein kein hinreichender Scheintatbestand. In Grenzfällen sollte man lieber auf die Grundsätze der Duldungs- und Anscheinsvollmacht zurückgreifen. Äußerste Zurückhaltung ist insbesondere am Platze, wo der Rechtsschein sich ausschließlich auf die Führung eines Titels gründet.14 Abgesehen von den Titeln „Prokurist“ und „Handlungsbevollmächtigter“ wird es kaum Fälle geben, in denen mit dem Titel allein – also unabhängig von einer entsprechenden äußeren Stellung – verkehrstypisch eine bestimmte Vollmacht verbunden ist. Jedenfalls sind aber auch dort, wo dies der Fall sein sollte, angesichts des in der Wirtschaft heute verbreiteten Titelunwesens strenge Anforderungen an den guten Glauben des Dritten zu stellen; keineswegs braucht z. B. jeder „Direktor“ alleinige Zeichnungsbefugnis zu haben. II. Die „Anscheinsvollmacht“ im Handelsrecht Die „Anscheinsvollmacht“ in dem vom BGH gebrauchten Sinne des Wortes15 hat mit den bisher erörterten Fällen gemeinsam, daß es um die Deklaration einer in Wahrheit nicht bestehenden Vollmacht durch konkludentes Verhalten geht. Sie unterscheidet sich von ihnen zum einen dadurch, daß diese Deklaration Vgl. näher unten S. 195. Vgl. RGZ 75, 328 (331); 86, 86 (89); 118, 234 (240 f.); RG SeuffArch 59 Nr. 177 (S. 312); 76 Nr. 73 (S. 119); Isay, Die Geschäftsführung, 1900, S. 239; v. Seeler ArchBürgR 28, 45; Wellspacher aaO. S. 101 ff.; Krause aaO. S. 23 m. Nachw., S. 149 f., 155 f.; Düringer-Hachenburg-Hoeniger Anm. 47 vor § 48; Schlegelberger-Schröder § 54 Rdz. 9 a. A.; vgl. auch Manigk aaO. S. 654 f. 13 Vgl. auch unten § 20 I 1 und 2. 14 Vgl. dazu Bruck-Möller, VVG, 8. Aufl. 1961, § 45 Anm. 41 m. Nachw. aus der Rspr. 15 Vgl. die Nachweise oben § 5 Fn. 70. 11 12
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nicht durch positives Tun, sondern durch Schweigen erfolgt, zum anderen dadurch, daß hier der Geschäftsherr keine Kenntnis vom Agieren des falsus procurator hat, sich also nicht lediglich in einem Schlüssigkeits-, sondern in einem Tatsachenirrtum befindet.16 Diese Unkenntnis der den Rechtsschein begründenden Tatsachen ist zugleich der einzige Unterschied zur Duldungsvollmacht. Daher ist grundsätzlich auf [192] die Regeln über diese zu verweisen17 und lediglich zu klären, ob und warum die „Anscheinsvollmacht“ trotz der hervorgehobenen Besonderheit – an der, wie gezeigt, ihre Anerkennung im bürgerlichen Recht scheitert!18 – im Handelsrecht Geltung beanspruchen kann und welche zusätzlichen Probleme sich in diesem Fall ergeben. 1. Anders als für das bürgerliche Recht ist für das Handelsrecht eine gewohnheitsrechtliche Verfestigung der Regeln über die Anscheinsvollmacht nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen.19 Indessen sollte man sich bei einer derartigen positivistischen Begründung, die zudem beim derzeitigen Stand der Entwicklung20 noch als recht fragwürdig angesehen werden muß, nicht beruhigen, sondern nach der inneren Berechtigung dieses Instituts fragen. Insoweit ist zunächst auf die enge Verwandtschaft der Problematik mit § 362 HGB und den Rechtssätzen über das Bestätigungsschreiben zu verweisen: auch dort geht es darum, daß jemand schweigt, weil er bestimmte Tatsachen nicht kennt und daher keinen Anlaß zu einem Widerspruch sieht, und auch dort auferlegt ihm die Rechtsordnung gleichwohl eine Erfüllungshaftung.21 Die Bindung des Schweigenden trotz fehlenden Erklärungsbewußtseins im Falle der „Anscheinsvollmacht“ hat also im Handelsrecht unzweifelhaft Parallelerscheinungen und kann daher hier keinesfalls von vornherein als systemwidrig zurückgewiesen werden.
Zur Terminologie vgl. oben S. 188 f. Vgl. oben § 6 II. 18 Vgl. § 6 IV. 19 Für die Annahme eines Gewohnheitsrechts z. B. Heymann, RG-Festschrift IV, 1929, S. 327; Stoll AcP 135, 108 und 112; a. A. Flume § 49, 4 (S. 833). Flumes Vorwurf, der BGH und die h. L. zögen die Entscheidungen des RG über die Duldungsvollmacht irrig für die Anscheinsvollmacht heran, ist nur z. T. gerechtfertigt. So wäre in der Leitentscheidung RGZ 65, 292 in der Tat mit den Regeln über die Duldungsvollmacht auszukommen gewesen (vgl. unten Fn. 22; aber auch Fn. 23). Im übrigen findet sich aber nicht nur häufig ein theoretisches Bekenntnis des RG zur Anscheinsvollmacht (vgl. z. B. RGZ 65, 292 (295); 117, 164 (165); WarnRspr. 1923/24 Nr. 157; 1926 Nr. 154 (S. 228); JW 1927, 2114; Recht 1929 Nr. 1210 (S. 310); LZ 1918, 853; 1930, 1238; HHR 1931 Nr. 529), sondern auch eine Reihe von Urteilen, in denen dieses Institut für das Ergebnis wirklich tragend war (vgl. WarnRspr. 1923/4 Nr. 157; 1926 Nr. 154; SeuffArch. 87 Nr. 100 (S. 185); HRR 1937 Nr. 1296; wohl auch RGZ 117, 164). In der dogmatischen Grundhaltung ist der Kritik Flumes an der Lehre von der Anscheinsvollmacht jedenfalls nicht zu folgen, vgl. unten § 34 II 1. 20 Vgl. die vorige Fn. 21 Vgl. unten § 19 I 3 und II 2 jeweils m. Nachw. 16 17
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In der Tat lassen sich nun auch hinsichtlich der zu regelnden Sachproblematik im Handelsrecht besondere Gründe für eine Anerkennung der Anscheinsvollmacht anführen. Diese hängen nicht nur mit dem gesteigerten Bedürfnis des Handelsverkehrs nach Rechtssicherheit, sondern vor allem auch mit den besonderen Problemen der kaufmännischen Betriebsführung zusammen. Das wird schon aus der Leitentscheidung RGZ 65, 292 deutlich. Dort ging es darum, daß der Rendant einer Genossenschaft laufend Gelder für diese in Empfang genommen und darüber quittiert hatte, obwohl ihm nach den Statuten eine entsprechende Vollmacht fehlte. Das RG sah darin, daß der Vorstand dieses Verhalten jahrelang nicht unterband, eine [193] Scheinvollmacht und erklärte es ausdrücklich für unerheblich, ob er von der Vollmachtsanmaßung des Rendanten Kenntnis hatte oder nicht.22 In der Tat kann es darauf nicht ankommen. Wenn z. B. der Vorstand sich um die Geschäfte gar nicht gekümmert und deshalb von dem Verhalten des Rendanten keine Kenntnis erhalten hätte,23 so könnte dies einer Rechtsscheinhaftung der Genossenschaft unmöglich entgegenstehen. Denn wie diese ihren Betrieb organisiert, wie sie ihre Angestellten überwacht und die Einhaltung der internen Funktionsverteilung gewährleistet, ist ihre Sache und ihr Risiko. Der Dritte braucht sich darum bei Geschäften mit dem Unternehmen grundsätzlich nicht zu kümmern und kann es auch gar nicht, sondern darf sich darauf verlassen, daß der Betrieb ordnungsgemäß organisiert ist; eine entsprechende Anfrage wäre nicht nur überflüssig, sondern geradezu ungehörig, da in ihr ein Ausdruck des Mißtrauens sowohl gegenüber dem Angestellten als auch hinsichtlich der Betriebsorganisation läge. Das praktische Bedürfnis für die Entwicklung der Anscheinsvollmacht dürfte daher letztlich darauf zurückzuführen sein, daß die interne Funktionsverteilung in einem arbeitsteilig organisierten Betrieb für den Dritten regelmäßig undurchschaubar ist und daß dieser sich daher an das nach außen in Erscheinung tretende Bild muß halten können. Diese These wird durch die Tatsache bestätigt, daß sich das Institut der Anscheinsvollmacht auf Grund von Fällen entwickelt hat, in denen der Scheinvertreter Angestellter des Kaufmanns, also in dessen Unternehmen eingegliedert war.24 Dieser innere Zusammenhang wird mißachtet, wenn man mit dem BGH und der h. L. die Rechtssätze über die Anscheinsvollmacht ohne weiteres in das bürgerliche Recht überträgt. Denn wenn z. B. die Ehefrau oder der Sohn des Ge22 Vgl. aaO. S. 295; freilich stellt das RG im weiteren Verlauf fest, der Vorstand habe das Auftreten des Rendanten gebilligt (S. 295 f.), was für eine Duldungsvollmacht spricht, vgl. Flume aaO. S. 833. 23 So könnte es hier in der Tat u. U. gelegen haben, vgl. aaO. S. 294 oben; vgl. auch RG SeuffArch 87 Nr. 100 (S. 185). 24 Vgl. Krause aaO. S. 148 f. mit ausführlichen Rechtsprechungsnachweisen S. 23 f. Mit Recht stellt Krause allgemeiner die „Verknüpfung mit dem Tätigkeitsbereich des Geschäftsherrn“ gleich; denn es handelt sich dabei um eng verwandte Grenzfälle, mag mitunter auch eine Eingliederung in den Betrieb im strengen Sinne nicht vorliegen.
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schäftsherrn ohne dessen Kenntnis als Scheinbevollmächtigte auftreten, so fehlt es an einer derartigen „arbeitsteiligen“ Einordnung in einen Organisation- und Herrschaftsbereich und damit auch an dem inneren Grund für die Anerkennung einer Anscheinshaftung. Auch ist schlechterdings nicht einzusehen, warum der Dritte sich hier nicht durch Rückfrage oder auf andere Weise über das Bestehen einer Vollmacht vergewissern soll; die erwähnten Gegengründe treffen hier gerade nicht zu. So findet die oben § 5 IV vertretene Ablehnung der „Anscheinsvollmacht“ für das bürgerliche Recht hier mittelbar ihre Bestätigung durch die zugrunde liegende Sachproblematik, und man sollte daher in der Tat zu der von einem sicheren Judiz getragenen Rechtsprechung des RG zurückkehren, nach der die Regeln über die Anscheinsvollmacht außerhalb des Handelsrechts nur in solchen Fällen zur An- [194] wendung kommen können, in denen wenigstens wie z. B. bei Gutsbesitzern und Rechtsanwälten25 ein kaufmannsähnlich organisierter Betrieb vorliegt.26 2. Ist somit die Anerkennung der „Anscheinsvollmacht“ im Handelsrecht grundsätzlich gerechtfertigt, so fragt sich weiterhin, nach welchem Kriterium die Zurechnung des Rechtsscheins erfolgen soll. Vereinzelt wird auch hier auf das Veranlassungsprinzip zurückgegriffen,27 während die Rechtsprechung und die h. L. sich für das Verschuldensprinzip ausgesprochen haben28 und darauf abstellen, ob der Geschäftsherr „bei pflichtgemäßer Sorgfalt das Verhalten des Vertreters hätte erkennen müssen und verhindern können“.29 In der Ablehnung des Veranlassungsprinzips ist der h. L. i. E. zu folgen,30 in der Heranziehung des Verschuldensprinzips dagegen nicht. Gegen dieses spricht zunächst schon, daß es nicht selten an der für ein Verschulden erforderlichen Rechtspflichtverletzung fehlt; denn eine allgemeine Rechtspflicht, die Irreführung eines anderen zu verhindern, ist dem geltenden Recht fremd, und für die Annahme einer besonderen Rechtspflicht wird 25 Vgl. RG JW 27, 1089; 31, 522 (524); ähnlich Düringer-Hachenburg-Hoeniger Anm. 47 vor § 48; RGR-Komm. (Würdinger) § 54, 13. 26 Zum Meinungsstand vgl. die Nachw. oben § 5 Fn. 71, 72 und 95; vgl. im übrigen auch die analogen Ergebnisse beim Bestätigungsschreiben unten § 19 II 4 m. Nachw. in Fn. 85. 27 Vgl. vor allem Krause aaO. S. 147 und 150 ff.; zustimmend Kropholler NJW 65, 1642; gegen das Erfordernis eines Verschuldens auch Enn.-Nipperdey § 184 II 3 c α und Erman-BöhleStamschräder § 167 Anm. 4, beide jedoch unter Billigung der Formulierung von BGHZ 5, 116; ähnlich auch Fikentscher AcP 154, 8. 28 Vgl. RG HRR 1931, 529; BGHZ 5, 111 (116); BGH LM Nr. 3, 4, 8, 10, 11, 13 zu § 167 BGB; Nr. 9 zu § 164; Nr. 1 zu § 1357; Nr. 2 zu § 2032; Düringer-Hachenburg-Hoeniger Anm. 47 vor § 48; RGR-Komm. (Würdinger) § 54 Anm. 12 (S. 566 f.); Staudinger-Coing Rdz. 76 vor § 104, Rdzn. 3 f. (unter c) und 7 vor § 116, Rdz. 9 i zu § 167; Soergel-Schultze-v. Lasaulx § 167 Rdz. 17; RGR-Komm. BGB (Kuhn) § 167 Anm. 6; Palandt-Danckelmann §§ 170 ff. Anm. 4; Bruck-Möller § 45 Anm. 37; Lehmann-Hübner § 36 V 2 b γ γγ; Stoll AcP 135, 108 f. und 112; Reimer Schmidt aaO. S. 124 f.; Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, 1963, S. 356 f. 29 So die Formulierung in BGHZ 5, 111 (116). 30 Vgl. unten § 38 I.
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es häufig an der Voraussetzung eines vorherigen rechtsgeschäftlichen Kontakts fehlen.31 Vor allem aber ist die in dieser Arbeit statt dessen befürwortete Verbindung mit dem Risikogedanken generell systemgerechter,32 und daß sie auch problemgerechter ist, erweist sich hier – zusätzlich zu dem allgemein zutreffenden Gesichtspunkt der größeren „Verkehrsfreundlichkeit“33 – auf Grund des soeben Gesagten in besonderem Maße: wenn es wirklich darum geht, den Dritten vor der Undurchsichtigkeit der internen Funktionsverteilung eines Betriebes und den mit seiner [195] arbeitsteiligen Organisation verbundenen Gefahren zu schützen, so ist allein die Heranziehung des Risikogedankens folgerichtig; denn dann ist der tiefere Grund der Haftung des Geschäftsherrn darin zu erblicken, daß er die Organisationsrisiken seines Betriebes insoweit selbst tragen muß. Aus diesem Grundgedanken sind die einzelnen Probleme zu lösen. Besonders schlagend spricht dabei für die hier vertretene Ansicht der Fall der telephonischen Entgegennahme einer Erklärung durch einen nicht zuständigen Angestellten. Diese muß der Geschäftsherr gegen sich gelten lassen,34 sofern die telephonische Abgabe einer entsprechenden Erklärung üblich ist. Daß der Rechtsschein35 dem Geschäftsherrn hier zuzurechnen ist, kann unmöglich mit Hilfe des Verschuldensprinzips begründet werden. Denn es wäre ganz unsinnig, wollte man von Fall zu Fall prüfen, ob eine Überwachungspflicht verletzt worden ist; entweder müßte man zu Verschuldensfiktionen greifen oder den bezweckten Schutz des Dritten weitgehend aushöhlen. In Wahrheit ist es evident, daß nur der Risikogedanke zu einer dogmatisch wie praktisch brauchbaren Lösung führt: daß nur der zuständige Angestellte an das Telephon geht bzw. daß der unzuständige die Erklärung weitergibt, gehört zum typischen Organisationsrisiko eines Betriebes. – Schwieriger ist die Frage zu lösen, ob der Geschäftsinhaber auch für das Handeln einer nicht zu seinem Betrieb gehörigen Person, etwa eines zu-
31 Auch mit der Annahme einer Obliegenheitsverletzung ist insoweit nicht weiterzukommen, da auch diese einer Rechtsgrundlage bedarf und daher wieder nur der Rückgriff auf den rechtsgeschäftlichen (oder sozialen) Kontakt bleibt. 32 Vgl. unten § 38 II 2 = S. 278 ff. 33 Vgl. näher unten § 38 II 1= S. 477 (vor 2). 34 Vgl. z. B. RGZ 102, 295 (296; unter klarer Betonung des Risikogedankens!); RG Recht 1923 Nr. 728; JW 25, 611; LZ 25, 851; SeuffArch. 77 Nr. 150 (S. 238); in dem meist als Leitentscheidung zitierten Urteil RGZ 61, 125 wird die Frage dagegen noch der Zugangs-, nicht der Stellvertretungsproblematik zugeordnet. Vgl. ferner Düringer-Hachenburg-Hoeniger § 54 Anm. 6; Baer, Haftung aus Scheinvollmacht S. 18; Manigk aaO. S. 650; Oertmann § 167 Anm. 4; PalandtDanckelmann §§ 170 ff. Anm. 4; v. Gierke § 22 II; gegen die h. L. Titze, Ehrenbergs Handbuch II, 1918, S. 957 f.; Ritter § 54 Anm. 5; Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung S. 226 ff. Zur weitergehenden älteren Ansicht, wonach auch hinsichtlich der Abgabe einer Erklärung am Telephon Scheinvollmacht bestehen sollte, vgl. z. B. v. Seeler ArchBürgR 28, 48 f.; Wellspacher aaO. S. 104 f.; Macris aaO. jeweils m. Nachw. Diese Lehre ist heute mit Recht aufgegeben, da es insoweit jedenfalls an einem verkehrsmäßig typisierten Vertrauenstatbestand fehlt. 35 Daß der Angestellte hier überhaupt als scheinlegitimiert gilt, läßt sich wieder nur aus einer Typisierung durch die Verkehrssitte erklären. Selbstverständlich kann die Typizität auch hier widerlegt werden, so wenn sich die Putzfrau am Telephon als solche zu erkennen gibt.
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fällig anwesenden Fremden oder gar eines Eindringlings einzustehen hat. Man wird das bejahen müssen, da zu seinem Organisationsrisiko auch gehört, ob und wie er sich vor dem Eingreifen Unbefugter in seinen Betrieb schützt. Das gilt dann folgerichtig auch im Falle des § 56 HGB,36 der insoweit durch die Regeln über die Anscheinsvollmacht ergänzt wird. – Schließlich wird man es dem Organisationsrisiko des Geschäftsherrn auch zurechnen müssen, wenn ein Angestellter Straftaten, z. B. Unterschlagungen oder Urkundenfälschungen zur Verdeckung seiner Vollmachtsanmaßung begeht, da auch insoweit jener das Risiko zumindest abstrakt beherrscht;37 auch in diesem Fall haftet er daher.38 [196]
3. Schließlich sei noch kurz auf die Problematik der analogen Anwendung der Vorschriften über Willensmängel eingegangen. Die h. L.39 verneint diese mit der – unhaltbaren40 – begriffsjuristischen Begründung, daß es sich bei der Rechtsscheinhaftung um eine Einstandspflicht ex lege, nicht ex voluntate handele. Rückt man statt dessen die Problematik der Zurechenbarkeit des Rechtsscheins, um die es in Wahrheit allein geht, in den Mittelpunkt, so zeigt sich, daß zwischen der Anscheinsvollmacht und der Scheinvollmacht kraft Einräumung einer Stellung zu differenzieren ist. Bei ersterer kann die Frage kaum aktuell werden, weil der Geschäftsherr hier vom Handeln des Vertreters keine Kenntnis hat und ein „Willensmangel“ daher für sein Verhalten nicht kausal werden konnte, so daß er auch die Zurechnung nicht beeinflussen kann.41 Eine Ausnahme besteht nur dort, wo der Geschäftsherr durch Drohung i. S. v. § 123 I oder durch eine nach § 123 I oder II 1 BGB relevante arglistige Täuschung an der Kenntnis des Handelns des Scheinvertreters gehindert wurde; hier ist die Zurechnung auszuschließen. Anders liegt es bei der Scheinvollmacht kraft Einräumung einer Stellung, da bei dieser Willensmängel sehr wohl für das Handeln des Geschäftsherrn bestimmend sein können. Soweit sie lediglich das Innenverhältnis betreffen, können sie gutgläubigen Dritten entsprechend den Regeln über den Einwendungsausschluß bei der kundgegebenen Innenvollmacht42 allerdings nicht entgegengesetzt werden. Soweit sie dagegen (auch oder nur) für die Einräumung der Stellung selbst maßgeblich waren, sind sie gemäß den Ausführungen zur Scheinvollmacht im bürgerlichen 36 A. A. h. L.; vgl. Düringer-Hachenburg-Hoeniger § 56 Anm. 1; RGR-Komm. (Würdinger) § 56 Anm. 1; v. Gierke § 22 VIII 1 a; Krause aaO. S. 151; wie im Text i. E. v. Seeler ArchBürgR 28, 48. 37 Auf die konkrete Gefahrbeherrschung kommt es nicht an, vgl. unten § 19 Fn. 46. 38 Die Rechtsprechung ist uneinheitlich, vgl. z. B. RG LZ 1930, 1238; HRR 1931 Nr. 529; HRR 1937 Nr. 1296. Vgl. aber auch die Nachw. zur analogen Problematik beim Bestätigungsschreiben unten § 19 Fn. 69. 39 Vgl. Krause aaO. S. 156 ff.; Fikentscher AcP 154, 4 Fn. 11; Staudinger-Coing Rdz. 7 vor § 116; RGR-Komm. (Würdinger) § 54 Anm. 12 (S. 488 f.); Bruck-Möller § 45 Anm. 43 a. E.; Palandt-Danckelmann §§ 170 ff. Anm. 4 a. E.; Enn.-Nipperdey § 184 II 4 a. E.; Lehmann-Hübner § 36 V 2 b a. E. 40 Vgl. unten § 36 II. 41 Vgl. auch zum analogen Problem bei § 362 HGB unten S. 206 (vor 5). 42 Vgl. oben § 10.
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Recht grundsätzlich zu berücksichtigen, weil und soweit sie auch bei einer entsprechenden echten Außenvollmacht beachtlich wären;43 die h. L. ist um so weniger zu verstehen, als bei § 362 HGB und beim Bestätigungsschreiben überwiegend anerkannt wird, daß die Anfechtung zulässig bleibt, soweit sie es auch bei einer entsprechenden ausdrücklichen Erklärung wäre44. Allerdings ist zu beachten, daß die Vollmacht in den hier in Frage stehenden Fällen verhältnismäßig häufig auf den Abschluß von Rechtsgeschäften mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen gerichtet sein wird und daß dann auch Willensmängel der „Kundgabe“ selbst präkludiert sind.45
Vgl. oben § 5 I 2 und II 3. Vgl. unten § 19 I 4 und II 3 m. Nachw. in Fn. 47 bzw. Fn. 75. 45 Vgl. oben S. 36 f., 45 und 115 (unter IV). 43 44
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§ 19 Sondertatbestände des Schweigens im Handelsverkehr Schon bei der Anscheinsvollmacht ist die Problematik des „Schweigens im Handelsverkehr“ ausschnittsweise ins Blickfeld gekommen, und dabei wurde auch bereits [197] kurz auf andere verwandte Erscheinungen Bezug genommen. Diese gilt es nunmehr näher zu untersuchen. I. Schweigen auf einen Antrag über eine Geschäftsbesorgung (§ 362 HGB) Nach § 362 HGB gilt das Schweigen eines Kaufmanns auf einen Antrag über die Besorgung von Geschäften als Annahme, wenn der Gewerbebetrieb des Kaufmanns die Besorgung solcher Geschäfte mit sich bringt und er mit dem Anbietenden in Geschäftsbeziehung steht oder wenn er sich dem Anbietenden gegenüber zur Besorgung solcher Geschäfte erboten hat. Sofern der Schweigende tatsächlich das Bewußtsein, der andere Teil müsse sein Schweigen als Annahme auffassen, hatte, liegt darin nichts Besonderes. Der Sinn der Vorschrift ist jedoch gerade der, das Schweigen auch unabhängig von einem entsprechenden Bewußtsein des Schweigenden als Annahme zu werten. Eine Willenserklärung scheidet dann aus, da das Schweigen rechtsgeschäftlichen Charakter nur dadurch erhält, daß „der Schweigende sich der Bedeutung seines Schweigens als Erklärungszeichen der Zustimmung bewußt ist“.1 Seine Bindung ist daher alles andere als selbstverständlich; im Gegenteil dürfte er nach allgemeinen Regeln allenfalls auf das negative Interesse haften, und so statuiert das BGB denn auch im analogen Fall des § 663 für den Nichtkaufmann lediglich eine Pflicht zur Antwort, d. h. es verpflichtet ihn bei schuldhaftem Schweigen nur zum Ersatz des negativen Interesses (§ 249 BGB), nicht zur Erfüllung. § 362 HGB stellt somit eine Ausnahme dar.2 1. Den Grund dieser Ausnahme zu erklären, ist eine Reihe von Theorien entwickelt worden. Die Bindung des Schweigenden mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre verständlich zu machen, hat vor allem MANIGK versucht. Er sieht in § 362 HGB einen Fall einer „typisierten Erklärung mit normierter Wirkung“3 und erblickt den Grund für die Zurechnung des Schweigens als Annahme gleichermaßen in den Anforderungen der „Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes“ wie in einem „grob fahrlässigen Verhalten“ des Schweigenden, der eine „aus dem 1 So mit Recht Flume § 5, 2 b = S. 65; ebenso für den vorliegenden Fall z. B. SchlegelbergerHefermehl § 362 Rdz. 2 a. E. 2 So auch Fabricius JuS 66, 52 gegen Hanau AcP 165, 244. 3 Vgl. Irrtum und Auslegung, 1918, S. 274; Das rechtswirksame Verhalten, 1939, S. 279 f., 283 f., 287 und öfter; zustimmend Krause aaO. S. 127 f.; Schumann II S. 26.
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Verhandlungsverhältnis stammende Rechtspflicht“ verletzt habe.4 So wesentliche Gesichtspunkte damit angesprochen sind, so wenig vermag die dogmatische Einordnung MANIGKS zu überzeugen: wenn der Eintritt der Rechtsfolge nicht darauf beruht, daß die Parteien eine Regelung in Geltung gesetzt haben, sondern ausschließlich auf der Anordnung des Gesetzes, so liegt eben keine Bindung kraft Rechtsgeschäfts vor. Der Begriff der „fahrlässigen Willenserklärung“,5 in den auch [198] die „typisierte Erklärung mit normierter Wirkung“ grundsätzlich6 einzuordnen sein soll, ist ein Widerspruch in sich, weil es an dem für den Rechtsgeschäftsbegriff konstitutiven Element des finalen In-Geltung-Setzens fehlt7. Nicht die Rechtsgeschäftslehre sinnwidrig zu erweitern, sondern neben die Bindung kraft Rechtsgeschäftes einen anderen Zurechnungsgrund zu stellen,8 ist daher der Ausweg. Einen solchen Zurechnungsgrund sieht MANIGK selbst in der fahrlässigen Pflichtverletzung des Schweigenden. Es liegt daher nahe, ihm insoweit zu folgen, den dogmatischen Mangel seiner Theorie jedoch zu beheben und die Pflichtverletzung als selbständigen Grund der Haftung des Schweigenden anzusehen. Diesen Weg ist in der Tat FABRICIUS unter ausdrücklicher Bezugnahme auf MANIGK gegangen.9 Indessen drängt sich sogleich ein Einwand auf: die Verletzung einer Pflicht führt nach geltendem Recht zur Schadensersatzhaftung – was FABRICIUS übrigens keineswegs verkennt10 –, während in § 362 HGB eine Erfüllungspflicht statuiert wird. FABRICIUS müßte daher den Grund für die in § 362 liegende Ausnahme angeben, doch bleibt er insoweit die Antwort schuldig.11 Die von ihm herausgearbeitete Unterscheidung zwischen einem „privaten Sozialrecht“ und einem „privaten Individualrecht“12 trägt hierzu jedenfalls nichts bei, da sich aus
Das rechtswirksame Verhalten S. 287 bzw. S. 283 und öfter. Vgl. aaO. S. 208 ff. 6 Der einzige Unterschied liegt darin, daß die „typisierte Erklärung mit normierter Wirkung“ unanfechtbar ist, vgl. Manigk aaO. S. 279 ff. 7 Vgl. vor allem Flume, JT-Festschrift I S. 171 ff.; aus dem übrigen kritischen Schrifttum vgl. zuletzt Bydlinski S. 70 ff.; vgl. ferner unten § 34 I 6 und II 2. 8 Die Einordnung der Lehre von der „typisierten Erklärung“ in die Vertrauenshaftung, insbesondere in die Rechtsscheinhaftung wird von Manigk aaO. S. 285 und Krause aaO. S. 142 und S. 159 ausdrücklich abgelehnt; vgl. auch Demelius AcP 153, 12. 9 Vgl. JuS 66, 51 ff. 10 Vgl. aaO. S. 52. 11 Wenn Fabricius aaO. S. 55 f. statt dessen nur bemerkt, § 362 HGB und die Grundsätze über das kaufmännische Bestätigungsschreiben zeigten (!), „daß jedenfalls im Bereich kaufmännischen Verkehrs Pflichtverletzungen nicht notwendig zu Schadensersatzsanktionen führen“, so ist das eine klare petitio principii. 12 Vgl. aaO. S. 58 ff. 4 5
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ihr allenfalls die Anerkennung besonderer Rechtspflichten, nicht aber der Übergang von der Schadensersatz- zur Erfüllungshaftung erklären läßt13. Den gegen die Lehre von FABRICIUS erhobenen Einwand sucht die „Theorie der Obliegenheitsverletzung“14 zu überwinden. Von dem Grundsatz ausgehend, die Verletzung einer echten Verbindlichkeit könne immer nur Schadensersatzfolgen nach sich ziehen, schließt sie aus der gesetzlichen Statuierung einer Erfüllungshaftung, folglich komme nur eine Obliegenheitsverletzung in Betracht. Diese Lehre ist in verschiedener Hinsicht unbefriedigend. Zunächst ist zu fragen, warum an eine Obliegenheitsverletzung, also an die Verletzung einer „Pflicht minderer Intensität“ [199] oder „minderer Wirkung“15 eine schärfere16 Rechtsfolge geknüpft sein soll als an die Verletzung einer echten Verbindlichkeit17. Sodann ist – trotz der eingehenden Untersuchung von REIMER SCHMIDT – zu bezweifeln, daß das Institut der Obliegenheit hinreichend geklärt und vor allem vom Gesetz folgerichtig genug verwendet worden ist, um aus ihm ohne weiteres Rechtsfolgen erklären zu können: mehr als die rein negative Abgrenzung, eine Obliegenheit liege vor, wenn kein Anspruch auf Schadensersatz bestehe, ist bisher nicht gelungen. Wie mißlich das ist, wird gerade in diesem Zusammenhang deutlich: daß in § 663 BGB die Verletzung einer echten Rechtspflicht mit der Folge einer Schadensersatzpflicht vorliegt, in § 362 HGB dagegen hinsichtlich desselben Grundtatbestandes (!) die Verletzung einer bloßen Obliegenheit mit der Folge der Erfüllungshaftung anzunehmen sein soll, können die Anhänger der Theorie von der
13 Auch ist dem Vorwurf von Diederichsen, JuS 66, S. 134 f. Fn. 67 a. E., Fabricius falle damit in den Dualismus von rechtsgeschäftlicher und deliktischer Haftung zurück, die Berechtigung nicht abzusprechen. 14 Vgl. Reimer Schmidt, Die Obliegenheiten, 1953, S. 122 f.; Hanau AcP 165, 236 ff. 15 Vgl. Schmidt aaO. S. 315 und bei Soergel Rdz. 8 vor § 241 bzw. aaO. S. 103. Anders Hanau aaO. S. 238 und S. 244, der – in Abwehr gegen das im Text angeführte Argument – meint, es läge nicht eine Sanktion „minderer“, sondern „anderer“ Art vor. Das mag formal zutreffen, da die Sanktionen streng logisch gesehen in der Tat nicht im Verhältnis von plus und minus, sondern von aliud und aliud stehen; wertungsmäßig dagegen ist die Obliegenheit zweifellos „schwächer“ als die echte Verbindlichkeit, was insbesondere aus dem Fehlen der Klagbarkeit hervorgeht, und nur eine solche wertende Betrachtung kann nach den Grundsätzen der modernen „Wertungsjurisprudenz“ entscheidend sein. Vgl. im übrigen auch die folgende Fn. 16 Warum Reimer Schmidt aaO. S. 123 hier im Gegenteil von einem „minder scharfen rechtlichen Eingriff“ spricht, ist nicht recht verständlich und wohl nur aus dem Bestreben zu erklären, seine systematische Grundthese („Pflicht minderer Zwangsintensität“!) bruchlos aufrechtzuerhalten. Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß die Erfüllungshaftung i. d. R. wertungsmäßig (vgl. auch die vorige Fn.) denjenigen schwerer belastet, der durch sein Schweigen gerade keine Zustimmung zum Ausdruck bringen wollte (und nur um diesen Fall geht es in § 362): er muß erfüllen bzw. i. d. R. das positive Interesse ersetzen, statt dem anderen den Nachweis seines Vertrauensschadens zu überlassen und ihn auf das – gegenüber dem positiven Interesse regelmäßig als „schwächere“ Sanktion empfundene – negative Interesse zu verweisen. 17 Vgl. auch Enn.-Nipperdey § 153 Fn. 34.
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Obliegenheitsverletzung nur behaupten, aber nicht sachlich einsichtig machen18. Außerdem aber wäre selbst mit der Ableitung des § 362 aus einer Obliegenheitsverletzung nur der vorletzte Schritt getan; denn dann wäre weiter zu fragen – und erst das würde unmittelbar auf die ratio legis zielen! –, warum das Gesetz eine derartige Obliegenheit statuiert19, – ebenso, [200] wie man sich ja auch niemals bei der Feststellung beruhigt, es liege die Verletzung einer echten Rechtspflicht vor, sondern als entscheidend die Frage ansieht, worin diese ihren Grund hat. Die Theorie von der Obliegenheitsverletzung beruht somit letzten Endes auf einer doppelten petitio principii: sie kann weder erklären, warum gerade diese Rechtsfolge eintritt, noch, worin der sachliche Grund für das Bestehen einer Obliegenheit liegt. 2. Als Grund für die Regelung des § 362 wird in den Materialien angegeben, dem Schweigen werde unter den in § 362 normierten Voraussetzungen im kaufmännischen Verkehr allgemein die Bedeutung einer Annahmeerklärung beigelegt20. Das Schweigen wird also als Willenserklärung durch schlüssiges Verhalten angesehen21. Trifft das im Einzelfall nicht zu, weil der Schweigende kein entsprechendes Erklärungsbewußtsein hatte, so liegt lediglich der Schein einer Annahme vor, das Schweigen ist also nur scheinkonkludent22. Indem das Gesetz es dennoch als Annahme behandelt, stellt es den Schein der Wirklichkeit gleich, statuiert also 18 Vgl. auch Ballerstedt ZHR 121, 85; zu einem weiteren, in ähnlicher Richtung liegenden Einwand vgl. unten § 20 Fn. 18; vgl. inzwischen auch noch die treffende Kritik von Bydlinski S. 83 ff. 19 Reimer Schmidt aaO. S. 123 führt als Grund für den „Unwertcharakter“ der Obliegenheitsverletzung den Rechtsgedanken des venire contra factum proprium an, den er auch sonst mehrfach hinter einer Obliegenheitsverletzung aufspürt (vgl. auch Hanau aaO. S. 239). Es ist indessen schon zweifelhaft, ob damit wirklich der gesamte Anwendungsbereich des § 362 erfaßt werden kann: ist es z. B. ein venire contra factum proprium, wenn der Schweigende sich darauf beruft, er habe – sei es auch fahrlässigerweise – von dem Antrag gar keine Kenntnis erlangt? Und warum soll nur bei einem Kaufmann, nicht dagegen bei einem Nichtkaufmann (§ 663 BGB!) ein widersprüchliches Verhalten vorliegen?! Im übrigen ist die Heranziehung des Verbots des v. c. f. p. hier auch deshalb unbefriedigend, weil dabei die rechtsethische Bewertung des Verhaltens im Vordergrund steht (vgl. unten S. 528 ff.), während die Erfüllungshaftung des § 362 HGB ihrer ganzen Ausgestaltung nach zweifellos nicht auf derartigen Gründen, sondern auf dem Gedanken des Verkehrsschutzes beruht. 20 Vgl. Materialien zum Handelsgesetzbuche für das Deutsche Reich, 1897, S. 97. 21 Von diesem Ausgangspunkt aus interpretiert auch Krause aaO. S. 127 ff. die Vorschrift, ordnet sie dann allerdings in die hier abgelehnte Kategorie der „typischen Erklärungsakte mit normierter Wirkung“ ein; vgl. ferner Müller-Erzbach S. 543 („objektiver Erklärungswert des Verhaltens“); Raiser, Das Recht der AGB, 1961, S. 157 mit Fn. 3 („Schutz des Vertrauens Dritter auf den verkehrstypischen Sinn des Parteiverhaltens“; vgl. auch S. 136 bei Fn. 2). Ausdrücklich ablehnend dagegen Flume § 10, 2 = S. 120. Seiner Meinung nach kommt der Vertrag hier zustande „durch einseitige Erklärung in Verbindung mit dem negativen Tatbestandsmerkmal, daß nicht unverzüglich widersprochen wird“; die Frage, warum das Gesetz sich hier einer so systemwidrigen Konstruktion bedienen sollte und worin deren sachlicher Grund liegen könnte, wird von Flume jedoch nicht beantwortet. 22 Zur Terminologie vgl. oben § 4 Fn. 11.
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eine Rechtsscheinhaftung. In der Tat leuchtet es unmittelbar ein, daß der Rechtsgrund des § 362 nur im Gedanken des Verkehrs- und Vertrauensschutzes zu suchen sein kann: der Antragende muß sich darauf verlassen können, daß auch der andere Teil die Verkehrssitte kennt und sich ihr gemäß verhält; er hat i. d. R. keinen Anlaß zu Zweifeln oder gar zu Rückfragen. Freilich könnte der Vertrauensschutz auch hier durch einen Anspruch auf das negative Interesse gewährleistet werden, doch sah der Gesetzgeber dies offenbar als für die Bedürfnisse des Handels unzureichend an und hat daher eine Erfüllungspflicht angeordnet. Warum er das gerade in diesem Fall getan hat, in anderen dagegen nicht, kann in diesem Zusammenhang noch dahingestellt bleiben23; denn hier geht es nur darum, § 362 HGB überhaupt in die Rechtsscheinhaftung einzuordnen, nicht aber auch schon darum, der Vorschrift einen bestimmten Platz innerhalb des Systems derselben zuzuweisen. [201] Bedenken dagegen, § 362 HGB als Fall der Rechtsscheinhaftung zu verstehen, könnten sich allerdings daraus ergeben, daß die Vorschrift nicht auf den guten Glauben des Antragenden abstellt. Indessen ist § 362 in diesem Sinne einschränkend zu interpretieren,24 und zwar unabhängig von seiner systematischen Einordnung (womit dem Einwand des Zirkelschlusses begegnet ist). Denn jedenfalls dient er dem Verkehrsschutz, und mit diesem Gedanken wäre es unvereinbar, auch den Schlechtgläubigen zu schützen; ein Grund für die Statuierung eines „absoluten“ Verkehrsschutzes, die in unserem Recht ohnehin die große Ausnahme bildet, ist nämlich nicht ersichtlich, insbesondere ist kein Bedürfnis erkennbar, das Zustandekommen des Vertrages unter allen Umständen außer Streit zu stellen.25 Vor allem ist auch daran zu erinnern, daß es in dem – allgemein als mit § 362 eng verwandt empfundenen – Fall des kaufmännischen Bestätigungsschreibens unstreitig auf den guten Glauben des Bestätigenden ankommt.26 – Ein gewichtigerer Einwand liegt darin, daß man herkömmlicherweise als Voraussetzung einer Rechtsscheinhaftung ansieht, der Vertrauende müsse auf Grund des Scheintatbestandes irgendwelche Dispositionen vorgenommen haben, der Rechtsschein müsse also „kausal geworden“ sein. Daran fehlt es hier, weil die Bindung des Schweigenden unabhängig von dem Nachweis des Antragenden eintritt, er habe geschäftliche Maßnahmen im Vertrauen auf die Annahme des anderen Teils vorgenommen. Indessen ist bei einer Scheinannahme allgemein auf das Erfordernis einer „Disposition“ zu verzichten,27 und § 362 weist daher auch insoweit keine Abweichung von allgemeinen Rechtsscheinregeln auf. – Eine gewisse Besonderheit liegt ferner darin, daß der Scheintatbestand durch das Gesetz formalisiert worden ist: es muß nicht Vgl. dazu unten § 20. Vgl. auch Düringer-Hachenburg-Breit § 362 Anm. 19. 25 Zur Terminologie und zur Problematik vgl. näher oben § 1 I. 26 Vgl. z. B. RGR-Komm. (Ratz) § 346 Anm. 118 m. Nachw. 27 Vgl. eingehend unten § 40 III 2. 23 24
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jeweils nachgewiesen werden, daß das Schweigen gerade in diesem Fall den Rückschluß auf einen Annahmewillen erlaubte, sondern das Gesetz legt die Voraussetzungen dafür generell fest; doch ist auch das, wie schon im Zusammenhang des § 56 HGB dargelegt,28 nichts Ungewöhnliches. – Schließlich steht auch die Tatsache, daß die Annahmefiktion nach h. L.29 nicht nur zugunsten des Antragenden, sondern auch zugunsten des Schweigenden eintritt, einer Einordnung des § 362 HGB in die Rechtsscheinhaftung nicht entgegen. Denn auch die Gegenansicht ließe sich – allein vom Zweck des § 362 her argumentierend und ohne jeden Rückgriff auf seine Einordnung in die Rechtsscheinhaftung – mit guten Gründen vertreten,30 und vor allem liegt es hier jeden- [202] falls insofern besonders, als der Schweigende stets vorbringen kann, er habe bewußt geschwiegen, so daß der Antragende ohne weiteres nach den Regeln der Rechtsgeschäftslehre – durch rechtsgeschäftliche Annahme seines rechtsgeschäftlichen Angebots – gebunden ist. – Alles in allem fügt sich § 362 HGB daher in der Tat in das System der Rechtsscheinhaftung ein. 3. Das praktisch wichtigste und dogmatisch interessanteste Problem im Rahmen des § 362 ist, unter welchen Voraussetzungen dem Antragsempfänger sein Schweigen zuzurechnen ist. Insoweit sind mehrere Fragen zu unterscheiden. Einigkeit besteht zunächst darüber, daß der Kaufmann sich nicht darauf berufen kann, er sei sich über die Bedeutung seines Schweigens im unklaren gewesen;31 ein „Schlüssigkeitsirrtum“ ist also unbeachtlich.32 In der Tat wäre es sinnwidrig, das Schweigen ex lege als Annahme zu werten, wenn der Antragsempfänger die Erfüllungspflicht stets durch die Berufung auf einen Irrtum über die Bedeutung des Schweigens zunichte machen könnte und daher i. E. allenfalls auf das negative Interesse haften würde. Schwieriger zu beantworten ist dagegen die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen § 362 auch dann eingreift, wenn der Kaufmann von dem Antrag gar keine Kenntnis erlangt hat, wenn es also nicht um einen Schlüssigkeitsirrtum, sondern um „Tatsachenunkenntnis“ geht.32 Im Grundsatz wird auch hier die Haftung nahezu allgemein befürwortet;33 umstritten ist jedoch, ob ledigVgl. oben S. 190. Vgl. Krause aaO. S. 128; Ritter § 362 Anm. 4; Düringer-Hachenburg-Breit § 362 Anm. 18; RGR-Komm. (v. Godin) § 362 Anm. 15 a. E.; Schlegelberger-Hefermehl § 362 Rdz. 15; Müller-Erzbach S. 543; Schumann II S. 29. 30 Vgl. Brodmann, Ehrenbergs Handbuch IV 2, 1918, S. 37; ihm folgend Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1965, S. 250. 31 Vgl. z. B. Oertmann ZBH 1, 9; Krause aaO. S. 135; Manigk, Das rechtswirksame Verhalten S. 280; Düringer-Hachenburg-Breit § 362 Anm. 18; RGR-Komm. (v. Godin) § 362 Anm. 15; Schlegelberger-Hefermehl § 362 Rdz. 15; Baumbach-Duden § 362 Anm. 3 B; Staudinger-Coing Rdz. 6 vor § 116; Flume § 10, 2 = S. 119; Hanau AcP 165, 250. 32 Zur Terminologie vgl. oben S. 188 f. 33 A. A. nur Oertmann aaO. S. 10 f., der „bewußtes“ Schweigen fordert. 28 29
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lich verschuldete oder auch unverschuldete Unkenntnis schadet. Die Anhänger der ersteren Lösung berufen sich zur Begründung hauptsächlich darauf, daß § 362 eine Pflicht zu „unverzüglichem“ Widerspruch statuiert und damit auf den Verschuldensgedanken abstellt.34 Die Gegenansicht35 ist vor allem im Hinblick auf die analoge Problematik beim kaufmännischen Bestätigungsschreiben begründet worden36 und stützt sich im wesentlichen auf den Rechtsgedanken des § 130 BGB.37 Beide Begründungen sind indessen nicht überzeugend. Gegen die Berufung auf die Pflicht zu „unverzüglicher“ Antwort ist einzuwenden, daß diese sich – ebenso wie im Fall des § 121 BGB, der die Legaldefinition des Begriffs der Unverzüglichkeit enthält – nur auf die Bemessung der Zeitspanne zwischen Kenntniserlangung und Absendung der Ant- [203] wort bezieht,38 die Kenntnis des Antrags also voraussetzt. Das ist entgegen der Ansicht von KRAUSE39 keine „öde Wortinterpretation“, da die Sachproblematik durchaus verschieden gelagert ist: die Länge der Überlegungsfrist, um die es bei dem Tatbestandsmerkmal des „unverzüglichen“ Widerspruchs im wesentlichen geht, läßt sich vernünftigerweise gar nicht anders bestimmen als durch das – von Fall zu Fall flexible – Kriterium von Zumutbarkeit und verkehrsgemäßer Sorgfalt, wohingegen hinsichtlich der Problematik der Kenntniserlangung die Abstellung auf die Umstände des Einzelfalles, wie sie mit jeder Verschuldenshaftung verbunden ist, keineswegs sonderlich sachgerecht ist – was sogleich im einzelnen auszuführen sein wird. Andererseits läßt sich auch die Wertung des § 130 BGB nicht ohne weiteres übertragen; denn die Vorschrift betrifft nur das Wirksamwerden einer fremden Willenserklärung, während es hier um die Fiktion der Abgabe einer eigenen Erklärung geht.40 Gleichwohl dürfte in der Heranziehung des § 130 ein richtiger Kern stecken. Man darf nur nicht bei einer rein positivistischen Übertragung der in ihm enthaltenen Regelung stehen bleiben, sondern muß nach der hinter ihm stehenden Wertung und dem zugrunde liegenden Zurechnungskriterium fragen.41 Dieses liegt nun aber im Risikogedanken: sobald die Erklärung in den Machtbereich des Empfängers 34 Vgl. Brodmann aaO. S. 38; Krause aaO. S. 131 ff.; Schlegelberger-Hefermehl § 362 Rdz. 15 a. E.; Schumann II S. 30; v. Gierke § 55 II 1 b; Flume § 10, 2 = S. 119. 35 Vgl. RGR-Komm. (v. Godin) § 362 Anm. 15 i. V. m. Anh. zu § 361 Anm. 5 a; allgemein Hanau AcP 165, 253 f. 36 Vgl. die Nachweise unten Fn. 66. 37 Dieser wird im vorliegenden Zusammenhang zum ersten Mal von Oertmann aaO. in der Fußnote zur Diskussion gestellt, wenn auch verworfen; vgl. ferner Hanau aaO. S. 253. 38 Vgl. auch v. Godin aaO. 39 aaO. S. 132. 40 Vgl. auch Oertmann und Hanau aaO. sowie Manigk, Heymann-Festschrift S. 599 Fn. 16 a a. E.; v. Craushaar aaO. S. 119. 41 Diese Fragestellung fehlt bei Hanau aaO. völlig; daher lehnt er denn auch einerseits S. 253 f. die Berücksichtigung von Verschuldensgesichtspunkten ab, meint aber andererseits S. 252: „Die Unkenntnis zugegangener Schreiben ist eine nicht zu entschuldigende (!) Nachlässigkeit“, – was in dieser Allgemeinheit zudem unrichtig ist.
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gelangt ist, ist dieser „näher daran“ als der Absender, die Gefahr seiner Unkenntnis zu tragen. Damit läßt sich die Fragestellung entscheidend präzisieren und mündet zugleich in ein im Verlauf dieser Arbeit schon mehrfach erörtertes Problem: Soll die Rechtsscheinhaftung hier mit dem Verschuldensprinzip oder mit dem Risikogedanken verbunden werden? Bei der Antwort erweisen sich die schon bisher insoweit herangezogenen Argumente auch hier als fruchtbar. So ist als erstes wiederum auf die größere „Verkehrsfreundlichkeit“ des Risikoprinzips zu verweisen. Deswegen kommt dieses dem auf dem Verkehrsschutzgedanken beruhenden § 362 wesentlich stärker entgegen als das Verschuldensprinzip, das zumindest einen Teil jener Unsicherheitsfaktoren wieder ins Spiel bringt, die es gerade zu vermeiden gilt; man vergegenwärtige sich etwa, welcher Streit und welche Beweisschwierigkeiten sich z. B. hinsichtlich der Frage ergeben können, ob ein Kaufmann vor einer dringenden Geschäftsreise noch seine Post durchsehen und beantworten konnte, ob er die Reise gerade zu diesem Zeitpunkt antreten mußte, ob er einen Vertreter für die Zwischenzeit bestellen mußte usw. Zugleich wird an diesen Beispielen deutlich, daß es auch von der Sachproblematik her in Wahrheit gar nicht um Fragen geht, für deren Beantwortung das Verschuldensprinzip adäquat ist: wie sich der Kaufmann in den [204] erwähnten Fällen verhält, ist i. d. R. keine Frage „pflichtgemäßer Sorgfalt“ (auch nicht eines „Verschuldens gegen sich selbst“), sondern organisatorischer Zweckmäßigkeit; maßgeblich für ihre Entscheidung ist im Gegensatz zur Prüfung einer schuldhaften Pflichtverletzung nicht ausschließlich die Beziehung zum anderen Teil, d. h. hier zum Antragenden, sondern die Fülle all jener Gesichtspunkte, die für die kaufmännische Betriebsführung eine Rolle spielen. Wollte man dementsprechend entscheiden, so würde das Urteil häufig zu Ungunsten des Antragenden ausfallen, oder aber man müßte seine Zuflucht zu Verschuldensfiktionen, insbesondere zur Hypostasierung von „Organisationsmängeln“ nehmen. Das Rechtsempfinden reagiert denn auch gar nicht mit dem Vorwurf einer Pflichtverletzung, sondern mit dem Einwand, es sei zwar Sache des Kaufmanns, ob er z. B. einen Vertreter nehme oder nicht, er müsse dann aber auch „für die Folgen einstehen“ und dürfe diese nicht auf den gutgläubigen Geschäftspartner abwälzen – also mit einem spezifischen Gesichtspunkt der Risikoverteilung. So zeigt sich, daß es ebenso wie bei der „Anscheinsvollmacht“42 letztlich um die gerechte Verteilung des kaufmännischen Organisationsrisikos geht, und damit erweist sich in der Tat allein das Risikoprinzip als problemgerecht. Mit seiner Anwendung läßt sich im übrigen zugleich dem berechtigten Kern der „Verschuldenstheorie“ Rechnung tragen. Dieser liegt in der Sorge, bei einem Absehen von Verschuldensgesichtspunkten würde der Schweigende „sozusagen
42
Vgl. oben § 18 II 2.
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zum blinden Spielzeug des Zufalls, der Naturgewalten“.43 Das trifft bei Anwendung des Risikoprinzips nicht zu, da diesem entsprechende Einschränkungen immanent sind. Der Haftende braucht hier nämlich nicht für jede Gefahr, sondern nur für eine spezifische Gefahr einzustehen; „spezifisch“ aber ist insoweit das Risiko, ob der Kaufmann seinen Betrieb so beherrscht und so organisiert hat, daß er rechtzeitig Kenntnis von eingelaufenen Anträgen erhält. Damit ist eine wesentliche Präzisierung erreicht: Der Schweigende haftet nur dann, wenn seine Unkenntnis in innerem Zusammenhang mit einem in seinem Geschäftskreis liegenden Risiko steht. Das sei an einigen Beispielen veranschaulicht. Es gehört z. B. zum typischen Risiko eines Kaufmanns, daß er plötzlich durch eine unaufschiebbare Geschäftsreise gehindert wird, die laufenden Angelegenheiten in seinem Büro wahrzunehmen; ob und wie er für einen solchen Fall Vorsorge getroffen hat, ist „seine Sache“, und er haftet daher nach § 362.44 Selbstverständlich gehört auch die Frage einer Vertretung und des Nachsenden der Post bei einem Urlaub oder einer längeren Krankheit zu seinem spezifischen Organisationsrisiko. Wenn der Kaufmann dagegen auf dem Weg zum Büro einen Unfall erleidet und deshalb von dem Antrag keine Kenntnis erlangt, so verwirklicht sich darin nicht ein spezifisches, mit dem Betrieb eines kaufmännischen Unternehmens typischerweise verbundenes Risiko, sondern lediglich das „allgemeine Lebensrisiko“. Der Antragende wird in diesem Falle nicht geschützt: der Grund für die Entstehung des Scheintatbestandes liegt außerhalb der [205] Sphäre des Schweigenden, und daher besteht kein Anlaß, von dem Prinzip abzuweichen, daß grundsätzlich jeder die Folgen seines Handelns – und das heißt auch: seines Vertrauens – selbst zu tragen hat. Unterschlägt ein Angestellter des Antragsempfängers das Schreiben nach seinem Zugang, so wird man das wie ganz allgemein das Risiko derartiger Straftaten45 noch dem spezifischen Organisationsrisiko zuzurechnen haben.46 Anders wäre es dagegen, Vgl. Oertmann ZBH 1, 11. Ebenso die Rechtsprechung und die h. L. zum Bestätigungsschreiben, vgl. die Nachweise unten Fn. 68. 45 Vgl. auch oben S. 195, und unten S. 487 bei Fn. 50. 46 Ausnahmen gelten auch dann nicht, wenn der Angestellte bei der Straftat mit so großem Raffinement vorgegangen ist, daß eine Aufdeckung auch bei bester Organisation des Betriebes nicht möglich erscheint: auch dann ist der Geschäftsherr immer noch „näher daran“ als der Dritte, das Risiko zu tragen. Insbesondere ergibt sich das Gegenteil nicht aus dem Gedanken der Gefahrenbeherrschung; deren Möglichkeit ist zwar grundsätzlich Voraussetzung einer Risikozurechnung, doch ist diese nach den allgemeinen Grundsätzen der Risikohaftung nicht konkret von Fall zu Fall, sondern abstrakt festzustellen, und die abstrakte Möglichkeit der Gefahrbeherrschung hat der Kaufmann in seinem Betrieb. Sofern der „Mangel“ aus seiner „Sphäre“ stammt, gibt es nicht noch eine zweite Grenze der Zurechnung, die statt an der Art des Risikos an dem Grade seiner Beherrschbarkeit orientiert wäre. Auch bei der Grenze der höheren Gewalt oder bei den Einschränkungen der Haftung nach § 7 II StVG geht es immer um Ursachen, die ihren Ursprung außerhalb der Sphäre des in Anspruch Genommenen haben. Die Frage kann hier nicht weiter verfolgt werden, da es sich insoweit nicht um ein spezielles Problem der Vertrauenshaftung, sondern um ein allgemeines der Risikozurechnung handelt, die als solche nicht Gegenstand dieser Arbeit ist. – Wer den vorstehenden Ausführungen nicht zu folgen vermag, sondern eine Haftungsgrenze auch entsprechend dem Grade der Beherrschbarkeit des 43 44
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4. Nicht entschieden ist mit den vorstehenden Erörterungen die umstrittene Frage, inwieweit die Vorschriften über Willensmängel nach §§ 116 ff. BGB auf den Tatbestand des § 362 HGB analog angewendet werden können. Sie ist grundsätzlich zu bejahen.47 Entscheidend ist dabei, daß die Problematik insoweit beim Schweigen nicht anders liegt als bei einer ausdrücklichen Erklärung48: ob der Antragsempfänger schweigt, weil er den Antrag mißverstanden hat und ihn daher annehmen will, oder ob er unter dem Einfluß eines derartigen Irrtums eine entsprechende ausdrückliche Erklärung abgibt, kann keinen Unterschied machen; und ebenso ungereimt wäre es, zwar bei einer ausdrücklichen Annahme die Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums i. S. von § 119 II oder wegen Drohung bzw. arglistiger [206] Täuschung i. S. des § 123 zuzulassen, nicht aber bei einem Schweigen mit Annahmewillen. Die besonderen Gründe, die zur Schaffung des § 362 geführt haben, treffen bei derartigen Irrtümern nicht zu: der Antragende soll nur in seinem Vertrauen darauf geschützt werden, daß dem Schweigen wirklich die Bedeutung einer Annahme zukommt; hinsichtlich des Vertrauens, daß diese Annahme nicht durch Willensmängel beeinflußt ist, verdient er hier keinen stärkeren Schutz als sonst. Die Anfechtung setzt allerdings grundsätzlich voraus, daß der Antragsempfänger durch sein Schweigen wirklich seine Annahme zum Ausdruck bringen wollte. Denn andernfalls kann der Irrtum im allgemeinen nicht kausal für das Verhalten des Schweigens gewesen sein:49 wie sollte sich wohl jemand in einem Inhaltsirrtum nach § 119 I befunden haben, der vom Zugang des Antrags gar keine Kenntnis erlangt hat? Und inwiefern soll z. B. ein Eigenschaftsirrtum i. S. des § 119 II ursächlich für das Schweigen geworden sein, wenn der Kaufmann glaubte, Schweigen bedeute Ablehnung und deshalb (!) eine Erklärung unterließ? Allerdings ist denkbar, daß der Antragsempfänger durch Drohung oder arglistige Täuschung an der Kenntnisnahme gehindert oder durch Täuschung zu einem Risikos befürwortet, könnte diese hier dort wählen, wo der Kaufmann auch bei idealer Betriebsorganisation keine Kenntnis von dem Schreiben erlangt hätte (vgl. auch den topos des „idealen Kraftfahrers“ bei § 7 II StVG). Vgl. auch unten § 38 Fn. 50. 47 Ebenso i. E. Krause aaO. S. 134 ff.; Baumbach-Duden § 362 Anm. 3 B; Schumann II S. 30; Flume § 10, 2 = S. 119; Hanau AcP 165, 248 ff. (249 f. und 254); a. A. Oertmann ZBH 1, 9 f.; Manigk, Das rechtswirksame Verhalten S. 280 und 283 f.; RGR-Komm. (v. Godin) § 362 Anm. 15; Schlegelberger-Hefermehl § 362 Rdz. 15; Fabricius JuS 66, 51 ff. 48 Ob das Schweigen mit Annahmewillen eine echte stillschweigende Willenserklärung ist (so wohl Krause aaO. S. 135 f.), oder ob auch insoweit die Rechtsfolge nicht ex voluntate, sondern ex lege eintritt (so Manigk aaO. S. 284 und 287), mag dahingestellt bleiben; vgl. auch zur analogen Problematik beim Bestätigungsschreiben unten Fn. 55. 49 Das scheint Krause aaO. S. 135 f. zu verkennen.
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Irrtum über die Bedeutung des Schweigens veranlaßt wurde. In diesem Falle ist die Zurechenbarkeit des Schweigens analog § 123 BGB zu verneinen. 5. Seinem Wortlaut nach gilt § 362 nur für Kaufleute. Im Anschluß an die Entwicklung der Rechtsprechung zum Bestätigungsschreiben und zur Anscheinsvollmacht wird man die Vorschrift jedoch folgerichtig analog auf Nichtkaufleute auszudehnen haben, sofern diese in ähnlicher Weise wie Kaufleute am Verkehr teilnehmen und man von ihnen daher die Beachtung kaufmännischer Verkehrssitten verlangen und sie mit dem Risiko einer entsprechenden Organisation ihres Betriebes belasten kann.50 II. Das Schweigen auf ein Bestätigungsschreiben Wenn der Empfänger eines kaufmännischen Bestätigungsschreibens diesem nicht unverzüglich widerspricht, so gilt der Vertrag, auf den darin Bezug genommen ist, grundsätzlich als mit dem Inhalt des Bestätigungsschreibens zustandegekommen; auf einen entsprechenden Willen des Empfängers kommt es nicht an. Dieser Rechtssatz kann heute als gewohnheitsrechtlich gesichert angesehen werden.50a Ähnlich Raisch aaO. S. 257 ff. Grundsätzlich ablehnend gegenüber der Lehre vom Bestätigungsschreiben soweit ersichtlich nur Bydlinski S. 194 ff. Allerdings gibt Bydlinski dieser ein wesentliches Anwendungsfeld wieder zurück, indem er sie dann doch bei „ergänzenden“ und „konkretisierenden“ Bestätigungsschreiben anerkennt (S. 203 ff.). Entgegen seiner Meinung ist aber darüber hinaus auch bei echten Abweichungen von der vorherigen Vereinbarung die konstitutive Wirkung des Bestätigungsschreibens sinnvoll. Zum einen berücksichtigt Bydlinski nämlich bei seiner Polemik zu wenig, daß die Fiktion des Einverständnisses nur hinsichtlich solcher Abweichungen eintritt, mit deren Billigung der Bestätigende rechnen konnte (vgl. bei und mit Fn. 60), und daß dadurch wirklich gravierenden Verstößen gegen das Äquivalenzprinzip ohne weiteres vorgebeugt werden kann. Zum anderen verkennt Bydlinski auch, daß die Regeln über das Bestätigungsschreiben insoweit grundsätzlich nur in solchen Fällen anwendbar sind, in denen über eine Vielzahl von Fragen verhandelt worden ist und in denen daher trotz der an sich erfolgten Einigung Unklarheiten in Einzelheiten durchaus vorkommen können; warum z. B. das Vertrauen des Bestätigenden nicht schutzwürdig sein soll, wenn die Parteien sich im Laufe einer viele Punkte berührenden Verhandlung auf einen Kaufpreis von DM 25,20 pro Stück geeinigt haben, er aber DM 25,30 in Erinnerung hat und nun entsprechend bestätigt, ist nicht einzusehen. Aus diesem Beispiel wird weiterhin zugleich deutlich, daß auch Bydlinskis Annahme, es bestehe nur die Alternative zwischen bewußt falscher Bestätigung und bloßer „Vorstellungsmitteilung“, unzutreffend ist; typisch ist vielmehr die eventualiter abgegebene Willenserklärung: der Bestätigende hält eine Abweichung für möglich oder hat vielleicht sogar in bestimmten Punkten echte Zweifel und trägt nun dem anderen Teil an, für den Fall einer Divergenz die Vereinbarung insoweit auf eine selbständige Grundlage zu stellen. Im übrigen ist schließlich entgegen der Meinung Bydlinskis auch nicht zu bezweifeln, daß zumindest in den erwähnten Fällen komplexer Verhandlungen, deren Ergebnis nicht sofort schriftlich fixiert worden ist, ein erhebliches praktisches Bedürfnis für das Institut des Bestätigungsschreibens besteht. 50
50a
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1. Angesichts der engen Verwandtschaft der Problematik mit § 362 HGB51 leuchtet es ohne weiteres ein, daß hinsichtlich der dogmatischen Einordnung dasselbe gilt wie dort:52 die Rechtssätze über das Bestätigungsschreiben finden ihre Erklärung im Gedanken der Vertrauenshaftung,53 genauer der Rechtsscheinhaftung.54 Die Wertung des Schweigens als Annahme ist nur dadurch zu rechtfertigen, daß ein ordentlicher Kaufmann widerspricht, wenn er nicht mit dem Inhalt des Schreibens [207] einverstanden ist, und daß sein Schweigen daher nach der Verkehrssitte die Bedeutung der Zustimmung hat. Ist sich der Kaufmann dieser Bedeutung bewußt, so tritt die – konstitutive – Rechtsfolge, daß die Rechtslage sich nunmehr nach dem Inhalt des [208] Bestätigungsschreibens richtet, schon kraft rechtsgeschäftlichen Willens ein.55 Fehlt dagegen ein derartiges Erklärungsbewußtsein. – und um diese Fälle geht es bei den Rechtssätzen über das Bestätigungsschreiben –, so liegt gegenüber dem anderen Teil der Schein des Einverständnisses vor,56 da das Schweigen objektiv entsprechend der Verkehrssitte eben diese Bedeutung
51 Die Rechtssätze über das Bestätigungsschreiben werden im Schrifttum häufig auf eine Analogie zu § 362 HGB gegründet; vgl. Krause aaO. S. 125 ff.; RGR-Komm.2 (v. Godin) § 346 Anm. 16 h (S. 45); Kuchinke JZ 65, 174; Fabricius JuS 66, 54; Diederichsen JuS 66, 134; gegen die Analogie Will, Schweigen auf Bestätigungsschreiben, 1935, S. 48 (zu Wills eigener Lösung der analogen Anwendung des § 149 BGB vgl. unten § 28 IX 2 Fn. 70). 52 Es finden sich dementsprechend auch dieselben Erklärungsversuche; vgl. Manigk, Irrtum und Auslegung S. 274 und Das rechtswirksame Verhalten S. 291 ff. (ihm folgend Krause aaO. S. 125 ff.) bzw. Fabricius JuS 66, 54 f. bzw. Reimer Schmidt aaO. S. 121 (ihm folgend Hanau AcP 165, 239 ff. und Kuchinke JZ 65, 174). Zur Kritik vgl. oben I 1. – Die neueste Theorie von Götz, Zum Schweigen im rechtsgeschäftlichen Verkehr, 1968, S. 234 ff., der hier einen Fall eines – durch rechtzeitigen Widerspruch aufschiebend bedingten (vgl. S. 236) – Kontrahierungszwangs annimmt, ist mir schlicht unverständlich – ganz abgesehen davon, daß überhaupt keine Einschränkung der Abschlußfreiheit vorliegt (vgl. allgemein unten § 34 III 1). 53 Grundlegend Diederichsen JuS 66, 135 ff.; vgl. ferner Staudinger-Coing Einl. vor § 104 Rdz. 76 und Vorb. vor § 116 Rdzn. 3 e a. E. und 6 a; diesem folgend Staudinger-Weber § 242 Rdz. A 226; OLG Düsseldorf DB 63, 929; vgl. auch Fischer ZHR 125, 208 („Vertrauensschutz“); Hübner, Festschrift für Nipperdey Bd. I S. 381 f.; ausdrücklich ablehnend Flume § 36, 5 und Kuchinke JZ 65, 171 f. (vgl. dazu sogleich Fn. 59). 54 Den Rechtsscheingedanken betont auch Diederichsen mehrfach, vgl. aaO. S. 136 bei Fn. 81 und S. 138; vgl. ferner Zunft NJW 59, 277 unter II 1. 55 vgl. Krause aaO. S. 135; Fischer ZHR 125, 208; Kuchinke JZ 65, 169 (allerdings auf den Einzelfall abstellend); Diederichsen aaO. S. 133; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 127; a. A. wohl Flume § 36, 5 und 7 a. E. Daß keine Erklärung vorliegt, kann nicht eingewandt werden; denn das Schweigen ist hier nach der Verkehrssitte Erklärungszeichen. Allenfalls könnte man zu bedenken geben, daß auch im Falle bewußten Schweigens die Rechtssätze über das Bestätigungsschreiben eingriffen, daß also die Rechtsfolge auch hier unabhängig vom Willen kraft objektiven Rechts einträte. 56 Für eine echte Willenserklärung auch in diesem Falle v. Craushaar aaO. S. 101 und 108 ff. auf Grund seiner abweichenden Konzeption der Rechtsgeschäftslehre (vgl. dazu unten § 33 I und II).
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hat.57 Wird der Schweigende an dem Schein seiner Zustimmung festgehalten, so ist ein Fall der Rechtsscheinhaftung gegeben. Eventuelle Bedenken gegen diese Einordnung sind bereits oben58 bei der Erörterung des § 362 HGB ausgeräumt worden.59 Im übrigen bestätigt sich die Richtigkeit der hier vertretenen Ansicht auch bei der Lösung von Einzelfragen. So ist z. B. allgemein anerkannt, daß die konstitutive Wirkung des Schweigens nicht eintritt, wenn sich der Inhalt des Schreibens so weit von dem mündlich Abgesprochenen entfernt, daß der Absender nicht mit einer Billigung durch den Empfänger rechnen konnte.60 In diesem Falle fehlt es in der Tat an einem Vertrauenstatbestand61 (nicht nur am guten Glauben des Absenders, was für die Frage der Beweislast bedeutsam ist): unter derartigen Umständen kann das Schweigen schon objektiv nicht als Zustimmung gewertet werden,62 es ist also nicht scheinkonkludent. Dasselbe gilt, [209] wenn sich Bestätigungsschreiben mit verschiedenem Inhalt gekreuzt haben;63 denn hier ist jeweils für den anderen Teil erkennbar, daß sein Geschäftspartner die Lage anders sieht als er, und auch hier liegt daher in dem Schweigen – objektiv gesehen – nicht der Ausdruck des Einverständnisses. 2. Hinsichtlich der Zurechnung des Schweigens gelten die Ausführungen zu § 362 HGB entsprechend. Der Empfänger des Schreibens kann sich daher nicht darauf
57 Die Verkehrssitte wirkt dabei typisierend, d. h. die Schlüssigkeit des Schweigens braucht nicht von Fall zu Fall besonders ermittelt zu werden; vgl. auch unten § 20 I. 58 Vgl. S. 201 f. 59 Die Einwände von Kuchinke JZ 65, 171 f., der die konstitutive Bedeutung des Schweigens verkennt, hat im wesentlichen schon Diederichsen aaO. Fn. 81 und Fn. 83 widerlegt. Auch die Behauptung Kuchinkes, eine Rechtsscheinhaftung komme nur beim Fehlen von Wirksamkeitsvoraussetzungen in Frage (aaO. bei Fn. 43 im Anschluß an Oertmann ZHR 95, 461), ist unzutreffend, vgl. oben S. 12 mit Verweisungen in Fn. 18. Wie Kuchinke aber Götz aaO. S. 232 f. 60 Vgl. z. B. BGHZ 7, 187 (190); 11, 1 (4); 40, 42 (44); RGR-Komm.2 (v. Godin) § 346 Anm. 16 h (S. 45); Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 118; Baumbach-Duden § 346 Anm. 4 C; Flume § 36, 4; Diederichsen JuS 66, 131 und 138. 61 Vgl. Diederichsen aaO. S. 138 unter Ziff. 5. 62 Kuchinke JZ 65, 172 leitet diese Einschränkung aus der Lehre vom Rechtsmißbrauch ab. Das von ihm behauptete „Recht“ des Absenders zur Bestätigung gibt es jedoch nicht; es handelt sich vielmehr um eine rein tatsächliche Möglichkeit. Es ist bemerkenswert, daß Kuchinke das Schrifttum zum subjektiven Recht mit keinem Wort berücksichtigt und nicht einmal den Versuch macht, seine Konstruktion in die Lehre vom subjektiven Recht einzuordnen. Dabei würde sich denn auch ohne weiteres zeigen, daß das von ihm behauptete „Recht“ in keine der bekannten Kategorien paßt und mit dem Begriff des subjektiven Rechts, wie immer man ihn fassen mag, nicht in Einklang zu bringen ist. Im übrigen ist die Theorie von Kuchinke auch deshalb unbrauchbar, weil sie zu dem zentralen Problem überhaupt nichts beiträgt: es geht um die Erklärung der Bindungswirkung des Schweigens. nicht um deren Ausschluß in Randfragen. 63 Die konstitutive Wirkung wird in diesem Fall überwiegend abgelehnt; vgl. z. B. BGH BB 61, 954; Siller JR 27, 294; Schopp RPfleger 61, 345; Hepp BB 64, 372; Diederichsen JuS 66, 138; RGR-Komm. (Ratz) § 346 Anm. 116; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 126; Baumbach-Duden § 346 Anm. 4 C; differenzierend BGH JZ 66, 449.
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berufen, er habe die Bedeutung seines Schweigens nicht gekannt.64 Was die Unkenntnis des Zugangs des Schreibens betrifft, ist auch hier folgerichtig weder mit der h. L.65 auf Verschulden abzustellen noch mit der Gegenansicht66 § 130 BGB anzuwenden. Vielmehr kommt es wieder darauf an, ob der Grund für die mangelnde Kenntniserlangung in der „Sphäre“ des Schweigenden liegt und zu dem spezifischen Risiko seines Betriebes gehört.67 [210] Mit Recht ist es daher als unerheblich angesehen worden, daß der Empfänger des Schreibens verreist war und deshalb keine Kenntnis von seinem Eingang erlangt hat.68 Ebenso fällt es in seinen Risikobereich, wenn ein Angestellter das Schreiben unterschlägt69, 70. Erst recht kann der Kaufmann sich nicht darauf berufen, einer seiner Angestellten habe ihm das 64 Vgl. BGHZ 11, 1 (4 f); 20, 149 (154); Siller JR 27, 294; Krause aaO. S. 137; Manigk, Das rechtswirksame Verhalten S. 292 f.; Will aaO. S. 62; Zunft NJW 59, 277; Kuchinke JZ 65, 175; Hanau AcP 165, 250; Diederichsen JuS 66, 133; RGR-Komm. (Ratz) § 346 Anm. 111; SchlegelbergerHefermehl § 346 Rdz. 128; Staudinger-Coing Rdz. 6 a vor § 116; Enn.-Nipperdey § 153 IV B 2 a bei Fn. 19; Flume § 36, 7; anders noch Aretz, Das Bestätigungsschreiben, der Bestellschein und die Kommissionskopie, 1933, S. 19 f. 65 Vgl. Siller JR 27, 295 und JW 31, 3083; Krause aaO. S. 133 f. und 138; Manigk aaO. S. 292 f.; Will aaO. S. 58; Aretz aaO. S. 19; Zunft NJW 59, 277 (mit deutlicher Tendenz zur Verschuldensfiktion unter II 2 b!); Kuchinke JZ 65, 175; RGR-Komm. (Ratz) § 346 Anm. 112 a. E.; Staudinger-Coing Rdz. 6 a vor § 116; Flume § 36, 7; Götz aaO. S. 270; v. Craushaar aaO. S. 116 ff. Gegen das Erfordernis eines Verschuldens RGZ 103, 401 (405) (allerdings unter fälschlicher Zulassung der Anfechtung); vgl. auch Düringer-Hachenburg-Werner Allg. Einl. Anm. 14 f., die zwar Anm. 14 auf Verschuldensgesichtspunkte abzustellen scheinen, Anm. 15 aber weitgehend zu denselben Ergebnissen wie im Text kommen. 66 Vgl. RG JW 1931, 522 (524); BGHZ 20, 149 (152); BGH BB 64, 906; Becker RuH 1927, 10 („Zugang“); Zunft aaO. unter II 2 c (obwohl an sich auf Verschulden abstellend!); Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 123; Diederichsen JuS 66, 137; allgemein Hanau AcP 165, 253 f. 67 Der Risikogedanke wird ausdrücklich herangezogen in BGHZ 40, 42 (45) und von Zunft aaO. S. 277 und Diederichsen aaO. S. 138 f. aufgegriffen, jedoch nur hinsichtlich der Frage, ob sich der Bestätigende in seinem Geschäftskreis liegende Umstände zurechnen lassen muß. Der Gedanke ist jedoch darüber hinaus und primär für die Frage von Bedeutung, unter welchen Umständen dem Empfänger des Schreibens sein Schweigen zuzurechnen ist. Diese läßt sich nicht, wie Diederichsen aaO. S. 137 anzunehmen scheint, allein aus dem Gedanken des Vertrauensschutzes lösen, sondern immer nur aus dem hinzutretenden Zurechnungsprinzip (vgl. dazu allgemein unten § 37 I 2). – Unzutreffend daher auch die entsprechende Argumentation v. Craushaars aaO. S. 118 ff., der ebenfalls allein aus dem Vertrauensgedanken abzuleiten sucht, daß es auf Verschulden ankommt. 68 Vgl. RGZ 105, 389; KG DJZ 1906, 264; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 123; Diederichsen JuS 66, 137. 69 Vgl. RGZ 103, 401 (405); BGHZ 20, 149 (152); Zunft NJW 59, 277; SchlegelbergerHefermehl aaO.; Diederichsen aaO. Die Entscheidungen des RG und des BGH sind allerdings nur bedingt in diesem Zusammenhang verwertbar – die des RG, weil das RG die Anfechtung für zulässig erklärt, die des BGH, weil die Entscheidung schon durch den Satz, daß die Kenntnis eines von mehreren Gesamtvertretern einer juristischen Person unabhängig von der Kenntnis der übrigen zuzurechnen ist, getragen wird (vgl. auch RG JW 1927, 1675 und KG JW 1928, 1607). 70 Vgl. auch oben Fn. 46.
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Schreiben zu spät oder überhaupt nicht vorgelegt.71 – Umgekehrt sind auch dem Bestätigenden die Risiken zuzurechnen, die in seinem Geschäftskreis ihren Ursprung haben. So gelten die Grundsätze über das Bestätigungsschreiben nicht, wenn er von einem seiner Vertreter völlig falsch über das Ergebnis der Verhandlungen informiert worden ist und der andere Teil einem auf Grund dieser Information abgefaßten Schreiben nicht widersprochen hat:72 hier lag der Mangel, der zur Entstehung des Rechtsscheins geführt hat, im Herrschaftsund Risikobereich des Bestätigenden73 – abgesehen davon, daß es schon an dem erforderlichen objektiven Scheintatbestand fehlte, weil bei objektiver Beurteilung das Schweigen gar nicht als Billigung aufgefaßt werden konnte.
3. Auch hinsichtlich der Anwendbarkeit der Vorschriften über Willensmängel gelten die Ausführungen zu § 362 HGB entsprechend.74 Ein nach § 119 oder § 123 BGB relevanter Irrtum führt daher – mit Ausnahme des Irrtums über die Bedeutung des Schweigens – zur Anfechtbarkeit.75, 76 Entscheidend ist dabei wieder, daß die Lage [211] insoweit nicht anders ist als bei einer ausdrücklichen Erklärung des Einverständnisses und daß daher der Schutzzweck der Regeln über das Bestätigungsschreiben nicht zutrifft. Zwei Sonderprobleme verdienen in diesem Zusammenhang noch Hervorhebung. Teilweise wird die Ansicht vertreten, der Schweigende könne auch mit der Begründung anfechten, er sei irrtümlich von der Übereinstimmung des Schreibens mit dem Ergebnis der Verhandlungen ausgegangen.77 Dem ist nicht zu folVgl. BGH NJW 64, 1951. Vgl. BGHZ 40, 42; zustimmend Flume § 36, 4; Diederichsen JuS 66, 138 f.; anders noch RGZ 129, 347 (349); BGHZ 11, 1 (4); Aretz aaO. S. 15. Ob die Entscheidung BGHZ 11, 1 haltbar ist, muß als sehr zweifelhaft angesehen werden. Daß der Bekl. das Schriftstück unterschrieben hatte, das der Vertreter des Kl. dann verfälschte, kann für sich allein die Haftung jedenfalls nicht rechtfertigen; denn das Risiko der Verfälschung trägt grundsätzlich der Vertrauende, vgl. unten § 38 III 7. Wie der BGH aber Diederichsen aaO. S. 139; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 118; Baumbach-Duden § 346 Anm. 4 C; BGHZ 40, 48 f. 73 So mit Recht BGH aaO. S. 45 und Diederichsen aaO. 74 Vgl. oben I 4. 75 I. E. ganz h. L.; vgl. Krause aaO. 134 ff.; Kuhn WM 55, 962; Fischer ZHR 125, 208; Hanau AcP 165, 249 und 254; Fabricius JuS 66, 54 f.; Diederichsen JuS 66, 137; RGR- Komm.2 (v. Godin) § 346 Anm. 16 h (S. 48); Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 128; Enn.-Nipperdey § 153 IV B 2 a vor α und Fn. 32; Flume § 36, 7 a. E.; offengelassen BGHZ 11, 1 (5); a. A. Will aaO. S. 63 f. (für verschuldeten Irrtum); Staudinger-Coing Rdzn. 3 f. und 6 a vor § 116; widersinnig RGZ 129, 347 (349); unrichtig RGR-Komm. (Ratz) § 346 Anm. 111 und 112 a. E. 76 Ob die Anfechtungsregeln unmittelbare oder nur analoge Anwendung finden, hängt davon ab, ob man die Rechtsfolge im Falle bewußten Schweigens – darum geht es hier i. d. R., vgl. sogleich im Text – ex voluntate oder kraft objektiven Rechts eintreten läßt, vgl. dazu oben bei und mit Fn. 55. 77 Vgl. RGZ 97, 191 (195; allerdings hatte der Bekl. hier wohl auch das Schreiben selbst mißverstanden); Manigk, Heymann-Festschrift S. 632 und Das rechtswirksame Verhalten S. 293; Krause aaO. S. 137; RGR-Komm.2 (v. Godin) § 346 Anm. 16 h (S. 48); a. A. mit Recht Siller JR 27, 295; Stengel, Über die Bedeutung von Bestätigungsschreiben, Diss. Göttingen 1926, S. 52; Zunft 71 72
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gen; denn abgesehen davon, daß die Zulassung der Anfechtung hier mit dem Zweck der Rechtssätze über das Bestätigungsschreiben in scharfem Widerspruch steht, liegt auch kein Irrtum i. S. des § 119 I BGB vor: der Kaufmann „erklärt“, was er erklären will – nämlich sein Einverständnis –, es handelt sich lediglich um einen unbeachtlichen Irrtum im Motiv. Anders ist es nur, wenn der Empfänger des Schreibens dieses selbst inhaltlich mißversteht;78 dann kommt durch sein Schweigen ein Vertrag mit einem anderen Inhalt zustande, als er wollte, und es ist daher ein Fall des § 119 I gegeben. Das zweite Sonderproblem liegt in der Behandlung von Willensmängeln, die den ursprünglichen Vertrag betreffen. Ergreifen sie auch das Schweigen, was z. B. im Falle des § 123 BGB regelmäßig zutreffen wird, so ergeben sich keine Schwierigkeiten: ihre Berücksichtigung folgt schon aus den bisherigen Ausführungen. Problematisch ist es dagegen, wenn nur der ursprüngliche Vertrag, nicht dagegen das Schweigen auf dem Willensmangel beruht. Die Frage wird hier meist dahin gestellt, ob der Schweigende dennoch die in dem Schweigen liegende Zustimmung anfechten könne; teilweise wird dies dann mit der Begründung verneint, der Irrtum sei nicht kausal für das Schweigen gewesen,79 teilweise mit dem Argument bejaht, man müsse „die Kausalität konsequenterweise ebenfalls fingieren“.80 Das dürfte kaum die richtige Problemstellung sein. In Wahrheit geht es vielmehr darum, ob und inwieweit der „Bestätigungsvertrag“ Mängel des zugrunde liegen[212] den Vertrages heilt. Diese Frage kann nicht durch irgendwelche Kausalitätsüberlegungen, sondern nur aus dem Zweck der Regeln über das Bestätigungsschreiben entschieden werden. Der Sinn eines Bestätigungsschreibens liegt nun in erster Linie darin, Klarheit über den genauen Inhalt und alle Nebenpunkte der getroffenen Vereinbarung zu schaffen; diese in jeder Hinsicht auf eine neue und selbständige Grundlage zu stellen, ist nicht sein Zweck.81 Das Schweigen bedeutet daher nur das Einverständnis des Empfängers damit, daß sich der Inhalt des Vertrages nach dem Bestätigungsschreiben richten solle, nicht auch seinen Verzicht auf alle Einwendungen gegen die Wirksamkeit des Vertrages. Dementsprechend sind die Rechtssätze über das Bestätigungsschreiben zu fassen. Präkludiert wird daher die NJW 59, 277; Hanau AcP 165, 226; Diederichsen JuS 66, 137; vgl. inzwischen auch noch BGH NJW 69, 1711 (1712). 78 Auf eine sorgfältige Prüfung des Schreibens durch den Empfänger kommt es nicht an (wohl aber darauf, daß er sich eine bestimmte – falsche – Vorstellung von seinem Inhalt gemacht hat); so mit Recht Krause aaO. S. 137 f.; a. A. wohl h. L., vgl. RGZ 129, 347 (348); Siller JR 27, 296 f.; Kuchinke JZ 65, 175 mit Fn. 76; Flume § 36, 7 a. E. und allgemein § 21, 9 c; Larenz A. T. S. 365. Das BGB stellt nicht darauf ab, ob der Irrtum verschuldet war oder nicht; bei einer ausdrücklichen Zustimmung wäre die Anfechtung daher jedenfalls zulässig, und da das Schweigen insoweit keine Besonderheiten aufweist, muß sie es auch hier sein; vgl. auch Hanau AcP 165, 254. 79 So wohl RGZ 129, 347 (348); zustimmend Koenige § 346 Anm. 4 b a. E.; zum Kausalitätsproblem vgl. im übrigen oben S. 206 (vor 5). 80 So Diederichsen JuS 66, 137 Fn. 87. 81 Zu weitgehend daher Kuchinke JZ 65, 168 und 175 bei Fn. 69.
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Einwendung des versteckten Dissenses, da diese unmittelbar mit der inhaltlichen Klarheit der getroffenen Regelung zusammenhängt und ihre Zulassung i. E. bedeuten würde, daß der Schweigende sich doch auf Divergenzen zwischen dem Verhandlungsergebnis und dem Bestätigungsschreiben berufen kann. Präkludiert wird weiter der Einwand der mangelnden Vertretungsmacht,82 da das Bestätigungsschreiben auch insoweit Unklarheiten beseitigen soll. Andere Einwendungen gegen die Gültigkeit des Vertrages sind dagegen zulässig, weil und soweit ihr Ausschluß durch den Zweck des Bestätigungsschreibens nicht gefordert wird. Ficht der Schweigende den ursprünglichen Vertrag an, so wird dessen Bestätigung daher gegenstandslos;83 auf eine zusätzliche Anfechtung der in dem Schweigen liegenden Zustimmung kommt es nicht an. 4. Von allgemeinerem dogmatischem und praktischem Interesse ist schließlich noch die Frage, ob die Rechtssätze über das Bestätigungsschreiben auch Anwendung finden können, wenn der Schweigende Nichtkaufmann ist. Das ist unter denselben Voraussetzungen wie bei § 362 HGB84 zu bejahen.85 Ist der Bestätigende Nichtkaufmann, so kommt es darauf an, ob er „wie ein Kaufmann am Geschäftsleben teilnimmt und erwarten kann, daß der Empfänger ihm gegenüber nach kaufmännischer Sitte verfährt“.86 [213] III. Schweigen auf eine Benachrichtigung im Falle der §§ 75 h, 91 a HGB Hat ein Handlungsgehilfe oder ein Handelsvertreter ohne Vollmacht oder unter Überschreitung seiner Vollmacht ein Geschäft mit einem gutgläubigen Dritten abgeschlossen und schweigt der Prinzipal auf die Benachrichtigung über dieses Geschäft, so gilt sein Schweigen nach § 75 h bzw. 91 a HGB als Genehmigung. Die ratio dieser Vorschriften liegt nach SCHMIDT-RIMPLER in folgendem Gedanken: „Man ging offenbar davon aus, daß das Publikum mit gewissem Recht 82 Vgl. auch RG Recht 1924 Nr. 1326; JW 1938, 1902 (1903); BGH NJW 64, 1951 (1952); Aretz aaO. S. 15. 83 Es sei denn, das Bestätigungsschreiben enthielte den Punkt, hinsichtlich dessen der Irrtum unterlaufen ist, nicht mehr. Dann ist der Schweigende ohne die Möglichkeit einer Anfechtung gebunden; denn diese diente hier in Wahrheit nicht dazu, den ursprünglichen Vertrag zu zerstören, sondern nur dazu, die Wirkung des Schweigens zu beseitigen. 84 Vgl. dazu oben I 5. 85 Ähnlich i. E. die h. L.; vgl. z. B. RG LZ 1929, 1031 (1033) (Gutsbesitzer); RG JW 1931, 522 (524) (Rechtsanwalt); BGHZ 11, 1 (3) (Schrottgroßhändler); Will aaO. S. 60 f.; Raiser, Recht der AGB S. 193 mit ausf. Nachw. zum älteren Schrifttum in Fn. 3; Aretz aaO. S. 14; Schopp RPfleger 61, 344; Kuchinke JZ 65, 171 und 173; Hanau AcP 165, 245; RGR-Komm. (Ratz) § 346 Anm. 113; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 115; enger Krause aaO. S. 129. 86 So BGHZ 40, 42 (43 f.); vgl. auch Krause aaO. S. 130.
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geneigt sein wird, im Handlungsagenten den Vertrauensmann des Geschäftsherrn zu sehen, und sich deshalb ... auf Geschäfte ... einlassen und diese für fest geschlossen halten wird; dieses Vertrauen beim Publikum erweckt der Geschäftsherr selbst, indem er eben die Person zu seinem Handlungsagenten bestellt“.87 Die Einordnung in die Vertrauenshaftung liegt nach diesen Ausführungen denkbar nahe.88 Indessen fragt es sich doch, worin der Vertrauenstatbestand hier eigentlich bestehen soll. Ihn allein in der Entsendung des Agenten – etwa nach den Regeln über die Scheinvollmacht kraft Einräumung einer Stellung – zu erblicken, wie das nach den Worten Schmidt-Rimplers folgerichtig erscheinen könnte, geht nicht an, da es dann nicht zusätzlich auf das Schweigen des Geschäftsherrn ankommen dürfte. Auch dieses allein kann aber nicht der relevante Vertrauenstatbestand sein – etwa i. S. einer Scheingenehmigung –, da dann dem Dritten nicht die Kenntnis des Mangels der Vertretungsmacht (!) schaden dürfte. Offensichtlich wertet also das Gesetz die Behauptung des Agenten von seiner Vollmacht und das Schweigen des Geschäftsherrn nur in ihrem Zusammenwirken als hinreichende Vertrauensgrundlage, und dementsprechend kommt dem Schweigen der Sinn zu, daß entweder wirklich eine Vollmacht bestand oder das Geschäft genehmigt worden ist.89 Bedenkt man, daß der Vertreter in der Tat Vertrauensmann des Geschäftsherrn ist und daher ohne Vollmacht i. d. R. nur Geschäfte schließen wird, mit deren Billigung er rechnen kann, so dürfte das Gesetz den verkehrstypischen Sinn des Schweigens wohl wirklich richtig getroffen haben: beim Ausbleiben eines Widerspruchs darf der Dritte regelmäßig davon ausgehen, daß „alles in Ordnung“ ist. So gesehen springt die Parallele zum Bestätigungsschreiben in die Augen: hier wie dort teilt der Dritte90 seinem Geschäftspartner seine Überzeugung vom Abschluß eines Vertrages mit, hier wie dort geht er dabei davon aus, der Vertrag sei entweder schon zustande gekommen oder der andere habe ihn doch wenigstens jetzt ge- [214] billigt, und hier wie dort wird durch dessen Schweigen ein eventueller Mangel geheilt.91 Die Ausführungen zum Bestätigungsschreiben gelten daher hier entsprechend. Das gilt zunächst hinsichtlich der dogmatischen Einordnung, so daß auch die §§ 75 h, 91 a HGB folgerichtig der Rechtsscheinhaftung zuzurechnen sind, es gilt aber im wesentlichen auch für die Lösung der Einzelprobleme. Vgl. Ehrenbergs Handbuch Bd. V Abt. I 1, 1926, S. 244. Zu abweichenden Erklärungsversuchen vgl. wieder Manigk, Heymann-Festschrift S. 661, 666, 670 und Das rechtswirksame Verhalten S. 285 und 286 bzw. Reimer Schmidt aaO. S. 125 f. und Hanau aaO. S. 240 f. Verfehlt Hallermann ZHR 89, 232 f., dessen angeblich „allgemein anerkannten Rechtssatz“ es nicht gibt (vgl. unten § 20 I 5). 89 Zu dieser Konstruktion vgl. auch oben S. 74 (vor VII) sowie in verwandtem Zusammenhang S. 207 Fn. 50 a. 90 Im Falle der §§ 75 h, 91 a HGB kann die Mitteilung auch durch den Vertreter erfolgen, doch hat dieser dann die Funktion eines Boten des Dritten, vgl. sogleich im Text. 91 Beim Bestätigungsschreiben wird auch der Mangel der Vertretungsmacht geheilt, vgl. oben S. 212 bei Fn. 82. 87 88
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Insbesondere kommt es daher auf eine Kenntnis des Geschäftsherrn vom Zugang der Benachrichtigung – anders als nach § 85 a. F. HGB – nicht an; meldet freilich der Agent den Geschäftsabschluß nicht, so haftet der Prinzipal nicht, da jener insoweit als Bote des Dritten tätig wird und es daher um einen in dessen Risikobereich liegenden Umstand geht. Aus der Analogie zum Bestätigungsschreiben und zu § 362 HGB – übrigens auch zu § 377 IV HGB – folgt ferner, daß entgegen der h. L.92 unverzügliche Absendung eines Widerspruchs genügt. IV. Die „stillschweigende“ Vereinbarung allgemeiner Geschäftsbedingungen Ein weiterer Fall des Schweigens, der im Schrifttum z. T. mit den Mitteln der Vertrauenshaftung erklärt wird,93 ist die „stillschweigende“ Vereinbarung allgemeiner Geschäftsbedingungen. Dabei geht es um die Fälle, in denen der Unternehmer entsprechend einer für sein Gewerbe geltenden Verkehrssitte grundsätzlich nur unter Zugrundelegung seiner AGB abschließt, eine ausdrückliche Abrede hierüber aber unterblieben ist und dem Kunden die entsprechende Verkehrssitte unbekannt ist. Daß die AGB dann gelten, ist i. E. heute anerkannt. Eines Rückgriffs auf die Vertrauenshaftung bedarf es indessen hier allenfalls in Ausnahmefällen, da sich entgegen einer verbreiteten Ansicht94 die Bindung meist schon mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre erklären läßt. [215] Die Gegenansicht wird ersichtlich von dem Mißverständnis bestimmt, daß die Anerkennung der AGB eines selbständigen Rechtsgeschäfts bedürfe – eine Vor92 Vgl. Schmidt-Rimpler aaO. S. 249; Düringer-Hachenburg-Hoeniger § 85 Anm. 8; RGR-Komm. (Brüggemann) § 91 a Anm. 5 unter a und Anm. 9; Schlegelberger-Schröder § 91 a Rdz. 13; BaumbachDuden § 91 a Anm. 3 C. 93 Vgl. Staudinger-Coing Rdz. 24 k vor § 145; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 91. Es finden sich – neben den Rechtsgeschäftstheorien (vgl. die Darstellung bei Schmidt-Salzer, Das Recht der Allgemeinen Geschäfts- und Versicherungsbedingungen, 1967, S. 113 ff. m. Nachw. in Fn. 13) – wieder die schon von § 362 HGB bekannten Lösungsversuche (vgl. oben I 1). So steht hinter der Lehre Raisers von der „normierenden Kraft“ der Verkehrssitte (vgl. Das Recht der AGB, 1961, S. 157 ff., 199 ff.) ersichtlich Manigks Theorie von der „typisierten Erklärung mit normierter Bedeutung“; für Annahme einer Obliegenheitsverletzung Krause BB 55, 265 (267) und Hanau aaO. S. 240; für echte Rechtspflichtverletzung (aus c. i. c.) Meeske BB 59, 857 ff. (863). 94 Besonders kraß Flume § 37, 1; vgl. ferner die in der vorigen Fn. Zitierten sowie Enn.Nipperdey § 163 VI 3; Schreiber NJW 67, 1441 ff., der freilich vertrauensrechtliche Lösungsmöglichkeiten nicht einmal zur Kenntnis nimmt und auch im übrigen an den Problemen vorbeigeht (vgl. näher Diederichsen ZHR 132, 238 Fn. 32); Bydlinski S. 216 ff., der u. a. zu wenig berücksichtigt, daß unübliche Klauseln nicht als vereinbart gelten; RGR-Komm. (Ratz) § 346 Anm. 184 und 186, dessen Ausführungen in besonderem Maße charakteristisch für das im folgenden kritisierte Mißverständnis sind.
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stellung, die auch terminologisch ihren Niederschlag in Ausdrücken wie „Verweisung“, „Unterwerfung“ oder „Einbeziehungserklärung“ gefunden hat. Wäre ein solches erforderlich, so ergäbe sich in der Tat die Problematik des fehlenden Erklärungsbewußtseins, falls dem einen Vertragsteil die entsprechende Verkehrssitte unbekannt war. Richtig ist indessen, daß die Vereinbarung der AGB nur ein unselbständiger Teil des gesamten Vertragsschlusses ist und daß sich ihre Geltung demgemäß aus den Grundsätzen der Vertragsauslegung ergeben kann. Ist der Abschluß unter Zugrundelegung der AGB verkehrsüblich, so ist nämlich das Angebot95 bei objektiver oder normativer Auslegung96 von vornherein nur auf einen Vertrag unter Geltung der AGB gerichtet; denn in diesem Sinne darf bzw. muß der eine Teil die Erklärung des anderen auffassen, da nach § 157 BGB für die Auslegung einer Willenserklärung die Verkehrssitte zu berücksichtigen ist. Wenn der BGH für wesentlich hält, ob der Kunde von der Verkehrsüblichkeit der Zugrundelegung der AGB wissen mußte,97 so bleibt das durchaus im Rahmen der anerkannten Auslegungsgrundsätze: damit wird nicht auf ein – hier unerhebliches – Verschulden abgestellt, sondern lediglich abkürzend gesagt, daß eine Erklärung nur dann zurechenbar ist, wenn ein durchschnittlicher Teilnehmer des entsprechenden Verkehrskreises ihren objektiven Sinn erkennen konnte.98 Daher hat die Geltung der AGB auch in den hier in Frage stehenden Fällen ihre Grundlage in der privatautonomen Selbstbestimmung der betroffenen Partei – nicht anders als bei jedem anderen Vertrag auch, bei dem das Ergebnis der objektiven Auslegung gemäß § 157 BGB und das subjektive Verständnis des Erklärenden voneinander abweichen. Da die Partei hinsichtlich des Vertragsabschlusses jedenfalls das Erklärungsbewußtsein hat99 und da die Geltung der AGB sich aus einer objektiven Auslegung dieses Vertrages ergibt, ist es von vornherein ein falscher Ausgangspunkt, nach einer besonderen „stillschweigenden“ Unterwerfung unter die AGB zu fragen. [216] Freilich hat die betreffende Partei u. U. etwas anderes erklärt, als sie erklären wollte: sie hat objektiv einen Vertrag unter Anerkennung der AGB geschlossen, wollte aber subjektiv ei95 Von wem es ausgeht, ist gleichgültig: Geht es von dem Unternehmer aus, so konnte es der Kunde angesichts der Verkehrsüblichkeit objektiv nur als Angebot unter Einbeziehung der AGB verstehen; geht es von dem Kunden aus, so durfte der Unternehmer es aus demselben Grunde dahin verstehen, der Kunde wolle einen Vertrag unter Zugrundelegung der AGB schließen. 96 Vgl. dazu statt aller Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, 1930, passim; Flume § 16, 3. 97 Vgl. z. B. BGHZ 9, 1 (6); 12, 136 (142). 98 Dabei spielen in der Tat ähnliche Gesichtspunkte eine Rolle, wie sie auch für die Inhaltsbestimmung des Begriffs der objektiven Fahrlässigkeit von Bedeutung sind. Es geht eben in beiden Fällen um das Problem der „objektiven Zurechnung“. 99 Daher bedarf es auch des ganzen theoretischen Aufwandes von Schmidt-Salzer aaO. S. 118 ff. und seiner sinnwidrigen (vgl. unten § 34 II 2) Erweiterung der Rechtsgeschäftslehre nicht; richtig und ähnlich wie im Text demgegenüber z. B. Fikentscher § 26 V 5 c sowie im Ansatz auch schon Raiser aaO. S. 151 f.
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nen Vertrag ohne derartige Nebenbestimmungen schließen, und es kommt daher ein Inhaltsirrtum nach § 119 I BGB in Betracht. Das Problem reduziert sich somit auf die Frage, ob der Kunde den Vertrag anfechten kann. Voraussetzung dafür ist zunächst, daß wirklich ein Irrtum vorlag; daran fehlt es, wenn der Kunde hinsichtlich der in Frage stehenden Nebenbestimmungen nicht eine bestimmte Vorstellung gehabt, sondern sich darüber überhaupt keine Gedanken gemacht hat. In praxi wird die Anfechtung häufig schon an diesem Erfordernis scheitern. Liegt jedoch wirklich ein Irrtum vor, so ist für seine Berücksichtigung nach § 119 I HS 2 BGB weiterhin Voraussetzung, daß der Kunde den Vertrag „bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles“ nicht abgeschlossen hätte. Da er angesichts der Verkehrsüblichkeit der Vereinbarung von AGB i. d. R. nicht die Möglichkeit gehabt hätte, den Vertrag ohne AGB abzuschließen, müßte er regelmäßig dartun, daß er bei Kenntnis der Geltung der AGB gänzlich von dem Geschäft Abstand genommen hätte. Zieht man in Betracht, daß es hier typischerweise um Bank-, Versicherungsgeschäfte u. dgl. geht, also um Geschäfte, die vorzunehmen meist eine erhebliche praktische Notwendigkeit besteht, so wird deutlich, wie selten diese Voraussetzung der Anfechtung vorliegen wird. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß der Unternehmer das Geschäft ohne die (verkehrsübliche!) Vereinbarung der AGB regelmäßig nicht abgeschlossen hätte und daß die Anfechtung es daher nach § 139 BGB als ganzes vernichten würde:100 angesichts dieser Konsequenz wird der Kunde vor einer Anfechtung oft zurückschrecken.
Es zeigt sich somit, daß nicht nur die Geltung der AGB, sondern auch die – rechtspolitisch wünschenswerte – weitgehende Zurückdrängung der Anfechtbarkeit sich mit den klassischen Mitteln der Rechtsgeschäftslehre begründen läßt. Ein praktisches Bedürfnis für die im Schrifttum vertretenen z. T. äußerst gewagten Konstruktionen ist daher keinesfalls anzuerkennen. Will man dennoch die Anfechtung für den verbleibenden kleinen Rest von Fällen, in denen sie tatbestandlich überhaupt in Betracht kommt, ausschließen,101 so ist das mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre nun allerdings nicht mehr möglich. Als Ausweg bieten sich dann in der Tat auch hier die Grundsätze der Vertrauenshaftung. Insbesondere hat die Erklärung des Kunden, soweit sie die Geltung der AGB betrifft, einen durch die Verkehrssitte typisierten Sinn, so daß dasselbe Kriterium wie in den Fällen der §§ 56, 362 HGB und des Bestätigungsschreibens erfüllt ist. Ob darin die Grundlage für eine Verallgemeinerung der entsprechenden Regeln gesehen werden kann, ist nunmehr zu klären. [217] 100 Die für eine Zurückdrängung des § 139 BGB zugunsten einer „Restgültigkeit“ vorgebrachten auf dem Gedanken des Kundenschutzes aufbauenden Gründe passen m. E. nur bei Nichtigkeit einzelner Klauseln wegen inhaltlicher Mißbilligung gemäß § 138 oder analog § 315 BGB, nicht aber bei Teilanfechtung; anders Schmidt-Salzer aaO. S. 257. 101 Für den Ausschluß der Anfechtbarkeit i. E. Raiser aaO. S. 161 und S. 244 (zur Problematik des Ausschlusses der Anfechtbarkeit durch die „normierende Kraft“ der Verkehrssitte vgl. unten S. 219 f.); Staudinger-Coing Rdz. 24 k vor § 145 und § 119 Rdz. 14 c; Siebert-Knopp § 157 Rdz. 92; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 91; anders z. B. Schmidt-Salzer aaO. S. 256 f.
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§ 20 Die Verallgemeinerung der Rechtssätze über die Anscheinsvollmacht, das Schweigen auf einen Antrag (§ 362 HGB) und das Bestätigungsschreiben Vergegenwärtigt man sich die in den beiden letzten Paragraphen erörterten Fragenkreise im Zusammenhang, so springt ins Auge, daß sich immer wieder dieselben Probleme stellten und daß sich immer wieder dieselben Lösungsgesichtspunkte als sachgerecht erwiesen. Daher drängt sich wieder einmal die Frage auf, ob den behandelten Instituten ein gemeinsames Rechtsprinzip zugrunde liegt, das allgemeinerer Natur ist und sich daher auch in anderen Fällen fruchtbar machen läßt. FLUME hat das mit Entschiedenheit verneint1 und daraus die extreme Konsequenz gezogen, der „Anscheinsvollmacht“ die Anerkennung zu versagen;2 andere haben es mit ebensolcher Entschiedenheit bejaht, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und mit verschiedenen Begründungen.3 Will man in dieser Auseinandersetzung Stellung beziehen, so muß man sich zunächst über die Besonderheit der Problematik und den Grund der Schwierigkeiten klar werden. Die Besonderheit der Problematik liegt darin, daß hier aus einem nicht-rechtsgeschäftlichen Verhalten Wirkungen wie aus einem Rechtsgeschäft folgen sollen; die Schwierigkeiten beruhen darauf, daß nach der Regelung des Mangels des Erklärungsbewußtseins im BGB die Gleichstellung der unbewußten Schaffung des Scheins eines Rechtsgeschäfts mit einem Rechtsgeschäft grundsätzlich ausgeschlossen ist: liegt nur der „äußere Tatbestand“ einer Willenserklärung vor, fehlt es aber am Erklärungsbewußtsein, so tritt keine (endgültige)4 Bindung ein, sondern allenfalls die Pflicht zum Ersatz des negativen Interesses – was sich insbesondere aus den §§ 118, 122 BGB zwingend ergibt. Die erörterten Institute sind daher jedenfalls Sonderfälle, doch schließt das nicht unbedingt aus, daß ihnen trotz ihres Ausnahmecharakters ein verallgemeinerungsfähiger Rechtsgedanke zugrunde liegt. Will man diesen in seiner inneren Überzeugungskraft richtig erfassen, so muß man sich zunächst bewußt machen, daß die Regelung des Erklärungsbewußtseins, wie sie im BGB erfolgt ist, keineswegs dem Gesetzgeber irgendwie „vorgegeben“ war und insbesondere nicht aus dem „Wesen“ der Vgl. AcP 161, 52. Was Fischer ZHR 125, 209 für unvorstellbar hielt; vgl. aber Flume § 49, 4 und schon JTFestschrift S. 180 ff. und dazu unten S. 429 f. 3 Am weitesten gehen wohl Staudinger-Coing Rdzn. 3 e ff. vor §§ 116 und v. Godin RGRKomm. 2. Aufl. § 346 Anm. 2 = S. 20 ff. (zu beiden vgl. oben § 4); vgl. ferner z. B. SchlegelbergerHefermehl § 346 Rdz. 114; Hübner, Nipperdey-Festschrift I S. 380 ff. und die Zitate zur Behandlung des Schweigens unten Fn. 30. 4 Auch wer entgegen der h. L. beim Fehlen des Erklärungsbewußtseins keine Nichtigkeit annimmt, bejaht wenigstens die Anfechtbarkeit, vgl. unten S. 548 ff. 1 2
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Privatautonomie folgt. Zwar ist richtig, daß beim Fehlen des Erklärungsbewußtseins niemals eine Bindung kraft Rechtsgeschäfts vorliegen kann,5 doch ist es eine petitio principii anzunehmen, daß [218] Wirkungen wie aus einem Rechtsgeschäft nicht auch an andere Tatbestände geknüpft sein könnten.6 Solche können sich vielmehr z. B. auch aus dem bloßen Schein eines Rechtsgeschäfts ergeben; ob das der Fall ist, ist keine Frage der Rechtsgeschäftslehre, sondern der Rechtsscheinlehre, und wie weit der Gesetzgeber hinsichtlich der Bindung an einen Rechtsschein gehen will, steht ihm grundsätzlich frei. Mag das BGB nun durch seine Regelung auch eine allgemeine Haftung für die ohne Erklärungsbewußtsein erfolgte Schaffung des Scheins einer Willenserklärung abgelehnt haben, so ist das doch eine rein positiv-rechtliche Entscheidung, die zwar im Grundsatz verbindlich ist, die aber von der Problemstruktur her nicht zwingend vorgezeichnet erscheint und die daher für Sondertatbestände Abweichungen u. U. durchaus zuläßt. Diese müßten sich freilich, soll die Entstehung von Wertungswidersprüchen vermieden werden, in einer Weise vom Regelfall mangelnden Erklärungsbewußtseins unterscheiden, daß ihre andersartige Behandlung teleologisch gesehen einleuchtet. Die entscheidende Frage stellt sich somit dahin, ob die erörterten Fälle in irgendeinem gemeinsamen Punkte wesentlich vom Normaltypus des Fehlens des Erklärungsbewußtseins abweichen; ist das zu verneinen, so kann man sie nur als irreguläre Einzelfälle betrachten, ist es dagegen zu bejahen, so ist der Ansatz für eine, wenn auch begrenzte, Verallgemeinerung gefunden. Im einzelnen ist für die Beantwortung dieser Frage wieder zwischen den beiden Problemkreisen des „Schlüssigkeitsirrtums“ und der „Tatsachenunkenntnis“ zu unterscheiden.6a I. Der Irrtum über die Bedeutung eines Verhaltens: die Rechtsscheinhaftung „kraft verkehrsmäßig typisierter Erklärungsbedeutung“ 1. Was zunächst den ersteren betrifft, so dürfte sich bei ihm in der Tat ein allen Tatbeständen gemeinsamer Grund für eine besondere Bewertung des Fehlens des Erklärungsbewußtseins unschwer nachweisen lassen: ob im Falle des § 56 HGB, des § 362 HGB, des Bestätigungsschreibens oder der AGB, stets hatte das Verhalten des Verpflichteten nach Handelsbrauch oder Verkehrssitte einen festen, typisierten Sinn. Daß dies der entscheidende Gesichtspunkt ist, wird mittelbar bestätigt durch die Fälle, die dem Bestätigungsschreiben gleichgestellt bzw. die entgegengesetzt behandelt werden: ebenso wie bei jenem gilt z. B. auch bei Vgl. unten § 34 I 6. Vgl. allgemein unten § 34 III. 6a Zur Terminologie vgl. oben S. 188 f. 5 6
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Schlußnoten eines Handelsmäklers i. S. von § 94 HGB Schweigen als Zustimmung,7 und wirklich existiert [219] hier eine entsprechende Verkehrssitte,8 während andererseits bei Auftragsbestätigungen trotz ihrer engen Verwandtschaft mit Bestätigungsschreiben9 keine Genehmigungsfiktion angenommen wird,10 und zwar in der Tat deshalb, weil es hier an einer dahin gehenden Verkehrssitte fehlt.11 Setzt man nun dieses Kriterium zu der oben herausgearbeiteten Problematik in Beziehung, so erweist sich, daß es tatsächlich geeignet ist, um insoweit eine Sonderstellung der in Frage stehenden Tatbestände zu rechtfertigen. Denn es liegt gegenüber dem Normaltypus des fehlenden Erklärungsbewußtseins, wie er den Verfassern des BGB vor Augen gestanden haben dürfte, ein gesteigerter Vertrauenstatbestand vor: das Vertrauen darauf, daß der andere Teil die durch Handelsbrauch typisierte Bedeutung seines Verhaltens kennt, verdient erhöhten Schutz, zumal wenn man berücksichtigt, daß Handelsbräuche entscheidend zur Erleichterung des kaufmännischen Verkehrs beitragen und daß eine Typisierung regelmäßig aus Anlaß eines erhöhten Verkehrsschutzbedürfnisses stattfindet. Der von MANIGK entwickelte und von KRAUSE und RAISER fortgeführte Gedanke der Typisierung erweist sich somit hier als fruchtbar, wenn auch systematisch nicht im Zusammenhang der Rechtsgeschäftslehre, sondern der Rechtsscheinlehre.12 Diese Anknüpfung an die Lehre von der „typisierten Erklärung mit normierter Wirkung“ nötigt allerdings zu einigen Abgrenzungen und Einschränkungen. Zurückhaltung ist zunächst gegenüber dem Gedanken der gesetzlichen Typisierung geboten; denn damit wird häufig nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als daß eine Willenserklärung fingiert werde,13 also nichts erklärt. Allerdings dürfte dahinter gleichwohl ein richtiger Gedanke stehen.
7 Vgl. RGZ 58, 366 (367); 59, 350 (351); 90, 166 (168); 105, 205 (206); 123, 97 (99); RG JW 1909, 57; Hamm OLG 32, 154; BGH LM Nr. 6 zu § 346 (D) HGB; OLG Hamburg BB 55, 847; Raiser aaO. S. 195; Müller-Erzbach S. 159; Ritter § 94 Anm. 3 und § 346 Anm. 10 b; DüringerHachenburg-Hoeniger § 94 Anm. 7; RGR-Komm. (Brüggemann) § 94 Anm. 2 (unter 2 c); RGRKomm. (Ratz) § 346 Anm. 127; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 130; Lehmann-Hübner § 30 III 1. 8 Hinweise auf § 346 HGB finden sich allenthalben; vgl. z. B. RGZ 59, 351; 90, 166 (168); 105, 205 (206); Hamm OLG 32, 154 (155); BGH LM Nr. 6 zu § 346 (D) HGB; Brüggemann, Ratz und Hefermehl aaO. 9 Vgl. dazu Thamm BB 64, 910 f. 10 Grundlegend BGHZ 18, 212 (215 f.); vgl. auch BGH LM Nr. 2 zu § 150 BGB; ebenso die h. L.; vgl. Krause BB 52, 996 (997 f.); Lehmann JZ 56, 176; Pohle MDR 56, 216 f.; Varrentrapp BB 56, 1125; Schopp Rpfleger 61, 345; Diederichsen JuS 66, 131; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdzn. 116 und 129; Erman-Hefermehl § 147 Anm. 5; Soergel-Lange § 145 Rdz. 38; PalandtDanckelmann §§ 147 f. Anm. 2 a; Enn.-Nipperdey § 153 Fn. 27; Lehmann-Hübner § 30 III 1 a. E.; a. A. soweit ersichtlich nur Thamm aaO. 11 Vgl. BGHZ aaO. S. 215. 12 Manigk betont zwar die Bedeutung des Vertrauensgedankens häufig, wendet sich jedoch ausdrücklich gegen die Rechtsscheinlehre, vgl. das Zitat oben § 19 Fn. 8. 13 Vgl. auch Flume § 10, 2 = S. 120; Bydlinski S. 71 ff., 79 ff., dessen Einwände bei der hier vertretenen Modifikation der Lehre Manigks nicht passen, zumal damit nur die Unbeachtlichkeit
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Das Gesetz „typisiert“ nämlich nicht willkürlich, sondern es knüpft dabei an eine entsprechende bereits bestehende Verkehrssitte an – wie das bei den §§ 370 BGB, 56, 362 HGB unzweifelhaft der Fall war. Darüber hinaus sind Fälle denkbar, in denen auch unabhängig von einer typisierten Verkehrssitte einem Verhalten mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Bedeutung zukommt; auch hier liegt dann ein gesteigerter Vertrauenstatbestand vor, und seine gesetzliche Typisierung hat daher ihren guten Sinn. Läßt sich die Fiktion der Willenserklärung dagegen nicht auf eines dieser beiden Merkmale [220] zurückführen, so ist die Regelung entweder rechtspolitisch verfehlt oder sie hat ihren Grund in anderen Gesichtspunkten als solchen der Vertrauenshaftung; mit dem Gedanken der gesetzlichen „Typisierung“ ist dann jedenfalls nichts zu erklären. So wenig also im allgemeinen das Gesetz allein im hier verstandenen Sinne typisieren kann, so wenig können umgekehrt Handelsbrauch und Verkehrssitte normieren. Ein derogierender Handelsbrauch ist mit der herrschenden Rechtsquellenlehre unvereinbar,14 und auch § 346 HGB stellt dafür keine „Einbruchsstelle“ dar. Möglich ist allerdings, daß nach Handelsbrauch das Verhalten der Parteien in dem Sinne zu verstehen ist, daß sie bestimmte – dispositive – Regelungen abbedingen wollen.15 In Betracht käme also hier, daß die Regeln über das Erklärungsbewußtsein nach dem Sinn des Parteiverhaltens mit Rücksicht auf § 346 HGB als ausgeschlossen anzusehen sein sollen. Einen entsprechenden Handelsbrauch gibt es jedoch nicht:16 dieser bezieht sich nur auf die Bedeutung eines bestimmten Verhaltens, nicht aber auf die Rechtsfolgen eines Irrtums über diese Bedeutung. – Man kann daher, etwas vereinfachend, sagen: Handelsbrauch und Verkehrssitte typisieren, die Rechtsordnung normiert.
Nicht in der Verkehrssitte, sondern nur in einem Satz des objektiven Rechts kann daher der Geltungsgrund für die Abweichung von der Irrtumsregelung des BGB liegen. Dieser Satz lautet: Die Unkenntnis über die durch Handelsbrauch oder kaufmännische Verkehrssitte typisierte Bedeutung eines Verhaltens ist unbeachtlich. Er ergibt sich im Wege der Induktion – herkömmlich meist Rechtsanalogie genannt – aus den oben erörterten Rechtsinstituten und findet seine innere Rechtfertigung im Vertrauensgedanken; er ist mit der Behandlung des Erklärungsbewußtseins im BGB vereinbar, weil er sich auf einen Sondertatbestand bezieht, der von dem im BGB zugrunde gelegten Normaltypus hinsichtlich der Stärke des Verkehrsschutzbe-
des Fehlens des Schlüssigkeitsbewußtseins erklärt wird, während im übrigen andere Gründe (vgl. unten II) herangezogen werden. 14 Das muß im Rahmen dieser Arbeit bloße Behauptung bleiben, weil auf die im Hintergrund stehenden rechtsphilosophischen und verfassungsrechtlichen Fragen einzugehen hier nicht der Ort ist. Vgl. zur Problematik statt aller Oertmann, Rechtsordnung und Verkehrssitte S. V f, 346 ff., 359 ff. 15 Nur im Rahmen dieser Konstruktion dürfte die verbreitete Ansicht (vgl. BGH JZ 66, 104; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 36 m. w. Nachw.) zu halten sein, nach der ein Handelsbrauch dispositivem Recht vorgehen soll. 16 So mit Recht Flume AcP 161, 66; Hanau AcP 165, 233 f.; vgl. auch Krause aaO. S. 143 f.
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dürfnisses und des Vertrauenstatbestandes wesentlich abweicht.17 Wer einen zusätzlichen positiv-rechtlichen „Aufhänger“ für erforderlich hält, kann sich außerdem mit guten Gründen auf § 346 HGB berufen. Immerhin verdient es in diesem Zusammenhang jedenfalls Beachtung, daß dort – anders als in § 157 BGB! – die Maßgeblichkeit der Handelsbräuche nicht nur für Rechtsgeschäfte, sondern allgemein für „Handlungen und Unterlassungen“ – also auch für die Fälle fehlenden Erklärungsbewußtseins – und nicht nur für deren Auslegung, sondern auch für ihre „Wirkung“ angeordnet ist. Zwar ist zuzugeben, daß sich der fragliche Rechtssatz bei Erlaß des HGB nicht ohne weiteres aus § 346 HGB hätte ableiten lassen; inzwischen dürfte diese Generalklausel durch die Rechtsentwicklung jedoch in diesem Sinne konkreti- [221] siert worden sein, da die in Frage stehenden Rechtsinstitute großenteils unter Berufung auf § 346 entwickelt worden sind. Diese Anknüpfung ist auch innerlich gerechtfertigt: dem Ausschluß einer individualisierenden Auslegung bei einer durch die Verkehrssitte typisierten rechtsgeschäftlichen Erklärung – der sich unzweifelhaft aus § 346 ergibt! – entspricht die Unerheblichkeit des Schlüssigkeitsbewußtseins bei einem typisierten nichtrechtsgeschäftlichen Verhalten. 2. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, auf deren Grundlage sich der genaue Anwendungsbereich des herausgestellten Rechtssatzes festlegen läßt. Insoweit ist zunächst zu unterstreichen, daß eine verkehrsmäßige Typisierung keineswegs nur hinsichtlich des Schweigens, sondern auch in Fällen konkludenten Verhaltens, in denen ein positives Tun zugrunde liegt, denkbar ist und vorkommt.18 Als Beispiele seien § 370 BGB und § 56 HGB sowie die Rechtssätze über die Scheinvollmacht kraft Einräumung einer Stellung genannt. Auch eine Entscheidung des BGH19 zum Kassalieferschein gehört in diesen Zusammenhang; danach liegt in der Annahme einer Ware, deren Auslieferung gegen Vorlage eines Kassalieferscheins erfolgt, nach Handelsbrauch ein selbständiges Zahlungsversprechen gegenüber dem Auslieferer.20 Durch Handelsbrauch typisiert kann weiter auch die Bedeutung einer ausdrücklichen Erklärung sein. Abgesehen von dem oben erwähnten Beispiel der un17 Methodisch liegt eine Art teleologischer Reduktion oder Restriktion der – im wesentlichen ungeschriebenen – Regelung des Erklärungsbewußtseins vor. 18 Daß die Lehre von der Obliegenheitsverletzung diese trotz der offensichtlichen Gleichartigkeit der Problematik nicht zu erfassen vermag, ist eine wesentliche Schwäche dieser Theorie. – Auch der Ansicht, daß es sich um eine Sonderproblematik des Schweigens im Rechtsverkehr handele, kann nach den Ausführungen des Textes nicht zugestimmt werden; vgl. in diesem Zusammenhang z. B. den Versuch von Krause aaO. S. 150, die Schaffung eines Rechtsscheins durch Einräumung einer Stellung in ein „Dulden“ umzudeuten. 19 Vgl. BGHZ 6, 378. 20 Lehrreich ist der Vergleich mit dem „Nachnahmefall“ (vgl. oben S. 20 f.): hier kann man nicht mehr mit einem geheimen Vorbehalt nach § 116 S. 1 BGB arbeiten, da die Unkenntnis des entsprechenden Handelsbrauchs durchaus denkbar ist.
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wissentlichen Vereinbarung der Geltung von AGB sind hier vor allem die Handelsklauseln wie fob, cif usw. zu erwähnen. Daß hier ein erhebliches praktisches Bedürfnis besteht, die Berufung auf einen Irrtum über die Bedeutung der Klausel auszuschließen, wird im Schrifttum verschiedentlich anerkannt.21 Eine überzeugende Begründung ist jedoch bisher nicht gelungen; sie ergibt sich ohne weiteres, wenn man den hier angenommenen Rechtssatz von der Irrelevanz eines Irrtums über die durch Handelsbrauch typisierte Bedeutung anerkennt. 3. Auch die Grenzen der Unbeachtlichkeit eines „Schlüssigkeitsirrtums“ sind mit dem Gesagten bereits aufgezeigt: sie liegen dort, wo die Typisierung aufhört. Auch für das Handelsrecht verdienen daher die Lehren COINGS und V. GODINS von der „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“ keine Anerkennung. Vielmehr ist scharf zwischen dem Verhalten mit typisierter Bedeutung und dem, wie im folgenden gesagt werden soll, „individuell-konkludenten“ Verhalten zu unterscheiden. Ersteres [222] ist dadurch gekennzeichnet, daß seine Bedeutung nicht von Fall zu Fall individualisierend positiv festgestellt werden muß, sondern eben typisiert ist;22 letzteres dagegen liegt vor, wenn die Bedeutung nur, wie die stehende Formel heißt, „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles nach Treu und Glauben“ ermittelt werden kann. Im ersteren Fall wird also ein bestimmter Sinn sozusagen vermutet, im zweiten muß er in schwieriger Auslegungsarbeit immer erneut festgestellt werden. Schon diese Gegenüberstellung zeigt, daß beim individuell-konkludenten Verhalten ein ungleich schwächerer Vertrauenstatbestand vorliegt. Für eine Abweichung von der grundsätzlichen Entscheidung des BGB ist daher methodisch kein Raum. Diese steht einer Ausdehnung der entwickelten Regeln auch auf das individuell-konkludente Verhalten vielmehr unüberwindlich entgegen. Dabei gilt wieder der in dieser Arbeit schon oft vorgetragene Gedankengang: bei einer ausdrücklichen Erklärung wird bei fehlendem Erklärungsbewußtsein grundsätzlich allenfalls auf das negative Interesse gehaftet; ein konkludentes Verhalten stellt i. d. R. gegenüber der ausdrücklichen Erklärung keinen stärkeren, sondern eher einen schwächeren Vertrauenstatbestand dar, und ein erhöhter Vertrauensschutz ist daher im allgemeinen nicht gerechtfertigt. Davon eine Ausnahme zu machen, ist, wie gezeigt, bei einem Verhalten mit typisierter Bedeutung möglich, da es einen erhöhten Vertrauenstatbestand bildet; da die Typisierung jedoch Grund der Sonderbehandlung ist, kommt eine Anwendung der erarbeiteten Regeln auf das individuell-konkludente Verhalten grundsätzlich nicht in Betracht.23 Auch im Handelsverkehr kann daher keine Rede davon sein, daß
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Fn. 8.
Vgl. z. B. Flume § 21, 9 c; Hanau AcP 165, 236. Die Typizität kann jedoch im Einzelfall widerlegt werden, vgl. z. B. oben S. 190 bei
23 Ausdrücklich a. A. RGR-Komm. (v. Godin) § 346 Anm. 2 = S. 22 f. Gerade das von v. Godin aaO. gegebene Beispiel zeigt in seiner Kompliziertheit anschaulich, wie wenig Anlaß
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niemand sich darauf berufen könne, er habe die aus Treu und Glauben folgende Bedeutung seines Verhaltens nicht gekannt; dies gilt selbst dann, wenn der Irrtum verschuldet ist: das BGB stellt auf ein Verschulden hinsichtlich des Irrtums nicht ab, und das Handelsrecht kennt insoweit keine Sonderregeln.24 4. Allerdings könnte man auf Grund der bisherigen Ausführungen versucht sein, aus der Masse der Fälle individuell-konkludenten Verhaltens weitere Gruppen auszusondern mit der Begründung, auch bei ihnen liege eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit dafür vor, daß das Verhalten von einem bestimmten Willen getragen sei, und auch bei ihnen sei daher ein erhöhter Vertrauenstatbestand gegeben, der eine Einschränkung der Regeln über das Erklärungsbewußtsein rechtfertige. Davor muß jedoch nachdrücklich gewarnt werden. Denn wann ein Verhalten mit „besonders [223] hoher Wahrscheinlichkeit“ den Rückschluß auf einen bestimmten rechtsgeschäftlichen Willen zuläßt, ist in aller Regel eine so unsichere Frage, daß bei ihrer fallweisen Bejahung die Rechtssicherheit stark beeinträchtigt werden müßte; damit aber wäre nicht nur dem Handelsverkehr ein schlechter Dienst geleistet, sondern auch der mit der Rechtsscheinhaftung bezweckte Verkehrsschutz gerade verfehlt. Wann also ein hinreichender Vertrauenstatbestand für eine Rechtsscheinhaftung vorliegt, sollte grundsätzlich nur durch Verkehrssitte oder Gesetz typisierend festgelegt werden;25 nur darin haben die Rechtsunterworfenen wie die Gerichte einen genügend sicheren Anhaltspunkt. Das bedeutet, wie zuzugeben ist, eine verhältnismäßig starke Einschränkung der Möglichkeit, die entwickelten Regeln fortzubilden. In der Tat wird man dies grundsätzlich nur tun dürfen, wenn sich ein neuer typisierender Handelsbrauch gebildet hat. Im übrigen bleibt nur die Analogie zu den gesetzlich geregelten und den durch die Verkehrssitte bereits typisierten Tatbeständen,25a doch dürfte damit den praktischen Bedürfnissen ohne weiteres Rechnung zu tragen sein.26 Wesenthier zu einem gesteigerten Vertrauensschutz besteht; auf konkludentes Verhalten ist eben im allgemeinen wenig Verlaß. 24 a. A. Flume § 21, 9 c. Flumes Berufung auf § 346 HGB kann jedoch nicht überzeugen: eine Korrektur der Irrtumsregelung des BGB hinsichtlich der Relevanz des Verschuldens enthält § 346 nach Wortlaut und Sinn einwandfrei nicht; die Vorschrift ist auch nicht in dieser Richtung durch die Rechtsentwicklung konkretisiert worden, und erst recht gibt es keinen Handelsbrauch, nach dem die Berufung auf verschuldete Irrtümer ausgeschlossen wäre. 25 Anders wohl von Craushaar S. 103. 25a Gemeint ist eine echte Einzelanalogie, die nicht mit der soeben vorgenommenen induktiven Gewinnung eines allgemeinen Rechtsprinzips – fälschlich meist „Rechtsanalogie“ genannt – verwechselt werden darf (vgl. zu den methodologischen Unterschieden näher Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 98 ff.). Dementsprechend ist das tertium comparationis hier nicht in der typisierenden Kraft einer Verkehrssitte, sondern in anderen Merkmalen zu sehen; es liegt insoweit ähnlich wie in den oben S. 219 behandelten Fällen, in denen das Gesetz unabhängig vom Bestehen einer Verkehrssitte eine Typisierung vornimmt. 26 Im übrigen ist auch zu beachten, daß sich niemand auf das Fehlen des Erklärungsbewußtseins berufen kann, wenn die Bedeutung seines Verhaltens evident ist und seine Unkenn-
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lich für eine solche Analogie ist dabei zunächst, ob die Elemente, auf die sich die besondere Wahrscheinlichkeit des Vorliegens eines bestimmten Willens stützt, auch in dem noch nicht verkehrsmäßig typisierten Fall gegeben sind. So dürfte z. B. beim Schweigen auf die „Annahme“ eines freibleibend gemachten „Angebots“ eine ähnliche „Abschlußreife“ wie beim Schweigen auf ein Bestätigungsschreiben vorliegen, und man wird die – allgemein bejahte27 – Annahmefiktion daher hier auf eine Analogie stützen können (sofern nicht überhaupt schon eine Typisierung durch Handelsbrauch besteht28). An einer derartigen Abschlußreife fehlt es dagegen – ebenso wie an einer verkehrsmäßigen Typisierung – beim Schweigen auf eine Auftragsbestätigung, [224] weshalb die Ablehnung der Annahmefiktion durch die h. L.29 zu billigen ist. Weiter dürfte von maßgeblicher Bedeutung für die Frage einer Analogiebildung sein, ob das fragliche Institut in besonderem Maße entweder der Klarstellung der Rechts- und Sachlage dient – wie das Bestätigungsschreiben oder, mindestens z. T., die AGB – oder ob es eine erhöhte Bedeutung für die Erleichterung und Vereinfachung des kaufmännischen Verkehrs besitzt – wie die Handelsklauseln oder der Kassalieferschein. Dies allein kann freilich nie genügen, wie das Beispiel der Auftragsbestätigung, die sicher eine Klarstellungsfunktion hat, zeigt. 5. Auf Grund der bisherigen Gedankengänge und insbesondere auf Grund der Unterscheidung zwischen dem typisiert-konkludenten Verhalten und dem individuell-konkludenten Verhalten läßt sich auch die Problematik des Schweigens im Handelsverkehr einer neuen Lösung zuführen. Nach einer verbreiteten Meinung gilt Schweigen als Zustimmung, „wo nach Lage des Einzelfalls entsprechend der Übung ordentlicher Kaufleute bei Ablehnung ausdrücklicher Widerspruch zu erwarten wäre“.30 Dieser Satz ist schon deshalb unzutreffend, weil ein ordentlitnis nur darauf zurückzuführen sein kann, daß er vor der Konkludenz seines Verhaltens „die Augen verschlossen“ hat, vgl. oben S. 23. 27 Vgl. RGZ 102, 227 (229 f.); 103, 312 (313); RG JW 1921, 393 m. zust. Anm. von Oertmann; 1923, 118; GruchBeitr.66 Nr. 32; WarnRspr. 1925 Nr. 14; OLG Hamburg LZ 1916 Sp. 1329; München OLG 38, 200; Manigk, Heymann-Festschrift S. 663; Enn.- Nipperdey § 161 III 1 b a. E.; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 55. Die Berufung des RG auf die Verletzung einer Aufklärungspflicht ist freilich als Begründung ungeeignet, vgl. sogleich im Text. 28 Vgl. den Hinweis auf die Gutachten der Handelskammern bei Enn.-Nipperdey aaO. Fn. 31. 29 Vgl. oben S. 219 mit Nachw. in Fn. 10. 30 Vgl. Baumbach-Duden § 346 Anm. 4 A; ebenso oder ähnlich RGZ 102, 217 (229 f); 103, 401 (405); 115, 266 (268); RG LZ 1920, 176 (177); GruchBeitr. 65 Nr. 39 (S. 339 f.); JW 1928, 638 (639); 1931, 1522 (1524 Sp. 1); HRR 1933 Nr. 1567; BGHZ 1, 353 (355); BGH LM Nr. 4 zu § 157 BGB (Gb); Nr. 1 zu Art. 7 WG (Bl. 2 Vorders.); Nr. 7 b zu § 346 HGB (D); BB 53, 957; 55, 463; 62, 1056; JR 56, 59; WM 55, 1285 (1286); 62, 301 (302); Kuhn WM 55, 960; Ritter § 346 Anm. 10 vor a; Düringer-Hachenburg-Werner § 346 Anm. 13 a; Staudinger-Coing Rdz. 5 vor § 116; Staudinger-Weber § 242 Rdzn. A 219 f.; Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdzn. 113 und 114 a. E. Wesentlich zurückhaltender dagegen z. B. v. Gierke § 55 II 2; Schumann II S. 25 ff.; Enn.-Nipperdey § 153 III; Lehmann-Hübner § 30 III; Lange § 39 IV 2 d (mit berechtigtem Hinweis auf die Mög-
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cher Kaufmann – und jeder andere auch – u. U. schon dann zu einem Widerspruch verpflichtet ist, wenn sein Schweigen zwar objektiv keinesfalls als Zeichen des Einverständnisses anzusehen ist, wenn er jedoch begründeten Anlaß zu der Annahme hat, der andere Teil könne es in diesem Sinne mißverstehen; dann trifft ihn nämlich eine Aufklärungspflicht,31 sofern ihn mit dem andern Teil ein „Schutzverhältnis“ verbindet, was regelmäßig der Fall sein wird. Daß hier nicht die Bindung des Schweigenden an eine nicht vorhandene Einverständniserklärung, sondern allenfalls die Pflicht zum Ersatz des negativen Interesses – unter Berücksichtigung der Schadensteilung nach § 254 BGB! – die einzige sachgerechte Lösung ist, sollte man nicht ernsthaft in Zweifel ziehen. Diskutabel wäre daher höchstens der Satz, Schweigen sei als Zustimmung zu werten, wo es objektiv Zeichen der Zustimmung ist. Auch das ließe sich jedoch nicht halten. Es würde nämlich bedeuten, die Rechtssätze über den Mangel des Erklärungsbewußtseins für das Schweigen einfach beiseite zu schieben. [225] Dazu besteht aber nicht die geringste Rechtfertigung.32 Denn Schweigen ist wohl der unsicherste Vertrauenstatbestand, den es überhaupt gibt, unsicherer jedenfalls als der Normalfall einer konkludenten Erklärung durch positives Tun und erst recht als eine ausdrückliche Erklärung; wenn aber schon dort der Mangel des Erklärungsbewußtseins grundsätzlich relevant ist, muß er es erst recht im Falle des Schweigens sein.33 Auch das lichkeit der c. i. c.) und bei Soergel § 145 Rdzn. 25 ff. (wo Rdz. 36 grundsätzlich die Anfechtung zugelassen wird). Scharf ablehnend mit Recht Flume AcP 161, 66 ff. und Allg. Teil II § 35 II 4. 31 Die Problematik ist mit der des Dissenses (vgl. dazu unten § 44 I 1 m. Nachw. in Fn. 6) eng verwandt und muß ebenso entschieden werden wie diese. 32 A. A. Hanau AcP 165, 251. Seiner Meinung nach läßt es „die Eigenart des Schweigens nicht zu, nur den beschränkten Schutz des § 122 zu gewähren“; ein Irrtum über seine Bedeutung komme recht häufig vor und beruhe „in aller Regel darauf, daß der Schweigende die Augen vor seiner Verantwortung im Rechtsverkehr verschließt“. Das ist zunächst in dieser Allgemeinheit unrichtig: mindestens in den Fällen „individuell-konkludenten“ Schweigens ist die Bedeutung des Schweigens nicht selten so unsicher, daß der Irrtum des Schweigenden durchaus entschuldbar ist; Hanau meint ja selbst, ein solcher Irrtum komme „recht häufig“ vor! Sodann ist es nach der Wertung des § 119 BGB auch unerheblich, ob der Irrtum verschuldet war oder nicht; sogar grobe Fahrlässigkeit schließt seine Beachtlichkeit nicht aus (arg. § 118). Weiter ist zu bemerken, daß man in den Fällen, in denen der Schweigende wirklich „die Augen verschlossen hat“, ja eine Ausnahme machen kann (vgl. auch oben S. 23). Schließlich bleibt es auch eine bloße – und in ihrer Allgemeinheit jedenfalls unhaltbare – Behauptung, daß der Schadensersatzanspruch des § 122 unzureichend sei; er ist im Gegenteil häufig sogar allein sachgerecht (vgl. sogleich im Text), und wo er tatsächlich nicht ausreicht, bleibt immer noch die Möglichkeit der „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens und kraft Erwirkung“ (vgl. z. B. den Witwengeldfall unten S. 340 f.). Richtig ist freilich, daß der andere Teil sich angesichts des Schweigens häufig in einer besonders unklaren Position befindet, doch ist die problemgerechte Antwort hierauf allenfalls die Statuierung zusätzlicher Aufklärungspflichten des Schweigenden (mit der Folge der §§ 249, 254 BGB) – was z. B. v. Craushaar S. 104 und S. 113 verkennt. Gegen Hanau treffend auch Bydlinski S. 80 Fn. 153. 33 Besonderheiten weist das Schweigen allerdings insofern auf, als das Vorhandensein eines bestimmten Willens hier häufig nachträglich nicht mehr leicht zu beweisen ist. Dies ist jedoch ein reines Beweisproblem, wie es bei anderen „inneren Tatsachen“ auch auftritt; eine angemessene
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Schweigen ist also ein erhöhter Vertrauenstatbestand nur dann, wenn ihm nach Handelsbrauch oder kaufmännischer Verkehrssitte die Bedeutung der Zustimmung zukommt. Nur in den Fällen verkehrsmäßig typisierten Schweigens, nicht in denen individuell-konkludenten Schweigens ist daher ein Irrtum über die Bedeutung des Schweigens irrelevant. Wo es an einer solchen Typisierung fehlt, kann auch nicht das Bestehen einer dauernden Geschäftsverbindung34 oder ein besonderes Interesse des anderen Teils an unverzüglicher Klarstellung35 die Wertung des Schweigens als Annahme rechtfertigen; hier wie stets folgt daraus vielmehr lediglich eine Auf- [226] klärungspflicht, deren Verletzung nach geltendem Recht zu einer Schadensersatzhaftung, nicht aber zu einer Erfüllungspflicht führt.36 Nicht zu billigen ist z. B. die vieldiskutierte Entscheidung des BGH im „Absetzgleisfall“.37 Hier hatte sich die Kl. auf Grund einer Vertragsklausel von dem ursprünglichen Vertrag losgesagt und der Bekl. das Absetzgleis, das den Gegenstand des Kaufvertrages bildete, zu einem höheren Preis (statt 4850 RM 6845 DM) angeboten; die Bekl. hatte darauf wie auch auf eine spätere Anfrage geschwiegen. Der BGH wertete dieses Schweigen unter Berufung auf den hier kritisierten angeblichen Rechtssatz als Annahme und verurteilte die Beklagte zur Zahlung des Kaufpreises. Das erscheint verfehlt. Zwar ist es zutreffend, daß die Beklagte „nach Treu und Glauben“ hätte widersprechen müssen und daß sich dies insbesondere aus dem Bestehen der Geschäftsverbindung und dem Interesse der Klägerin an alsbaldiger Antwort ergibt; doch ist nicht verständlich, warum aus einer derartigen Aufklärungspflichtverletzung (p. V. V.) entgegen den Grundsätzen des geltenden Rechts nicht lediglich ein Schadensersatzanspruch folgen soll. Der BGH geht darauf mit keinem Wort ein, was darauf schließen läßt, daß er diese Problematik übersehen hat.38 In Wahrheit ist allein die Gewährung eines Schadensersatzanspruchs de lege lata vertretbar und sachgerecht. Das Schweigen hatte hier – ganz abgesehen von der Frage des Erklärungsbewußtseins – angesichts der erheblichen Preisdifferenz nicht einmal objektiv die Bedeutung der Zustimmung, und die Bekl. mußte lediglich deshalb widersprechen, weil mit einem Mißverständnis der Kl. zu rechnen war, auf Grund dessen diese Maßnahmen zur Herstellung oder FertigLösung könnte daher z. B. eine Umkehrung der Beweislast oder die Anwendung der Grundsätze über den prima-facie-Beweis sein, keinesfalls aber die Mißachtung der Rechtssätze über das Erklärungsbewußtsein. 34 Darauf stellt BGHZ 1, 353 (355 f.) ab; vgl. auch RGZ 76, 81 (85); RG DJZ 1921 Sp. 763. Wie im Text Flume § 35 II 4 = S. 660. Allgemein zur Bedeutung der Geschäftsverbindung Philipowski, Die Geschäftsverbindung, 1963, (zum Schweigen im besonderen S. 92 ff.). 35 Vgl. BGH aaO. S. 355 f. 36 Das wird offenbar auch in BGH LM Nr. 4 zu § 177 BGB verkannt. 37 BGHZ 1, 353; ablehnend Flume AcP 161, 66 ff. und Allg. Teil II § 35 II 4; zustimmend z. B. Kuhn WM 55, 959 f.; Hanau AcP 165, 248; v. Craushaar aaO. S. 105; vgl. auch Hübner, Nipperdey-Festschrift I S. 382 mit Fn. 53. 38 Das sollte übrigens bei der (beliebten!) Heranziehung der Entscheidung als Präjudiz zu äußerster Zurückhaltung mahnen; außerdem lagen auch in tatbestandlicher Hinsicht Besonderheiten vor, vgl. Flume S. 660 Fn. 72.
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Die Erörterung der Entscheidung zeigt im übrigen ganz allgemein, daß die zitierte Formel nicht nur de lege lata unhaltbar, sondern auch sachlich unbrauchbar ist, weil mit einer derart vereinfachenden Einheitslösung die höchst komplexe Problematik des „Schweigens im Rechtsverkehr“ nicht zu bewältigen ist. In Wahr- [227] heit kennt unsere Rechtsordnung eine Vielzahl von Möglichkeiten:39 die Bindung kraft Rechtsgeschäfts, wo ein entsprechendes Schlüssigkeitsbewußtsein vorhanden ist; die Bindung kraft Rechtsscheins, wo deren besondere Voraussetzungen gegeben sind, also z. B.40 wissentlich ein Scheintatbestand durch Schweigen geschaffen wird oder die Bedeutung des Schweigens typisiert ist; die Verpflichtung zum Ersatz des Vertrauensschadens unabhängig von einem Verschulden des Schweigenden analog § 122 BGB, wo das Schweigen nur individuell-konkludent ist, aber objektiv nach den Umständen des Falles die Bedeutung des Einverständnisses hat; die Verpflichtung zum Ersatz des Vertrauensschadens bei Verschulden des Schweigenden wegen Schutzpflichtverletzung (aus c. i. c. oder p. V. V.) unter Berücksichtigung des § 254 BGB, wo das Schweigen zwar objektiv nicht den Sinn der Zustimmung hat, der Schweigende jedoch mit einem derartigen Mißverständnis des anderen Teils rechnen mußte; und schließlich – als ultima ratio – die Wertung des Schweigens als Einverständnis nach den Regeln 39 Im folgenden sind nur die erwähnt, in denen die Rechtsfolge auf Grund einer Zurechnung des Schweigens erfolgt und in denen der Vertrauensgedanke eine Rolle spielt. Eine vollständige Erörterung der Problematik gehört nicht in den Zusammenhang dieser Arbeit; immerhin sei aber bemerkt, daß es ein dogmatisch einheitliches Problem des „Schweigens im Rechtsverkehr“ nicht gibt, wie die im Text angeführten heterogenen Lösungsmöglichkeiten zeigen. 40 Vgl. ferner das Problem des Schweigens auf die Nachricht über eine Wechselunterschrift und dazu unten S. 244 ff. m. Nachw. in Fn. 32.
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der „Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit“, insbesondere der „Erwirkung“ und des anspruchsbegründenden venire contra factum proprium, wo nur die Statuierung einer Erfüllungshaftung mit § 242 BGB vereinbar ist.41 6. Mit der Unterscheidung zwischen dem verkehrsmäßig typisierten Verhalten und dem individuell-konkludenten Verhalten ist schließlich inzident auch eine Stellungnahme zu dem umstrittenen Problem verbunden, ob der Irrtum über einen Handelsbrauch oder eine kaufmännische Verkehrssitte beachtlich ist oder nicht. Die Frage ist weder generell zu bejahen42 noch generell zu verneinen.43 Vielmehr ist nach dem Gesagten zu differenzieren: unbeachtlich sind der Irrtum oder die Unkenntnis, wo die Verkehrssitte typisierend wirkt,44 beachtlich sind sie dagegen, wo die Verkehrssitte nur eines unter mehreren bei der Auslegung zu berücksichtigenden Elementen ist. [228] II. Die Tatsachenunkenntnis: die Rechtsscheinhaftung „kraft kaufmännischen Betriebsrisikos“ Aus den bisherigen Gedankengängen läßt sich nur erklären, warum ein (bloßer) Schlüssigkeitsirrtum unbeachtlich ist. Warum der Kaufmann sich darüber hinaus unter bestimmten Voraussetzungen auch nicht auf Tatsachenunkenntnis45 berufen kann, ist damit noch nicht begründet. Insoweit handelt es sich um ein selbständiges Problem. 1. Auch hier ist wieder zu fragen, inwieweit die gefundenen Rechtssätze einer Verallgemeinerung zugänglich sind und wie sie sich mit dem der Irrtumsregelung des BGB zugrundeliegenden Grundsatz der Beachtlichkeit des fehlenden Erklärungsbewußtseins vereinbaren lassen. Dabei bestätigt sich die Überlegenheit der hier vertretenen Lehre vom kaufmännischen Betriebsrisiko.45a Denn die h. L., die auf Verschulden abstellt, kann nicht erklären, warum gerade hier ein verschuldeter Irrtum irrelevant sein soll, obwohl das BGB ihn doch auch im Falle des Verschuldens grundsätzlich als beachtlich ansieht. Da das Verschulden keinerlei Besonderheiten Vgl. dazu unten §§ 27 ff., insbesondere den „Witwengeldfall“ S. 340 f. So z. B. Oertmann, Rechtsordnung und Verkehrssitte, 1914, S. 78 und S. 356 ff.; Staudinger-Coing § 133 Rdz. 16; Enn.-Nipperdey § 206 III vor 1; Düringer-Hachenburg-Werner Allg. Einl. vor § 343 Anm.129; RGR-Komm. (Brüggemann) Allg. Einl. Anm. 25; vgl. auch RG JW 1926, 1325; 1927, 764. 43 So Siebert-Knopp § 157 Rdz. 91 m. Nachw. 44 Dieser Ansicht dürfte die Hefermehls am nächsten stehen, wenn man einmal davon absieht, daß Hefermehl der Verkehrssitte normierende Kraft zuerkennt. Vgl. Schlegelberger-Hefermehl § 346 Rdz. 30; Soergel-Hefermehl Rdzn. 11 und 41 vor § 116 und 69 zu § 119; Erman-Hefermehl § 157 Anm. 3 c. 45 Zur Terminologie vgl. oben S. 188 f. 45a Vgl. oben §§ 18 II 2, 19 I 3 und II 2. 41 42
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aufweist, die es von anderen Fällen verschuldeter Unkenntnis unterscheiden könnten, bleibt der h. L. nur der unbefriedigende Ausweg, in den fraglichen Tatbeständen eine systematisch nicht einzuordnende Regelwidrigkeit zu sehen. Vom hier vertretenen Standpunkt aus ist das Problem dagegen einfacher zu lösen. Zwar kommt es nach dem BGB grundsätzlich auch nicht darauf an, in wessen Risikosphäre die Ursache für den Irrtum liegt, aber es handelt sich in den zur Erörterung stehenden Fällen durchweg nicht um die allgemeinen Risiken des eigenen Geschäftskreises, sondern um spezifische Gefahren: um die besonderen Organisationsrisiken eines kaufmännischen Betriebes, insbesondere um die mit dessen arbeitsteiliger46 Organisation verbundenen Gefahren. Mag das Gesetz diesen auch nicht durch eine ausdrückliche Sonderregelung Rechnung getragen haben, so unterscheidet sich die Problematik typologisch doch klar von dem Normalfall, an dem die Irrtumsregelung des BGB orientiert ist. Insoweit von dieser eine Ausnahme zu machen, bedeutet daher nicht, sie generell zu mißachten, sondern lediglich, sie für einen klar abgrenzbaren Sondertatbestand einzuschränken – ein der klassischen „teleologischen Reduktion“ zumindest eng verwandtes methodisches Verfahren.47 Auch hier handelt es sich dabei um eine Fallgruppe, bei der gegenüber dem Normaltypus ein erhöhtes Schutzbedürfnis des Dritten unverkennbar ist; denn die Organisation eines kaufmännischen Betriebes birgt, wie mehrfach betont, für außenstehende Dritte [229] besondere Gefahren in sich, da diese die interne Funktionsverteilung nicht durchschauen können und sich auf die Ordnungsmäßigkeit der Organisation verlassen können müssen. 2. Damit ist auch entschieden, unter welchen Voraussetzungen die entwickelten Regeln über die „Tatsachenunkenntnis“ verallgemeinerungsfähig sind: sie gelten für jeden Irrtum und jede Unkenntnis, die ihren Grund in den besonderen Organisationsrisiken eines kaufmännischen Betriebs haben. Sie gelten daher keineswegs nur beim typisiertkonkludenten Verhalten, sondern auch beim individuell-konkludenten Verhalten; so liegt z. B. bei der „Anscheinsvollmacht“ regelmäßig keine Typisierung vor, da der Rückschluß auf eine Bevollmächtigung hier meist nur auf Grund „aller Umstände des Einzelfalls“ möglich ist. Demgemäß wären die Rechtssätze über die Unbeachtlichkeit der Tatsachenunkenntnis z. B. auch dann anwendbar, wenn lediglich zwischen den Parteien vereinbart ist, Schweigen auf ein Angebot solle Erklärungszeichen der Zustimmung sein und nun der Empfänger der Offerte aus einem in seinem Risikobereich liegenden Umstand, etwa wegen einer Reise, nicht
46 Die spezifischen Gefahren arbeitsteiliger Organisation spielen keineswegs nur für die „Anscheinsvollmacht“ eine Rolle, sondern auch, wenngleich nicht in demselben Maße, für die Problematik des § 362 HGB und des Bestätigungsschreibens; denn auch dort geht es typischerweise etwa darum, daß ein Angestellter das Schreiben nicht rechtzeitig vorgelegt oder unterschlagen hat usw. 47 In methodischer Hinsicht vgl. auch oben Fn. 17.
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antwortet. Ihre Anwendbarkeit ist auch nicht auf das Schweigen beschränkt,48 sondern erstreckt sich sogar auf ausdrückliche Erklärungen. So muß es der Kaufmann z. B. als in seinem Risikobereich liegend gegen sich gelten lassen, wenn ein Angestellter ein ausgefertigtes Vertragsangebot, sei es auch ohne Wissen des Prinzipals oder eines Bevollmächtigten, in die Hände bekommt und unberechtigterweise absendet; der Fall ist dem der „Anscheinsvollmacht“ so eng verwandt, daß hier nicht anders als dort entschieden werden kann: es ist Sache des Kaufmanns, seinen Betrieb so zu organisieren, daß nur zuständige Personen in den Besitz von Entwürfen zu rechtsgeschäftlichen Erklärungen gelangen können, und auch insoweit muß der Dritte vor den Gefahren der für ihn undurchschaubaren Organisation geschützt werden. Schließlich wird man hierher auch noch den Fall zu rechnen haben, daß ein Kaufmann ein ihm von einem seiner Angestellten vorgelegtes Schriftstück unterzeichnet und sich dabei über dessen Inhalt irrt – sei es, daß er es für eine Willenserklärung anderen Inhalts hält, sei es, daß er es sogar als eine nicht rechtsgeschäftliche Erklärung ansieht; denn auch hier geht es um die spezifischen Risiken einer arbeitsteiligen Organisation.49 Die Rechtssätze über die Tatsachenunkenntnis gelten andererseits aber auch nur, soweit die Unkenntnis oder der Irrtum ihren Grund in den spezifischen Risiken eines kaufmännischen Betriebes haben. Auch im Handelsrecht ist daher keineswegs jeder Tatsachenirrtum bei konkludentem Verhalten unbeachtlich.50 So könnte sich z. B. auch ein Kaufmann auf das Fehlen des Erklärungsbewußtseins berufen, wenn er im [230] Nachnahmefall51 den falschen Wagen entladen hätte, ohne auf diesen Irrtum aufmerksam zu werden. Anders zu entscheiden, wäre eine generelle Mißachtung der Irrtumsregelung des BGB, weil derartige Irrtümer nun einmal grundsätzlich relevant sind und Gründe für eine strengere Behandlung des konkludenten Verhaltens gegenüber der ausdrücklichen Erklärung sich, wie immer wieder betont, nicht finden lassen.52
a. A. wohl Hanau AcP 165, 241. Ob der Angestellte irrtümlich oder vorsätzlich, vielleicht sogar in betrügerischer Absicht gehandelt hat, ist unerheblich; denn der Kaufmann trägt grundsätzlich auch das Risiko von Straftaten, vgl. oben § 19 bei und mit Fn. 46 = S. 205 und unten S. 487 bei Fn. 50. 50 a. A. außer Coing und v. Godin (vgl. oben § 4) Siebert-Knopp § 157 Rdz. 90 (hinsichtlich „generell erkennbarer Umstände“); Hanau AcP 165, 235 und 246 f. (hinsichtlich aller Fälle des Schweigens). 51 Vgl. oben S. 20 f. 52 Vgl. oben § 4 III. 48 49
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III. Die Übertragbarkeit der entwickelten Rechtssätze in das bürgerliche Recht Abschließend bleibt die Frage zu klären, ob die im Vorstehenden entwickelten Rechtssätze auf das Handelsrecht beschränkt sind oder Ausdehnung auf das bürgerliche Recht verdienen. 1. Letzteres ist sicher dann zu bejahen, wenn jemand wie ein Kaufmann am Verkehrsleben teilnimmt, wenn man von ihm also die Kenntnis kaufmännischer Bräuche erwarten kann und sein Betrieb ähnlich wie der eines Kaufmanns organisiert ist oder sein müßte. Das wird man etwa bei privatrechtlicher Betätigung der öffentlichen Hand grundsätzlich annehmen können,53 doch gilt es u. U. z. B. auch für große landwirtschaftliche Betriebe oder sogar für Rechtsanwaltsbüros.54 Insoweit handelt es sich indessen im Grunde nur um eine Korrektur der heute nicht mehr voll zeitgerechten Regelung der Kaufmannseigenschaft durch das HGB55 und nicht eigentlich um eine Antwort auf die gestellte Frage. 2. Für ihre Lösung sind wieder die beiden Problemkreise des Schlüssigkeitsirrtums und der Tatsachenunkenntnis streng zu unterscheiden. Was zunächst die Regeln über die Tatsachenunkenntnis betrifft, so lassen sich diese in das BGB keinesfalls übertragen.56 Das ergibt sich vom hier vertretenen Standpunkt aus ohne weiteres daraus, daß es an dem Anknüpfungspunkt für die Risikozurechnung fehlt, weil der Nichtkaufmann ja keinen kaufmännischen Betrieb hat. Man könnte daher nur allgemein auf seinen „Geschäftskreis“ oder „Tätigkeitsbereich“ oder dergl. abstellen, doch würde man sich damit generell in Widerspruch zur Irrtumsregelung des BGB stellen, da es nach dieser eben grundsätzlich nicht darauf ankommt, in wessen „Sphäre“ der Irrtum seinen Grund hat.57 Die h. L. wäre in dieser Frage möglicherweise weniger zurückhaltend, weil sie in dem Verschuldensgedanken ein [231] an sich auch im bürgerlichen Recht brauchbares Kriterium besitzt. Ihr ist jedoch auch hier entgegenzuhalten, daß nach dem BGB auch ein verschuldeter Irrtum relevant ist und daß daher das Verschulden allein keinesfalls genügen kann, um die Anwendbarkeit der Regeln über das fehlende Erklärungsbewußtsein auszuschließen. Ohne weiteres mit dem kaufmännischen Organisationsrisiko vergleichbar und weitgehend sogar mit ihm identisch ist freilich das Betriebsrisiko des Arbeitgebers. Vgl. dazu auch unten § 36 III 3. Vgl. auch oben S. 193 f. m. Nachw. in Fn. 25 und S. 212 m. Nachw. in Fn. 85. 55 Vgl. dazu grundlegend Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1965. 56 a. A. Staudinger-Coing Rdz. 3 f. a. E. vor § 116; insoweit gegen Coing auch Siebert-Knopp § 157 Rdz. 90; vgl. im übrigen allgemein oben § 4. 57 Die Wertung des § 130 BGB läßt sich, wie dargelegt, in diesem Zusammenhang nicht fruchtbar machen, weil es dort nur um das Wirksamwerden einer fremden Willenserklärung, hier dagegen um den Schein der Abgabe einer eigenen geht. 53 54
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Demgemäß müssen hier dieselben Grundsätze gelten wie im Handelsrecht, und folglich haftet der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern, wenn er aufgrund eines in seiner „Sphäre“ liegenden Umstandes von der Entstehung eines Rechtsscheins keine Kenntnis erlangt hat. 3. Weniger schwerwiegende Bedenken bestehen gegen eine Ausweitung des Rechtssatzes hinsichtlich der Unbeachtlichkeit des Irrtums über die typisierte Bedeutung. Soweit es sich um eine gesetzliche Typisierung handelt, die ihren Grund in der besonders hohen Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung von Verhalten und Willen hat, ergeben sich ohnehin keine Probleme; ein Beispiel dieser Art aus dem BGB dürfte § 496 S. 2 sein. Auch bei einer verkehrsmäßigen Typisierung läßt sich aber die Übertragbarkeit der handelsrechtlichen Regeln nicht ohne weiteres von der Hand weisen. In § 370 enthält das BGB immerhin eine Vorschrift, die in diesen Zusammenhang einzuordnen ist;58 freilich ist es wohl kein Zufall, daß sie erst von der Reichstagskommission aus dem ADHGB übernommen worden ist58. Auch die Unbeachtlichkeit eines Irrtums über die Verkehrsüblichkeit der Verwendung von AGB scheint sich mehr und mehr durchzusetzen; doch ist auch das kein sonderlich schlagkräftiges Argument, da sich, wie gezeigt, insoweit den praktischen Bedürfnissen schon mit den Mitteln des BGB Rechnung tragen läßt. Schließlich dürfte sich die Lehre von der Rechtsscheinhaftung kraft verkehrsmäßig-typisierten Verhaltens mit der Tendenz treffen, in den Fällen des sogenannten „sozialtypischen Verhaltens“ die Berufung auf einen Irrtum über die Sozialtypik auszuschließen.59 Es gibt indessen gewichtige Gegengründe. Für den allgemeinen bürgerlichrechtlichen Verkehr ist im Gegensatz zum Handelsverkehr nämlich ein gesteigertes Verkehrsschutzbedürfnis nicht vorhanden oder jedenfalls nicht gesetzlich anerkannt, und so sind denn auch nicht zufällig die Institute, aus denen der in Frage stehende Rechtssatz entwickelt worden ist, solche des Handelsrechts. Auch die im Vergleich zu § 346 HGB wesentlich engere Fassung des § 157 BGB spricht gegen eine Übertragung. Außerdem ist es schließlich doch recht fraglich, ob man von jedem Teilnehmer am allgemeinen rechtsgeschäftlichen Verkehr die Kenntnis aller typisierender Verkehrssitten erwarten kann, so wie man von einem Kaufmann die Kenntnis typisierender Handelsbräuche verlangen darf. Den praktischen Bedürfnissen ist weitgehend dadurch Rechnung getragen, daß jemand sich auf einen Irrtum über die Bedeutung seines Verhaltens dann nicht berufen kann, wenn er vor dieser [232] „die Augen verschlossen“ hat.60 Im übrigen erscheint es nur in den Fällen einer „Sozialtypik“, deren Offenkundigkeit über die der bloßen „Verkehrstypik“ weit hinausgehen dürfte, unbedenklich, die Anfechtung ohne weiteres auszuschließen. Freilich ist zu erwarten, daß die Rechtsentwicklung auch Vgl. oben § 5 V. Vgl. Larenz, Allg. Teil § 34 II = S. 516 f. 60 Vgl. oben S. 23. 58 59
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hinsichtlich der letzteren zu einer Einschränkung der Irrtumsanfechtung im bürgerlichen Recht führen wird.61 Strengere Grundsätze sind auch in dieser Frage im Arbeitsrecht angebracht. Denn dieses wird ähnlich wie das Handelsrecht weitgehend durch „typisierte“ Massenverträge beherrscht, bei denen ein erhöhtes Verkehrsschutzbedürfnis und eine geringere Schutzwürdigkeit des Irrenden besteht, und daher passen die Regeln über die „Rechtsscheinhaftung kraft verkehrsmäßig typisierten Verhaltens“ grundsätzlich auch hier; insbesondere dürfte es keine Überforderung sein, von den Arbeitnehmern zu erwarten, daß sie etwaige in ihrer Branche geltenden, ihre Arbeitsverträge typisierende Verkehrssitten kennen.
61 Vgl. auch Larenz aaO. S. 348 (Kleindruck a. E.) mit m. E. freilich sehr zweifelhafter Begründung.
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Dritter Unterabschnitt Die Rechtsscheinhaftung im Recht der Umlaufpapiere Nicht zufällig hat der Rechtsscheingedanke im Wertpapierrecht schon verhältnismäßig früh Eingang gefunden, kommt er dem gesteigerten Bedürfnis dieses Rechtsgebietes nach Verkehrssicherheit und nach „Schutz des Vertrauens auf äußere Tatbestände“ doch in besonderem Maße entgegen. Es ist vor allem der Verdienst JACOBIS,1 daß die Rechtsscheinlehre hier alsbald zu einer Höhe und Differenziertheit gelangte, wie sie sie in anderen Gebieten z. T. bis heute nicht erreicht hat; insbesondere die Notwendigkeit einer Zurechnung des Scheintatbestandes hat Jacobi – wenn auch nicht immer der Terminologie, so doch der Sache nach – von Anfang an mit großer Klarheit betont. So hat sich die „Rechtsscheintheorie“ in der Form der „Lehre vom Einwendungsausschluß“2 im Wertpapierrecht rasch durchgesetzt.3 Immerhin bedarf aber auch hier sowohl in den grundsätzlichen Fragen als auch in den Einzelheiten eine Reihe von Problemen auch heute noch näherer Erörterung. [233] § 21 Die wertpapierrechtliche Rechtsscheintheorie im System der Rechtsscheinhaftung I. Ablehnung der Kreationstheorie Das Entstehen der wertpapierrechtlichen Rechtsscheintheorie ist gekennzeichnet durch ihre Auseinandersetzung mit der Kreationstheorie. Dieser Streit ist dogmengeschichtlich insofern hoch interessant, als es sich auch hier wieder um einen jener – historisch gesehen für die Entwicklung der Vertrauenshaftung geradezu typischen4 – Versuche handelt, die Problematik des Vertrauensschutzes ausschließlich mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre zu lösen. Denn vor allem dem Bedürfnis nach einem gesteigerten Verkehrsschutz im Recht der Umlaufpa1 Vgl. vor allem in Ehrenbergs Handbuch IV 1, 1917, S. 241 ff. und 282 ff. sowie die dort S. 282 Fn. 1 zitierten älteren Schriften Jacobis; vgl. ferner Wechsel- und Scheckrecht, 1955, S. 41 ff., 69 ff. 2 Vgl. dazu unten § 22. 3 Sie ist heute ganz herrschend; vgl. außer Jacobi z. B. Herbert Meyer, Das Akzept, 1918, S. 17 ff., 78 ff., 108 ff.; A. Hueck, Recht der Wertpapiere, 10. Aufl. 1967, § 8 VI und § 19 III 3; Ulmer, Das Recht der Wertpapiere, 1938, S. 42 ff.; Rehfeldt, Wertpapierrecht, 8. Aufl. 1966, § 6; Schumann, Handelsrecht II, 1954, S. 302 ff.; Baumbach-Hefermehl, Komm. zum WG und SchG, 9. Aufl. 1967, WPR Rdz. 31, Einl. WG Rdz. 23 f., Art. 17 WG Rdzn. 4 ff.; Enn.-Lehmann § 208 II und § 209; Larenz, Schuldrecht B.T. § 60 II; Esser, Schuldrecht B. T. § 89 II 2. 4 Vgl. allgemein unten § 34 I vor 1.
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piere ist die Schaffung der Kreationstheorie5 zu verdanken, glaubte man doch, durch die Ableitung der wertpapierrechtlichen Verpflichtung aus einem einseitigen nicht empfangsbedürftigen Rechtsgeschäft ohne weiteres die Schwierigkeiten zu umgehen, die sich für die bis dahin herrschende „Vertragstheorie“ bei einem Fehlen oder bei Nichtigkeit des Begebungsvertrages ergaben. Indessen zeigte sich bald, daß auch diese Theorie das Problem, zu dessen Lösung sie geschaffen war, nicht zu bewältigen vermochte: sie ging einerseits zu weit, da nach ihr folgerichtig, aber in Widerspruch zur Sachproblematik an sich auch „Bösgläubige“ geschützt werden, und sie sah sich daher zur Verhinderung dieses Ergebnisses zu mancherlei Modifikationen gezwungen; und sie ging anderseits nicht weit genug, da nach ihr Mängel der Ausstellung selbst, also des „Kreationsaktes“, grundsätzlich relevant sein müßten und da das den angestrebten Verkehrsschutz doch wieder weitgehend vereitelt, – zumal bei solchen Papieren, bei denen wie z. B. bei allen Orderpapieren Ausstellung und Begebung meist ein und derselbe tatsächliche Vorgang sind und bei denen daher Mängel der letzteren regelmäßig auch die erstere ergreifen. Vor allem diese Erkenntnis war es dann, die schließlich zu der Einsicht geführt hat, daß auch die Kreationstheorie das Problem des Verkehrsschutzes nicht zu lösen vermag, sondern zu ihrer Ergänzung insoweit der Rechtsscheintheorie bedarf;6 auch von ihren Anhängern wird daher heute zugegeben, daß zwischen beiden Theorien kein Gegensatz besteht und daß eine vollständige Erklärung des Einwendungsausschlusses im Wertpapierrecht demgemäß nicht allein mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre möglich ist.7 Im Gegenteil: wie so oft zeigt sich auch hier, daß die Rechtsgeschäftslehre geradezu Schaden leidet und in ihrer „Reinheit“ beeinträchtigt wird, wenn man sie zur Lösung von Problemen der Vertrauenshaftung mißbraucht.8 Denn nicht nur, daß die Kreationstheorie durch die Annahme [234] eines einseitigen Verpflichtungsgeschäfts in Gegensatz zum Vertragsdogma des § 305 BGB gerät – ähnlich wie die ihr auch sonst dogmengeschichtlich und strukturell besonders eng verwandte Lehre von der „Erklärung an die Öffentlichkeit“ –, sie wird auch – wiederum ähnlich wie jene – gezwungen, ihre Zuflucht zu Fiktionen zu nehmen.9 Indem sie nämlich die Ausstellung als solche bereits als ein Rechtsgeschäft ansieht, mißachtet sie die sonst allgemein anerkannte10 Erkenntnis, daß der objektive Tatbestand eines Rechtsgeschäfts erst 5 Vgl. zu dieser vor allem Kuntze, Die Lehre von den Inhaberpapieren, 1857; Langen, Die Kreationstheorie, 1906. 6 Grundlegend Ulmer aaO. S. 42 ff. 7 Vgl. Ulmer aaO. 8 Vgl. allgemein unten § 34 II 2. 9 Vgl. hierzu und zum folgenden vor allem die Kritik Jacobis, Handbuch aaO. S. 282 ff., insbesondere S. 283 f.; besonders klar auch Larenz aaO. S. 343 f. 10 Vgl. unten § 34 I 5.
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vorliegt, wenn die Endgültigkeit der Willensbildung feststeht: vor der „Begebung“ des Papiers kann der Aussteller dieses noch zurückhalten, was ihm i. d. R. auch durchaus bewußt sein wird, und mit der bloßen Schaffung der Urkunde hat er daher ebensowenig schon eine Rechtsfolge „in Geltung gesetzt“ wie etwa mit der schriftlichen Abfassung eines Kaufangebotes in einem Brief; beides sind vielmehr bloße Entwürfe, und sie werden zum Rechtsgeschäft erst dadurch, daß sie von ihrem Verfasser aus seinem Machtbereich gegeben werden, da erst jetzt die Endgültigkeit der Willensbildung manifest wird. Alles, was vorher liegt, kann demnach nicht unter rechtsgeschäftlichen, sondern allenfalls unter vertrauenstheoretischen Gesichtspunkten relevant werden, und die Kreationstheorie überschreitet daher – wiederum ähnlich wie an einer anderen Stelle11 die Lehre von der „Erklärung an die Öffentlichkeit“ – eine charakteristische Grenze zwischen der Selbstbindung kraft Rechtsgeschäfts und der Vertrauenshaftung.12 II. Die wertpapierrechtliche Rechtsscheinhaftung und die allgemeinen Prinzipien der Rechtsscheinhaftung Bei der Einordnung der Rechtssätze über den Einwendungsausschluß im Wertpapierrecht in das in dieser Arbeit entwickelte System der Rechtsscheinhaftung sind vier Problemkreise zu unterscheiden: 1. der Ausschluß von Mängeln des Begebungsvertrages, 2. die Unbeachtlichkeit des Fehlens des Begebungsvertrages, 3. die Behandlung von Willensmängeln bei der Ausstellung und 4. die Frage nach dem maßgeblichen Zurechnungsprinzip und, im Zusammenhang damit, nach den Gründen, die die Zurechnung ausschließen. 1. Soweit Mängel des Begebungsvertrages in Frage stehen, bereitet die Einordnung in allgemeine Zusammenhänge keine Schwierigkeiten: die Begründung der wertpapierrechtlichen Obligation ist ein Rechtsgeschäft, das – wegen des Umlaufcharakters – zur Grundlage von Rechtsgeschäften Dritter bestimmt ist und bei dem daher ganz allgemein Einwendungen zugunsten gutgläubiger Dritter präkludiert sind.13 [235] 2. Anders liegt es, wenn es an einem Begebungsvertrag gänzlich fehlt. Es wäre nämlich unzutreffend, aus dem Ausschluß von Einwendungen gegen den Begebungsvertrag ohne weiteres auf die Irrelevanz dieses Vertrages überhaupt zu schließen: eine Einschränkung der Nichtigkeitsfolgen des BGB ist etwas anderes und weniger Schwerwiegendes als der Verzicht auf das Erfordernis eines rechtsgeschäftli11 Jene mißachtet den Unterschied von konstitutiven und deklaratorischen Erklärungen, vgl. oben § 14 II 1 und unten § 34 I 1. 12 Vgl. allgemein unten § 34 I 5. 13 Vgl. oben § 11 VII und unten § 38 III 4 = S. 484 f.
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chen Begründungsaktes überhaupt – wie z. B. die scharfe Grenzziehung zeigt, die die h. L. mit Recht zwischen der „fehlerhaften“ und der bloßen „faktischen“ Gesellschaft vornimmt. Gleichwohl kann i. E. nicht zweifelhaft sein, daß, wie sich insbesondere aus § 794 BGB ergibt, auch das Fehlen des Begebungsvertrages einem gutgläubigen Dritten nach geltendem Recht nicht entgegensetzt werden kann. Darin liegt jedoch – und das ist nachdrücklich zu betonen – eine Besonderheit der wertpapierrechtlichen Rechtsscheinhaftung; denn wie oben14 vor allem unter Hinweis auf § 172 I BGB herausgearbeitet wurde, knüpft die Rechtsscheinhaftung normalerweise nicht schon an die Herstellung des Scheintatbestandes an, d. h. an die Ausstellung der Urkunde, sondern erst an das In-den-Verkehr-bringen. Daß das im Recht der Umlaufpapiere anders ist, daß also an die Stelle der sonst analog § 122 BGB gegebenen Schadensersatzhaftung15 die Erfüllungshaftung tritt, rechtfertigt sich einerseits wiederum aus dem hier bestehenden erhöhten Verkehrsschutzbedürfnis und andererseits aus der Tatsache, daß der Aussteller ja bewußt ein Wertpapier ausgefertigt, also ein erhöhtes und gerade den Wertpapierverkehr betreffendes Risiko geschaffen hat, das über das mit der Herstellung einer anderen Urkunde verbundene Risiko noch hinausgeht und das ihm daher auch insoweit unbedenklich zugerechnet werden kann.16 3. Eine dritte Frage ist, inwieweit Willensmängel bei der Ausstellung selbst zu berücksichtigen sind. Auch insoweit wird meist nicht klar gegenüber den anderen Problemkreisen unterschieden, doch geht es hier wiederum um eine neue Fragestellung: nicht um die Nichtigkeit oder das Fehlen des Begebungsvertrages, also die Ersetzbarkeit der Voraussetzungen rechtsgeschäftlicher Bindung, sondern um die Fehlerhaftigkeit des den Rechtsschein begründenden Aktes selbst, also um die Zurechenbarkeitsvoraussetzungen der Vertrauenshaftung. Mag es nun auch i. d. R. richtig sein, insoweit die Vorschriften der §§ 116 BGB analog anzuwenden,17 so gelten im Recht der Umlaufpapiere doch auch in diesem Punkt Besonderheiten. Denn das Verkehrsschutzbedürfnis würde, wie schon bei der Kritik der Kreationstheorie angedeutet, stark beeinträchtigt, wollte man die Berücksichtigung von Willensmängeln hinsichtlich des Ausstellungsaktes zulassen;18 insbesondere wäre [236] das im Mittelpunkt der Bemühungen stehende Ziel, Mängel des Begebungsvertrages zugunsten späterer Erwerber zu präkludieren, weitgehend vereitelt, da Ausstellung und Begebung meist derselbe tatsächliche Vorgang Vgl. § 5 I 3. Vgl. unten § 44 II 3. 16 Zur Zurechnung des Risikos des Abhandenkommens bei Urkunden vgl. allgemein unten § 38 III 7. 17 Vgl. unten § 36 II. Insoweit mit der Unterscheidung von Rechtsgeschäft und Realakt zu argumentieren, wäre auch hier ein methodologischer Anachronismus. 18 Vgl. auch schon Jacobi, Handbuch aaO. S. 305 f., der mit Recht nicht auf begriffliche Erwägungen, sondern auf die Erfordernisse des Verkehrsschutzes abstellt. 14 15
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sind (jedenfalls bei nicht massenhaft ausgegebenen Papieren) und da Mängel des letzteren deshalb regelmäßig auch erstere ergreifen werden. Der h. L.19 ist daher i. E. darin zuzustimmen, daß Willensmängel bei der Ausstellung gegenüber gutgläubigen Erwerbern20 grundsätzlich unschädlich sind. Im System der Rechtsscheinhaftung stellt diese Regel keine Irregularität dar, sondern sie bildet im Gegenteil, da sie i. E. nahezu allgemein anerkannt ist, eine mittelbare Bestätigung der Richtigkeit bereits anderwärts gefundener „allgemeiner“ Rechtsscheinprinzipien. Denn sie ist nichts anderes als eine neue Ausprägung des vor allem im Hinblick auf die Generalvollmacht und die Gesellschaft21 entwickelten Grundsatzes, daß Willensmängel bei der Schaffung des Scheintatbestandes dann unerheblich sind, wenn das fragliche Rechtsgeschäft zur Grundlage von Rechtsgeschäften einer unbestimmten Vielzahl von Personen bestimmt ist.22 Auch hier würde nämlich typischerweise ein nicht im voraus abzugrenzender Kreis von Personen durch die Nichtigkeit betroffen, und das oben21 insoweit herausgearbeitete Kriterium ist daher in der Tat erfüllt, ja, man kann sagen, daß sich der hier wertungsmäßig ausschlaggebende „Umlaufzweck“ geradezu unter jenen Gesichtspunkt als unter die allgemeinere Formel subsumieren läßt. 4. Damit ist indessen nur festgestellt, welche Mängel die Zurechnung nicht ausschließen, und es bleibt daher noch zu klären, was positiv die Zurechnungsvoraussetzungen und was dementsprechend die Ausschlußgründe sind. Herkömmlicherweise sagt man nun auch hier, das richte sich nach dem „Veranlassungsprinzip“. Dieses ist jedoch, wie im Verlauf der bisherigen Erörterungen immer wieder deutlich geworden ist, im Risikogedanken aufzulösen,23 und dementsprechend ist auch im Wertpapierrecht die Zurechnungsproblematik unter dem Gesichtspunkt von Gefahrsetzung und Gefahrtragung zu sehen. In der Tat leuchtet es nun unmittelbar ein, daß derjenige, der am Wertpapierverkehr teilnimmt, dadurch ein erhöhtes Risiko schafft, da das Papier wegen seines Umlaufzwecks beliebige Dritte gefährden kann und da für diese – anders als für den unmittelbaren Vertragspartner! – eventuelle Mängel regelmäßig gänzlich unerkennbar sind und – wieder anders als für den am Geschäft selbst Beteiligten! – außer jedem Zusammenhang mit ihrer „Sphäre“ stehen; der Aussteller des Papiers ist somit „näher daran“, die mit Umlaufpapieren typischerweise verbundenen Risiken zu tragen, da er die „gefähr[237] liche Handlung“ vorgenommen und daher insoweit „auf eigene Gefahr“
Vgl. z. B. Ulmer S. 51 f. und S. 241 f.; Hueck § 19 III 3 a; Locher S. 112. Nur gegenüber diesen und nicht etwa schlechthin! 21 Vgl. oben S. 36 f. bzw. S. 125 bei Fn. 23 und allgemein unten S. 455. 22 Vgl. oben S. 150 Ziff. 4 und unten S. 455. 23 Vgl. dazu allgemein unten § 38 I und II, insbesondere S. 480 mit Fn. 28. 19 20
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gehandelt hat24 und da die fraglichen Mängel ihren Ursprung in seinem Bereich haben.25 In der praktischen Konsequenz ergeben sich aus der Ersetzung des Veranlassungs- durch das Risikoprinzip freilich nur verhältnismäßig geringfügige Abweichungen gegenüber der h. L. – worauf alsbald im einzelnen zurückzukommen ist.26 Entscheidend für die Begrenzung der Zurechnung sind hier vielmehr die allgemeinen Zurechnungsvoraussetzungen und die aus diesen folgenden allgemeinen Ausschlußgründe.27 Danach ist zum einen zu fordern, daß der Rechtsschein überhaupt auf ein Verhalten des in Anspruch Genommenen zurückgeht – und demgemäß scheidet, wie i. E. durchweg anerkannt wird, eine Rechtsscheinhaftung bei vis absoluta, Vertretung ohne Vertretungsmacht, Fälschung und Verfälschung grundsätzlich28 aus; und zum anderen muß die Zurechnungsfähigkeit gegeben sein – und da diese sich bei der Rechtsscheinhaftung generell nach den Vorschriften über die Geschäftsfähigkeit richtet,28a ergibt sich daraus, daß Geschäftsunfähige und beschränkt Geschäftsfähige auch im Wertpapierrecht nicht nach Rechtsscheinregeln in Anspruch genommen werden können, was ebenfalls i. E. der ganz h. L. entspricht.29
24 Diese Gesichtspunkte klingen denn auch im Schrifttum mehrfach an (was mittelbar die Richtigkeit der hier vertretenen Ansicht bestätigt); vgl. z. B. Jacobi, Handbuch aaO. S. 286, 293 („gefährliche Handlung“), Wechsel- und Scheckrecht aaO. S. 75 bei Fn. 3, S. 118 und öfter; vgl. ferner die Handbuch S. 286 Fn. 19 Zitierten; aus neuerer Zeit Ulmer aaO. S. 46 mit Fn. 27; Larenz aaO. S. 346; ablehnend Herbert Meyer, Das Akzept, 1918, S. 24 ff. 25 Vgl. auch die Herausarbeitung der einzelnen Risiken und der für ihre Verteilung maßgeblichen Gesichtspunkte unten § 38 III. 26 Vgl. unten S. 246 ff. 27 Vgl. dazu allgemein unten § 37 I 1. 28 Zu den erforderlichen Einschränkungen vgl. alsbald S. 243 ff. und 246 ff. 28a Vgl. unten § 36 I. 29 Vgl. z. B. Ulmer S. 241; Rehfeldt § 6 a. E.; Hueck § 19 III 3 a; Hefermehl Art. 17 WG Rdz. 17.
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§ 22 Der Einwendungsausschluß im Wertpapierrecht als Tatbestand der Rechtsscheinhaftung Die Problematik der Rechtsscheinhaftung wird im Wertpapierrecht üblicherweise im Zusammenhang der Lehre vom „Einwendungsausschluß“ behandelt. Das ist an sich auch durchaus sachgerecht, da es hier in der Tat um diesen Fragenkreis geht – ähnlich wie bei den §§ 171 I, 172 I BGB um den Einwendungsausschluß im Stellvertretungsrecht oder bei § 405 BGB um den Einwendungsausschluß im Zessionsrecht1 –, nur zieht die h. L. daraus nicht die erforderlichen Konsequenzen. Sie baut nämlich bei der Einteilung der Einwendungen nicht, wie das allein folgerichtig wäre, auf spezifisch vertrauensrechtlichen Gesichtspunkten auf, sondern [238] hält an der hergebrachten Unterscheidung zwischen „absoluten“ und „relativen“ oder „dinglichen“ und „persönlichen“ Einwendungen fest2 und knüpft somit zumindest nicht unmittelbar an die Kategorien der Rechtsscheinlehre an. Das aber ist nicht nur deshalb unbefriedigend, weil auf diese Weise die eigentlich entscheidenden Sachgesichtspunkte z. T. im Hintergrund bleiben, sondern auch deshalb, weil diese Unterscheidung ausschließlich von der Rechtsfolge her gedacht ist:3 die h. L. differenziert danach, ob die Einwendung allen oder nur bestimmten Papierinhabern entgegengesetzt werden kann, doch ist das ja gerade die Frage, die es mit der „Lehre vom Einwendungsausschluß“ erst zu lösen gilt, und man befindet sich daher ständig in der Gefahr des Zirkelschlusses. Im folgenden soll deshalb vom Boden der Rechtsscheinlehre aus ein neuer Einteilungsvorschlag gemacht werden – wobei sich freilich zeigen wird, daß der Gegensatz zur h. L. trotz mancher Unterschiede4 nicht überbewertet werden darf Vgl. oben § 9 III bzw. § 10. Vgl. z. B. Ulmer, Das Recht der Wertpapiere, 1938, S. 120 ff., 240 ff.; Locher, Das Recht der Wertpapiere, 1947, S. 45 und S. 111 ff.; A. Hueck, Recht der Wertpapiere, 10. Aufl. 1967, § 19 III; ähnlich, wenn auch mehr vom Wortlaut des § 796 BGB ausgehend, auch Rehfeldt, Wertpapierrecht, 8. Aufl. 1966, § 9, 4 c. 3 Kritisch auch Baumbach-Hefermehl, Komm. zum WG und SchG, 9. Aufl. 1967, Art. 17 WG Rdz. 4, dessen eigene Einteilung aaO. Rdz. 10 freilich auch nicht voll befriedigt (vgl. die folgende Fn.). 4 Ein Hauptmangel der h. L. liegt darin, daß die „Zurechenbarkeitseinwendungen“ (unten III) und die „Gültigkeitseinwendungen“ (unten IV) begrifflich derselben Gruppe zugeordnet werden (vgl. Hueck aaO. 3 a, Rehfeldt aaO. 4 c, Hefermehl aaO. Rdzn. 10, 13, 17 ff.), obwohl für sie teleologisch gesehen ganz verschiedene Erwägungen maßgeblich sind und sie dementsprechend in verschiedene Kategorien gehören. – Damit hängt zusammen, daß die „persönlichen“ Einwendungen fälschlich auf dieselbe begriffliche Stufe gestellt werden wie die übrigen Einwendungen, obwohl es insoweit um ein ganz anderes Problem geht: nicht mehr um die Frage, ob eine Einwendung überhaupt präklusionsfähig ist, sondern nur um die Frage, welche subjektiven Voraussetzungen auf seiten des Erwerbers zu fordern sind (vgl. unten IV); „Gültigkeits-“ und „persönliche“ Einwendungen bilden also richtigerweise nur Untergruppen innerhalb der präklusionsfähigen Einwendungen. – Zu kritisieren ist ferner, daß die h. L. die „unmittelbaren“ Einwendungen nicht als eigene Kategorie nennt (vgl. Hueck, Rehfeldt, Hefermehl aaO.) und sie zudem 1 2
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und daß die gängigen, in Gesetzgebung und Literatur verwendeten Kriterien mit gewissen Akzentverschiebungen z. T. beibehalten werden können. Dabei wird zunächst vom Wechselrecht als Modell ausgegangen und anschließend geprüft, inwieweit sich bei den übrigen Papieren Besonderheiten ergeben. I. Das Fehlen einer schutzwürdigen Erwerbsform: die „unmittelbaren“ Einwendungen und verwandte Tatbestände Der Einwendungsausschluß findet, wie dargelegt, seine Rechtfertigung in der Notwendigkeit, den Umlauf des Papiers zu erleichtern, und die Frage nach der [239] Präklusionsfähigkeit einer bestimmten Einwendung5 kann sich daher überhaupt erst stellen, wenn der fragliche Erwerbsvorgang in dieser Hinsicht, also mit Rücksicht auf die Umlauffunktion des Wechsels schutzwürdig ist. Daran fehlt es in einer Reihe von Fällen. 1. Sofern der Wechsel nach der Entstehung der Einwendung, also etwa nach einer unter dem Einfluß einer Drohung erfolgten Annahme oder nach der Verabredung einer Stundung, überhaupt noch nicht weiterübertragen worden ist, sofern also kein „Umlauf“ stattgefunden hat, ist kein Grund für einen Einwendungsausschluß vorhanden. Dieser ist also seinem Zwecke nach immer Drittschutz, nicht Partnerschutz,6 also nur Schutz eines späteren Erwerbers, nicht des unmittelbar an dem fraglichen Rechtsgeschäft Beteiligten. Das kommt anschaulich in der Terminologie des Gesetzes zum Ausdruck, das hier von „unmittelbaren“ Einwendungen spricht (vgl. §§ 796 BGB, 364 II HGB). 2. An einer schutzwürdigen Erwerbsform fehlt es ferner, wenn zwar eine Übertragung stattgefunden hat, diese aber nicht in den spezifisch wechselrechtlichen Formen erfolgt ist. Das gilt zunächst für die Fälle gesetzlichen Erwerbs und für den Erwerb durch Erbfall, da bei diesen ganz allgemein grundsätzlich die Voraussetzungen des Gutglaubensschutzes nicht gegeben sind. Es gilt aber anerkanntermaßen auch bei Erwerb durch Zession, wobei man sich zur Begründung wohl
noch fälschlich in einen besonderen Zusammenhang mit den „persönlichen“ Einwendungen bringt (vgl. unten Fn. 5). 5 Sowohl einer „persönlichen“ als auch einer „Gültigkeitseinwendung“ i. S. v. unten IV, so daß kein besonderer Zusammenhang zwischen „unmittelbaren“ und „persönlichen“ Einwendungen besteht; mindestens mißverständlich daher Hueck aaO. § 19 III 5 i. V. m. 4; Hefermehl aaO. Art. 17 WG Rdzn. 38 ff. (vgl. auch die unzutreffende Einordnung des Fehlens eines Verkehrsgeschäftes in den Zusammenhang der persönlichen Einwendungen aaO. Rdz. 36). 6 Zur Terminologie vgl. unten S. 549.
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nicht auf das Fehlen der Voraussetzungen des Publizitätsprinzips berufen kann,7 sondern nur auf die auch außerhalb ihres unmittelbaren Anwendungsbereichs passende Wertung des Art. 11 II WG; denn in dieser kommt zum Ausdruck, daß die Parteien, die auf die spezifisch wechselrechtliche Übertragungsform verzichten, damit den Wechsel nicht als ein Umlaufpapier behandeln – sie unterbrechen z. B. die Legitimationskette i. S. des Art. 16 I WG – und daher auch den darauf zugeschnittenen besonderen Schutz nicht verdienen. Als wechselrechtliche Übertragungsform ist dabei aber nicht nur das Indossament anzusehen,8 sondern z. B. auch die Begebung des akzeptierten Papiers an den ersten Nehmer oder die Übertragung eines Blankowechsels durch Einigung und Übergabe nach Art. 14 II Ziff. 3 WG. 3. Trotz Vorliegen eines Indossaments verweist das Gesetz in bestimmten Fällen auf die Anwendung des Zessionsrechts, wie z. B. in Art. 20 I 2 WG. Da es damit den [240] Zweck verfolgt, dem Papier die Verkehrsfähigkeit zu nehmen, kommt folgerichtig auch hier ein Einwendungsausschluß nicht in Betracht. 4. Weiter gehört in diesen Zusammenhang das Fehlen eines „Verkehrsgeschäftes“. Ebensowenig wie die Vorschriften des BGB über den gutgläubigen Erwerb finden demgemäß die Regeln über den Einwendungsausschluß Anwendung, wenn z. B. eine GmbH einen Wechsel an ihren einzigen Gesellschafter indossiert.9 Unter dem aus dem allgemeinen bürgerlichen Recht stammenden Gesichtspunkt des Fehlens eines „Verkehrsgeschäftes“ und nicht unter spezifisch wechselrechtlichen Aspekten dürfte ferner auch der Einwendungsausschluß beim „verdeckten“ Vollmachtsindossament,10 also bei einem mit interner Bindung gegebenen Vollindossament11 zu lösen sein. Soll dieses lediglich Inkassozwecken dienen, so ist nämlich zwar durchaus eine echte Vollrechtsübertragung, aber kein wirklicher „Umlauf“ des Papiers gewollt, und es liegt daher kein „Verkehrsgeschäft“ vor. Ein Einwendungsausschluß findet daher nicht statt, und das bedeutet, daß nicht etwa nur mit einer Arglisteinrede aus § 242 BGB zu helfen ist,12 sondern daß die ursprüngliche Einwendung bestehen bleibt – ein Unterschied, der bei Weiterübertragung an einen grob fahrlässigen Erwerber von praktischer Bedeutung werden kann.13 7 Diese liegen nämlich durchaus vor, da die h. L. mit Recht auch hier die Übergabe des Papiers analog § 792 I 3 BGB als konstitutiv ansieht (vgl. z. B. Hefermehl aaO. Art. 11 WG Rdz. 5 m. Nachw.). 8 So mit Recht Ulmer aaO. S. 240; Hueck aaO. § 19 III 5 a. E. 9 Vgl. dazu Marschall v. Bieberstein JZ 65, 403 ff. 10 Zur Problematik vgl. näher Hueck § 9 IV 6; Rehfeldt § 21 VI 1. 11 Beim echten Prokurawechsel fehlt es schon an einer Rechtsübertragung; folgerichtig daher Art. 18 II WG. 12 So aber Hefermehl aaO. Art. 18 WG Rdz. 8. 13 Die Arglisteinrede beruht nämlich lediglich auf den „unmittelbaren“ Beziehungen zwischen den Parteien und begründet daher nur eine „persönliche“ Einwendung, so daß dem Erwerber nur „bewußtes Handeln zum Nachteil des Schuldners“ i. S. von Art. 17 WG schadet,
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Wird dagegen mit dem Indossament – wenigstens auch – eine Sicherungsfunktion verfolgt, liegt die Übertragung also – wenigstens auch – im Interesse des Indossatars, so ist ein Verkehrsgeschäft gegeben, und der Einwendungsausschluß greift durch14 – was sich im übrigen auch schon aus der Wertung des Art. 19 II WG ergibt. 5. Kein schutzwürdiger Erwerbsvorgang liegt weiterhin vor in den Fällen des „Rückerwerbs des Nichtberechtigten“. Die im bürgerlichen Recht hierfür entwickelten Grundsätze15 gelten ihrem Sinn nach auch hier, und mit ihrer Hilfe dürfte sich insbesondere das umstrittene Problem des „Wiederauflebens“ präkludierter Einwendungen bei einem Rückerwerb im Regreßwege lösen lassen. Denn da der Rückerwerber nicht wie ein beliebiger Dritter das Papier erwirbt, sondern in innerem Zusammenhang mit seiner früheren Rechtsinhaberschaft, läßt sich aus jenen Grundsätzen folgerichtig ableiten, daß er in seine frühere Stellung wieder einrückt; [241] der von der h. L. vorgenommenen komplizierten und wenig problemgerechten Konstruktionsversuche16 bedarf es daher insoweit17 nicht. 6. Schließlich zählt die h. L. hierher auch noch die Fälle unentgeltlichen Erwerbs.18 Dem ist indessen nicht zu folgen. Denn der von der h. L. herangezogene § 816 I 2 BGB spricht nicht nur nicht für diese Lösung, sondern widerlegt sie im Gegenteil. Indem das Gesetz nämlich nur einen schuldrechtlichen Rückübertragungsanspruch gibt, setzt es gerade voraus, daß auch bei einer Schenkung gutgläubiger Erwerb möglich ist, d. h. also, daß auch hier der Erwerbsvorgang als solcher schutzwürdig ist. Diese Wertung muß folgerichtig auch für die insoweit gleichliegende Problematik des Einwendungsausschlusses gelten. Richtig verstanden ergibt sich also aus der Analogie zu § 816 I 2 nicht, daß die ursprünglichen Einwendungen fortbestehen, sondern daß sie erlöschen und der Gläubiger lediglich zu ihrer Wiederherstellung verpflichtet ist, was der Schuldner einem eventuellen Leistungsbegehren dann im Wege der „Einrede“ der ungerechtfertigten Bereicherung entgegenhalten kann.19 Daß das keine Begriffsjurisprudenz im schlechten Sinne ist, wird sofort deutlich, wenn man sich die Unterschiede in den praktischen wohingegen nach der hier vertretenen Ansicht folgerichtig auf die Natur der ursprünglichen Einwendung abzustellen ist, so daß dem Erwerber u. U. auch grobe Fahrlässigkeit schadet, da ja auch eine “Gültigkeitseinwendung“ vorgelegen haben kann. 14 Ebenso BGHZ 5, 285 (292 f.) zum Scheck; Hefermehl aaO. 15 Vgl. statt aller Baur § 52 IV 2. 16 Vgl. zu diesen Hueck § 9 III 2; Rehfeldt § 21 V 2; Pflug, Der rücklaufende Wechsel, 1967. 17 Nicht zu lösen ist damit freilich das Konkursproblem (vgl. Hueck und Rehfeldt aaO.) sowie die Frage, ob der Rückerwerber vor später entstandenen Einwendungen geschützt wird. 18 Vgl. Ulmer S. 247 f.; Hueck § 19 III 5 f.; Locher S. 114. 19 Gegen jede Analogie Hefermehl Art. 17 WG Rdz. 43, da Art. 17 eine Sonderregelung enthalte; es ist aber heute allgemein anerkannt, daß auch Ausnahmevorschriften der Analogie zugänglich sind – ganz abgesehen davon, daß es unverständlich bleibt, warum es insoweit auf den Sondercharakter des Art. 17 und nicht auf den des § 816 I 2 BGB ankommen soll, und daß weder Art. 17 noch § 816 I 2 Sondervorschriften sind.
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Konsequenzen vor Augen führt: da nach der h. L. der ursprüngliche Einwand fortbesteht, schadet dem „Nachmann“ des Beschenkten u. U. schon grobe Fahrlässigkeit, weil ja eine „Gültigkeitseinwendung“ vorliegen kann, wohingegen ihm nach der hier vertretenen Ansicht, nach der immer nur die Einrede der ungerechtfertigten Bereicherung, also eine „persönliche“ Einwendung i. S. von Art. 17 WG gegeben ist, lediglich „bewußtes Handeln zum Nachteil des Schuldners“ schadet. Spätere Erwerber werden somit stärker geschützt als nach der h. L. Sie stehen insbesondere insofern besser, als sie sich um die Entgeltlichkeit oder Unentgeltlichkeit des Erwerbs durch ihren Vormann, also um das entsprechende Kausalgeschäft (!) nicht zu kümmern brauchen; gerade ein solcher Schutz vor den aus dem Grundverhältnis stammenden Gefahren dürfte aber (u. a.) der Sinn der Regelung des BGB sein, die die Berücksichtigung der Unentgeltlichkeit in strenger Durchführung des Abstraktionsprinzips auf den schuldrechtlichen Bereich beschränkt. Es zeigt sich somit in der Tat, daß nicht die h. L., sondern nur die hier vertretene Lösung die Wertung des § 816 I 2 BGB folgerichtig ins Wertpapierrecht überträgt. [242] II. Das Fehlen eines Scheintatbestandes: die „inhaltlichen“ oder „urkundlichen“ Einwendungen 1. Voraussetzung einer Rechtsscheinhaftung ist weiter das Vorliegen eines Scheintatbestandes. Daran fehlt es, wenn eine Einwendung schon aus der Urkunde selbst ersichtlich ist,20 und daher kommt in derartigen Fällen, bei denen man üblicherweise von „inhaltlichen“ oder „urkundlichen“ Einwendungen spricht, ein Schutz des Erwerbers von vornherein nicht in Betracht. Es geht hier also nicht etwa nur um eine Frage des guten Glaubens – was auch im praktischen Ergebnis von erheblicher Bedeutung sein kann, weil mangels des unerläßlichen Scheintatbestandes auch derjenige schutzlos bleibt, der ohne grobe Fahrlässigkeit, insbesondere auf Grund eines lediglich leicht fahrlässigen oder sogar unverschuldeten Rechtsirrtums den Mangel nicht erkennt, und weil die Beweislast hinsichtlich des Vorliegens eines Scheintatbestandes stets den Vertrauenden trifft, während sein guter Glaube vermutet wird. – Musterbeispiele derartiger „inhaltlicher“ oder „urkundlicher“ Einwendungen sind die auf dem Wechsel vermerkte Stundungsabrede, die in ihn eingetragene Teilleistung, die gesetzlich zulässigen Klauseln wie z. B. die Haftungsausschlußklauseln nach Art. 9 II HS. 1 und 15 WG und die Einrede der Verjährung.
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Vgl. wiederum die Formulierung der §§ 796 BGB, 364 II HGB!
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2. An sich gehört in diesen Zusammenhang weiterhin auch der Einwand des Formmangels,21 doch ergeben sich dabei insofern gewisse Besonderheiten, als einem unvollständigen Wechsel nicht immer anzusehen ist, ob es sich um einen wegen Formmangels nichtigen Wechsel oder um einen Blankowechsel handelt. Dieser unterscheidet sich nämlich von jenem nur durch das Bestehen der – lediglich intern verabredeten und dem Erwerber daher unerkennbaren! – Ausfüllungsbefugnis, und da er, wie aus Art. 10 WG zu entnehmen ist, nicht formnichtig ist, kann man beim Fehlen eines der nach den Art. 1 und 2 WG konstitutiven Formerfordernisse nicht ohne weiteres sagen, die Nichtigkeit sei aus dem Papier selbst ersichtlich und es liege daher kein Scheintatbestand vor. Andererseits ginge es auch zu weit, nun bei jedem formnichtigen Wechsel anzunehmen, er erwecke den Anschein eines (formwirksamen) Blanketts. Entscheidend ist vielmehr, ob solche Merkmale fehlen, die typischerweise bei Blanketten offenbleiben,22 wie z. B. die Höhe der Wechselsumme oder die Person des Remittenten. In einem solchen Falle ist in der Tat keine „inhaltliche“ oder „urkundliche“ Einwendung gegeben, und der Erwerber wird daher geschützt, sofern auch auf seiner Seite die erforderlichen Voraussetzun- [243] gen erfüllt sind,23 er also im Vertrauen auf den Scheintatbestand gehandelt, d. h. insbesondere den Wechsel beim Erwerb tatsächlich für ein Blankett gehalten24 und an das Vorliegen einer Ausfüllungsbefugnis geglaubt hat. III. Das Fehlen der Zurechnungsvoraussetzungen: die Zurechenbarkeitseinwendungen Die Regeln über die Zurechnung des Scheintatbestandes sind oben § 21 II 4 bereits im Grundsätzlichen entwickelt worden: entscheidend sind das Risikoprinzip und die „allgemeinen Zurechnungsausschlußgründe“. Danach ergeben sich im einzelnen folgende „Zurechenbarkeitseinwendungen“: 1. Ist der Scheintatbestand unter dem Einfluß von vis absoluta entstanden, so scheidet eine Haftung ausnahmslos aus.
21 Das gilt allerdings dann nicht, wenn der Formmangel nachträglich in unerkennbarer Weise beseitigt worden ist, da in einem solchen Falle durchaus ein Scheintatbestand vorliegt; insoweit geht es vielmehr um die Problematik der Verfälschung, vgl. unten III 6. 22 So mit Recht BGH NJW 57, 1838 (Ziff. 2 a. E.); Reinicke DB 58, 390; Rittner DB 58, 678; Hefermehl Art. 10 Rdz. 16. 23 Das weitere Erfordernis der Zurechenbarkeit des Scheintatbestandes dürfte ausnahmslos gegeben sein; denn wer einen formnichtigen Wechsel in den Verkehr bringt, der den Eindruck eines Blanketts erweckt, schafft dadurch einen „Mangel“, so daß seine Haftung sowohl nach dem Veranlassungs- als auch nach dem Risikoprinzip zu bejahen ist (vgl. auch unten III 6). 24 Das ist ausgeschlossen, wenn der Erwerber den Mangel erst nachträglich überhaupt bemerkt hat; richtig daher BGH NJW 69, 322; vgl. auch schon RGZ 136, 207 (209).
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2. Auch der Einwand der fehlenden oder beschränkten Geschäftsfähigkeit greift immer durch, sofern dieser Mangel bei Ausstellung und Begebung des Papiers vorlag.25 3. Eine Zurechenbarkeitseinwendung ist ferner regelmäßig in den Fällen der Unterschriftsfälschung gegeben; denn nicht der „Namensträger“, sondern der Fälscher schafft hier den Scheintatbestand. Indessen gibt es Ausnahmefälle, in denen eine Verknüpfung des Rechtsscheins mit der „Sphäre“ des Namensträgers zu bejahen ist und in denen eine Zurechnung daher durchaus in Betracht kommt. Eine Verbindung zwischen dem Scheintatbestand und dem Verhalten des Namensträgers kann dabei zunächst dadurch entstehen, daß ein Erwerbsinteressent bei jenem anfragt, ob „das Papier in Ordnung geht“ oder dgl., und daß dieser das bejaht, obwohl er die Fälschung durchschaut. Die h. L löst diesen Fall, indem sie eine Genehmigung annimmt.26 Das ist jedoch unhaltbar,27 da es regelmäßig am objektiven Tatbestand einer Genehmigung und überhaupt einer Willenserklärung fehlt: wer die Echtheit einer Unterschrift bejaht, teilt lediglich rein deklaratorisch eine (angeb[244] lich) bestehende Tatsache mit und hat daher – vom insoweit maßgeblichen Verständnishorizont des anderen Teils aus gesehen – nicht den geringsten Anlaß, die entsprechende Rechtsfolge erst jetzt in Geltung zu setzen, da sie ja nach seiner Auskunft ohnehin schon gilt. Auch gehen die Parteien i. d. R. gar nicht von der Genehmigungsbedürftigkeit aus, da dann zwischen ihnen Klarheit über die Unechtheit oder wenigstens Zweifel an der Echtheit bestehen müßten. Im Gegenteil: der Namensträger, der mit seiner Erklärung z. B. seinen Sohn oder seinen Freund vor den Folgen der Fälschung schützen will, legt gerade Wert darauf, den Wechsel als von Anfang an „in Ordnung“ erscheinen zu lassen, und wird seine Erklärung daher i. d. R. so formulieren, daß sich auch nicht der leiseste Anklang an eine erst jetzt erfolgende Genehmigung findet. Auch als eine Eventualgenehmigung für den Fall, daß der Wechsel unecht sei, darf der andere Teil die Bejahung der Echtheit nicht verstehen, da er, wie die Rechtsprechung in anderem Zusammenhang nachdrücklich und mit Recht betont,32 keinen Anlaß hat, im Falle der Unechtheit mit einer Genehmigung zu rechnen. Die Lösung ergibt sich statt dessen ohne weiteres aus dem Rechtsscheinprinzip. Denn durch die Bestätigung der Echtheit setzt der Namensträger nunmehr seinerseits einen Scheintatbestand, und an diesen ist er hier nicht anders als sonst im Wertpapierrecht gebunden. Das führt auch im praktischen Ergebnis zu einigen 25 Liegt er bei der Begebung nicht mehr vor, ist rechtsgeschäftliche Bindung gegeben, liegt er bei der Ausstellung noch nicht vor, wurde der Scheintatbestand zurechenbar geschaffen. 26 Vgl. RGZ 145, 87 (93); BGH LM Nr. 1–3 zu Art. 7 WG; Schumann, Die Fälschung nach dem neuen Wechsel- und Scheckrecht, 1935, S. 34 ff.; Jacobi, Wechsel- und Scheckrecht, 1955, S. 257 ff.; Hefermehl Art. 7 WG Rdz. 8; Reinicke DB 63, 1243 f.; noch weitergehend OLG Düsseldorf WM 69, 507, das vertragliche Garantie annimmt. 27 Kritisch schon Zeiss JZ 63, 742 ff., dessen Einwände jedoch in ganz anderer Richtung liegen; wie Zeiss z. T. Schlechtriem JZ 67, 482.
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Unterschieden. So wird der Anfragende nur geschützt, wenn er gutgläubig ist und im Vertrauen auf die Bestätigung der Echtheit eine Disposition vorgenommen hat – z. B. erst jetzt das Papier diskontiert hat –, und so wird auch anders als nach § 184 I BGB28 nur der Anfragende,29 nicht auch ein Vormann geschützt30 – Ergebnisse, die durchaus sachgerecht erscheinen, sich aber vom Boden der rechtsgeschäftlichen Genehmigungstheorie aus kaum ohne inneren Widerspruch begründen lassen dürften. Andererseits geht die Rechtsscheintheorie insofern weiter als die h. L., als eine Haftung auch bei einem Irrtum des Namensträgers über die Echtheit zu bejahen ist, da ein Irrtum im Wertpapierrecht auch sonst die Haftung nicht ausschließt und da auch in diesem Fall der „Mangel“ aus der „Sphäre“ des Namensträgers, der i. d. R. allein die Möglichkeit zur Aufdeckung des Irrtums hat, stammt.31 Etwas anders stellt sich die Problematik dar, wenn der Befragte schweigt. Rechtsprechung und h. L. lehnen dann die Haftung grundsätzlich ab mit der Begründung, der Anfragende könne eine Genehmigung nicht erwarten, und daher sei in [245] dem Schweigen i. d. R. eine solche auch nicht zu sehen,32 statt dessen helfen sie in besonderen Fällen mit einem Einwand aus § 242 BGB oder mit einem Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB.33 Der falsche konstruktive Ausgangspunkt führt hier folgerichtig zu einer falschen Fragestellung und ebenso folgerichtig zu einer falschen Lösung. Denn zwar ist es natürlich richtig, daß in dem Schweigen keine Genehmigung erblickt werden kann, doch geht es gar nicht darum, sondern um die ganz andere Frage, ob nicht in dem Schweigen u. U. die konkludente Deklaration der Echtheit zu sehen ist und ob der Anfragende nicht in seinem Vertrauen auf den dadurch hervorgerufenen Scheintatbestand Schutz verdient. Die Beantwortung der ersten Frage hängt nun wie bei jedem konkludenten Verhalten von den Umständen des Einzelfalles ab, und diese werden in der Tat nicht selten zur Bejahung führen;34 die zweite Frage aber ist nach den allgemeinen Regeln der Rechtsscheinhaftung generell zu bejahen: ein Scheintatbestand kann 28 Für seine Anwendung konsequent Schumann aaO. S. 94; Hefermehl Art. 7 Rdz. 7 (mit freilich wenig einleuchtender Folgerung; vgl. aber auch Art. 69 Rdz. 5). 29 Und natürlich dessen Nachmänner, da sie vom Berechtigten erwerben. 30 Das kann beim Regreß bedeutsam werden. Zahlt der Namensträger, so wäre m. E. sogar ein Rückgriffsanspruch aus § 812 BGB gegen die zu erwägen, die vor der Bestätigung der Echtheit den Wechsel unterschrieben haben und jetzt von ihrer Einstandspflicht frei werden. 31 Vgl. dagegen BGH WM 69, 788. – Keine Haftung tritt folgerichtig ein, wenn der Anfragende den Irrtum veranlaßt hat, z. B. durch falsche Individualisierung des Papiers. 32 Vgl. BGHZ 47, 110 (113); BGH LM Nr.1—3 zu Art. 7 WG; BGH DB 63, 896; Schumann aaO. S. 52; Jacobi aaO. S. 260; Reinicke aaO. S. 1244; Hefermehl Art. 7 WG Rdz. 8. 33 Vgl. statt aller Hefermehl aaO. Rdzn. 9 f. 34 Vgl. auch BGH DB 63, 896, wo der BGH ausführt, der Anfragende könne möglicherweise wegen des Schweigens von der Echtheit ausgehen, die Haftung aber wegen seiner Fixierung auf die Genehmigungstheorie gleichwohl ablehnt; vgl. ferner RG JW 1928, 639.
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auch durch konkludentes Verhalten geschaffen werden, wie insbesondere in der Lehre vom Scheinkaufmann und von der Duldungs- und Anscheinsvollmacht allgemein anerkannt ist. Selbst wenn aber das Schweigen nicht eine konkludente Deklaration darstellt, sondern lediglich ein bloßes Unterlassen einer Erklärung,35 greift die Rechtsscheinhaftung durch. Denn da der Namensträger den – in der gefälschten Unterschrift liegenden – Scheintatbestand ohne weiteres hätte beseitigen können, und da dieses Unterlassen grundsätzlich als „verkehrswidrig“ angesehen werden muß,36 stammt auch hier der „Mangel“ aus seiner „Sphäre“, so daß er ihm zuzurechnen ist. Dabei drängt sich vor allem die Parallele zur Nichtbeseitigung einer unrichtigen Eintragung im Handelsregister auf, für die der Unterlassende ja anerkanntermaßen ebenfalls nach Rechtsscheingrundsätzen einzustehen hat;37 warum aber sollte in dem an sich noch strengeren und verkehrsfreundlicheren Wertpapierrecht eine mildere Haftung gelten als im Handelsrecht?38 Die hier vertretene Lösung dürfte im übrigen nicht nur system-, sondern auch interessegerechter sein als die h. L. Denn nur sie bewahrt den Wertpapierumlauf [246] vor einem ernsten Hemmnis. Die Anfrage über die Echtheit ist nämlich das einzige Mittel, um den Rechtsverkehr vor der letzten bei der heutigen Rechtslage noch schwerwiegenden Gefahr – eben dem Einwand der Fälschung – zu schützen, und wenn man dieses entwertet, indem man an das Schweigen keine wechselrechtliche Haftung knüpft, so hat das eine starke Belastung der Reibungslosigkeit des Wertpapierumlaufs zur Folge: der Anfragende wird seine Frage u. U. erneuern, was einen erheblichen Zeitverlust mit sich bringt, und schließlich vom Erwerb des Papiers oft gänzlich absehen. Bedenkt man nun, daß solche Anfragen praktisch ziemlich häufig sind und z. T. routinemäßig vorgenommen werden, und berücksichtigt man weiter, daß der Schweigende nicht selten wirklich deshalb schweigt, weil die Unterschrift echt ist, so kann man ermessen, welche Beeinträchtigung die bisherige Rechtsprechung auch für den Umlauf nicht gefälschter Papiere bedeuten muß. Auf der anderen Seite ist freilich nicht zu verkennen, daß der Befragte insofern in eine Zwangslage geraten kann, als er zwischen seiner wertpapiermäßigen Einstandspflicht und einer Bloßstellung des – u. U. mit ihm verwandten oder befreundeten! – Fälschers wählen muß. Auch das ist jedoch kein durchgreifender Einwand; denn es geht nicht an, daß er diesen Konflikt auf Kosten des Anfragenden „löst“, und abgesehen davon droht ihm ja auch schon nach Zum Unterschied vgl. allgemein unten S. 492 mit Fn. 3. Die h. L. geht ja sogar so weit, u. U. Sittenwidrigkeit anzunehmen! (vgl. vor allem BGH LM Nr. 2 zu Art. 7 WG Bl. 3 Vorders.). Im übrigen ist zu betonen, daß „Verkehrswidrigkeit“ als Grundlage eines „Mangels“ i. S. des Veranlassungs- und des Risikoprinzips keine Pflichtverletzung gegenüber einem Dritten und erst recht kein Verschulden voraussetzt. 37 Vgl. oben S. 157 und S. 159 ff. 38 Die handelsrechtlichen Rechtsscheinregeln sind auch nicht etwa ein der Ausdehnung nicht fähiges Sondergewohnheitsrecht des Handelsrechts, vgl. oben S. 158. 35 36
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der bisherigen Rechtsprechung die Haftung aus § 826 BGB. Man sollte daher lieber gleich den Anspruch aus dem Wertpapier geben und so die geschilderten Gefahren für die Verkehrssicherheit vermeiden. Denkbar ist schließlich auch noch die analoge Anwendung der Regeln über die Duldungs- und Anscheinsvollmacht.39 Als Beispiel mag etwa der Fall dienen, daß jemand sich gegenüber einem Dritten mehrfach als ein anderer ausgegeben und dabei dessen Unterschriften auf Wechseln gefälscht hat und daß der Namensträger diese Wechsel stets anstandslos bezahlt hat. Hier hat er durch sein Verhalten wissentlich den Anschein geschaffen, daß der Fälscher wirklich mit ihm identisch ist, und diesen Schein muß er gegen sich gelten lassen, wenn ihn der Fälscher nunmehr erneut ausnutzt; denn Fälschung und Handeln unter fremdem Namen einerseits und Handeln in fremdem Namen ohne Vertretungsmacht andererseits sind so eng verwandt, daß man hier nicht einmal auf „allgemeine“ Rechtsscheinprinzipien zu rekurrieren braucht, sondern mit einer schlichten Einzelanalogie zur Duldungs- und Anscheinsvollmacht auskommen dürfte.40 4. Auch im Falle der Verfälschung des Inhalts eines Wechsels ist grundsätzlich eine Zurechnung nicht möglich. Denn zwar hat derjenige, der ein Papier unterschrieben hat, damit eine Ursache i. S. der conditio-sine-qua-non-Theorie für eine spätere Verfälschung geschaffen, doch liegt darin keine „Veranlassung“ im richtig verstandenen Sinne: der Unterzeichner ruft keinen „Mangel“ in seiner Sphäre hervor, und man kann ihm daher das Verfälschungsrisiko, das er in keiner Weise „be- [247] herrscht“, nicht auferlegen. Aus dieser Begründung lassen sich indessen ohne weiteres auch die notwendigen Ausnahmen entwickeln. Das bedeutet zunächst, daß das soeben hinsichtlich der Fälschung über die Problematik von Anfragen Gesagte auch hier gilt. Darüber hinaus können sich insoweit aber weitere Zurechnungsprobleme ergeben, und zwar dann, wenn der Unterzeichner des Papiers die Möglichkeit einer Verfälschung besonders begünstigt hat – etwa indem er die Wechselsumme nur in Zahlen eingesetzt und den Raum für die Angabe in Worten offengelassen hat oder indem er die Summe in Worten mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben und den davor freibleibenden Raum nicht durchgestrichen hat.41 Die Rechtsprechung und die h. L. lehnen hier grundsätzlich jede Haftung ab, wobei sie sich zur Begründung vor allem auf Art. 69 S. 2 WG berufen.42 Diese Vorschrift paßt indessen nur scheinbar. Das wird zunächst schon aus ihrer Entstehungsgeschichte deutlich: vor Erlaß des WG war äußerst A. A. mit rein begrifflicher Begründung jetzt BGH WM 69, 788. Vgl. auch oben § 7 II und III. 41 Vgl. als Beispiel RGZ 164, 10 (Haftung analog Art. 10 WG bejaht) und BGHZ 47, 95 (Haftung verneint) bzw. LG Nürnberg-Fürth NJW 61, 1775 (Haftung verneint); vgl. ferner RGZ 126, 223. 42 Vgl. BGHZ 47, 95 (99 f.); Schumann aaO. S. 84; Ulmer S. 181; Jacobi S. 500; Hefermehl Art. 10 WG Rdzn. 12 und 15 a. E. und Art. 17 WG Rdz. 19. 39 40
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streitig, ob auf Grund der skripturrechtlichen Natur des Wechsels durch die in der Verfälschung liegende Beseitigung des ursprünglichen Textes nicht überhaupt jede Haftung der früheren Zeichner entfällt, und Art. 69 S. 2 entscheidet diese Streitfrage im verneinenden Sinn;43 so gesehen betrifft die Vorschrift also ein völlig anderes Problem, und vor diesem Hintergrund könnte man sie geradezu lesen: „... haftet wenigstens nach dem ursprünglichen Texte“. Ist damit die Begründung der h. L., die diesen Aspekt überhaupt nicht sieht, zumindest stark erschüttert, so kommt hinzu, daß Art. 69 S. 2 selbst dann, wenn man ihn mit der h. L. als Regelung des Verfälschungsrisikos versteht, nur auf den Normalfall – für den er ja durchaus sinnvoll ist! – bezogen werden kann und für Ausnahmefälle, wie sie hier zur Diskussion stehen, keineswegs notwendigerweise eine Wertung enthält. Insoweit ist die Vorschrift vielmehr, wie jede andere Norm, der Restriktion zugänglich. Eine solche aber ist vorzunehmen, wenn die ratio legis auf den Ausnahmetatbestand nicht paßt, und das ist hier in der Tat der Fall; denn die eingangs für den grundsätzlichen Ausschluß der Zurechnung angegebenen Gründe treffen hier gerade nicht zu: durch die unvollständige, verkehrswidrige44 Ausfüllung schafft der Aussteller oder der Akzeptant (oder duldet der spätere Unterzeichner, z. B. der Indossant) einen für die Entstehung des Scheintatbestandes kausalen „Mangel“ und begründet dadurch ein erhöhtes Verfälschungsrisiko, das er hier im Gegensatz zum [248] Normalfall vermeiden kann und das er daher sehr wohl i. S. der Risikolehre „beherrscht“. Allein so wird auch die unerläßliche Systemeinheit – und das heißt hier besonders klar zugleich: Wertungseinheit – mit den übrigen Fällen der wertpapierrechtlichen Rechtsscheinhaftung wiederhergestellt; denn bei anderen Mängeln, bei denen nur schwache Zurechnungselemente vorliegen wie z. B. bei einer Wechselzeichnung unter dem Einfluß einer widerrechtlichen Drohung oder eines unvermeidlichen Irrtums wird die Haftung ohne weiteres bejaht, und es ist schlechterdings kein Grund ersichtlich, warum man nur gerade den Einwand der Verfälschung so viel milder behandeln soll. Der Unterzeichner haftet daher, wenn er durch die verkehrswidrige Ausfüllung eines Wechsels ein erhöhtes Verfälschungsrisiko geschaffen bzw. als späterer Zeichner ein solches verkehrswidrig geduldet hat.45
Vgl. Ulmer S. 182; Hueck § 8 III 5. Gegen die Annahme eines „verkehrswidrigen“ Verhaltens BGH aaO. S. 100 f. (zustimmend Schlechtriem JZ 67, 481). Diese außerordentliche Milde des BGH ist angesichts der charakteristischen Rigorosität des Wechselrechts unverständlich – zumal wenn man sie etwa mit der Strenge der Rspr. zu den „Verkehrssicherungspflichten“ vergleicht. Eine echte Pflichtverletzung ist im übrigen hier nicht zu fordern, vgl. Fn. 36. 45 I. E. sehr ähnlich Rehfeldt JuS 63, 147 ff.; ihm folgend Deubner NJW 67, 1464 f.; vgl. auch schon Schlickum, Verpflichtungstatbestand und Einreden im Wechselrecht, 1932, S. 79 ff. Rehfeldt und Schlickum verstehen jedoch das Veranlassungsprinzip fälschlich als Kausalhaftung, vgl. Rehfeldt S. 148 unter 4 bzw. Schlickum S. 80 und S. 10. 43 44
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5. Mit Fälschung und Verfälschung eng verwandt ist die Vertretung ohne Vertretungsmacht. Auch hier gilt, daß nicht der Vertretene den Scheintatbestand geschaffen hat und daß dieser ihm daher grundsätzlich nicht zuzurechnen ist. Ausnahmen können sich selbstverständlich aus den Regeln über die Scheinvollmacht ergeben, doch ist das kein spezifisch wertpapierrechtliches Problem. Außerdem sind auch hier Anfragen über die Ordnungsmäßigkeit des Wechsels möglich, und es gilt daher das soeben unter 3 und 4 Gesagte entsprechend. Schließlich kommt auch eine analoge Anwendung des Art. 10 WG in Betracht, wenn z. B. der Geschäftsherr dem Vertreter einen schon unterschriebenen Wechsel mitgibt und es ihm überläßt, etwa die Summe als Bevollmächtigter46 einzusetzen. 6. Wird ein formnichtiger Wechsel nachträglich vervollständigt, so liegt darin eine Verfälschung. Man sollte daher meinen, die h. L. lehne auch hier eine Haftung generell ab. Das tut sie indessen keineswegs,47 und wenn das von ihrem Standpunkt aus auch inkonsequent erscheint, so ist ihr darin im Ergebnis doch durchaus zu folgen, weil hier der „Mangel“ – nämlich die Unvollständigkeit des Papiers – aus der Sphäre des Wechselzeichners stammt und die Zurechnungsvoraussetzungen somit erfüllt sind.47a Allerdings muß man folgerichtig auch dieselben Einschränkungen wie in den übrigen Fällen der Verfälschung machen, so daß die Haftung auszuschließen ist, wenn kein erhöhtes Verfälschungsrisiko geschaffen wurde – wenn also z. B. das Wort „Wechsel“ nicht im Text stand und auch kein Raum für seine Einsetzung offen blieb, diese vielmehr lediglich durch das besondere technische Raffinement des Fälschers ermöglicht wurde. [249] Eine besondere Auseinandersetzung erfordert allerdings noch der – übrigens auch in den sonstigen Fällen der Verfälschung denkbare, bisher aber weder hier noch dort von der h. L. aufgegriffene – Einwand, auf diese Weise könne der Zweck des Formerfordernisses umgangen werden. Das trifft indessen bei genauerer Betrachtung nicht zu. Ohne weiteres unbegründet ist dieses Bedenken beim Fehlen solcher Merkmale, hinsichtlich derer das Formerfordernis nur Beweis- und nicht auch Schutzzwecken dient, doch schlägt es auch bei letzteren – also z. B. beim Fehlen der Wechselklausel – nicht durch. Denn das Formerfordernis schützt schon bei unmittelbarer Anwendbarkeit der Regeln über Rechtsgeschäfte nicht vor der formlosen Ermöglichung einer Verpflichtung durch fremdes Handeln, wie sich aus den §§ 167 II, 182 II BGB ergibt, und eine Ausnahme davon ist nur zu machen, wenn der die Zurechenbarkeit des Fremdhandelns begründende Akt seiner Funktion nach der Vornahme des Geschäfts selbst gleich zu erachten ist;48 diesen Ausnahmefällen aber ist die vorliegende Problematik nicht vergleichbar, da Also nicht als „Ausfüllungsberechtigter“; zur Abgrenzung vgl. oben S. 56. Vgl. Reinicke DB 58, 390; Rittner DB 58, 675 ff.; Hefermehl Art. 10 WG Rdzn. 12 ff., jeweils m. Nachw. 47a Vgl. auch oben Fn. 23. 48 Vgl. statt aller Flume § 52, 2 b. 46 47
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bei der Rechtsscheinhaftung die Setzung des Scheintatbestandes allein – anders als u. U. ein Rechtsgeschäft, etwa die Erteilung einer unwiderruflichen Vollmacht – niemals zu einer Bindung führt, sondern immer bis zur Vornahme der fraglichen „Disposition“ des Vertrauenden, also z. B. der Wechseldiskontierung durch Zerstörung des Scheintatbestandes „widerrufen“ werden kann.49 7. Daß das Vorliegen eines Willensmangels i. S. der §§ 116 ff. BGB grundsätzlich nicht zu den Zurechenbarkeitseinwendungen gehört, wurde oben50 bereits näher dargelegt. Zweifelhaft ist dies allerdings in den Fällen fehlenden Erklärungsbewußtseins. Bei diesen kann man nämlich nicht mit dem Argument arbeiten, wer am Wechselverkehr teilnehme, setze sich dadurch selbst den damit verbundenen erhöhten Risiken aus und handle daher insoweit auf eigene Gefahr;51 denn diese Begründung paßt nur, wenn der Betroffene sich bewußt war, einen Wechsel zu zeichnen. Fehlt ihm dagegen dieses Wissen, so liegt es im Hinblick auf seine Schutzwürdigkeit und damit auch im Hinblick auf die für die Zurechnung maßgeblichen Gesichtspunkte nicht anders als in den übrigen Fällen des fehlenden Erklärungsbewußtseins – und dabei kennt das deutsche Recht nun einmal grundsätzlich keine Erfüllungshaftung; daß hier der andere Teil erhöht schutzwürdig ist, besagt demgegenüber nichts, da dadurch allein nicht ohne weiteres die Zurechenbarkeit beeinflußt wird. Man wird daher in der Tat bei fehlendem Erklärungsbewußtsein die Zurechnung grundsätzlich ausschließen müssen.52 Folglich tritt z. B. keine [250] Rechtsscheinhaftung ein, wenn jemand einen Wechsel unterzeichnet in der Meinung, er gebe ein Autogramm. Folgerichtig wird man sogar noch einen Schritt weitergehen und eine Haftung auch in bestimmten Fällen eines Inhaltsirrtums nach § 119 I BGB grundsätzlich ablehnen müssen; denn auch dann, wenn jemand zwar weiß, daß er eine rechtsgeschäftliche Erklärung abgibt, aber nicht weiß, daß er seine Unterschrift gerade unter einen Wechsel oder ein anderes Umlaufpapier setzt – er glaubt z. B. einen Kaufvertrag zu unterzeichnen –, erscheint es nach dem Gesagten nicht gerechtfertigt, ihm die spezifischen Risiken des Wertpapierverkehrs aufzuerlegen.53 Die Zurechnung setzt daher grundsätzlich das Bewußtsein, ein Umlaufpapier zu unterzeichnen, voraus. 49 Es kommt nur auf die rechtliche Bindung, nicht auch auf die faktische Unwiderruflichkeit an, da diese auch der Anwendung der §§ 167 II, 182 II BGB nicht entgegensteht. 50 Vgl. § 21 II 3. 51 Vgl. dazu oben S. 236 f. 52 Die Frage ist umstritten und muß als noch nicht hinreichend durchdacht gelten; für eine Rechtsscheinhaftung auch bei fehlendem Erklärungsbewußtsein Jacobi, Wechsel- und Scheckrecht, S. 117; Schlickum aaO. S. 71 ff.; Hefermehl Art. 17 Rdz. 24 (mit Einschränkungen); ablehnend neuesten Rehfeldt-Zöllner, 9. Aufl. 1970, § 21 IV 3; für Haftung lediglich auf das negative Interesse RGR-Komm. zum HGB (von Godin) § 364 Anm. 6. 53 Anders i. E. BGH NJW 68, 2102. Die Annahme einer „persönlichen“ Einwendung i. S. des Art. 17 WG, bei der nur bewußtes Handeln zum Nachteil des Schuldners schadet, war jedenfalls verfehlt; es konnte sich vielmehr nur fragen, ob eine „Gültigkeitseinwendung“, bei der
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Dabei darf man allerdings nicht vergessen, daß in diesen Fällen u. U. eine Rechtsscheinhaftung nach anderen als nach wertpapierrechtlichen Regeln in Betracht kommen kann.54 So haftet z. B. ein Kaufmann, dem ein Angestellter einen Wechsel statt eines Gratulationsbriefs oder statt eines Kaufvertrages „unterschiebt“, nach den handelsrechtlichen Grundsätzen über die „Rechtsscheinhaftung kraft kaufmännischen Betriebsrisikos“;55 ähnlich haftet der Unterzeichner eines Blanketts, das noch nicht den Charakter eines Umlaufpapiers trug, sich aber dazu ohne Verfälschung ergänzen ließ und das dann zu einem Wechsel gemacht wurde, nach dem bürgerlichrechtlichen Prinzip der „Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung eines Scheintatbestandes“.56 IV. Die übrigen Einwendungen: die präklusionsfähigen Einwendungen Liegt ein schützenswerter Erwerbsvorgang vor, ist ein Scheintatbestand gegeben und kann die Zurechenbarkeit seiner Schaffung bejaht werden, so greift die Rechtsscheinhaftung durch, sofern deren Voraussetzungen auch auf seiten des Vertrauenden erfüllt sind, dieser also insbesondere gutgläubig ist. Mit anderen Worten: alle Einwendungen, die nicht zu den „unmittelbaren“, den „inhaltlichen“ oder „urkundlichen“ und den „Zurechenbarkeitseinwendungen“ gehören, können zugunsten gutgläubiger Erwerber präkludiert werden. Innerhalb dieser bedarf es freilich einer weiteren Unterscheidung zwischen den „persönlichen“ Einwendungen i. S. des Art. 17 WG, bei denen dem Erwerber nur „bewußtes Handeln zum Nachteil des Schuldners“ [251] schadet, und den „Gültigkeitseinwendungen“,57 bei denen ihm analog Art. 10, 16 II WG schon grobe Fahrlässigkeit schadet. Insoweit besteht jedoch kein Zusammenhang mit den spezifischen Fragen der Rechtsscheinhaftung, und daher ist diese Problematik hier nicht näher zu erörtern.
schon grobe Fahrlässigkeit schadet, vorlag oder ob nicht sogar die Zurechnung auszuschließen war. Kritisch auch Berg NJW 69, 604. 54 Dieser Lösungsansatz ist allein folgerichtig, wenn man wie hier davon ausgeht, daß für die spezifisch wertpapierrechtliche Rechtsscheinhaftung kein Raum ist! 55 Vgl. dazu oben S. 229; beachte auch die Ausdehnung dieser Regeln über Kaufleute i. e. S. hinaus oben § 20 III 1. 56 Vgl. oben S. 61 m. Nachw. zur Gegenmeinung in Fn. 28. 57 Der Terminus wird hier entgegen der h. L. nur für jene Einwendungen verwandt, die zwar die Gültigkeit der rechtsgeschäftlichen Verpflichtung aus dem Papier ausschließen, die Zurechenbarkeit des Scheintatbestandes aber unberührt lassen.
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V. Besonderheiten bei einzelnen Umlaufpapieren Die im vorstehenden am Beispiel des Wechsels entwickelten Regeln über den Einwendungsausschluß gelten grundsätzlich auch für die übrigen Umlaufpapiere. Allerdings ergeben sich bei einigen von ihnen Sonderprobleme. 1. Bei den kaufmännischen Orderpapieren anerkennt die h. L. für die in § 363 II HGB genannten Papiere besondere „inhaltliche“ oder „urkundliche“ Einwendungen.58 Diese ergeben sich daraus, daß jene Papiere anders als der Wechsel, der Scheck oder der kaufmännische Verpflichtungsschein inhaltlich nicht „farblos“, sondern „typusbezogen“ – keineswegs aber „kausal“!59 – sind, d. h. daß sie ihrem Inhalt nach auf einen bestimmten Vertragstypus, z. B. den Frachtvertrag, den Lagervertrag oder den Versicherungsvertrag verweisen. Die verbriefte Verpflichtung besteht daher nur in bezug auf diese Verträge, und das bedeutet, daß solche Einwendungen, die sich aus dem entsprechenden Vertragsrecht ergeben, auch dem Gutgläubigen entgegengesetzt werden können; als Beispiel ist etwa der Einwand zu nennen, der Lagerhalter sei gemäß §§ 275 BGB, 19 I OLSchVO durch zufälligen Untergang des Lagergutes frei geworden oder der Versicherungsnehmer habe den Versicherungsfall schuldhaft herbeigeführt. Anders liegt es dagegen hinsichtlich typusfremder oder gar typuswidriger Einwendungen, die aus dem Papier nicht ersichtlich sind; denn mit diesen braucht der Erwerber nicht zu rechnen, und er muß sich daher z. B. die Einwendung des § 275 BGB nicht entgegenhalten lassen, wenn der Lagerhalter gegenüber dem Einlagerer seine Haftung auf grobe Fahrlässigkeit beschränkt hatte und das Gut nun infolge gewöhnlicher Fahrlässigkeit vernichtet wird. Vor dem Hintergrund der Rechtsscheinhaftung sind sowohl die Regel wie die Ausnahme folgerichtig: der Lagerschein bzw. die Transportversicherungspolice schaffen in keiner Weise einen Scheintatbestand dahin, daß die Ware nicht nachträglich durch Zufall untergeht oder untergegangen ist bzw. daß der Versicherungsfall nicht durch den Versicherungsnehmer schuldhaft herbeigeführt wird oder worden ist; sie setzen aber sehr wohl den Rechtsschein, daß keine aus der Urkunde nicht zu entnehmenden Haftungserleichterungen vereinbart worden sind (und daß der Vertrag überhaupt abgeschlossen wurde und daß z. B. der Lagerhalter das Gut erhalten und [252] noch nicht wieder ausgeliefert – vgl. § 26 I OLSchVO – hat usw.). Die Einordnung dieser Problematik bei den „inhaltlichen“ Einwendungen durch die h. L. ist daher i. E. zutreffend. Bei den kaufmännischen Orderpapieren ist ferner eine zusätzliche Zurechenbarkeitseinwendung zu berücksichtigen: die Einwendung der fehlenden Kaufmannseigen-
58 Vgl. Ulmer S. 63 f. und S. 121 f.; Rehfeldt § 5, 2 b α; Schlegelberger-Hefermehl § 364 Rdz. 21; RGR-Komm. (v. Godin) § 367 Anm. 7. 59 Mindestens mißverständlich daher Rehfeldt aaO.; richtig Ulmer S. 60; Schlegelberger-Hefermehl § 364 Rdz. 20 a. E.
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schaft.60 Die Verpflichtungen aus den §§ 363 ff. HGB können nach dem Gesetz nämlich nur Kaufleute eingehen, und der in dieser Beschränkung liegende Schutz der Nichtkaufleute würde weitgehend umgangen, wenn man diese Einwendung als präkludierbar ansähe; Nichtkaufleuten fehlt daher hier auch für die Rechtsscheinhaftung die erforderliche „Zurechnungsfähigkeit“. Da auch die Regeln über den Scheinkaufmann nicht eingreifen,61 kann sich ein Vertrauensschutz insoweit allenfalls aus den Grundsätzen über die Vertrauenshaftung kraft dolosen oder kraft widersprüchlichen Verhaltens ergeben. 2. Was den Einwendungsausschluß bei der Aktie betrifft,62 so ist hier zunächst zu berücksichtigen, daß auch diese ähnlich wie die Papiere des § 363 II HGB „typusbezogen“ und dementsprechend von vornherein nicht dazu bestimmt ist, das verbriefte Recht seinem vollen Inhalt nach zu verlautbaren; dieser hängt vielmehr sowohl in seinen vermögensrechtlichen als auch in seinen personenrechtlichen Bestandteilen vom Inhalt der Satzung und den jeweiligen Beschlüssen der maßgeblichen Organe ab und ist dementsprechend auch Veränderungen unterworfen. Insoweit setzt die Aktie daher überhaupt keinen Rechtsschein, so daß ein Einwendungsausschluß – etwa analog § 796 BGB – in dieser Hinsicht nicht in Betracht kommt. Dagegen braucht der Erwerber einer Aktie grundsätzlich nicht mit irgendwelchen Einwendungen zu rechnen, die ihren Grund lediglich in den unmittelbaren Beziehungen gerade zwischen dem Veräußerer und der Gesellschaft haben. Daher sind derartige „persönliche“ Einwendungen analog Art. 17 WG als präklusionsfähig anzusehen.63 Außerordentliche Schwierigkeiten bereitet die Frage, ob die Gesellschaft gutgläubigen Erwerbern die Einwendung entgegensetzen kann, der Aktie liege ein entsprechendes Mitgliedschaftsrecht überhaupt nicht zugrunde; zu denken ist etwa daran, daß versehentlich zu viele Aktien gedruckt und in den Verkehr gebracht worden sind oder daß die Aktien vor der Ausgabe an die wahren Aktionäre gestohlen worden sind. Die h. L. verneint hier einen Schutz des gutgläubigen Erwerbers und lehnt insbesondere eine analoge Anwendung des § 794 BGB ab.64 Ob dem zu [253] folgen ist, erscheint indessen fraglich. Man wird nämlich kaum bezweifeln können, daß eine Aktie – zumindest nach der Eintragung der für ihre Ausgabe maß-
Vgl. dazu Schlegelberger-Hefermehl § 364 Rdz. 13. Vgl. oben S. 181. 62 Zur Problematik vgl. vor allem Ulmer S. 68 ff. (70 f.); Würdinger, Aktien- und Konzernrecht, 2. Aufl. 1966, § 10 VIII; neuesten noch Rehfeldt-Zöllner § 28 III. 63 Vgl. auch Ulmer S. 71; Würdinger § 10 VIII 1 b a. E.; anders wohl (wenigstens für die Namensaktie) Baumbach-Hueck AktG, 13. Aufl. 1968, § 68 Rdz. 6 a. E., wo jede Analogie zu Art. 17 WG abgelehnt wird. 64 Vgl. z. B. Würdinger aaO. § 10 VIII 1 a; Baumbach-Hueck § 68 Rdz. 18; Groß-komm. z. AktG, 2. Aufl. 1961, § 10 Anm. 5 (Schmidt); Zöllner aaO.; a. A. v. Gierke, Wertpapierrecht, 1954, S. 105; differenzierend Locher S. 64 f. 60 61
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geblichen Beschlüsse65 – einen Rechtsschein hinsichtlich des Bestehens des in ihr verbrieften Rechts schafft, und da die Aktie anerkanntermaßen ein Umlaufpapier und ein „Wertpapier öffentlichen Glaubens“ ist, müßten demnach folgerichtig die Regeln über den gutgläubigen Erwerb kraft Rechtsscheins eingreifen. Daß dadurch u. U. bestimmte aktienrechtliche Prinzipien wie die Regeln über die Kapitalerhöhung oder der Grundsatz, die Summe der Nennbeträge der ausgegebenen Aktien habe dem Grundkapital zu entsprechen, beeinträchtigt werden, ist kein zwingendes Gegenargument; denn es müßte erst noch bewiesen werden, daß und warum diese Prinzipien Vorrang vor dem Rechtsscheingedanken haben.66 Noch weniger führt der Gesichtspunkt weiter, daß die Aktie ein „deklaratorisches“ Wertpapier ist;66a auch bei einem solchen kommt nämlich eine Rechtsscheinhaftung durchaus in Betracht, wie das Beispiel des Schuldscheins ohne weiteres beweist,67 und überhaupt ist nicht recht verständlich, warum der Unterschied von deklaratorischen und konstitutiven Urkunden einen Einfluß auf den Schutz des gutgläubigen Erwerbers haben soll. Mehr Überzeugungskraft besäße demgegenüber vielleicht der – von der h. L. allerdings nicht aufgegriffene – Einwand, durch die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs würden hier in Wahrheit nicht die Belange der Gesellschaft, sondern die der Aktionäre bzw. eines von ihnen betroffen – denn ihre Rechte würden ja zerstört bzw. geschmälert! – und diese brauchten sich das Handeln des für den Scheintatbestand verantwortlichen Vorstands nicht zurechnen zu lassen. Bei dieser Betrachtungsweise verschiebt sich nun freilich der Schwerpunkt der Problematik sehr wesentlich: so gesehen geht es nicht primär darum, ob es gerechtfertigt erscheint, daß gegen die Gesellschaft ein Recht begründet wird, sondern darum, ob man zulassen kann, daß der eigentlich berechtigte Aktionär seine Mitgliedschaft verliert bzw. daß die Rechte der Gesamtheit der Aktionäre (durch den Hinzutritt des oder der Gutgläubigen) geschmälert werden. Es handelt sich also in Wahrheit gar nicht um eine Frage des Einwendungsausschlusses, sondern um eine solche des „gutgläubigen Erwerbs i. e. S.“,68 und daher gehört die Problematik nicht in den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit, da diese sich lediglich mit den Fällen befaßt, in denen der Vertrauensgedanke zu einer „Haftung“ führt, und nicht auch [254] mit denen, in denen die Rechtsfolge in einem „Rechtsverlust“ besteht.69 In sachlicher Hinsicht folgt aus diesem Ausgangspunkt 65 Vorher dürfte es an einer Schutzwürdigkeit i. S. der Rechtsscheinhaftung fehlen, so daß deren Ausschluß durch die §§ 41 IV, 191, 197 AktG folgerichtig erscheint. 66 Vgl. dazu einerseits Jacobi, Ehrenbergs Handbuch IV 1, 1917, S. 270 ff., andererseits Flechtheim in Düringer-Hachenburg, Komm. z. HGB III 1, 3. Aufl. 1934, Anm. 4 vor § 222. 66a Vgl. aber Zöllner aaO. 67 Vgl. § 405 BGB und die oben § 9 entwickelten Regeln. 68 Davon spricht man regelmäßig im Verhältnis zwischen dem gutgläubigen Dritten und dem wahren Berechtigten, während der „Einwendungsausschluß“ das Verhältnis zwischen dem gutgläubigen Dritten und dem angeblichen Schuldner betrifft. 69 Vgl. die Abgrenzung des Themas oben § 1 II.
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– so viel sei immerhin angedeutet –, daß es nicht um die analoge Anwendung des § 794 BGB, sondern um die des § 935 II BGB und des Art. 16 II WG geht und daß es daher, da diese Vorschriften Tatbestände des „reinen Rechtsscheinprinzips“ sind,70 auf Zurechnungsfragen überhaupt nicht ankommt. Erweist sich somit das Bedenken, die Aktionäre brauchten sich das Handeln des Vorstandes nicht zurechnen zu lassen, als unerheblich, so wird man letztlich doch wieder auf die Frage zurückverwiesen, ob die erwähnten aktienrechtlichen Grundsätze dem Rechtsscheinprinzip vorgehen oder umgekehrt – ein Problem, das noch nicht abschließend geklärt sein dürfte71 und dem hier nicht weiter nachgegangen werden kann, da es, wie gesagt, nicht zum Gegenstand dieser Schrift gehört.
Vgl. zu diesem unten § 37 II 1. Bei Geldscheinen, die vor der Ausgabe durch die Bundesbank abhanden gekommen sind, wird die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs übrigens von der h. L. (analog § 794 oder § 935 II BGB) bejaht, vgl. z. B. Martin Wolff, Ehrenbergs Handbuch IV 1, 1917, S. 631 f.; Prost JZ 69, 787 f.; Mann JZ 70, 212 f. 70 71
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Vierter Unterabschnitt Die Rechtsscheinhaftung im Arbeitsrecht Im Arbeitsrecht ergeben sich nur verhältnismäßig wenige Sonderprobleme der Rechtsscheinhaftung, da eine Lösung meist bereits mit den allgemeinen zivilrechtlichen Regeln möglich ist. Immerhin verdienen auch hier einige Fragenkreise eine kurze Erörterung. § 23 Rechtsscheinhaftung und Betriebsübung Hinweise auf den Rechtsscheingedanken finden sich im Arbeitsrecht nicht selten im Zusammenhang mit der Problematik der Betriebsübung.1 In der Tat könnte hier ein fruchtbarer Ansatzpunkt liegen, da die Betriebsübung für den Bereich des einzelnen Betriebes weitgehend eine ähnliche Funktion erfüllt wie Handelsbrauch und Verkehrssitte für ihr Geltungsgebiet und da diese ja, wie gezeigt,2 die Grundlage eines spezifischen Tatbestandes der Rechtsscheinhaftung bilden. Indessen ist für die Vertrauenshaftung immer nur dort Raum, wo sich eine befriedigende Lösung nicht schon aus den Regeln der Rechtsgeschäftslehre ergibt, und daher ist wie immer vorab zu klären, inwieweit sich die Problematik bereits mit diesen bewältigen läßt. [255] I. Rechtsgeschäftliche Lösungsmöglichkeiten und ihre Grenzen 1. Als durchaus sachgerechter Lösungsansatz erweist sich die Rechtsgeschäftslehre dabei hinsichtlich der Frage, ob eine bereits bestehende Betriebsübung auch für und gegen neu eintretende Arbeitnehmer wirkt.3 Insoweit führen nämlich ohne weiteres die Grundsätze der objektiven Auslegung gemäß § 157 BGB zum Ziel: der Arbeitnehmer darf und muß das Angebot des Arbeitgebers zum Abschluß des Arbeitsvertrages nach Treu und Glauben so verstehen, daß dieser ihn, falls sich nicht aus der Erklärung oder den Umständen etwas anderes ergibt, zu den in dem Betrieb üblichen Bedingungen einstellen will; denn soweit es sich um eine für die Ar1 Vgl. vor allem Sieg RdA 55, 441 (443), freilich in Vermischung mit vertragsrechtlichen Gesichtspunkten; vgl. ferner Seiter, Die Betriebsübung, 1967, S. 109 und 115 und Söllner SAE 69, 19 f. 2 Vgl. §§ 18 ff., insbesondere § 20 I. 3 Vgl. dazu statt aller A. Hueck § 25 V 1 (S. 152 f.); G. Hueck AR-Blattei Betriebsübung B II; Nikisch § 25 V 4.
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beitnehmer günstige Übung handelt, braucht er nach Treu und Glauben im Zweifel nicht mit einer Schlechterstellung gegenüber den bisherigen Betriebsangehörigen zu rechnen, und soweit die Übung nachteilig ist, kann er umgekehrt grundsätzlich keine Besserstellung erwarten.4 Praktische Bedeutung kommt dem freilich im ersten Falle wohl kaum zu, da sich einerseits ein Anspruch des Arbeitnehmers auf betriebsübliche Vergünstigungen schon aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz ergibt und da ihm andererseits im Wege der Vertragsauslegung folgerichtig auch nicht mehr Rechte zuerkannt werden können als mit dessen Hilfe.5 Um so wichtiger ist die Einbeziehung der Betriebsübung in die Verpflichtungswirkung des Vertrages dagegen bei der zweiten Fallgruppe,6 da bei den für die Arbeitnehmer ungünstigen Regeln mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht weiterzukommen ist. Allerdings kann auf diese Weise nicht etwa jede beliebige Übung zum Vertragsinhalt werden. Denn nach Treu und Glauben darf der Arbeitgeber ein Einverständnis des Arbeitnehmers grundsätzlich nicht hinsichtlich solcher Regeln voraussetzen, mit deren Geltung dieser nicht zu rechnen brauchte7 – sei es, daß sie außerhalb des in dieser Branche [256] oder dieser Gegend Üblichen liegen, sei es, daß aus einem anderen Grund ein ausdrücklicher Hinweis des Arbeitgebers auf sie bei Vertragsschluß angebracht erscheint;8 im einzelnen ist insoweit auf die allgemeinen Auslegungsgrundsätze über die Ermittlung des „objektiven Erklä-
4 Vgl. auch die freilich etwas beiläufigen Bemerkungen des RAG ARS 34, 180 (185); 42, 287 (291). 5 Mit Recht sagt A. Hueck aaO. S. 152: „Wird die Vergünstigung nur unter bestimmten Beschränkungen gewährt, so erwirbt der neu eintretende Arbeitnehmer den Anspruch auf die Vergünstigung nur unter diesen Beschränkungen, auch wenn ihm nur die Gewährung der Vergünstigung, nicht aber die Beschränkung bekannt war“. Im letzteren Fall wird man freilich einschränkend hinzufügen müssen, daß der Arbeitnehmer sich unbekannte Einschränkungen dann nicht entgegenhalten zu lassen braucht, wenn diese gänzlich ungewöhnlich sind und nach Treu und Glauben ein entsprechender Hinweis des Arbeitgebers auf sie zu erwarten war. – Vgl. im übrigen in diesem Zusammenhang auch unten § 32 Fn. 45. 6 Ihre Behandlung ist z. T. noch kontrovers; vgl. zur Problematik RAG ARS 34, 180; 38, 147; 39, 233; 42, 287; BAG AP Nr. 2 zu § 611 BGB Lohnanspruch; Nr. 80 zu § 1 TVG Auslegung; Nr. 1 zu § 611 BGB Wegezeit; Nr. 6 zu § 13 BUrlG; A. Hueck § 25 V 1 b; G. Hueck aaO. B II 2; Nikisch § 25 V 4 (S. 267); Seiter aaO. S. 113 ff.; Mengel, Die betriebliche Übung, 1967, S. 77 ff. 7 Ähnlich i. E. A. Hueck aaO. S. 153 f.; G. Hueck aaO. unter B II 2 b; Mengel aaO. S. 80; z. T. auch Seiter aaO. S. 117 f.; zu eng Nikisch S. 267, der positive Kenntnis des Arbeitnehmers von der Übung verlangt. 8 Insoweit wird insbesondere auch die Frage eine wesentliche Rolle spielen, in welchem Grade die Übung den Arbeitnehmer beeinträchtigt (vgl. auch Seiter S. 80 f.) und ob es um eine Regel geht, die nur ganz selten, vielleicht nur einmal im Jahre relevant wird, oder um eine solche, die das Arbeitsverhältnis in seiner Gesamtheit prägt; im ersteren Fall ist nämlich ein ausdrücklicher Hinweis des Arbeitgebers auf die Übung kaum praktikabel, während im letzteren Fall eine ausdrückliche Vereinbarung – etwa bezüglich der betriebsüblichen Geltung der einschlägigen Tarifverträge auch gegenüber den Außenseitern – sinnvoll und zu erwarten ist.
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rungswerts“ zu verweisen,9 und daher ist auf die Problematik in diesem Zusammenhang nicht weiter einzugehen, da es sich dabei nicht um Fragen der Vertrauenshaftung, sondern der Rechtsgeschäftslehre handelt. Konstruktiv gesehen ergibt sich hier somit insgesamt eine deutliche Parallele zur Problematik der „stillschweigenden Unterwerfung“ unter allgemeine Geschäftsbedingungen,10 und es kann daher ergänzend auf die Ausführungen zu dieser Frage oben § 19 IV verwiesen werden. Insbesondere muß man sich auch hier vor dem Mißverständnis hüten, es bedürfe für die Einbeziehung der betriebsüblichen Regeln in den Vertrag eines selbständigen Rechtsgeschäfts; richtig ist vielmehr, daß die Betriebsübung – wie jedes andere objektive Auslegungselement – den Inhalt des Arbeitsvertrages und der bei dessen Abschluß abgegebenen Erklärungen unmittelbar beeinflußt und daß es daher um ein reines Auslegungsproblem geht. Folglich fehlt auch nicht etwa das Erklärungsbewußtsein, wenn der Arbeitnehmer die Betriebsübung nicht kennt und nicht mit ihr rechnet,11 sondern es liegt dann allenfalls ein Inhaltsirrtum i. S. von § 119 I BGB vor, doch wird auch ein solcher, wie oben zum analogen Problem bei den allgemeinen Geschäftsbedingungen näher dargelegt,12 nur äußerst selten relevant sein.13 – Alles in allem stehen somit dem Versuch, die „Geltung“ der Betriebsübung gegenüber neu eingetretenen Arbeitnehmern mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre zu begründen, keine konstruktiven Hinder- [257] nisse entgegen, so daß ein Rückgriff auf die Rechtsscheinhaftung insoweit weder erforderlich noch möglich ist. 2. Große Schwierigkeiten können sich für die Rechtsgeschäftslehre dagegen ergeben, wenn die Betriebsübung erst nach Eintritt des Arbeitnehmers in den Betrieb entstanden ist; denn dann kann man ihre Geltung nicht mehr auf die bei Abschluß des Arbeitsvertrages abgegebenen Erklärungen zurückführen, und daher ist man hier vom Boden der Rechtsgeschäftslehre aus in der Tat auf die Annahme eines selbständigen Vertrages, der die Verbindlichkeit der Betriebsübung zum alleinigen Gegenstand hat, angewiesen. Ein solcher ist nun zwar durchaus denkbar – man wird ihn z. B. ohne weiteres bejahen können, wenn der Arbeitgeber die Einfüh9 Insbesondere sind die Regeln über die Frage- und Hinweisobliegenheiten zu beachten (vgl. dazu statt aller Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften, 1966, S. 283 ff., 289), die einen Bestandteil der Lehre von der objektiven Auslegung bilden und die entgegen einer verbreiteten Ansicht (charakteristisch z. B. Seiter aaO. S. 116 unter b) nichts mit einer wie immer gearteten Verschuldenshaftung zu tun haben. 10 Hinweise auf diese finden sich verschiedentlich; vgl. z. B. A. Hueck, Festschrift für Lehmann, 1956, S. 640 Fn. 24 und aaO. S. 153 Fn. 19; Sieg aaO. S. 442 f.; Richardi RdA 60, 403; Mengel, aaO. S. 78 f. 11 Das verkennt möglicherweise A. Hueck aaO. S. 153 bei seinen Ausführungen über die „Fiktion“ eines Unterwerfungswillens und jedenfalls Seiter aaO. S. 115 (vor II und unter II 1 a) und S. 116 (vor b und unter b). 12 Vgl. S. 216 (Kleindruck). 13 Die Folge wäre hier, daß das Arbeitsverhältnis gemäß §§ 119 I, 139 BGB „fehlerhaft“ und daher nach den Regeln über das „fehlerhafte Arbeitsverhältnis“ auflösbar wäre.
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rung der Betriebsübung ausdrücklich ankündigt und die Arbeitnehmer sich damit ausdrücklich einverstanden erklären –, doch dürfte diese Konstruktion der normalen Sachlage bei der Entstehung einer Betriebsübung, die sich regelmäßig nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt durch einen unmittelbar hierauf gezielten Akt, sondern nur allmählich durch ein sich wiederholendes, „gleichförmiges“ Verhalten bildet, kaum gerecht werden. Insoweit bleibt nämlich nur die Möglichkeit, mit Hilfe konkludenter oder „stillschweigender“ Willenserklärungen zu einer vertraglichen Einbeziehung der Betriebsübung in die Arbeitsverhältnisse zu kommen, und wenn diese Lösung auch in der Tat von der h. L. vertreten wird,14 so drängt sich gegen sie doch von vornherein der – bei einer solchen Konstruktion stets naheliegende – Einwand der Fiktion auf. Eine nähere Prüfung ergibt denn auch, daß dieser berechtigt ist. Was zunächst die Bindung des Arbeitgebers an eine den Arbeitnehmern günstige Übung betrifft, so wird man insoweit zweckmäßigerweise zwischen zwei Fallgruppen zu differenzieren haben, die sich hinsichtlich der Gründe für das Entstehen der Betriebsübung unterscheiden und die die praktisch wie dogmatisch wichtigsten Fälle im wesentlichen erfassen dürften: eine Betriebsübung kann zum einen darauf zurückzuführen sein, daß der Arbeitgeber längere Zeit hindurch in Unkenntnis der wahren Rechtslage bestimmte Leistungen erbracht hat – man denke z. B. an die Zahlung eines Zuschlags zum Lohn auf Grund einer Fehlinterpretation des einschlägigen Tarifvertrags15 –, und sie kann zum anderen ihren Grund darin haben, daß der Arbeitgeber in Kenntnis des Fehlens einer Rechtspflicht den Arbeitnehmern Vergünstigungen gewährt hat – man denke vor allem an die freiwilligen Sozialleistungen. Bei der ersten Fallgruppe liegt es nun geradezu auf der Hand, daß der Arbeitgeber durch die Erbringung der Leistung nicht konkludent erklärt, er wolle sich verpflichten, auch in Zukunft so zu verfahren; denn er will hier ja für die Arbeitnehmer erkennbar nur eine nach seiner Ansicht ohnehin bestehende Rechtspflicht [258] erfüllen, und nichts berechtigt zu der Annahme, er wolle zugleich noch eine vertragliche Pflicht für den – von ihm regelmäßig gar nicht in Betracht gezogenen! – Fall übernehmen, daß seine Rechtsauffassung irrig sein sollte.16 Hier fehlt es daher außer am Erklärungsbewußtsein17 schon am objektiven Tatbestand einer Willenserklärung, da das Verhalten des Arbeitgebers nicht den Sinn hat, eine Rechtsfolge konstitutiv in Geltung zu setzen, sondern allenfalls den, eine vermeintlich bestehende Pflicht deklaratorisch zu bestätigen. – Ähnliches gilt aber 14 Vgl. statt aller A. Hueck § 25 V 1; G. Hueck aaO. A II 2; Mengel aaO. S. 65 ff., jeweils m. Nachw.; Bydlinski S. 20 ff.; aus der Rechtsprechung zuletzt BAG AP Nr. 7 zu § 242 BGB Betriebliche Übung. 15 Vgl. im einzelnen die Beispiele unten S. 391 f. und S. 393 f. 16 Richtig daher insoweit BAGE 6, 59 (61 f.) und AP Nr. 26 zu § 1 FeiertagslohnzahlungG (unter II); Bydlinski S. 23 ff.; vgl. dazu im übrigen auch unten S. 387 ff. 17 Vgl. dazu im übrigen näher Seiter aaO. S. 90 f.
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auch für die zweite Fallgruppe, mag hier die Unhaltbarkeit rechtsgeschäftlicher Konstruktionen vielleicht auch nicht ganz so evident sein. Auch die Behauptung, durch die wiederholte freiwillige Erbringung bestimmter Leistungen habe der Arbeitgeber schlüssig erklärt, er wolle sich nunmehr verpflichten, diese Übung in Zukunft beizubehalten, ist nämlich eine Fiktion. Denn es widerspricht aller Lebenserfahrung, daß er bereit ist, ohne irgendeine Gegenleistung auf den bisherigen freiwilligen Charakter seiner Leistung zu verzichten und Pflichten für eine unbegrenzte und in ihrer Entwicklung häufig ganz unübersehbare Zukunft zu übernehmen, und es entbehrt vollends jeder Wahrscheinlichkeit, daß er das auch noch „stillschweigend“ tun würde: ginge sein Wille wirklich so weit, so würde er zweifelsohne eine entsprechende ausdrückliche Erklärung abgeben und z. B. seinen Arbeitnehmern einen Pensionsvertrag gewähren, schon allein deshalb, um seine Großzügigkeit „ins rechte Licht zu setzen“.18 Dementsprechend empfinden es die Arbeitnehmer denn auch durchaus als eine echte Vermehrung ihrer Rechte und nicht nur als bloße Deklaration eines ohnehin bestehenden Anspruchs, wenn sie, um bei dem Beispiel zu bleiben, eines Tages „ihren“ Pensionsvertrag erhalten – mag dessen Gewährung auch seit noch so langer Zeit betriebsüblich sein. So wird man bei unbefangener Betrachtungsweise in der Tat ganz allgemein anerkennen müssen, daß es einfach lebensfremd ist, in der Gewährung einer Leistung an eine Reihe von Personen zugleich ein Rechtsgeschäft mit allen denen zu erblicken, die in Zukunft dieselben Voraussetzungen erfüllen werden, und daß es nicht weniger willkürlich ist, in eine wiederholte freiwillige Zahlung an eine bestimmte Person zusätzlich noch eine Verpflichtungserklärung hinsichtlich zukünftiger Zahlungen an sie hineinzuinterpretieren. Folglich scheitert auch hier die Vertragskonstruktion unabhängig von der Frage des Erklärungsbewußtseins17 bereits am Fehlen des objektiven Tatbestandes eines Rechtsgeschäfts, da der Arbeitgeber eben nicht bereits jetzt Rechtsfolgen auch für die Zukunft in Geltung setzt, sondern sie lediglich – konkludent – in Aussicht stellt. Daraus ergibt sich zugleich ohne weiteres, daß außer der h. L. auch alle übrigen rechtsgeschäftlichen Theorien abzulehnen sind. Dies gilt insbesondere für die Lehre [259] von der „Gesamtzusage“,19 von der „Konkretisierung der Fürsorgepflicht“20 und von der „einseitigen Bestimmung der Leistung im ArbeitsverhältInsoweit ähnlich Seiter aaO. S. 89 f. Vgl. BAG AP Nr. 90 zu § 242 BGB Ruhegehalt m. kritischer Anmerkung von Zöllner; Hilger, Das betriebliche Ruhegeld, 1959, S. 52 ff.; vgl. auch schon Bötticher, RdA 53, 161 (163). 20 Vgl. vor allem Nikisch § 25 V 2 sowie die Nachweise bei Seiter S. 67 Fn. 275. Nikisch fordert aaO. ausdrücklich, daß der Arbeitgeber einen „Verpflichtungswillen“ hinsichtlich der Bindung für die Zukunft zum Ausdruck bringt, und er gehört daher in der Tat zu den Vertretern rechtsgeschäftlicher Theorien. Soweit man auf eine derartige Willenserklärung dagegen verzichtet, treffen zwar die im Text vorgetragenen Einwände nicht, doch bleibt dann ungeklärt, inwiefern die Fürsorgepflicht durch die bloße „Übung“ plötzlich zu einer Anspruchsgrundlage für die Zukunft wird, obwohl aus ihr anerkanntermaßen an sich kein Recht der Arbeitnehmer auf die 18 19
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nis“.21 Denn mit ihrer Hilfe lassen sich nur die – im Vorstehenden gar nicht berührten – Schwierigkeiten überwinden, die sich hinsichtlich der Annahmeerklärung des Arbeitnehmers aus der Konstruktion der h. L. ergeben, wohingegen sie gegenüber den Einwänden, die gegen das Vorliegen eines Angebots des Arbeitgebers sprechen, nichts beizutragen vermögen und insoweit genau dieselben Schwächen haben wie die h. L.; auf die übrigen, hinlänglich bekannten Bedenken gegen diese Theorien kommt es daher nicht einmal mehr an. [260] Nicht wesentlich anders liegt es hinsichtlich der Bindung der Arbeitnehmer an eine für den Arbeitgeber vorteilhafte Übung. Auch hier kommt als Grund für deren Entstehung nämlich sowohl eine unrichtige Rechtsanwendung als auch eine wiederholte freiwillige Leistungserbringung in Betracht, und auch hier ist daher die Annahme eines Rechtsgeschäfts sowohl hinsichtlich der objektiven als auch hinsichtlich der subjektiven Seite folgerichtig abzulehnen. Allerdings ist hier noch eine dritte Fallgruppe zu berücksichtigen, die praktisch sogar die wichtigste sein dürfte: nicht selten wird außer Frage stehen, daß auf seiten des Arbeitgebers ein „Angebot“ zur Einführung einer bestimmten Betriebsübung gegeben ist, und das Problem nur darin liegt, ob dieses von den Arbeitnehmern angenommen worden ist – sei es, daß diese darauf gar nicht reagieren, sei es, daß sie sich zwar „stillschweigend“ nach der neuen Übung richten, dies aber z. B. in dem irrigen Glaufraglichen Sozialleistungen entspringt (vgl. im einzelnen die Darstellung und Kritik bei Seiter aaO. S. 67 f. bzw. S. 69). Dies letztere Problem wäre allerdings u. U. mit Hilfe der Lehre Zeuners zu lösen, der insoweit mit einer Parallele zur Selbstbindung der Verwaltung bei Ermessensentscheidungen arbeiten will (vgl. BB 57, 647 ff.). Indessen bestehen auch gegen diese Theorie – die übrigens nur für Kollektivübungen, nicht aber auch für die eng verwandten und nach wohl allgemeiner Ansicht (grundlegend RAG ARS 13, 543) gleich zu behandelnden Individualübungen paßt (zur Terminologie Seiter aaO. S. 79)! – Bedenken. So ist es zunächst schon höchst zweifelhaft, ob die Verwaltung nicht doch – anders als der Arbeitgeber! – ihre bisherige Praxis für die Zukunft durch eine neue generelle Regelung ersetzen darf, ohne daß dafür ein „besonderer Grund“ gegeben sein muß; die h. L. fordert einen solchen jedenfalls nicht (vgl. z. B. Forsthoff, Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1966, S. 91 f.; Mertens, Die Selbstbindung der Verwaltung auf Grund des Gleichheitssatzes, 1963, S. 33 und S. 100 f.; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 540 f. m. weiteren Nachw.; anders Bettermann, Der Staat 1 [1962], 82), und daher scheint Zeuners Lehre schon von der öffentlichrechtlichen Seite her die Stütze zu fehlen. Vor allem aber läßt Zeuner die Frage nach dem eigentlichen Gerechtigkeitsgrund, nach der „ratio iuris“ für die Selbstbindung der Verwaltung letztlich offen und macht es dadurch unmöglich zu prüfen, ob der zugrunde liegende Rechtsgedanke wirklich ins Privatrecht übertragbar ist. Sollte dieser z. B. in einer besonderen Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips zu sehen sein, so wäre seine Übernahme ins Arbeitsrecht von vornherein ebenso problematisch wie wenn es im öffentlichen Recht insoweit um eine – teilweise – Anerkennung der Gleichbehandlung „in der Zeit“ ginge (in diesem Sinne wohl Bettermann aaO.); und auch wenn die Selbstbindung der Verwaltung auf den Vertrauensgedanken zurückzuführen wäre (vgl. dazu z. B. Mertens aaO. S. 101; Klein, Festgabe für Forsthoff, 1967, S. 181; Söllner, Einseitige Leistungsbestimmung im Arbeitsverhältnis, 1966, S. 137 unter IV; vgl. auch Zeuner selbst S. 650 Sp. 1), so bedürfte es doch immer noch dessen Transformierung in seine spezifisch privatrechtlichen Erscheinungsformen und das hieße hier wohl: in die Lehre von der Erwirkung (vgl. dazu unten §§ 31 II 3 und III, 32 III). 21 Vgl. Söllner aaO. S. 34 ff. und 137 f. sowie SAE 69, 20 und Arbeitsrecht, 1969, § 22, 2.
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ben tun, dazu – etwa auf Grund des Direktionsrechts des Arbeitgebers – verpflichtet zu sein. In derartigen Fällen wird nun allerdings mitunter eine echte rechtsgeschäftliche Einverständniserklärung vorliegen – so z. B., wenn ein Arbeitnehmer sich widerspruchslos und in Kenntnis seiner wahren vertraglichen Rechte an eine ihn unmittelbar betreffende Änderung hält22 –, doch wird wesentlich öfter auch hier entweder schon die Schlüssigkeit des Verhaltens, insbesondere des bloßen Schweigens oder doch zumindest das entsprechende Erklärungsbewußtsein zu verneinen sein. Alles in allem läßt sich daher auch die Bindung der Arbeitnehmer nur in sehr begrenztem Umfang mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre begründen. II. Die Lösungsmöglichkeiten der Rechtsscheinlehre 1. Es bleibt daher nichts anderes übrig, als zu versuchen, die – i. E. heute ja nicht mehr ernsthaft zu bezweifelnde – „Geltung“ der Betriebsübung in den fraglichen Fällen mit anderen dogmatischen Mitteln zu erklären, und dazu bietet sich natürlich, wie schon eingangs angedeutet, insbesondere die Rechtsscheinhaftung an.23 Indessen erweist sich auch diese hier bei näherer Prüfung als höchst unergiebig. Bei der ersten der in Betracht kommenden Fallgruppen, der der fehlerhaften Rechtsanwendung, fehlt es nämlich schon am Vorliegen eines „Scheintatbestandes“, da die wahre Rechtslage ja für einen objektiven Beobachter ohne weiteres erkennbar ist, so daß für eine Rechtsscheinhaftung von vornherein kein Raum ist,24 und auch für die zweite Fallgruppe gilt nichts anderes, da wiederum die wahre Rechtslage, nämlich die Freiwilligkeit der Leistung, offen zu Tage liegt oder, wie regelmäßig anzunehmen, den Parteien sogar bewußt ist und da es im übrigen hinsichtlich einer in der Zukunft liegenden freiwilligen Leistungserbringung einen Rechtsschein überhaupt nicht geben kann.24a Etwas bessere Ansatzpunkte bestehen allerdings bei der dritten [261] Fallgruppe; denn soweit hier wenigstens der objektive Tatbestand einer konkludenten Einverständniserklärung vorliegt und eine rechtsgeschäftliche Bindung des Arbeitnehmers lediglich am Mangel des Erklärungsbewußtseins scheitert, ist immerhin ein „scheinschlüssiges“ Verhalten und damit der unerläßliche „Scheintatbestand“ gegeben. Indessen ist, wie eingehend dargelegt,25 ein allgemeines Institut einer „Vertrauenshaftung kraft schlüssigen Verhaltens“ mit dem geltenden Recht unvereinbar;26 die besonderen Vgl. dazu auch Seiter aaO. S. 114 m. Nachw. in Fn. 164. Vgl. die Nachw. oben in Fn. 1. 24 Vgl. unten § 39 III 2 24a Vgl. unten § 39 III 1. 25 Vgl. oben § 4 und § 20 vor I. 26 Zu weitgehend daher Seiter aaO. S. 115 unter II 1 a i. V. m. S. 109. 22 23
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Voraussetzungen aber, unter denen nach den – an sich auch im Arbeitsrecht anwendbaren27 – Regeln der „Rechtsscheinhaftung kraft verkehrsmäßig typisierten Verhaltens“ ausnahmsweise einmal eine Einstandspflicht für ein scheinkonkludentes Verhalten besteht, werden in den einschlägigen Fällen so gut wie nie erfüllt sein, da es höchst unwahrscheinlich ist, daß das Verhalten des Arbeitnehmers hier kraft typisierender Verkehrssitte die Bedeutung des Einverständnisses hat. Alles in allem läßt sich die „Geltung“ der Betriebsübung somit auch mit den Mitteln der Rechtsscheinhaftung nicht erklären; es wird noch zu erörtern sein, ob statt dessen mit anderen Möglichkeiten der Vertrauenshaftung weiterzukommen ist.28 2. Die Problematik von Erklärungsbewußtsein und Rechtsscheinhaftung, die soeben bei der letzten Fallgruppe angesprochen wurde, spielt noch für eine weitere in den vorliegenden Zusammenhang gehörende Frage eine wesentliche Rolle. Die Betriebsübung kann nämlich nicht nur als Grundlage von Leistungspflichten der Parteien relevant werden, sondern sie kann auch dazu führen, daß die Bedeutung eines Verhaltens der Betriebsangehörigen in bestimmter Weise geprägt oder „typisiert“ wird. Als Beispiel mag man etwa daran denken, daß nach der Betriebsübung Schweigen auf einen Anschlag am schwarzen Brett als Zustimmung gilt. Ist sich nun hier der Arbeitnehmer der Bedeutung seines Verhaltens nicht bewußt, so scheidet eine rechtsgeschäftliche Bindung mangels des erforderlichen Erklärungsbewußtseins von vornherein aus, und es stellt sich daher wieder die Frage, ob statt dessen die Regeln der Rechtsscheinhaftung eingreifen. Die Antwort ergibt sich aus den oben im zweiten Unterabschnitt entwickelten Grundsätzen, und dementsprechend ist auch hier zwischen „Tatsachenunkenntnis“ und „bloßem Schlüssigkeitsirrtum“ zu unterscheiden.29 Im ersten Fall – d. h. für das gewählte Beispiel: wenn der Arbeitnehmer den Anschlag überhaupt nicht bemerkt hat – kommt eine Haftung nicht in Betracht, da nach geltendem Recht keine Möglichkeit besteht, dem Arbeitnehmer das Risiko der mangelnden Kenntniserlangung zuzurechnen;30 das erscheint auch im Ergebnis keineswegs unbillig, da der Arbeitgeber, wenn er schon zur Herbeiführung einer Willenserklärung der Arbeitnehmer [262] einen so unsicheren Weg wählt, die damit verbundene Gefahr selbst tragen mag. Im zweiten Fall dagegen, wenn also der Arbeitnehmer den Anschlag zwar zur Kenntnis nimmt, aber über die Bedeutung seines Schweigens irrt, wird man eine Einstandspflicht in Weiterentwicklung der „Rechtsscheinhaftung kraft verkehrsmäßig typisierten Verhaltens“31 bejahen können. Denn wie schon eingangs betont, spielt die Betriebsübung weitgehend Vgl. § 20 III 2 a. E. und 3 a. E. Vgl. dazu näher unten §§ 31 II 3 und III, 32 III. 29 Zur Terminologie vgl. oben S. 188 f. 30 Das oben § 20 III 2 Gesagte gilt auch hier. 31 Vgl. oben § 20 I. 27 28
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eine ähnliche Rolle wie Handelsbrauch und Verkehrssitte; insbesondere ist sie ein sehr wesentliches Mittel zur Gewährleistung einer reibungslosen und rationellen Ordnung des Betriebes, so daß insoweit ein erhöhtes Vertrauensschutzbedürfnis anzuerkennen ist, und ähnlich wie hinsichtlich des Handelsbrauches unter Kaufleuten wird man auch von den Arbeitnehmern eines Betriebes grundsätzlich32 erwarten dürfen, daß sie die Betriebsübung kennen. Daher passen die Regeln über die Rechtsscheinhaftung kraft typisierten Verhaltens auch hier: der Arbeitnehmer ist an die betriebsübliche Bedeutung seines Verhaltens auch dann gebunden, wenn ihm ein entsprechendes Erklärungsbewußtsein fehlte; das gleiche gilt, sofern sich dafür praktische Anwendungsfälle finden sollten, selbstverständlich auch zu Lasten des Arbeitgebers, dem überdies regelmäßig auch noch eine eventuelle Tatsachenunkenntnis nach den Grundsätzen über das betriebliche Organisationsrisiko zuzurechnen ist.33
32 Eine Ausnahme gilt bei neu eingetretenen Arbeitnehmern, solange von diesen noch keine Kenntnis der Betriebsübung zu erwarten ist, so daß es insoweit an den erforderlichen Zurechnungsvoraussetzungen fehlt; im übrigen dürfte deren Verhalten auch nicht „scheinkonkludent“ sein, da der Arbeitgeber bei ihnen in dem Schweigen nicht ohne weiteres den Ausdruck des Einverständnisses sehen kann. 33 Vgl. dazu oben § 20 III 2 a. E.
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§ 24 Rechtsscheinprobleme im Kollektivarbeitsrecht Abschließend sei noch kurz auf zwei Fragen aus dem Kollektivarbeitsrecht eingegangen. I. Die Scheintarifgebundenheit 1. Nach § 3 TVG sind tarifgebunden nur die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrages ist. Hier kann ein Rechtsscheinproblem dann entstehen, wenn einer der Partner beim Abschluß eines Arbeitsvertrages den Anschein erweckt, er sei Mitglied einer Tarifvertragspartei und daher tarifgebunden. Zugunsten des gutgläubigen anderen Teiles gelten dann nach allgemeinen Rechtsscheingrundsätzen die Tarifnormen.1 Das wird sich in aller Regel schon aus dem allgemeinen Prinzip der Einstandspflicht für die wissentliche Schaffung [263] eines Scheintatbestandes ergeben;2 denn es ist nicht gut vorstellbar, daß demjenigen, gegen den der Schein spricht, das Fehlen der Verbandszugehörigkeit unbekannt war. Wo dies ausnahmsweise doch einmal der Fall ist, kann es seiner Haftung gleichwohl nicht entgegenstehen. Es gilt dann der oben3 entwickelte zweite Rechtsscheingrundsatz, wonach jemand das Risiko für die Richtigkeit seiner Erklärung dann zu tragen hat, wenn die fragliche Rechtstatsache typischerweise die Grundlage für Abschluß oder Inhalt des Rechtsgeschäfts mit anderen bildet.4 – Erklärt also z. B. der Arbeitgeber, er sei Mitglied des vertragsschließenden Arbeitgeberverbandes, so kann der gutgläubige Arbeitnehmer, der Mitglied der Gewerkschaft ist, den Tariflohn, den tariflichen Urlaub usw. fordern. Umgekehrt kann sich der gutgläubige Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer, der seine Gewerkschaftszugehörigkeit vorgespiegelt hat, beispielsweise grundsätzlich auf eine tarifliche Kurzarbeitsklausel berufen. Praktische Bedeutung kann hier ferner der Grundsatz erlangen, daß das Vertrauen auf den Fortbestand einer Rechtslage geschützt wird5 und daß die Nichtbeseitigung eines Scheintatbestandes seiner Schaffung gleichsteht.6 Daher können z. B. gutgläubige Arbeitnehmer die Rechte aus einem neu abgeschlossenen Tarifvertrag geltend machen, wenn ein bisher tarifgebundener Arbeitgeber seinen Austritt aus dem vertragsschließenden Verband nicht bekannt gemacht hat. Freilich A. A. ohne Begründung Nikisch II § 71 II 5. Vgl. oben §§ 5 ff. 3 §§ 10 f. und die Zusammenfassung S. 150 (Ziff. 2). 4 Vgl. insbesondere die Parallele zur Problematik des Scheinkaufmanns und dazu oben § 16 I 1. 5 Vgl. oben §§ 12 f. 6 Vgl. unten § 38 III 8. 1 2
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wird sich hier nur verhältnismäßig selten der Nachweis führen lassen, daß der Gutgläubige im Vertrauen auf die Fortdauer der Tarifgebundenheit irgendeine „Disposition“ getroffen, z. B. einen Betriebswechsel unterlassen hat. Schafft ein Arbeitnehmer den Rechtsschein, daß er nicht tarifgebunden ist, verneint er also z. B. wahrheitswidrig die Frage des Arbeitgebers nach seiner Gewerkschaftszugehörigkeit, so geht er dadurch seiner tariflichen Rechte nicht verlustig. Dies folgt sinngemäß aus dem Verbot eines Verzichts und dem Ausschluß der Verwirkung nach § 4 IV TVG. 2. In Rechtsprechung und Schrifttum findet sich häufig die Bemerkung, die fehlende Tarifgebundenheit könne nicht durch die Berufung auf Treu und Glauben ersetzt werden.7 Wenn auch die Fälle, anläßlich derer dieser Satz ausgesprochen wurde, i. E. richtig entschieden sind,8 so kann dieser Ansicht doch in solcher Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. Gerade im Arbeitsrecht ist eine derartige [264] Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 242 BGB nicht verständlich und nicht gerechtfertigt. Daher kann auch das Fehlen der Tarifgebundenheit gemäß § 242 BGB unerheblich sein. Insbesondere kann der Arbeitgeber, der den Eindruck erweckt hat, er werde trotz fehlender Tarifgebundenheit die tariflichen Rechte gewähren, oder der dies längere Zeit hindurch vorbehaltlos getan hat, auf Grund des Verbots widersprüchlichen Verhaltens bzw. nach den Grundsätzen der „Erwirkung“ gebunden sein.9 II. Rechtsscheinhaftung und „stillschweigende“ Betriebsratsbeschlüsse Im Betriebsverfassungsrecht spielt der Vertrauensgedanke vor allem in der Diskussion um die Problematik der „stillschweigenden“ Betriebsratsbeschlüsse eine Rolle. Es geht hier um Fälle, in denen zwar kein förmlicher Beschluß des Betriebsrats vorliegt, in denen dessen Vorsitzender oder dessen übrige Mitglieder aber gleichwohl durch ihr Verhalten, insbesondere auch durch ihr Schweigen in irgendeiner Weise den Eindruck hervorgerufen haben, sie seien mit bestimmten Maßnahmen des Arbeitgebers einverstanden. Hier mit der Konstruktion eines konkludenten oder „stillschweigenden“ Betriebsratsbeschlusses zu arbeiten, wie das ein rechtsgeschäftlicher Lösungsversuch voraussetzen würde, ist nicht möglich; denn ein solcher Beschluß kann nur in einem „förmlichen“ Verfahren, insbeson7 Vgl. LAG Düsseldorf AP 51 Nr. 211; LAG Kiel WAR 52 Nr. 76; LAG Hamm RdA 52, 160; LAG Hamburg AP 53 Nr. 159; Nipperdey II 1 § 23 B I 1; Nikisch § 71 II 5 Fn. 25; HueckNipperdey-Stahlhacke § 3 TVG Rdz. 2. 8 Richtig ist insbesondere, daß nicht schon der Gleichbehandlungsgrundsatz die Gleichstellung tarifgebundener und nichtgebundener Arbeitnehmer gebietet. 9 Vgl. dazu allgemein unten §§ 27 ff. und 31 f.
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dere nur in einer gemeinsamen, ordnungsgemäß einberufenen Sitzung erfolgen.10 Es bleibt daher wieder nur der Rückgriff auf die Vertrauenshaftung. 1. Ein Teil der einschlägigen Fälle läßt sich mit den Mitteln der Rechtsscheinhaftung lösen. Dies gilt sowohl dann, wenn der Schein einer wirksamen Bevollmächtigung des Betriebsratsvorsitzenden zum Abschluß der fraglichen Vereinbarung mit dem Arbeitgeber entstanden ist,11 als auch dann, wenn der Schein hervorgerufen wurde, der Betriebsrat habe in der Sache selbst einen bestimmten Beschluß gefaßt und die Erklärungen seines Vorsitzenden stimmten damit überein.12 Das folgt ohne weiteres aus den allgemeinen Prinzipien der Rechtsscheinhaftung, wie sie im zweiten Abschnitt entwickelt wurden. Gewisse Besonderheiten ergeben sich nur insofern, als die Zurechnungsvoraussetzungen hier, wie auch sonst bei der „Haftung“ eines [265] Gremiums,13 bei der Mehrheit der Betriebsratsmitglieder erfüllt sein müssen.14 Es kommt also darauf an, ob diese das Auftreten des Vorsitzenden gekannt und geduldet und so wissentlich den Rechtsschein hervorgerufen hat; das bloße Kennenmüssen genügt dagegen nicht,15 da es der Kenntnis entgegen der h. L. grundsätzlich nicht gleichzustellen ist16 und die besonderen Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise trotz Unkenntnis des Scheintatbestandes gehaftet wird, bei den Betriebsratsmitgliedern nicht vorliegen können.17 2. In einer Reihe von Fällen versagt die Rechtsscheinhaftung allerdings. Dabei ist nicht nur daran zu denken, daß die soeben genannten Zurechnungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Vielfach wird es vielmehr schon am Vorliegen eines „objektiven Scheintatbestandes“ fehlen; das ist z. B. dann anzunehmen, wenn in der fraglichen Angelegenheit eine Bevollmächtigung des Betriebsratsvorsitzenden
10 Vgl. dazu z. B. G. Hueck RdA 62, 379; Adomeit RdA 63, 263 ff. und BB 67, 1107; Dietz, Komm. zum BetrVG, 4. Aufl. 1967, § 32 Rdz. 11a und § 56 Rdz. 54 sowie RdA 68, 441; Fitting-Kraegeloh-Auffarth, 9. Aufl. 1970, § 52 Rdz. 38; Blomeyer BB 69, 104. Zum verwandten Problem „stillschweigender“ Aufsichtsratsbeschlüsse vgl. die (ablehnende) Rechtsprechung des BGH BGHZ 10, 187 (194); 41, 271 (286); WM 60, 803 (805); 61, 569 (574); zur Rechtslage im Vereinsrecht vgl. unten § 31 II 2. 11 Vgl. dazu Herschel RdA 59, 81 (83 f.); Gester AuR 59, 326 (328); Dietz RdA 68, 439 (441 f.); Hueck-Nipperdey II 2 § 59 B II 2; aus der Rechtsprechung vor allem BAG AP Nr. 1 zu § 14 AZO. 12 Vgl. auch Dietz aaO. S. 442 unter III. 13 Vgl. unten S. 459. 14 Ebenso Dietz aaO. S. 442 unter 4. 15 Anders, vom Standpunkt der h. L. aus folgerichtig, Dietz aaO. S. 441 f. 16 Vgl. oben §§ 4 III, 5 IV, 20 II. 17 Vgl. dazu die Verknüpfung mit dem kaufmännischen Betriebsrisiko oben § 20 II; ein entsprechendes Organisationsrisiko gibt es im Verhältnis zwischen den Mitgliedern und dem Vorsitzenden des Betriebsrats nicht – ganz abgesehen davon, daß auch die gesetzlichen Schutzzwecke im Betriebsverfassungsrecht gegen eine Ausdehnung der Haftung auf den Fall der Unkenntnis sprechen.
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gar nicht möglich ist18, 19 oder wenn die Betriebsratsmitglieder nicht den Eindruck eines förmlichen Beschlusses hervorgerufen, sondern nur „formlos“ ihr Einverständnis kundgetan oder die „Übung“ entwickelt haben, bestimmte Maßnahmen des Arbeitgebers „stillschweigend“ hinzunehmen.20 Dann ist ergänzend die „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“ heranzuziehen.21 Auch bei dieser muß freilich der Vertrauenstatbestand der Mehrheit der Betriebsratsmitglieder zurechenbar sein, doch genügt hier grundsätzlich jedes beliebige Zurechnungskriterium,22 so daß eine Haftung auch bei Unkenntnis vom Auftreten des Vorsitzenden in Betracht kommt. Dafür sind insoweit wesentlich strengere Anforderungen an die „Vertrauensinvestition“ des Arbeitgebers zu stellen: während bei der Rechtsscheinhaftung jede Disposition ausreicht, müssen hier regelmäßig besonders weitreichende und „irreversible“ Maßnahmen vorliegen, die eine „Berufung“ auf das Fehlen des Beschlusses als untragbaren Verstoß gegen Treu und Glauben, insbesondere gegen das Verbot des venire contra factum proprium, erscheinen lassen.23 [266]
18 Zu den – verhältnismäßig engen – Grenzen, die einer Stellvertretung „im Willen“ gezogen sind, vgl. statt aller Nipperdey § 59 B II 2 m. Nachw. in Fn. 8 a. 19 Es liegt dann eine „inhaltliche“ Einwendung vor, vgl. allgemein unten § 39 III 2. 20 Vorwiegend Fälle dieser Art hat offenbar Blomeyer aaO. S. 104 f. (m. Nachw.) im Auge, der freilich eine Konkretisierung des Vertrauensgedankens zu bestimmten Haftungstypen ausdrücklich als verfrüht ablehnt (S. 105 unter c). 21 Vgl. dazu allgemein unten §§ 27 ff.; speziell zur Übung §§ 31 II und III, 32 III. 22 Vgl. unten S. 517 f. 23 Vgl. allgemein unten § 40 III 1 und § 43 II.
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Zweites Kapitel Die Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit gemäß § 242 BGB Die Rechtsscheinhaftung trägt vorwiegend der „generalisierenden“, am Zweck des Verkehrsschutzes ausgerichteten Tendenz1 des Vertrauensgedankens Rechnung. Dieser hat daneben aber auch noch eine „individualisierende“, stärker auf die Verwirklichung rechtsethischer Postulate zielende Tendenz,1 und es fragt sich daher, ob nicht auch dieser eine spezifische Form des „positiven Vertrauensschutzes“ - d. h. insbesondere der „Erfüllungshaftung“2 – zugeordnet werden kann. Diese Frage stellt sich um so dringlicher, als die Rechtsscheinhaftung, wie im Verlauf der bisherigen Erörterungen immer wieder deutlich geworden ist, durchaus nicht in allen Fällen schützenswerten Vertrauens eingreift, als es andererseits aber auch keineswegs von vornherein sicher ist, daß insoweit ausnahmslos mit der zweiten, der „negativen“ Form des Vertrauensschutzes2 – d. h. vor allem mit Schadensersatzansprüchen – zu einer angemessenen Lösung zu kommen ist. Das wird besonders gut deutlich an der Problematik des Vertrauens auf die Wirksamkeit eines nichtigen Rechtsgeschäfts: die Rechtsscheinhaftung gewährleistet hier lediglich den Schutz Dritter (nach den Regeln über den „Einwendungsausschluß“3), versagt aber, soweit es um den Schutz der an dem Rechtsgeschäft beteiligten Parteien geht, obwohl auch deren Vertrauen nicht ohne weiteres als schutzunwürdig angesehen werden kann. Prüft man nun, welche Lösungsmöglichkeiten das geltende Recht insoweit bereitstellt, so stößt man in der Tat nicht nur auf Schadensersatzansprüche – die, etwa nach den §§ 122, 179 II BGB oder nach den Regeln über die culpa in contrahendo, allerdings primär in Betracht kommen –, sondern auch auf Fälle der „Erfüllungshaftung“: es wird dem einen Teil u. U. mit Hilfe einer „Arglisteinrede“ gemäß § 242 BGB verwehrt, sich seinem Partner gegenüber auf die Unwirksamkeit des Vertrages zu „berufen“ – und das führt i. E. zur Aufrechterhaltung des Geschäfts, also zur Gewährung von Erfüllungsansprüchen; der Hinweis auf die „Arglisteinrede“ gegenüber Formmängeln genügt, um das zu veranschaulichen. Damit ist ein neuer positivrechtlicher Ansatzpunkt für die Lehre von der Vertrauenshaftung in den Blick gekommen, der sich als fruchtbar und erweiterungsfähig erweisen könnte. Denn § 242 BGB steht unzweifelhaft in engstem Zusammenhang mit dem Vertrauensgedanken – Institute wie die culpa in contrahendo, das Verbot des venire contra factum proprium und die Lehre von der Verwirkung, die anerkanntermaßen sowohl Konkretisierungen des VertrauensgeVgl. dazu schon oben S. 6. Zur Terminologie vgl. oben § 2 II. 3 Vgl. oben §§ 10 f. 1 2
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dankens als auch der [267] Grundsätze von Treu und Glauben darstellen,4 beweisen das ohne weiteres –, und er kommt zugleich dessen „individualisierender“, rechtsethisch geprägter Tendenz besonders entgegen. Freilich drängt sich sogleich auch ein Einwand auf: § 242 BGB wird, wie das auch die soeben erwähnten Rechtsinstitute deutlich machen, herkömmlicherweise zwar als Grundlage von Nebenpflichten und entsprechenden Schadensersatzansprüchen sowie von Einreden oder Einwendungen angesehen, nicht dagegen als Grundlage von Hauptleistungspflichten und damit von Erfüllungsansprüchen – und nur um diese geht es bei der Problematik des hier zu erörternden „positiven“ Vertrauensschutzes ja. Indessen zeigt schon das bereits angeführte Beispiel der Aufrechterhaltung formnichtiger Verträge über § 242 BGB, daß ein solch enges Verständnis der Funktionen von Treu und Glauben durch die Rechtsentwicklung längst überholt ist; denn genau genommen wird hier ein an sich nicht gegebener Erfüllungsanspruch auf dem Wege über § 242 BGB begründet, mag man sich den Blick auf diese Einsicht auch lange Zeit durch die Konstruktion einer „Arglisteinrede“ gegen die „Berufung“ auf den Formmangel versperrt haben – eine Scheinbegründung, die, wie heute nicht mehr bestritten wird, unhaltbar ist, weil der Formmangel von Amts wegen zu beachten ist und weil es daher einer „Berufung“ auf ihn nicht bedarf, so daß eine „Einrede“ gegen diese ins Leere geht. Kann aber die Nichteinhaltung der Form über § 242 BGB überwunden werden, so muß das für die übrigen Mängel eines Rechtsgeschäfts grundsätzlich ebenfalls gelten,5 da die Schutzzwecke der zugrunde liegenden Nichtigkeitsnormen regelmäßig nicht schwerer wiegen als die Formzwecke. Dem entspricht denn auch die Praxis der Gerichte: diese wendet § 242 BGB gegenüber nahezu sämtlichen Nichtigkeits- und Unwirksamkeitsgründen an.6 Wenn dies auch überwiegend noch im veralteten Gewand der „Arglisteinre4 Zur Ableitung aus dem Vertrauensgedanken vgl. hinsichtlich der culpa in contrahendo statt aller Ballerstedt AcP 151, 501; hinsichtlich des Verbots widersprüchlichen Verhaltens Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, S. 28 und die Nachw. unten S. 287 Fn. 2; hinsichtlich der Verwirkung Enn.-Nipperdey § 228 IV 2 und die Nachw. unten S. 372 Fn. 5. 5 Vgl. auch Siebert-Knopp § 242 Rdzn. 362 ff.; Staudinger-Weber § 242 Rdzn. D 466 ff., jeweils m. Nachw.; vgl. ferner schon Tasche JherJb. 90, 101 ff., dessen Ausführungen freilich z. T. sehr zeitgebunden sind (vgl. z. B. S. 127) und auch dogmatisch wegen der verfehlten Anknüpfung an die c. i. c. (S. 117 ff., 120 f.) nicht zu überzeugen vermögen. 6 Vgl. zum Fehlen der Geschäftsfähigkeit BGHZ 44, 367 (371 f.); anders noch RG DR 1944, 728 (729); vgl. dazu unten § 26 II 2 und § 28 IV; zum fehlgeschlagenen Scheingeschäft RGZ 168, 204 (205 f.) und dazu unten § 28 X Fn. 101; zur Verspätung des Zugangs RGZ 58, 406 (408); BGH LM Nr. 1 zu § 130 BGB und dazu unten § 28 IX 1; zur Sittenwidrigkeit RG JW 1917, 460; anders RG DR 1939, 930; vgl. dazu unten § 28 XI mit Fn. 106; zur Teilnichtigkeit RGZ 86, 323 (325 f.); RG SeuffArch. 82 Nr. 40 (S. 71) und dazu unten § 28 V; zum offenen Dissens BGH LM Nr. 2 zu § 154 BGB und dazu unten § 28 VII; zum Fehlen der Vertretungsmacht BGH WM 60, 803 (805); BAG AP Nr. 1 zu § 242 BGB Geschäftsgrundlage (Larenz); OLG Celle MDR 51, 612 und dazu unten §§ 28 I und 31 I 2; zum Fehlen der Genehmigung BGH LM Nr. 3 zu § 1829 BGB und dazu unten § 31 I 2 (mit Fn. 7); zu Fälschung und Verfälschung RGZ 126, 223 (225); BGHZ 47, 110 (113);
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de“ geschieht, so kann doch kein Zweifel daran [268] bestehen, daß es sich hier der Sache nach um eine neue und selbständige Funktion des § 242 BGB handelt: dieser dient heute in der Tat ganz allgemein als Grundlage von Hauptleistungspflichten und Erfüllungsansprüchen. Von welch weittragender praktischer und dogmatischer Bedeutung diese Erkenntnis ist, wird erst dann völlig klar, wenn man sich bewußt macht, daß auf diese Weise nicht nur Einwendungen zu Fall gebracht, sondern auch anspruchsbegründende Tatsachen „ersetzt“ werden können. Wieder verdeutlicht das schon das Beispiel des Formmangels, da es bei diesem keineswegs um eine bloße Einwendung, sondern um das Fehlen einer Anspruchsvoraussetzung geht,7 und vollends beweiskräftig sind insoweit der offene Dissens und die Fälschung, denen gegenüber die Rechtsprechung ebenfalls u. U. eine „Arglisteinrede“ gewährt.8 Vom Verzicht auf eine Anspruchsvoraussetzung, insbesondere vom Verzicht auf die vertragliche Einigung wie beim Dissens und bei der Fälschung aber ist es nur noch ein verhältnismäßig kleiner Schritt zum Verzicht auf jeden rechtsgeschäftlichen Begründungsakt überhaupt – und der Hinweis auf die „Hofübergabeentscheidungen“ des BGH9 zeigt, daß sich die Rechtsprechung in der Tat nicht gescheut hat, diesen zu tun. So entsteht eine kontinuierliche Reihe von der echten Arglisteinrede gegen Ansprüche und Gestaltungsrechte über die scheinbare „Arglisteinrede“ gegen Einwendungen und die vollends fiktive „Arglisteinrede“ gegen das Fehlen von Anspruchsvoraussetzungen bis hin zur Ersetzung des Vertragsschlusses über § 242 – aus geringfügigen Ansätzen eine auf den ersten Blick beinahe ungeheuerliche Konsequenz, die ja denn auch im Falle der Hofübergabeentscheidungen zu geradezu empörter Kritik an der Rechtsprechung geführt hat.10 Indessen fragt sich gleichwohl, ob dieser Entwicklung nicht doch mehr als eine nur scheinbare und vordergründige Folgerichtigkeit zukommt. Denn so zwingend die Beschränkung der „Arglisteinrede“ auf eine rechtsvernichtende Funktion und so widersinnig dementsprechend ihre Verkehrung zu einem Mittel der Rechtsbegründung konstruktiv gesehen ist, so wenig überzeugend sind andererseit die sich daraus ergebenden Folgen teleologisch betrachtet. Oder wäre es etwa wertungsmäßig einleuchtend, zwar die Einrede der Verjährung über § 242 BGB zu BGH LM Nr. 2 zu Art. 7 WG und dazu unten § 28 II; zum unwirksamen Widerruf wechselbezüglicher Verfügungen BGH DNotZ 58, 495 (497) und dazu unten § 28 XII; vgl. inzwischen auch noch BGH JZ 70, 504 (506) zur Gesetzeswidrigkeit und dazu unten § 28 XI Fn. 107 a. 7 Vgl. statt aller Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 252 f. (253), der den Formmangel mit Recht im Zusammenhang der Problematik des Zustandekommens eines Rechtsgeschäfts behandelt. 8 Vgl. die Nachw. in Fn. 6. 9 Grundlegend BGHZ 12, 286; 23, 249; vgl. näher unten § 30 II 1. 10 Repräsentativ Wieacker DNotZ 56, 115 ff. und FamRZ 57, 287 ff.; vgl. dazu näher unten S. 362.
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Fall zu bringen, wenn z. B. der Gläubiger den Schuldner über die Länge der Frist getäuscht oder ihn durch seine Verhandlungsbereitschaft von der rechtzeitigen Klageerhebung abgehalten hat, aber entgegengesetzt zu entscheiden, wenn das gleiche im Falle einer Ausschlußfrist geschehen ist? Und ließen sich mehr als vordergründig [269] positivistische Argumente anführen, um zu rechtfertigen, daß sich der Irrende im Falle des § 119 BGB unverzüglich erklären muß, will er nicht gemäß § 121 BGB sein Anfechtungsrecht „verwirken“, daß er sich dagegen nach Wortlaut und System des Gesetzes im eng verwandten Fall des § 118 BGB noch beliebig lange nach der Entdeckung des Irrtums auf diesen und die dadurch entstandenen Rechtsfolgen berufen kann?11 Ist es ferner teleologisch gesehen wirklich sinnvoll, zwar dem Anspruch aus § 812 BGB auf Rückauflassung oder gar aus § 985 BGB auf Rückgabe eines Grundstücks u. U. mit der „Arglisteinrede“ zu begegnen, die Klage dagegen abzuweisen, wenn umgekehrt bei im übrigen gleicher Sachlage der Käufer Erfüllung des – an sich nichtigen – Kaufvertrages begehrt? Und läßt es sich schließlich, um ein letztes Beispiel zu nennen, wertungsmäßig vertreten, daß zwar der Gläubiger seinen Anspruch verliert, wenn er etwa dem Schuldner dessen Bestehen verheimlicht und dieser sich darauf „einrichtet“, daß er aber den (vermeintlichen) Anspruch nicht erwirbt, wenn umgekehrt ihm der Schuldner diesen vorspiegelt und er seinerseits im Vertrauen darauf irgendwelche Dispositionen vornimmt? Warum soll es also zwar eine Verwirkung, aber keine Erwirkung von Ansprüchen geben – zumal das BGB für dingliche Rechte im Institut der Ersitzung ja eine analoge Möglichkeit kennt? Freilich darf man nun auch nicht vorschnell behaupten, die Beispiele wiesen keinerlei wertungsmäßig relevante Unterschiede auf und müßten deshalb unter allen Umständen in gleicher Weise entschieden werden. Vielmehr ist zuzugeben, daß z. B. hinter dem für die beiden ersten Fälle wesentlichen Gegensatz von Einrede und Einwendung bzw. von Vernichtungsrecht und ipso-iure-Nichtigkeit eine wohldurchdachte und durchaus sinnvolle gesetzgeberische Wertung stehen kann; denn dabei geht es um die Frage, ob der Eintritt einer bestimmten Rechtslage allein vom Belieben der Parteien abhängen soll oder ob der Gesetzgeber selbst die fragliche Entscheidung ein für allemal treffen wollte, und deren Beantwortung kann sich z. B. danach richten, ob nicht nur Parteiinteressen, sondern auch Drittinteressen bzw. sogar allgemeine Rechtswerte berührt sind oder ob vielleicht die betreffende Partei gerade vor ihrer eigenen Entscheidung geschützt werden muß – also nach Kriterien, die im vorliegenden Zusammenhang von maßgeblicher Bedeutung sein können und z. T. die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse in der Tat zu rechtfertigen vermöchten. Indessen liegen nicht immer 11 Die Frage läßt sich nicht etwa mit dem Hinweis beantworten, die in § 118 statuierte Nichtigkeitsfolge sei rechtspolitisch verfehlt; denn die unterschiedliche Regelung der §§ 119 und 118 ist durchaus folgerichtig und nicht sachwidrig, vgl. unten § 33 II 2 und § 34 I 6 sowie insbesondere S. 550 f.
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diese oder ähnliche Gesichtspunkte zugrunde; oft ist vielmehr der Unterschied zwischen der Gewährung eines Gegenrechts einerseits und der Statuierung einer Einwendung oder einer Anspruchsvoraussetzung andererseits mehr rechtstechnischer als rechtsethischer Art, und jedenfalls ist er häufig nicht im Hinblick auf die hier aufgeworfene Problematik, sondern mit Bezug auf ganz andere Fragen, insbesondere auf solche der Beweislast, konzipiert. Die hinter den konstruktiven Unterschieden stehenden Wertungen [270] vermögen daher zwar vielleicht in einem Teil der Fälle die Verschiedenheit der Ergebnisse zu rechtfertigen, können aber keinesfalls für deren Gesamtheit und für die grundsätzliche Fragestellung eine ausreichende Erklärung einer so einschneidenden gegensätzlichen Behandlung rechtfertigen. Es kommt hinzu, daß sie in anderen Fällen wie etwa in den beiden letztgenannten Beispielen überhaupt keine Rolle spielen. Für diese hat nun allerdings GERNHUBER einen anderen, tiefer ansetzenden Erklärungsversuch unternommen.12 Er hat nämlich in Anknüpfung an § 817 S. 2 BGB darauf hingewiesen, daß „ein dem Recht an sich nicht entsprechender Zustand sich eher aufrechterhalten als schaffen läßt“. Nun ist zwar diesem Topos sicherlich eine gewisse Überzeugungskraft nicht abzusprechen, doch trägt er seine Widerlegung schon in sich selbst: Gernhuber sagt mit Recht, der Zustand ließe sich „eher“ aufrechterhalten als schaffen, nicht aber, er ließe sich zwar aufrechterhalten, aber keinesfalls schaffen, und daher führt dieser Gedanke folgerichtig nur zu der – in der Tat zutreffenden – Konsequenz, daß für die Anspruchsbegründung aus § 242 strengere Voraussetzungen aufzustellen sind als für den Rechtsverlust, nicht aber zu dem Schluß, daß jene überhaupt abzulehnen ist. Allerdings muß die im Hintergrund der Lehre Gernhubers stehende Sorge vor einer konturlosen Billigkeitsrechtsprechung und vor einer Auflösung des bürgerlichrechtlichen Anspruchssystems durch „freie“ richterliche Rechtsgestaltung äußerst ernst genommen werden, geht es hier doch um fundamentale Grundwertungen unserer Rechtsordnung und insbesondere um die Respektierung des Grundsatzes der Privatautonomie. Indessen nötigt auch das nicht zu einem völligen Verzicht auf den Versuch, aus § 242 BGB neue Anspruchsgrundlagen zu entwickeln, sondern nur zu einer besonders starken „rechtstheoretischen Präzisierung“ dieser Rechtsfiguren und zu einer sorgfältigen Abstimmung mit der Rechtsgeschäftslehre.13 – Alles in allem erweist sich somit der Gedanke, § 242 BGB zur Grundlage von Erfüllungsansprüchen auszubauen und die im Institut der „Arglisteinrede“ zusammengefaßten Rechtsgedanken entsprechend weiterzuentwickeln, als wer12 Vgl. Festschrift für Schmidt-Rimpler, 1957, S. 165; ähnlich BGHZ 29, 6 (11); BGH WM 64, 482 (486); Flume § 15 III 4 c ff. = S. 287 (jeweils zur Problematik der Formnichtigkeit). 13 Daß der Grundsatz der Privatautonomie es nicht etwa generell verbietet, auch ohne rechtsgeschäftliche Grundlage zu denselben Rechtsfolgen zu kommen wie bei Vorliegen eines wirksamen Vertrages, beweisen schon die im vorigen Kapitel entwickelten Grundsätze der Rechtsscheinhaftung hinreichend; vgl. dazu im übrigen unten § 34 III.
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tungsmäßig folgerichtig und als grundsätzlich mit dem geltenden Recht nicht unvereinbar. Das heißt nun allerdings noch nicht ohne weiteres – und damit kehrt die Erörterung zu der eingangs aufgeworfenen Fragestellung zurück –, daß diese Problematik ganz oder auch nur teilweise in den Zusammenhang der Vertrauenshaftung gehört. Das hängt vielmehr davon ab, ob die hinter der „Arglisteinrede“ stehenden Prinzipien Ausprägungen des Vertrauensgedankens sind oder ob sie wenigstens zu ihrer Ergänzung der Verbindung mit diesem bedürfen. Das erstere trifft nun in der [271] Tat für das Verbot des venire contra factum proprium zu, das WIEACKER mit Recht als „eine Anwendung der Sätze vom ,Vertrauen im Rechtsverkehr‘“ bezeichnet hat,14 und dasselbe gilt auch hinsichtlich des der „Verwirkung“ zugrundeliegenden – und hier zur „Erwirkung“ weiterzuentwickelnden – Rechtsgedankens, der entweder mit dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens überhaupt identisch ist oder doch zumindest eine eng verwandte Form des Vertrauensschutzes darstellt.15 Nicht von vornherein von diesem geprägt sind dagegen die übrigen die „Arglisteinrede“ begründenden Prinzipien16 wie die Regeln über den „dolus praeteritus“, das Verbot der Berufung auf eigenes Unrecht, die Unzulässigkeit des „inciviliter agere“, die Maxime „dolo agit qui petit quod redditurus est“ usw., und bei diesen ist daher zu fragen, ob sie, was die Problematik der Anspruchsbegründung betrifft, eine Verbindung mit dem Vertrauensgedanken eingehen. Dies ist nun in der Tat, wie noch zu zeigen sein wird,17 hinsichtlich des dolus praeteritus der Fall, und es lassen sich somit aus der Weiterbildung des Instituts der „Arglisteinrede“ insgesamt drei verschiedene Typen der Vertrauenshaftung entwickeln: die „Vertrauenshaftung kraft dolosen Verhaltens“, die „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“ und die „Erwirkung“. Da sie ihr charakteristisches Gepräge durch die Anknüpfung an die dem § 242 BGB zugrunde liegenden traditionellen Maximen der Rechtsethik erhalten und sich dadurch insbesondere von der primär am Gedanken des Verkehrsschutzes orientierten Rechtsscheinhaftung unterscheiden, werden sie hier terminologisch unter dem Obergriff der „Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit“ zusammengefaßt – wobei in dem Wort „Notwendigkeit“ zugleich die bereits angedeuteten und im weiteren Verlauf der Erörterungen immer wieder zu betonenden engen Grenzen dieses Haftungsinstituts anklingen sollen. Was die übrigen der „Arglisteinrede“ zugrunde liegenden Rechtsgedanken betrifft, so hat sich, soweit ersichtlich, bisher noch keine Möglichkeit finden lassen, diese mit dem Vertrauensgedanken zu selbständigen Anspruchsgrundlagen aaO. (Fn. 4) S. 28; weitere Nachw. unten S. 287 Fn. 2. Vgl. die Nachw. unten S. 372 Fn. 5. 16 Vgl. z. B. die Zusammenstellungen bei Wieacker aaO. S. 27 ff. und bei Siebert-Knopp § 242 Rdzn. 187–267. 17 Vgl. unten §§ 25 f., insbesondere § 25 II 1. 14 15
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zu verbinden. Das muß nicht unbedingt bedeuten, daß nicht auch ihnen anspruchsbegründende Funktion zukommen könnte, doch gehört die Problematik insoweit dann in andere dogmatische Zusammenhänge18 und nicht zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Immerhin sei wenigstens angedeutet, daß es bei einigen von ihnen wie z. B. bei der Maxime „dolo agit qui petit quod redditurus est“ von vorn- [272] herein höchst zweifelhaft erscheint, ob sie überhaupt als Ansatzpunkt für die Entwicklung einer Anspruchsgrundlage in Betracht kommen;19 denn sie enthalten z. T. keinen Rechtsgedanken, der im geltenden Recht als „Haftungsgrund“ anerkannt ist,20 und ein solcher ist für die Statuierung von Erfüllungsansprüchen grundsätzlich unerläßlich.21 Bei anderen Prinzipien wie dem Verbot der Berufung auf eigenes Unrecht oder des inciviliter agere besteht zwar dieses Bedenken nicht, doch ist insoweit zweifelhaft, ob einer Weiterbildung zur selbständigen Anspruchsgrundlage nicht bestimmte Wertungen des Gesetzes entgegenstehen; so fragt sich z. B. bei ersterem, ob hier nicht die Schadensersatz18 Daß die Begründung von Hauptleistungspflichten aus § 242 BGB dadurch mehreren systematischen Kategorien zuzuordnen wäre, kann für ein teleologisch orientiertes Systemdenken nicht störend sein; hinter dieser Vorschrift stehen eben verhältnismäßig verschiedenartige Rechtsgedanken, und so finden sich denn ja auch im Bereich der (echten) Arglisteinrede sowohl Tatbestände, die in die Vertrauenslehre einzuordnen sind, als auch solche, auf die das nicht zutrifft. 19 Hinsichtlich dieser letzteren ist es überdies kaum vorstellbar, daß sie, zu einer anspruchsbegründenden Regel umformuliert, irgendeinen Anwendungsbereich hätte. Sie müßte dann nämlich etwa lauten: arglistig handelt, wer etwas verweigert, zu dessen Gewährung er sich alsbald wird verpflichten müssen. Die Lage müßte also so sein, daß hinsichtlich der eingeforderten Leistung zwar keine Verpflichtung besteht, wohl aber eine Verpflichtung, jene Verpflichtung zu begründen. Ist dem aber so, dann ist wohl entweder doch eine unmittelbare Verpflichtung zur Gewährung der Leistung gegeben, oder aber die Zwischenschaltung eines weiteren Geschäfts hat ihren guten Sinn. Letzteres ist z. B. ohne weiteres hinsichtlich des Vorvertrages anzunehmen, weil hier noch bestimmte Nebenpunkte geregelt werden müssen, mag auch eine Verpflichtung zur Begründung einer Verpflichtung hinsichtlich der Hauptleistung schon bestehen. Auch beim Kontrahierungszwang muß durch den zwischengeschalteten Vertrag – abgesehen von u. U. möglichen Modifikationen und Nebenabreden – zumindest ein Anspruch auf die Gegenleistung begründet werden; sieht man dies anders und will man deshalb einen unmittelbaren Anspruch auf die fragliche Leistung gewähren, so handelt es sich doch jedenfalls nicht um ein Problem des § 242 BGB, sondern um ein solches einer sachgemäßen Ausformung der Regeln über den Kontrahierungszwang. – Am ehesten ließe sich in diesen Zusammenhang vielleicht noch die Umbildung der Regeln über die Wandlung einordnen, wonach der Käufer unmittelbar auf Rückzahlung des Kaufpreises klagen kann und es dem Verkäufer i. E. verwehrt ist, sich gegenüber diesem Anspruch auf die Notwendigkeit des vorherigen Abschlusses eines Wandlungsvertrages zu berufen; indessen dürften auch hier die dazu entwickelten Theorien wie die modifizierte Vertragstheorie und die Herstellungstheorie die problemgerechteren und sachnäheren Lösungen darstellen, so daß für einen Rückgriff auf eine aus § 242 BGB abgeleitete Maxime weder Raum noch Bedürfnis besteht. 20 Das gilt übrigens auch für das Verbot des dolus praeterius, und eben darum bedarf dieses der Verbindung mit dem Vertrauensgedanken, um anspruchsbegründend wirken zu können, vgl. näher unten § 25 II 1 a. A. = S. 277. 21 Vgl. allgemein unten § 37 I 2.
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ordnung mit ihren festumrissenen Tatbestandsmerkmalen – wie z. B. der Notwendigkeit des Kausalitäts- und u. U. des Verschuldensbeweises, des Schadensnachweises usw. – die Rechtsfolgen abschließend festlegt22 und ob daher nicht die Gewährung von Erfüllungsansprüchen – außerhalb des Bereichs der Sonderregelung von § 162 BGB23 – unzulässig ist, und ähnlich erscheint es hinsichtlich des „inciviliter agere“ sehr zweifelhaft, ob daraus weitergehende Ansprüche abgeleitet werden dürfen als aus § 826 BGB bzw. aus [273] dem zugrunde liegenden, gegebenenfalls nach § 157 BGB zu ergänzenden Vertrag. Indessen sind dies keine zwingenden Einwände, und es mag daher durchaus sein, daß auch hier noch fruchtbare Möglichkeiten einer Rechtsfortbildung liegen. Ein besonders großes praktisches Bedürfnis scheint dafür allerdings nicht zu bestehen, da sich die Fälle, in denen die Rechtsprechung bisher Erfüllungsansprüche aus § 242 BGB gewährt hat, nahezu ausnahmslos mit Hilfe der genannten Tatbestände der Vertrauenshaftung bewältigen lassen24 oder aber ohne Rückgriff auf Treu und Glauben – z. B. mit den Mitteln der Auslegung oder der Restriktion25 – zu lösen sind.
22 Nicht unbedenklich daher J. Prölss ZHR 132, 59, der ersichtlich auf das Verschuldenserfordernis verzichten will und der überdies in Fn. 84 das Kausalitätserfordernis nicht genügend berücksichtigt (vgl. dazu unten § 25 I 4). 23 Zu dieser vgl. auch unten § 42 II 3 bei und in Fn. 30. 24 Im übrigen darf man nicht vergessen, daß, zumal im Bereich des § 242 BGB, schließlich auch Fehlurteile vorkommen können, denen gegenüber jeder Versuch einer „rechtstheoretischen Präzisierung“ von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Dies dürfte z. B. für die Entscheidung BGHZ 14, 313 gelten, in der die verschiedensten Gesichtspunkte, insbesondere solche vertrauens-, bereicherungs- und vollstreckungsrechtlicher Art, auf diffuse Weise vermischt werden und in der insgesamt kein tragfähiger Rechtsgedanke sichtbar wird (ablehnend auch G. und D. Reinicke NJW 55, 533 f. und Ballerstedt FamRZ 55, 200 ff.; zustimmend freilich Lehmann JZ 55, 159 f.); jedenfalls lagen entgegen der Ansicht des BGH (vgl. S. 318) die Voraussetzungen einer Vertrauenshaftung nicht vor (überzeugend Reinicke S. 533 Sp. 2). 25 Lediglich hierum handelt es sich der Sache nach regelmäßig, wenn die Rechtsprechung eine „Arglisteinrede“ gegen die „Berufung“ auf Vorschriften gewährt, die ihrerseits nur eine Konkretisierung der Grundsätze von Treu und Glauben darstellen wie z. B. bestimmte versicherungsrechtliche Verwirkungsbestimmungen; denn dann wird in Wahrheit nur der Anwendungsbereich der fraglichen Norm aus ihrer eigenen ratio legis heraus sinnvoll begrenzt, und daher hätte es z. B. in der Entscheidung BGHZ 40, 387 (389) einer Arglisteinrede nicht bedurft. – Dasselbe gilt z. B. auch gegenüber der Entscheidung BGHZ 30, 315 (322), da bei einer Erfüllungsverweigerung des Akzeptanten eine Vorlegung des Wechsels schon nach dem eigenen Zweck des Art. 34 WG nicht erforderlich ist (vgl. auch Reinicke DB 60, 347), und auch in den Fällen, in denen die Rechtsprechung eine „Arglisteinrede“ gegen die „Berufung“ auf § 139 BGB gewährt, geht es häufig um eine echte Restriktion (vgl. unten § 28 V). – Auch bei der Arglisteinrede gegen bestimmte Vertragsklauseln ist meist mit Auslegung und Restriktion zum Ziel zu kommen; insbesondere ist insoweit zu beachten, daß es zur Vermeidung von Vorstößen gegen die §§ 134, 138 BGB (bzw. bei allgemeinen Geschäftsbedingungen gegen die §§ 242, 315 BGB) die Möglichkeit einer gesetzes- bzw. sittenkonformen Auslegung oder Restriktion gibt.
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Erster Abschnitt Die Vertrauenshaftung kraft dolosen Verhaltens Der durchschlagskräftigste, weil zugleich tatbestandlich einfachste und rechtsethisch fundamentalste Rechtsgedanke aus dem Bereich der „Arglisteinrede ist der des „dolus praeteritus“. Demgemäß ist als erstes zu klären, inwieweit Arglist in diesem Sinne, also „vergangene“ Arglist, als anspruchsbegründendes Merkmal dienen kann. Diese Frage ist nun besonders häufig im Zusammenhang der Problematik formnichtiger Rechtsgeschäfte behandelt worden und soll daher zunächst hinsichtlich dieser näher untersucht werden[274] § 25 Dolus praeteritus als anspruchsbegründendes Merkmal bei formnichtigen Rechtsgeschäften Täuscht jemand seinen Geschäftspartner arglistig über die Formbedürftigkeit eines Rechtsgeschäfts oder verschweigt er ihm arglistig einen Formmangel, so haftet er ihm nach nahezu allgemeiner Ansicht auf Erfüllung.1 Wie das dogmatisch zu begründen ist, erscheint jedoch noch nicht hinreichend geklärt. I. Die wichtigsten bisherigen Erklärungsversuche 1. Versuche, die Haftung auf dem Wege über einen Schadensersatzanspruch i. V. m. § 249 BGB zu begründen, können heute als endgültig widerlegt gelten. Eine solche Konstruktion würde nämlich voraussetzen, daß ohne das arglistige Verhalten das Geschäft formgerecht zustande gekommen wäre, und ein entsprechender Nachweis ist regelmäßig nicht zu führen, da der Arglistige den Vertragsschluß meist eben nur auf Grund der Täuschungsmöglichkeit wollte und ohne diese davon Abstand genommen hätte. 2. Statt dessen sucht die h. L. die Lösung heute in einer Abgrenzung der Anwendungsbereiche von § 125 BGB einerseits und § 242 BGB anderseits. Methodisch geht sie dabei so vor, daß sie § 125 auf Grund einer einschränkenden Auslegung oder einer Restriktion für unanwendbar erklärt.2 Das ist indessen schon konstruktiv 1 Vgl. z. B. RGZ 96, 315; Gernhuber aaO. S. 170 ff. und 176 f.; Reinicke DB 67, 113 und Rechtsfolgen formwidrig abgeschlossener Verträge, 1969, S. 47 f.; Lehmann-Hübner § 31 VII 4 a; Flume § 15 III 4 c cc; Esser § 6 III 3 (S. 39); Fikentscher § 22, 11 a; Larenz A. T. § 27 I 4 b und SR I § 10 III = S. 121; Soergel-Hefermehl § 125 Rdzn 22, 24; SiebertKnopp § 242 Rdz. 340. 2 Vgl. z. B. Boehmer, Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung II 2, 1952, S. 97; SiebertKnopp § 242 Rdzn. 356 und 358; Soergel-Hefermehl § 125 Rdz. 24 a. A.; Esser § 6 III 3; Fikentscher § 22 11 a und c; Larenz Schuldrecht A. T. § 10 III (S. 121) und Methodenlehre S. 373 f.; neues-
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nicht sachgerecht; denn aus einer solchen „Zurückdrängung“ des § 125 müßte sich folgerichtig die volle Wirksamkeit des – dann ja konsequenterweise nicht formnichtigen!3 – Vertrages ergeben,4 während die Interessenlage eindeutig die Statuierung eines einseitigen Anspruchs lediglich zugunsten des Getäuschten fordert.5 Auch hat FLUME mit Recht darauf hingewiesen, daß „die Wahrung der gesetzlichen Form nicht auf einer Stufe mit den Umständen steht, in Hinsicht auf welche die Einschränkung [275] der Nichtigkeitsnorm des § 125 erwogen wird“ und daß man deshalb „die Nichtbeachtung der Form nicht durch irgendwelche Umstände unter Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben ersetzen“ kann.6 Vor allem aber ist nicht ersichtlich, worauf die von der h. L. behauptete Einschränkung des § 125 methodologisch gestützt werden soll. Aus ihrer eigenen ratio legis läßt sich die Vorschrift nämlich insoweit nicht einschränken, weil sie anerkanntermaßen die Frage, ob der Formzweck im Einzelfall erreicht oder vereitelt ist, gerade nicht erlaubt,7 und sie aus einem anderen Rechtsprinzip – hier dem des § 242 BGB – einzuschränken, führt auch nicht weiter. Denn in Wahrheit ist es doch eine bare Tautologie, § 125 nun so zu lesen, als enthielte er den Zusatz: „soweit Treu und Glauben nicht ein anderes gebieten“;8 damit ist das Ergebnis nur mit anderen Worten vorweggenommen, nicht aber geklärt, warum und unter welchen Voraussetzungen der Formmangel unbeachtlich ist. Auch gilt der „Vorrang“ des § 242 BGB nicht nur gegenüber § 125, sondern, wie oben9 bereits dargelegt wurde, auch und erst recht gegenüber allen anderen Einwendungen. Will man aber wirklich behaupten, es hätte irgendeinen erklärenden Wert, nun jede Vorschrift des BGB mit dem Zusatz zu lesen: „soweit Treu und Glauben nicht ein anderes gebieten“?10 ten auch Reinicke aaO. S. 29 ff., insbesondere S. 34 und 37; kritisch mit Recht Gernhuber aaO. S. 160 ff. und Flume § 15 III 4 c aa. 3 Vgl. auch Enn.-Nipperdey S. 959 f. m. Nachw. sowie Flume S. 282, die jedoch folgerichtig nicht die „Restriktionstheorie“ vertreten. 4 Es wäre auch kein sachgemäßer Ausweg, die h. L. insoweit mit Hilfe des Verbots der „Berufung auf eigenes Unrecht“ i. E. zu retten; denn es geht hier nicht darum, einen an sich gegebenen Anspruch ausnahmsweise über § 242 BGB zu Fall zu bringen, sondern darum, daß ein selbständiger Anspruch des Arglistigen von vornherein überhaupt nicht in Betracht kommt. 5 Richtig Flume § 15 III 4 c cc a. E.; Medicus § 8 III 2; Reinicke aaO. S. 38 f. 6 aaO. S. 278. 7 Vgl. z. B. BGH LM Nr. 23 zu § 313 BGB; Merz AcP 163, 315 f.; Flume S. 285 f.; Canaris, Die Feststellung von Lücken S. 192 m. Nachw. Zulässig ist es dagegen, die Formvorschriften für bestimmte abstrakt umschriebene Sondertatbestände – also nicht nur für konkrete Einzelfälle – aus ihrer ratio legis heraus einzuschränken; richtig daher im Grundsatz Steindorff ZHR 129, 21 ff. (30). 8 So Siebert-Knopp § 242 Rdz. 358; kritisch mit Recht Merz aaO. S. 324. 9 Vgl. S. 267 f. m. Nachw. in Fn. 6. 10 Nach Siebert-Knopp § 242 Rdzn.169 f. und 172 soll § 242 BGB grundsätzlich jede Rechtsnorm zurückdrängen können!
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3. Dementsprechend vermag auch die hinter dieser Konstruktion stehende Lehre Sieberts vom Normenmißbrauch11 hier nicht zu befriedigen. Zwar soll nicht bestritten werden, daß man nicht nur ein subjektives Recht, sondern auch andere rechtliche Institutionen wie etwa die Privatautonomie oder die juristische Person „mißbrauchen“ kann,12 doch ist mit diesem Gedanken hier nicht weiterzukommen. Denn ohne daß in diesem Zusammenhang auf die sehr schwierige Problematik des Normenmißbrauchs im einzelnen eingegangen werden kann, wird man doch jedenfalls sagen können, daß diese Lehre sinnvollerweise stets einen Vergleich mit dem entsprechenden „loyalen“ Verhalten voraussetzt. „Loyal“ aber wäre hier die Aufklärung über den Formmangel oder der Verzicht auf die Vornahme des Rechtsgeschäfts, nicht jedoch der Abschluß eines formwirksamen Vertrages; denn diesen will der Arglistige ja i. d. R. gerade nicht, und man kann ihn ihm daher auf Grund des Prinzips der Abschlußfreiheit auch nicht hypothetisch als das loyale, d. h. das eigentlich vom Recht geforderte (!) Verhalten unterstellen. In Wahrheit liegt also der [276] Verstoß des Arglistigen nicht in der „Herbeiführung“ der Formnichtigkeit, sondern in der Täuschung des anderen Teils über diese, und dementsprechend „mißbraucht“ er nicht die Norm des § 125, sondern das Vertrauen seines Partners. Auch in der späteren „Berufung“ auf die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts liegt kein Mißbrauch der Formvorschrift; denn zum einen bedarf es einer solchen „Berufung“ anerkanntermaßen überhaupt nicht, und zum anderen ist der Formmangel niemals allein deshalb irrelevant, weil er lediglich als „Vorwand“ für eine Leistungsverweigerung gebraucht wird, deren wahres Motiv mit den Formzwecken nicht in Zusammenhang steht.13 Weitere Bedenken wie etwa das, ob von einem Normenmißbrauch nicht sinnvollerweise nur dort gesprochen werden kann, wo das Gesetz bestimmte Gestaltungsmöglichkeiten (wenn auch nicht gerade in der Form des subjektiven Rechts) gewährt und ob nicht die darüber hinausgehende Ansicht Sieberts der Sache nach doch wieder in die überholte Anschauung zurückfällt, als käme es auf irgendeine Geltendmachung der Norm, eine „Berufung“ auf sie an, mögen daher hier ebenso unerörtert bleiben wie der – letztlich wohl am schwersten wiegende – Einwand, diese Lehre führe zu der Konsequenz, daß der Richter jede Gesetzesvorschrift und jedes Rechtsgeschäft inhaltlich an den Grundsätzen von Treu und Glauben statt am Willkürverbot bzw. am Verbot des Sittenverstoßes zu messen habe – also zu einer verfassungswidrigen Mißachtung sowohl der Autonomie des Gesetzgebers als auch der Privatautonomie. Vgl. aaO. Rdzn. 169 ff. Vgl. dazu auch die Unterscheidung Essers § 6 II zwischen „institutionellem“ und „individuellem“ Rechtsmißbrauch. 13 Überzeugend insoweit Flume § 15 III 4 c ee. Der Sache nach zutreffend auch die von Flume aaO. kritisierte Entscheidung BGHZ 29, 6 (12), wo der „Mißbrauch“ des Formmangels für ein formzweckwidriges Ziel keineswegs als allein hinreichend für die Unbeachtlichkeit des Mangels angesehen wird, sondern nur als eines unter mehreren Kriterien (vgl. dazu auch unten § 27 II 4). 11 12
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4. Die gegen Siebert vorgetragene Argumentation spricht schließlich auch gegen Versuche, die Problematik aus dem Grundsatz, „daß niemand aus seinem eigenen arglistigen Handeln einen rechtlichen Vorteil soll ziehen dürfen“,14 oder aus dem „Verbot der Berufung auf eigenes Unrecht“15 zu lösen. Denn der Vorteil, den der Täuschende aus der Nichtigkeit16 ziehen würde, ist nicht eine Folge gerade seiner Arglist, da das Rechtsgeschäft ja auch ohne diese nicht zustande gekommen wäre und da er somit auch bei loyalem Verhalten nicht haften würde; anders gesprochen: der dolus praeteritus war überhaupt nicht kausal für die Nichtigkeit, und dementsprechend braucht sich der Arglistige auch nicht auf ihn zu „berufen“, wenn er die Leistung verweigert. II. Die Einordnung in die Lehre von der Vertrauenshaftung 1. Alle erörterten Theorien kranken zusätzlich zu den vorgebrachten Einwänden daran, daß sie lediglich mit Blick auf den Arglistigen argumentieren, die [277] Frage nach der Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit seines Geschäftsgegners dagegen gar nicht stellen. Dogmatisch gesehen machen sie damit den Fehler, eine Haftung ausschließlich auf einem Zurechnungskriterium – dem dolus praeteritus – aufzubauen, obwohl dieses für sich allein niemals eine zureichende Begründung zu liefern vermag, sondern immer erst in Verbindung mit einem Haftungsgrund relevant wird.17 Im Ergebnis anerkennt aber auch die h. L., daß auf Seiten des anderen Teils ebenfalls bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen: kennt dieser auch seinerseits den Formmangel, so wird er grundsätzlich nicht geschützt18 in der Tat ist diese Einschränkung unerläßlich, da man sonst zu einer mit den Grundprinzipien des BGB unvereinbaren bloßen „Bestrafung“ des Arglistigen käme und zudem in einen Wertungswiderspruch zu den §§ 116 S. 2, 460 BGB19 geriete. Unklar bleibt indessen, wie dieses Erfordernis der Gutgläubigkeit dogmatisch mit der Konstruktion der h. L. verknüpft werden soll. Ohne weiteres beantwortet sich diese Frage dagegen, wenn man die Problematik in die Lehre von der VertrauensVgl. Larenz A. T. § 27 I 4 b. Vgl. J. Prölss ZHR 132, 59 Fn. 84. 16 Deren Folgen gilt es ja zu bekämpfen! 17 Vgl. näher unten § 37 I 2. 18 Vgl. z. B. RGZ 117, 121 (124); RG JW 26, 1810 (1811); 35, 505; OGHZ 1, 217 (220); Koblenz HEZ 2, 1 (5); Gernhuber aaO. S. 172 und 176; Reinicke DB 67, 109 und NJW 68, 40; Flume § 15 III 4 c bb; Staudinger-Weber § 242 Rdzn. D 423 f. (freilich mit Ausnahme der Fälle des dolus praeteritus); Soergel-Hefermehl § 125 Rdz. 24; Siebert-Knopp § 242 Rdz. 350; Medicus § 8 III 1; vgl. ferner BGH WM 61, 179 (180 Sp. 2); 65, 1115 (1116 Sp. 2); LM Nr. 23 zu § 313 BGB (Bl. 1176 Rücks.). Vgl. aber auch unten § 30. 19 Daß in § 460 BGB positive Kenntnis selbst gegenüber Arglist schadet, ergibt der Umkehrschluß aus S. 2 sowie die Anwendbarkeit von S. 1 auf § 463 S. 2 BGB. 14 15
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haftung einordnet: Der Arglistige erweckt in dem anderen Teil den Eindruck, das Geschäft sei wirksam, nimmt also dessen Vertrauen in Anspruch und muß daher für die geschaffene Vertrauenslage einstehen; zum Zurechnungskriterium des dolus praeteritus tritt also der Haftungsgrund des Vertrauensschutzes. Das erklärt nicht nur mit Selbstverständlichkeit die Notwendigkeit guten Glaubens, sondern führt im übrigen auch ohne weiteres zu der allein sachgemäßen Einseitigkeit der Bindung:20 daß nur der Vertrauende, nicht auch der andere Teil einen selbständigen Anspruch hat, ist ein immanenter Grundsatz der Vertrauenshaftung und z. B. bei der Rechtsscheinhaftung allgemein anerkannt.21 Damit ist freilich nur über die grundsätzliche Einordnung der Problematik in die Vertrauenshaftung, nicht aber schon über deren Stellung innerhalb dieser entschieden. Insoweit ist zunächst die – bisher ja nicht geklärte – entscheidende Frage zu beantworten, warum Vertrauensschutz gerade in der Form der Erfüllungshaftung gewährt wird. Hierfür ist nun in der Tat das Merkmal der Arglist von ausschlaggebender Bedeutung. Nicht nur eine besondere Schutzwürdigkeit auf Seiten des Vertrauenden, sondern auch eine erhöhte Zurechenbarkeit auf Seiten des den Vertrauenstatbestand Schaffenden kann nämlich den Übergang von der [278] Schadensersatz- zur Erfüllungshaftung rechtfertigen,22 und die Voraussetzungen dafür liegen hier deshalb vor, weil entscheidend die rechtsethische Bewertung hinzutritt: es wäre rechtsethisch unerträglich, wenn derjenige, der arglistig das Bestehen einer bestimmten Rechtslage behauptet, nicht dem Gutgläubigen gegenüber zu seinem Wort stehen müßte.23 Die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs ist daher in der Tat eine „rechtsethische Notwendigkeit“.24 Was die übrigen allgemeinen Merkmale der Vertrauenshaftung angeht, so ist der erforderliche Vertrauenstatbestand hier in der (ausdrücklichen oder konkludenten) Behauptung des anderen Teils, das Geschäft sei wirksam, zu erblicken. Allerdings ist dieser Vertrauenstatbestand verhältnismäßig schwach und die Schutzwürdigkeit des Vertrauenden dementsprechend an sich gering. Anders als bei der Rechtsscheinhaftung richtet sich hier nämlich das Vertrauen auf etwas rechtlich Unmögliches – daß z. B. ein privatschriftlicher Vertrag über den Verkauf eines Grundstücks wirksam ist, ist nach geltendem Recht ausgeschlossen! –, anders als dort ist der Mangel generell erkennbar25 und anders als dort handelt es sich schließlich auch nicht um einen Umstand aus der Sphäre des Geschäftsgegners, Zu dieser vgl. soeben oben S. 274 bei Fn. 5. Vgl. unten § 42 I 1. 22 Vgl. z. B. den Unterschied von Abs. I und Abs. II des § 179 BGB sowie schon oben S. 29 und S. 30 f. 23 Richtig Flume S. 281 (übrigens in einem gewissen Gegensatz zu seiner Skepsis S. 287 a. E. des 1. Abs.); ähnlich Reinicke aaO. S. 47. 24 Vgl. die Überschrift dieses Kapitels und oben S. 271. 25 Die Parallele zu den „inhaltlichen Einwendungen“, bei denen eine Rechtsscheinhaftung generell nicht in Betracht kommt (vgl. unten § 39 III 2), drängt sich geradezu auf. 20 21
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sondern um einen solchen, dessen Vorliegen bzw. dessen Herbeiführung grundsätzlich beide Teile in gleicher Weise angeht.26 Darum fehlt es aber doch nicht überhaupt an einem Vertrauenstatbestand – mag dieser auch nicht die Stärke eines Rechtsscheins besitzen;27 denn die Kenntnis der einschlägigen Formvorschriften kann keineswegs allgemein erwartet werden, und man kann daher nicht sagen, wer hier auf die Wirksamkeit des Geschäfts vertraue, sei von vornherein schutzunwürdig. Auch die an die übrigen Tatbestandsmerkmale zu stellenden Anforderungen werden wesentlich von dem Vorliegen des dolus praeteritus beeinflußt. So ergibt sich daraus insbesondere, daß grundsätzlich nur positive Kenntnis des Formmangels, nicht aber auch schon grobe Fahrlässigkeit schadet; denn diese tritt bei der rechtsethischen Bewertung gegenüber dem Gewicht der Arglist gänzlich zurück28 – ein Rechtsgedanke, der sich im übrigen auch aus § 460 S. 2 BGB ergibt. Auch hinsichtlich der erforderlichen „Disposition“ des Vertrauenden sind angesichts des dolus praeteritus keine besonderen Anforderungen angebracht; es genügt daher insoweit – ebenso wie bei der Rechtsscheinhaftung, aber in scharfem Gegensatz [279] zur „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“29 – schon der bloße Abschluß des fraglichen Geschäfts30 was i. E. mit der h. L. übereinstimmt. 2. Absichtlich ist bisher die Frage einer eventuellen Umgehung der Formvorschriften überhaupt noch nicht aufgeworfen worden. Denn bei der hier vorgenommenen Einordnung liegt darin ein Sonderproblem, das von der grundsätzlichen Frage, warum und unter welchen Voraussetzungen der Täuschende zu seinem Wort stehen muß, zu trennen ist. Anders als nach der h. L. geht es danach nämlich nicht darum, die Geltung eines Vertrages entgegen § 125 BGB zu bejahen – die Formnichtigkeit ist vielmehr uneingeschränkt hinzunehmen! –, sondern eine Haftung auf Grund der Inanspruchnahme von Vertrauen, also nicht „aus einem Rechtsgeschäft“, sondern „aus einem Verhalten“,31 zu statuieren. Da somit die Bindung nicht ex voluntate, sondern ex lege32 eintritt, erscheint auch das Verhältnis zu § 125 in einem anderen Licht: dieser ist von vornherein nicht unmittelbar, sondern allenfalls analog anwendbar.
Vgl. auch allgemein unten § 39 III 2. Folgerichtig genügen bei der Rechtsscheinhaftung i. d. R. schon schwächere Zurechnungsvoraussetzungen, vgl. näher unten § 44 II. 28 Zur Abwägung zwischen den einzelnen Faktoren vgl. zusammenfassend unten § 43 II. 29 Vgl. zusammenfassend die Gegenüberstellung unten § 43. 30 Richtet sich das Vertrauen auf die Wirksamkeit der Annahme des anderen Teils, so genügt auch dies, obwohl die Arglist hier der Disposition des Vertrauenden – seinem Angebot – nachfolgt, vgl. unten § 40 III 2 31 So die treffende Terminologie Flumes AcP 161, 52 ff. und aaO. § 10, dem auch in der Sache selbst in diesem Punkt die im Text vertretene Ansicht sehr nahesteht, vgl. aaO. S. 282. 32 Hier gemeint i. S. einer ungeschriebenen Norm des objektiven Rechts. 26 27
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Was nun eine solche Analogie – oder hier wohl richtiger „teleologische Extension“33 – angeht, so ist sie keineswegs von vornherein selbstverständlich. Die Formvorschriften betreffen nämlich sowohl ihrem Wortlaut als auch ihrem Sinn nach an sich lediglich den Fall, daß die Bindung allein auf Grund der rechtsgeschäftlichen Erklärung eintritt, nicht aber unbedingt auch den Fall, daß auf Grund anderer zu der Erklärung hinzutretender Umstände gehaftet werden soll.34 So heißt es denn auch in den Motiven hinsichtlich der Abwägung zwischen der Formstrenge und rechtsethischen Gesichtspunkten mit Recht nur, daß „die Gründe für die Notwendigkeit der Form schwerer wiegen als die Rücksicht auf die ethische Pflicht zum Worthalten“,35 keineswegs aber, daß sie schwerer wiegen als jede ethische Wertung. Soweit diese sich nun nicht in der Mißbilligung des bloßen Wortbruchs erschöpft, sondern auf zusätzlichen Umständen aufbaut, ist ihr Rangverhältnis zu den Formzwecken somit durch § 125 BGB nicht vorentschieden. Dann aber ist es gerechtfertigt, insoweit die Frage nach einer Zurücksetzung der Formzwecke selbständig zu prüfen und dabei – anders als bei unmittelbarer Anwendung des § 125 BGB – u. a. auch zu berücksichtigen, ob und in welchem Maße die Formzwecke im Einzelfall überhaupt beeinträchtigt sind34. [280] Bei Vorliegen eines dolus praeteritus bereitet nun diese Abwägung keinerlei Schwierigkeiten: der Arglistige verdient keinen Schutz, ein Rechtsgedanke, der dem BGB durchaus geläufig ist,36 der andere Teil bedarf keines Schutzes, zumal er sich ohne weiteres auf die Nichtigkeit berufen kann, und allenfalls sonst noch betroffene Formzwecke lassen sich entweder berücksichtigen37 oder sie müssen hinter dem Gewicht der hier gegebenen rechtsethischen Faktoren zurücktreten.38 Dabei handelt es sich nicht etwa um eine Entscheidung contra legem,39 sondern um eine solche praeter legem, da sowohl der Vertrauensgedanke als auch der Satz Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken S. 89 ff. Darin zeigt sich, daß der Unterschied zwischen unmittelbarer Anwendbarkeit der Formvorschriften und Analogie nicht eine leere methodologische Spielerei ist, sondern erhebliche dogmatische und praktische Bedeutung hat. 35 Vgl. Mot. I 183. 36 Vgl. etwa die §§ 443, 460 S. 2, 463 S. 2, 477 I, 540, 637 BGB. 37 So wird man bei einer Verletzung des § 566 S. 1 BGB den Vertrag zugunsten gutgläubiger Dritter als auf unbestimmte Zeit geschlossen ansehen müssen, während der Arglistige für die vereinbarte Dauer gebunden ist; bedenklich in der Begründung daher BGH MDR 68, 42. 38 Zu beachten ist, daß der Anspruch aus Vertrauenshaftung rein obligatorischer Art ist und nicht etwa ipso iure die dingliche Rechtslage zu verändern vermag (vgl. unten § 42 II 3). Ebensowenig kann die Arglist des einen Teils konstitutive staatliche Mitwirkungsakte, wie sie etwa bei Eheschließung und Adoption erforderlich sind, ersetzen (vgl. auch unten § 26 II 3 und § 36 III); insoweit besteht im übrigen hinsichtlich der Eheschließung nicht einmal ein durchsetzbarer obligatorischer Erfüllungsanspruch, wie sich aus der Wertung des § 1297 BGB ergibt, während man bei der Adoption auf Grund der Wertung des § 1754 I 2 BGB einen solchen wohl gewähren kann mit der Folge, daß das Gericht die Bestätigung nicht wegen des Formmangels versagen darf. 39 So aber Gernhuber aaO. S. 169 ff. 33 34
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von der mangelnden Schutzwürdigkeit des Arglistigen, aus deren Verbindung sich die Rechtsfolge ergibt, dem geltenden Recht immanent sind.
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§ 26 Dolus praeteritus als anspruchsbegründendes Merkmal bei sonstigen Mängeln eines Rechtsgeschäfts Was für die arglistige Täuschung über die Formnichtigkeit anerkannt ist, muß grundsätzlich hinsichtlich anderer Mängel eines Rechtsgeschäfts ebenso – und z. T. erst recht – gelten;1 denn auch hier erweckt der Arglistige in seinem Partner das Vertrauen auf die Wirksamkeit eines in Wahrheit nichtigen Vertrages, auch hier ist es daher eine „rechtsethische Notwendigkeit“, ihn beim Wort zu nehmen, und auch hier müssen folgerichtig die – im Vergleich zu den Formzwecken regelmäßig zumindest nicht schwerer wiegenden – Schutzzwecke der fraglichen Normen grundsätzlich zurücktreten. Daß dies auch der Wertung des Gesetzes entspricht, zeigen Vorschriften wie § 463 S. 2 BGB2 oder §§ 443, 540, 637 i. V. m. §§ 440, 538, 635 BGB; auch an § 179 I und § 116 S. 1 BGB2 sowie an das im ersten Kapitel aus den §§ 171 I, 172 I, 405 BGB entwickelte Prinzip einer Einstandspflicht für die [281] wissentliche Schaffung eines Rechtsscheins kann in gewisser Weise3 angeknüpft werden. Dogmatisch handelt es sich dabei auch hier, wie sich ohne weiteres aus der Übertragung der soeben gemachten Ausführungen zum analogen Problem bei Formmängeln ergibt, um Tatbestände der Vertrauenshaftung.4 – Einige Einzelheiten verdienen noch genauere Erörterung; insbesondere ist der praktische Anwendungsbereich des vorgeschlagenen Haftungsprinzips näher zu umreißen sowie hinsichtlich bestimmter Tatbestände eine Abstimmung mit möglicherweise beeinträchtigten Schutzzwecken vorzunehmen. I. Tatbestände, bei denen eine Beeinträchtigung vorrangiger Schutzzwecke nicht in Frage steht 1. Keinerlei vorrangige Schutzzwecke sind gefährdet, wenn jemand arglistig den Anschein erweckt hat, er habe einem anderen Vollmacht erteilt. Allerdings ist der Bereich, in dem hier die „Vertrauenshaftung kraft dolosen Verhaltens“ praktische 1 So mit Recht auch Flume § 27, 5 (vgl. aber auch unten Fn. 4). Die h. L. zieht diese Konsequenz zumindest nicht ausdrücklich, müßte es jedoch schon deshalb tun, weil sie den „Vorrang“ des § 242 BGB grundsätzlich nicht nur gegenüber § 125 BGB, sondern auch gegenüber den übrigen Nichtigkeitsnormen anerkennt (vgl. die Nachw. oben S. 267 Fn. 6). 2 Vgl. Flume aaO. sowie zu § 116 auch Stoll AcP 135, 114 f. 3 Ein nicht unerheblicher Unterschied liegt hinsichtlich des § 179 I BGB und der Rechtsscheinhaftung darin, daß sie weniger auf den hier in Frage stehenden rechtsethischen Wertungen als auf einer Verbindung von Verkehrsschutz- und Risikogedanken beruhen, vgl. oben S. 30 sowie unten S. 476 ff. und S. 535; die Analogiefähigkeit des § 116 S. 1 BGB ist deshalb nicht zweifelsfrei, weil er eine bare Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringt, vgl. unten § 33 II 1. 4 Anders Flume aaO. S. 534, der hier einen Anspruch „rechtsgeschäftlicher Natur“ behauptet, sich dadurch aber zu der kurz vorher getroffenen (richtigen) Feststellung in Widerspruch setzt, daß „die rechtsgeschäftliche Regelung nicht gilt“.
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Bedeutung erlangen kann, verhältnismäßig klein. Bei der Außenvollmacht ist eine arglistige Täuschung durch den Geschäftsherrn nämlich gar nicht denkbar, da wegen der Regelung des § 116 BGB insoweit immer ein vollwirksames Rechtsgeschäft vorliegt, und bei der „kundgegebenen“ Innenvollmacht5 greifen in derartigen Fällen schon die – wesentlich weiterreichenden – Grundsätze über die Rechtsscheinhaftung ein.6 Anders liegt es dagegen bei der „reinen“ Innenvollmacht;5 denn eine rechtsgeschäftliche Bindung scheitert hier u. U. daran, daß der Stellvertreter – der insoweit der für die Auslegung maßgebliche Erklärungsgegner ist! – das Fehlen oder die Nichtigkeit der Vollmacht kennt, und eine Rechtsscheinhaftung scheidet deshalb aus, weil mangels einer externen Kundgabe kein Scheintatbestand gegeben ist.7 Demgemäß ist der wichtigste Anwendungsfall der „Vertrauenshaftung kraft dolosen Verhaltens“ in diesem Zusammenhang der einer Kollusion zwischen Geschäftsherrn und Vertreter. Dabei verdient Hervorhebung, daß jener hier nicht selbst den Dritten arglistig getäuscht hat – dann läge ein Fall des § 116 BGB oder der Rechtsscheinhaftung vor! –, sondern daß dies der falsus procu- [282] rator getan hat; wenn der Geschäftsherr trotzdem haftet, so deshalb, weil er durch die Kollusion das Vertrauen des Dritten auf die Wirksamkeit des Geschäfts mitveranlaßt und dabei dolos gehandelt hat.8 Dasselbe wie für die Vertretungsmacht gilt folgerichtig auch für die Botenmacht, das Handeln unter fremdem Namen und die Fälschung. So würde z. B. der Namensträger aus einem gefälschten Wechsel auf Erfüllung (und nicht nur aus § 826 BGB auf Schadensersatz!) haften, wenn er arglistig mit dem Fälscher zur Täuschung des Rechtsverkehrs zusammengewirkt hätte. 2. Ganz ähnlich wie bei der Vollmacht stellt sich die Problematik beim Scheingeschäft i. S. des § 117 I BGB dar. Insbesondere läßt auch hier die Rechtsscheinhaftung nur dann noch eine Schutzlücke offen, wenn das Verhalten des Scheinschuldners nach außen nicht in Erscheinung getreten ist.9 Für einen derartigen Fall aber, der vor allem bei einer Kollusion zwischen Scheinschuldner und Scheingläubiger zum Nachteil eines Dritten vorkommen kann,10 stellt die Erfüllungshaftung kraft dolosen Verhaltens eine wichtige Ergänzung der Rechtsscheinhaftung dar und führt zusammen mit dieser zu einem nahezu vollständigen „Drittschutz“ beim Scheingeschäft. So dürfte es z. B. durch das Zusammenspiel Zur Terminologie vgl. oben § 10 III. Vgl. § 5. 7 Vgl. näher oben § 10 III. 8 Es geht hier also anders als nach der Lehre Flumes nicht nur um eine Einstandspflicht des arglistig Täuschenden, sondern um eine Haftung für jede Art der dolosen Erweckung von Vertrauen. 9 Vgl. näher oben S. 93. 10 Für eine Erfüllungshaftung in diesem Fall i. E. Dernburg, Das Bürgerliche Recht, Bd. I, 3. Aufl. 1906, § 142 II 2 a. E.; Erman-Westermann § 117 Anm. 3 a. E.; Soergel-Hefermehl § 117 Rdz. 15. Vgl. ferner die Zitate in der nächsten Fn. 5 6
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dieser beiden Tatbestände der Vertrauenshaftung ohne weiteres möglich sein, die vieldiskutierten Schwierigkeiten zu lösen, die sich ergeben, wenn von einem Stellvertreter ein Scheingeschäft vorgenommen wird und der Geschäftsherr keine Kenntnis vom Scheincharakter hat.11 Der Dritte ist dann nämlich trotz der aus § 117 I i. V. m. § 166 I BGB folgenden Nichtigkeit nach den Regeln der Rechtsscheinhaftung gebunden, sofern er dem Geschäftsherrn gegenüber irgendwie die Gültigkeit des Geschäfts bekundet hat12 – z. B. durch eine Mahnung, durch die Annahme einer Erfüllungsleistung usw. –, und er haftet ihm darüber hinaus auch unabhängig von einer solchen Bekundung auf Erfüllung, sofern er arglistig mit dem Stellvertreter zusammengewirkt hat. Nur dann, wenn es an beiden Erfordernissen fehlt, wenn also lediglich der Vertreter die Wirksamkeit des Geschäfts behauptet hat und auf Seiten des Dritten kein dolus praeteritus vorlag – z. B., weil er glaubte, jener werde dem Geschäftsherrn keine Mitteilung von dem Geschäft machen oder dieser werde [283] den Scheincharakter durchschauen13 oder keinen Schaden erleiden –, greift also die Vertrauenshaftung nicht ein;14 diese Einschränkung aber erscheint auch im Ergebnis gerecht, da der Vertreter ja immerhin „Vertrauensmann“ des Geschäftsherrn und nicht des Dritten ist und da daher grundsätzlich nicht dieser, sondern jener das Risiko einer von ihm begangenen Täuschung zu tragen hat.15 3. Im Falle des § 118 BGB ist es tatbestandlich ausgeschlossen, daß der Erklärende den anderen Teil arglistig über die Wirksamkeit der Erklärung täuscht; denn dann könnte er nicht die Erwartung haben, jener werde den Mangel der Ernstlichkeit durchschauen. Denkbar ist dagegen – ebenso wie übrigens auch bei anderen Einwendungen –, daß er nachträglich die Nichtigkeit erkennt und nunmehr dolos, etwa in der Absicht, die Erklärung je nach dem weiteren Verlauf der
11 Die h. L. bejaht dann einen Erfüllungsanspruch gegen den Dritten, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen; vgl. RGZ 134, 33 (37); RG GruchBeitr. 52, 933 (936); Oertmann Recht 1923 Sp. 74 ff. und Kommentar § 117 Anm. 2 c β a. E.; Flume § 20, 2 c (S. 411) und § 52, 5 b (bei Fn. 30); Kallimopoulos aaO. S. 136 f., 175 f.; a. A. Baer, Scheingeschäfte, 1931, S. 31. 12 Vgl. oben § 9 II 2. 13 In diesem Falle greift selbst bei einer Bekundung nach außen die Vertrauenshaftung nicht ein, weil es dann an der wissentlichen Schaffung eines Scheintatbestandes fehlt (vgl. allgemein unten § 36 Fn. 13). Richtig daher i. E. RGZ 134, 33 (37 f.); zustimmend auch Flume § 20 Fn. 21; insoweit kommt allerdings eine Haftung auf das negative Interesse analog §§ 118, 122 BGB in Betracht, weil die Lage hier zwischen dem Dritten und dem Geschäftsherrn ebenso ist wie beim fehlgeschlagenen Scheingeschäft und auf dieses § 118 Anwendung findet. 14 In Extremfällen kann allerdings zusätzlich noch die „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“ oder die „Erwirkung“ in Betracht kommen. 15 Die hier vertretene Lösung ist daher auch i. E. der generellen Durchbrechung des § 166 I BGB, wie sie z. B. von Oertmann und Flume aaO. für diese Problematik vorgeschlagen wird, vorzuziehen.
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Ereignisse gelten zu lassen oder nicht, seinen Partner nicht aufklärt. Dann haftet er gemäß § 242 BGB auf Erfüllung.16 4. Auch beim Dissens sind Fälle einer arglistigen Täuschung möglich. Als Beispiel diene der Fall RGZ 100, 134. Hier hatte der Kl. eine Klausel in einer Vertragsurkunde „in einer Weise eingeklammert, daß die Klammern leicht übersehen werden konnten, und dann den Entwurf ohne jeden Hinweis auf die Änderung dem Bekl. zugesandt“ (S. 135). Sofern in der Urkunde ein Angebot des Bekl. zu sehen ist und dieser auf ihre Rücksendung schweigt,17 ist hier ein Fall des Dissenses gegeben. Denn die Einklammerung kann für einen objektiven Beobachter in der Lage des Bekl. nur den Sinn haben, daß die Klausel nicht gelten soll,18 und es liegt daher eine Annahme unter Abweichungen i. S. des § 150 II [284] BGB vor, also ein neues Angebot, das seinerseits wiederum einer Annahme bedurft hätte, mangels einer entsprechenden Erklärung aber nicht akzeptiert worden ist.
Hat hier nun der Empfänger des (ersten) Angebots die Einklammerung in der Absicht vorgenommen, den anderen Teil zu täuschen – etwa, weil er fürchtete, dieser werde sich auf die Änderung nicht einlassen, und er sie daher unbemerkt in den Vertrag „einschmuggeln“ wollte –, so haftet er trotz des Dissenses gemäß § 242 BGB auf Erfüllung; der Antragende kann sich demgegenüber ohne weiteres auf den Standpunkt stellen, der Vertrag sei gemäß § 150 II nicht zustande gekommen.19 Fehlte es dagegen an einem dolus praeteritus, glaubte also z. B. der Antragsempfänger, der Gegner werde die Einklammerung bemerken, so ist grundsätzlich nur eine Haftung aus c. i. c. auf das negative Interesse wegen fahrlässiger Herbeiführung eines Mißverständnisses gegeben und eine Erfüllungspflicht allenfalls unter den zusätzlichen Voraussetzungen des „venire contra factum proprium“ oder der „Erwirkung“ zu bejahen.20 5. Der vom RG entschiedene Fall lag insofern anders, als in der Urkunde lediglich eine invitatio ad offerendum zu sehen war und der Bekl. das vom Kl. unterschrieben zurückgesandte Papier auch seinerseits unterzeichnet hatte, ohne die Einklammerung zu bemer16 Richtig i. E. auch hier Flume § 27, 5, allerdings mit der verfehlten Begründung (§ 20, 3 = S. 414), aus der Scherzerklärung werde der Tatbestand der Mentalreservation, – eine „Verwandlung“, die der Rechtsgeschäftslehre fremd ist und die sich außerdem nicht mit § 141 I BGB vereinbaren läßt (gegen Flume insoweit auch Larenz A. T. § 26 I b a. E.). 17 Beides traf in dem vom RG entschiedenen Fall allerdings nicht zu, vgl. sogleich unter 5. 18 Von der Arglist weiß ja ein solcher Beobachter nichts, und er braucht mit ihr auch nicht zu rechnen. Auf diese kann es daher für die Auslegung des Rechtsgeschäfts nicht ankommen, da sie rein innerlich geblieben ist und somit die objektive Bedeutung der Erklärung nicht zu bestimmen vermag; diese ist vielmehr notwendigerweise dieselbe, ob die Einklammerung nun arglistig erfolgt ist oder nicht. Wenn gleichwohl die Rechtsfolgen verschieden sind, so kann das nur bedeuten, daß diese sich nicht im Wege der Auslegung nach §§ 133, 157 BGB gewinnen lassen. 19 In diesem – der Problematik allein gerecht werdenden! – Ergebnis wird wieder deutlich, daß keine rechtsgeschäftliche Bindung, sondern Vertrauenshaftung vorliegt. 20 Vgl. dazu allgemein unten § 44.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht ken. Bei objektiver Interpretation war dann ein Angebot des Kl. für einen Vertragsschluß ohne die fragliche Bestimmung gegeben,21 und der Bekl. hat dieses Angebot durch seine Unterschrift angenommen, so daß der Vertrag an sich mit dem vom Kl. gewollten Inhalt, also ohne die Klausel zustande gekommen ist. Das RG hat gleichwohl dem Bekl. die Berufung auf die Klausel gestattet und ihn nicht auf den Weg der Anfechtung nach § 119 I oder 123 I BGB (i. V. m. § 139 BGB) oder auf eine Arglisteinrede gegen den Erfüllungsanspruch des Kl. verwiesen, – was i. E. z. B. dann einen wesentlichen Unterschied machen würde, wenn es sich etwa um eine Bestimmung über eine einseitige Befugnis zur Heraufsetzung des Preises handelte.
Dem ist vom hier vertretenen Standpunkt aus zuzustimmen, sofern der Kl. arglistig gehandelt hat. Entgegen der Ansicht des RG folgt die Haftung jedoch nicht aus § 157 BGB – die objektive Auslegung ergibt gerade das Gegenteil! –, sondern aus § 242 BGB. Allgemein gesprochen läßt sich aus dem Fall die Folgerung ziehen, daß die Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit auch dazu führen kann, eine Partei an einen anderen Vertragsinhalt zu binden, als er sich bei objektiver Auslegung ergibt. 6. Dieselben Grundsätze kommen folgerichtig weiterhin zur Anwendung, wenn jemand bei der Vereinbarung einer Bedingung den anderen Teil über die Unmöglichkeit oder die völlige Unwahrscheinlichkeit ihres Eintritts arglistig täuscht.22 Nicht zu folgen ist dagegen der Ansicht des RG, daß in einem solchen Falle § 162 BGB [285] analog gelte;23 denn zum einen geht es hier anders als bei unmittelbarer Anwendung dieser Vorschrift weder um die Anpassung des Vertrages an eine in ihm nicht berücksichtigte Lage,24 noch um das – von der h. L. als ratio des § 162 BGB angesehene – Verbot der Berufung auf eigenes Unrecht,25 und zum anderen würde diese Analogie auch in der praktischen Konsequenz viel zu weit führen, da auf Grund der vorherrschenden Interpretation des § 162 dann schon eine leicht fahrlässige Unkenntnis über die Unmöglichkeit des Bedingungseintritts die Erfüllungshaftung zur Folge hätte – ein mit der sonstigen Behandlung entsprechender Mängel und insbesondere mit den §§ 307, 309 BGB und den Regeln über die culpa in contrahendo unvereinbares Ergebnis. 7. Bei der Unmöglichkeit liegt die Problematik insofern etwas anders, als ein Anspruch auf Erfüllung hier ohne Sinn wäre. Folgerichtig haftet der Täuschende aber wenigstens auf das positive Interesse,26 § 307 BGB, der dem an sich entgegenzustehen scheint, ist für den Sondertatbestand des dolus praeteritus entspreVgl. oben bei und mit Fn. 18. Vgl. auch Flume § 40, 1 h. 23 Vgl. RG GruchBeitr. 60, 302 (305); ablehnend auch Enn.-Nipperdey § 196 Fn. 5; Flume aaO.; Soergel-Knopp § 162 Rdz. 13. 24 Zu diesem Verständnis des § 162 BGB vgl. unten § 42 Fn. 31. 25 Die Ausführungen oben § 25 I 4 gelten entsprechend. 26 So mit Recht wiederum auch Flume § 27, 5. 21 22
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chend zu ergänzen. Daß nur dieses Ergebnis richtig sein kann, ergibt sich dabei vor allem auch aus der Analogie zu § 463 S. 2 BGB, der entweder unmittelbar einen Fall der Unmöglichkeit zum Gegenstand hat oder doch eine eng verwandte Problematik betrifft.27 II. Tatbestände, bei denen die Berücksichtigung vorrangiger Schutzzwecke erforderlich ist 1. Im Falle der Gesetzeswidrigkeit i. S. v. § 134 BGB kann eine Erfüllungshaftung nicht so unbedenklich bejaht werden wie bei den bisher behandelten Tatbeständen. Allerdings folgt dies nicht schon daraus, daß hier der andere Teil stets bösgläubig wäre; denn angesichts der großen Zahl und der Kompliziertheit gesetzlicher Verbote, wie sie insbesondere im Wirtschaftsrecht denkbar sind, kann es hier durchaus Fälle schützenswerten Vertrauens geben – was übrigens das Gesetz selbst in § 309 BGB (i. V. m. § 307 I 2) voraussetzt. Jedoch kann man insoweit wegen der Vielfältigkeit und des Ranges der u. U. betroffenen Schutzzwecke anders als hinsichtlich der Formzwecke nicht generell sagen, daß diese hinter den rechtsethischen Postulaten zurückzutreten hätten. Vielmehr muß diese Frage für jedes gesetzliche Verbot gesondert geprüft werden; ist sie zu verneinen, haftet der Arglistige – über § 309 BGB hinausgehend – folgerichtig aber wenigstens auf das positive Interesse26. [286] 2. Auch bei einer Täuschung über den Mangel der Geschäftsfähigkeit ist eine Berücksichtigung der gesetzlichen Schutzzwecke unerläßlich. Insbesondere kann man hier nicht einfach mit dem Argument arbeiten, der Arglistige sei schutzunwürdig; denn dieser Satz gilt seinem Gehalt nach nur unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß dem Arglistigen sein Verhalten auch zurechenbar ist, und gerade darin liegt bei nicht voll Geschäftsfähigen das Problem. Dementsprechend geht es hier um die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Da diese für die Vertrauenshaftung ganz allgemein durch analoge Anwendung der §§ 104 ff. und nicht der §§ 827 f. BGB zu beantworten ist,28 haftet jemand, der arglistig über seine Geschäftsfähigkeit täuscht, nicht auf Erfüllung,29 sondern allenfalls nach Deliktsrecht auf Schadensersatz. Das heißt nun allerdings nicht, daß bei einem Mangel der Geschäftsfähigkeit niemals eine Erfüllungshaftung zu bejahen sein könnte; diese scheidet vielmehr 27 Es kommt insoweit darauf an, ob man einen echten Vertragsanspruch auf Leistung einer mangelfreien Sache annimmt oder nicht; zum Streitstand vgl. z. B. Soergel-Ballerstedt Rdzn. 12 ff. vor § 459. 28 Vgl. unten § 36 I. 29 Richtig daher i. E. BGH WM 63, 811 (812 Sp. 2), wo wohl in der Tat ein echter dolus praeteritus vorlag.
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folgerichtig nur insoweit aus, als es um einen Anspruch gerade gegen den nicht voll Geschäftsfähigen selbst geht. Hat dagegen ein anderer arglistig gehandelt, so kann u. U. gegen ihn durchaus ein Erfüllungsanspruch gegeben sein, wie der „Altersdemenzfall“ BGHZ 44, 367 deutlich macht. Hier hatte ein wegen Altersdemenz geschäftsunfähiger Mann einem gutgläubigen Dritten mehrere Grundstücke verkauft. Sein Sohn und späterer Erbe hatte bei den Verhandlungen mitgewirkt und den Käufer über die Geschäftsunfähigkeit nicht aufgeklärt, obwohl er sie erkannt hatte; er hatte dabei von vornherein die Absicht, sich später auf die Nichtigkeit der Verträge zu berufen (S. 370 und 371). Als er dies Vorhaben nach Eintritt des Erbfalls tatsächlich verwirklichte, trat dem der BGH mit der Begründung entgegen, er könne nach Treu und Glauben „die Nichtigkeit des Vertrages wegen Geschäftsunfähigkeit des Erblassers nicht geltend machen“ (S. 371).30 Das stellt i. E. nichts anderes dar als die Anerkennung einer an den dolus praeteritus anknüpfenden Vertrauenshaftung zugunsten des gutgläubigen Käufers, und in der Tat nimmt der BGH denn auch ausdrücklich auf den Vertrauensgedanken Bezug (S. 371). Konstruktiv wird man dabei wohl annehmen müssen, daß von vornherein ein entsprechender Anspruch gegen den Täuschenden bestand, dessen Erfüllung ihm durch den Erbfall möglich geworden ist; daß er nicht Vertragspartei war, steht dem nicht entgegen, wie sich insbesondere aus der insoweit verallgemeinerungsfähigen Wertung des § 179 I BGB ergibt.
3. Eine nach Zurechnungsgesichtspunkten differenzierende Lösung ist schließlich auch hinsichtlich der Zustimmungen erforderlich. So folgt aus dem soeben Gesagten ohne weiteres, daß der beschränkt Geschäftsfähige grundsätzlich nicht auf Erfüllung haftet, wenn er die Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters vortäuscht; nur wenn er erst nach dem Zeitpunkt, in dem er voll geschäftsfähig geworden ist, arglistig handelt, wenn er also z. B. jetzt eine frühere Täuschung dolos fortbestehen läßt oder den anderen Teil über das Genehmigungserfordernis der §§ 108 III bzw. 1829 III BGB täuscht, tritt eine Erfüllungshaftung ein. – Weiterhin ist es eine Selbst- [287] verständlichkeit, daß die Arglist einer Partei nicht einen staatlichen Mitwirkungsakt zu ersetzen vermag; denn der Staat braucht sich deren Verhalten nicht zurechnen zu lassen. Folgerichtig haftet der Arglistige hier aber wenigstens auf das positive Interesse; ausnahmsweise kommt sogar ein echter Erfüllungsanspruch in Betracht, wenn das Zustimmungserfordernis inzwischen weggefallen ist und daher die entsprechenden Schutzzwecke nicht mehr beeinträchtigt sein können.31 – Bereitet die Zurechnung der Arglist dagegen keine Schwierigkeiten, so bestehen auch hier grundsätzlich keine Bedenken gegen eine Erfüllungshaftung. Dementsprechend wird man es z. B. einer GmbH verwehren müssen, sich gegenüber dem Erwerber eines Geschäftsanteils
30 31
Anders im Grundsatz noch RG DR 1944, 728 (729 Sp. 1). Als Beispiel vgl. LG Göttingen MDR 49, 689 m. Anm. v. Beitzke.
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auf das Fehlen einer Genehmigung gemäß § 15 V GmbHG zu berufen, sofern ihr Geschäftsführer arglistig über das Genehmigungserfordernis getäuscht hat.32
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Vgl. dazu auch unten S. 318 f.
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Zweiter Abschnitt Die Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens Neben der „Einrede“ des dolus praeteritus steht die des dolus praesens. Während aber jene einen verhältnismäßig festumrissenen Tatbestand bildet, verbirgt sich hinter dieser eine Vielzahl z. T. recht verschiedenartiger Rechtsgedanken. Einer der wichtigsten unter ihnen ist das Verbot des „venire contra factum proprium“, und da zwischen diesem Prinzip und dem Vertrauensgedanken, wie schon betont,1 anerkanntermaßen eine besonders enge Verbindung besteht,2 gilt es als nächstes zu klären, inwieweit auch ihm anspruchsbegründende Funktion zukommt und inwieweit somit hier ein weiterer Ansatzpunkt für die Entwicklung einer Erfüllungshaftung kraft Inanspruchnahme von Vertrauen gegeben ist. Dabei muß man sich freilich von vornherein darüber im klaren sein, daß das Prinzip des venire contra factum proprium beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung noch weit entfernt von einer hinreichenden tatbestandlichen Verfestigung ist und dringend der „rechtstheoretischen Präzisierung“ bedarf;3 der bloße Hinweis auf einen angeblichen „Selbstwiderspruch“ ist daher für sich allein grundsätzlich keine brauchbare Begründung. Andererseits ist die Anknüpfung an diesen Rechtsgedanken darum doch auch nicht gänzlich wertlos, weil sie immerhin [288] die Verbindung zu bestimmten historisch vorgeformten rechtsethischen Maximen herstellt und so zumindest einen ersten Schritt bei der erforderlichen Konkretisierung bildet – ganz abgesehen davon, daß der Rückgriff auf die allgemeinen Merkmale der Vertrauenshaftung4 eine zusätzliche Präzisierung gewährleistet. Man kann auch nicht etwa einwenden, das Verbot des venire contra factum proprium erschöpfe sich in dem Bezug auf den Vertrauensgedanken und seine Heranziehung bedeute daher in Wahrheit keine Verstärkung der Begründung, sondern lediglich eine tautologische Uniformulierung desselben Prinzips; denn der Mißbilligung des „Selbstwiderspruchs“ kommt durchaus ein eigenständiger rechtsethischer Gehalt zu, der insbesondere in der spezifischen Beziehung zwischen dem „Vorverhalten“ und der seither eingetretenen Entwicklung der Verhältnisse zu Tage tritt5 und der seinen tieferen Grund letztlich in dem WiderVgl. oben S. 270 f. im Anschluß an Wieacker. Außer Wieacker aaO. vgl. z. B. Riezler, Venire contra factum proprium, 1912, S. 165, S. 167 ff. und öfter; Coing NJW 47/48, 215 Sp. 2 und Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1969, S. 212; Lenz S. 32 und öfter; v. Craushaar S. 56; Merz, Berner Komm. zum schweizerischen ZGB, 1962, Art. 2 Rdzn. 402, 407 ff., 410 ff., 431 ff.; Esser § 6 III 1; Fikentscher § 27 II 3 a α; Larenz SR I § 10 II b; Staudinger-Weber § 242 BGB Rdz. D 32; 3 Siebert-Knopp § 242 BGB Rdz. 229; Erman-Sirp § 242 Anm. III b aa. 3 Die Arbeit von Riezler (Fn. 2) enthält insoweit nur verhältnismäßig geringfügige Ansätze. 4 Vgl. unten §§ 39 ff. 5 Vgl. dazu näher unten § 27 III 1 und § 43 II 2 bei und mit Fn. 33. 1 2
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spruchsverbot der Gerechtigkeitsidee selbst finden dürfte,6 – worin im übrigen wohl zugleich die rechtsquellenmäßige Rechtfertigung dieses – im geschriebenen Recht nicht oder allenfalls ganz rudimentär verwirklichten – Rechtsprinzips deutlich wird.7 In methodischer Hinsicht ergibt sich freilich aus der mangelnden theoretischen Durchformung des Verbots widersprüchlichen Verhaltens, daß hier noch mehr als bei den bisher erörterten Tatbeständen nur ein induktives, von Fallgruppe zu Fallgruppe voranschreitendes Vorgehen möglich ist. Als Ausgangspunkt sei dafür wieder die Problematik der formnichtigen Rechtsgeschäfte gewählt, die auch insoweit paradigmatischen Charakter hat.
6 Vgl. auch Wieacker aaO. S. 28: „Das Prinzip des venire contra factum proprium wurzelt tief in der persönlichen Gerechtigkeit ...“. 7 Zur Rückführung allgemeiner Rechtsprinzipien auf die Rechtsidee, insbesondere auf den Gleichheitssatz und das aus diesem folgende Widerspruchsverbot vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken S. 108 ff.
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§ 27 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei formnichtigen Rechtsgeschäften1 Daß auch in anderen Fällen als denen des dolus praeteritus Formmängel mit Hilfe von § 242 BGB „überwunden“ werden können, ist i. E. weitgehend aner[289] kannt.2 Die Voraussetzungen, unter denen dies möglich ist, sind jedoch bis jetzt nur unzureichend geklärt. Das dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß über die richtige Begründung nach wie vor erhebliche Unsicherheit herrscht und daß dementsprechend die bisherigen Konstruktionsversuche weder dogmatisch noch praktisch zu überzeugen vermögen. Für die wichtigsten im Schrifttum vertretenen Ansichten, insbesondere für die Theorie von der auf § 242 BGB gestützten Restriktion des § 125 BGB und für die Lehre vom Normenmißbrauch, ist das oben § 25 I näher dargelegt worden. Noch weniger befriedigend ist die in der Rechtsprechung entwickelte Formel, wonach ein Erfüllungsanspruch dann gegeben sein soll, wenn dessen „Nichtanerkennung zu einem schlechthin untragbaren, nicht etwa nur zu einem harten Ergebnis“ führen würde.3 Zwar ist dieser Satz nicht gänzlich wertlos, da er immerhin den extremen Ausnahmecharakter der einschlägigen Fälle deutlich macht; seine praktische Brauchbarkeit bleibt jedoch so lange höchst beschränkt, als keine hinreichenden Kriterien für die Unterscheidung eines „schlechthin untragbaren“ von einem „lediglich harten“ Ergebnis gefunden sind, und was seine dogmatische Fundierung betrifft, so ist er in dieser Hinsicht vollends unhaltbar, weil § 242 BGB keineswegs dem Richter die Ermächtigung zur selbständigen Korrektur „untragbarer“ Ergebnisse gibt – das wäre unzulässige richterliche Vertragsgestaltung und damit ein unvertretbarer Eingriff in die Privatautonomie –, sondern sich lediglich an die Parteien des Rechtsgeschäfts richtet und an deren Verhalten Anforderungen stellt. Die 1 Vgl. in diesem Zusammenhang auch § 25, insbesondere dort auch die Fn. 37 und 38. Im übrigen sei der Klarheit halber darauf hingewiesen, daß die Frage, ob sich Erfüllungsansprüche auch auf dem Weg über Schadensersatzansprüche i. V. m. § 249 BGB begründen lassen, hier nicht näher erörtert werden kann, da die Einzelheiten der Schadensersatzhaftung ausgeklammert bleiben (vgl. das Vorwort). Immerhin sei angemerkt, daß diese Konstruktion vom hier vertretenen Standpunkt aus abzulehnen ist; denn unzweifelhaft vermag die bloße Gewißheit, daß die Parteien dem Formerfordernis bei seiner Kenntnis Genüge getan hätten, dessen Einhaltung nicht zu ersetzen, und warum sich daran etwas ändern soll, wenn nun noch ein Verschulden des anderen Teils – u. U. culpa levissima! – und sonst nichts hinzutritt, ist wertungsmäßig nicht einzusehen; ebenso i. E. Flume § 15 II 4 c dd; Medicus § 8 III 3 c und JuS 65, 214 f.; Lorenz JuS 66, 435 f. 2 Vgl. statt aller Staudinger-Weber § 242 BGB Rdzn. D 421 ff.; Siebert-Knopp § 242 BGB Rdzn. 341 ff., jeweils m. Nachw.; neuesten Reinicke, Rechtsfolgen formwidrig abgeschlossener Verträge, 1969, S. 29–75. 3 Vgl. BGH WM 57, 1440 (1441); vgl. ferner z. B. OGHZ 1, 217 (219); BGH WM 61,179 (180); 61, 1172 (1173 f.); 63, 407 (408); 64, 828 (830 f.); NJW 65, 812 (813).
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von der Rechtsprechung verwendete Formel ist somit abzulehnen. Gleichwohl zeigt eine Analyse der mit ihrer Hilfe entschiedenen Fälle, daß hinter ihr durchgängige, rational faßbare Gesichtspunkte stehen. Diese werden alsbald deutlich, wenn man die Problematik in den Zusammenhang der Vertrauenshaftung stellt.4 I. Die Einordnung in die Lehre von der Vertrauenshaftung In der Leitentscheidung RGZ 107, 357, dem „Anzahlungsfall“, ging es um einen formnichtigen Grundstückskauf. Dabei hatte der Kl. dem Bekl. versichert, der „richtige“, d. h. der für die notarielle Beurkundung maßgebliche Kaufpreis sei die Summe, die nach Abzug der bereits geleisteten Anzahlung noch verbleibe; er „garantiere“ ihm, daß ihm „nichts passiere“, wenn lediglich dieser niedrige Preis beurkundet werde (S. 361). In Wahrheit hatte der Kl. „als Grundstückshändler genau gewußt ..., daß die Beurkundung des vorausbezahlten Kaufpreises nötig war, während der Bekl. davon keine Ahnung“ hatte (S. 361). [290] Das RG verneinte das Vorliegen einer arglistigen Täuschung i. S. des dolus praeteritus,5 wies aber die Herausgabeklage des Kl. gleichwohl ab, da seine „Berufung auf die Nichtigkeit des Vertrages“ mit seinem „früheren, von ihm zu vertretenden Verhalten in Widerspruch“ stehe6 und deshalb an der „Einrede“ bzw. „Replik“ der gegenwärtigen „Arglist“ scheitere.
Es liegt auf der Hand, daß sich diese Fallgestaltung ohne weiteres in das Grundschema der Vertrauenshaftung einfügen läßt: der Kl. hat in dem Bekl. vorsätzlich, also in zurechenbarer Weise das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage hervorgerufen, und dieser hat sein Verhalten darauf „eingerichtet“, indem er nicht auf der Beurkundung des vollen Preises bestand, das Grundstück in Besitz nahm, Zahlungen leistete bzw. die Anzahlung nicht sofort zurückforderte usw. Die Grundvoraussetzungen der Vertrauenshaftung – die Schaffung einer Vertrauensgrundlage und die Zurechenbarkeit dieses Verhaltens beim einen Teil, guter Glaube und eine „Disposition“ beim anderen Teil – sind also gegeben. 4 Vgl. auch Staudinger-Coing § 125 Rdz. 34 unter d und Coing Deutscher Notartag, 1965, S. 47 unter Bezugnahme auf seine Lehre von der „Vertrauenshaftung kraft schlüssigen Verhaltens“, die allerdings abzulehnen ist (vgl. oben § 4) und die im übrigen auch abgesehen davon zur Erfassung der hier vorliegenden Problematik ungeeignet wäre (vgl. unten S. 531 Fn. 3). 5 Zu Unrecht – und außerdem in Widerspruch zu seiner tatsächlichen Feststellung auf S. 361 – stützt es dies darauf, daß der Kl. nicht „gegen besseres Wissen“ gehandelt bzw. nicht „wissentlich wahrheitswidrige Behauptungen“ aufgestellt habe (S. 362); richtig war vielmehr insoweit die Begründung des Berufungsgerichts, der Kl. sei bei Vertragsschluß trotz der Nichtigkeit zur Erfüllung bereit gewesen (vgl. S. 363). 6 Das RG stützt sich daneben freilich noch auf eine Reihe weiterer Gesichtspunkte, die es untereinander nicht klar trennt; kritisch dazu z. B. Matthiessen DGWR 1938, 213 ff.; Boehmer aaO. S. 98; Lorenz AcP 156, 401 f. und JuS 1966, 432; Gernhuber, Festschrift für Schmidt-Rimpler, 1957, S. 167 f.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht Ähnliches gilt für die zweite Leitentscheidung, den „Kleinsiedlerfall“ BGHZ 16, 334. Hier hatte die bekl. Siedlungsgesellschaft mit der Kl. einen privatschriftlichen und deshalb gemäß §§ 313, 125 BGB nichtigen „Träger-Siedlervertrag“ über ein Grundstück geschlossen. Obwohl die Kl. während einer vereinbarten „Probezeit“ ihre Verpflichtungen erfüllt hatte, weigerte sich die Bekl. anschließend, ihr das Grundstück aufzulassen. Der BGH gab der Klage im Hinblick auf § 242 BGB statt. Zwar habe die Bekl. nicht „bei den Siedlern falsche Vorstellungen über die Notwendigkeit der Einhaltung der Form hervorgerufen“ (S. 337 f.) – darin besteht der Unterschied zu dem soeben erörterten Anzahlungsfall –, doch obliege ihr gegenüber diesen „eine weitgehende Betreuungspflicht“ (S. 338); die Siedler hätten zu ihr „das Vertrauen (gehabt), daß sie wisse, wie diese Rechtsangelegenheit zu behandeln sei“, und sie dürfe nicht entgegen dem „Vertrauen des Siedlers, nun eine gesicherte Rechtsstellung erlangt zu haben, ... den Vertrag tatsächlich in der Schwebe ... lassen“ (S. 338).
Hier wird also der Zusammenhang mit dem Vertrauensgedanken vom BGH selbst ausdrücklich hervorgehoben, und in der Tat ist er evident: die Bekl. hat in der Kl., wenn auch vielleicht nicht vorsätzlich, so doch schuldhaft (durch Verletzung einer entsprechenden Aufklärungspflicht) das Vertrauen in die Gültigkeit des Vertrages hervorgerufen, und diese hat sich darauf gutgläubig in ihrem Verhalten „eingerichtet“, da sie jahrelang in dem Haus gewohnt hat, Kaufpreisraten bezahlt hat usw. Mit dieser Einordnung in die allgemeinen Voraussetzungen der Vertrauenshaftung ist nun freilich nur der erste Schritt getan. Vor allem ist damit noch in [291] keiner Weise über die – hier ja letztlich allein interessierende – Frage entschieden, warum der Vertrauensschutz gerade in der Form eines Erfüllungsanspruchs zu gewähren ist. Im Gegenteil stehen dem auch vom Boden der Vertrauenshaftung aus auf den ersten Blick erhebliche Bedenken entgegen; denn zum einen ist insoweit zu beachten, daß hier nur ein verhältnismäßig schwacher Vertrauenstatbestand vorliegt und daß die Schutzwürdigkeit des Vertrauens dementsprechend grundsätzlich gering ist,7 und zum anderen bietet sich die zweite Möglichkeit der Vertrauenshaftung, also der Schadens- oder Aufwendungsersatzanspruch, ja geradezu an, da regelmäßig die Rechtssätze über die culpa in contrahendo einschlägig sein werden. Nimmt man hinzu, daß das Gesetz überdies eine Reihe weiterer Ausgleichsansprüche wie z. B. die §§ 812 ff. oder §§ 994 ff. BGB bereithält, so wird vollends zweifelhaft, warum hier ein Erfüllungsanspruch gewährt werden soll. Dementsprechend kann dessen Rechtfertigung allenfalls darin liegen, daß die „an sich“ einschlägigen Schadensersatz- und Ausgleichsansprüche hier auf Grund irgendwelcher vom Gesetzgeber nicht berücksichtigter Besonderheiten der Fallgestaltung ausnahmsweise keinen ausreichenden Schutz bieten,8 und es Vgl. näher oben S. 278. Klar gesehen z. B. in OGHZ 1, 217 (219); vgl. ferner etwa RGZ 169, 65 (75 vor Ziff. 4); BGHZ 12, 286 (304); 16, 334 (337); BGH WM 57, 1440 (1441 Sp. 2). 7 8
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ergibt sich deshalb sogleich die weitere Frage, worin denn jene Besonderheiten liegen – oder, anders gewendet, was hier die „rechtsethische Notwendigkeit“9 für die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs begründet. Auch in dieser Hinsicht sind nun die beiden zitierten Entscheidungen höchst aufschlußreich. Auszugehen ist von der Tatsache, daß keine Arglist i. S. des dolus praeteritus gegeben war und daß daher nicht ohne weiteres mit dem Fehlen jeder Schutzwürdigkeit des Grundstücksverkäufers argumentiert werden kann. Es müssen deshalb auf der Gegenseite, also in der Person des Vertrauenden besondere Umstände hinzukommen, die für diesen eine erhöhte Schutzwürdigkeit begründen. Solche Umstände sind in der Tat unschwer nachzuweisen. So hatte der Käufer im Anzahlungsfall den Verkäufer ausdrücklich darauf hingewiesen, es dürfe ihm bei dem Geschäft „nichts passieren ..., da er sonst mit seiner Familie auf der Straße liegen würde“ (S. 361). Ähnliches gilt für den Kleinsiedlerfall: die Kl., die in dem Haus schon seit vielen Jahren gewohnt und sich dieses vermutlich unter erheblicher finanzieller Anspannung „zusammengespart“ hatte, wäre bei dessen Verlust ebenfalls in die Gefahr geraten, „auf der Straße zu liegen“. Damit kommt der entscheidende Aspekt in den Blick: der Käufer wird hier durch den Verlust des Hauses in seiner Existenzgrundlage betroffen; oder, in die Kategorien der Vertrauenshaftung übersetzt: der Vertrauende hat hier nicht lediglich irgendeine beliebige „Disposition“ oder „Vertrauensinvestition“ vorgenommen, wie das etwa für die Rechtsscheinhaftung charakteristisch ist, sondern er hat sich in seiner ganzen Existenz auf die von ihm angenommene Rechtslage „eingerichtet“. [292] Von dieser Erkenntnis aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Klärung der Frage, warum die „an sich“ einschlägigen Anspruchsgrundlagen wie das Institut der c. i. c. oder die §§ 812 ff. BGB nicht „genügen“. Insbesondere hinsichtlich des Bereicherungsausgleichs liegt die Unzulänglichkeit auf der Hand. Denn mit dem zurückgezahlten Kaufpreis kann sich der Vertrauende regelmäßig keine neue gleichwertige Existenzgrundlage schaffen, da die Baupreise inzwischen meist erheblich gestiegen sind – im Anzahlungsfall war der Rückzahlungsanspruch wegen der Inflation kaufkraftmäßig sogar auf einen Bruchteil seines ursprünglichen Wertes geschrumpft (vgl. S. 360)! – und da es zudem, insbesondere bei der angespannten Lage auf dem Baumarkt, gänzlich ungewiß ist, ob er selbst unter Aufwendung einer höheren Summe, wieder ein vergleichbares Objekt findet. Auch mit einem Schadensersatzanspruch ist typischerweise nicht weiter zu kommen. Insoweit besteht zunächst schon ein erheblicher Unsicherheitsfaktor hinsichtlich des Beweisrisikos. Der Vertrauende muß nämlich hier entweder nachweisen, daß ohne das Verschulden des anderen Teils der Vertrag formgerecht abgeschlossen worden wäre, und das wird auf Grund der Eigenart der Fälle nur selten gelingen10 Vgl. oben S. 271. Im Anzahlungsfall hatte der Verkäufer ausdrücklich gedroht, er werde den Vertrag überhaupt nicht beurkunden lassen, wenn der Käufer auf der Beurkundung des vollen Preises be9
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– oder er muß nachweisen, daß er bei Kenntnis der Formnichtigkeit zu den gleichen Bedingungen ein anderes gleichwertiges Objekt gefunden hätte, und auch dieser Beweis wird angesichts der Lage auf dem Baumarkt oft nicht zu führen sein. Es kommt hinzu, daß auch ein Schadensersatzanspruch keine unbedingte Gewähr für einen vollen finanziellen Ausgleich bietet; denn zwar ist dessen Höhe anders als die des Bereicherungsanspruchs nicht durch den Kaufpreis für das bisherige Grundstück bestimmt, aber sie richtet sich doch nach den Umständen zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung, und der Käufer, der nunmehr erneut zu bauen beginnt, trägt daher das Risiko überdurchschnittlicher Preissteigerungen auf dem Baumarkt und das Risiko eines Konkurses der von ihm beauftragten Baufirmen bzw. ist auf rechtlich wie faktisch höchst unsichere Nachforderungen angewiesen.11 Schließlich fallen sehr wesentlich die immateriellen Beeinträchtigungen ins Gewicht. Nicht nur, daß sich der Käufer, der inzwischen i. d. R. schon etliche Jahre älter ist, erneut allem Ärger eines Hausbaues – und zudem meist eines zwischenzeitlichen Umzugs in eine Mietwohnung! – ausgesetzt sieht,12 er wird vor allem regelmäßig auch „aus seinem Lebenskreis herausgerissen“: er muß in eine neue Umgebung [293] ziehen und hat daher nicht mehr die bisherigen Nachbarn, die bisherigen Einkaufsmöglichkeiten, den bisherigen Weg zur Arbeitsstätte, die bisherigen Sport- oder Erholungsmöglichkeiten, er muß vielleicht seine Kinder in eine andere Schule schicken, er verliert u. U. seinen in jahrelanger „liebevoller“ Arbeit angelegten Garten usw. usw. All dies sind soziale Fakten, an denen das Recht zumindest bei der Anwendung des § 242 BGB nicht einfach vorbeigehen kann, und auch dogmatisch gesehen sind diese Umstände im Rahmen der Vertrauenshaftung von wesentlicher Bedeutung, weil erst aus ihnen das volle Ausmaß des „Sich-Einrichtens“, also der „Vertrauensinvestition“ deutlich wird. Natürlich folgt daraus nun nicht ohne weiteres, daß der Vertrauende jedenfalls durch einen Erfüllungsanspruch geschützt wird. Vielmehr muß jetzt die Betrachtung wieder zur Gegenseite, also zur Frage der Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit des anderen Teils zurückkehren. Mag nun insoweit auch keine Arglist vorliegen, so ist doch zumindest eine stark gesteigerte Zurechenbarkeit zu bejahen: im Falle RGZ 107, 357 wußte der Verkäufer als Grundstückshändler um die Formnichtigkeit (vgl. S. 361), und im Falle BGHZ 16, 334 lag zumindest grob fahrlässige stünde (vgl. S. 361). Auch bei den Siedlungs- und Wohnungsgesellschaften ist es höchst zweifelhaft, ob sie auf Verlangen eines potentiellen Käufers von ihrer – offenbar ziemlich verbreiteten und zudem kostensparenden – Geschäftspraxis, Vorverträge und dgl. nicht beurkunden zu lassen, abgehen oder ob sie, zumal in Anbetracht der Lage auf dem Baumarkt und ihrer wirtschaftlichen Machtposition, nicht lieber auf diesen Kunden verzichten würden; jedenfalls kann man wegen des Prinzips der Vertragsfreiheit keinesfalls ohne weiteres einen formgerechten Vertragsschluß unterstellen, vgl. auch oben S. 275 f. 11 Vgl. dazu auch von Marschall NJW 65, 1015 Sp. 2. 12 Das hebt auch Lorenz JuS 66, 431 mit Recht hervor.
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Unkenntnis der Siedlungsgesellschaft vor; in beiden Fällen war zudem von vornherein klar erkennbar, welch weitreichende Auswirkungen die Nichtigkeit des Vertrages für den Käufer haben würde, und im Anzahlungsfall hatte dieser darauf sogar noch ausdrücklich hingewiesen. Es muß daher in der Tat als ein rechtsethisch untragbarer Widerspruch zu dem eigenen Vorverhalten angesehen werden,13 wenn der Verkäufer, der selbst den Käufer in zurechenbarer, ja schwer schuldhafter Weise zu einer nicht wieder rückgängig zu machenden Vertrauensinvestition veranlaßt hat, nunmehr seinen Rechtsstandpunkt wechselt und einen Vertrag als nichtig behandelt, dessen Gültigkeit er zuvor ausdrücklich oder konkludent behauptet hat; der Rechtswert der Beständigkeit, der dem Verbot des venire contra factum proprium zugrundeliegt, fordert deshalb von ihm, daß er zu seinem früheren Verhalten steht und dessen Konsequenzen auf sich nimmt, daß er also den Vertrauenden nicht auf die unzureichenden, „an sich“ vielleicht gegebenen Bereicherungs- und Schadensersatzansprüche verweist, sondern den Vertrag erfüllt. Eine letzte Frage ist freilich bisher noch nicht berührt worden: die der Umgehung der Formvorschriften. Insoweit kann an die Ausführungen über das entsprechende Problem bei der arglistigen Täuschung angeknüpft werden.14 Auszugehen ist danach von der Einsicht, daß die Formvorschriften allenfalls analog angewandt werden können und daß daher – anders als bei ihrer unmittelbaren Anwendung – die Frage, ob der Formzweck in concreto überhaupt beeinträchtigt ist, gestellt werden darf und gestellt werden muß. Auch in dieser Hinsicht sind nun die beiden zitierten Entscheidungen sehr lehrreich. Beide beginnen nämlich bezeichnenderweise mit [294] genaueren Untersuchungen darüber, ob die Anwendung des § 313 BGB nicht überhaupt unterbleiben könne, weil sie durch die ratio legis nicht gefordert werde, beide stellen fest, daß „der eigentliche Zweck der Bestimmung“15 hier nicht beeinträchtigt bzw. hier „nicht besonders vordringlich“16 war, und wenn beide gleichwohl die Anwendbarkeit des § 313 BGB bejahen, so tun sie dies letztlich nur deshalb, weil sie die Außerkraftsetzung der Formvorschrift allein mit der Begründung, die Erfüllung des Formzwecks sei in concreto überflüssig oder anderweitig gewährleistet, als unzulässig erachten – also aus einem Gesichtspunkt, der zwar bei unmittelbarer Anwendung des § 313 BGB in der Tat richtig ist,17 nicht aber bei der hier in Frage stehenden Analogie oder Extension wegen Umgehungsgefahr.14 So sind auch in dieser Hinsicht keine durchschlagenden Beden13 Vgl. RG aaO. S. 363. Im Kleinsiedlerfall hat der BGH zwar nicht mit dem Verbot des venire contra factum proprium gearbeitet, doch paßt dieses auch hier, vgl. auch Lorenz aaO. S. 436. 14 Vgl. § 25 II 2. 15 Vgl. RGZ 107, 358. 16 Vgl. BGHZ 16, 335. 17 Vgl. die Nachweise oben § 25 Fn. 7. Vgl. in diesem Zusammenhang freilich auch Steindorf ZHR 129, 30 und dazu § 25 Fn. 7 a. E.
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ken gegen die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs gegeben: liegt der Formmangel lediglich darin, daß der Kaufpreis nicht in voller Höhe beurkundet ist, so ist die „Warnfunktion“ des § 313 BGB, die primär die Verpflichtung zur Veräußerung des Grundstücks und nicht die – vom Notar ja gar nicht zu beeinflussende! – Höhe des Kaufpreises betrifft, kaum beeinträchtigt, und ist die Verkäuferin eine Siedlungsgesellschaft, die ohnehin kraft Gesetzes zur Veräußerung verpflichtet ist – nur eben nicht unbedingt gerade an diesen Siedler –, so ist ebenfalls ein Schutz vor Übereilung in der Tat „nicht besonders vordringlich“. Nimmt man schließlich hinzu, daß ein Grundstückshändler und eine Siedlungsgesellschaft generell nicht sonderlich schutzbedürftig erscheinen und daß sie in concreto angesichts ihres die Grenze des Anstößigen streifenden Verhaltens auch nicht unbedingt schutzwürdig waren, dann wird vollends deutlich, daß die Formvorschriften hinter den rechtsethischen Postulaten zurückstehen müssen. II. Die einzelnen Haftungsmerkmale Mit der Einordnung der Problematik in die Vertrauenshaftung und mit der vor diesem Hintergrund vorgenommenen Analyse der beiden Leitentscheidungen dürfte zugleich eine „rechtstheoretische Präzisierung“ erreicht sein, die eine Verallgemeinerung für andere Fälle ermöglicht; denn die maßgeblichen Kriterien lassen sich nunmehr wesentlich genauer erfassen und zugleich in einen inneren Zusammenhang bringen. Versucht man dementsprechend, die einzelnen Anspruchsmerkmale abstrakt zu formulieren, so ergibt sich folgendes Bild: 1. Voraussetzung ist zunächst guter Glaube hinsichtlich der Formwirksamkeit des Vertrages.18 Daran fehlt es nicht nur dann, wenn die betreffende Partei die Nichtigkeit kannte, sondern auch dann, wenn ihr Vertrauen nicht schützenswert erscheint. [295] Wann letzteres der Fall ist, läßt sich hier so wenig wie sonst generell sagen;19 Evidenz des Formmangels in dem Sinne, daß der Vertrauende vor ihm „geradezu die Augen verschlossen“ hat, schadet aber immer, und auch grobe Fahrlässigkeit wird meist zu einer Verneinung des Anspruchs führen19. Im übrigen kommt es maßgeblich auf die Geschäftserfahrenheit und die Rechtskunde des Vertrauenden an. Daneben ist von wesentlicher Bedeutung, wer von den beiden Parteien „näher daran“ ist, für die Erfüllung der Form zu sorgen bzw. den Mangel zu erkennen; so wird man sicher nicht der Klage eines Grundstückshändlers oder einer Wohnungsgesellschaft stattgeben, die von einem geschäftsunerfahrenen Bauern ein Grundstück formnichtig gekauft haben. Freilich darf man in dieser Richtung auch nicht zu weit gehen und etwa sagen, der Erfahrenere und 18 19
Vgl. freilich auch unten § 30. Vgl. im Grundsätzlichen unten § 40 I.
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wirtschaftlich Stärkere könne niemals einen Anspruch aus Vertrauenshaftung haben. Mit Recht hat es das BAG daher z. B. nicht generell ausgeschlossen, daß auch der Arbeitgeber sich gegenüber der Formnichtigkeit eines gegen § 74 I HGB verstoßenden Wettbewerbsverbots u. U. auf § 242 BGB berufen kann.20 2. Weitere Voraussetzung ist grundsätzlich, daß der Vertrauende eine „Disposition“ oder „Vertrauensinvestition“ vorgenommen, sich also auf die vermeintliche Rechtslage „eingerichtet“ hat. Was die Art der dazu erforderlichen Maßnahmen betrifft, so ist zunächst festzuhalten, daß der bloße Abschluß des Vertrages hier – anders als in den Fällen des dolus praeteritus oder auch der Rechtsscheinhaftung – niemals ausreicht.21 Aber auch nicht jede darüber hinausgehende Disposition ist ohne weiteres als genügend anzusehen. Wesentlich sind vielmehr insoweit zwei zusätzliche Kriterien: die „Irreversibilität“ und das Ausmaß der Vertrauensinvestition. Das erste Merkmal bedeutet, daß regelmäßig22 nur solche Maßnahmen in Betracht kommen, die nicht ohne weiteres wieder rückgängig zu machen sind;23 denn wenn ohne größere Schwierigkeiten der frühere Zustand wieder hergestellt werden kann, läßt sich die „rechtsethische Notwendigkeit“, unter Durchbrechung der Formstrenge einen Erfüllungsanspruch zu gewähren, nicht einsichtig machen. Beispiele „irreversibler“ Maßnahmen sind etwa, daß der Vertrauende seine bisherige Wohnung gekündigt hat und daß diese inzwischen anderweitig vermietet ist oder daß er seinen Arbeitsplatz aufgegeben hat und auf diesen nun nicht mehr zurück- [296] kehren kann;24 erst recht ist die Lage natürlich „irreversibel“ geworden, wenn der Vertrauende in seinem neuen Lebenskreis bereits „verwurzelt“ ist,25 und genügend ist es insoweit auch, wenn die an sich mögliche Rückgängig-
20 Vgl. BAG AP Nr. 2 zu § 74 HGB (Larenz). Es müssen freilich ganz besondere Umstände vorliegen, damit der Arbeitgeber schutzwürdig erscheint; denn er ist nicht nur regelmäßig der „Überlegene“, sondern auch der primär am Abschluß des Wettbewerbsverbots Interessierte, und es ist daher in erster Linie seine Sache, für die Einhaltung des Formerfordernisses zu sorgen. – Zur Berufung des Arbeitsnehmers auf § 242 BGB vgl. RAG 14, 144 (146 ff.). 21 Vgl. näher unten § 40 III 1 = S. 511 f. und § 43 II = S. 529 und 530 f. 22 Die Irreversibilität der eingetretenen Entwicklung kann sich freilich außer aus der Art der Disposition auch aus anderen Umständen ergeben; eine besondere Rolle spielt insoweit vor allem die Erlangung eines nicht herausgabepflichtigen Vorteils durch den anderen Teil, vgl. dazu unten S. 299 f. sowie zusammenfassend S. 531. 23 Vgl. dazu zusammenfassend unten § 43 II. 24 Auch sonst spielen Rechtsgeschäfte mit Dritten in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, so etwa die Zustimmung zu einer Schuldübernahme oder -befreiung, die im Vertrauen auf eine formnichtige Bürgschaft gegeben wird; vgl. z. B. RG ZAkDR 38, 853 = JW 38, 1023 sowie RGZ 157, 207 (209 f.). 25 Vgl. näher oben S. 292 f. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch die Länge der Zeit, während der er sich unangefochten im Besitz des Grundstücks befindet, ein wesentliches Kriterium. Wo diese allerdings zentrale Bedeutung für die Anspruchsbegründung erlangt, ist der Fall dem Tatbestand der „Erwirkung“ (vgl. unten §§ 31 f.) zuzuordnen.
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machung ihm wegen Krankheit oder dgl. nicht mehr zuzumuten ist.26 – Als zweites kommt dem Ausmaß der Vertrauensinvestition maßgebliche Bedeutung zu. Dieses kann von der Aufwendung geringfügiger Geldbeträge bis zu Maßnahmen reichen, die die gesamte Existenz des Vertrauenden ergreifen.27 Ist letzteres der Fall, so gibt das bei der erforderlichen Gesamtabwägung der Umstände28 regelmäßig den Ausschlag zugunsten des Vertrauenden,29 doch können auch geringere Grade der „Existenzbeeinträchtigung“ oder sogar sonstige Maßnahmen u. U. ausreichen.30 3. Die so entstandene Lage muß dem Gegner des Vertrauenden zurechenbar sein. Als Maßstab kommt dabei nicht nur das Verschuldensprinzip, sondern auch jedes andere dem geltenden Recht bekannte Zurechnungskriterium in Betracht, da sich weder die Vertrauenshaftung noch das Verbot des venire contra factum proprium von vornherein auf die Verbindung mit einem einzigen bestimmten Prinzip beschränken lassen.31 Dementsprechend spielt neben dem Verschuldensprinzip auch das „Veranlassungsprinzip“ – das hier freilich ebenso wie sonst lediglich als eine besondere Ausformung des Risikoprinzips zu verstehen ist32 – im vorliegenden Zusammenhang eine erhebliche Rolle; so läßt sich mit seiner Hilfe eine Haftung beispielsweise auch dann begründen, wenn der eine Teil nur deshalb in dem anderen [297] das Vertrauen auf die Wirksamkeit des Vertrages hervorgerufen oder die Erfüllung des Formerfordernisses verhindert hat, weil er sich selbst in einem schuldlosen Irrtum über die Rechtslage befand.33 Zu beachten ist im übrigen, daß Bezugspunkt der Zurechnung stets die inzwischen entstandene Lage des Vertrauenden ist; denn im Mittelpunkt der Prob26 Ein weiteres interessantes Beispiel einer irreversiblen Vertrauensinvestition findet sich im „Schriftleiterfall“ RAG JW 38, 2426, wo der Kl. nicht nur auf Veranlassung der Bekl. seine Verhandlungen über den Übertritt zu einer anderen Zeitung abgebrochen, sondern sich auch zur Klärung der von der Bekl. gegen ihn erhobenen Vorwürfe einem Ehrengerichtsverfahren unterzogen hatte. 27 Vgl. oben S. 291 und zusammenfassend unten S. 531. 28 Vgl. dazu sogleich unten III. 29 Vgl. auch die obiter dicta in BGHZ 48, 396 (398); BGH WM 57, 1440 (1441 Sp. 2); 61, 179 (180 Sp. 2: „Zusammenbruch“); 64, 828 (831); 66, 89 (91); NJW 69, 1167 (1170); vgl. ferner Lorenz aaO. S. 431 und 436 und, z. T. kritisch, Reinicke aaO. S. 69 ff. 30 Vgl. zusammenfassend unten § 43 II. 31 Vgl. näher unten § 38 II und III. Daß das Verbot des venire contra factum proprium nicht unbedingt Verschulden voraussetzt, ist anerkannt, vgl. z. B. Siebert-Knopp § 242 Rdz. 229 und Staudinger-Weber § 242 Rdz. D 338. 32 Vgl. näher unten § 38 I und III a. A. = S. 480. „Veranlassung“ bedeutet daher im wesentlichen, daß jemand durch ein objektiv fehlerhaftes – aber darum doch nicht notwendig fahrlässiges – Verhalten einen „Mangel“ hervorgerufen oder daß er eine spezifische Gefahrenlage geschaffen hat. 33 Daß auch bei schuldlosem Verhalten ein Erfüllungsanspruch grundsätzlich in Betracht kommt, steht heute weitgehend außer Streit; vgl. statt aller Siebert-Knopp § 242 Rdz. 344 m. Nachw.
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lematik steht ja die Frage, ob es dem anderen Teil im Hinblick auf die nunmehr eingetretene Entwicklung34 gestattet sein kann, seine Leistung zu verweigern. Daraus folgt, daß die Zurechnungsvoraussetzungen nicht unbedingt immer hinsichtlich der Herbeiführung des Formmangels selbst oder der Erregung eines Irrtums über diesen gegeben sein müssen,35, 36 sondern daß es auch genügen kann, wenn lediglich die Disposition des Vertrauenden vom anderen Teil verschuldet oder „veranlaßt“ war. 4. Als nächstes ist die Frage zu prüfen, ob und in welchem Grade durch die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs der Formzweck umgangen werden kann.37 Hierfür kommt es zunächst wesentlich darauf an, welchen Bestandteil des Vertrages der Formfehler betrifft und ob der erforderliche Formtyp überhaupt nicht eingehalten oder ob er lediglich nicht ganz korrekt in allen Einzelheiten erfüllt ist; wenn sich z. B. der Formmangel im Falle des § 313 BGB lediglich auf den Kaufpreis oder auf bestimmte Nebenleistungen bezieht, so ist die Gefahr einer Umgehung des Formzwecks weit geringer zu bewerten, als wenn der Mangel die Verpflichtung zur Übereignung des Grundstücks betrifft, – und wenn etwa bei der notariellen Beurkundung eine unrichtige Zeitangabe unterlaufen ist,38 dann fällt das ungleich weniger ins Gewicht, als wenn z. B. statt notarieller Beurkundung nur eine privatschriftliche oder gar nur eine mündliche Vereinbarung vorliegt. – Sodann sind Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit des Haftenden auch in diesem Zusammenhang von Bedeutung; erstere hängt maßgeblich von dessen Rechtskunde und Geschäftserfahrung ab, während es für letztere hauptsächlich auf den Grad der Zurechenbarkeit ankommt. Schließlich werden die Bedenken gegen die Umgehung des Formzwecks auch dann wesentlich gemildert, wenn sich dartun läßt, daß die Parteien das Formerfordernis, wäre es ihnen bekannt gewesen, erfüllt hätten. Vorsicht ist dagegen gegenüber Versuchen geboten, entscheidend auf das Motiv abzustellen, aus dem heraus die Erfüllung verweigert wird. Zwar erscheint die [298] Durchbrechung der Formstrenge in der Tat eher gerechtfertigt, wenn der wahre Grund für die Nichterfüllung außer jedem inneren Zusammenhang mit dem Formzweck steht und die Geltendmachung des Formmangels daher nur einen „Vorwand“ bildet,39 doch darf man dieses Urteil nicht vorschnell fällen. 34 Zu deren Maßgeblichkeit vgl. schon oben S. 288 und näher unten S. 301 f. sowie S. 531 mit Fn. 33. 35 Auch das steht mit der Rechtsprechung i. E. im Einklang, vgl. z. B. BGHZ 16, 334 (337). 36 Sind sie gegeben, so ist hinsichtlich der weiteren Folgen, d. h. insbesondere hinsichtlich der entscheidenden Dispositionen des Vertrauenden, adäquater Kausalzusammenhang genügend, aber auch erforderlich. 37 Vgl. auch soeben oben S. 293 f. sowie im Grundsätzlichen § 25 II 2. 38 Als Beispiel vgl. BGHZ 29, 6 (8 f.). 39 Vgl. dazu auch BGHZ 29, 6 (12); Lorenz JuS 66, 436; Esser § 6 III 3 = S. 39; gegen jede Berücksichtigung jetzt Reinicke aaO. S. 71.
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Vor allem ist zu bedenken, daß es häufig zu dem Streit zwischen den Parteien möglicherweise gar nicht gekommen wäre, wenn von vornherein über alle Nebenpunkte – die aus gutem Grund ja grundsätzlich ebenfalls vom Formerfordernis erfaßt werden! – klare und „förmliche“ Abmachungen getroffen worden wären und wenn ein Notar ihnen insoweit mit Rat und Formulierungshilfe zur Seite gestanden hätte.40 Auch ist es keineswegs generell zu mißbilligen, wenn eine Partei sich deshalb vom Vertrag lösen will, weil sie ihn „nachträglich als ungünstig empfindet;“ denn das Formerfordernis soll doch u. a. gerade vor der Eingehung von Verträgen, deren Abschluß man vielleicht alsbald schon bereut, warnen!41 Wesentlich anders liegt die Problematik, wenn nicht ein gesetzliches, sondern nur ein gewillkürtes Formerfordernis verletzt ist; denn da dieses zur Disposition der Parteien steht, wiegen die Bedenken gegen seine Umgehung erheblich leichter, und daher sind hier für die Bejahung eines Erfüllungsanspruchs aus § 242 BGB – soweit für einen solchen überhaupt ein Bedürfnis besteht42 –, weit geringere Voraussetzungen ausreichend als sonst. 5. Neben den bisher genannten Merkmalen, deren Prüfung auf Grund der Sachproblematik immer erforderlich ist und die zusammen mit der unter Ziff. 6 noch zu erörternden „negativen“ Anspruchsvoraussetzung sozusagen das feste Gerüst bilden, können noch weitere Gesichtspunkte bedeutsam werden. Denn die Feststellung einer „rechtsethischen Notwendigkeit“ und die Anwendung des § 242 BGB erlauben wesensmäßig keine abschließende Tatbestandsbildung. So hat der BGH im Kleinsiedlerfall u. a. berücksichtigt, daß der Beklagten gegenüber der Klägerin eine Betreuungspflicht oblag.43 Diesem Kriterium ist in der Tat eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen; denn zum einen wird daraus die besondere Intensität der Vertrauensbeziehung zwischen den Parteien, die Stärke des Vertrauenstatbestandes und die erhöhte Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Siedlers deutlich, und zum anderen ist die Verletzung der Betreuungspflicht auch für die rechtsethische Bewer- [299] tung des Verhaltens der Bekl., die bei der Prüfung des venire contra factum proprium erforderlich ist,44 von Wichtigkeit. Aus dieser Begründung ergibt sich freilich zugleich, daß dieses Merkmal im Ge40 So war z. B. im Falle BGH LM Nr. 23 zu § 313 BGB entgegen der Ansicht des BGH „der gesetzgeberische Zweck des § 313 BGB“ nicht „auch ohne Einhaltung der vorgeschriebenen Form gewährleistet“; denn es ist durchaus möglich, daß bei notarieller Beratung eine klare Vereinbarung über die Art, in der die fragliche Parzelle von dem Erwerber sollte genützt werden dürfen, in den Vertrag aufgenommen worden wäre und daß es dann anschließend entweder nicht zur Errichtung der Tankstelle usw. oder aber nicht zum Streit über deren Zulässigkeit gekommen wäre. 41 Sehr bedenklich in der Formulierung daher BGHZ 29, 6 (12) und z. T. schief in der Problemsicht auch Flume § 15 III 4 c ee. 42 Vgl. dazu unten § 31 Fn. 32. 43 Vgl. BGHZ 16, 334 (338). 44 Vgl. unten III 2 = S. 303.
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samtzusammenhang der Vertrauenshaftung lediglich ein zu den übrigen Umständen hinzutretendes unselbständiges Kriterium ist und daß es dementsprechend ohne weiteres durch andere Gesichtspunkte ersetzt werden kann;45 dies gilt um so mehr, als die Betreuungspflicht nur eine besondere Form der jedem Vertrag innewohnenden, aus § 242 BGB folgenden „Schutzpflichten“ darstellt. Ähnlich steht es mit dem Gleichbehandlungsgedanken. Wenn z. B. eine Wohnungsgesellschaft mit einer Vielzahl von Käufern formnichtige Verträge schließt und dann lediglich gegenüber einem oder einigen wenigen ohne sachlichen Anlaß den Mangel geltend macht, so kann auch das nicht nur u. U. für die Stärke des Vertrauenstatbestandes von Bedeutung sein,46 sondern vor allem auch wieder das rechtsethische Urteil über das Verhalten des Verkäufers beeinflussen;47 anspruchstragende Bedeutung kommt aber auch diesem Kriterium für sich allein im Rahmen der Vertrauenshaftung nicht zu.48 Eine besondere Rolle spielt schließlich in der Rechtsprechung der Gedanke, daß eine Partei auf Grund des formnichtigen Vertrages Vorteile erlangt hat, die sie nun trotz der Unwirksamkeit des Geschäfts „behalten darf“ oder die sie „nicht wieder herausgeben kann“.49 Paradigmatisch hierfür ist der Fall, daß ein Bürge mit dem Hauptschuldner wirtschaftlich verflochten ist und daher mittelbar selbst Nutzen aus dem Kredit bzw. aus den mit dessen Hilfe getätigten Geschäften gezogen hat, dann aber, nachdem der Hauptschuldner in Vermögensverfall geraten ist, die Zahlung unter Hinweis auf die Formnichtigkeit der Bürgschaft verweigert.50 Es liegt auf der Hand, daß hier wieder der Gesichtspunkt der „Irreversibilität“ eine entscheidende Rolle spielt. Denn wenn die erlangten Vorteile nicht herausgabepflichtig oder -fähig sind, so folgt daraus unmittelbar, daß die entstandene Lage nicht wieder voll rückgängig zu machen ist; der Unterschied zu den früher behandelten Fällen51 besteht [300] lediglich darin, daß die maßgeblichen Umstände jetzt auf der anderen Seite eingetreten sind: droht dort dem Vertrauenden ein „irreversibler“ Nachteil, so erwirbt hier dessen Gegner einen „irreversibUnrichtig daher BGH NJW 65, 812; vgl. näher unten S. 306 f. Insoweit ist allerdings zusätzlich erforderlich, daß dem Vertrauenden das Verhalten der Gesellschaft gegenüber den anderen Käufern vor dem maßgeblichen Zeitpunkt bekannt war. 47 Vgl. auch BGH WM 56, 384 (385); OLG Hamburg MDR 64, 145 (146). 48 Wo der Gleichbehandlungsgrundsatz zur selbständigen Anspruchsgrundlage wird wie im Fall BGHZ 29, 76, handelt es sich dogmatisch nicht mehr um Vertrauenshaftung; allerdings werden im vorliegenden Zusammenhang die Voraussetzungen einer echten Gleichbehandlungspflicht (vgl. zu diesen statt aller G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, 1958) nur äußerst selten erfüllt sein. 49 Vgl. (mit unterschiedlichen Formulierungen) RGZ 107, 357 (361); 153, 57 (61); 157, 207 (210); RG JW 1938, 1023 (1024); BGHZ 26, 142 (151); 29, 6 (12); BGH WM 57, 883 (886); 61, 179 (180 Sp. 2). Vgl. dazu jetzt auch Reinicke aaO. S. 62 ff. 50 Vgl. RG JW 38, 1023 = ZAkDR 38, 853 und BGHZ 26, 142 (151) und dazu unten S. 310. 51 Vgl. oben S. 289 f. 45 46
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len“ Vorteil. Ebenso evident ist weiter der Zusammenhang mit dem Verbot des venire contra factum proprium, leuchtet es doch unmittelbar ein, daß es ein rechtsethisch zu mißbilligender Selbstwiderspruch sein kann, wenn jemand erst den Nutzen aus einem Geschäft für sich in Anspruch nimmt, sich dann aber den damit verbundenen Nachteilen entziehen will. – Freilich ist auch bei diesem Kriterium Vorsicht geboten. Insbesondere darf es nicht zur generellen Umgehung solcher gesetzlicher Wertungen führen, die außer jedem Zusammenhang mit dem Formmangel stehen. Mit Recht hat es die Rechtsprechung daher nicht als genügend angesehen, daß der eine Teil deshalb einen Vorteil hat, weil der Gegenanspruch inzwischen durch eine Währungsumstellung abgewertet worden ist.52 Unerheblich ist grundsätzlich auch die Zahlungsfähigkeit des Rückgewährpflichtigen;52a denn die Rechtsordnung stellt für diesen Fall zum Schutze des anderen Teils bestimmte Sicherungen bereit wie das Zurückbehaltungsrecht der §§ 273, 1000 BGB und 369 HGB oder die aus der Saldotheorie folgende Zug-um-ZugEinrede, und es ist nicht ersichtlich, warum diese hier nicht ausreichen sollen – ganz abgesehen davon, daß u. U. ja auch noch die Möglichkeit einer Zwangsvollstreckung in den betreffenden Gegenstand bzw. in den Rückübertragungsanspruch besteht. Ebensowenig kann der bloße Wegfall der Bereicherung zu einer Erfüllungshaftung aus § 242 BGB führen, da auch insoweit durch die Saldotheorie eine hinreichende Sicherung gewährleistet ist. Vollends bedeutungslos ist schließlich, ob derjenige, der den Vorteil erlangt hat, diesen behalten will oder nicht;52b er muß dann eben notfalls im Klagewege zur Herausgabe gezwungen werden. 6. Als letzte Anspruchsvoraussetzung muß schließlich hinzukommen, daß die „an sich“ von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Anspruchsgrundlagen, d. h. insbesondere Schadensersatzansprüche wegen „Schutzpflichtverletzungen“ oder aus §§ 823 ff. BGB und Ausgleichsansprüche nach §§ 677 ff., 812 ff. oder 994 ff. BGB, für eine angemessene Lösung nicht ausreichen. Diese Subsidiarität der Erfüllungshaftung ergibt sich vor allem daraus, daß anderenfalls das gesetzliche Ausgleichssystem ausgehöhlt würde und daß sich die „rechtsethische Notwendigkeit“, trotz der Nichtigkeit des Vertrages einen Erfüllungsanspruch zu gewähren, sonst nicht begründen läßt. Dabei genügt es selbstverständlich nicht, daß nur in concreto ein einzelnes Merkmal eines an sich in Betracht kommenden Anspruchs zufällig nicht erfüllt ist – es fehlt z. B. für einen Anspruch aus c. i. c. am Verschulden –, sondern [301] die gesetzliche Schadens- und Ausgleichsordnung muß 52 Vgl. OGHZ 1, 217 (220); BGH WM 61, 179 (180 Sp. 2); vgl. freilich auch BGHZ 23, 249 (254 f.). 52a Bedenklich daher die vom BGH in WM 57, 1440 (1441 Sp. 2) mitgeteilte unveröffentlichte Entscheidung. 52b Bedenklich daher z. B. die Formulierung des Berufungsgerichts in RGZ 153, 57 (61); richtig OHGZ 1, 217 (220).
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typischerweise für eine derartige Fallgestaltung versagen; denn wo letzteres nicht der Fall ist, enthält das Gesetz keine Schutzlücke, und außerdem könnten sonst untragbare Wertungswidersprüche entstehen, – etwa in dem Sinne, daß jemand nur deshalb auf Erfüllung haftet, weil ihn kein Verschulden trifft, während er im Falle schuldhaften Handelns bei im übrigen gleicher Lage lediglich zum Ersatz des – zudem u. U. über § 254 BGB erheblich geminderten – negativen Interesses verpflichtet wäre. Was nun im einzelnen die Umstände betrifft, die die Beschränkung des Vertrauenden auf die „an sich“ einschlägigen Ansprüche als unzureichend erscheinen lassen, so haben sich im bisherigen Verlauf der Erörterungen bereits zwei Merkmale als wesentlich abgezeichnet, deren zentrale Bedeutung der weitere Gang der Untersuchung in der Tat immer wieder bestätigen wird: eine besonders weitreichende, „existentiell“ bedeutsame Disposition auf Seiten des Vertrauenden und die Erlangung eines nicht herausgabepflichtigen Vorteils auf Seiten des anderen Teils.53 Indessen lassen sich die hierfür maßgeblichen Umstände nicht von vornherein abschließend festlegen, und insbesondere ist es auch möglich, daß insoweit nicht ein einzelner Gesichtspunkt, sondern erst die spezifische Art des Zusammenwirkens mehrerer oder aller Kriterien entscheidend ist. III. Die Erfüllungshaftung als Folge eines „beweglichen Zusammenspiels“ der einzelnen Merkmale Damit ist bereits eine weitere Frage in den Blick gekommen. Die Eigenart der Problematik bringt es nämlich mit sich, daß sich aus den herausgearbeiteten Merkmalen nicht ohne weiteres die Rechtsfolge ableiten läßt. Es muß vielmehr noch ein besonderes, die „rechtsethische Notwendigkeit“ der Gewährung eines Erfüllungsanspruchs begründendes Werturteil hinzukommen. 1. Dieses erfaßt man am angemessensten mit Hilfe des Prinzips des venire contra factum proprium.54 Für diesen Rechtsgedanken ist, entsprechend seiner Zugehörigkeit zum Bereich des dolus praesens, charakteristisch, daß anders als beim dolus praeteritus – aber auch anders als z. B. bei der Rechtsscheinhaftung – nicht das Verhalten bei oder vor Vertragsschluß im Mittelpunkt der Bewertung steht, sondern die seither eingetretene Entwicklung. Anderseits ist auch diese keineswegs für sich Vgl. oben S. 291 bzw. soeben S. 299 f. und zusammenfassend unten § 43 II = S. 531. Dessen Bedeutung für die Problematik der formnichtigen Verträge wird häufig betont; vgl. schon Riezler aaO. S. 140 ff.; vgl. ferner z. B. RGZ 107, 357 (363); 153, 59 (61); 157, 207 (209); BGH WM 57, 883 (886 Sp. 1); 61, 1172 (1173 Sp. 2); Boehmer aaO. S. 96 f. und 99; Lorenz AcP 156, 401 f. und JuS 66, 436; Wieacker aaO. S. 28 f.; Esser § 6 III 1 a. E.; Staudinger-Coing § 125 Rdz. 34 unter d und Coing Deutscher Notartag 1965, S. 47 f. (vgl. auch oben Fn. 4); LehmannHübner § 31 VII 4 c und 5; Staudinger-Weber § 242 Rdz. D 426; Siebert-Knopp § 242 Rdz. 345. 53 54
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allein entscheidend, sondern sie ist ihrerseits wieder in Beziehung zu setzen zu dem „Vorverhalten“. Das Urteil der „Widersprüchlichkeit“ baut also darauf auf, daß jemand [302] sich an der derzeitigen Lage angesichts seiner Mitverantwortung für ihr Entstehen festhalten lassen muß. Genau um diese Problemstellung geht es nun auch hier. Insbesondere das dem Verbot „widersprüchlichen Verhaltens“ zugrunde liegende Erfordernis der Zurechenbarkeit und der Anknüpfung an das Parteiverhalten ist unverzichtbar und bildet die wesentliche Abgrenzung gegenüber einer bloßen Billigkeitskorrektur „untragbarer Ergebnisse“, wie sie bei der heute von der Rechtsprechung verwandten Formel droht:55 an die Stelle richterlicher Vertragsgestaltung hat eine fallgerechte Konkretisierung des Prinzips der Selbstverantwortung in seiner Verbindung mit dem Vertrauensgedanken zu treten. Daß das Verbot des venire contra factum proprium diese beiden entscheidenden Kriterien in sich vereint und zudem ihr spezifisches Verhältnis zueinander richtig ausdrückt, macht die Stärke der auf ihm aufbauenden Lösungsversuche aus und begründet deren Überlegenheit gegenüber anderen Theorien.56 2. Was nun das Verhältnis zwischen dem „Vorverhalten“ und der späteren Entwicklung sowie den Zusammenhang mit den übrigen herausgearbeiteten Kriterien angeht, so ist dafür charakteristisch, daß die Formulierung eines abgeschlossenen Tatbestandes nicht möglich ist. Vielmehr ist hier ein Musterbeispiel dessen gegeben, was WILBURG ein „bewegliches System“ genannt hat.57 In der Tat dürfte dieses das sachgerechteste methodische Instrument für die Bewältigung der
Vgl. oben S. 289. Daß die Rechtsprechung sich weitgehend von der Argumentation mit Hilfe des venire contra factum proprium abgewandt hat und dieses nur noch als einen unter vielen Gesichtspunkten ansieht (vgl. z. B. BGH WM 61, 1172, 1173 Sp. 2), ist jedenfalls ein erheblicher Rückschritt, da an dessen Stelle lediglich die unbrauchbare Formel vom untragbaren Ergebnis gesetzt wurde. Freilich ist nicht von vornherein auszuschließen, daß auch andere aus § 242 BGB entwickelte Rechtsgedanken zu einer Haftung trotz Formnichtigkeit des Vertrages führen können (vgl. Siebert-Knopp § 242 Rdz. 345), doch bedürfte es dazu eines klaren Nachweises, daß auch sie anspruchsbegründend wirken können (vgl. auch oben S. 271 ff.); immerhin ist es vermutlich kein Zufall, daß bisher kein praktisches Bedürfnis für die Heranziehung anderer Prinzipien erkennbar geworden ist (vom dolus praeteritus und der ohnehin mit dem „venire“ zumindest eng verwandten „Erwirkung“ einmal abgesehen). Im übrigen darf natürlich nicht übersehen werden, daß neben der Vertrauenshaftung noch andere Lösungsmöglichkeiten für die Problematik formnichtiger Verträge bestehen (zusammenfassende Behandlung jetzt bei Reinicke aaO.). So gibt es z. B. das Prinzip der Heilung durch Erfüllung, das freilich nach h. L. de lege lata keine Allgemeingültigkeit besitzt (vgl. statt aller Flume § 15 III 3 b), oder die Möglichkeit einer Restriktion bestimmter Formvorschriften auf Grund ihres eigenen, auf den Schutz lediglich einer der beiden Parteien gerichteten Zweckes (vgl. Flume § 15 III 4 d bei Fn. 118; vgl. auch aaO. Fn. 108; ferner Reinicke aaO. S. 67 f.). Ein Rückgriff auf § 242 BGB ist hier aber weder erforderlich noch sinnvoll, und die Problematik gehört daher insoweit in einen anderen dogmatischen Zusammenhang. 57 Vgl. vor allem: Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht, Grazer Rektoratsrede 1950. 55 56
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vorliegenden Problematik sein:58 einerseits entspricht es auf Grund seiner Flexi[303] bilität dem Wesen des § 242 BGB und der Sachstruktur der zu lösenden Fälle weit besser als eine starre tatbestandliche Verfestigung,59 anderseits stellt es aber auch gegenüber dem bisherigen Diskussionsstand durch seine „Grundsätzlichkeit“60 einen erheblichen Fortschritt in Richtung auf eine „rechtstheoretische Präzisierung“ des § 242 BGB dar. Typisch für ein bewegliches System ist nun vor allem, daß zwar bestimmte maßgebliche Kriterien generell feststehen, daß sich die Rechtsfolge aber nur im Hinblick auf den jeweiligen Einzelfall entsprechend dem „Zusammenwirken dieser Elemente je nach Zahl und Stärke“61 ergibt. Je mehr der oben herausgearbeiteten Merkmale erfüllt sind und je stärker ihr Gewicht ist, desto eher wird dementsprechend ein Erfüllungsanspruch gegeben sein. Zweifellos ist dieser z. B. zu bejahen, wenn der Grad der Zurechenbarkeit sehr hoch ist – wenn also z. B. positive Kenntnis des Formmangels vorliegt –, gleichzeitig die „Vertrauensinvestition“ besonders weitreichend und „irreversibel“ ist – also etwa die ganze Existenz des Vertrauenden betrifft –, ferner der Formzweck nicht oder nicht wesentlich beeinträchtigt erscheint – es liegt z. B. nur eine falsche Datierung vor – und schließlich vielleicht sogar noch zusätzliche Merkmale wie die Verletzung einer „Betreuungspflicht“ oder die Erlangung eines nicht herausgabepflichtigen Vorteils erfüllt sind. Aber natürlich ist nicht nur in diesem Extremfall eine Vertrauenshaftung gegeben. Vor allem ist zu beachten, daß im Rahmen eines beweglichen Systems die „Schwäche“ eines Kriteriums durch die „Stärke“ eines anderen ausgeglichen werden kann; so kommt eine Haftung u. U. auch dann in Betracht, wenn auf der Zurechnungsseite lediglich „Veranlassung“ vorliegt, dafür aber eine besonders weitgehende Vertrauensinvestition gegeben ist, deren Rückgängigmachung zur „Existenzbedrohung“ führt, und ähnlich kann u. U. die „Stärke“ der Zurechnungsfaktoren die „Schwäche“ der Schutzwürdigkeit oder -bedürftigkeit des Vertrauenden aufwiegen oder die Bedenken wegen der Umgehung des Formzwecks mindern. Schließlich ist es sogar möglich, daß das Fehlen eines Merkmals durch das Hinzutreten eines anderen ersetzt wird;62 daher kann auch bei einer nicht sehr weitgehenden und u. U. sogar bei einer „reversiblen“ Disposition eine Erfüllungshaftung eintreten, wenn hinzukommt, daß der andere Teil einen besonderen Vorteil „behalten“ kann und wenn vielleicht zudem noch positive Kenntnis der Nichtigkeit vorlag oder der Formzweck nur unwesentlich beein-
58 Zu den Vorzügen (und Grenzen) des beweglichen Systems vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff 1969, S. 78 ff., 80 ff., 152 f. 59 Ein (eindrucksvoller) Versuch in dieser Richtung aber bei Flume § 15 III 4 d. 60 Vgl. näher Canaris aaO. S. 76 f. in Interpretation Wilburgs. 61 Vgl. Wilburg AcP 163, 347 62 Vgl. Wilburg, Entwicklung aaO. S. 13.
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trächtigt ist. Letztlich entscheidend bleibt insoweit also stets die Einzelfallbetrachtung. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß bestimmte Merkmale immer erfüllt sein müssen. Es sind dies: schutzwürdiger guter Glaube und eine Disposition auf Seiten des Vertrauenden und Zurechenbarkeit der entstandenen Lage mindestens i. S. des „Veranlassungsprinzips“ auf Seiten des anderen Teils sowie die [304] Unmöglichkeit, eine angemessene Regelung mit Hilfe der Schadensersatz- und Ausgleichsordnung herbeizuführen. Die Unverzichtbarkeit des letzteren Kriteriums ergibt sich dabei auch aus der Bezugnahme auf das Verbot des venire contra factum proprium: sofern die „normalen“ Ansprüche einen ausreichenden Schutz bieten, kann es nicht als rechtsethisch zu mißbilligender Selbstwiderspruch angesehen werden, wenn der eine Teil den anderen auf die durch die Formnichtigkeit entstandene Rechtslage – die ja die Ausgleichsansprüche einschließt! – verweist. Andererseits wäre es mit dem Wesen eines „beweglichen Systems“ auch unvereinbar, ein bestimmtes Kriterium zu verabsolutieren. Dementsprechend ist es – anders als für die Anwendbarkeit etwaiger „Heilungsvorschriften“ oder des § 814 BGB – nicht ausreichend, aber auch nicht erforderlich, daß der Vertrag von einer Partei oder von beiden erfüllt worden ist.63 Ebenso ist die „Überlegenheit“ des einen Teils nur einer unter mehreren Umständen, die die Stärke des Vertrauenstatbestandes und das Maß der Schutzwürdigkeit beeinflussen.64 – Auch wenn eine Partei positive Kenntnis von der Formnichtigkeit hatte und wußte, daß die andere auf die Wirksamkeit des Vertrages vertraut, genügt das allein keineswegs für die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs.65 Soweit hier kein dolus praeteritus vorliegt,66 läßt sich nämlich die „rechtsethische Notwendigkeit“ einer Bindung an den nichtigen Vertrag nicht ohne weiteres begründen, und insbesondere ist es nicht unbedingt immer ein unzulässiges venire contra factum proprium, wenn die Partei es sich nunmehr anders überlegt und die Nichtigkeit des Vertrages geltend macht; denn zum einen steht hier keineswegs von vornherein fest, daß nicht mit Hilfe der Schadensersatz- und Ausgleichsordnung zu einer angemessenen Regelung zu kommen ist, und zum anderen büßt der Schutzzweck der Form auch bei Kenntnis der Formnichtigkeit seine Bedeutung durchaus nicht gänzlich ein. Dagegen kann man auch nicht den Rechtsgedanken des § 179 I BGB ins Feld führen. Der tragende Grund dieser Vorschrift, die nicht primär auf rechtsethischen Kriterien, sondern auf Verkehrsschutzgesichtspunkten aufbaut, ist nämlich in dem Bestehen Teils zu weitgehend, teils zu eng daher Larenz A. T. S. 411. Zu weitgehend daher Fikentscher § 22, 11 b und d. 65 Zu weitgehend daher Reinicke aaO. S. 48 f. und, zumindest in der Formulierung, auch Flume § 15 III 4 c cc und d (S. 288), der aber der Sache nach wohl nur die Fälle des dolus praeteritus erfassen will. 66 Dieser ist vor allem dann zu verneinen, wenn der Verkäufer erfüllungsbereit ist. 63 64
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einer gesteigerten einem „Scheintatbestand“ ähnlichen Vertrauenslage zu sehen,67 und gerade daran fehlt es im Falle der Formnichtigkeit:68 der Mangel der Vollmacht ist dem Dritten grundsätzlich unerkennbar, und die Herbeiführung der Genehmigung liegt ausschließlich im Risikobereich des falsus procurator,67 der Mangel der Form ist dagegen generell erkennbar, und die Sorge für ihre Erfüllung obliegt grundsätzlich beiden Parteien.68 Ebensowenig läßt sich aus den §§ 685 I, 814 HS. 1, 815 [305] HS. 1 BGB eine übertragbare Wertung entnehmen; zwar mag man in diesen Bestimmungen in der Tat eine Ausprägung des Verbots widersprüchlichen Verhaltens sehen,69 doch liegt es in ihrem Anwendungsbereich in doppelter Hinsicht entscheidend anders als hier: zum einen geht es dabei nur um den Verlust eines Anspruchs, nicht aber um die – wesentlich schärferen Anforderungen unterliegende70 – Begründung eines solchen, und zum anderen steht dort nicht die Umgehung einer zwingenden Norm in Frage. Daher ist am Erfordernis einer Gesamtabwägung der maßgeblichen Kriterien auch dann festzuhalten, wenn die eine Partei die andere in Kenntnis der Nichtigkeit zum Vertragsschluß veranlaßt. Ja, selbst wenn sie nun auch noch deren Gegenleistung annimmt, ändert sich hieran grundsätzlich71 nichts;72 das folgt schon allein daraus, daß ein Bereicherungsausgleich oder ein Schadensersatzanspruch auch hier keineswegs generell eine unzureichende Regelung darstellt.73 3. Eine Analyse der wichtigsten in der Rechtsprechung entschiedenen Fälle soll zum Abschluß Wesen und Fruchtbarkeit des vorgeschlagenen „beweglichen Systems“ veranschaulichen. Dabei wird sich erweisen, daß man mit Hilfe der Lehre von der „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“74 nahezu durchweg zu denselben Ergebnissen kommt wie die Rechtsprechung.75
Vgl. näher unten S. 536 und 546 f. Vgl. oben S. 278. 69 Für § 685 I vgl. Larenz Schuldrecht B. T. § 53 I b a. E.; für § 814 vgl. Gertrud Erdmann, Wann findet § 814 HS 1 BGB Anwendung, und welches ist sein rechtspolitischer Grundgedanke? Diss. Freiburg i. Br. 1935, S. 42 ff.; Larenz aaO. § 63 I; Medicus NJW 70, 666. 70 Vgl. oben S. 270. 71 Anders z. B., wenn sie jetzt arglistig handelt, weil sie ihrerseits nicht mehr erfüllungsbereit ist. 72 Anders Riezler aaO. S. 140 ff. 73 Unrichtig Riezler S. 141, der § 819 BGB übersieht. 74 Im folgenden werden jeweils die vom hier vertretenen Standpunkt aus maßgeblichen Umstände herausgearbeitet, der Schluß, daß „somit“ ein venire contra factum proprium gegeben oder nicht gegeben ist, aber nicht immer ausdrücklich wiederholt. 75 Vereinzelt finden sich natürlich auch Fälle, deren Lösung richtigerweise nicht in einer Anwendung des § 242 BGB gegenüber dem Formmangel zu sehen ist. So dürfte es im „Bäckereifall“ RGZ 153, 59 in Wahrheit um eine Einschränkung des § 139 BGB gegangen sein (vgl. Flume § 32, 7), die aus dessen eigenem Schutzzweck und nicht aus § 242 BGB folgt. 67 68
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht Als Ausgangspunkt ist an die Leitentscheidungen RGZ 107, 357 und BGHZ 16, 33476 und die dazu oben unter I gemachten Ausführungen zu erinnern. Diesen seien zunächst zwei anschauliche Gegenbeispiele gegenübergestellt. Im Fall BGH WM 57, 1440 hatte ein Bauer einem anderen Bauern privatschriftlich ein Waldgrundstück verkauft, und letzterer hatte dieses anschließend in eine „vollwertige landwirtschaftliche Nutzfläche“ verwandelt. Mit Recht hat der BGH einen Erfüllungsanspruch abgelehnt. Denn zum einen war der Verkäufer angesichts der Tatsache, daß auch er Bauer war, nicht der „Überlegene“ und nicht „näher daran“ als der Käufer, für die Einhaltung der Form zu sorgen bzw. den Mangel [306] zu erkennen;77 und zum anderen und vor allem hatte sich dieser nicht in seiner Existenz oder in vergleichbarer Weise auf die Gültigkeit des Vertrags eingerichtet, so daß sich die Werterhöhung des Grundstücks mit Hilfe von Verwendungsersatz- oder Bereicherungsansprüchen durchaus angemessen ausgleichen läßt.78 – Aus ähnlichen Erwägungen ist auch die Entscheidung im „Trümmergrundstücksfall“ BGH WM 61, 1172 richtig. Auch hier waren auf Seiten der Verkäuferin nur sehr schwache Zurechnungselemente gegeben. Sie hatte nämlich den Formmangel allenfalls insofern „veranlaßt“, als der – dann nur mündlich geschlossene – Abänderungsvertrag auf ihren Wunsch zustande gekommen war.79 Ob sie die Enttrümmerung des Grundstücks durch den Käufer, also eine Disposition desselben „veranlaßt“ hatte oder ob diese auf die Initiative des letzteren selbst zurückging, ist dem Urteil nicht klar zu entnehmen; jedenfalls aber wäre diese Maßnahme durch Verwendungsersatzoder Bereicherungsansprüche ohne weiteres auszugleichen. Es kam freilich hinzu, daß der Käufer einen Teil des Grundstücks bereits weiterverkauft hatte. Daß der BGH dies als irrelevant ansieht (vgl. S. 1174), weil jener nicht erst die Übereignung abgewartet und daher „auf eigene Gefahr“ gehandelt habe, ist zwar nicht völlig überzeugend, da ein Weiterverkauf nach Abschluß des Kaufvertrages und vor Übereignung angesichts des Anspruchs auf diese nicht unbedingt als „Selbstgefährdung“ angesehen werden kann und z. T. sogar verkehrsüblich ist, liegt aber anderseits auch nicht gänzlich neben der Sache, da der Käufer wegen der Heilungsmöglichkeit des § 313 S. 2 BGB in der Tat gerade im Hinblick auf eventuelle Formmängel einen gewissen Anlaß hat, die Übereignung abzuwarten. Entscheidend dürfte sein, daß einerseits die Verkäuferin den Weiterverkauf wohl kaum auch nur „veranlaßt“, keinesfalls aber gewünscht oder besonders gefördert hatte, und daß andererseits diese Disposition nicht sonderlich „weitreichend“ war und sich grundsätzlich mit Hilfe eines – nach
Vgl. auch den ähnlichen Fall BGH WM 56, 384. Daß inzwischen das Eigentum gewechselt hat, wird im Text bewußt außer Betracht gelassen. Immerhin sei dazu bemerkt, daß der Anspruch aus Vertrauenshaftung rein obligatorischer Art ist (vgl. unten § 42 II 3), daß der Kl. ihn sich hier aber u. U. gleichwohl über § 419 BGB hätte entgegenhalten lassen müssen. 78 Die Entwertung der Ansprüche durch Währungsumstellung steht dem nicht entgegen, vgl. oben II 5 bei Fn. 52. 79 Ob das überhaupt eine „Veranlassung“ im richtig verstandenen Sinn (vgl. oben Fn. 32 und unten § 38 III a. A. = S. 480) ist, erscheint sehr zweifelhaft, da das Verhalten der Verkäuferin weder objektiv verkehrswidrig war noch das Risiko der Entstehung eines Formmangels generell erhöht hat. 76 77
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§ 254 BGB stark zu kürzenden – Anspruchs aus c. i. c. (wegen des vom Käufer an den Drittkäufer u. U. zu zahlenden Schadensersatzes) ausgleichen läßt. Die „Schwäche“ der Zurechnungselemente wird also keinesfalls durch eine besondere „Stärke“ der Vertrauensinvestition ausgeglichen, und daher hat der BGH i. E. mit Recht zugunsten der Verkäuferin entschieden. Nicht zu folgen ist dagegen dem Urteil des BGH im „Eigenheimfall“ NJW 65, 812.80 Vom hier vertretenen Standpunkt aus ist entscheidend, daß einerseits auf Seiten der Verkäuferin zumindest grobe Fahrlässigkeit hinsichtlich der Nichtaufdeckung des Formmangels und ein insoweit geradezu skandalöses Geschäftsgebaren vorlag,81 daß also die [307] Zurechenbarkeitskriterien ungewöhnlich „stark“ waren, und daß anderseits der Käufer, der „seit einer Reihe von Jahren“ in dem Haus wohnte und dessen Kauf „unter Anspannung aller Mittel finanziert“ hatte, sich in seiner gesamten persönlichen und wirtschaftlichen Existenz auf die Gültigkeit des Vertrages eingerichtet hatte, was durch einen Schadensersatzanspruch in Geld nicht angemessen auszugleichen ist.82 Es lag also ganz ähnlich wie im „Kleinsiedlerfall“; daß der BGH jetzt behauptet, dort sei die „Betreuungspflicht“ das Entscheidende gewesen, ist eine unverständliche Entstellung dieses Urteils: darin wurde sowohl der Verstoß gegen Treu und Glauben als auch die „Untragbarkeit des Ergebnisses“ ausdrücklich auf den Mißbrauch des Vertrauens und auf das „in der Schwebelassen“ der rechtlichen Bindung gestützt (vgl. S. 338 a. E.), also auf Umstände, die hier genauso gegeben waren.83 – Nicht zu billigen ist daher auch das im wesentlichen gleichliegende Urteil BGH WM 65, 674 sowie die Entscheidung im „Gemeindewohnungsfall“ WM 66, 89. In letzterer hat der BGH sogar ausdrücklich festgestellt, daß der die Verkäuferin vertretende Rechtsanwalt (!) positive Kenntnis vom Formmangel hatte. Richtig ist andererseits freilich, daß der Käufer als „im Geschäftsleben stehender erfahrener Kaufmann“ nicht so schutzwürdig ist wie z. B. ein Siedler, und wesentlich ist in der Tat auch, daß er im Zeitpunkt der Räumungsaufforderung erst 7 Monate in der Wohnung lebte. Insbesondere dieser letztere Gesichtspunkt läßt es als möglich – wenn auch keineswegs als sicher! – erscheinen, daß er sich noch nicht in irreversibler Weise „in seiner Existenz“ auf die Gültigkeit des Vertrages eingerichtet hatte, und daher hätte zur näheren Aufklärung hierüber zurückverwiesen wer-
80 Vgl. im übrigen auch die überzeugende Kritik von v. Marschall NJW 65, 1014 ff. und von Lorenz JuS 66, 429 ff.; dem BGH zustimmend freilich Siebert-Knopp § 242 BGB Rdz. 343; Reinicke DB 67, 113 bei Fn. 34. 81 Denn der Käufer wird, nachdem er sich mehr und mehr „eingerichtet“ hat, völlig der Willkür des Verkäufers ausgeliefert und, wie v. Marschall aaO. mit Recht hervorgehoben hat, geradezu dessen Erpressungsversuchen ausgesetzt, – was im Kleinsiedlerfall noch gesehen und sogar als sehr wesentlich bewertet wurde (vgl. aaO. S. 338 unten). Das Verhalten der Wohnungsgesellschaften ist daher zumindest objektiv sittenwidrig, und auch subjektiv spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Organe und Repräsentanten einer großen Wohnungsbaugesellschaft angesichts ihrer Geschäftserfahrung um den Formmangel wissen und daß sie mit dem dolus eventualis handeln, ihn gegebenenfalls auszunutzen. 82 Zur Begründung vgl. oben S. 292 f. 83 Vgl. auch die vorletzte Fn.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht den müssen. Im übrigen hätte es in allen drei Fällen nahegelegen zu prüfen, ob nicht eine Mißachtung des Gleichbehandlungsgedankens gegeben war84 und ob das nicht zugunsten des Käufers ins Gewicht fiel – ein Gesichtspunkt, den der BGH in dem Urteil WM 56, 384 (385) grundsätzlich für relevant erklärt hat und der im Gemeindewohnungsfall vom Berufungsgericht ausdrücklich herangezogen worden war (vgl. OLG Hamburg MDR 64, 145, 146). Eine Reihe weiterer Entscheidungen, in denen der BGH einen Erfüllungsanspruch versagt hat, verdient dagegen schon deshalb Zustimmung, weil der Käufer hier bösgläubig war. Positive Kenntnis vom Formmangel lag z. B. vor im „Lagerhausfall“ WM 61, 179 (vgl. S. 180 Sp. 2),85 im „Weinbergfall“ WM 64, 228 – der BGH hat hier freilich den bösen Glauben (vgl. S. 829 Sp. 1 unten) nicht ausdrücklich berücksichtigt! – und im „Tankstellenfall“ LM Nr. 23 zu § 313 BGB (vgl. Bl. 1176 Rücks.). Dasselbe traf vermutlich im „Justizbedienstetenfall“ WM 65, 1115 zu, wo aber auch ein eventuelles Vertrauen des Kl. auf die Formwirksamkeit keinen Schutz verdient hätte, da er Jurist war (vgl. S. 1116 Sp. 2). Die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise eine Haftung trotz Kenntnis der wahren Rechtslage in Betracht kommt,86 waren hier durchweg nicht gegeben – ganz abgesehen davon, daß auch die Dispositionen der Parteien nicht das erforderliche Ausmaß hatten. – An der Schutzwürdigkeit des Vertrauens fehlte es weiterhin auch im „Vermögensverwaltungsfall“ BGH WM 66, 761, wo der „Vertrauende“, ein Wirtschaftstreuhänder, den an- [308] scheinend völlig geschäftsungewandten Klägern als der Überlegene gegenüberstand und wo nicht diese, sondern eher jener selbst den Formmangel veranlaßt hatte (vgl. den Rat des Notars S. 762 Sp. 2); abgesehen davon lag in der „umfangreichen Tätigkeit“ des Bekl. für die Kl. (S. 763) keine hinreichende Disposition, da insoweit ein Vergütungsanspruch grundsätzlich einen angemessenen Ausgleich ermöglicht. – Schließlich sei noch der „Wochenendhausfall“ OGHZ 1, 217 erwähnt. Auch hier scheitert der Anspruch an der fehlenden Schutzwürdigkeit des Erwerbers, der die notarielle Beurkundung angeblich nur für „üblich“, aber nicht für „notwendig“ hielt und der als „erfahrener Großkaufmann und mehrfacher Grundstücksbesitzer“ jedenfalls näher daran war, den Formmangel zu erkennen, als der Veräußerer, ein Polizeioffizier. Das verhältnismäßig weitreichende „Sicheinrichten“ – der Bekl. wohnte seit Jahren in dem Haus und hatte es erheblich umgebaut – kann deshalb nicht genügen, zumal der Bekl. angesichts seines anderweitigen Grundbesitzes jedenfalls nicht in wirtschaftlicher Hinsicht in seiner Existenz betroffen war.87 Zwei verhältnismäßig atypisch gelagerte, aber gerade darum lehrreiche Fälle seien im Zusammenhang des § 313 BGB schließlich noch erörtert. Im „Konkursgrundstücksfall“ WM 63, 407 waren der Kl. und der Bekl. an verschiedenen Teilen eines zu einer Konkursmasse ge-
Vgl. dazu oben S. 299. Fn. 77 gilt entsprechend. 86 Vgl. dazu unten § 30, insbesondere S. 355. Dort auch eine Reihe weiterer Beispiele, in denen positive Kenntnis des Formmangels vorlag. 87 Die Entwertung seines Rückzahlungsanspruchs ist unerheblich, vgl. oben II 5 bei Fn. 52. 84 85
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hörigen Grundstücks interessiert; sie vereinbarten, daß nur der Bekl. sich an der Versteigerung beteiligen sollte, und dafür bot letzterer in notarieller Urkunde dem Kl. den diesen interessierenden Grundstücksteil für den Fall eines Zuschlags an. Der Kl. nahm das Angebot nicht fristgerecht an, und daraufhin wurde dessen Befristung privatschriftlich aufgehoben; der Bekl. wußte, daß diese Änderung formnichtig war. Der Kl. steigerte im Termin nicht mit, der Bekl. erhielt den Zuschlag. – Vorausgesetzt, daß der Kl. gutgläubig war – das wird in dem Urteil nicht völlig klar88 –, ist hier ein Erfüllungsanspruch gegeben. Denn der Grad der Zurechenbarkeit ist angesichts der positiven Kenntnis des Bekl. von der Nichtigkeit sehr hoch. Der Kl. hat durch seinen Verzicht auf die Beteiligung an der Versteigerung eine „irreversible“ Disposition vorgenommen und der Bekl. hat dadurch einen „irreversiblen“ – und von ihm angestrebten – Vorteil erlangt;88a danach wäre es jedenfalls ein venire contra factum proprium, wenn der Bekl., der wissentlich diese Lage herbeigeführt hat, nun nicht zu seinem – wenn auch formnichtigen – Wort stehen würde. Da er dies hier indessen getan hatte, der Kl. das Angebot jedoch erst 10 Monate nach der Versteigerung und damit jedenfalls verspätet angenommen hatte, ist dem klagabweisenden Urteil des BGH i. E. – aber nicht in allen Teilen der Begründung! – zuzustimmen. Atypisch lag auch der „Datumfall“ BGHZ 29, 6. Hier bestand der Formfehler nur darin, daß im Kaufvertrag ein falsches Datum angegeben und die Niederschrift nicht von den Beteiligten genehmigt worden war. Dies war darauf zurückzuführen, daß die Verkäuferin nach Fertigstellung, Datierung und Unterzeichnung des Vertrags durch den Käufer und nach Verlesung der Urkunde durch den Notar plötzlich doch wieder schwankend wurde und ihre Unterschrift, nach Verhandlungen mit anderen Interessenten, erst einen Tag später unter den notariellen Vertrag setzte. Sie hat also den Mangel „veranlaßt“ (vgl. S. 12); denn ihr wenig sachgerechtes Verhalten war generell geeignet, dessen Entstehung zu begünstigen, und stellte die Schaffung eines entsprechenden Risikos dar.89 Sehr wesentlich kommt hinzu, daß von der Gefahr einer Umgehung des Formzwecks angesichts der [309] besonderen Art der Verstöße hier keine Rede sein kann (vgl. S. 11). Anderseits ist aus der Entscheidung nicht klar zu erkennen, welches Ausmaß die „Disposition“ des Käufers erreicht hatte. Immerhin hatte er aber die Anzahlung geleistet, und gerade auf diese kam es der Verkäuferin maßgeblich an, weil sie zur Abwendung eines größeren Schadens dringend eine Summe von DM 3000.- brauchte. Der Umstand, daß sie durch die Überbrückung ihrer Liquiditätsschwierigkeiten einen Vorteil erlangt hat und diesen „behalten kann“88a, tritt also als „ersetzendes Element“ an die Stelle einer „existenzbeeinflussenden“ Disposition oder dgl. Da sie zudem von vornherein die Absicht hatte, sich nach Zahlung der DM 3000.- an ihren Gläubiger wenn irgend möglich wieder von dem Vertrag zu lösen90 (vgl. 88 Guter Glaube wird auch hier auf Grund des entsprechenden, unsere Rechtsordnung allenthalben beherrschenden Grundsatzes vermutet, was der BGH aaO. zu verkennen scheint. 88a Zur Bedeutung dieses Kriteriums vgl. oben II 5 bei Fn. 49 und unten § 43 II 2 bei Fn. 35. 89 Vgl. dazu oben Fn. 32 sowie allgemein unten § 38 III a. A. = S. 480. 90 Bedenken gegen die Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes bei Reinicke aaO. S. 69.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht S. 12), lag insoweit auch ein so starkes, einem dolus praeteritus nahekommendes Zurechnungselement vor, daß die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs aus § 242 – der BGH hat lediglich den Berichtigungsanspruch abgewiesen – eine „rechtsethische Notwendigkeit“ darstellt. Mit gewissen Abweichungen tauchen die Umstände, die für eine „Überwindung“ des § 313 BGB mit Hilfe des § 242 BGB wesentlich sind, auch bei Verstößen gegen die anderen Formvorschriften auf.91 Lehrreich ist z. B. der „Steinburgfall“ BGHZ 35, 242, wo einer Klage auf Abtretung von GmbH-Anteilen trotz Verletzung der Formvorschrift des § 15 IV 1 GmbHG stattgegeben wurde. Der Grad der Zurechenbarkeit war hier sehr hoch, da der Verkäufer, ein Rechtsanwalt (!), positive Kenntnis von der Nichtigkeit des Kaufvertrages hatte (vgl. S. 279). Es kam hinzu, daß er gleichzeitig als Anwalt des Käufers tätig war (vgl. S. 277), worin eine ähnliche Intensivierung des Vertrauensverhältnisses zu sehen ist wie in der „Betreuungspflicht“ im Kleinsiedlerfall. Was die „Vertrauensinvestition“ betrifft, so lag sie vor allem darin, daß der Käufer dem Verkäufer die Einsetzung seines Anteils an einer KG zur Beschaffung von Krediten für die GmbH gestattet, also eine wohl irreversible Disposition vorgenommen hatte (vgl. S. 277). Im übrigen spielt hier wieder der Vorteilsgedanke eine erhebliche Rolle: die Kredite sind der GmbH zugute gekommen, und es wäre in Anbetracht des Vorverhaltens des Verkäufers widersprüchlich, wollte er nun dem Käufer die Chance nehmen, an den u. U. zu erwartenden Gewinnen aus der GmbH teilzunehmen. Daraus wird zugleich deutlich, daß ein Geldanspruch oder ein Anspruch auf Ablösung des Pfandrechts an dem KG-Anteil keinen vollen Ausgleich darstellen würde: der Käufer hat bisher das Risiko mitgetragen, und daher müssen ihm auch die Chancen erhalten bleiben, die sich in Geld nicht umrechnen lassen – ganz abgesehen von der Frage einer entsprechenden Anspruchsgrundlage. Mindestens in Anbetracht der ungewöhnlichen „Stärke“ der Zurechnungselemente war daher in der Tat die Gewährung eines Anspruchs aus § 242 BGB angebracht. Besondere Probleme ergeben sich in den Bürgschaftsfällen. Diese dürften im wesentlichen zwei Gründe haben: zum einen handelt der Bürge regelmäßig fremdnützig und unentgeltlich und erscheint daher erhöht schutzwürdig, und zum anderen besteht die Disposition des Vertrauenden hier nur in einer Geldleistung und berührt daher meist nicht seine „Existenz“. Beide Gesichtspunkte haben zur Folge, daß hier dem Vorteilsgedanken erhöhte Bedeutung zukommt; denn wo der Bürge ein eigenes Interesse an der Kreditgewährung hat und wo er sogar mittelbar selbst daraus Vorteil zieht, können jene gegen eine Haftung sprechenden Umstände „ausgeglichen“ werden. Zugleich läßt der Gesichtspunkt des Eigeninteresses die Bedeutung des Formzweckes zurücktreten, weil dann auch [310] ein – formlos wirksamer! – Schuldbeitritt möglich gewesen wäre92 – freilich nur, soweit das
91 Zu § 312 II 2 BGB vgl. Wiedemann NJW 68, 772. Zu § 2371 BGB vgl. RG Warn. Rspr. 1925, Nr. 162 (S. 219), wo einerseits auf seiten des Veräußerers positive Kenntnis des Mangels vorlag (S. 220), anderseits aber die Disposition des Erwerbers nicht näher beschrieben wird, so daß eine abschließende Stellungsnahme nicht möglich ist. 92 Die Möglichkeit einer Umdeutung nach § 140 BGB ist natürlich ohnehin zu prüfen!
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Interesse ein „sachliches“, nicht lediglich ein „persönliches“, z. B. auf Verwandtschaft gegründetes ist. Diese Betonung des Vorteilsgedankens darf allerdings nicht dahin mißverstanden werden, daß er notwendige Voraussetzung einer Haftung ist. Wenn etwa der Bürge in Kenntnis der Formnichtigkeit – aber z. B. noch erfüllungsbereit und darum nicht arglistig i. S. des dolus praeteritus – den Gläubiger zur Auszahlung eines Kredits veranlaßt oder auch nur eine solche Zahlung geschehen läßt, so sollte man ihn bei einem Vermögensverfall des Hauptschuldners zumindest dann aus § 242 BGB haften lassen, wenn die wirtschaftliche Existenz des Gläubigers bedroht ist, das Sich-Einrichten also „existentielle“ Ausmaße angenommen hat. Freilich kann man in derartigen Fällen auch an einen Schadensersatzanspruch aus c. i. c. denken; ist es aber nicht problemgerechter, eine schuldhafte Aufklärungspflichtverletzung des Bürgen angesichts seiner Erfüllungsbereitschaft zu verneinen und statt dessen zu sagen, er dürfe sich nun aber auch den Folgen seines Tuns bzw. Unterlassens nicht entziehen und müsse auf Grund des Verbots widersprüchlichen Verhaltens zu seiner ursprünglichen Erfüllungsbereitschaft stehen? Beispiele aus der Rechtsprechung zur Bürgschaftsproblematik sind verhältnismäßig selten. Als repräsentativ darf die Entscheidung des RG im „Straßenbahngesellschaftsfall“ (ZAkDR 1938, 853 = JW 1938, 1023) angesehen werden. Hier hatte eine Gemeinde die Bürgschaft für eine Schuld einer als OHG betriebenen Straßenbahngesellschaft, deren Gesellschafterin sie selbst war, übernommen. Im Vertrauen auf den Bestand dieser Bürgschaft hatte die Gläubigerin die Umwandlung der OHG in eine GmbH genehmigt, wodurch die persönliche Haftung der Gemeinde aus § 128 HGB entfiel, und auf deren Betreiben hatte sie auch im späteren Konkurs der GmbH ihre Forderung nicht geltend gemacht. Gegenüber dem Anspruch aus der Bürgschaft wandte die Gemeinde dann Formnichtigkeit wegen eines Verstoßes gegen bestimmte Vorschriften der westfälischen Städteordnung ein. Das RG hat gleichwohl mit Recht einen Anspruch aus der Bürgschaft gewährt. Die Gemeinde hatte den Mangel veranlaßt, zumal sie „die Erfordernisse ihrer Städteordnung besser übersehen mußte“ als die Gläubigerin, sie hatte diese ferner zu mehreren irreversiblen Dispositionen bewogen, und sie hatte außerdem mittelbar die Vorteile des Darlehens genossen, da sie sowohl als Gesellschafterin der Schuldnerin als auch als Kommune wesentlich an deren Tätigkeit interessiert war.93 – In gewisser Weise ähnlich, aber nicht so klar lagen die Umstände im „Landwirtschaftsbankfall“ BGHZ 26, 142, wo ebenfalls der Bürge als Gesellschafter der Schuldnerin, einer GmbH, mittelbar Vorteile durch die Kreditgewährung erlangt hatte. Nicht er, sondern im Gegenteil die Gläubigerin, die die maßgebliche Urkunde selbst formuliert hatte (vgl. S. 144 f.), hatte hier jedoch den Mangel veranlaßt, und eine Haftung konnte daher überhaupt nur deshalb erwogen werden, weil der Bürge mehrfach die Bürgschaft „anerkannt“ und so die Gläubigerin zu weiteren Kreditgewährungen gebracht (vgl.
93 Vgl. ferner das obiter dictum RGZ 157, 207 (209 f.). Auch hier lag durch die Aufgabe von Sicherheiten eine irreversible Disposition vor, und auch hier hatte die Bürgin durch die von der Gläubigerin ermöglichte Sanierung der Hauptschuldnerin, die zugleich Schuldnerin der Bürgin war, einen Vorteil erlangt, den sie „behalten“ konnte.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht S. 151 f.),94 also wenigstens diese Dispositionen „veranlaßt“ hatte. Allenfalls in deren Höhe kommt daher ein Vertrauensschutz überhaupt in Betracht, aber auch insoweit sind die Zurechenbarkeitselemente so „schwach“, daß es des Hinzutretens weiterer Umstände bedurft hätte und daß der BGH daher mit Recht zurückver- [311] wiesen hat. – Abgelehnt wurde eine Haftung – i. E. zutreffend – im „Lieber-Ado-Fall“ BGH WM 57, 883. Hier hatte die Gläubigerin ersichtlich zumindest erhebliche Zweifel, ob das Telegramm eine wirksame Bürgenverpflichtung begründen konnte, wie sich aus ihren Bemühungen um eine zusätzliche Bürgschaftsurkunde folgern läßt, und schon aus diesem Grund war sie daher nicht schutzwürdig, wenn sie lediglich auf das Telegramm hin den Kredit auszahlte. Die Bürgin ihrerseits hatte jedenfalls keine positive Kenntnis von der Formnichtigkeit und auch keinen wirtschaftlichen Vorteil durch das Darlehen; ihr rein persönliches Interesse an dessen Gewährung an den Schuldner, der ihr Sohn war, vermag die „Schwäche“ der übrigen Kriterien keinesfalls auszugleichen. – Ähnlich fehlten im Fall BGH WM 62, 575 sowohl auf der Zurechnungs- wie auf der Vertrauensseite die wesentlichen Anspruchsvoraussetzungen; allenfalls kam hier eine Rechtsscheinhaftung analog § 172 II BGB in Betracht.95
94 Daß der BGH hier die mehrfache Anerkennung der Gültigkeit berücksichtigt, steht in Widerspruch zu der Entscheidung WM 63, 407, wo er ein entsprechendes Vorbringen mit der Begründung zurückgewiesen hat, die Bestätigung eines formnichtigen Vertrages könne keine stärkere Wirkung haben als dieser selbst; dieser Gedanke träfe indessen nur für eine Bindung kraft Rechtsgeschäfts, nicht für eine solche kraft Vertrauenshaftung zu. 95 Vgl. insoweit oben § 12 Fn. 28 a = S. 140.
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§ 28 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei sonstigen Mängeln eines Rechtsgeschäfts Daß die für die Überwindung der Formnichtigkeit aus § 242 BGB entwickelten Regeln grundsätzlich auf andere Mängel eines Rechtsgeschäfts übertragen werden können, wird i. E. überwiegend anerkannt,1 und in der Tat ist diese Konsequenz unausweichlich, da das Gebot von Treu und Glauben, in welcher Konkretisierungsform man es hier auch anwenden mag, seinem Wesen und seinem rechtsethischen Rang nach keine Beschränkung auf einen speziellen Problemkreis duldet. Demgemäß läßt sich auch aus dem Verbot des „venire contra factum proprium“ ähnlich wie hinsichtlich des „dolus praeteritus“ ein allgemeiner Tatbestand einer „Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit“ entwickeln. Freilich darf auch hier keinesfalls die doppelte Gefahr aus dem Auge gelassen werden, die in diesem Zusammenhang stets droht: die Rechtsordnung versagt dem betreffenden Rechtsgeschäft nun einmal die Anerkennung, und wenn man trotzdem zu denselben Rechtsfolgen wie bei seiner Gültigkeit kommt, so muß man sich dem Einwand stellen, die gesetzlichen Voraussetzungen der Privatautonomie könnten umgangen werden; und die Rechtsordnung hat für die Abwicklung nichtiger Rechtsgeschäfte ein differenziertes System von Bereicherungs- und Schadensersatzansprüchen zur Verfügung gestellt, und wenn man statt dessen einen Erfüllungsanspruch gibt, so erhebt sich das Bedenken, diese gesetzliche Ausgleichsordnung könne ausgehöhlt werden. Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß hier nicht anders als in den Fällen der Formnichtigkeit dem Schutzzweck der die Nichtigkeitsfolge begründenden Norm eine maßgebliche Bedeutung zukommt und daß auch hier die Erfüllungshaftung subsidiär ist, d. h. daß sie nur dann zum Zuge kommt, wenn die „an sich“ einschlägigen Ausgleichsansprüche keine angemessene Regelung darstellen.2 Im übrigen ist wieder auf die allgemeinen Charakteristika der [312] Vertrauenshaftung und des venire contra factum proprium abzustellen; guter Glaube und Vertrauensinvestition, Zurechenbarkeit und das spezifische Verhältnis zwischen dem „Vorverhalten“ und der seitherigen Entwicklung sind also in ganz ähnlicher Weise die „Elemente“ eines „beweglichen Systems“ wie bei der Problematik der Formnichtigkeit.3 Die Einzelheiten seien im folgenden für die verschiedenen Tatbestände der Unwirksamkeit an Hand von Beispielen aus der Rechtsprechung näher dargestellt.
1 Vgl. statt aller Siebert-Knopp § 242 Rdzn. 362 ff.; Staudinger-Weber § 242 Rdzn. D 466 ff., jeweils m. Nachw. 2 Vgl. näher soeben § 27 II 6. 3 Vgl. insoweit § 27 III 1 und 2.
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I. Der Mangel der Vertretungsmacht Daß hinsichtlich des Mangels der Vertretungsmacht überhaupt ein praktischer Anwendungsbereich für einen Vertrauensschutz mit Hilfe des Verbots widersprüchlichen Verhaltens besteht, erscheint angesichts der vielfältigen hier einschlägigen Schutzinstitute – Abstraktheit der Vollmacht, gesetzliche Typisierung des Umfangs bestimmter Arten der Vertretungsmacht, Scheinvollmacht – an sich unwahrscheinlich. Der vom BGH entschiedene „Kaffeemühlenfall“ (WM 60, 803) beweist indessen, wie fruchtbar gleichwohl auch hier der Rechtsgedanke des venire contra factum proprium sein kann.4 Hier war einer AG von ihrem einzigen Vorstandsmitglied ein Angebot über die Übernahme aller Gegenstände, die für die bisher von dieser betriebene Kaffeemühlenfabrikation von Bedeutung waren (fertige Mühlen, Material, Maschinen, Prüffeld, Markenschutzrechte usw.), gemacht worden. Dieses hatte die Hauptversammlung angenommen. Vertretungsbefugt war jedoch, wie der BGH mit Recht ausführte, weder der Vorstand (arg. § 181 BGB) noch die Hauptversammlung, sondern nach § 97 a. F. AktG der Aufsichtsrat, so daß der Vertrag nach § 177 BGB schwebend unwirksam war. Gleichwohl hat der BGH die Herausgabeklage der AG abgewiesen. Zur Begründung hat er ausgeführt, „alle Beteiligten“ einschließlich des bei der Hauptversammlung anwesenden Aufsichtsrats seien sich „darüber einig gewesen, daß der Vertrag gelten solle“; dieser sei dann „mit Billigung der Beteiligten auch zur Ausführung gebracht worden“, und der Bekl., der inzwischen die eigene Fabrikation von Kaffeemühlen aufgenommen hatte, habe sich „bei seinen geschäftlichen Dispositionen in einem weitgehenden und praktisch bedeutsamen Umfang auf den Bestand des Vertrages verlassen“ (S. 805 Sp. 1). Wenn sich die Kl. „jetzt nach Durchführung des Vertrages“ auf den Abschlußmangel berufe, so müsse man das als „einen Widerspruch zu dem eigenen Verhalten der Organe der Kl. und namentlich auch ihres Vertretungsorgans“ ansehen (S. 805 Sp. 2).
Der BGH stellt also das Verbot des venire contra factum proprium ausdrücklich in den Mittelpunkt seiner Begründung, und in der Tat ist dieses hier entscheidend. Die Einordnung in das im vorigen Paragraphen entwickelte bewegliche System gelingt dabei mühelos: der Bekl. war gutgläubig und hatte sich durch die Pro- [313] duktionsaufnahme und alle übrigen Maßnahmen, die damit im Zusammenhang standen, weitgehend auf die vermeintliche Rechtslage „eingerichtet“; mit den in Betracht kommenden Rückabwicklungsansprüchen ließ sich diese „irreversible“, seine wirtschaftliche Existenz betreffende Vertrauensinvestition nicht voll ausgleichen; dem vertretungsberechtigten Organ, nämlich dem Auf4 Vgl. ferner OLG Celle MDR 51, 612, wo allerdings offenbar doch rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht gegeben war, sowie BAG AP Nr. 1 zu § 242 BGB (Geschäftsgrundlage) und dazu unten S. 376 f.; auch der Fall BGHZ 41, 282 war wohl mit Hilfe des Verbots widersprüchlichen Verhaltens zu lösen, vgl. Gerlach Die AG 65, 247 (255) sowie unten § 35 Fn. 55.
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sichtsrat war die so entstandene Lage zurechenbar,5 da auch er sich im Irrtum über die Zuständigkeitsverteilung befunden und deshalb nicht eingegriffen hatte und da er zudem die Durchführung des Vertrages gebilligt, also auch die Dispositionen des Bekl. mitveranlaßt hatte; der Schutzzweck der gesetzlichen Vertretungsregelung schließlich war nicht beeinträchtigt, weil der Aufsichtsrat mit dem Vertrag einverstanden war und ihn mit Sicherheit selbst abgeschlossen hätte, wenn ihm die wirkliche Rechtslage bekannt gewesen wäre6. Dieser letztere Gesichtspunkt ist dabei zusammen mit dem offenbar recht erheblichen Ausmaß der Dispositionen der entscheidende „Ausgleich“ für die „Schwäche“ der Zurechnungselemente und für die Tatsache, daß der Bekl. als Vorstand der AG zumindest genauso „nahe daran“ war, den Fehler zu erkennen, wie der Aufsichtsrat. Daß es sich hier in der Tat um „Vertrauenshaftung“ handelt und daß es auch um deren spezifische Unterart einer „Erfüllungshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“ geht, wird dabei sofort deutlich, wenn man einzelne Umstände des Falles hinwegdenkt. Hätte der Bekl. z. B. die Unzuständigkeit der Hauptversammlung erkannt, so würde wohl niemand auf den Gedanken kommen, ihn zu schützen. Ebenso unerläßlich ist, daß er sich in einem verhältnismäßig weitgehenden Maße auf die Gültigkeit des Vertrages eingerichtet hatte; denn wenn der Mangel z. B. schon vor der Vertragserfüllung oder kurz nach deren Beginn7 – etwa nach Übereignung der Maschinen und Abtretung der Rechte, aber vor der Einleitung weiterer Maßnahmen – aufgedeckt worden wäre, so bestünde für einen Schutz des Bekl., der über Bereicherungs- und sonstige Ausgleichsansprüche hinausginge, keine genügende Rechtfertigung. Insbesondere reicht die Tatsache, daß der Aufsichtsrat einverstanden war und den Vertrag gegebenenfalls selbst geschlossen hätte, allein keinesfalls für die Begründung eines Erfüllungsanspruchs aus, da es mit der [314] Privatautonomie unvereinbar ist, einen wirklichen Vertragsschluß einfach durch einen hypothetischen zu ersetzen.8 Entscheidend ist also in der Tat
5 Zur Frage, auf wen bei juristischen Personen in der Frage der Zurechnung abzustellen ist, vgl. allgemein unten § 36 III. 6 Darin liegt eine deutliche Parallele zu jenen Fällen aus dem Bereich der Formnichtigkeit, in denen nur ein Versehen hinsichtlich bestimmter mehr „technischer“ Einzelheiten bei der Anwendung der Form unterlaufen ist, wie das etwa für den Fall BGHZ 29, 6 ff. charakteristisch war. 7 Vollständige Erfüllung ist freilich nicht Voraussetzung für die Anwendung des § 242, wie es denn ohnehin nicht auf die Erfüllung als solche, sondern auf Art und Umfang der Dispositionen und auf deren Irreversibilität ankommt. Wenn den Anforderungen an die Vertrauensinvestition insoweit genügt ist, bestimmte Teile des Vertrages aber noch nicht durchgeführt sind, so kann der Vertrauende auch seinerseits klageweise vorgehen; daß er hier der Bekl. war, daß es also nur um die Abweisung eines Rückforderungsanspruchs, nicht um die Durchsetzung eines Erfüllungsanspruchs ging, ist daher dogmatisch ohne Bedeutung und war auch für den BGH offenbar unerheblich. 8 Vgl. auch unten S. 325 (VIII a. E.).
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das „Zusammenwirken der Elemente je nach Zahl und Stärke“,9 wobei wiederum der seit dem Vertragsschluß eingetretenen Entwicklung und ihrer Rückführbarkeit auf das „Vorverhalten“ die entscheidende Rolle zufällt. Darin liegt im übrigen auch der charakteristische Unterschied zur Rechtsscheinhaftung, die hier deshalb nicht in Betracht kommt, weil sich der gute Glaube auf etwas rechtlich Unmögliches – nämlich auf die Vertretungsmacht der Hauptversammlung bei Verhinderung des Vorstands – richtet10 und weil es daher an einem objektiven Scheintatbestand fehlt.11 Nicht nur bei der gesetzlichen Vertretungsmacht, um die es im Kaffeemühlenfall ging, sondern auch bei der Vollmacht läßt die Rechtsscheinhaftung noch Schutzlücken offen, die u. U. mit Hilfe des Verbots widersprüchlichen Verhaltens gefüllt werden können. Dies gilt vor allem dann, wenn es an einem „Scheintatbestand“ fehlt; zu denken ist etwa an die „inhaltlichen“ Einwendungen bei der Vollmachtsurkunde12 oder an Fälle, in denen der Vertretene zwar kein Verhalten nach außen an den Tag gelegt hat, das den Rückschluß auf eine Bevollmächtigung erlaubt hätte, aber doch in zurechenbarer Weise an der Erweckung von Vertrauen in dem Dritten beteiligt war. Letzteres traf möglicherweise in dem vom RG entschiedenen „Sparkassenfall“ WarnRspr. 1926 Nr. 154 zu. In diesem ging es um einen Anspruch aus einem Wechsel, den zwei hierfür nicht vertretungsberechtigte Angestellte einer Sparkasse in deren Namen akzeptiert hatten. Eine Duldungs- oder Anscheinsvollmacht lag, wie im folgenden unterstellt werden soll,13 nicht vor, sei es, daß die Angestellten noch keine für die Schaffung eines Rechtsscheins ausreichende Zahl von Wechselgeschäften getätigt hatten, sei es, daß dem Sparkassenvorstand die Unkenntnis von deren Handeln nicht zurechenbar war.14 Das RG hielt nun für wesentlich, ob der Vorstand bei ordnungsmäßiger Geschäftsführung von dem Akzept hätte Kenntnis erlangen müssen, und meinte, der Wechselgläubiger hätte „im Vertrauen darauf, daß der Vorstand die ihm obliegenden Pflichten erfüllt habe, ein über einen nicht unerheblichen Zeitraum währendes Stillschweigen (der Sparkasse) nach Treu und Glauben jedenfalls als eine stillschweigende Genehmigung des ... Geschäftes auslegen“ dürfen (S. 229).
Diese Konstruktion ist indessen nicht zu halten, da der Gläubiger gar keinen Zweifel am Vorliegen einer Vollmacht hatte und daher nicht auf die – von seinem
Vgl. oben S. 303 bei Fn. 61. Wieder ist die Parallele zur Lage bei der Formnichtigkeit offensichtlich, vgl. insoweit oben S. 278. 11 Vgl. näher unten § 39 III 2. 12 Vgl. oben § 10 V 2 und unten § 39 III 2. 13 Aus dem Urteil ist hierüber keine abschließende Klarheit zu gewinnen. 14 Das erwägt das RG, das insoweit das Verschuldensprinzip für maßgeblich hält; legt man wie hier (vgl. oben § 18 II 2) das Risikoprinzip zugrunde, dürfte die Zurechenbarkeit allerdings ohne weiteres zu bejahen sein. 9
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[315] Standpunkt aus überflüssige! – nachträgliche Genehmigung vertraute,15 sondern darauf, daß das Akzept von Anfang an wirksam war, und da er im übrigen auch nicht den geringsten Anlaß hatte, im Falle einer Überschreitung der Vertretungsmacht eine Genehmigung zu erwarten. In Betracht käme dagegen eine Haftung auf Grund eines venire contra factum proprium, wobei das Vorverhalten in dem Schweigen läge; denn in der Tat vertraute der Dritte wohl wenigstens darauf, daß ihm ein etwaiger Mangel unverzüglich mitgeteilt würde. Kommen nun noch die übrigen Voraussetzungen hinzu, hat also der Wechselgläubiger nach dem maßgeblichen Zeitpunkt16 eine Disposition vorgenommen, d. h. hier den Kredit ausgezahlt, so könnte man eine Erfüllungshaftung erwägen. Bejahen sollte man sie jedenfalls dann, wenn die Vertrauensinvestition ein ungewöhnlich großes, vielleicht gar existenzgefährdendes Ausmaß angenommen hat und der Vorstand vorher positive Kenntnis von dem Geschäft erhalten, gleichwohl aber gegenüber dem Dritten aus Gleichgültigkeit oder aus ähnlichen Gründen geschwiegen hat;17 ein Schadensersatzanspruch (z. B. aus c. i. c. i. V. m. § 278 BGB)18 reicht insofern u. U. nicht voll aus, als dann die besonderen materiell- und prozeßrechtlichen Vorzüge einer Wechselforderung verloren gehen. Bei schwächeren Zurechnungselementen, also z. B. wenn die zuständigen Organe aus Fahrlässigkeit keine Kenntnis vom Geschäftsschluß erlangt haben, ist hier dagegen äußerste Vorsicht geboten. Denn ein Schadensersatzanspruch ist keineswegs ohne weiteres als unzureichender Ausgleich anzusehen, mag er auch mit höheren Risiken belastet sein; abgesehen davon aber ist insoweit auch die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß der Schutzzweck der Vertretungsregelung unterlaufen wird. II. Fälschung und Verfälschung Mit dem Fehlen der Vertretungsmacht eng verwandt sind Fälschung und Verfälschung, und wenn dort eine Haftung auf Grund des Verbots widersprüchlichen Verhaltens eintreten kann, so muß daher hier grundsätzlich dasselbe gelten.
Richtig insoweit BGH WM 64, 224 (225 Sp. 2 unter b aa); vgl. auch oben § 8 VI a. E. Also nachdem bei ordnungsgemäßer Geschäftsführung der Sparkasse die Benachrichtigung über die Unwirksamkeit des Akzepts bei ihm hätte eingegangen sein müssen. 17 Auch in einem Schweigen trotz Kenntnis der Unwirksamkeit liegt nicht notwendig eine echte rechtsgeschäftliche Genehmigung. Denn für eine externe Genehmigung fehlt es regelmäßig schon am objektiven Tatbestand, da der Dritte das Schweigen gar nicht als eine solche auffassen kann (vgl. im Text bei Fn. 15), und auch eine interne Genehmigung kommt meist nicht in Betracht, weil der Vorstand normalerweise seine Mißbilligung gegenüber dem falsus procurator zum Ausdruck bringen wird; im übrigen kann die Genehmigung gemäß § 182 I BGB sogar intern mit Außenwirkung verweigert werden (vgl. auch BGH NJW 61, 1763). 18 Vgl. dazu z. B. BGH WM 64, 224 (226 unter IV a. E.). 15 16
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In der Tat ist anerkannt, daß der „Berufung“ auf die „Einwendung“19 der Fälschung oder Ver- [316] fälschung u. U. die „Arglisteinrede“ entgegengesetzt werden kann20 und daß dabei dem Prinzip des venire contra factum proprium maßgebliche Bedeutung zukommt.21 Allerdings handelt es sich hier meist um Fälle, in denen nach der in dieser Arbeit vertretenen Ansicht schon mit den Regeln über die Rechtsscheinhaftung zum Ziel zu kommen ist; das trifft z. B. zu, wenn jemand wie in der Leitentscheidung RGZ 126, 223 einen Wechsel, in dem die Summe nur in Zahlen und nicht in Worten eingesetzt ist, unterschrieben und so ein erhöhtes Verfälschungsrisiko geschaffen hat oder wenn jemand auf die Anfrage über die Echtheit seiner Unterschrift schweigt und dadurch in zurechenbarer Weise einen Scheintatbestand setzt.22 Dehnt man die Rechtsscheinhaftung dagegen, der h. L. folgend, nicht so weit aus, dann besteht hier ein verhältnismäßig breites Anwendungsfeld für eine Einstandspflicht auf Grund des venire contra factum proprium.23 Dafür müssen allerdings zusätzliche, über die Merkmale der Rechtsscheinhaftung erheblich hinausgehende Umstände vorliegen. Ähnlich wie bei der formnichtigen Bürgschaft und aus denselben Gründen wie dort24 sind diese weniger auf der Seite des Vertrauenden als auf der des Haftenden zu suchen. Dementsprechend kommt hier dem Grad der Zurechenbarkeit gesteigerte Bedeutung zu. Dieser ist – abgesehen von den nicht hierher gehörenden Fällen des dolus praeteritus25 – vor allem dann sehr hoch, wenn derjenige, der aus dem gefälschten Wechsel in Anspruch genommen wird, die Fälschung oder Verfälschung besonders begünstigt und so eine erhöhte Gefahrenlage für den gutgläubigen Wechselverkehr geschaffen hat, – sei es, daß er bei früherer Gelegenheit mehrfach gefälschte Wechsel „stillschweigend“ eingelöst und so die Aufdeckung der Taten verhindert hat,26 sei es, daß er sogar einen anderen bewußt von einer Strafanzeige 19 In Wahrheit liegt ein Leugnen des Klagegrundes vor; richtig insoweit Schumann, Die Fälschung nach dem neuen Wechsel- und Scheckrecht, 1935, S. 57; ebenso RGZ 126, 223 (225). 20 Vgl. RGZ 126, 223 (225); BGHZ 47, 110 (113); BGH LM Nr. 2 zu Art. 7 WG; Reinicke DB 63, 1243 (1244 ff.); Zeiss JZ 63, 742 (747 ff.); Baumbach-Hefermehl Art. 7 WG Rdz. 9; offengelassen RGZ 145, 87 (94). 21 Vgl. BGHZ 47, 110 (113); Reinicke, Zeiss und Hefermehl aaO.; vgl. auch schon Schumann aaO. S. 57 und S. 58. 22 Vgl. oben S. 247 f. bzw. S. 243 ff. 23 Auch vom hier vertretenen Standpunkt aus bleibt aber noch ein gewisser Raum für eine solche, zum einen deshalb, weil die oben § 22 III 3 und 4 entwickelten Regeln der Rechtsscheinhaftung außerhalb des Rechts der Umlaufpapiere keine Geltung haben (vgl. § 7 III), zum anderen, weil auch bei diesen keineswegs immer ein zurechenbarer Scheintatbestand vorliegt, so z. B. nicht, wenn der Namensträger nicht nach der Echtheit des Wechsels gefragt worden ist. 24 Vgl. oben S. 309 f. 25 Ein solcher lag möglicherweise in den Fällen RGZ 126, 223 (224) und 145, 87 (89) vor; vgl. dazu im übrigen oben § 26 I 1 a. E. 26 Vgl. z. B. RGZ 145, 87 (89); BGH LM Nr. 2 zu Art. 7 WG (Leitsatz b und Bl. 99 vor II).
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abgehalten hat.27 Kommt nun noch hinzu,28 daß er dabei eigennützig gehandelt hat, – etwa, weil er eigene Forderungen [317] gegen den Fälscher noch rechtzeitig eintreiben wollte29 –, so dürfte eine Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens zumindest dann zu bejahen sein, wenn ihm die Verwirklichung seiner Absicht tatsächlich gelungen ist und er dadurch einen Vorteil erlangt hat, den er jetzt „behalten kann“;30 denn es wäre ein unerträgliches venire contra factum proprium, wenn er zunächst das Treiben des Fälschers begünstigt und nunmehr, nachdem er seine eigenen Forderungen sozusagen auf Kosten der durch die späteren Fälschungen Getäuschten durchgesetzt hat und nachdem der Fälscher in Vermögensfall geraten ist,31 jede Einstandspflicht für die von ihm selbst heraufbeschworene Lage ablehnt. Hinsichtlich der Höhe seiner Haftung ist allerdings zu bedenken, daß er hier – anders als z. B. in den Fällen der Formnichtigkeit – den Umfang seiner Verpflichtung nicht selbst bestimmen kann. Deshalb wird man die Zurechnung nur insoweit bejahen können, als er das Ausmaß einer eventuellen Einstandspflicht überschauen konnte, – sei es, daß ihm das gefälschte Papier vorgelegen hatte, sei es, daß der Fälscher sich hinsichtlich der Höhe im Rahmen der bei den früheren Fälschungen von ihm eingesetzten Beträge hielt. III. Das Fehlen der Genehmigung Mit der Problematik der mangelnden Vertretungsmacht und der Fälschung hängt die des Fehlens der Genehmigung eng zusammen, und wenn auch der Rechtsprechung entgegenzutreten ist, soweit sie jene beiden Fragenkreise mit Hilfe von Genehmigungsfiktionen zu lösen sucht,32 so gibt es doch genügend Fälle, in denen es in der Tat um Probleme des Vertrauensschutzes gegenüber dem Fehlen einer Genehmigung geht. Auch dabei erweist sich nun wieder das Verbot des venire contra factum proprium häufig als tragender Haftungsgrund. So kann mit seiner Hilfe z. B. u. U. eine Lösung in jenen Fällen gefunden werden, in denen Vgl. z. B. RGZ 126, 223 (224). Die Begünstigung des Fälschers allein reicht niemals aus; vgl. auch BGHZ 47, 110 (2. Leits. und S. 113 f.). 29 So lag es z. B. in den Fällen RGZ 126, 223 (224) und RGZ 145, 87 (89); vgl. ferner OLG Stuttgart MDR 58, 846, wo eine Haftung aus § 242 BGB hätte angenommen werden müssen, während die Bejahung des § 826 BGB wohl eine Überspannung war. 30 Zur Maßgeblichkeit dieses Gesichtspunkts vgl. oben S. 299 f. und zusammenfassend unten § 43 II = S. 531. 31 Solange dieser noch zahlungsfähig ist, erscheint der Inhaber des Wechsels durch seine Ansprüche gegen ihn ausreichend geschützt, so daß es keinen Verstoß gegen Treu und Glauben darstellt, wenn derjenige, dessen Unterschrift gefälscht ist, ihn auf die „eigentliche“ Rechtslage verweist. 32 Vgl. soeben S. 314 f. sowie schon S. 73 f. und S. 243 f. 27 28
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der Genehmigungsberechtigte dem Dritten gegenüber ungebührlich lange schweigt, obwohl dieser eine Mitteilung über eine eventuelle Versagung der Zustimmung erwarten darf. Das Schweigen gilt dann zwar entgegen einer verbreiteten Ansicht keineswegs ohne weiteres als Genehmigung,33 doch kann hier eine Vertrauenshaftung kraft [318] widersprüchlichen Verhaltens eintreten,34 wenn noch weitere Umstände hinzutreten, – insbesondere wenn sich der Dritte auf die Erteilung der Genehmigung „eingerichtet“ hat und Schadensersatz- oder Bereicherungsansprüche keine angemessene Lösung darstellen. Das gilt nicht nur für das Genehmigungserfordernis nach § 177 oder § 185 II BGB, sondern z. B. auch für § 107 III und § 1829 III BGB;35 bei letzteren ist freilich zu beachten, daß ein Minderjähriger nicht die für eine Vertrauenshaftung erforderliche Zurechnungsfähigkeit besitzt36 und daß daher ein vor dem Eintritt der Volljährigkeit liegendes „Vorverhalten“ die Haftung kraft widersprüchlichen Verhaltens nicht zu begründen vermag,37 – wie denn überhaupt bei der Problematik des Fehlens einer Genehmigung besonders scharf auf die Erfüllung der Zurechnungsvoraussetzungen zu achten ist.38 – Besondere praktische Bedeutung kommt dem Verbot des venire contra factum proprium auch hinsichtlich des Genehmigungserfordernisses gemäß § 15 V GmbHG zu. Mit seiner Hilfe wären z. B. die Fälle RGZ 104, 413 und 160, 225 zu entscheiden gewesen. In ersterem hatten sowohl die Geschäftsführer der beklagten GmbH als auch deren Mitglieder geduldet, daß die beiden Kl., die Geschäftsanteile erworben hatten, eineinhalb Jahre lang „in der Gesellschaft wie rechtmäßige Mitglieder tätig“ waren, obwohl nach dem Gesellschaftsvertrag an sich eine Genehmigung der Anteilsübertragung erforderlich war. Das Vgl. oben § 20 I 5. In diesen Zusammenhang gehört wohl der „Backsteinfall“ RGZ 75, 419. Hier war es unhaltbar, das Schweigen als Genehmigung zu werten – das ergibt sich aus den Ausführungen oben § 20 I 5 –, doch verstieß die Kl. mit der Rückforderung gegen das Verbot des venire contra factum proprium. Dabei hätte in concreto schon eine Analogie zu § 814 1. Alt. BGB zum Ziel geführt oder jedenfalls der allgemeine Einwand widersprüchlichen Verhaltens aus § 242 BGB, doch wäre auch umgekehrt einer Erfüllungsklage des Ziegeleibesitzers wohl stattzugeben gewesen. Denn die Kl. hatte diesen veranlaßt, nicht am Konkurs des – von ihm namens und für Rechnung der Kl. belieferten – Bauunternehmers teilzunehmen und die fraglichen Forderungen statt dessen sogar als eigene angemeldet; auch bestand die Wahrscheinlichkeit, daß der Ziegeleibesitzer, wäre er rechtzeitig über das Unterbleiben der Genehmigung aufgeklärt worden, mindestens einen Teil der Steine hätte vindizieren oder einen Bereicherungsanspruch hätte durchsetzen können, und so wird man alles in allem angesichts der Tatsache, daß auch der zweite Geschäftsführer positive Kenntnis von dem genehmigungsbedürftigen Vertragsschluß hatte (vgl. S. 422), eine Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens bejahen können. 35 Vgl. als Beispiel BGH LM Nr. 3 zu § 1829 BGB und dazu unten S. 375 f. 36 Vgl. oben § 26 II 2 und unten § 36 I. 37 Richtig daher i. E. BGH WM 63, 811 (812 Sp. 2), wo allerdings wohl sogar ein dolus praeteritus vorlag. 38 Insoweit gilt das oben § 26 II 3 Gesagte auch hier; vgl. ferner unten § 36 III, insbesondere unter 3. 33 34
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RG nahm an, die Genehmigung sei von den Geschäftsführern, „denen das Statut pflichtgemäß bekannt und gegenwärtig sein mußte“, konkludent erteilt worden (S. 415). – Diese Begründung ist nun freilich alles andere als überzeugend; denn für die – insoweit problematische – Frage des Erklärungsbewußtseins kommt es nicht darauf an, ob die Geschäftsführer das Genehmigungserfordernis bei gehöriger Sorgfalt hätten kennen müssen, [319] sondern darauf, ob sie es wirklich kannten.39 Entscheidend war statt dessen in Wahrheit, daß sich die Geschäftsführer mit ihrem eigenen Vorverhalten in Widerspruch setzten, wenn sie jetzt das Fehlen der Genehmigung geltend machten. Sie hatten nämlich in den Kl. das Vertrauen erweckt, diese seien wirksam Mitglieder der GmbH geworden, und hatten sie dadurch zu einer Vertrauensinvestition, insbesondere zur Zeichnung von Wechseln zugunsten der GmbH, also zu einer „irreversiblen“ Disposition veranlaßt; auch waren die Geschäftsführer „näher daran“ als die Kl., den Mangel zu erkennen – insoweit steckt in dem Gedanken des RG ein richtiger Kern –, und daher fallen die Zurechnungselemente verhältnismäßig stark ins Gewicht. Ähnlich lag es im Falle RGZ 160, 225, wo das RG ausdrücklich das Bewußtsein der Genehmigungsbedürftigkeit einer Anteilsübertragung unter bestimmten Umständen für überflüssig erklärt hat (S. 235). Auch hier ist das freilich mit den Grundsätzen der Rechtsgeschäftslehre unvereinbar, auch hier war aber das Ergebnis mit Hilfe des Verbots widersprüchlichen Verhaltens zu rechtfertigen; denn die Geschäftsführer „behandelten die Kl. jahrelang als Gesellschafterin und ließen sie den (der Anteilsübertragung zugrunde liegenden) Vertrag vom ... mit seinen wirtschaftlich und rechtlich außerordentlich bedeutsamen Auswirkungen widerspruchslos und billigend vollziehen und durchführen“ – und das, obwohl sie durchaus Anlaß zur Klärung der Rechtslage hatten (S. 235). Wieder findet sich also das typische Kriterium: die zurechenbare Veranlassung einer weitreichenden und „irreversiblen“ Vertrauensinvestition.
IV. Der Mangel der Geschäftsfähigkeit Hinsichtlich des Mangels der Geschäftsfähigkeit gilt im Grundsatz dasselbe, was oben § 26 II 2 zu der entsprechenden Problematik bei Vorliegen eines dolus praeteritus ausgeführt worden ist. Demgemäß scheidet zwar eine Haftung des nicht voll Geschäftsfähigen selbst ohne weiteres aus,40 weil ihm insoweit die er39 Streitig ist seit der Überwindung der Lehre von der „fahrlässigen Willenserklärung“ nur noch die Frage, ob bei fehlendem Erklärungsbewußtsein das Rechtsgeschäft ipso iure unwirksam ist oder ob es einer Anfechtung bedarf, vgl. unten S. 548 ff. 40 Unzutreffend die sehr zeitgebundenen Ausführungen von Tasche JherJb. 90, 122 und 127 f.; unvereinbar mit dem Schutzzweck der §§ 107 f. BGB ist auch die Ansicht von Lehmann NJW 58, 5, die Ablehnung der Genehmigung durch den gesetzlichen Vertreter bei Straßenbahnfahrten Minderjähriger könne gegen § 242 BGB verstoßen. Richtig dagegen Riezler S. 139 (unter III); Siebert-Knopp § 242 Rdz. 364.
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forderliche Zurechnungsfähigkeit fehlt und weil seine Handlungen daher niemals ein relevantes „Vorverhalten“ für ein venire contra factum proprium darstellen können,41 doch kommt auch hier u. U. die Haftung eines voll geschäftsfähigen Dritten in Betracht. Ein praktisches Beispiel für die letztere Problematik bildet der vom RG entschiedene erste „Altersdemenzfall“ DR 1944, 728.42 Dieser unterschied sich von dem in § 26 II 2 erörterten zweiten Altersdemenzfall BGHZ 44, 367 insofern, als hier der Sohn des Verkäufers ursprünglich zur Erfüllung des Vertrags bereit gewesen war. Lag somit auch kein dolus praeteritus vor, so war doch in der „Berufung“ auf die Nichtigkeit möglicherweise [320] ein unzulässiges venire contra factum proprium zu sehen.43 Die Bejahung einer Erfüllungshaftung lag dabei deshalb besonders nahe, weil es um einen Grundstückskauf ging und weil daher u. U. eine sehr weitreichende „Vertrauensinvestition“ ähnlich wie in den eng verwandten Fällen formnichtiger Grundstücksverkäufe44 gegeben war, doch läßt sich diese Frage auf Grund des mitgeteilten Sachverhalts nicht abschließend beurteilen.
V. Die Teilnichtigkeit gemäß § 139 BGB Gegenüber der „Berufung“ auf § 139 BGB wird von der Rechtsprechung besonders häufig die „Einrede“ der gegenwärtigen Arglist gewährt.45 Das ist nun allerdings, wie FLUME überzeugend nachgewiesen hat, in den meisten Fällen weder erforderlich noch problemgerecht. Soweit nämlich die Anwendung des § 139 BGB deshalb als unangemessen erscheint, weil der Vertrag durchgeführt und der nichtige Teil „nicht relevant“ geworden ist oder weil der nichtige Teil eine Regelung nur zugunsten einer Partei enthielt und diese das Rechtsgeschäft gelten lassen will,46 geht es in Wahrheit darum, die Rechtsfolgen des § 139 BGB aus seinem eigenen Zweck heraus zu begrenzen,47 also um eine „teleologische ReduktiVgl. auch soeben Fn. 37. Vgl. ferner OLG Karlsruhe Recht 1929 Nr. 1458, wo es allerdings um einen bloßen Anspruchsverlust ging. 43 Zu der vom RG erwogenen Analogie zu § 179 I BGB vgl. unten S. 546 f. 44 Vgl. dazu insoweit oben S. 291 ff. 45 Vgl. z. B. RGZ 86, 323 (325 f.); RG SeuffArch. 82 Nr. 40 (S. 71; besser demgegenüber die Begründung des Berufungsgerichts OLG Hamm SeuffArch. 82 Nr.16 S. 28); vgl. ferner RG JW 1916, 390; 1917, 460; BGHZ 1, 128; BGH BB 67, 9. 46 Vgl. Flume § 32, 7 und 8; zum entsprechenden Problem bei der Bedingung vgl. RG SeuffArch. 78 Nr. 192 (S. 318) und, mit einer Scheinbegründung arbeitend, RG SeuffArch. 79 Nr. 15. 47 Überzeugend Flume S. 587. Zweifelhaft ist dagegen, ob sich ähnlich aus der ratio des § 139 BGB auch hinsichtlich der von Larenz A. T. § 29 II d a. E. = S. 455 f. behandelten Fallgruppe argumentieren läßt (vgl. aber Larenz aaO. S. 456); denn anders als eine vertragliche Regelung, die sie sich nicht „aufdrängen“ zu lassen brauchen, müssen die Parteien eine gesetzliche Regelung bei Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts grundsätzlich hinnehmen. Der Fall BGHZ 18, 340 41 42
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on“ oder eine „teleologische Umbildung“ der Norm und nicht um ihre Zurückdrängung mit Hilfe von Treu und Glauben; dementsprechend steht hier auch nicht, wie es für § 242 BGB charakteristisch ist, eine am Einzelfall orientierte Abwägung von Umständen in Frage, sondern die Herausarbeitung eines abstrakten Rechtssatzes, der § 139 BGB in folgerichtiger Fortentwicklung seiner ratio legis generell ergänzt. – [321] Gleichwohl gibt es natürlich auch hier „klassische“ Fälle einer aus § 242 BGB folgenden Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens. Zur Veranschaulichung diene der (leicht modifizierte) „Garagenfall“ BGH WM 62, 786. Der Kl. und die Bekl. hatten hier vereinbart, in bestimmter Weise zum Bau von Garagen zusammenzuwirken, wobei die Bekl. im wesentlichen die Grundstücke stellen und der Kl. die erforderlichen Barmittel besorgen sollte; die Mieteinnahmen aus den Garagen sollten geteilt werden, und außerdem verpflichtete sich die Bekl., dem Kl. das Miteigentum an den Grundstücken zu übertragen. Der Vertrag war unter einer aufschiebenden Bedingung geschlossen worden, und diese war nach § 117 I BGB nichtig. Das Berufungsgericht folgerte aus § 139 BGB die Gesamtnichtigkeit des Vertrages, und der BGH ließ die Richtigkeit dieser Ansicht offen, da die Bekl. sich gemäß § 242 BGB jedenfalls nicht auf die Nichtigkeit „berufen“ könne.48 Unterstellt man, daß § 139 BGB zutreffend angewandt wurde, so war der Erfüllungsklage in der Tat aus § 242 BGB stattzugeben. Denn der – offenbar berufslose – Kl. hatte sein ganzes im wesentlichen aus Aktien bestehendes Vermögen für die Beschaffung des Kapitals eingesetzt und war „dadurch gehindert, (dieses) zur Schaffung einer anderen Existenz zu verwenden“ (S. 787 Sp. 2), so daß er ohne die Einnahmen aus den Garagen „nun im Alter mittellos dastand“ (S. 786 Sp. 2); er hatte sich also in einer seine gesamte Existenz, insbesondere die Sicherung seines Lebensabends berührenden Weise auf die Gültigkeit des Vertrages eingerichtet, und daher war ein Bereicherungsanspruch ein dürfte daher in der Tat aus § 242 BGB und nicht aus einer Restriktion des § 139 BGB zu lösen sein, wobei der Vertrauensgedanke und das Verbot widersprüchlichen Verhaltens für den Anspruchsverlust des Rechtsanwalts – es geht also nicht um die Begründung einer Erfüllungspflicht! – entscheidend sind. Daß dies der richtige Ansatz ist, wird im übrigen auch daran deutlich, daß sich die Problematik bei anderen Nichtigkeitsgründen in der gleichen Weise stellt und ebenso zu lösen ist; das beweisen z. B. die Entscheidungen RG SeuffArch. 77 Nr. 181 für die Formnichtigkeit, RGZ 168, 204 für die Scherzerklärung (vgl. unten S. 333 Fn. 101 a. E.) und BGH LM Nr. 22 zu § 123 BGB für die arglistige Täuschung. Dementsprechend wird man vielleicht ganz allgemein den Satz aufstellen können, daß jemand, der in vorwerfbarer Weise die Nichtigkeit eines Vertrages veranlaßt hat, gemäß § 242 BGB bei dessen Rückabwicklung gegenüber einem gutgläubigen Partner keine weitergehenden Ansprüche geltend machen kann, als er sie bei seiner Gültigkeit hätte. 48 Der BGH sah die Problematik so an, als ginge es um die Aufrechterhaltung des wegen Formmangels nichtigen dissimulierten Geschäfts. Das erscheint nicht folgerichtig; denn wenn man schon über § 139 BGB zur Gesamtnichtigkeit kommt – worin freilich wohl der Fehler lag –, darf man konsequenterweise nicht ein dissimuliertes Geschäft hypostasieren, das genau den Inhalt des simulierten abzüglich des nichtigen Teils hat. Es ging daher bei der vom BGH unterstellten Konstruktion in Wahrheit um die Aufrechterhaltung des nach § 139 BGB nichtigen Restes des simulierten Geschäfts.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht völlig unzureichender Ausgleich. Auch hatte die Bekl. durch die Verwertung des Kapitals des Kl., das sie u. U. sonst nicht oder nur zu schlechteren Bedingungen erhalten hätte, einen dauernden Vorteil erlangt. Da sie den Kl. bewußt zu seiner Vertrauensinvestition veranlaßt hatte, setzte sie sich zu ihrem Vorverhalten in Widerspruch, wenn sie nun die Erfüllung verweigerte49 – zumal zwischen den zwar geschiedenen, aber noch in derselben Wohnung lebenden Parteien eine besonders enge, erhöhte rechtsethische Anforderungen bedingende Verbundenheit bestand.
VI. Ausfall und Eintritt einer Bedingung Modifiziert man den soeben behandelten Garagenfall so, daß die Bedingung nicht nur zum Schein vereinbart ist, und nimmt man an, daß sie ausfällt – was in concreto tatsächlich geschehen war und wohl den eigentlichen Anlaß zum Streit bildete –, so ergibt sich ohne weiteres das Problem des Vertrauensschutzes gegenüber dem Ausfall einer Bedingung. Es kann nun keine Frage sein, daß der Fall zumindest dann nicht anders zu entscheiden wäre, wenn die Bekl. um die Unmöglichkeit des Bedingungseintritts oder auch nur um dessen Unwahrscheinlichkeit gewußt,50 gleichwohl aber die Leistung des Kl. ohne Aufklärung entgegen[322] genommen hat.51 Fehlte ihr dagegen eine entsprechende Kenntnis, so verschieben sich die Gewichte zu ihren Gunsten; denn der Kl. nimmt bei einer Leistung vor Bedingungseintritt ein gewisses Risiko in Kauf, so daß der Topos des „Handelns auf eigene Gefahr“ naheliegt, und seine Schutzwürdigkeit erscheint daher vermindert, wenn auch keineswegs gänzlich ausgeschlossen. Man wird deshalb in diesem Falle nach zusätzlichen Umständen suchen müssen, die das ausgleichen; zu denken ist vor allem daran, daß der andere Teil dem auf den Bedingungseintritt Vertrauenden die riskante „Vorleistung“ mit Hilfe seines wirtschaftlichen Übergewichts „abgenötigt“ hat oder daß er ihn dazu auf Grund seiner intellektuellen Überlegenheit „verleitet“ hat, und ähnlich liegt es auch, wenn er ihn vorbehaltslos nach und nach zu immer weitergehenden Dispositionen veranlaßt hat.52 49 So auch der BGH aaO. S. 787 unter II 3 a. E., der dabei freilich auch auf die Kenntnis der Bekl. von der Unmöglichkeit des Bedingungseintritts abstellt – was, wenn diese nur zum Schein vereinbart war, doch wohl kaum erheblich sein kann. 50 Darin braucht nicht unbedingt ein dolus praeteritus zu liegen, so z. B. nicht, wenn die Bekl. zu dieser Zeit noch erfüllungsbereit war. 51 Darin liegt nicht etwa eine konkludente rechtsgeschäftliche Änderung des Vertrages, da der Vertrauende, der von der Unmöglichkeit des Bedingungseintritts ja nichts weiß, das Verhalten des anderen Teils nicht als Angebot zu einem Änderungsvertrag auffassen kann und da er auch seinerseits keine Annahmeerklärung abgibt. 52 Die Problematik ist verwandt mit der des Vertrauens auf die bloße Erfüllungsbereitschaft und auf den zukünftigen Abschluß eines Vertrages, so daß die dafür herausge-
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VII. Der offene Dissens Daß auch beim offenen Dissens eine Erfüllungshaftung gemäß § 242 BGB in Betracht kommen kann, veranschaulicht die Entscheidung des BGH im „Sägewerksfall“ LM Nr. 2 zu § 154 BGB. Hier war in einem umfassenden Abkommen ein bestimmter Punkt offen geblieben, doch hatten die Bekl. die für sie günstigen Teile der Vereinbarung unter stillschweigender Duldung des Kl. bereits durchgeführt. Gegenüber dessen Begehren, nun auch die nachteiligen Abreden zu verwirklichen, beriefen sie sich auf Dissens. Der BGH gab der Klage gemäß § 242 BGB statt, und das war in der Tat i. E. zutreffend. Es stellt nämlich ein krasses venire contra factum proprium dar, wenn die Bekl. den Vertrag erst teilweise vollziehen und ihn somit als gültig behandeln, soweit er ihnen günstig ist, und sich dann auf seine Ungültigkeit berufen, soweit er ihnen nachteilig ist. Auch die übrigen Voraussetzungen der Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens waren gegeben. Insbesondere lag eine „irreversible“ Vertrauensinvestition vor, da der Kl. die von den Bekl. vorgenommenen Maßnahmen geduldet hatte und da diese offenbar de facto kaum rückgängig zu machen waren, so daß insoweit wieder der auch sonst in diesem Zusammenhang schon mehrfach verwandte Gesichtspunkt des nicht herausgabepflichtigen oder -fähigen Vorteils53 relevant wird.
Als wichtigstes Charakteristikum des Falles kam schließlich hinzu, daß der Kl. bereit war, die streitig gebliebene Frage jetzt im Sinne der Bekl. zu lösen. Dies ist in zweifacher Hinsicht von wesentlicher Bedeutung; zum einen wird dadurch nämlich [323] die Gefahr einer Beeinträchtigung der Privatautonomie sehr stark gemildert,54 und zum anderen entfallen deshalb mögliche Bedenken gegen die Schutzwürdigkeit des Vertrauens,55 da der Kl. zumindest erwarten durfte, die Bekl. würden sich auf eine ihren eigenen Vorstellungen entsprechende Lösung einlassen. Unverzichtbar ist dieses Kriterium allerdings nicht. Vielmehr kann es u. U. auch genügen, wenn der Vertrauende lediglich zu einer „billigen“ oder „angemessenen“ Regelung des offenen Punktes bereit ist; denn darin, daß diese dann letztlich vom Richter festgelegt werden muß, liegt, wie sich aus den §§ 315 ff. arbeiteten Kriterien (vgl. unten § 30) auch hier fruchtbar gemacht werden können. Die Parallele drängt sich vor allem dann auf, wenn das Vertrauen sich darauf richtet, der andere Teil werde auch bei Ausfall bzw. Eintritt der Bedingung zu dem Vertrag stehen. 53 Vgl. dazu zusammenfassend unten § 43 II = S. 531. 54 Aber nicht völlig beseitigt, da die Privatautonomie auch erlaubt, sich willkürlich zu einem eigenen früheren Angebot, das inzwischen erloschen ist, in Gegensatz zu stellen; vgl. auch unten S. 324 f. 55 Diese können sich daraus ergeben, daß sich das Vertrauen hier nicht auf eine (vermeintlich) schon bestehende Rechtslage, sondern nur auf deren zukünftige Herbeiführung richtet; die für derartige Fälle unten § 30 aufgestellten besonderen Anforderungen lassen sich auf die vorliegende Problematik aber wegen der im Text herausgearbeiteten spezifischen Eigenart der Vertrauenslage nicht uneingeschränkt übertragen.
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BGB ergibt,56 keineswegs ohne weiteres ein unzulässiger Eingriff in die Privatautonomie, und auch die Schutzwürdigkeit des Vertrauens kann insoweit nicht generell verneint werden, da man von einem „redlichen“ Partner durchaus erwarten darf, er werde nach einer von ihm selbst veranlaßten, nur schwer wieder rückgängig zu machenden Erfüllung eines wesentlichen Teils des Vertrages nunmehr mit einer „billigen“ Regelung einverstanden sein. Dabei ist die Durchführung des Geschäfts ebenso wie sonst nur eine unter mehreren denkbaren Möglichkeiten einer „Disposition“, und es können daher auch andere Maßnahmen genügen.57 Als Beispiel ist etwa daran zu denken, daß ein Arbeitgeber in Vertragsverhandlungen mit einem Arbeitnehmer steht und diesen zur Kündigung seiner bisherigen Stellung – also zu einer irreversiblen und dessen gesamte berufliche Existenz betreffenden Vertrauensinvestition – veranlaßt, obwohl über einen Punkt des neuen Vertrages noch keine abschließende Einigung erzielt worden ist; erklärt sich der Arbeitnehmer nun zu einer Lösung der ungeregelten Frage in dem vom Arbeitgeber vorgeschlagenen oder in einem offenbar angemessenen Sinne bereit und sind keine Gründe gegeben, die eine zwischenzeitliche Meinungsänderung des Arbeitgebers rechtfertigen könnten,57a so sollte man im Hinblick auf das Verbot des venire contra factum proprium nicht anders entscheiden als im Sägewerksfall. [324] VIII. Der versteckte Dissens Der BGH hat es mehrfach58 dahingestellt sein lassen, ob auch gegenüber dem Einwand des versteckten Dissens eine Haftung aus § 242 BGB durchgreifen kann.59 Indessen ist nicht ersichtlich, warum hier etwas anderes gelten sollte als 56 Für deren Anwendung daher mit Recht Flume § 34, 6 e; i. E. ähnlich auch RG SeuffArch. 82 Nr. 182 (S. 322); vgl. im übrigen auch unten § 34 II 4. 57 Anders Flume § 34, 6 d. 57a Da sich das Vertrauen des Arbeitnehmers lediglich darauf richtet, daß der Arbeitgeber freiwillig, d. h. ohne eine entsprechende Rechtspflicht zu seinem Wort stehen werde, kann dieser bei Vorliegen eines „besonderen Grundes“ von dem geplanten Vertragsschluß Abstand nehmen, vgl. allgemein unten S. 543 f. Diese Einschränkung der Vertrauenshaftung ist ganz allgemein in den Fällen des offenen Dissenses zu beachten. 58 Vgl. LM Nr. 2 zu § 154 a. E.; WM 58, 1414 (1416); 65, 950 (952). 59 Schwierig ist die Rechtslage bei einer widersprüchlichen Willenserklärung, wie sie z. B. im Falle BGH WM 64, 487 vorlag. Zunächst wird man hier scharf zu unterscheiden haben, ob die Erklärung wirklich widersprüchlich ist oder ob sie lediglich mit einer unrichtigen Rechtsansicht, deren Richtigkeit aber nicht zur Bedingung der Geltung der Erklärung erhoben wird, verbunden ist; im letzteren Fall ist an der Wirksamkeit der Erklärung nicht zu zweifeln, wobei über die an sie geknüpften Rechtsfolgen eben gegebenenfalls prozessiert werden muß. Bei echter Widersprüchlichkeit ist dagegen u. U. mit den Regeln über die Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens zu helfen. Diese waren wohl in der Tat in dem vom BGH aaO. entschiedenen Fall
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hinsichtlich aller übrigen Mängel eines Rechtsgeschäfts. Man braucht denn auch die vom BGH entschiedenen Fälle nur geringfügig zu modifizieren, um zu zeigen, daß auch beim versteckten Dissens eine Erfüllungshaftung aus § 242 BGB durchaus denkbar ist. Im Fall WM 58, 1414 war in einen Kaufvertrag über eine Eisdiele eine mehrdeutige Bestimmung aufgenommen worden. Als sich herausstellte, daß beide Parteien diese verschieden interpretierten, kam es zum Streit, und die Käuferin klagte daraufhin gegen die Verkäuferin auf Rückgabe der von ihr unterschriebenen Wechsel. Der BGH gab der Klage statt und führte zur Begründung u. a. aus, in der Berufung auf den versteckten Dissens liege kein Verstoß gegen § 242 BGB (S. 1416 unter II 6). – Das war zweifellos zutreffend; denn den Interessen der Verkäuferin war bei einer Rückabwicklung des Vertrages nach Bereicherungsrecht ohne weiteres angemessen Rechnung zu tragen. Gewiß wäre aber entgegengesetzt zu entscheiden gewesen, wenn umgekehrt die Verkäuferin die Nichtigkeit geltend gemacht hätte und die Käuferin nun mit einer Auslegung der mehrdeutigen Klausel in dem der Verkäuferin günstigen Sinne einverstanden gewesen wäre; denn die Käuferin hatte sich in ihrer wirtschaftlichen und beruflichen Existenz auf die Übernahme der Eisdiele „eingerichtet“, und das hätte sich mit Bereicherungsansprüchen wohl kaum angemessen ausgleichen lassen. Im Fall WM 65, 950 hatten die Parteien bei der Vereinbarung einer Rentenschuld vergessen, die gemäß § 1199 II BGB zwingend vorgeschriebene Bestimmung der Ablösungssumme vorzunehmen. Der Rentenberechtigte machte nunmehr die Nichtigkeit des Vertrages wegen versteckten Dissenses geltend und klagte auf Rückauflassung des von ihm dem anderen Teil übereigneten Grundstücks, obwohl dieser ihm statt der Rentenschuld eine – auch ohne Ablösungssumme zulässige – Reallast anbot. Der BGH gab der Klage statt; in der Weigerung des Kl., jetzt an der Bestimmung der Ablösungssumme mitzuwirken, sei ebensowenig ein Verstoß gegen § 242 BGB zu sehen, wie in seiner Weigerung, sich statt dessen auf die Bestellung einer – für ihn i. E. sogar günstigeren! – Reallast einzulassen. – Dem ist zuzustimmen; denn die Privatautonomie, die mit gutem Grund auch als das Prinzip der Parteiwillkür bezeichnet wird, erlaubt es, ein Angebot selbst dann zurück- [325] zuweisen, wenn die Ablehnung „willkürlich“ erscheint. Wie aber hätte der BGH wohl entschieden, wenn umgekehrt der Rentenberechtigte auf der Einhaltung des Vertrages bestanden und zur Begründung beispielsweise vorgetragen hätte, er habe inzwischen seinen Beruf aufgegeben und sich im Vertrauen auf die Sicherung seines Alters durch die Rentenschuld zur Ruhe gesetzt?!
maßgeblich (vgl. den 3. Leitsatz und den Hinweis auf das v. c. f. p. S. 490 Sp. 2); entscheidend dürften dabei das Schweigen der Bekl. auf das Schreiben vom 7.3.59, in dem die Kl. eindeutig von der Wirksamkeit der Ausübung des Vormietrechts ausging, und die Tatsache sein, daß die Kl. den Vertrag mit der von ihr vorgeschlagenen Nachmieterin wieder rückgängig gemacht, also eine „irreversible“ Vertrauensinvestition vorgenommen hatte.
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Beide Fälle sind, weit über ihre engere Sachproblematik hinaus, höchst aufschlußreich für die Struktur und die Art des hier in Frage stehenden Haftungstyps. So wird aus ihnen wieder einmal60 deutlich, daß es nicht um eine vollständige Aufrechterhaltung des Vertrages unter Einschränkung einer Nichtigkeitsnorm – hier des § 155 BGB – geht, sondern um die Gewährung eines einseitigen Anspruchs zugunsten dessen, der sich im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Vereinbarung „eingerichtet“ hat. Der Rentenschuldfall bestätigt zudem die Erkenntnis, daß die Durchführung des Vertrages weder genügend61 noch erforderlich62 ist. Auch veranschaulicht er sehr gut, wo die Grenze zur Privatautonomie zu ziehen ist: eine rechtsgeschäftliche Regelung, mit der jemand sich nicht einverstanden erklärt hat, darf ihm keinesfalls allein deswegen unter Hinweis auf Treu und Glauben aufgezwungen werden, weil sie ihm günstig ist oder weil er sie früher einmal aller Wahrscheinlichkeit nach akzeptiert hätte; denn das Prinzip der Selbstbestimmung schließt die Respektierung der Parteiwillkür ein, und daher kann ein Erfüllungsanspruch nicht auf diesem Wege, sondern nur in Anknüpfung an das Prinzip der Selbstverantwortung, das selbständig neben dem der Selbstbestimmung steht, hinreichend begründet werden. Da alle diese Ergebnisse für eine auf dem Vertrauensgedanken aufbauende Theorie eine Selbstverständlichkeit sind, bestätigen sie mittelbar einmal mehr deren Richtigkeit. IX. Der verspätete Zugang einer Willenserklärung und das Fehlen einer Annahme 1. Auch der „Berufung“ auf § 130 BGB ist die Rechtsprechung verschiedentlich mit Hilfe des § 242 BGB entgegengetreten.63 Die einschlägigen Entscheidungen betreffen indessen durchweg die Sonderproblematik der „Zugangsvereitelung“,64 und diese ist nicht in die Lehre von der Vertrauenshaftung einzuordnen. Denn wenn auch nicht selten der Absender durch das Vertrauen darauf, daß der Adressat seinen Geschäftsbereich ordnungsgemäß organisiert hat, in seinem Handeln und insbesondere in der Wahl des Absendungszeitpunkts bestimmt worden sein mag, so ist doch ein solches Vertrauen keine notwendige Vorausset-
60 Vgl. z. B. die entsprechenden Ausführungen zur Problematik der Formnichtigkeit oben S. 274 und S. 277 sowie allgemein unten § 42 I. 61 Der Vertrag war in concreto fast vollständig durchgeführt! 62 Für die Entscheidung der vorgenommenen Abwandlung kann es z. B. unmöglich darauf ankommen, ob der Rentenberechtigte seinerseits schon erfüllt hat. 63 Vgl. RGZ 58, 406 (408); BGH LM Nr. 1 zu § 130 BGB; ebenso z. B. Soergel-Hefermehl § 130 Rdz. 25. 64 Vgl. dazu z. B. Staudinger-Coing § 130 Rdz. 22; Flume § 14, 3 e; Larenz A. T. § 27 II b.
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zung für seinen [326] Schutz.65 Diesen verdient er vielmehr u. U. auch dann, wenn er genau weiß, daß der andere Teil – etwa ein Kaufmann – auf Reisen ist und keinen Nachsendeantrag gestellt hat oder während dieser Zeit keinen festen Aufenthaltsort besitzt; denn zumindest in den Fällen, in denen der Adressat mit dem Zugang von Erklärungen rechnen muß, ist es grundsätzlich seine Sache, ob und in welcher Form er dafür Vorkehrungen trifft, und dann ist es dem Absender nicht zumutbar, den umständlichen und aufwendigen Weg des § 132 BGB zu wählen.66 Aus diesem Beispiel wird zugleich deutlich, wo hier in Wahrheit der Schwerpunkt der Problematik liegt: es geht darum, in folgerichtiger Fortbildung des dem § 130 BGB zugrunde liegenden Rechtsgedankens eine sachgerechte Verteilung des Zugangsrisikos vorzunehmen67 und unter diesem Gesichtspunkt die für die Fälle der „Zugangsverteilung“ zwischen den §§ 130 und 132 BGB bestehende Lücke auszufüllen; eines Rückgriffs auf § 242 BGB bedarf es für eine solche Risikozurechnung nicht,67 – wie ja auch die ratio legis des § 130 BGB nicht aus dem Prinzip von Treu und Glauben zu erklären ist. 2. Um die Verspätung einer Willenserklärung geht es auch in § 149 BGB. Danach gilt eine rechtzeitig abgesandte, aber verspätet zugegangene Annahmeerklärung als nicht verspätet, wenn der Empfänger die Rechtzeitigkeit der Absendung erkennen mußte, aber gleichwohl dem Erklärenden die Verspätung nicht unverzüglich anzeigt. Zur Begründung dieser Regelung heißt es in den Motiven: „Hat jemand auf einen Antrag die Annahmeerklärung rechtzeitig abgesendet, so darf er der Erwartung sich hingeben, daß die Erklärung innerhalb der Annahmefrist bei dem Antragenden eingeht und der Vertrag zustande kommt. Die Rücksicht auf Treu und Glauben erfordert, daß der Antragende, wenn diese Erwartung den tatsächlichen Verhältnissen nicht entspricht, den Absender durch eine entsprechende Benachrichtigung ohne schuldhafte Verzögerung aufklärt“.68 Hier ist also in der Tat der Vertrauensgedanke von entscheidender Bedeutung,69 da der Absender in der „Erwartung“, die Erklärung werde rechtzeitig zugehen, geschützt werden soll. Gleichwohl läßt sich die Vorschrift des § 149 BGB in das für das deutsche Privatrecht geltende System der Vertrauenshaftung nicht einordnen. Denn zwar 65 Daß sich das Vertrauen hier nicht auf eine bestimmte Rechtslage, sondern auf das Vorliegen rein tatsächlicher Umstände richtet, steht dagegen einer Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens nicht unbedingt entgegen, vgl. unten § 39 III 3. Darin liegt übrigens u. a. der Unterschied zu den – sonst in gewisser Weise mit der Problematik der Zugangsvereitelung verwandten – Fällen, in denen jemand verhindert, daß der andere Teil eine Ausschlußfrist einhält; vgl. dazu unten XII. 66 Im Sinne von Flume aaO. S. 238 braucht er hier das Zugangshindernis „nicht zu respektieren“. 67 So mit Recht Larenz aaO. S. 419. 68 Vgl. Mot. I, 171. 69 Vgl. auch Soergel-Lange § 149 Rdz. 1.
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ist es richtig, daß Treu und Glauben eine unverzügliche Verspätungsanzeige fordern, doch ist nicht einzusehen, warum an deren Unterbleiben die Fiktion der Rechtzeitigkeit und damit eine Erfüllungshaftung und nicht lediglich, wie sonst bei [327] Verletzung einer Aufklärungspflicht, eine Schadensersatzpflicht geknüpft ist. Wenn dies in den Motiven lediglich mit einem Hinweis auf „das Verkehrsinteresse“ begründet wird68, so bleibt das mangels näherer Substantiierung eine bloße Behauptung. In Wahrheit dürfte die Regelung des § 149 BGB vielmehr darauf zurückzuführen sein, daß die Verfasser des BGB die Lehre von der culpa in contrahendo, in die eine derartige Aufklärungspflichtverletzung an sich einzuordnen wäre, nicht als allgemeines Institut in das Gesetz aufgenommen haben und daß sie dementsprechend keine klare theoretische Konzeption für eine bruchlose Lösung der einschlägigen Probleme besaßen. Überzeugende Gründe für den Übergang von der Schadensersatz- zur Erfüllungshaftung lassen sich hier nämlich schlechterdings nicht finden. Insbesondere kommt dem Schweigen auf die verspätete Annahmeerklärung nicht etwa verkehrstypisch die Bedeutung einer „Genehmigung“ der Verspätung zu;70, 71 das könnte man allenfalls bei geringfügigen Fristüberschreitungen in solchen Fällen annehmen, in denen kein besonderes Interesse des Antragenden an einer genauen Einhaltung der Frist erkennbar ist, doch gilt § 149 BGB unzweifelhaft auch dann, wenn derartige Besonderheiten nicht gegeben sind. Das Vertrauen des Erklärenden richtet sich denn auch gar nicht primär auf irgendein Verhalten des anderen Teils, sondern, wie in den Motiven durchaus richtig erkannt ist und wie es auch im Wortlaut des Gesetzes zum Ausdruck kommt, auf die Regelmäßigkeit der Beförderung, also auf einen Umstand, der außerhalb der Sphäre des Adressaten liegt und hinsichtlich dessen das Vertrauen des Erklärenden daher gar nicht schutzwürdig ist. Gegen diese Kritik kann man nicht einwenden, der Absender könne doch immerhin darauf vertrauen, daß er umgehend von einer eventuellen Verspätung benachrichtigt werde. Denn das ist zwar richtig, doch läßt sich damit der Schutz des Vertrauenden folgerichtig nur insoweit begründen, als dieser sich gerade auf die Unverzüglichkeit der Nachricht verläßt. Dann aber müßte es – im Gegensatz zur Regelung des Gesetzes! – konsequenterweise darauf ankommen, ob er wegen des Unterbleibens einer solchen Anzeige eine Maßnahme vorgenommen, also z. B. die Produktion des bestellten Gegenstandes aufgenommen hat und ob dies erst nach dem Zeitpunkt geschah, zu dem er den Eingang der Mitteilung erwarten 70 Darin liegt der entscheidende Unterschied zum Schweigen auf ein Bestätigungsschreiben und zu ähnlichen Erscheinungen; unrichtig daher die Analogie zu § 149 BGB bei Will, Schweigen auf Bestätigungsschreiben, 1935, S. 44 ff. (der freilich insofern konsequent ist, als er die konstitutive Bedeutung des Bestätigungsschreibens leugnet, vgl. S. 48). 71 Das Schweigen ist also nicht „scheinkonkludent“, weswegen eine Einordnung des § 149 BGB in die Rechtsscheinhaftung ausgeschlossen ist.
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durfte; denn anderenfalls fehlt es an der erforderlichen Disposition72 bzw. an dem Kausalzusammenhang zwischen dieser und dem Vertrauenstatbestand. Außerdem aber [328] würde selbst bei Vorliegen dieser Voraussetzungen ein Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch zum Schutze des Vertrauens auf die Unverzüglichkeit einer eventuellen Verspätungsanzeige73 grundsätzlich durchaus genügen. Schließlich ist auch mit dem Verbot des venire contra factum proprium nicht weiterzukommen, da es dann entscheidend auf die nach dem „Vorverhalten“, hier also nach dem Unterlassen der Anzeige, eingetretene weitere Entwicklung ankommen müßte,74 und ebensowenig läßt sich § 149 BGB mit Hilfe des Gedankens der Verschweigung erklären, der zur Statuierung eines an sich nicht gegebenen Erfüllungsanspruchs nur unter den Voraussetzungen der „Erwirkung“, d. h. nur nach Ablauf einer längeren Zeitspanne, die die Möglichkeit eines „Sicheinrichtens“ begründet, herangezogen werden kann.75 Alles in allem ist somit an der Systemwidrigkeit des § 149 BGB und insbesondere an seiner Unvereinbarkeit mit den Grundsätzen über die culpa in contrahendo nicht vorbeizukommen. Darüber hinaus erscheint die Vorschrift, die keine einleuchtende ratio legis besitzt, auch sachwidrig, da sie dem Adressaten schon bei leichter Fahrlässigkeit eine Erfüllungshaftung auferlegt, ohne daß dies durch eine besondere Schutzwürdigkeit des Absenders gefordert wird, ja, ohne daß auf dessen Seite überhaupt irgendeine Vertrauensinvestition vorzuliegen braucht. 3. Nach einem zutreffenden methodischen Grundsatz dürfen systemwidrige Vorschriften nicht analog angewandt werden.76 Schon aus diesem Grunde ist es daher abzulehnen, wenn FLUME in Abweichung von § 150 I BGB die Regelung des § 149 BGB unter bestimmten Voraussetzungen auch in solchen Fällen anwenden will, in denen nicht nur der Zugang, sondern außerdem die Absendung der Erklärung verspätet erfolgt.77 Allerdings ist es richtig, daß das Schweigen auf eine verspätete Annahme angesichts der Besonderheiten der Sachlage78 häufig als Einverständnis mit der Fristüberschreitung – d. h. im Sinne der Konstruktion des 72 Die Voraussetzungen, unter denen auf diese ausnahmsweise verzichtet werden kann (vgl. unten § 40 III 2), liegen hier nicht vor; denn es geht eben nicht um das Vertrauen auf eine Scheinannahme oder eine Scheingenehmigung des Schweigenden. 73 Nur darum, nicht um den Schutz des Vertrauens auf die Rechtzeitigkeit des Zugangs geht es nach dem zuvor im Text Ausgeführten! 74 Vgl. allgemein unten § 43 II = S. 531 mit Fn. 33. 75 Vgl. näher unten § 31. 76 Noch weitergehend sogar die Gültigkeit des § 149 BGB zu bezweifeln, dürfte dagegen zu weit gehen, da der Wertungswiderspruch zu den Regeln über die c. i. c. nicht so kraß ist, daß man von einem „offensichtlich willkürlichen“ Unterschied sprechen könnte; vgl. zur Problematik der Verbindlichkeit systemwidriger Normen näher Canaris, Systemdenken S. 121 ff., insbesondere S. 125 ff. 77 Vgl. § 35 II 2; kritisch auch Larenz A. T. § 33 II 1 a. E. 78 Zu diesen treffend RG HRR 1929 Nr. 1559.
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§ 150 I BGB als Annahme des erneuten Angebots – anzusehen ist und daß dies insbesondere dann gilt, wenn keine „Umstände eingetreten sind, von denen eine Änderung der sachlichen Entschließungen des damaligen Antragstellers zu erwarten war“ und nicht „die Länge der seitdem verflossenen Zeit schon an sich die Möglichkeit [329] solcher Entschlußänderungen nahelegt“.79 Das Schweigen stellt dann eine konkludente Willenserklärung dar, und daher tritt ohne weiteres eine Verpflichtung kraft Rechtsgeschäfts ein, sofern der Schweigende das erforderliche Erklärungsbewußtsein hatte.80, 81 Fehlt letzteres dagegen, so ist er in Analogie zu den Regeln über das Bestätigungsschreiben und zu § 362 HGB allenfalls dann ohne weiteres gebunden, wenn die Bedeutung des Schweigens durch eine entsprechende Verkehrssitte typisiert war,82 während im übrigen grundsätzlich allenfalls eine Schadensersatzhaftung in Betracht kommt. Freilich kann auch hier – und damit kehrt die Erörterung zum eigentlichen Gegenstand dieses Paragraphen zurück – die Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens ergänzend eingreifen. Mit ihrer Hilfe dürfte in der Tat der von FLUME als Beleg seiner Theorie herangezogene „Unfallversicherungsfall“ BGH LM Nr. 1 zu § 150 BGB zu lösen sein. Hier hatte der Ehemann der Kl. am 31.5. bei der Bekl. einen Antrag auf Abschluß einer Unfallversicherung gestellt und dabei sofort die erste Monatsprämie bezahlt. Am 16.7., vier Tage nach Ablauf der in dem Antragsformular enthaltenen sechswöchigen Annahmefrist, legte ein Vertreter der Bekl. den unterschriebenen Versicherungsschein in der Wohnung des Antragstellers vor, nahm ihn jedoch wieder mit, da er nur dessen Ehefrau antraf und diese sich weigerte, die Prämie für die nächsten drei Monate zu zahlen. Mit Schreiben vom 1.9. mahnte die Bekl. unter Fristsetzung die fälligen Prämien an. Am 2.9. verunglückte der Ehemann der Kl. tödlich. – Der Klage auf Zahlung der Versicherungssumme wurde in allen drei Instanzen stattgegeben. Der BGH führte aus, zwar müßten die Fristen für die Annahme eines Versicherungsantrags streng eingehalten werden und daher sei die Annahme 79 Vgl. RG aaO.; ähnlich z. B. BGH LM Nr. 1 zu § 150 BGB Leits. c und Bl. 52; LM Nr. 2 zu § 151 BGB Bl. 103; BB 53, 957; Staudinger-Coing § 150 Rdz. 1; Soergel-Lange § 150 Rdz. 5; Erman-Hefermehl § 150 Anm. 1. 80 Dies wird ihm regelmäßig nicht zu widerlegen sein, sofern er es behauptet, und daher dürften die Fälle, in denen der Schweigende selbst die Gültigkeit des Vertrages geltend macht, keine besonderen Schwierigkeiten bereiten, falls das Schweigen objektiv die Bedeutung eines Einverständnisses mit der Verspätung hatte; auf die Weise wäre z. B. der „Schweinegitterfall“ RG SeuffArch. 77 Nr. 112 ohne weiteres zu lösen gewesen (wenn man schon nicht die ausdrückliche Erklärung der Kl. vom 17.2. als noch rechtzeitig ansehen wollte). 81 Hinsichtlich des Inhalts dieses Bewußtseins ist zu beachten, daß die Parteien die – wenig lebensgerechte – Konstruktion des § 150 I BGB regelmäßig nicht kennen. Es ist daher auf die entsprechende „Parallelwertung in der Laiensphäre“ abzustellen, und demgemäß ist das Erklärungsbewußtsein dann zu bejahen, wenn dem Schweigenden bewußt war, daß er mit dem Schweigen seinen Willen zum Ausdruck brachte, die Annahme trotz der Verspätung gelten zu lassen. 82 Vgl. näher oben § 20 I 5 und III 3; eine Verkehrsübung behauptet für die vorliegende Problematik Kuhn WM 55, 959 unter a.
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am 16.7. verspätet gewesen, doch hätte der Ehemann der Kl. das darin nach § 150 I BGB zu sehende erneute Angebot durch sein Stillschweigen angenommen; zur Begründung dieser Auffassung machte er sich vor allem die oben zitierten Sätze aus der Entscheidung RG HRR 1929 Nr. 1559 zu eigen. In Wahrheit ist die Konstruktion einer Annahme durch Schweigen hier eine offensichtliche Fiktion.83 Denn entweder war der Bekl. gar nicht bewußt, daß die Annahmefrist überschritten sein könnte, und dann hatte sie keinen Anlaß, in dem Schweigen des Antrag- [330] stellers irgendeine Willenserklärung zu sehen, da der Vertrag ihrer Meinung nach ja ohnehin geschlossen war; oder sie hatte die Fristüberschreitung erkannt, dann durfte sie das Schweigen keinesfalls als Einverständnis verstehen, da, wie der BGH selbst ausführte, bei Versicherungsanträgen die exakte Einhaltung der Annahmefrist von besonderer Bedeutung ist und die Bekl. daher keinen Anlaß hatte, mit einer Zustimmung des Antragstellers zu rechnen. Vom – insoweit maßgeblichen – Verständnishorizont der Bekl. her gesehen fehlt also dem Schweigen schon objektiv, d. h. ohne daß es auf die Frage des Erklärungsbewußtseins noch irgendwie ankommt, der Charakter einer Willenserklärung. Mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre ist daher die Entscheidung des BGH nicht zu rechtfertigen. Dagegen ergibt sich die Begründung ohne weiteres aus dem Verbot des venire contra factum proprium. Die Bekl. hat nämlich selbst, was der BGH mit Recht nachdrücklich betont, den Vertrag als wirksam behandelt, wie sich insbesondere aus der Einforderung der Prämien am 16.7. und der Mahnung am 1.9. ergibt. Sie setzt sich daher mit ihrem eigenen Vorverhalten in Widerspruch, wenn sie jetzt, nachdem der Versicherungsfall eingetreten ist und die Wirksamkeit des Vertrages sich für sie daher nicht mehr vorteilhaft, sondern ungünstig auswirken würde, die Verspätung ihrer Annahme geltend macht. Auch die übrigen anspruchsbegründenden Merkmale sind gegeben. So liegt die „Veranlassung“ der Unwirksamkeit auf Seiten der Bekl., da sie die Offerte zu spät angenommen hat; auch hat sie in dem Ehemann der Kl. das Vertrauen hervorgerufen, wirksamen Versicherungsschutz zu genießen.84 Deshalb hat dieser es – jedenfalls möglicherweise – unterlassen, anderweitig für eine Unfallversicherung zu sorgen, und jetzt nach Eintritt des Versicherungsfalles, ist es „zu spät“. Wieder ist also eine „irreversible“ Lage eingetreten und wieder geht es um die „existenziellen“ Belange der Vertrauenden. Daher ist eine Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens in der Tat zu bejahen, – wobei hier, was gegenüber den bisherigen Fällen neu, aber, wie noch zu zeigen sein wird,85 keineswegs systemwidrig ist, eine Besonderheit sowohl darin liegt, daß schon die bloße Möglichkeit einer Vertrauensdisposition genügt, als auch darin, daß es um den Schutz eines Dritten, nämlich der Ehefrau, geht.
Richtig Flume § 35 II 2 a. E. Fehlt es an diesem Vertrauen, läßt sich also nachweisen, daß der Offerent seinerseits entschlossen war, den Vertrag wegen der Verspätung als ungültig zu behandeln, so erscheint es schon vom Ergebnis her unvertretbar, gleichwohl den Anspruch auf die Versicherungssumme zuzusprechen. 85 Vgl. allgemein unten § 40 III 3 = S. 531 f. bzw. S. 335 und S. 340 f. 83 84
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Daß die Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens auch hier in der Tat der richtige Lösungsansatz ist, wird besonders gut deutlich, wenn man den Fall in bestimmter Weise modifiziert. So wäre der Vertrag z. B. keinesfalls als wirksam zu behandeln, wenn umgekehrt die Bekl. einen Anspruch daraus geltend gemacht, d. h. wenn sie die Versicherungsprämien eingeklagt hätte83; denn das wäre unvereinbar mit dem Schutzzweck des vom BGH mit Recht ausgesprochenen Grundsatzes, daß die Annahmefrist im Interesse des Offerenten exakt einzuhalten ist, sowie mit der Tatsache, daß seinem Schweigen nicht einmal objektiv die Bedeutung einer Annahme zukommt. Wieder zeigt sich also, daß es lediglich um die Statuierung eines einseitigen Anspruchs zugunsten des Vertrauenden und nicht um die vollständige Aufrechterhaltung des Vertrages geht, und darin liegt, wie schon mehrfach hervorgehoben,86 ein charakteristisches Merkmal der Vertrauenshaftung, das diese insbesondere von der Bindung kraft Rechtsgeschäfts unterscheidet. Auch eine Klage des Versicherungsnehmers – etwa auf Feststellung der Wirksamkeit des [331] Vertrages – hätte aber abgewiesen werden müssen, wenn der Unfall nicht eingetreten wäre;87 denn der Vertrag war nun einmal nicht zustande gekommen, und besondere Gründe, ihn dennoch als wirksam zu behandeln, sind bei dieser Fallgestaltung nicht gegeben, da man den Versicherungsnehmer hier ohne weiteres auf die Möglichkeit eines neuen Antrags oder eines Abschlusses mit einer anderen Gesellschaft verweisen kann. Vor allem in diesem Ergebnis tritt wieder sehr klar der Unterschied zwischen einer Lösung mit Hilfe der Lehre von der Vertrauenshaftung und der vom BGH gewählten rechtsgeschäftlichen Konstruktion einer Annahme durch Schweigen zu Tage: es kommt nicht allein auf das Schweigen an,88 sondern entscheidend ist wie stets beim Verbot widersprüchlichen Verhaltens die weitere Entwicklung und die durch diese entstandene „Irreversibilität“ der Lage; nur angesichts des inzwischen geschehenen Unfalls ist daher das Verhalten der Bekl. als rechtsethisch nicht hinzunehmendes venire contra factum proprium zu werten.89 4. Dasselbe wie für die verspätete Annahme i. S. des § 150 I BGB gilt grundsätzlich für die Annahme unter Abweichungen i. S. des § 150 II und darüber hinaus auch für das völlige Fehlen einer Annahme. Zunächst ist hier also wie immer zu prüfen, ob nicht schon mit den Regeln der Rechtsgeschäftslehre zum Ziel zu Vgl. zuletzt oben S. 325 und allgemein unten § 42 I. A. A. wohl Flume aaO. S. 653, der den Akzeptanten für „in jedem Falle gebunden“ hält. 88 Verfehlt RGZ 103, 11 (13), wo zunächst die Frist für die Annahme ungewöhnlich engherzig bestimmt wird (vgl. auch Larenz A. T. S. 506 Fn. 1) und dann ohne nähere Begründung unter unspezifizierter Berufung auf Treu und Glauben das Schweigen des Offerenten auf die (angeblich) verspätete Annahme als Annahme des neuen Angebots i. S. von § 150 I BGB angesehen wird. 89 Vgl. dazu auch die entsprechenden Ausführungen zum „Haushälterinnenfall“ unten S. 335 f., zum „Witwengeldfall“ unten S. 341 und zur Haftung bei Falschauslegung von Versicherungsbedingungen unten S. 348 f. 86 87
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kommen ist. Dabei ist vor allem zu beachten, daß in der widerspruchslosen Entgegennahme einer Leistung regelmäßig ein konkludenter Vertragsschluß liegt 90 und daß mit Hilfe dieser Konstruktion insbesondere die Fälle einer beiderseitigen Bezugnahme auf die eigenen Geschäftsbedingungen i. d. R. ohne weiteres zu lösen sind;91 außerdem kann natürlich auch hier das Schweigen u. U. eine echte rechtsgeschäftliche Annahme darstellen, wobei sowohl eine gewöhnliche konkludente Willenserklärung92 als auch eine Willensbetätigung i. S. des § 151 BGB93 in Betracht kommt. Daneben aber steht die Vertrauenshaftung, sei es in der Form einer Rechtsscheinhaftung kraft verkehrsmäßig typisierten Verhaltens,94 sei es in der Form einer Erfüllungshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens; bei letzterer ist auch hier wieder die entschei- [332] dende Bedeutung der nach dem „Vorverhalten“ eingetretenen weiteren Entwicklung und ihrer „Irreversibilität“ zu berücksichtigen und, in engstem Zusammenhang damit, genau zu begründen, warum die von der Rechtsordnung für derartige Fälle an sich bereitgestellten Ausgleichsansprüche wie z. B. solche aus culpa in contrahendo nicht ausreichen.95 X. Fehlen des Erklärungsbewußtseins und Scherzerklärung Ähnlich wie hinsichtlich des § 150 BGB und des Fehlens einer Annahme stellt sich die Problematik der Vertrauenshaftung auch in den Fällen mangelnden Erklärungsbewußtseins dar. Ein charakteristisches Beispiel95a hierfür findet sich im Maklerrecht. Dort ist nämlich lebhaft umstritten, ob ein Makler Provision außer von seinem (primären) Auftraggeber u. U. auch von dem Dritten, den er mit jenem „zusammengebracht“ hat, verlangen kann,96 obwohl diesem in den fragli-
Besonders klar Flume § 5, 3 b. Vgl. vor allem BGH LM Nr. 3 zu § 150 BGB sowie zum „Baumaterialfall“ BGH LM Nr. 6 zu § 150 BGB = NJW 63, 1248 oben S. 22 f. 92 Vgl. z. B. BGH LM Nr. 2 zu § 151 BGB („Küstenmotorschiff“). 93 Vgl. z. B. BGH LM Nr. 2 zu § 148 BGB („Ersatzlos“), wo allerdings möglicherweise doch keine echte rechtsgeschäftliche Annahme vorlag und vielleicht statt dessen das Verbot des venire contra factum proprium hätte geprüft werden müssen. 94 Vgl. oben § 20 I 5. 95 Mit Hilfe der Regeln über die c. i. c. i. V. m. § 254 BGB wäre z. B. der „Absetzgleisfall“ BGHZ 1, 353 zu lösen gewesen, vgl. oben S. 226. Auch in den Fällen RG DJZ 1921, 763 („Sparschäler“) und OLG Jena LZ 1920, 175 f. („Eschenbohlen“) wäre dies und nicht die fiktive Konstruktion einer Vertragsannahme durch Schweigen der richtige Weg gewesen. 95a Vgl. ferner RGZ 68, 126 und dazu unten S. 365 f. 96 Vgl. zur Problematik vor allem Krause, Festschrift für Molitor, 1962, S. 383 ff. (388 ff.) m. ausf. Nachw. aus der Rspr.; Hanau AcP 165, 279 f.; Hübner, Festschrift aaO. S. 384 f.; Larenz, Schuldrecht B. T. S. 248. 90 91
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chen Fällen regelmäßig das erforderliche Erklärungsbewußtsein fehlt97 und obwohl daher ein rechtsgeschäftlicher Anspruch ausscheidet. Hier eine Lösung mit Hilfe der Lehre von der Vertrauenshaftung zu suchen, liegt dabei deshalb nahe, weil der Makler insoweit typischerweise nur im Vertrauen darauf, daß er auch gegen den Dritten einen Entgeltanspruch erwirbt, tätig geworden ist. Was nun zunächst die Rechtsscheinhaftung betrifft, so käme diese nur dann in Betracht, wenn das Verhalten des Dritten kraft typisierender Verkehrssitte die Bedeutung einer konkludenten Willenserklärung hätte,98 doch fehlt es insoweit offenbar in tatsächlicher Hinsicht an den erforderlichen Voraussetzungen.99 Eher zum Ziel zu gelangen ist dagegen möglicherweise mit Hilfe der Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens. Vor allem liegt hier wieder das Merkmal vor, daß der Dritte „einen Vorteil erlangt, den er behalten kann“: er hat den Vertrag nur auf Grund der Tätigkeit des Maklers abschließen können, und das ist jetzt selbstverständlich nicht mehr rückgängig zu machen. Es kommt hinzu, daß die gesetzliche Ausgleichsordnung typischerweise versagt; denn ein Schadensersatzanspruch (analog § 122 BGB [333] oder aus culpa in contrahendo) wird regelmäßig an dem Erfordernis scheitern, einen Schaden nachzuweisen – der Makler müßte beweisen, daß ihm ein Provisionsanspruch gegen einen anderen Interessenten entgangen ist! –, und ein Bereicherungsanspruch führt meist deshalb nicht zum Ziel, weil sich der gemäß § 818 II BGB zu ersetzende „Wert“ der Leistung des Maklers nicht ermitteln läßt.100 Andererseits ist jedoch auch nachdrücklich zu betonen, daß an sich der Makler „näher daran“ ist, durch eine klare und ausdrückliche Absprache mit dem Dritten sich den Provisionsanspruch zu sichern, und daß daher das Mißverständnis regelmäßig überwiegend aus seiner Sphäre stammt. Letztlich dürfte dieser Gesichtspunkt meist den Ausschlag geben: nur wenn man von dem Makler vernünftigerweise keine ausdrückliche Entgeltsvereinbarung erwarten kann, ist er hinreichend schutzwürdig, und nur dann erscheint es auch angemessen, dem Dritten den entstandenen Vertrauenstatbestand zuzurechnen. Bei der Scherzerklärung i. S. des § 118 BGB wird der in § 122 BGB statuierte Schadensersatzanspruch regelmäßig einen hinreichenden Vertrauensschutz gewährleisten. Wo das nicht der Fall ist, kann auch hier u. U. die Erfüllungshaftung
97 Vgl. Krause aaO. S. 398 f. Nicht selten wird es überdies sogar am objektiven Tatbestand einer Willenserklärung fehlen. § 653 BGB vermag weder dies noch den Mangel des Erklärungsbewußtseins zu überwinden, da er nur die Frage der Entgeltlichkeit betrifft und einen wirksamen Vertragsschluß voraussetzt (arg. „übertragene“); vgl. z. B. Erman-Wagner § 635 Anm. 1. 98 Vgl. oben § 20 I und III 3. 99 Vgl. Krause aaO. S. 392 f. m. Nachw. 100 Anders freilich, wenn man entgegen der h. L. bei rechtsgrundloser Inanspruchnahme einer Tätigkeit als Bereicherungsausgleich einen Anspruch auf das übliche oder angemessene Entgelt gewährt; vgl. dazu Wilburg AcP 163, 374 ff. (375); Fikentscher Schuldrecht § 18 III 4 e; Canaris BB 67, 165 ff. (169 f.).
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kraft widersprüchlichen Verhaltens zum Zuge kommen;101 man denke etwa daran, daß jemand im Vertrauen auf eine im Scherz ausgesetzte Belohnung ein Kunststück vornimmt, das keine finanziellen Aufwendungen erfordert, aber erhebliche Gefahren mit sich bringt, und daß das Mißverständnis für den „Versprechenden“ offenkundig ist, dieser aber gleichwohl die Handlung ohne jeden Vorbehalt geschehen läßt. XI. Scheingeschäft, Gesetzeswidrigkeit, Sittenwidrigkeit und Naturalobligation Bei Scheingeschäften, bei gesetzes- oder sittenwidrigen Verträgen und in den Fällen der Naturalobligation wird eine Vertrauenshaftung meist schon daran scheitern, daß die Parteien bösgläubig sind; außerdem dürfte hier dem Schutzzweck der Nichtigkeitsnorm zumindest bei den Tatbeständen der §§ 134 und 138 BGB weit öfter als sonst der Vorrang gegenüber den für eine Vertrauenshaftung sprechenden [334] Gesichtspunkten gebühren.102 Indessen bleibt doch auch hier noch ein gewisser Anwendungsbereich für eine Erfüllungshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens. Das gilt zunächst vor allem hinsichtlich des Schutzes Dritter, da diese ja keineswegs typischerweise bösgläubig sind; freilich wird insoweit i. d. R. schon die Rechtsscheinhaftung eingreifen.103 Auch die an dem Rechtsgeschäft beteiligten Parteien sind aber nicht ausnahmslos schutzunwürdig. Denn ob z. B. ein Differenzgeschäft i. S. des § 764 BGB vorliegt, kann mitunter durchaus zweifelhaft sein104 und zu einem verständlichen Irrtum Anlaß geben, und auch bei Verstößen gegen ein gesetzliches Verbot braucht nicht immer böser Glaube gegeben zu sein;105 selbst bei einem sittenwidrigen Geschäft sind Fälle der
101 Die Entscheidung RGZ 168, 204, in der die „Berufung“ auf den Mangel der Ernstlichkeit nach Treu und Glauben versagt wird (S. 205 f.), ist allerdings nicht als Beispiel verwertbar. Denn entweder hatte der Kl., was aus dem Urteil nicht klar ersichtlich wird, die vereinbarte Gegenleistung eingeklagt, – dann war sein Anspruch ohne weiteres unschlüssig, oder er hatte gemäß §§ 812, 818 II BGB Wertersatz verlangt und diese Summe lag über dem – im Wege der Minderung gekürzten – vertraglichen Entgelt, – dann mag zwar die Geltendmachung des Mehrbetrags in der Tat gegen das Verbot des venire contra factum proprium verstoßen (vgl. auch den Fall BGHZ 18, 340 und dazu oben Fn. 47), doch handelt es sich jedenfalls nur um einen Anspruchsverlust und nicht um Anspruchsbegründung. 102 Immerhin bleibt dann aber wenigstens die Möglichkeit einer Haftung auf das positive Interesse, vgl. auch oben § 26 II 1. 103 Vgl. z. B. zum Scheingeschäft oben § 9 I und II. 104 Vgl. etwa RGZ 146, 190; RG SeuffArch. 92 Nr. 11 (S. 26); Hamburg SeuffArch. 73 Nr. 72 (S. 118); vgl. insoweit im übrigen auch unten § 30 I 2. 105 Vgl. näher oben § 26 II 1.
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Gutgläubigkeit jedenfalls dann denkbar,106 wenn man mit einer neueren Lehre hier u. U. den objektiven Tatbestand der Sittenwidrigkeit genügen läßt.107 So kann alles in allem auch bei diesen Nichtigkeitsgründen die Möglichkeit einer Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens nicht von der Hand gewiesen werden. Freilich ist nicht zu verkennen, daß die entsprechenden Voraussetzungen in praxi nur sehr selten erfüllt sein werden, und so ist es denn vermutlich kein Zufall, daß sich bisher, soweit ersichtlich, in der Rechtsprechung keine einschlägigen Beispiele finden.107a [335] XII. Sonstige Fälle Mögen mit den bisherigen Ausführungen auch die wichtigsten Nichtigkeitsgründe erfaßt sein, so gibt es doch noch eine Reihe weiterer Fälle einer Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens. Beispielsweise dürfte in diesen Zusammenhang auch die Frage gehören, ob der „Berufung“ auf eine Ausschlußfrist die „Arglisteinrede“ entgegengesetzt werden kann.108 Denn auch dabei geht es typischerweise darum, daß der eine Teil in dem anderen Vertrauen hervorgerufen hat – sei es, daß er ihn in einen Irrtum über die Länge der Frist ver106 Generell gegen die Möglichkeit einer „Arglisteinrede“ gegen § 138 BGB RG DR 1939, 930 (obiter) und wohl auch RG WarnRspr. 1914 Nr. 273 (S. 393 unten; obiter); anders dagegen OLG München HRR 1941 Nr. 926 (obiter) und RG JW 1917, 460, wo allerdings der Rückgriff auf § 242 nicht erforderlich gewesen wäre. 107 Vgl. dazu Flume § 18, 3 und Larenz § 28 III c. Vgl. in diesem Zusammenhang auch § 312 I BGB, der wohl nur eine besondere Konkretisierung des § 138 BGB darstellt und bei dem ein schützenswertes Vertrauen auf die Wirksamkeit des Vertrages gut vorstellbar ist; so sollte man z. B. in den von Wiedemann NJW 68, 772 behandelten Fällen grundsätzlich bei einem Verstoß gegen § 312 I nicht anders entscheiden als bei einem solchen gegen § 312 II 2, auf den Wiedemann die Möglichkeit einer Haftung aus § 242 BGB offenbar beschränken will. 107a Vgl. inzwischen aber immerhin den „Werbeleiterfall“ BGH JZ 70, 504. Der BGH hat hier einem selbständigen Handelsvertreter einen Anspruch auf die vereinbarte (!) Vergütung gewährt, obwohl der zugrunde liegende Dienstvertrag nach § 134 BGB nichtig war. Zur Begründung hat er dabei nicht nur ausdrücklich auf das Verbot des venire contra factum proprium Bezug genommen (vgl. S. 506 vor c), sondern auch der Sache nach genau jene Gesichtspunkte herangezogen, auf die es nach der hier vertretenen Ansicht bei der Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens ankommt: er stellt entscheidend auf die Gutgläubigkeit des Handelsvertreters ab (vgl. S. 506 unter d) und berücksichtigt außerdem den Vorteilsgedanken, das Überlegenheitsargument und den Schutzzweck der die Nichttigkeit anordnenden Norm (vgl. S. 506 jeweils unter c sowie dazu unten § 43 II bei Fn. 35 bzw. bei Fn. 29 bzw. bei Fn. 23); da es um das Entgelt für die berufliche Tätigkeit des Vertreters ging, bestand außerdem eine verhältnismäßig hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß dieser sich auf den Bestand des Anspruchs in seiner Lebenshaltung „eingerichtet“ hatte (vgl. dazu unten § 43 II bei Fn. 34). Der Entscheidung ist daher i. E. zuzustimmen. 108 Vgl. dazu statt aller Staudinger-Weber § 242 Rdzn. D 502 ff.; Siebert-Knopp § 242 Rdzn. 275 ff., jeweils m. Nachw.
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setzt hat, sei es, daß er den Eindruck erweckt hat, er werde auch nach deren Ablauf erfüllen;109 auch hier liegt eine „irreversible“ Disposition vor, da der Anspruchsberechtigte in seinem Vertrauen die rechtzeitige Klageerhebung unterläßt und es nunmehr, nach Fristablauf, dafür (an sich) zu spät ist; und auch hier ist demnach i. d. R. ein „Selbstwiderspruch“ gegeben, wenn der Schuldner sich jetzt auf die Ausschlußfrist „beruft“, obwohl er selbst es war, der ihre Nichteinhaltung „veranlaßt“ hat. Als besonders charakteristisches Beispiel sei zum Abschluß schließlich noch der „Haushälterinnenfall“ BGH DNotZ 58, 495 = MDR 58, 490 genannt. Hier hatte ein Ehepaar ein „Berliner Testament“ i. S. des § 2269 BGB errichtet und darin bestimmt, daß nach dem Tode des Überlebenden der beiderseitige Nachlaß an die gemeinsamen Kinder fallen solle. Mit diesen hatte der Mann nach dem Tode der Frau einen Erbvertrag geschlossen, in dem Verfügungen zur „Sicherstellung“ der Haushälterin getroffen waren. Nach seinem Tode machten die Kinder geltend, der Erbvertrag sei wegen Verstoßes gegen § 2271 II BGB unwirksam. Der BGH entschied unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Verbot des venire contra factum proprium (vgl. S. 497), die Kinder könnten sich gemäß § 242 BGB gegenüber der Haushälterin nicht auf die Unwirksamkeit berufen. – Dem ist i. E. zuzustimmen. Es liegt in mancher Hinsicht ähnlich wie z. B. im Unfallversicherungs- und im Witwengeldfall:110 es geht um die „Sicherstellung“ einer bestimmten Person, und es stehen daher „existenzwichtige“ Belange – wenn auch nicht des Vertrauenden selbst, so doch eines diesem „nahestehenden“ Dritten – in Frage; und es ist möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, daß der Vertrauende bei Kenntnis der Unwirksamkeit des fraglichen Rechtsgeschäfts die „Sicherstellung“ durch andere Maßnahmen gewährleistet hätte, daß er also im Vertrauen auf die von ihm angenommene Rechtslage eine Disposition unterlassen hat, die jetzt, nach seinem Tod, nicht mehr nachgeholt werden kann.111 Freilich war hier an sich der Vater „näher daran“ als seine Kinder, die Unwirksamkeit des Erbvertrags zu erkennen und zu verhindern; denn von ihm ging ja der Wunsch aus, die [336] Haushälterin mit einer Zuwendung zu bedenken, und seine Sache war es daher an sich, die dafür geeignete Rechtsform herauszufinden. Diese „Schwäche“ der Zurechnungselemente wird jedoch dadurch ausgeglichen, daß die Kinder, wie der BGH ausdrücklich feststellt, auch bei Kenntnis der „ihnen durch das gemeinschaftliche Testament bereits eingeräumten günstigen Rechtsposition bereit gewesen (wären), den Wunsch ihres Vaters durch entsprechenden Erbverzicht zu respektieren“ (S. 497). Der Schutzzweck des § 2271 BGB ist 109 Dann handelt es sich um die Problematik des Vertrauens auf die bloße Erfüllungsbereitschaft des anderen Teils, vgl. dazu unten § 30 I. 110 Vgl. oben S. 229 ff. und unten S. 340 f.; vgl. ferner den „Hüfnerfall“ RGZ 134, 325 in der Variante S. 328 f. und den ausdrücklichen Hinweis auf das Verbot des venire contra factum proprium S. 327 oben. 111 Vorher sind die Kinder nicht gebunden; erst der Eintritt dieses „unwiderruflichen“ Ereignisses begründet also die Widersprüchlichkeit einer Absage an das Vorverhalten, – worin wieder die entscheidende Bedeutung der nach diesem liegenden weiteren Entwicklung für das Verbot des venire contra factum proprium in Erscheinung tritt.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht daher nicht oder zumindest nicht wesentlich beeinträchtigt, und somit erscheint bei einer Gesamtabwägung der Umstände eine Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens in der Tat gerechtfertigt.
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§ 29 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei Fehlinterpretationen und in verwandten Fällen Nicht nur bezüglich der Gültigkeit eines Rechtsgeschäfts, sondern auch im Hinblick auf dessen Inhalt kann sich die Problematik der Vertrauenshaftung stellen,1 und auch insoweit erweist sich das Verbot des venire contra factum proprium als fruchtbar. Dabei geht es in erster Linie um Fälle, in denen rechtliche Regelungen falsch ausgelegt worden sind. I. Die falsche Auslegung von Individualverträgen Wird ein Vertrag durch eine der Parteien falsch ausgelegt, so läßt sich eine Lösung allerdings häufig schon mittels der Rechtsgeschäftslehre finden. Das gilt insbesondere für Interpretationen vor oder bei Vertragsschluß, die vom Partner akzeptiert oder wenigstens nicht beanstandet wurden;2 denn das gemeinsame subjektive Verständnis der Parteien geht anerkanntermaßen der objektiven Erklärungsbedeutung vor,3 und von einer „falschen“ Auslegung kann daher im Grunde nicht einmal gesprochen werden. Schwierigkeiten ergeben sich dagegen mitunter bei einer nachträglichen Fehlinterpretation. Zwar ist nicht selten auch hier mit Hilfe der Rechtsgeschäftslehre zum Ziel zu kommen, weil man u. U. in der Falschauslegung eine konkludente Vertragsänderung sehen kann, doch ist dieser Weg keineswegs immer gangbar. Insoweit ist nämlich zu beachten, daß die Auslegung eines Vertrages an sich eine rein deklaratorische Erklärung darstellt, daß aber ein Rechtsgeschäft – und damit auch ein Abänderungsvertrag – stets eine konstitutive Erklärung voraussetzt4 – oder anders gesprochen: diese Konstruktion ist nur möglich, wenn die Parteien nicht lediglich ihre Ansicht vom Inhalt des Vertrages kundtun, sondern zugleich zu erkennen geben, daß der Vertrag, sollte er nicht ohnehin den behaupteten Sinn haben, nunmehr entsprechend geändert sein solle. Eine derartige hypothetische Änderungserklärung kann man aber oft schon deshalb nicht annehmen, weil den Vertragspartnern nicht der geringste Zweifel an der Richtigkeit ihrer Interpretation gekommen ist und weil sie daher psychologisch gesehen gar nicht den [337] Willen zu einer Eventualänderung haben konnten; davon abgesehen wären sie häufig mit einer solchen auch keinesfalls einverstanden gewesen, weil diese sie benachteiligt hätte und sie keinen Anlaß hatten, sich freiwillig auf eine Schlechterstellung gegenüber der bisherigen Rechtslage Vgl. auch schon oben § 26 I 5. Als Beispiel vgl. etwa RGZ 62, 49 (50); BGH WM 62, 373 (374). 3 Vgl. z. B. Flume § 16, 2; Larenz A. T. § 25 II a = S. 341 f. 4 Vgl. unten § 34 I 1. 1 2
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einzulassen. So ist es z. B. eine bare Fiktion und daher gänzlich unhaltbar zu behaupten, ein Mieter, der bisher auf Grund einer Fehlinterpretation des Vertrages zu viel Miete gezahlt hat, oder ein Vermieter, der deswegen zu wenig verlangt hat, willige damit konkludent in eine entsprechende Änderung des Vertrages ein.5 Andererseits steht aber auch keineswegs von vornherein fest, daß in derartigen Fällen immer auf die „wahre“ Rechtslage zurückgegriffen werden kann, und es erhebt sich daher die Frage, ob und inwieweit dort, wo die Rechtsgeschäftslehre keine Lösung ermöglicht, der Vertrauensgedanke weiterführt. Für die Vergangenheit, d. h. für die Rückforderung bisher zu Unrecht gezahlter bzw. für die Nachforderung bisher zu Unrecht nicht eingeforderter Beträge ist dies nun in der Tat im Grundsatz ohne weiteres zu bejahen, da insoweit die – auf dem Vertrauensgedanken beruhende – Lehre von der Verwirkung eingreift. Für die Zukunft ist die Problematik dagegen ungeklärt. Im einzelnen wird man zu unterscheiden haben, ob die Fehlinterpretation von dem durch sie Benachteiligten selbst ausging oder ob sie von dem durch sie Begünstigten vorgenommen wurde. 1. Im ersten Falle liegt es nahe zu sagen, der Auslegende dürfe sich mit seiner Erklärung nicht in Widerspruch setzen und sei daher durch das Verbot des venire contra factum proprium an seine falsche Rechtsauffassung gebunden.6 Diese Ansicht, die in der Tat von LÜDERITZ vertreten wird,7 geht indessen erheblich zu weit. Sie ist nicht nur unvereinbar mit dem anerkannten Grundsatz, daß das Verbot widersprüchlichen Verhaltens nicht ohne weiteres die Aufgabe eines unrichtigen Standpunktes hindert,8 sondern sie überspannt vor allem auch die Tragweite dieses Prinzips. Denn es ist keineswegs eine „rechtsethische Notwendigkeit“ und es ist durch „Treu und Glauben“ durchaus nicht geboten, z. B. dem Vermieter auf Grund seiner Fehlinterpretation unabhängig vom Hinzutreten besonderer Umstände auch für die Zukunft – im Falle RGZ 134, 195 für 26 Jahre! – den Mietzinsanspruch teilweise zu nehmen9 oder dem Mieter, der den Vertrag irrtümlich zu seinen Un- [338] gunsten ausgelegt hat, bis zum Ende des Mietverhältnisses die Pflicht zur Zahlung der unrichtigen, zu hohen Miete aufzuerlegen. Zudem ist hier zu beachten, daß für die Gewährung eines „an sich“ nicht gegebenen Anspruchs 5 Vgl. aber z. B. RGZ 134, 195 (196 f.) und dazu die berechtigte Kritik von Flume § 10, 3 e a. E.; zutreffend demgegenüber RGZ 144, 89 (91 f.) (m. zust. Anm. von Larenz JW 34, 1644, der freilich hinsichtlich der Bindung für die Zukunft noch zu stark der rechtsgeschäftlichen Betrachtungsweise verhaftet bleibt, vgl. S. 1645) sowie BGH LM Nr. 22 zu § 242 (Cc) BGB; vgl. ferner RG DR 1943, 487 f., wo freilich der Gesichtspunkt der Verwirkung überhaupt nicht gesehen ist. 6 Eine Rechtsscheinhaftung kommt dagegen von vornherein nicht in Betracht, da es an einem „objektiven Scheintatbestand“ (vgl. dazu unten § 39 III = S. 495 f.) fehlt; denn die wahre Rechtslage ist hier – ähnlich wie z. B. bei den „inhaltlichen“ oder „urkundlichen“ Einwendungen (vgl. unten § 39 III 2) – generell erkennbar. 7 Vgl. Auslegung von Rechtsgeschäften, 1966, S. 280, 282, 308. 8 Vgl. z. B. Siebert-Knopp § 242 Rdz. 235 in. Nachw. 9 Vgl. auch Flume § 10, 3 e a. E.
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wesentlich stärkere Gründe gefordert werden müssen als für die Versagung eines „an sich“ begründeten Rechts,10 und dementsprechend kann die Rechtslage für die Zeit nach Aufdeckung des Irrtums keinesfalls ohne weiteres genauso beurteilt werden wie für die Zeit davor. Andererseits ist auch hier natürlich denkbar, daß Umstände hinzutreten, die einen „positiven“ Vertrauensschutz,11 d. h. i. d. R.12 die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs als eine „rechtsethische Notwendigkeit“ erscheinen lassen. So mag man etwa daran denken, daß ein Mieter im Vertrauen auf die unrichtige Auskunft des Vermieters, der Mietvertrag sei noch 10 Jahre lang unkündbar, während er in Wirklichkeit auf zwei Jahre befristet ist, eine billige andere – inzwischen nicht mehr verfügbare – Wohnung ausgeschlagen hat. Kommt dann z. B. hinzu, daß der Vermieter Jurist und der Mieter gänzlich rechtsunkundig ist und daß die fragliche Vertragsklausel in der Tat zu Mißverständnissen Anlaß gibt,13 so kann es durchaus als unabweisbares Gebot von Treu und Glauben erscheinen, den Vermieter an seiner unrichtigen Auskunft festzuhalten. Ähnliche Fälle kommen insbesondere auch im Arbeitsrecht vor, so z. B., wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch eine unrichtige Interpretation des Arbeitsvertrages, etwa durch zu hohe Lohnberechnung, von der Annahme einer anderen Stelle abgehalten hat oder ihm durch die falsche Auslegung einer Pensionsregelung den Abschluß einer zusätzlichen Rentenversicherung oder dgl. hat überflüssig erscheinen lassen.13a Letztlich entscheidend für die Anerkennung einer Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens ist dabei wie immer eine Abwägung aller Umstände des Falles. Hierfür sind dieselben Kriterien maßgeblich wie auch sonst: die Stärke des Vertrauenstatbestandes, also vor allem das Maß der Überzeugungskraft der fraglichen Interpretation,14 die Rechtskenntnis des Auslegenden einerseits und des Vertrauenden anderseits, die Zurechenbarkeit des Irrtums und insbesondere die Frage, aus wessen Sphäre er stammt,15 und schließlich Art und Umfang der „VerVgl. oben S. 270. Zur Terminologie vgl. oben § 2 II. 12 Aber nicht immer. Berechnet z. B. der Vermieter eine zu geringe Miete, führt der positive Vertrauensschutz zu einem Anspruchsverlust (auch für die Zukunft). 13 Das kann in dem gewählten Beispiel durchaus vorkommen, da sich hinsichtlich des Endes der Mietzeit nicht selten, insbesondere für den Fall einer Aufhebung des gesetzlichen Mieterschutzes in den „schwarzen“ oder „grauen“ Kreisen, die merkwürdigsten Verklausulierungen finden. 13a Vgl. dazu auch unten § 31 III. 14 Mit Recht mißt das RG daher im Falle RGZ 144, 89 dem Umstand wesentliche Bedeutung zu, daß die Auslegung des Vertrages sehr zweifelhaft und daß die gewählte Interpretation „sehr wohl möglich“ war (S. 92). 15 Vgl. insoweit auch den Fall BAG AP Nr. 121 zu § 242 BGB Ruhegehalt und dazu unten S. 376 f. 10 11
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trauens- [339] investition“, d. h. vor allem deren „Irreversibilität“16 und der Grad, in dem sie die Lebensführung und die existenzbestimmenden Belange des Vertrauenden zu beeinflussen geeignet ist. Dieses letztere Merkmal wird dabei auch hier17 meist den Ausschlag geben; insbesondere liegt darin i. d. R. das „Ereignis“,18 auf Grund dessen der Widerspruch zum Vorverhalten erst als treuwidrig erscheint.19 Selbstverständliche Voraussetzung ist schließlich stets, daß nur durch die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs den Geboten von Treu und Glauben Rechnung getragen werden kann und daß daher andere Ansprüche, insbesondere Bereicherungs- oder Schadensersatzansprüche keinen angemessenen Ausgleich darstellen.20 Diese letztere Frage sowie vor allem auch die Abgrenzung gegenüber den Lösungsmöglichkeiten der Rechtsgeschäftslehre steht im Mittelpunkt der Problematik des sehr lehrreichen „Pfandscheinfalles“ RGZ 86, 86. Die Kl. hatte hier bei der Bekl., einer Bank, Aktien verpfändet und dafür einen Pfandschein erhalten, der sich inzwischen in den Händen eines Dritten befand. Auf ihre Frage erklärte ihr ein Schalterbeamter, zu einer Verfügung über die Aktien genüge nicht der Schein allein, sondern es sei zudem ihre, d. h. der Kl., „Zustimmung“ erforderlich; dies stand in Widerspruch zu der entsprechenden Klausel in den dem Vertrag zugrunde liegenden Geschäftsbedingungen. Dem Dritten gelang es, die Bank durch Vorlage des Scheins und Fälschung der Unterschrift der Kl. zur Veräußerung der Aktien und zur Auszahlung des Resterlöses an ihn zu veranlassen. Die Kl. verklagte daraufhin die Bank auf Schadensersatz. – Das RG nahm an, durch die Auskunft des Schalterbeamten sei die an sich einschlägige Bestimmung der AGB geändert worden.21 Das ist unhaltbar; denn zum einen fehlt es schon am äußeren Tatbestand einer Willenserklärung, da der Angestellte lediglich die angeblich bestehende Rechtslage wiedergegeben hat und für den Willen zu einer Eventualänderung kein Anhaltspunkt vorliegt – das RG spricht selbst wiederholt von einer „Auskunft“! –, und zum anderen hatte der Angestellte zwar möglicherweise die Befugnis zu einer derartigen Auskunft (vgl. S. 89), keinesfalls aber die Vertretungsmacht für eine so ungewöhnliche Maßnahme wie eine Abänderung der AGB. Daß die Konstruktion des RG unzutreffend ist, ergibt im übrigen auch die „Testfrage“, wie bei Vgl. dazu allgemein unten § 43 II = S. 531 sowie auch Fn. 18 a. E. Vgl. zusammenfassend unten § 43 II 2 bei Fn. 34. 18 In den obigen Beispielen ist es in der Ausschlagung der anderen Wohnung bzw. in der Ablehnung der anderen Arbeitsstelle bzw. im Unterlassen der Versicherung zu sehen; hinzukommen muß, daß diese Maßnahmen jetzt nicht mehr nachholbar sind, daß die Wohnung also anderweitig vermietet ist usw., da erst dadurch die Vertrauensinvestition „irreversibel“ wird. Im übrigen kann an die Stelle des „Ereignisses“ auch ein mehr oder weniger langer Zeitablauf treten (vgl. unten §§ 31 f.). 19 Zur schon mehrfach betonten Bedeutung der nach dem „Vorverhalten“ eingetretenen weiteren Entwicklung der Lage vgl. zusammenfassend unten § 43 II = S. 531. 20 Vgl. oben § 27 II 6 und unten § 43 II 1 bei Fn. 22. 21 Zu der auf Treu und Glauben gestützten Begründung des RG S. 88 vgl. die grundsätzliche Kritik oben § 4. 16 17
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einer rechtzeitigen Aufklärung über die wahre Rechtslage zu entscheiden wäre: auch dann die Bank an der Auskunft festzuhalten, wäre gänzlich interessewidrig, und das zeigt, daß eben keine rechtsgeschäftliche Bindung, die ja durch eine einseitige Erklärung nicht wieder rückgängig zu machen wäre, eingetreten sein kann. Auch für eine Haftung auf Grund des Verbots widersprüchlichen Verhaltens besteht aber kein Anlaß.22 Denn dem [340] Kl. ist ohne weiteres mit einer anderen Art des Vertrauensschutzes zu helfen, da die falsche Auskunft einen Schadensersatzanspruch wegen schuldhafter Schutzpflichtverletzung i. V. m. § 278 BGB zur Folge hat;23 im übrigen ist auch abgesehen davon nicht ersichtlich, inwiefern hier die Voraussetzungen der „Erfüllungshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit“ – z. B. ein „Vorteil“ der Bekl. oder eine „Existenzbeeinträchtigung“ der Kl. – gegeben sein könnten.
2. Ähnliches gilt, wenn die falsche Auslegung nicht von dem durch sie Benachteiligten, sondern von dem Vertrauenden vorgenommen wird und jener darauf schweigt. Allerdings liegt die Problematik dann hinsichtlich der Zurechnungsfrage etwas anders. Denn der „Mangel“, d. h. die Fehlinterpretation geht hier ja von dem Vertrauenden selbst aus, und eine Vertrauenshaftung kommt daher grundsätzlich nicht in Betracht.24 Das ändert sich jedoch, wenn dem anderen Teil der Irrtum des Vertrauenden erkennbar war und man eine Aufklärung von ihm erwarten durfte. In diesem Fall ist nämlich auch ihm das Entstehen der Vertrauenslage zurechenbar, und nicht selten wird er sogar „näher daran“ sein als der Vertrauende, die wahre Rechtslage zu erkennen. Dann aber besteht auch bei dieser Fallkonstellation kein grundsätzliches Bedenken gegen die Möglichkeit einer Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens. Zur Veranschaulichung der Problematik möge der vom BGH entschiedene „Witwengeldfall“ WM 62, 301 dienen. Hier hatte der Ehemann der Kl. mit der Bekl. eine Pensionsvereinbarung getroffen. Nach Abschluß der Verhandlungen richtete er ein Schreiben an die Bekl., in dem es u. a. hieß: „In der Annahme, daß bei meinem Ableben die üblichen 60 % zur Auszahlung an meine Ehefrau kommen werden, gehe ich wohl nicht fehl.“ Hierauf antwortete die Bekl. nicht. Über die Frage eines Witwengeldes war bei den Verhandlungen nicht gesprochen worden, doch zahlte die Bekl. ein solches üblicherweise nach bestimmten Richtlinien; die Annahme, dies gelte auch hier, war nach den Umständen des Falles durchaus nicht abwegig. Nach dem Tode des Ehemannes der Kl. verweigerte die Bekl. die Zahlung des Witwengeldes. – Der BGH gab der Klage statt. Im Anschluß an die – verfehlte25 – Entscheidung BGHZ 1, 353 begründete er dies vor allem damit, daß die Bekl. nach Treu und Glauben zu einem Widerspruch verpflichtet gewesen wäre und daß daher ihr SchweiAnders offenbar Lüderitz aaO. S. 281 (vgl. auch S. 238 f.). Der erforderliche Nachweis, daß sie bei richtiger Auskunft den Schaden abgewendet hätte – z. B. durch eine rechtzeitige Warnung der Bank –, wäre der Kl. unter Zuhilfenahme der Grundsätze über den prima-facie-Beweis vermutlich unschwer gelungen. 24 Vgl. allgemein unten § 38 III 5 a. E. 25 Vgl. oben § 20 I 5. 22 23
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Vgl. oben § 19 II 1 und § 20 I 1. Vgl. dazu oben S. 330 f. bzw. S. 335 f. 28 Hier hatte die Kl. allerdings noch eine zweite Rente in Höhe von DM 750,-, und daher stand nicht geradezu ihre wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel. Dies ist jedoch auch nicht unbedingt erforderlich; denn auch wenn sich der Zuschnitt der Lebensführung in nicht unerheblichem Umfang zu ändern droht, ist dies eine im Hinblick auf § 242 BGB erhebliche Beeinträchtigung (vgl. auch die „Gratifikationsfälle“ und dazu unten § 32 III 2), – mag diese bei der Gesamtabwägung der Umstände auch schwächer ins Gewicht fallen als eine wirkliche Existenzbedrohung. 29 Auch sonstige Umstände, auf Grund deren eine anderweitige Erreichung einer entsprechenden Versorgungsregelung nunmehr unmöglich geworden ist, können natürlich zum 26 27
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Unabänderlichkeit der Vertrauenslage – entscheidend; das dürfte auch vom Ergebnis her überzeugend sein, da sich schlechterdings kein Gesichtspunkt dafür anführen läßt, daß die Bekl. auch dann unabänderlich gebunden sein soll, wenn sie den Ehemann der Kl. z. B. nach vier Wochen – also sicher zu spät nach den Regeln über das Bestätigungsschreiben, aber früh genug nach den Grundsätzen über das Verbot des v. c. f. p. – über seine Fehlinterpretation aufgeklärt hätte. In diesem Zusammenhang gehört weiter der „Provisionsvertreterfall“ BGH WM 55, 1285, in dem der BGH mit einer ganz ähnlichen30 Begründung das Schweigen auf ein Schreiben als Einverständnis mit dessen Inhalt gewertet hat. Auch hier kam richtigerweise allenfalls eine Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens in Betracht. Denn der Kl. hatte in dem fraglichen Schreiben ausschließlich seine Ansicht über den Inhalt einer vorher getroffenen Vereinbarung niedergelegt, und daher sprechen dieselben Gründe gegen eine rechtsgeschäftliche Bindung der Bekl. wie im Witwengeldfall. Der Kl. hatte jedoch im Vertrauen auf die Richtigkeit seiner Interpretation seine Vertretertätigkeit für die Bekl. aufgenommen und dabei seinen Kundenstamm mitgebracht; auch bestand, wie der BGH mit Recht hervorhob (S. 1286 Sp. 1), eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß er sich im Hinblick auf die von ihm angenommene Rechtslage besonders angestrengt hatte. Es ist der Bekl. [342] daher in der Tat nicht zu gestatten, sich jetzt, nachdem sie den Vorteil aus der Tätigkeit des Kl. gezogen hat31 und nachdem dieser sich in seinem ganzen beruflichen Verhalten in nicht mehr rückgängig zu machender Weise auf die vermeintliche Rechtslage „eingerichtet“ hat, noch auf die dem Kl. ungünstige Interpretation zu berufen.
II. Die falsche Auslegung von Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen und Gesetzen Ähnliches wie für die falsche Auslegung von Verträgen gilt auch für Fehlinterpretationen anderer rechtlicher Regelungen, die für das Verhältnis zwischen zwei Personen bestimmend sind. Hinsichtlich rechtsgeschäftlicher Lösungsversuche ist dabei zusätzlich zu beachten, daß sie u. U. schon am zwingenden Charakter der fraglichen Vorschrift scheitern; so wäre etwa eine Abdingung einer Tarifnorm nicht zuungunsten des Arbeitnehmers möglich. Im übrigen kommen aber auch hier Vertragskonstruktionen an sich in Betracht, sofern es sich nicht um eine rein deklaratorische Auslegungserklärung handelt, sondern der Wille erkennbar ist, für den Fall einer Fehlinterpretation den anderen Teil im Wege einer vertraglichen Zusage so zu stellen, wie er bei Richtigkeit der Auslegung stünde. Wo dies selben Ergebnis führen; zu denken ist etwa an eine schwere Krankheit oder das Überschreiten einer Altersgrenze. 30 Vgl. den Leitsatz und S. 1286 Sp. 1. 31 Zur maßgeblichen Bedeutung des Vorteilsgedankens zusammenfassend unten § 43 II = S. 531.
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nicht zutrifft, tritt ergänzend wieder die Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens hinzu, für die hier im wesentlichen dieselben Voraussetzungen gelten wie sonst.32 Zu beachten ist, daß sie sich auch gegenüber zwingendem Recht durchzusetzen vermag, da § 242 BGB anerkanntermaßen zu dessen Zurückdrängung führen kann; eine Ausnahme besteht insoweit nur im Anwendungsbereich des § 4 IV 2 TVG. Beispiele aus der Rechtsprechung finden sich, soweit ersichtlich, bisher nicht.33 Man braucht jedoch die oben erörterten Fälle nur geringfügig zu modifizieren, um sie als Anschauungsmaterial für den vorliegenden Zusammenhang verwertbar zu machen; so wäre der „Witwengeldfall“ zweifellos nicht anders zu entscheiden, wenn die Fehlinterpretation sich nicht auf eine einzelvertragliche Vereinbarung bezogen hätte, sondern wenn die fragliche Regelung etwa in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung enthalten gewesen wäre. III. Die falsche Auslegung von Versicherungsbedingungen und der „gewohnheitsrechtliche Satz“ über die Einstandspflicht des Versicherers für Auskünfte seiner Vermittlungsagenten Im Versicherungsrecht gilt es als gewohnheitsrechtlich anerkannt, daß der Versicherer Auskünfte seiner Agenten „über Inhalt und Bedeutung der Versicherungsbedingungen, über den Umfang des abzuschließenden oder abgeschlossenen Ver- [343] trages oder sonstige vertragswesentliche Punkte“ gegen sich gelten lassen muß34 und daß dadurch „der Vertrag im Sinne der dem Versicherungsnehmer günstigen Aufklärung umgestaltet wird.“35 Es liegt auf der Hand, daß es sich hier der Sache nach nicht um eine Sonderfrage des Versicherungsrechts, sondern um einen Unterfall der im Vorstehenden unter I erörterten allgemeinzivilrechtlichen Problematik handelt. 1. Erklärungsversuche mit Hilfe der Rechtsgeschäftslehre führen hier regelmäßig nicht zum Ziel.36 Sofern die unrichtige Auskunft nach Vertragsschluß erfolgte, ergibt 32 33
III.
Vgl. zuletzt oben I 1 = S. 338 f. und zusammenfassend unten § 43 II 2. Vgl. aber die Beispiele zur entsprechenden Problematik bei der Erwirkung unten § 31
34 Vgl. Prölss VVG, 17. Aufl. 1968, § 43 Anm. 7 A; vgl. ferner Bruck-Möller, Komm. zum VVG, 8. Aufl. 1961, § 44 Anm. 54 ff. m. ausf. Nachw. aus der Rspr.; Eichler, Versicherungsrecht, 1966, S. 58 f.; gegen die Annahme von Gewohnheitsrecht Ehrenzweig, Deutsches (österreichisches) Versicherungsvertragsrecht, 1952, S. 49 Fn. 13. 35 Vgl. Prölss aaO. m. Nachw.; ebenso Möller aaO. Anm. 70; Eichler aaO. S. 59. 36 Die Problematik ist auch in dieser Hinsicht bisher wenig durchdacht, und die Äußerungen im Schrifttum betreffen meist nur Teilaspekte; am besten auch heute noch SchmidtRimpler, Ehrensbergs Handbuch, 5. Band I 1, 1928, S. 225 ff.; vgl. ferner z. B. Cohn, Der Emp-
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sich das wieder schon daraus, daß die Erklärung typischerweise rein deklaratorischen Charakter hat und daher bei objektiver Interpretation nicht als rechtsgeschäftlicher Änderungsakt verstanden werden kann; abgesehen davon fehlt dem Vermittlungsagenten aber auch die Vertretungsmacht für eine Abänderung des Vertrages oder gar der Versicherungsbedingungen.37 Wurde die Auskunft dagegen vor oder bei Vertragsschluß erteilt, so ist die Rechtslage insofern anders, als dann die Auslegung des vom Versicherungsnehmer gemachten Antrags beeinflußt wird. Denn zu dessen Entgegennahme gilt nach § 43 Ziff. 1 VVG auch der bloße Vermittlungsagent als bevollmächtigt, und da dieser daher insoweit Empfangsvertreter i. S. des § 164 III BGB ist,38 muß das Vertragsangebot des Versicherungsnehmers gemäß § 166 I BGB39 vom Verständnishorizont des Agenten und nicht von dem des Versicherers aus interpretiert werden; da ersterer aber weiß, wie jener sein Angebot bzw. die Versicherungsbedingungen40 versteht, ist der Antrag in dem Sinne zu interpretieren, den er nach Meinung des Antragenden hat. Was nun die Annahmeerklärung des Versicherers und deren Auslegung betrifft, so sind zwei Varianten zu unterscheiden. Zunächst ist denkbar, daß der Versicherer [344] das Verständnis des Antragenden gegenüber dem Agenten zurückweist und daß dieser jenem davon keine Mitteilung macht, sondern behauptet, der Antrag sei unverändert angenommen worden;41 dann hat der Agent die ihm aufgetragene Erklärung – eine Annahme unter Abweichung vom Angebot – wissentlich falsch übermittelt, und da er insoweit als bloßer Bote tätig wird, braucht der Versicherer sich diese Erklärung nicht zurechnen zu lassen,42 so daß ein versteckter Dissens vorliegt. Die andere Alternative ist, daß der Versicherer den Irrtum des Antragenden nicht erkannt und daher seiner Annahme keinen Vorbehalt hinzugefügt hat. Stellt man für die hier erforderliche „normative“ Auslegung auf
fangsbote, 1927, S. 124 f., 127 ff.; Stoll AcP 131, 230 f.; Düringer-Hachenburg-Hoeniger, 3. Aufl. 1930, § 84 HGB Anm. 26 ff.; Soergel-Schultze-von Lasaulx § 166 Rdzn. 6 und 8 m. Nachw. aus der Rspr.; Lüderitz aaO. S. 281 und S. 294; Richardi AcP 169, 400 f. 37 Die Parallele zum „Pfandscheinfall“ RGZ 86, 86 (vgl. oben S. 339 f.) ist hier unverkennbar! 38 Wie die Rechtslage bei Annahme bloßer Empfangsbotenschaft wäre, muß als ungeklärt gelten; vgl. dazu z. B. Cohn, Stoll und Richardi aaO. sowie im Grundsätzlichen Enneccerus-Nipperdey § 178 III 3, Flume § 14, 3 f und Larenz A. T. § 36 I c a. E. 39 § 44 VVG steht dem nicht entgegen, da es hier nicht um eine Frage des VVG geht. 40 Auch hinsichtlich der Auslegung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gilt nach richtiger Ansicht der Grundsatz vom Vorrang des gemeinsamen subjektiven Verständnisses, da die Gründe für eine typisierende Auslegung insoweit nicht passen. 41 So lag es z. B. im „Sturmflutfall“ RGZ 86, 128. 42 Vgl. statt aller Flume § 23, 3.
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die Verständnismöglichkeit eines objektiven Dritten ab,43 so ist die Annahmeerklärung im Sinne des Versicherers und nicht des Versicherungsnehmers zu verstehen44 – das Problem liegt ja gerade darin, daß das Verständnis des letzteren mit dem „objektiven“ Sinn der fraglichen Bestimmung nicht übereinstimmt! –, und wieder ist das Ergebnis ein versteckter Dissens. Hält man dagegen die Verständnismöglichkeit des Erklärungsempfängers für maßgeblich43, so ist auch die Annahmeerklärung in dem vom Versicherungsnehmer gemeinten Sinn zu interpretieren, doch dürfte diese Bedeutung dann dem Erklärenden nicht zuzurechnen sein,45 da der Agent nur passiver und nicht auch aktiver Stellvertreter des Versicherers ist und da dieser somit dessen Kenntnis nur hinsichtlich der Auslegung der fremden und nicht auch der eigenen Erklärung gegen sich gelten lassen muß; auch bei dieser Konstruktionsweise ergibt sich daher ein versteckter Dissens. Selbst wenn man aber einen solchen verneinen wollte, wofür man vor allem die äußerliche Übereinstimmung der Erklärungen anführen kann,46 bliebe dem Versicherer immer noch die Anfechtungsmöglichkeit wegen Inhaltsirrtums nach § 119 I BGB,47 freilich mit der Folge der Schadensersatzpflicht nach § 122 BGB. Wie man auch immer konstruieren mag – eine Bin- [345] dung des Versicherers an die von dem Agenten gegebene Interpretation läßt sich mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre nicht begründen. 2. Es bleibt also wieder nur die Einordnung in die Lehre von der Vertrauenshaftung. Diese drängt sich nach den Ausführungen zur allgemeinen Problematik der Falschauslegung oben unter I ohnehin auf; hinzukommt allerdings die zuletzt herausgearbeitete Fallgruppe, in der ein versteckter Dissens vorliegt oder eine Anfechtung nach § 119 I BGB möglich ist, doch kann auch für deren Lösung ohne weiteres an bereits früher gewonnene Erkenntnisse angeknüpft werden.48 In 43 Die Ausführungen des Schrifttums zur normativen Auslegung sind, soweit ersichtlich, auf die hier zu lösende Problematik, daß der Erklärungsempfänger Umstände berücksichtigt, die dem Erklärenden unerkennbar sind, nicht bezogen und passen daher nicht ohne weiteres. 44 Zu beachten ist, daß die Annahme nicht in einem schlichten „ja“ besteht, sondern durch die beiliegenden Versicherungsbedingungen und den sonstigen Vertragstext geprägt wird; anders offenbar Düringer-Hachenburg-Hoeniger aaO. Anm. 26. 45 Zu diesem Erfordernis vgl. Flume § 16, 3 c bei Fn. 43 m. Nachw.; die Einwände von Larenz A. T. § 25 II a a. E. = S. 345 passen auf das hier behandelte Problem jedenfalls nicht. 46 Vgl. Hoeniger aaO. Es ist aber einfach nicht richtig, daß bei äußerlich deckungsgleichen Erklärungen kein Dissens vorliegen könne (vgl. auch Flume § 34, 4 bei und mit Fn. 13), und dies gilt besonders bei der Zwischenschaltung von Boten. 47 So in der Tat für den Handelsvertreter Schmidt-Rimpler aaO. S. 225 f., 228 und 229; Schlegelberger-Schröder § 86 Rdzn. 6 a und 6 b; RGR-Komm. (Brüggemann) § 91 a Anm. 1. Wenn BruckMöller § 44 Anm. 71 diese Möglichkeit durch analoge Anwendung des § 166 I BGB ausschließen wollen, so steht das in klarem Widerspruch zu der Tatsache, daß der Vermittlungsagent eben nicht aktiver Stellvertreter ist und auch keine diesem vergleichbare Stellung hat; im übrigen setzt die Argumentation von Bruck-Möller aaO. schon voraus, was es gerade erst zu begründen gilt. 48 Vgl. oben § 28 VIII.
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der Tat sind nun die allgemeinen Merkmale der Vertrauenshaftung49 unschwer nachzuweisen.50 Was zunächst den erforderlichen Vertrauenstatbestand betrifft, so wird dieser durch die Auskunft des Agenten hervorgerufen. Der BGH sieht denn auch den entscheidenden Grund der Haftung darin, daß der Versicherungsnehmer „auf die Richtigkeit einer .... Auskunft des Agenten über den Umfang der Versicherung vertrauen (darf), weil dessen Aufgabe gerade darin besteht, dem Versicherungsnehmer für die Versicherungsgesellschaft die erforderliche Belehrung und Aufklärung über den Inhalt und die Bedeutung der Versicherungsbedingungen und der sonstigen Anforderungen der Gesellschaft zu gewähren“;51 der Agent hat also auf Grund seiner Stellung und Funktion eine besondere Sachautorität, die die Grundlage für ein berechtigtes Vertrauen des Versicherungsnehmers zu bilden vermag. Diese Betrachtungsweise wird mittelbar bestätigt durch die Einschränkungen, denen die „gewohnheitsrechtliche Haftung“ des Versicherers anerkanntermaßen unterliegt: widerspricht die Auskunft des Agenten klaren und eindeutigen Vertragsbestimmungen oder Gesetzesvorschriften, so wird der Versicherungsnehmer nicht geschützt52 – ein Ergebnis, das bei einer Einordnung der Problematik in die Vertrauenshaftung eine systembedingte Konsequenz darstellt, weil es dann an einem Vertrauenstatbestand fehlt.53 Im übrigen kann die Haftung nicht nur durch eine ausdrückliche Erklärung des Agenten, sondern auch durch dessen Schweigen auf eine erkennbare Fehlinterpretation des Versicherungsnehmers ausgelöst werden;54 auch das stimmt sowohl mit den allgemeinen Grundsätzen der Vertrauenshaftung überein, nach denen ein Vertrauenstatbestand auch in einem konkludenten [346] Verhalten, insbesondere in einem Schweigen liegen kann,55 als auch mit den bereits entwickelten Regeln des bürgerlichen Rechts über die Einstandspflicht für Falschauslegungen, wie sie oben unter I 2 am Beispiel des „Witwengeldfalles“ veranschaulicht worden sind. Wenn schließlich für eine Haftung des Versicherers gefordert wird, daß den Versicherungsnehmer kein oder Vgl. zu diesen unten §§ 39 ff. Eine Rechtsscheinhaftung kommt auch hier wegen der generellen Erkennbarkeit der wahren Rechtslage nicht in Betracht (vgl. näher oben Fn. 6); i. E. richtig daher insoweit RG HansGerZ 24 (1941), 80. 51 Vgl. BGHZ 2, 87 (92). 52 Vgl. z. B. BGH aaO. sowie Prölss aaO. und Bruck-Möller aaO. Anm. 69 = S. 1056, jeweils m. Nachw. aus der Rspr. 53 Auch objektiv unberechtigtes Vertrauen bleibt freilich nicht völlig schutzlos, da insoweit die Regeln über die Schutzpflichtverletzungen (culpa in contrahendo oder positive Forderungsverletzung) i. V. m. § 278 BGB (unter Berücksichtigung von § 254 BGB) eingreifen können; vgl. im vorliegenden Zusammenhang z. B. BGHZ 40, 22 (26 f.). 54 Vgl. z. B. OLG Köln VersR 58, 747; OLG Celle VersR 56, 705 und 61, 553; Bruck-Möller aaO. Anm. 64 = S. 1051; Prölss aaO. S. 237, jeweils m. Nachw. aus der Rspr. 55 Vgl. unten S. 492. 49 50
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„kein erhebliches“ Verschulden treffen darf,56 so ist das lediglich eine andere Formulierung für die allgemeine Voraussetzung, daß der Vertrauende gutgläubig sein muß. Die Schaffung des Vertrauenstatbestandes ist dem Versicherer regelmäßig auch zurechenbar.57 Denn er hat den Agenten mit seiner Aufgabe, zu der eben auch die Auslegung und Erläuterung der einschlägigen Bestimmungen gehört, betraut und dadurch das Vertrauen des Versicherungsnehmers in Anspruch genommen; auch hat der Versicherer den „Mangel“, nämlich die Fehlinterpretation, „veranlaßt“, da der Agent unzweifelhaft zu seiner „Sphäre“ gehört und der Fehler daher aus seinem Einfluß- und Risikobereich stammt.58, 59 Bei dieser Betrachtungsweise verlieren sich zugleich die Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Frage, warum der Versicherer die falsche Auskunft des Agenten gegen sich gelten lassen muß, obwohl dieser keine Abschlußvollmacht besitzt. Macht man sich nämlich von rechtsgeschäftlichen Konstruktionsversuchen frei und fragt statt dessen nach der Zurechenbarkeit des Vertrauenstatbestandes, so ergibt sich folgerichtig, daß es nicht auf die Vertretungsmacht des Agenten ankommen kann, sondern nur auf die „Zuständigkeit“ zur Schaffung der Vertrauenslage;60 letztere aber ist ohne weiteres gegeben, weil – und sofern – der Agent bei der Erteilung der Auskunft ja innerhalb des ihm übertragenen Aufgabenbereichs handelt.61 Aus den Grundgedanken der Vertrauenshaftung ergibt sich schließlich auch ohne weiteres, daß es auf ein Verschulden des Agenten – oder gar des Versicherers – hinsichtlich der Fehlinterpretation nicht ankommt;62 denn die Vertrauenshaftung baut grundsätzlich nicht [347] auf dem Verschuldens-, sondern auf dem „Veranlassungs-“ oder Risikoprinzip als maßgeblichem Zurechnungskriterium auf.63 56 Vgl. Bruck-Möller aaO. Anm. 69; Prölss aaO. S. 235, jeweils m. Nachw. aus der Rspr. Die Frage ist nicht identisch mit der nach dem Vorliegen des Vertrauenstatbestandes; das wird verkannt, wenn man, wie z. B. Bruck-Möller aaO. S. 1056, sagt, „bei klarer Sach- und Rechtslage (liege) durchweg ein erhebliches Verschulden vor“. 57 Zu dieser Voraussetzung allgemein unten § 37 II 2 und § 41. 58 Zum Zusammenhang zwischen dem Veranlassungsprinzip und dem Sphären- und Risikogedanken vgl. näher unten § 38 III a. A. = S. 480. 59 Stammt der Mangel ausnahmsweise aus dem Bereich des Versicherten, z. B. weil er den Agenten über die wesentlichen Tatsachen nicht oder nicht richtig informiert hat und dieser auch keine entsprechende Aufklärungsobliegenheit verletzt hat, so haftet der Versicherer folgerichtig nicht; i. E. richtig daher wohl AG München VersR 54, 284. 60 Vgl. in diesem Zusammenhang auch allgemein unten S. 459 f. „Unzuständig“ zur Auslegung ist z. B. ein Parkwächter, so daß eine Bindung des Parkplatzinhabers an dessen Auskunft nicht in Betracht kommt, vgl. BGH NJW 68, 1718. 61 Folgerichtig wendet die Rechtssprechung den „Gewohnheitsrechtssatz“ bei Auskünften des Agenten, die außerhalb seines Aufgabenbereichs liegen, nicht an, vgl. BGH VersR 68, 35 (37). 62 Vgl. Bruck-Möller aaO. Anm. 67; vgl. aber auch oben Fn. 59. 63 Vgl. dazu eingehend unten § 38.
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Hinzukommen muß als weiteres Merkmal grundsätzlich eine „Disposition“ des Vertrauenden. Deren Vorliegen ist häufig gänzlich unproblematisch, so wenn der Versicherungsnehmer auf Grund der falschen Auskunft des Agenten eine erforderliche Anzeige unterläßt,64 eine falsche Deklaration vornimmt,65 eine Änderungsanzeige statt einen Antrag auf Neuversicherung abgibt,66 unrichtige Angaben über die Eigentumsverhältnisse oder über die Person des Versicherungsnehmers macht67 usw. In anderen Fällen ergeben sich dagegen gewisse Schwierigkeiten. Wenn der Agent nämlich z. B. falsche Vorstellungen über Art und Umfang des versicherten Risikos68 oder über den Beginn des Versicherungsschutzes69 hervorgerufen hat, so ist nicht von vornherein sicher, daß der Versicherungsnehmer im Vertrauen hierauf irgendwie „disponiert“ hat;70 denn es ist keine Selbstverständlichkeit, daß er es deswegen z. B. unterlassen hat, sich volle bzw. rechtzeitige Deckung zu verschaffen. Insoweit ist indessen wieder ein Grundsatz zu berücksichtigen, der schon im Unfallversicherungs-, im Haushälterinnen- und im Witwengeldfall von entscheidender Bedeutung war und dessen Richtigkeit sich in den Pensions- und Gratifikationsfällen erneut erweisen wird: statt einer nachgewiesenen „Vertrauensinvestition“ kann auch schon die nicht zu fern liegende Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit einer solchen ausreichen.71 Diese wird nun sehr häufig gegeben sein,72 und dann bestehen gegen eine Vertrauenshaftung insoweit keine Bedenken. Besonderheiten ergeben sich allerdings, wenn eine anderweitige bzw. rechtzeitige Versicherung überhaupt nicht möglich war, so etwa, wenn das fragliche Risiko wie im „Sturmflutfall“ RGZ 86, 128 und möglicherweise im „Bordellfall“ RG JW 1920, 280 generell nicht versicherbar war.73 Eine
Vgl. z. B. RGZ 46, 184. Vgl. z. B. RGZ 104, 344. 66 Vgl. z. B. OLG Celle VersR 52, 401. 67 Vgl. z. B. RGZ 147, 186; RG JW 1907, 526; GruchBeitr. 54, 426; VA 1912, Anh. S. 115 Nr. 701 b; KG VA 1912, Anh. S. 77 Nr. 678; 1931, S. 23 Nr. 2250; 1932, S. 6 Nr. 2369. 68 Vgl. z. B. RGZ 86, 128; RG LZ 1915, 838; VA 1919, Anh. S. 51 Nr. 1095; JW 1919, 381; JW 1920, 280; HansGerZ 24 (1941), 80 (die Höhe der Deckung betreffend). 69 Vgl. z. B. BGHZ 2, 87 (die Fortdauer der alten Versicherung betreffend); OLG Düsseldorf VersR 50, 147; vgl. ferner die bei Bruck-Möller aaO. Anm. 66 = S. 1053 f. zitierten Entscheidungen. 70 Auch bei den zuerst genannten Fällen kann dies oder die Kausalität zwischen Auskunft und Disposition natürlich im Einzelfall einmal zweifelhaft sein; dann gilt das im Text Gesagte auch insoweit. 71 Vgl. oben S. 330 bzw. S. 335 bzw. S. 341 bzw. unten S. 388 f; zusammenfassend unten S. 513 f. 72 Zu fern lag sie aber z. B. im Falle RG HansGerZ 24 (1941), 80. 73 Zum Bordellfall vgl. insoweit das RG aaO. S. 281 und zum Sturmflutfall einerseits BruckMöller aaO. Anm. 55 = S. 1043 und andererseits Prölss VersR 50, 137 (138) sowie Eichler aaO. S. 59. 64 65
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Vertrauenshaf- [348] tung ist dann grundsätzlich nicht gerechtfertigt,74 weil (und sofern) es selbst an der Möglichkeit einer Vertrauensinvestition und damit an der Schutzwürdigkeit des Vertrauenden fehlt. Zu beachten ist allerdings, daß die erforderliche „Disposition“ nicht nur im Unterlassen einer anderweitigen bzw. rechtzeitigen Versicherung liegen kann, sondern sich auch aus sonstigen Gesichtspunkten ergeben kann; so ist denkbar, daß der Versicherungsnehmer im Vertrauen auf den Versicherungsschutz die Bildung von Rücklagen unterlassen hat oder daß er bei Kenntnis des Fehlens einer Versicherung das Risiko beseitigt hätte bzw. es nicht eingegangen wäre,75 – also z. B. das fragliche Objekt verkauft oder nicht in seine Obhut genommen hätte oder dgl.76 Sofern aber auch eine derartige Wahrscheinlichkeit nicht dargetan werden kann, läßt sich eine Vertrauenshaftung nicht begründen. Es stellt sich schließlich wie immer die Frage, warum nicht ein Schadensersatzanspruch ausreicht und statt dessen ein Erfüllungsanspruch gewährt werden muß. Insoweit ist zum einen entscheidend, daß, wie gerade die zuletzt genannten Fälle gut veranschaulichen, Schadensersatzansprüche typischerweise deshalb versagen,77 weil der erforderliche Beweis – d. h. der Beweis über den Abschluß eines mit den Vorstellungen des Versicherungsnehmers übereinstimmenden Vertrages bzw. über eine entsprechende nachträgliche Abänderung oder über die Vermeidung des Versicherungsfalles – sich sehr häufig nicht führen lassen wird;78 zum anderen ist wesentlich, daß Versicherungsverträge charakteristischerweise der Sicherung der persönlichen und wirtschaftlichen Existenz dienen und daß die „Vertrauensinvestition“ daher typischerweise „existenzbeeinflussende“ Bedeutung hat.79 Richtig i. E. daher das obiter dictum RG JW 1920, 280 (281). So hätte z. B. im Falle OLG Düsseldorf VersR 50, 147 der Verunglückte die gefährliche Tätigkeit ohne die falsche Auskunft des Agenten vermutlich nicht oder noch nicht aufgenommen. 76 Man denke z. B. auch daran, daß jemand im Vertrauen auf die Fortdauer des alten Versicherungsvertrages oder auf eine Deckungszusage ein Kraftfahrzeug bereits in Betrieb nimmt, auf dessen Verwendung er bei Kenntnis des Fehlens des Versicherungsschutzes vielleicht noch verzichtet hätte. 77 Zu diesem Erfordernis vgl. z. B. oben § 27 II 6 sowie unten S. 529. 78 Der Vorschlag von Eichler aaO. S. 59, nur einen Schadensersatzanspruch zu gewähren, wird daher der Problematik nicht gerecht. 79 Zu diesem Kriterium, das sich im Verlauf der bisherigen Erörterungen immer wieder als entscheidend erwiesen hat, vgl. zusammenfassend unten S. 531. Allerdings ist hinsichtlich der hier behandelten Problematik eine gewisse Formalisierung, die einer am Einzelfall ausgerichteten Prüfung von Art und Umfang der Vertrauensinvestition entgegensteht, unverkennbar. Sie dürfte darauf zurückzuführen sein, daß hier neben der rechtsethischen Komponente der Vertrauenshaftung auch der Rechtssicherheit eine gewisse Rolle zukommt (zu diesen beiden Grundtendenzen des Vertrauensgedankens vgl. oben § 2 II a. E.); dem entspricht es, daß an das Vorliegen eines Vertrauenstatbestandes hier mitunter etwas stärkere Anforderungen gestellt werden (vgl. oben S. 345 f.) als sonst im Rahmen der Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens. 74 75
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Allerdings genügt auch das noch nicht, um eine „Erfüllungshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“ zu begründen. Hinzukommen muß vielmehr wie immer [349] ein Umstand, der die Lage in irreversibler Weise verändert80 und der es deshalb als unerträgliches venire contra factum proprium erscheinen läßt, wenn sich der Versicherer nunmehr trotz der eingetretenen Entwicklung81 auf die „eigentliche“ Rechtslage beruft. Auch die Erfüllung dieses Merkmals läßt sich nun unschwer dartun: der fragliche Umstand liegt regelmäßig im Eintritt des Versicherungsfalles. Allerdings kommen daneben grundsätzlich auch andere Ereignisse – und u. U. sogar schon der bloße Zeitablauf82 – in Betracht, mögen diese auch seltener sein. Zu denken ist etwa daran, daß im Falle einer Kranken- oder Lebensversicherung der Versicherungsnehmer wegen zu hohen Alters oder wegen des Ausbruchs einer Krankheit jetzt von keinem Unternehmen mehr Versicherungsschutz erhält bzw. daß er sich dafür auf unzumutbare Bedingungen einlassen muß; auch dann ist die Lage „irreversibel“ geworden. 3. In diesem Erfordernis der „Irreversibilität“ liegt zugleich der wichtigste praktische Unterschied zwischen der hier vertretenen Ansicht und der h. L. Denn diese nimmt eine „Umgestaltung“ des Vertrages durch die Auskunft des Agenten an35, und daher kann es folgerichtig nur auf die Abgabe seiner Erklärung und nicht auch auf den Eintritt weiterer Ereignisse ankommen. Indessen ist das schon vom Ergebnis her wenig überzeugend. Denn warum soll z. B. der Versicherungsnehmer eine Obliegenheit nicht erfüllen müssen, wenn der Agent zwar deren Bestehen zu Unrecht geleugnet, diesen Irrtum aber rechtzeitig – d. h. bevor die Obliegenheit irgendwie relevant wurde – berichtigt hat? Oder warum soll der Versicherungsnehmer schutzwürdig sein, wenn der Agent fälschlich ein bestimmtes Risiko als mitgedeckt bezeichnet hat, den Kunden aber lange vor Eintritt des Versicherungsfalls (oder eines diesem gleichzustellenden Ereignisses)83 aufgeklärt hat? Sollte man hier wirklich einer auf Feststellung des Versicherungsschutzes gerichteten Klage stattgeben, wobei folgerichtig nicht einmal die Prämie entsprechend der Risikoerweiterung erhöht werden könnte?84 Und wie will man es vol80 Vgl. zur Maßgeblichkeit dieses Kriteriums z. B. oben S. 295 f. und S. 299 f. sowie zusammenfassend unten § 43 II 2 bei Fn. 32. 81 Zu deren Bedeutung als Charakteristikum des Verbots widersprüchlichen Verhaltens vgl. zusammenfassend unten § 43 II 2 bei und mit Fn. 33. 82 In diesem Falle handelt es sich um „Erwirkung“; vgl. näher unten § 31. 83 Vgl. soeben Ziff. 2 a. E. 84 Die Gefahr, daß der Versicherungsnehmer für eine geringere Prämie zu einer höheren Risikodeckung kommen kann, ergibt sich freilich auch vom Boden der Vertrauenshaftung aus; darin tritt einmal mehr die Problematik des Äquivalenzverhältnisses zu Tage (vgl. dazu allgemein unten § 34 III 3). Hier wird man sie dahin lösen können, daß der Versicherungsnehmer sich die „gesparten“ Prämien auf die Versicherungssumme anrechnen lassen muß – es sei denn, es bestehen ausnahmsweise besondere Gründe dafür, ihn auch in seinem Vertrauen darauf, nur die vereinbarte Prämie zahlen zu müssen, zu schützen.
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lends rechtfertigen, den Versicherer sogar für eine erst nach Eintritt des Versicherungsfalles erfolgte Fehlinterpretation, die ja die Vertrauenslage in keiner Weise mehr beeinflussen [350] kann, einstehen zu lassen?85 In allen diesen Fällen aber muß die h. L. folgerichtig zuungunsten des Versicherers entscheiden, will sie sich nicht mit ihrem Ausgangspunkt in Widerspruch setzen, daß die Auskunft des Agenten den Vertrag „umgestaltet“. Ebensowenig kann sie – und darin liegt der zweite praktische Unterschied zur hier vertretenen Ansicht – eine Ausnahme in jenen Fällen machen, in denen eine „Vertrauensinvestition“ des Versicherungsnehmers überhaupt nicht in Betracht kam und in denen daher dessen Schutzwürdigkeit unter vertrauensrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu begründen ist. Darin wird zugleich die entscheidende dogmatische Schwäche der herrschenden „Umgestaltungstheorie“ sichtbar: sie bleibt nicht streng in den Bahnen der Lehre von der Vertrauenshaftung, obwohl doch auch sie dem Vertrauensgedanken unverkennbar entscheidendes Gewicht zumißt, sondern fällt in Vorstellungen der – nicht zum Ziel führenden86 – Rechtsgeschäftslehre zurück; denn nur echte vertragliche Abreden vermögen den Inhalt eines Rechtsverhältnisses wirklich umzugestalten – wohingegen die Vertrauenshaftung diesen gänzlich unberührt läßt und daneben einen eigenständigen, ex lege und nicht ex contractu folgenden Anspruch stellt, der außerdem auch noch auf zusätzlichen Voraussetzungen aufbaut. Letztlich liegt es nach der h. L. weder konstruktiv noch im Ergebnis anders, als besäße der Vermittlungsagent aktive Vertretungsmacht, und auch das zeigt, daß diese Theorie nicht richtig sein kann.87 Demgegenüber kann nicht etwa eingewandt werden, sie sei nun einmal gewohnheitsrechtlich verfestigt und daher hinzunehmen. Denn in den Rang von Gewohnheitsrecht erwachsen immer nur bestimmte Ergebnisse, nicht aber auch ihre theoretischen Einkleidungen – jede Scheinbegründung könnte sonst zu Gewohnheitsrecht werden! –, und hinsichtlich der hier fraglichen Divergenzen der Ergebnisse liegen die Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts noch nicht vor: in der Masse der Fälle war der Versicherungsfall eingetreten, so daß die hier aufgeworfene Problematik überhaupt nicht zur Entscheidung stand, und auch eine „Disposition“ oder zumindest die Möglichkeit einer solchen lag regelmäßig vor; die wenigen Urteile, in denen das letztgenannte Merkmal nicht erfüllt war – wie z. B. der „Sturmflutfall“ RGZ 86, 128, der nach der hier vertretenen Ansicht in der Tat anders zu entscheiden gewesen wäre – vermögen die Annahme eines Gewohnheitsrechts nicht zu tragen. 4. Da die Einstandspflicht der Versicherer für Auskünfte ihrer Agenten nur einen Unterfall des allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Instituts der Vertrauens85 Im Fall OLG Hamburg VersR 54, 285 (286) ist z. B. nicht zu erkennen, ob die Auskunft vor oder nach dem Schadensfall erfolgte. (Im übrigen wird auch nicht eindeutig gegenüber der „Unklarheitenregel“ abgegrenzt!) 86 Vgl. oben unter Ziff. 1. 87 Vgl. auch die berechtigte Warnung von Steindorff ZHR 129, 349 f.
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haftung kraft widersprüchlichen Verhaltens darstellt, gelten die im Vorstehenden entwickelten Regeln folgerichtig grundsätzlich auch für sonstige Vermittlungsvertreter, soweit diese im Rahmen des ihnen übertragenen Aufgabenbereichs handeln. [351] Allerdings wird sich außerhalb des Versicherungsrechts eine irreversible Vertrauensinvestition sowie die Notwendigkeit, gerade einen Erfüllungsanspruch zu gewähren, regelmäßig wesentlich schwerer dartun lassen. IV. Das deklaratorische Schuldanerkenntnis Die Problematik, ob eine deklaratorische Erklärung eine entsprechende Änderung der Rechtslage herbeiführen kann, ist auch aus der Lehre vom „deklaratorischen Schuldanerkenntnis“ bekannt. Auch hier fragt sich, wie eine derartige Wirkung dogmatisch erklärt werden soll. Soweit man nun das deklaratorische Schuldanerkenntnis als echten Vertrag qualifiziert – und das tut die h. L. in der Tat –, steht man wieder vor der Unmöglichkeit, einen rein deklaratorischen Akt unter den Begriff des Rechtsgeschäfts zu subsumieren: eine Erklärung, die nur bestätigt, was angeblich ohnehin schon gilt, kann nicht den Sinn haben, die fragliche Rechtsfolge erst noch in Geltung zu setzen, und erfüllt damit nicht die an ein Rechtsgeschäft als eine „Geltungserklärung“ zu stellenden Anforderungen.88 Vom Boden der Rechtsgeschäftslehre aus ist deshalb ein „deklaratorisches Schuldanerkenntnis mit konstitutiver Wirkung“89 ein Widerspruch in sich.90 Es liegt daher sehr nahe, statt dessen auch hier mit der Lehre von der Vertrauenshaftung zu arbeiten und die Bindung des Anerkennenden daraus zu erklären, daß er sich auf Grund des Verbots des venire contra factum proprium nicht mit seiner Erklärung in Widerspruch setzen dürfe; zugleich wäre damit ein neuer Ansatzpunkt für die Überwindung des – regelmäßig nicht eingehaltenen – Formerfordernisses des § 781 BGB gefunden, da eine Erfüllungshaftung aus § 242 BGB anerkanntermaßen auch gegenüber § 125 BGB Vorrang haben kann. Indessen zeigt eine Durchsicht der in der Rechtsprechung entschiedenen Fälle, daß für eine Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens hier offenbar bestenfalls ein sehr kleiner praktischer Anwendungsbereich vorhanden ist. In den in Betracht kommenden Fällen – also dort, wo durch das Anerkenntnis bestimmte Einwendungen abgeschnitten werden – liegt nämlich typischerweise keineswegs eine rein deklaratorische Erklärung vor. Vielmehr bekunden die Parteien regelmäßig den Willen, die Rechtslage in bestimmter Hinsicht zu klären, auf eine neue Grundlage zu stellen, zu bereinigen oder dgl., und damit äußern sie einen zumindest hypothetischen Abänderungswillen für den Fall, daß ihre Vgl. dazu auch unten § 34 I 1. Vgl. Wilckens AcP 163, 137 ff. 90 Vgl. Larenz, Schuldrecht B. T. § 59 II = S. 334 ff. 88 89
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Rechtsansicht wider Erwarten doch nicht zutreffen sollte. Dann aber liegt ein echtes Rechtsgeschäft vor, und für die Vertrauenshaftung ist daher insoweit kein Raum. Ein derartiges Anerkenntnis hat allerdings unzweifelhaft konstitutiven Charakter,91 und man [352] muß sich daher der Problematik des § 781 BGB stellen. Wie diese zu lösen ist, mag im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auf sich beruhen.92 Festzuhalten ist hier aber, daß dann, wenn wirklich einmal ein rein deklaratorisches Anerkenntnis vorliegen sollte, d. h. wenn nicht einmal ein hypothetischer Abänderungswille zum Ausdruck gebracht wurde, ein Einwendungsausschluß sich nicht mit den Mitteln der Rechtsgeschäftslehre, sondern allenfalls mit denen der „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“ – bzw. bei entsprechend langem Zeitablauf auch mit denen der „Erwirkung“93 – begründen läßt.
91 Richtig Diederichsen, Anm. zu BAG AP Nr. 1 zu § 781 BGB und Larenz aaO. S. 335; vgl. neuestens auch noch Möschel DB 70, 913 ff. 92 Für die Anwendung des § 781 BGB Larenz aaO. S. 335 f., gegen sie vor allem Kübler in seiner hochinteressanten Arbeit Feststellung und Garantie, 1967. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß die einschlägigen Abreden regelmäßig vergleichsähnlichen Charakter haben und daß daher die analoge Anwendung des § 782 BGB in Betracht kommt. 93 Vgl. unten §§ 31 f.
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§ 30 Venire contra factum proprium als anspruchsbegründendes Merkmal bei Vertrauen auf eine „freiwillige“ Leistungserbringung Wer um das Fehlen einer rechtlichen Bindung, insbesondere um die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts weiß, verdient grundsätzlich keinen Schutz. Das ist vom Boden der Vertrauenslehre aus eine systembedingte Selbstverständlichkeit, da für sie das Erfordernis der Gutgläubigkeit unverzichtbar ist, doch kommt man auch unabhängig von jeder dogmatischen Einordnung zu demselben Ergebnis. Dies ist oben1 für den Tatbestand der arglistigen Täuschung über einen Formmangel näher dargelegt worden und muß folgerichtig erst recht in den Fällen gelten, in denen es lediglich um das Verbot des venire contra factum proprium geht. Gleichwohl kann sich auch dann, wenn den Parteien das Fehlen einer rechtlichen Bindung bewußt ist, in bestimmten Fällen die Problematik des Vertrauensschutzes stellen. Zu denken ist vor allem daran, daß der eine Teil in dem anderen das Vertrauen hervorruft, er werde das Rechtsgeschäft trotz seiner Unwirksamkeit erfüllen oder später einen entsprechenden wirksamen Vertrag abschließen. Indessen muß klar gesehen werden, daß es dann in einem entscheidenden Punkt anders liegt als in den bisher behandelten Fällen: das Vertrauen richtet sich hier nicht auf eine bestimmte Rechtslage, sondern lediglich auf ein zukünftiges Verhalten des Partners. Das aber ist deshalb von größter Bedeutung, weil ein solches Vertrauen grundsätzlich nicht schutzwürdig ist. Dies ergibt sich zwar nicht daraus, daß „die Zukunft stets ungewiß“ ist und daß „dies jeder wissen muß“,2 wohl aber daraus, daß die Rechts- [353] ordnung für die rechtliche Gestaltung der Zukunft und die Bindung des anderen Teils ein bestimmtes Instrument, nämlich die Möglichkeit des Vertragsschlusses zur Verfügung gestellt hat und daß sich daher derjenige, der dieses Mittel wissentlich nicht benutzt, selbst des Rechtsschutzes begibt.3 Anders gesprochen: wenn jemand über die Wirksamkeit oder den Inhalt eines Rechtsgeschäfts irrt, so hat er keinen Anlaß, die Rechtsordnung und ihre Gestaltungsmöglichkeiten zu Hilfe zu nehmen, da er ja vom Bestehen der fraglichen Rechtslage ausgeht; Vgl. S. 277. So aber Hildebrandt, Erklärungshaftung, 1931, S. 215 m. Nachw. Hildebrandt verkennt dabei insbesondere, daß die Parteien ja auf die Gestaltung der Zukunft Einfluß haben und daß daher die „Ungewißheit“ der Zukunft durch Parteierklärungen sehr wohl „beseitigt“ werden kann. Zur Bezogenheit des Vertrauens auf die Zukunft vgl. im übrigen auch Luhmann S. 7, 9 f., 17 f. 3 An dieser Lage ändert sich auch dann nichts, wenn der eine Teil den anderen arglistig über seine – von Anfang an fehlende oder nur bedingte – Erfüllungsbereitschaft usw. getäuscht hat; denn aus dem Vorliegen eines dolus praeteritus kann nur die Schutzunwürdigkeit des Täuschenden, nicht aber auch umgekehrt die Schutzwürdigkeit des Getäuschten abgeleitet werden, und allein um die letztere geht es hier ja. 1 2
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wenn jemand dagegen um das Fehlen einer rechtlichen Bindung weiß und lediglich auf die Bereitschaft des Gegners, freiwillig (!) zu erfüllen, vertraut, so hat er allen Grund, sich des ihm zur Herbeiführung der gewünschten Rechtsfolge vom Gesetz dargebotenen Mittels zu bedienen, und er „kann sich deshalb nicht beklagen“, wenn die Rechtsordnung, deren Schutz er erst verschmäht hat, ihm nunmehr ihre Unterstützung bei der Durchsetzung seines – rechtlich eben nicht begründeten! – Verlangens versagt.4 In derartigen Fällen generell mit Ansprüchen aus Vertrauenshaftung zu helfen, wäre daher nicht nur eine unvertretbare Privilegierung des Rechtsfremden oder gar Rechtsuntreuen, sondern brächte auch die Gefahr einer Aushöhlung der Privatautonomie mit sich. Es müßten deshalb schon ganz besondere Umstände vorliegen, damit eine Vertrauenshaftung trotz Kenntnis der wahren Rechtslage überhaupt in Erwägung gezogen werden kann, und diese müßten folgerichtig solcher Art sein, daß sie den Vertrauenden von dem Einwand, er habe die Möglichkeiten der Privatautonomie nicht genutzt und sich dadurch selbst des Rechtsschutzes begeben, zu entlasten vermöchten. Sucht man nun nach derartigen Umständen, so stößt man notwendigerweise sofort auf die Frage, aus welchen Gründen der Vertrauende eigentlich nicht den Abschluß eines wirksamen Vertrages herbeigeführt hat. Die Antwort hierauf läßt sich am ehesten auf Grund einer Analyse des einschlägigen Fallmaterials geben; für diese ist zweckmäßigerweise danach zu differenzieren, worauf sich die Erwartung des Vertrauenden richtet. I. Der Schutz des Vertrauens auf die Erfüllungsbereitschaft Denkbar ist zunächst, wie schon angedeutet, daß dieser glaubt, der Gegner werde trotz der Unwirksamkeit des Geschäfts erfüllen. Dann sind es im wesentlichen zwei Gründe, an denen ein wirksamer Vertragsschluß gescheitert sein kann: entweder der andere Teil hat die Einhaltung der Wirksamkeitsvoraussetzungen verweigert, oder die Vornahme eines verbindlichen Rechtsgeschäfts ist rechtlich gar nicht möglich. [354] 1. Repräsentativ für die erste Konstellation ist der Fall des „königlichen Kaufmanns“.5 Hier waren sich beide Teile über die Formbedürftigkeit des fraglichen Grundstücksgeschäfts völlig im klaren, doch hatte der eine, der sich gern einen „königlichen Kaufmann“ nannte, das Drängen des anderen auf Erfüllung der Formvoraussetzungen mit der Begründung zurückgewiesen, er werde unabhängig davon zu seinem Wort stehen und der privatschriftliche Vertrag sei „einem nota4
bb.
Vgl. auch Gernhuber, Festschrift für Schmidt-Rimpler, 1957, S. 172 a. E.; Flume § 15 III 4 c
5 BGHZ 48, 396; zum „Edelmannfall“ RGZ 117, 121 und zu weiteren Beispielen aus der Rechtsprechung vgl. unten II 2 = S. 363 f.
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riellen Vertrag gleichwertig“ (S. 397). An sich treffen in einem derartigen Fall die soeben entwickelten Einwände gegen einen Vertrauensschutz ohne weiteres zu: mag der Partner des „königlichen Kaufmanns“ entweder die Einhaltung der Formvorschriften durchsetzen oder von dem Geschäft Abstand nehmen! Indessen zeigt gerade der Sachverhalt dieser Entscheidung deutlich, daß eine solche Argumentation nur den Regelfall trifft6 und daß es wichtige Ausnahmetatbestände gibt, in denen sie nicht paßt. Hier war es nämlich dem Kl., wie der BGH mit Recht betont hat, „nahezu unmöglich, auf der Einhaltung der gesetzlichen Form zu bestehen“ (S. 398), da ihm der Bekl. als sein ehemaliger Prinzipal und als Inhaber einer offenbar besonders angesehenen Firma mit einem ganz ungewöhnlichen Gewicht gegenüberstand. Andererseits – und das ist entscheidend – war ihm aber auch nicht zuzumuten, auf das Geschäft zu verzichten, weil er sich zu wesentlichen Vorleistungen hatte verleiten lassen – möglicherweise, bevor ihm die Rechtslage völlig klar geworden war – und weil er zudem nunmehr zur Aufrechterhaltung seines Unternehmens auf die Erlangung des fraglichen Grundstücks angewiesen war.7 Der Kl. befand sich daher psychologisch und wirtschaftlich in einer so starken Zwangslage, daß seine Verhandlungsfreiheit de facto erheblich eingeschränkt war; da somit das Instrument, das ihm die Rechtsordnung an sich zur Wahrung seiner Interessen zur Verfügung gestellt hat, d. h. die Privatautonomie, weitgehend funktionsuntüchtig geworden war, erscheint er keineswegs schutzunwürdig. Ähnliche Situationen können sich etwa auch dann ergeben, wenn die Einhaltung der Form in den beteiligten Verkehrskreisen unüblich ist, was z. B. unter Kaufleuten hinsichtlich bestimmter Geschäfte vorkommen mag, oder wenn sie in Anbetracht der Besonderheiten des Verhältnisses der Parteien zueinander als „un[355] angemessener Formalismus“ betrachtet wird, wobei vor allem an längere Geschäftsbeziehungen oder an Verträge zwischen Verwandten zu denken ist. Hier kann es nach der sozialen Wertung geradezu als ein ungebührlicher Ausdruck von Mißtrauen erscheinen und zu einer erheblichen, häufig einfach untragbaren Trübung des Verhältnisses oder zu schwerer wirtschaftlicher Selbstschädi6 Ein merkwürdiger Grenzfall lag der Entscheidung BGH NJW 69, 1167 zugrunde. Hier kannte die Kl. zwar den Formmangel, nahm aber gleichwohl an, sie habe einen Erfüllungsanspruch, da die Bekl. ihr dies unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BGH zu § 242 BGB versichert hatte; die Kl. hatte also zwar einerseits den Vertrag der Rechtsordnung unterstellt (so mit Recht Reinicke S. 1168 Sp. 2), war aber andererseits gewarnt und konnte „nicht von einer gesicherten Rechtsstellung ausgehen“ (so mit Recht der BGH S. 1170 Sp. 1). Der letztere Gesichtspunkt spricht dafür, auch hier die im folgenden entwickelten verschärften Anforderungen für eine Erfüllungshaftung zu stellen, und da diese, soweit ersichtlich, nicht erfüllt waren, ist dem klagabweisenden Urteil des BGH i. E. zuzustimmen. 7 Vgl. den vollständigen Abdruck der Entscheidung in NJW 68, 39 sowie sogleich unten S. 355. Gegen die Entscheidung Reinicke in der Anm. aaO. sowie Rechtsfolgen formwidrig abgeschlossener Verträge, 1969, S. 45 f.
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gung8 führen, wenn der eine Teil auf der Wahrung der Form besteht und angesichts der Weigerung des anderen die Vornahme des in Aussicht genommenen Geschäfts ablehnt. In derartigen Fällen, wo weder die Durchsetzung eines wirksamen Vertragsschlusses möglich ist noch der Verzicht auf die Vornahme des Geschäfts zumutbar erscheint und wo daher die Funktionsfähigkeit der Privatautonomie de facto stark beeinträchtigt ist,9 bestehen keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Anerkennung von Erfüllungsansprüchen aus Vertrauenshaftung. Hinzukommen müssen selbstverständlich deren sonstige Voraussetzungen, also insbesondere ein hinreichender Vertrauenstatbestand – der in der Erklärung des anderen Teils über seine Erfüllungsbereitschaft liegt – sowie die Merkmale des dolus praeteritus oder des venire contra factum proprium. Letztere waren in der Tat im Fall des „königlichen Kaufmanns“ gegeben. Zum einen hatte nämlich der Bekl. wirtschaftlich gesehen einen wesentlichen Teil der Gegenleistung bereits erhalten, da der Kl. durch seine Zustimmung ermöglicht hatte, daß ein Dritter dem Bekl. ein bestimmtes Grundstück – das bisherige Betriebsgrundstück des Kl. – verkauft und übereignet hatte. Zum anderen hatte der Kl. sein Unternehmen auf das im Streit befangene Grundstück, das ihm als Ersatz für das andere überlassen werden sollte, verlagert, und offensichtlich war eine Rettung seines – in größte finanzielle Schwierigkeiten geratenen – Betriebes nur möglich, wenn jenes ihm übereignet wurde.10 Wieder liegen daher die beiden so oft wiederkehrenden Merkmale vor,11 und zwar diesmal sogar kumulativ: der Bekl. hat bereits „alle wesentlichen Vorteile aus dem Vertragsschluß mit dem Kl. erlangt“,12 und der Kl. hat sich im Vertrauen auf die Erfüllung des Vertrages in einer Weise in seiner gesamten wirtschaftlichen Existenz „eingerichtet“, daß ihm nunmehr deren Vernichtung droht. Entscheidend kommt hinzu, daß ein angemessener Ausgleich mit Bereicherungs- und Schadensersatzansprüchen nicht zu erzielen ist. Denn daß die Zustimmung des Klägers zur Veräußerung seines ursprünglichen Betriebsgrundstücks und deren Folgen wieder rückgängig zu machen sind, ist schon rechtlich höchst zweifelhaft13 und erschien im übrigen auch faktisch offenbar so gut wie un- [356] 8 Vor allem kann die Gefahr bestehen, daß der andere Teil die Geschäftsbeziehungen abbricht, auch wenn er nicht vorher damit droht. 9 An diesen Voraussetzungen fehlte es z. B. offenbar im „Ehrenmannfall“ OLG Koblenz HEZ 2, 1 (5); allerdings ist aus der Entscheidung nicht klar zu erkennen, ob der Vater des Kl. nicht im entscheidenden Augenblick noch gutgläubig war. – Weitere Beispiele vgl. unten II 2 = S. 363 f. 10 Vgl. NJW 68, 41 Sp. 2. 11 Vgl. zusammenfassend unten § 43 II = S. 531. 12 So die Formulierung des Berufungsgerichts NJW 68, 42 Sp. 1. 13 Die Zustimmung hatte offenbar keine dingliche Wirkung! Es bliebe daher wohl allenfalls die Möglichkeit, die Übereignung des Ersatzgrundstücks als Geschäftsgrundlage des ersten Vertrages anzusehen oder beide Verträge analog § 139 BGB in ihrer Wirksamkeit aneinanderzuknüpfen – eine Konstruktion, die schon allein wegen der Verschiedenheit der jeweiligen Vertragsparteien äußerst anfechtbar ist und die im übrigen ja auch nicht ohne weiteres den Kl. wieder in den Besitz seines ursprünglichen Betriebsgrundstücks bringen würde, sondern nur dessen Verkäufer und früheren Eigentümer.
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möglich,14 – und wie dem Kl. ein Geldanspruch sein Betriebsgrundstück ersetzen und ihm eine Grundlage für eine entsprechende zukünftige Tätigkeit sichern könnte, ist vollends unerfindlich. Es ist daher in der Tat ein rechtsethisch unerträgliches venire contra factum proprium, wenn der Bekl., der durch ein hart an der Grenze zum Dolosen liegendes Verhalten die Einhaltung der Formvorschriften verhindert und den Kl. wissentlich in eine völlig unhaltbare Lage gebracht hat, nunmehr zu seinen feierlichen Beteuerungen nicht stehen will.15
2. Die zweite Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, daß die vertragliche Begründung einer Erfüllungspflicht rechtlich überhaupt nicht möglich ist. Zu denken ist dabei zunächst an das Vorliegen eines gesetzlichen Verbots i. S. des § 134 BGB.16 Hier ist eine Vertrauenshaftung generell auszuschließen, sofern das Gesetz nicht nur das Kausalgeschäft, sondern auch dessen Erfüllung untersagt.17 Denn wer wissentlich ein verbotenes Rechtsgeschäft vornimmt, stellt sich in der Tat außerhalb der Rechtsordnung und verdient daher, wie sich auch aus dem in § 817 S. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken ergibt,18 insoweit keinen Schutz; zumindest aber kann sein Schutz in einem derartigen Fall unter keinen Umständen den Vorrang vor dem von der Verbotsnorm verfolgten Zweck haben. Wesentlich anders liegt die Problematik dagegen in den Fällen der Naturalobligation, also des Spiels, der Wette, des Ehemäklervertrags und des Differenzgeschäfts, die ebenfalls in diesen Zusammenhang gehören. Dabei kann nämlich keine Rede davon sein, daß die Parteien sich außerhalb der Rechtsordnung stellen. Denn das von ihnen vorgenommene Geschäft wird vom Gesetz keineswegs mißbilligt;19 es findet im Gegenteil sogar eine teilweise rechtliche Anerkennung insofern, als es einen Rechtsgrund i. S. des Bereicherungsrechts zu bilden vermag, und so ist – anders als regelmäßig in den Fällen des § 134 BGB – jedenfalls seine Erfüllung von jeder Unwirksamkeitsfolge ausgenommen. Auch kann man hier nicht mit dem Gesichtspunkt arbeiten, der Vertrauende habe sich des Schutzes der Rechtsordnung selbst begeben, da diese einen solchen ja ausnahmsweise verweigert. Schließlich kann man auch nicht sagen, die Parteien sollten von einem derartigen Geschäft eben Abstand nehmen; denn dessen Vornahme ist durchaus verkehrsüblich und wird eben gerade nicht von der Rechtsordnung mißbilligt. Vgl. NJW 68, 42 Sp. 2. Die Begründung, mit der der BGH der Klage stattgegeben hat, ist demgegenüber freilich stark unvollständig. Die wesentlichen Aspekte finden sich dagegen in dem aaO. S. 42 Sp. 1 mitgeteilten Urteil des Berufungsgerichts. 16 Nicht dagegen an die Fälle der Unmöglichkeit i. S. des § 306, da ein Vertrauen auf die Erfüllung bei Kenntnis ihrer Unmöglichkeit ausgeschlossen ist. 17 Ist letztere nicht verboten, liegt es ähnlich wie in den – sogleich näher zu erörternden – Fällen der Naturalobligation. 18 Zur ratio legis des § 817 S. 2 BGB und zu ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit vgl. zuletzt Prölss ZHR 132, 41 ff. m. Nachw. 19 Richtig zu dieser Frage Esser § 93 I 1. 14 15
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Insgesamt kann daher das Vertrauen auf die Erklärung des anderen Teils, er werde jedenfalls erfüllen, hier regelmäßig nicht von vornherein als schutzunwürdig bezeichnet werden. Was die übrigen Voraussetzungen der Vertrauenshaftung betrifft, so ist insoweit [357] zunächst zu beachten, daß der bloße Abschluß eines derartigen Geschäfts keinesfalls die (konkludente) Erklärung der Beteiligten enthält, sie würden es unter allen Umständen erfüllen; denn auf Grund der – ihnen ja bekannten – gesetzlichen Anordnung der Unwirksamkeit müssen sie ohne weiteres mit einer Erfüllungsverweigerung des anderen Teils rechnen. Um einen hinreichenden Vertrauenstatstand zu begründen, müssen daher besondere Umstände hinzukommen wie z. B. eine feierliche Beteuerung der Erfüllungsbereitschaft oder sonstige „besondere Anstalten ..., um den (Partner) in dem Glauben zu festigen, daß er es mit einem zuverlässigen Manne zu tun habe, der nie daran denken würde, sich der Bezahlung der Differenzen zu entziehen ...“.20 Schon hieran wird es regelmäßig fehlen. Auch im übrigen werden aber die Merkmale der Vertrauenshaftung kraft dolosen oder kraft widersprüchlichen Verhaltens nur sehr selten gegeben sein.21 Immerhin ist es aber z. B. nicht undenkbar, daß jemand sich in einer Weise, die seine wirtschaftliche Existenz einschneidend berührt, etwa auf die Durchführung eines Termingeschäfts „einrichtet“. Auch kann der Vorteilsgedanke11 wieder eine gewisse Rolle spielen. Allerdings genügt dafür nicht, daß der andere Teil die Gewinne aus früheren gleichartigen Geschäften eingestrichen hat und sich nun weigert, einen Verlust zu tragen; denn zum einen dürfte dieses Verhalten vom Gesetzgeber durch die Unwirksamkeitsanordnung gerade in Kauf genommen worden sein,22 und zum anderen gibt derjenige, der einen Gewinn entgegennimmt, damit keineswegs zu erkennen, daß er auch spätere Verluste unbedingt zu tragen bereit ist. Ein venire contra factum proprium könnte man dagegen u. U. z. B. dann in der Erfüllungsverweigerung sehen, wenn die betreffende Partei in einem früheren Fall die Auszahlung eines Gewinnes nur mit der ausdrücklichen Zusicherung erreicht hatte, sie werde auch umgekehrt bei einem Verlust das Geschäft als wirksam behandeln.
Vgl. OLG Hamburg SeuffArch.73 Nr. 72 (S. 119). Das RG hat die Möglichkeit einer „Arglisteinrede“ gegenüber dem Einwand der Naturalobligation verschiedentlich anerkannt bzw. vorausgesetzt, das Vorliegen ihrer Voraussetzungen jedoch i. E. durchweg abgelehnt. Vgl. RGZ 146, 190 (194); RG SeuffArch. 85 Nr. 5 S. 11 a. E.; 92 Nr. 11 S. 27 (alle zum Termingeschäft); in der Begründung überholt RG JW 1908, 467; vgl. ferner noch RGZ 76, 81. Die Zurückweisung der „Arglisteinrede“ war auch vom hier vertretenen Standpunkt aus i. E. ausnahmslos berechtigt; insbesondere fehlte es regelmäßig schon an der im Text geforderten besonderen Behauptung der Erfüllungsbereitschaft. 22 Es fehlt insoweit also an dem Hinzutreten zusätzlicher, vom Gesetzgeber bei der Statuierung der Unwirksamkeitsfolge nicht mitbewerteter Umstände; vgl. zu dieser Argumentation grundsätzlich oben § 25 II 2 = S. 279 bei Fn. 34. 20 21
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II. Der Schutz des Vertrauens auf die Bereitschaft zu einem zukünftigen Vertragsschluß Eine Willenserklärung, deren Nichtigkeit beide Vertragspartner kennen, ist häufig23 bei objektiver Interpretation überhaupt kein Rechtsgeschäft;24 denn [358] angesichts der Übereinstimmung über die Unwirksamkeit erklären die Parteien gar nicht, eine Rechtsfolge in Geltung zu setzen. Die Problematik geht dann in der allgemeineren Fragestellung auf, wie die Erweckung von Vertrauen in die zukünftige Vornahme eines Rechtsgeschäfts zu behandeln ist. 1. Paradigmatisch für diese ist die viel diskutierte Hofübergaberechtsprechung des BGH.25 In den fraglichen Fällen ging es regelmäßig darum, daß der Eigentümer eines Bauernhofes einem seiner Verwandten versprochen hatte, er werde ihm den Hof übertragen oder ihn als Erben einsetzen, und daß dieser daraufhin auf den Hof gezogen war, diesen bewirtschaftet hatte usw.; den Formerfordernissen des Hofübergaberechts bzw. des Erbvertragsrechts war nicht Rechnung getragen. Der BGH nahm an, es lägen formnichtige Verträge vor, und gewährte gegenüber dem Einwand aus § 125 BGB dann die Arglisteinrede.26 Diese Betrachtungsweise wird der Sachlage jedoch nicht gerecht. In Wahrheit fehlt es nämlich nicht nur an der Erfüllung der Form, sondern schon am Tatbestand der Vornahme eines Rechtsgeschäfts.27 Denn wie der BGH selbst mit Recht gesagt hat, „weiß heute jeder Bauer – von geringen Ausnahmen abgesehen –, daß er seinen Hofnachfolger ... nur durch Testament, Übergabevertrag oder Erbvertrag bestimmen kann und daß diese Rechtsgeschäfte formbedürftig sind“,28 und dementsprechend dürfte es zwischen den Parteien regelmäßig völlig klar gewesen sein, daß eine rechtliche Regelung noch nicht in Geltung gesetzt, sondern lediglich für die Zukunft in Aussicht genommen worden ist.29 Kommt somit eine Bindung kraft Rechtsgeschäfts nicht in Betracht, so drängt sich andererseits ein Anspruch aus Vertrauenshaftung geradezu auf.30 Das 23 Aber keineswegs immer; so ist es z. B. denkbar, daß die Parteien zumindest eine Rechtsgrundabrede für den Fall (freiwilliger) beiderseitiger Erfüllung schaffen wollen. 24 Vgl. auch BGHZ 45, 376 (379) m. Nachw. 25 Vgl. vor allem BGHZ 12, 286; 23, 249; BGH DNotZ 56, 134 und 138; NJW 58, 377; MDR 59, 290. 26 Besonders klar BGHZ 23, 254. 27 Vgl. z. B. Flume § 8 4; Coing, Deutscher Notartag 1965, S. 36 f. 28 Vgl. BGHZ 23, 261. 29 Der Unterschied zu der unter I 1 behandelten Fallgruppe liegt insoweit darin, daß hier die gesamte Regelung erst in Zukunft vorgenommen werden soll, während dort lediglich die Erfüllung für später versprochen wird, eine Nachholung oder Heilung des unwirksamen Grundgeschäfts dagegen nicht geplant ist. 30 Vgl. auch Staudinger-Coing, Vorbem. vor § 116 BGB Rdz. 3 e unter 6 c a. E. im Rahmen seiner Lehre von der „Vertrauenshaftung kraft konkludenten Verhaltens“ (die abzulehnen ist, vgl. oben § 4, und die sich von der im Text vertretenen Ansicht konstruktiv und praktisch
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wird sofort deutlich, wenn man sich das entscheidende Charakteristikum der Fälle vor Augen führt. Dieses liegt darin, daß der Jungbauer „von frühester Jugend an seine gesamte Arbeitskraft dem Hof zur Verfügung gestellt, mit Zustimmung des Eigentümers auf dem Hof gearbeitet und ihn ganz oder zum Teil selbständig bewirtschaftet, auch auf dem Hof eine Familie gegründet hat und so in ein Alter gekommen ist, in dem eine Umstellung im Beruf nicht mehr zumutbar und möglich ist, und [359] (daß) er außerdem wiederholt die Zusicherung des Hofeigentümers erhalten hat, den Hof später zu bekommen ...“.31 Um den wirklichen rechtlichen Gehalt dieser Ausführungen zu erkennen, braucht man sie lediglich in die Kategorien der Vertrauenshaftung zu übersetzen: der Altbauer hat durch das Versprechen, dem Jungbauern später den Hof zu übertragen, einen Vertrauenstatbestand geschaffen;32 der Jungbauer hat sich darauf in seinem Verhalten „eingerichtet“, und zwar in einer Weise, die seine gesamte Existenz ergriffen hat;33 diese „Vertrauensinvestition“ ist nicht wieder rückgängig zu machen, also „irreversibel“, da der Jungbauer jetzt für eine „Umstellung im Beruf“ zu alt ist;34 die entstandene Lage ist dem Altbauern auch zurechenbar, da er sie „veranlaßt“ hat;35 eventuelle Schadensersatz oder Bereicherungsansprüche36 bilden keinen angemessenen Ausgleich,37 weil sie dem Jungbauern nicht „seinen“ Hof zu ersetzen vererheblich unterscheidet, vgl. unten S. 531 Fn. 33); anders jetzt aber Coing aaO. (Fn. 27) S. 49 (unter d) und Kipp-Coing, Erbrecht, § 19 III 3; vgl. inzwischen auch noch Battes JZ 69, 683 ff., der der hier vertretenen Ansicht erheblich nähersteht, wenngleich bei ihm jeder Bezug auf das Verbot des venire contra factum proprium fehlt. 31 So die in BGHZ 12, 289 mitgeteilte Formulierung des Beschwerdegerichts; vgl. auch den BGH selbst aaO. S. 298. 32 Folgerichtig hat der BGH DNotZ 56, 137 kritisiert, daß das Beschwerdegericht nicht hinreichend geklärt hatte, ob der Altbauer dem Jungbauern die Hofübergabe wirklich versprochen hatte. Vgl. ferner OLG Celle DNotZ 56, 429 (432) und 659 (660 f.). 33 Das trifft z. B. auch dann zu, wenn der Jungbauer im Vertrauen auf die spätere Hofübergabe auf eine andere Existenzgrundlage verzichtet hat, also z. B. die Möglichkeit, den Hof seines Schwiegervaters zu übernehmen, ausgeschlagen (vgl. BGHZ 23, 249, 263) oder eine Verwalterstelle, die „ihm und seiner Familie eine sichere Existenzgrundlage“ bot, aufgegeben hat (vgl. BGH DNotZ 56, 134, 136). Nicht genügend waren dagegen die – im übrigen auch ohne weiteres in Geld auszugleichenden – Leistungen in den Fällen OLG Celle DNotZ 56, 492 (494) und SchlHOLG Schl.-Holst. Anz. 57, 188. 34 Auch in den Fällen BGHZ 23, 249 und DNotZ 56, 134 (vgl. die vorige Fn.) stellt der BGH der Sache nach entscheidend auf die „Irreversibilität“ ab, wenn er (mit Recht) für wesentlich hält, ob die Übernahme des Hofes des Schwiegervaters bzw. die Rückkehr in die Verwalterstelle inzwischen unmöglich geworden ist (vgl. aaO. S. 263 bzw. S. 137). 35 Mit Recht hielt es der BGH daher in der Entscheidung DNotZ 56, 134 (137) für erheblich, ob für die Aufgabe der Verwalterstelle das Vertrauen auf die Hofübergabe oder andere Gründe wie z. B. Meinungsverschiedenheiten mit dem Arbeitgeber maßgeblich waren. 36 Bereicherungsansprüche wären auf Nachzahlung angemessenen Lohns gerichtet, vgl. Canaris BB 67, 165 ff. Zur Ausgleichsproblematik vgl. im übrigen vor allem Kroeschell, Festschrift für das OLG Celle, 1961, S. 99 ff. 37 Auch diesen Gesichtspunkt hat der BGH jedenfalls gestreift, vgl. BGHZ 23, 254 f.
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mögen und ihm keine vergleichbare Existenzgrundlage schaffen können. In der Tat sind somit die Merkmale der Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens, wie sie im Verlauf der bisherigen Erörterungen herausgearbeitet worden sind, grundsätzlich erfüllt.38 [360] Noch nicht beantwortet ist damit allerdings die – in diesem Paragraphen ja im Mittelpunkt stehende – Frage, warum der Jungbauer hier trotz Kenntnis der wahren Rechtslage geschützt werden soll und warum also ausnahmsweise das bloße Vertrauen auf einen zukünftigen Vertragsschluß genügt. Hierfür dürfte nun zunächst sehr wesentlich sein, daß „nach bäuerlicher Auffassung ... derjenige Abkömmling, der ständig auf dem Hof gearbeitet hat ..., auch seit Jahren zum Hofnachfolger ausersehen war, den Hof späterhin tatsächlich erhält ...“;39 auch ist insoweit zu berücksichtigen, daß es sich um Rechtsbeziehungen unter Verwandten handelt, und ferner hat der BGH nicht zu Unrecht hervorgehoben, daß der Jungbauer sich „als der berufene Anerbe betrachten konnte“,40 weil alle anderen eventuellen Hofnachfolger entweder tot waren41 oder in landwirtschaftsfremden Berufen arbeiteten oder eine sonstige „Versorgung“ hatten. Nimmt man diese Umstände zusammen, so erscheint in der Tat die oben42 herausgearbeitete Voraussetzung erfüllt, daß besondere Gründe das Vertrauen auf das „bloße“, rechtlich nicht verbindliche Wort rechtfertigen und die vorläufige Abstandnahme von einem rechtswirksamen Vertragsschluß verständlich machen. Denn das enge Verwandtschaftsverhältnis43 und die Grundsätze „bäuerlichen Rechtsempfin-
38 In der Leitentscheidung BGHZ 12, 286 lag nach der hier verwendeten Terminologie allerdings keine Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens, sondern „Erwirkung“ (vgl. unten §§ 31 f.) vor; denn der maßgebliche Umstand war nicht der Eintritt eines bestimmten Ereignisses, sondern ein längerer Zeitablauf (ebenso offenbar BGH NJW 58, 377, 379). In den Fällen BGHZ 23, 249 und BGH DNotZ 56, 134 waren es dagegen bestimmte Ereignisse – der Verzicht auf die Übernahme des anderen Hofs bzw. das Ausscheiden aus der Verwalterstelle –, die die Irreversibilität der Vertrauenslage begründeten, und daher sind dies „klassische“ Beispiele einer Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens i. e. S. 39 Vgl. BGHZ 12, 299 (vgl. auch S. 300 und 305); vgl. ferner vor allem BGH DNotZ 56, 135. 40 Vgl. BGHZ 12, 299; vgl. auch S. 298. 41 Ähnlich lag es im Falle BGHZ 23, 249, wo der Antragsteller mit Recht hervorhob, er sei bei seiner Übersiedlung auf den Hof der einzige gesetzliche Anerbe gewesen (S. 250). Vgl. demgegenüber andererseits SchlHOLG Schl.-Holst. Anz. 57, 188 (189). 42 Vgl. S. 353 und 355. 43 Zu dessen Bedeutung vgl. auch oben S. 354 f. Im vorliegenden Zusammenhang ist zusätzlich zu beachten, daß es sich hier regelmäßig um das Eltern-Kind-Verhältnis oder um ähnliche Beziehungen handelt und daß dabei wegen der psychologischen, wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit des Kindes, die im landwirtschaftlichen Lebenskreis besonders stark ist und hier häufig in gewissem Umfang auch über das 21. Lebensjahr hinaus erhalten bleibt, die Funktionsfähigkeit der Privatautonomie zusätzlich beeinträchtigt ist.
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dens“44 sowie die damit verbundenen soziologischen Gegebenheiten schaffen nicht nur einen erhöhten Vertrauenstatbestand hinsichtlich der Einhaltung des Versprechens, sondern lassen es zugleich auch unsinnig erscheinen, von dem Jungbauern zu erwarten, entweder auf einem sofortigen wirksamen Vertragsschluß zu bestehen oder sich auf die Mitarbeit auf dem Hof überhaupt nicht einzulassen:45 die immanenten Funktionsvoraussetzungen der Privatautonomie – d. h. vor allem die faktische Freiheit des Verhandelns, die die Möglichkeit der gänzlichen Abstandnahme vom Vertragsschluß als essentiale einschließt – liegen angesichts der besonderen sozialen Situation nicht vor, und es ist [361] daher nur folgerichtig, wenn insoweit die Vertrauenshaftung ergänzend neben die Bindung kraft Rechtsgeschäfts tritt.46 Nimmt man abschließend die – stets unerläßliche47 – Gesamtabwägung der maßgeblichen Umstände vor, so erscheint es in der Tat als ein rechtsethisch unerträgliches venire contra factum proprium, wenn sich der Altbauer jetzt, nachdem eine „irreversible“ Entwicklung eingetreten ist,48 ohne hinreichenden Grund49 von seinem Versprechen lösen will. Dabei soll nicht bestritten werden, daß auch jenen Kriterien, die gegen eine Erfüllungshaftung sprechen, erhebliches Gewicht zukommt. Insbesondere ist selbstverständlich die Gefahr einer Umgehung des Formerfordernisses außerordentlich ernst zu nehmen, und auch die Tatsache, daß bestimmte Regelungen wie die Festsetzung des Altenteils oder des Übergabezeitpunktes hier statt durch privatautonome Vereinbarung durch richterliches Urteil erfolgen muß,50 ist sehr problematisch.51 Es sind hier jedoch so ungewöhnlich starke Gegengründe vorhanden, daß diese Bedenken zurücktreten müssen.47 Entscheidend ist dabei in erster Linie das außerordentliche Ausmaß der 44 Vgl. BGH DNotZ 56, 135; es handelt sich hier also keineswegs um ein verfehltes ideologisches Relikt, sondern um einen sachgerechten Lösungsgesichtspunkt (vgl. auch unten Fn. 52). 45 Häufig kommt hinzu, daß der Jungbauer nicht etwa vor einer einmaligen und unwiderruflichen Entscheidung steht, sondern nur nach und nach gewissermaßen „hineingezogen“ wird; vgl. insbesondere den Sachverhalt der Entscheidung BGHZ 12, 286. 46 Zur Ergänzungsfunktion der Vertrauenshaftung gegenüber der rechtsgeschäftlichen Selbstbindung vgl. unten § 35 I. 47 Zur hier zugrunde liegenden Methodik des „beweglichen Systems“ vgl. oben § 27 III 2 und unten § 43 II 1. 48 Vgl. oben bei und mit Fn. 34. 49 Ist ein solcher gegeben, braucht die Zurücknahme der Zusage trotz Vorliegens der sonstigen Voraussetzungen nicht unbedingt „widersprüchlich“ zu sein (vgl. näher unten S. 399 und S. 544); im Grundsatz richtig daher auch insoweit die Rechtsprechung des BGH, vgl. BGHZ 12, 286 (287 2. Leits. HS. 2); 23, 249 (263); BGH MDR 59, 290. 50 Die hier entstehenden Schwierigkeiten sollte man freilich auch nicht überschätzen, vgl. BGHZ 23, 262. Sie können sich in ähnlicher Weise z. B. auch bei der Klage aus einem Vorvertrag auf Abschluß des Hauptvertrags ergeben (wobei man freilich nicht übersehen darf, daß dieser u. U. mangels hinreichender Bestimmtheit nichtig sein kann). 51 Letztlich geht es auch hier wieder um das „Ergänzungsproblem“, vgl. dazu näher unten § 34 III 4.
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Vertrauensinvestition, die tatsächlich die gesamte Existenz des Jungbauern ergreift und gefährdet; daneben kommt aber insbesondere auch der Stärke des rechtsethischen Unwerturteils über den willkürlichen Wortbruch des Altbauern ein nicht unerhebliches Gewicht zu.52 Insgesamt läßt sich somit die Hofübergaberechtsprechung des BGH nahezu53 vollständig aus dem Gedanken der Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens rechtfertigen; sie hält sich mit einer inneren Sicherheit in deren dogmatischen Grenzen,54 die um so erstaunlicher ist, als der BGH sich in diesem Zu- [362] sammenhang niemals ausdrücklich auf den Vertrauensgedanken bezieht.55 Diese Zusammenhänge sind von der h. L., die die Hofübergabeentscheidungen überwiegend scharf abgelehnt hat,56 völlig übersehen worden.56a Repräsentativ für die Verständnislosigkeit,57 mit der sie dem Gerechtigkeitsgehalt dieser Urteile gegenübersteht, ist insbesondere die im Ton überscharfe und in der Sache fehlgerichtete Polemik WIEACKERS; dieser hat dem BGH vorgeworfen, er beginne „einen besonders empfindlichen und kostbaren Bereich zu verwalten, nämlich die Familie selbst“ und seine Rechtsprechung laufe auf den Satz hinaus: „Der Richter ist zur Herbeiführung jeder privatrechtlichen Gestaltung befugt, wenn es ihm, zur Vermeidung schwerer Härten, als billig erscheint“.58 Diese Unterstellung zu widerlegen, war dem BGH ein leichtes; mit Recht hat er entgegnet,59 der Hofeigentümer werde „lediglich an seinem eigenen, von seinem Willen bestimmten ... Verhalten festgehalten“ und von „freiem richterlichem Diktat der bäuerlichen Erbfolge“60 könne daher nicht die Rede sein. In der Tat geht der Vorwurf, der BGH mißachte den Grundsatz der Privatautonomie, in die Irre, da die RechtsfolAuch dafür ist der Verstoß gegen das „bäuerliche Rechtsempfinden“ von Bedeutung! Nicht einzuordnen ist allerdings die Tatsache, daß der BGH nicht lediglich einen obligatorischen Anspruch auf die Hofübergabe gewährt, sondern eine Veränderung der dinglichen Rechtslage angenommen hat; vgl. dazu näher unten § 42 II 3. 54 Vgl. insbesondere auch die Fn. 32–35, 44, 49, 52. 55 Er stellt diesen im Gegenteil selbständig neben die Hofübergaberechtsprechung, vgl. BGHZ 47, 184 (189 f.). 56 Vgl. die Nachweise bei Siebert-Knopp § 242 Rdz. 352 sowie noch Bydlinski S. 9. 56a Einen erheblichen Fortschritt stellen demgegenüber neuesten die Ausführungen von Battes JZ 69, 683 ff. (trotz des Fehlens einer Verbindung mit dem v. c. f. p.) dar. 57 Diese dürfte mitbedingt sein durch die unrichtige (vgl. oben § 25 I 2) Ansicht der h. L., bei der „Arglisteinrede“ gegen den „Einwand“ der Formnichtigkeit ginge es um eine „restriktive Interpretation“ des § 125 BGB oder um die „Abgrenzung zwischen dem Anwendungsbereich des § 125 BGB und dem des § 242 BGB.“ Diese Sichtweise setzt nämlich notwendigerweise voraus, daß wenigstens der Tatbestand eines Rechtsgeschäfts vorliegt, und daher ist der h. L. folgerichtig der Weg für die Lösung jener Fälle versperrt, in denen überhaupt kein Vertragsschluß gegeben war. 58 Vgl. DNotZ 56, 125 bzw. 122; wesentlich zurückhaltender aber FamRZ 57, 287 ff., wo auch das venire contra factum proprium erwähnt wird (S. 289). 59 Vgl. BGHZ 23, 259 im Anschluß an Schulte RdL 56, 177; vgl. auch schon BGHZ 12, 298. 60 So Wieacker aaO. S. 122. 52 53
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ge nicht durch richterliche Gestaltung festgelegt wird, sondern sich nach dem zurechenbaren Verhalten der Parteien bestimmt; das der Selbstbestimmung korrespondierende Prinzip der Selbstverantwortung und nicht Richterwillkür ist also entscheidend.61 2. Ordnet man die Hofübergaberechtsprechung dogmatisch in die Vertrauenshaftung ein, so ist zwar zuzugeben, daß es sich auch innerhalb dieser um Extremfälle handelt, doch kann entgegen der Rechtsprechung des BGH dann folgerichtig nicht anerkannt werden, daß die in diesem Zusammenhang entwickelten Grundsätze einer Verallgemeinerung schlechthin unzugänglich wären.62 So ist es denn [363] auch bezeichnend, daß der BGH in dem insoweit grundlegenden „Hausanwesenurteil“ nach der Ablehnung der Übertragbarkeit höferechtlicher Grundsätze unvermittelt zur Prüfung eines Anspruchs aus Vertrauenshaftung übergeht und auf diesem Wege dann doch noch die Möglichkeit zu einem ähnlichen Ergebnis eröffnet.63 Allerdings darf nicht übersehen werden, daß auch nach der hier vertretenen Ansicht dem „bäuerlichen Rechtsdenken“ eine gewisse Bedeutung zukommt, doch kann dieses Kriterium ohne weiteres durch andere Merkmale ersetzt werden.64 Im übrigen steht die Rechtsprechung mit den sich aus der Vertrauenshaftung ergebenden Folgerungen i. E. durchweg65 im Einklang. So war z. B. die Klagabweisung im „Erbauseinandersetzungsfall“ BGH MDR 66, 227 ohne weiteres gerechtfertigt. Denn hier hatte der betreffende Bauer nicht einmal einen Versuch unternommen, den Abschluß eines wirksa-
Zur grundsätzlichen Problematik näher unten § 34 III. Die Frage, ob das Vertrauen auf einen zukünftigen Vertragsschluß Schutz verdient, taucht im übrigen auch noch in anderen Zusammenhängen auf und ist insbesondere nicht auf die Fälle formbedürftiger Rechtsgeschäfte beschränkt; vgl. unten § 32. 63 Vgl. BGHZ 47, 184 (189 f.). – Vgl. in diesem Zusammenhang auch den – mit den Hofübergabefällen in mancher Hinsicht verwandten – „Rentengutfall“ RG HRR 34 Nr.1024; entsprechend den Besonderheiten der Vertrauenslage ging es dort aber nur um die Gewährung einer (aus dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens folgenden) verzögernden Einwendung gegen den Herausgabeanspruch aus § 985 BGB, nicht um einen Erfüllungsanspruch und daher nicht um Vertrauenshaftung im hier zugrunde gelegten Sinne des Worts (vgl. § 1 II). 64 Vgl. dazu die Begründung für seine Berücksichtigung bei Fn. 44 und in Fn. 52. 65 Eine gewisse Sonderstellung nimmt allerdings der „Auswandererfall“ BGH LM Nr. 1 zu § 2 PreisüberwVO ein. Legt man die im Text entwickelten allgemeinen Haftungsvoraussetzungen zugrunde, so wäre hier nämlich entgegen dem Urteil des BGH die Klage abzuweisen gewesen. Denn der Kl. hätte darauf bestehen können und müssen, daß für den Fall einer Genehmigungsverweigerung durch die Preisbehörde sofort ein zweiter formgerechter Vertrag (der der Behörde ja einstweilen nicht hätte vorgelegt werden müssen) geschlossen wurde; auch ist es unerheblich, daß der Bekl. zur Rückzahlung der Anzahlung außerstande war, da der Kl. insoweit hinreichend durch die Möglichkeit geschützt ist, das Grundstück nur Zug um Zug gegen diese Gegenleistung herauszugeben und gegebenenfalls wegen seines Anspruchs in dieses zu vollstrecken. Es mag aber sein, daß gleichwohl das stattgebende Urteil des BGH wegen der besonderen Wertung des § 2 II und III PreisüberwVO, wonach u. a. bei der Festlegung eines niedrigeren Kaufpreises auf die Einhaltung der Form verzichtet wird, i. E. Zustimmung verdient. 61 62
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men Vertrages durchzusetzen, obwohl dies durchaus von ihm zu erwarten gewesen wäre; auch hatten die übrigen Beteiligten ersichtlich keine besondere Erklärung über ihre Erfüllungsbereitschaft abgegeben. – An einer derartigen festen Zusage und damit an einem hinreichenden Vertrauenstatbestand fehlte es auch im „Wehrmachtsgeländefall“ BGHZ 45, 179 (vgl. S. 183 und 185), der daher schon allein aus diesem Grund richtig entschieden ist. – Zustimmung verdient schließlich auch das Urteil im „Edelmannfall“ RGZ 117, 121, in dem – anders als im Fall des „königlichen Kaufmanns“ und im „Ehrenmannfall“66 – nicht nur ein nichtiger Vertrag, sondern überhaupt noch kein Rechtsgeschäft vorlag und in dem sich das Vertrauen daher auf einen zukünftigen Vertragsschluß richtete. Hier war nämlich dem Kl., einem Betriebsleiter – und nicht etwa einem „kleinen Angestellten“! –, sehr wohl zuzumuten, daß er entweder auf der Erfüllung der Formvoraussetzungen oder auf der Auszahlung der ihm geschuldeten Beträge bestand; abgesehen davon wäre seinen Interessen aber auch mit der Nachzahlung der Gratifikationen zu genügen gewesen (vgl. auch das RG aaO. S. 126 f.), so daß keineswegs allein ein Erfüllungsanspruch einen hinreichenden Schutz darstellte. [364] Als Gegenbeispiel sei zum Schluß der „Fronturlauberfall“ OLG Dresden JR 50, 24 erwähnt. Hier hatte sich der Kl. nur deshalb darauf eingelassen, die Beurkundung eines Grundstückskaufvertrags „aufzuschieben“, weil die Urlaubstage des vorübergehend aus dem Felde heimgekehrten Bruders und Beauftragten der Bekl. „nicht mit den Kaufverhandlungen belastet“ werden sollten. Dies ist in der Tat ein vernünftiger Grund dafür, nicht auf der sofortigen Vornahme eines wirksamen Vertragsschlusses zu bestehen – wie denn überhaupt in einer derartigen Kriegssituation die Funktionsfähigkeit der Privatautonomie erheblich gestört sein kann. Nimmt man hinzu, daß die Parteien damals unstreitig zum Kauf abschluß fest entschlossen waren und daß daher der Schutzzweck des § 313 BGB nicht wesentlich beeinträchtigt ist, und berücksichtigt man weiter, daß der Kl. nicht nur eine erhebliche Anzahlung geleistet, sondern auch das Grundstück seit mehreren Jahren „bewohnt und bewirtschaftet“, sich also in einer seine Existenz wesentlich berührenden Weise „eingerichtet“ hatte, so muß man es als unerträgliches venire contra factum proprium ansehen, wenn die Bekl. jetzt einen Vertragsschluß verweigern, der seinerzeit nur auf Grund des Anstandes und der Rücksichtnahme des Kl. gegenüber ihrem Bruder „aufgeschoben“ wurde.
III. Der Schutz des Vertrauens auf die Bereitschaft, für die Schulden eines anderen aufzukommen Vertrauensrechtlich gesehen gehört in diesen Zusammenhang schließlich noch eine Problematik, der auf den ersten Blick jede Verwandtschaft mit den bisher behandelten Fällen zu fehlen scheint: die Frage, ob und unter welchen 66
Vgl. dazu oben S. 354 ff. bzw. Fn. 9.
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Voraussetzungen man sich darauf verlassen darf, daß jemand für die Schulden eines Dritten auch ohne eine entsprechende Rechtspflicht aufkommen wird. Ein charakteristisches Beispiel ist etwa, daß ein Architekt einen Bauhandwerker, der Bedenken hinsichtlich der Zahlungsfähigkeit des Bauherrn äußert, durch beruhigende Erklärungen zur Weiterarbeit bewegt oder daß eine Gesellschaft unter Hinweis auf ihre enge Verflochtenheit mit einem anderen Unternehmen eine Kreditgewährung an dieses veranlaßt. Nun liegt hier natürlich nicht selten der konkludente Abschluß einer Bürgschaft, eines Garantievertrags, einer kumulativen Schuldübernahme oder eines Kreditauftrags vor, doch handelt es sich häufig auch um reine „Beruhigungserklärungen“, denen jeder rechtsgeschäftliche Verpflichtungscharakter fehlt; letzteres ist regelmäßig anzunehmen, wenn lediglich die wirtschaftliche Solidität des Schuldners beteuert wird, wenn jemand mit Floskeln wie „Haben Sie uns je kleinlich erlebt?“ Kulanz in Aussicht stellt oder wenn eine Gesellschaft mit Redensarten wie „Glauben Sie, wir können es uns leisten, unsere Tochtergesellschaft in Konkurs gehen zu lassen?“ eine finanzielle Absicherung des Schuldners ankündigt. In derartigen Fällen richtet sich das Vertrauen des Kreditgebers – und damit wird der Zusammenhang mit den bisherigen Erörterungen deutlich – ausschließlich auf ein zukünftiges freiwilliges Verhalten des anderen Teils, insbesondere wiederum auf seine bloße Erfüllungsbereitschaft oder auf seine Absicht zu einer eventuellen Sanierung des Schuldners. Dementsprechend gilt grundsätzlich auch hier der eingangs67 herausgearbeitete Vorrang der Privatautonomie vor der Vertrauenshaftung: vom [365] Gläubiger ist zu erwarten, daß er auf dem Abschluß einer Bürgschaft, eines Garantievertrages oder dgl. besteht, und wenn er das nicht tut, handelt er, wie dies auch in der Mahnung „caveat creditor“ zum Ausdruck kommt, grundsätzlich auf eigenes Risiko. Folgerichtig sind freilich auch hier Ausnahmen zuzulassen. Deren Voraussetzungen sowie das Zusammenspiel der verschiedenen möglichen Haftungsgrundlagen seien im folgenden zunächst bezüglich der bürgerlichrechtlichen Problematik und sodann im Hinblick auf bestimmte gesellschaftsrechtliche Sondertatbestände näher dargelegt. 1. Charakteristisch für die Vielfalt rechtsgeschäftlicher und vertrauensrechtlicher Probleme, die sich in diesem Zusammenhang ergeben können, ist der „Heizanlagenfall“ RGZ 68, 126.68 Hier hatte die Kl. auf Grund eines Vertrages mit einem Bauunternehmer für das Hotel des Bekl. eine Heizanlage geliefert und eingebaut. Als jener mit seinen Zahlungen in Verzug kam, erklärte sie dem Bekl., sie werde die Arbeiten einstellen, wenn sie nicht ihr Geld erhalte. Darauf erwiderte dieser (jedenfalls nach der Behauptung der Kl.): „Bei mir verliert niemand etwas; arbeiten Sie ruhig weiter“. Als der Bauunternehmer in Konkurs geriet, nahm
Vgl. S. 352 f. Vgl. ferner die Fälle RG WarnRspr. 1909 Nr. 16; 1911 Nr. 471; Colmar OLG 22 (1911), 343; München OLG 34 (1917), 77; OLG Frankfurt NJW 67, 2360. 67 68
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die Kl. den Bekl. auf Zahlung des Werklohns in Anspruch. Das RG entschied, daß eine „Absicht“ des Bekl., eine Verpflichtung zu übernehmen, nicht erforderlich sei, und wies daher das Berufungsgericht an zu prüfen, ob hier irgendein Interzessionsvertrag vorliege.
In der Tat kommt es gemäß § 116 BGB auf eine „Absicht“ zum Vertragsschluß nicht an, doch ist darin nicht die eigentliche Problematik des Falles zu sehen. Fraglich ist vielmehr zunächst schon, ob hier überhaupt der objektive Tatbestand eines Rechtsgeschäfts erfüllt war oder ob der Bekl. nicht vielmehr eine bloße „Beruhigungserklärung“ abgegeben hatte – etwa in dem Sinne, daß er bei dem Bauunternehmer auf rasche Zahlung dringen wolle69 oder daß er sich bei dessen Konkurs „kulant“ zeigen werde. Auch wenn man aber im ersteren Sinne entscheidet – und das dürfte angesichts des Wortlauts der Erklärung und der sonstigen Fallumstände hier wohl richtig sein70 –, so erhebt sich doch sogleich die weitere Frage nach dem Erklärungsbewußtsein des Bekl.; denn daß es fehlte, ist, was das RG offenbar übersehen hat, durchaus nicht unwahrscheinlich. Dann aber würde sich die Rechtslage für die Kl. erheblich verschlechtern. Sie könnte dann nämlich grundsätzlich allenfalls Ansprüche auf das negative Interesse geltend machen, und diese liegen hier nicht nur u. U. weit unter dem positiven Interesse, sondern sie sind auch mit besonderen Beweisrisiken belastet: die Kl., muß dann beweisen, daß sie ohne die Erklärung des Bekl. noch rechtzeitig ihre Forderung durchgesetzt bzw. wenigstens [366] das Material durch Rücktritt oder dgl. wiedererlangt hätte oder daß sie anderweitig einen entsprechenden Verdienst erzielt hätte. Nun ist eine solche Lösung zwar grundsätzlich als dem geltenden Recht entsprechend hinzunehmen – ganz abgesehen davon, daß man sie auch keineswegs ohne weiteres als sachwidrig bezeichnen kann –, doch waren hier Besonderheiten gegeben, die eine abweichende Entscheidung nahelegen. Der Bekl. hatte nämlich ein starkes eigenes Interesse an der Weiterarbeit der Kl, da die Einbauten ja in seinem Haus vorgenommen wurden, und dementsprechend hat er durch diese einen – von ihm vermutlich sogar angestrebten – Vorteil erlangt, den er jetzt „behalten kann“: das Risiko eines Konkurses des Bauunternehmers hat sich insoweit von ihm auf den Kl. verlagert. Dieser „Vorteilsgedanke“ aber ist eines jener Kriterien, die für das Verbot des venire contra factum proprium charakteristisch sind,71 und wenn man nun noch hinzunimmt, daß das (etwaige) Fehlen des Erklärungsbewußtseins hier auf einem erheblichen Maß an Fahrlässigkeit beruhte und daß von dem Bekl. zumindest angesichts der Fortsetzung der Arbeiten durch die Kl. eine „Verwahrung“ zu erwarten gewesen wäre, so wird man ihm in der 69 Erklärt jemand freilich, er „mache sich dafür stark“, so wird regelmäßig eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung vorliegen, vgl. BGH WM 67, 341. 70 Vgl. auch RG WarnRspr. 1911 Nr. 517 und Colmar aaO.; zweifelnd Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften S. 281. 71 Vgl. zusammenfassend unten § 43 II = S. 531; vgl. ferner zur – verhältnismäßig eng verwandten – Problematik der formnichtigen Bürgschaft oben S. 309 f.
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Tat die „Berufung“ auf die (eventuelle) Unwirksamkeit seiner Erklärung gemäß § 242 BGB versagen müssen.72 Anders läge es dagegen, wenn der Erklärung schon objektiv der rechtsgeschäftliche Charakter gefehlt hätte und die Kl. dies erkannt hätte;73 denn dann wäre ihr Vertrauen, wie eingangs schon betont, grundsätzlich nicht schutzwürdig. Eine Ausnahme von dieser Regel käme nur in Betracht, sofern im konkreten Fall die Funktionsfähigkeit der Privatautonomie weitgehend ausgeschaltet gewesen wäre;74 zu denken ist etwa daran, daß derjenige, der die „Beruhigungserklärung“ abgibt, dem Vertrauenden „drückend überlegen“ ist – ähnlich wie im Fall des „königlichen Kaufmanns“ – und daß dieser die Arbeit nicht einstellen kann, weil er damit z. B. eine für ihn „lebenswichtige“ Geschäftsbeziehung gefährden würde oder weil er finanziell auf die Fortführung dieses Projekts unbedingt angewiesen ist. 2. Besondere praktische Bedeutung hat die vorliegende Problematik im Recht der Einmanngesellschaft und im Konzernrecht;75 denn hier kommt es naheliegenderweise verhältnismäßig häufig vor, daß der Alleingesellschafter oder die Muttergesellschaft erklären, sie „stünden hinter“ der Einmanngesellschaft bzw. der Tochtergesellschaft, sie „könnten sich nicht leisten“, diese in Konkurs gehen zu lassen, deren Geschäfte [367] seien „so gut wie ihre eigenen“ usw. usw. Die h. L. arbeitet dann mit der Lehre vom Rechtsschein und spricht z. B. von „Haftung kraft Rechtsscheins“,76 von „Anschein persönlicher Haftung“77 oder von „Rechtsschein persönlicher Verantwortung“.78 Sie läßt jedoch jede dogmatische Fundierung ebenso vermissen wie den Versuch, Fallgruppen zu bilden und zu differen-
Vgl. dazu im grundsätzlichen auch oben § 28 X. Hätte sie die Erklärung dagegen irrtümlich für eine wirksame rechtsgeschäftliche Verpflichtung gehalten, so hätte sie geglaubt, sich dem Schutz des Rechts unterstellt zu haben, und sie wäre daher trotz der Schwäche des Vertrauenstatbestandes nicht schutzunwürdig. 74 Die Ausführungen oben S. 354 f. lassen sich insoweit ohne weiteres übertragen. 75 Die folgenden Ausführungen können aber auch darüber hinaus überall dort Bedeutung erlangen, wo es um die Haftung eines „Hintermannes“ geht, also z. B. bei der Strohmanngründung, bei der unterkapitalisierten GmbH usw. 76 Vgl. Schilling JZ 53, 161; Fresse NJW 56, 284 und GmbHRdsch. 60, 26; Kreifels GmbHRdsch. 56, 83; vgl. auch schon Haussmann, Grundlegung des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen, 1926, S. 59 f.; Pinner JW 26, 1483 f.; Griebel, Die Einmanngesellschaft, 1933, S. 102 f.; Meise, Zivilrechtliche Probleme der Organgesellschaft, 1935, S. 96 f.; kritisch Serick, Durchgriffsprobleme bei Vertragsstörungen, 1959, S. 22. 77 Vgl. BGHZ 22, 226 (230 und 232 f.); BGH WM 61, 1103 (1106); Siebert BB 54, 418; Freese NJW 56, 284; Kreifels aaO. S. 281; Schilling JZ 58, 214; Serick, Rechtsform und Realität juristischer Personen, 1955, S. 46 Fn. 2; Hueck, Gesellschaftsrecht § 32 I 4 a. E. und Baumbach-Hueck GmbHG Anh. zu § 34 Anm. 3 A. 78 Vgl. Drobnig, Haftungsdurchgriff bei Kapitalgesellschaften, 1959, S. 66 f.; Kuhn, Strohmanngründungen bei Kapitalgesellschaften, 1964, S. 199 Fn. 1 und S. 230. 72 73
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zierenden Lösungen zu kommen.79 In Wahrheit ist die Problematik aber nicht mit einem schlagwortartigen Hinweis auf die Rechtsscheinhaftung zu bewältigen, sondern nur unter Einsatz des gesamten vom geltenden Recht zur Verfügung gestellten Instrumentariums und unter genauester Herausarbeitung der jeweiligen, durchaus nicht einheitlichen Vertrauenslage. Dementsprechend ist als erstes stets zu prüfen, ob nicht schon die Regeln der Rechtsgeschäftslehre zu einer Haftung des Einmanns bzw. der Muttergesellschaft führen. Dies ist z. B. dann der Fall, „wenn ein Alleingesellschafter nach außen hin im Geschäftsverkehr den Anschein erweckt, als wolle er sich selbst verpflichten, während in Wirklichkeit sein Wille nur auf Verpflichtung der von ihm vertretenen Einmanngesellschaft gerichtet ist“;80 denn die „objektive“ oder „normative“ Auslegung führt hier zur Annahme eines Eigengeschäfts des Gesellschafters, und da § 164 II BGB zudem die – an sich nach § 119 I BGB mögliche – Irrtumsanfechtung ausschließt, besteht für eine Rechtsscheinhaftung weder Bedürfnis noch Raum.81 Aber auch wenn eindeutig ein Fremdgeschäft gegeben ist, scheidet eine rechtsgeschäftliche Bindung keineswegs ohne weiteres aus. Vielmehr wird hier in der Erweckung des „Anscheins persönlicher Haftung“ nicht selten eine konkludente Interzessionserklärung zu sehen sein, wie sie das RG z. B. im soeben erörterten Heizanlagenfall als naheliegend angesehen hat, und daher sind Garantievertrag, kumulative Schuldübernahme, Kreditauftrag und Bürgschaft stets genau zu prüfen. [368] Versagen die rechtsgeschäftlichen Lösungsmöglichkeiten, so sind als zweites die Mittel der Rechtsscheinlehre heranzuziehen. Insoweit ist zunächst an die Ausführungen oben § 15 III zu erinnern. Wie dort dargelegt, kann nämlich eine gesamtschuldnerische Haftung dadurch ausgelöst werden, daß in zurechenbarer Weise der Anschein einer rechtlichen Einheit zwischen der Einmanngesellschaft und ihrem Alleingesellschafter oder zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft hervorgerufen worden ist. – In Betracht kommt weiter, daß der Rechtsschein erzeugt wurde, als gehörten bestimmte Haftungsobjekte statt zum Vermögen des Einmanns oder der Muttergesellschaft zu dem der Einmanngesellschaft bzw. der Tochtergesellschaft; man denke etwa daran, daß sie fälschlich in eine – dem Gläubiger zugänglich gemachte – Bilanz aufgenommen worden sind. Nimmt dieser daraufhin eine Disposition vor, gewährt er also insbesondere einen Kredit,
79 Charakteristisch etwa Drobnig aaO.; tief in die Problematik eindringend und auch methodisch gut abgesichert dagegen jetzt Rehbinder, Konzernaußenrecht und allgemeines Privatrecht, 1969, S. 311 ff. 80 Vgl. Kreifels GmbHRdsch. 56, 81. 81 Unrichtig daher Kreifels aaO. sowie Griebel aaO. S. 102; irrig auch Schilling in Hachenburg, GmbHG, 6. Aufl., 1956, Anh. zu § 13 Anm. 7 = S. 345, der in derartigen Fällen offenbar nur Ansprüche aus culpa in contrahendo gewähren will.
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so unterliegen jene Gegenstände seinem Zugriff.82 Möglich, wenn auch wenig wahrscheinlich ist schließlich noch, daß ein bestimmtes Verhalten – u. U. auch ein bloßes Schweigen – des Alleingesellschafters bzw. der Muttergesellschaft objektiv als Ausdruck einer Interzessionserklärung zu deuten war, daß aber das Erklärungsbewußtsein fehlte und daß dieser Mangel nach den oben § 20 entwickelten Regeln über die Rechtsscheinhaftung „kraft verkehrsmäßig typisierten Verhaltens“ oder „kraft kaufmännischen Betriebsrisikos“ überbrückt wird. Insgesamt ist indessen der Anwendungsbereich der Rechtsscheinhaftung hier erheblich kleiner, als die h. L. offenbar annimmt. Diese dürfte dabei vor allem nicht genügend beachten, daß unabdingbare Voraussetzung stets der Schein einer bestimmten Rechtslage ist.83 So fehlt es z. B. entgegen der Meinung des BGH84 in den Fällen der Vermögensvermischung regelmäßig schon an dem erforderlichen Scheintatbestand; denn hier liegt meist nicht mehr vor, als daß das Vermögen des Alleingesellschafters und das der Einmanngesellschaft in einer Weise miteinander „vermischt“ worden sind, die es dem Außenstehenden unmöglich macht zu erkennen, welcher Gegenstand zu welcher Masse gehört – wohingegen die Rechtsscheinhaftung voraussetzen würde, daß der Anschein erweckt worden ist, die fraglichen Gegenstände seien rechtlich gerade dem Schuldner, hier also der Gesellschaft zugeordnet. – Weiterhin dürfte die h. L. verkennen, daß es einen Rechtsschein immer nur hinsichtlich einer gegenwärtigen Rechtslage geben kann83, und daß dementsprechend hinsichtlich einer in der Zukunft liegenden Maßnahme, also etwa hinsichtlich einer für den Fall von Liquiditätsschwierigkeiten in Aussicht gestellten [369] finanziellen Unterstützung der abhängigen Gesellschaft oder hinsichtlich eines freiwilligen Eintreten für deren Schulden, eine Rechtsscheinhaftung von vornherein ausscheidet. – Schließlich verdient in diesem Zusammenhang auch noch Hervorhebung, daß es keinen „Rechtsschein der Kreditwürdigkeit“ gibt;85 denn wer lediglich den abstrakten Eindruck hervorruft, ein anderer habe eine ausreichende Haftungsgrundlage, der erweckt damit noch nicht den Anschein, daß diesem ein bestimmter Vermögensgegenstand zugeordnet ist, und er setzt daher keinen Rechtsschein. Da demnach mit der Rechtsscheinhaftung hier nicht sonderlich viel zu erreichen ist, kommt der Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens erhöhte 82 Vgl. näher oben § 7 V a. E. sowie zur Möglichkeit von Vollstreckungsmaßnahmen unten § 42 II 2 a. E.; zu beachten ist insoweit, daß im Handelsrecht u. U. auch für die unwissentliche Schaffung eines Rechtsscheins gehaftet wird, vgl. § 20. 83 Vgl. dazu näher unten §§ 39 III, 44 I. In besonders charakteristischer Weise wird dieses Erfordernis von Pinner JW 26, 1483 f. verkannt. 84 Vgl. WM 58, 460 (462). Der BGH versucht diesen Fehler i. E. wieder rückgängig zu machen, indem er zusätzlich bestimmte subjektive Erfordernisse aufstellt, die jedoch, ginge es hier wirklich um Rechtsscheinhaftung, systemwidrig wären. 85 Richtig daher insoweit BGHZ 12, 105 (2. Leits. und S. 110); vgl. zu dem Urteil im übrigen unten § 42 Fn. 22.
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Bedeutung zu. Sie kann entsprechend dem unter Ziff. 1 Gesagten zunächst dann eingreifen, wenn der Gläubiger irrtümlich vom Bestehen einer Interzessionserklärung ausgegangen ist, während diese in Wahrheit an der Verletzung einer Formvorschrift, am Mangel des Erklärungsbewußtseins oder sogar am Fehlen eines entsprechenden objektiven Tatbestandes86 gescheitert ist. Praktisch weit wichtiger und auch charakteristischer für die vorliegende Problematik sind indessen jene Fälle, in denen der Gläubiger sich nicht in einem derartigen Irrtum befindet, sondern die wahre Rechtslage, d. h. das Fehlen einer wirksamen Bürgschaft oder dgl. durchaus erkennt, sich aber gleichwohl zu einem Kredit an das beherrschte Unternehmen bereitfindet und dabei auf die Zusicherung vertraut, man werde jenes schon absichern, stünde hinter ihm,87 habe selbst schließlich auch ein Interesse an der Durchführung des Geschäfts usw. usw. Insoweit ist zunächst noch einmal mit Nachdruck zu betonen, daß ein derartiges Vertrauen, das sich nur auf die freiwillige Einhaltung der Versprechungen richtet, grundsätzlich keinen Schutz verdient: caveat creditor!88 Indessen darf man nicht übersehen, daß jedenfalls in den Konzernfällen von diesem Grundsatz häufig eine Ausnahme zu machen ist, weil die Funktionsfähigkeit der Privatautonomie gestört ist. Hier ist es nämlich nicht selten völlig unrealistisch zu erwarten, daß etwa der „kleine“ Lieferant gegenüber dem „großen“ Konzern,89 auf dessen Aufträge er angewiesen ist, auf einer Bürgschaft der Muttergesellschaft besteht und deren Verweigerung mit dem Verzicht auf den fraglichen Vertragsschluß beantwortet – ein Verhalten, das insbesondere wegen der Möglichkeit eines Abbruchs der Geschäftsbeziehungen durch den Konzern eine unzumut- [370] bare Selbstgefährdung darstellen würde. Dann aber – freilich auch nur dann90 – ist in der Tat der Weg für eine VertrauensVgl. insoweit oben Fn. 73. Vgl. z. B. BGH WM 61, 1103 (1106), wo in einer solchen Formulierung mit Recht keine rechtsgeschäftliche Verpflichtungserklärung gesehen wurde. 88 Vgl. oben S. 364 f. Klar erkannt ist diese Problematik bei Rehbinder aaO. S. 312 und S. 324, der freilich anders als hier die Heranziehung des Verbots widersprüchlichen Verhaltens ablehnt, vgl. S. 319 f. 89 Es geht also wieder um das „Überlegenheitsargument“! 90 Keinesfalls dürfen der grundsätzliche Vorrang privatautonomen Selbstschutzes und das daraus folgende Caveat-creditor-Prinzip leichthin mißachtet werden. Daher ist es i. E. zu billigen, daß der BGH im „Rektorfall“ BGHZ 45, 204 nicht mit einer Vertrauenshaftung gearbeitet hat; denn was die Kl. hier hindern sollte, von dem Bekl., der sich „auf seine Stellung als Rektor sowie auf seinen guten Ruf und Namen berufen“ hatte (S. 209), eine Bürgschaft oder dgl. zu verlangen, ist nicht ersichtlich (richtig daher S. 210). In Betracht käme in derartigen Fällen allenfalls, daß der Kommanditist den Rechtsschein erweckt, er wäre Komplementär, doch war das hier nicht der Fall gewesen. – Höchst unklar und äußerst bedenklich ist dagegen das Urteil des LG Mainz GmbHRdsch. 60, 26. Eine Vertrauenshaftung wäre hier auf jeden Fall abzulehnen gewesen; denn eine Rechtsscheinhaftung scheiterte schon am Fehlen eines objektiven Scheintatbestandes, und eine Erfüllungshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens schied deshalb von vornherein aus, weil von dem Kl. – einem Juristen! – hier ohne weiteres zu erwarten gewesen wäre, sich rechtsgeschäftlich abzusichern. 86 87
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haftung frei, und es kann sich nur noch fragen, ob auch deren übrige Voraussetzungen gegeben sind. Auch insoweit ist nun die Lage für den Vertrauenden hier verhältnismäßig günstig. Denn mag sich auch das Vorliegen eines dolus praeteritus, das wie immer zur Begründung einer Haftung genügen würde, regelmäßig nicht nachweisen lassen, so werden doch die Merkmale des venire contra factum proprium nicht selten erfüllt sein. Angesichts der Verflochtenheit zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft liegt es nämlich einigermaßen nahe, daß jene aus dem Vertrag einen „Vorteil“ erlangt hat, den sie „behalten kann“, und wenn man nun noch hinzunimmt, daß die Zurechenbarkeitselemente auf ihrer Seite regelmäßig sehr stark sind,91 so wird deutlich, daß die Muttergesellschaft bei Zahlungsunfähigkeit der Tochter92 hier in der Tat nicht selten auf Grund des Verbots widersprüchlichen Verhaltens für das von ihr erweckte Vertrauen93 wird einstehen müssen. Im praktischen Ergebnis bedeutet dies, daß sie auf Erfüllung haftet;94 denn es geht hier ja [371] um einen Tatbestand „positiven Vertrauensschutzes“, und der Gläubiger muß daher so gestellt werden, als wäre sein Vertrauen berechtigt gewesen. Als letztes bleibt schließlich – abgesehen von den in diesem Zusammenhang nicht zur Erörterung stehenden Regeln über den „institutionellen Rechtsmißbrauch“ oder über den „Durchgriff“ – die Möglichkeit einer Schadensersatzhaftung. Auch für diese dürfte der Lehre von der Vertrauenshaftung erhebliche Bedeutung zukommen. So kann man z. B. an die Regeln über die Haftung des Stellvertreters aus culpa in contrahendo oder auch an die Grundsätze über die Haftung für falsche Auskünfte anknüpfen, um einen Anspruch gegen die Muttergesellschaft zu begründen, wenn diese in die Vertragsverhandlungen maßgeblich eingegriffen und dabei die Leistungsfähigkeit oder die Kreditwürdigkeit ihrer Tochter durch ausdrückliche Erklärungen oder auch nur durch konkludentes Verhalten unrichtig 91 Zur Argumentationsweise vgl. grundsätzlich oben § 27 III 2 sowie unten § 43 II 1. Von Bedeutung für die Bewertung der Zurechnungsfaktoren ist vor allem, daß die Beruhigungserklärung häufig bewußt unklar gehalten und hart an der Grenze zu einer rechtsgeschäftlichen Verpflichtungserklärung formuliert wird; auch ist insoweit zu beachten, daß die Zwangslage des Gläubigers meist für die Muttergesellschaft offenkundig ist und nicht selten von dieser geradezu ausgenutzt wird. 92 Diese Haftung ist also – anders als die Rechtsscheinhaftung – nur subsidiär; denn solange der Hauptschuldner zahlungsfähig ist, kann es nicht als „widersprüchlich“ angesehen werden, wenn das beherrschende Unternehmen seine Einstandspflicht ablehnt. 93 Dieses muß sich natürlich wie immer auf irgendeinen Vertrauenstatbestand, also z. B. eine „Beruhigungserklärung“ oder dgl. stützen. Ein solcher kann auch durch konkludentes Verhalten hervorgerufen werden, doch genügt dafür noch nicht, daß die Muttergesellschaft in früheren Fällen oder gegenüber anderen Gläubigern Schulden der Tochtergesellschaft beglichen hat; denn daraus kann nicht auf den Willen geschlossen werden, nun ganz allgemein so zu verfahren. 94 Anders Rehbinder aaO. S. 328 f. in folgerichtiger Durchführung seiner Ablehnung eines anspruchsbegründenden venire contra factum proprium.
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dargestellt hat.95 Auch lassen sich aus dem Vertrauensgedanken Schadensersatzansprüche für jene Fälle entwickeln, in denen die freiwillige Erfüllung von Verbindlichkeiten oder [372] die Erhaltung der Liquidität des Schuldners in Aussicht gestellt wurde, in denen aber die oben herausgearbeiteten Voraussetzungen einer Erfüllungshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens nicht gegeben sind.96 Diese Fragen gehören indessen, da es um Schadensersatzansprüche und also um „negativen Vertrauensschutz“ geht, nicht mehr zum eigentlichen Gegenstand dieses Buches97 und sind daher hier nicht im einzelnen zu untersuchen.98
95 Grundlegend Kronstein, Die abhängige juristische Person, 1931, S. 77 ff. (überholt freilich die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs auf S. 79); z. T. ähnlich Kalbe, Herrschaft und Haftung bei juristischen Personen, Diss. Heidelberg 1965, S. 51 ff.; ablehnend Hamburger, Schuldenhaftung für Konzerngesellschaften, 1932, S. 22 ff (26 ff.), dessen enge Begrenzung der Haftung aus culpa in contrahendo jedoch spätestens seit der Arbeit von Ballerstedt AcP 151, 501 ff. als überwunden angesehen werden muß. Viel zu weitgehend dagegen die Konstruktion einer „Erklärungshaftung“ durch Erman KTS 59, 129, der auf zu heterogenen dogmatischen Grundlagen aufbaut und im übrigen auch an dem – von ihm durchaus gesehenen, aber nicht hinreichend widerlegten – Einwand der Fiktion scheitern muß. 96 Insoweit tritt die von Rehbinder aaO. S. 320 ff., 328 f. entwickelte Schadensersatzhaftung ergänzend neben die im Text vorgeschlagene Erfüllungshaftung. 97 Vgl. das Vorwort und § 2 II a. E.; vgl. aber immerhin unten § 44 I 2 bei Fn. 15. 98 Außerhalb der hier erörterten Thematik liegt auch die Problematik der „Unterkapitalisierung“ (vgl. zuletzt Hofmann NJW 66, 1941 ff.; Wiedemann in: Die Haftung des Gesellschafters in der GmbH, 1968, S. 5 ff.; Kamprad, Gesellschafterdarlehen an die GmbH als verdeckte Stammeinlagen, 1968, und dazu Steindorff ZHR 132, 280 ff.). Soweit es dabei um den Ausschluß der Rückforderung von Gesellschafterdarlehen bzw. um deren Rücktritt im Konkurs geht, mag zwar in der Tat dem Verbot des venire contra factum proprium maßgebliche Bedeutung zukommen (vgl. BGHZ 31, 258, 272 f.; Kuhn aaO. S. 100 f.), doch handelt es sich insoweit um einen bloßen Anspruchsverlust und also nicht um Vertrauenshaftung im hier verwandten Sinn des Worts (vgl. oben § 1 II). Soweit dagegen die Einforderung des zu Unrecht zurückgezahlten Darlehens durch den Konkursverwalter in Frage steht, geht es zwar um eine „Haftung“ (i. S. einer Anspruchsbegründung), doch liegt deren tragender Grund nicht im Vertrauensgedanken – gleichgültig, ob man die §§ 30, 31 I GmbHG oder § 342 HGB analog anwendet, ob man der GmbH einen Anspruch aus § 812 gegen den Gesellschafter gibt (die Rückzahlung erfolgte wegen der Einwendung aus § 242 BGB rechtsgrundlos und § 814 BGB ist seiner ratio nach insoweit nicht anwendbar) oder ob man die Problematik in einer Lehre vom Organisationsmangel aufgehen läßt. Auch im übrigen ist, sofern nicht zufällig die im Text behandelten besonderen Verpflichtungsgründe durchgreifen, kein Ansatzpunkt für einen „positiven Vertrauensschutz“ erkennbar (zur weitergehenden Ansicht Ermans vgl. soeben Fn. 95 a. E.).
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Dritter Abschnitt Die Vertrauenshaftung kraft Erwirkung „Wenn man dem venire contra factum proprium außer einer rechtsvernichtenden auch eine rechtsbegründende Funktion zuerkennt, dann ist es ein Gebot der Konsequenz, auch die Regeln über die Verwirkung entsprechend weiterzubilden; denn diese stellt anerkanntermaßen nur einen Unterfall des Verbots widersprüchlichen Verhaltens dar oder ist zumindest ein damit auf das engste verwandtes Institut.1 Folglich kann man ein Recht nicht nur verwirken, sondern umgekehrt auch „erwirken“2 – so ungewohnt diese Vorstellung für die herkömmliche Dogmatik zunächst auch sein mag.3 Im einzelnen ist folgerichtig auf die Ausführungen des letzten Abschnitts und die dort erarbeiteten Grundsätze über die „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“ zu verweisen. Demgemäß ist auch die „Erwirkung“ systematisch in die Vertrauenshaftung und innerhalb derselben in die „Erfüllungshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit“4 einzuordnen,5 und folglich gelten auch für sie die oben entwickelten allgemeinen Tatbestandsmerkmale. Daher ist für einen Anspruch aus „Erwirkung“ stets erforderlich, daß ein Vertrauenstatbestand gegeben war, daß auf [373] seiten des Haftenden die Zurechnungsvoraussetzungen des Verschuldens- oder des Risikoprinzips erfüllt sind, daß der „Erwirkende“ gutgläubig war und sich auf die vermeintliche Lage eingerichtet hat bzw. daß insoweit wenigstens eine ausreichende Wahrscheinlichkeit besteht,6 sowie schließlich, daß nur ein Anspruch auf Erfüllung, nicht aber auch ein Ausgleich mit Hilfe 1 Vgl. dazu z. B. Siebert-Knopp § 242 Rdz. 281; Enn.-Nipperdey § 228 IV 2, jeweils m. Nachw.; ablehnend jetzt Bydlinski S. 186 f. 2 Der Terminus findet sich, soweit ersichtlich, zuerst bei Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung, 1934, S. 246, der ihn aber nur ganz beiläufig gebraucht. Im übrigen spielt er im Anschluß an die Entscheidung BAGE 5, 44 (47) seit kurzem im Arbeitsrecht eine gewisse Rolle, vgl. vor allem Hanau AcP 165, 261 f. und Seiter, Die Betriebsübung, 1967, S. 72, 92 ff., 99 ff. und dazu unten § 31 II 3 und III sowie § 32 III. 3 Mitunter finden sich freilich Wendungen wie „Verwirkung einer Einwendung“ (so schon Riezler S. 164) oder „Verwirkung der Möglichkeit, sich auf Mängel eines Rechtsgeschäfts zu berufen“ (so selbst ein so strenger Systematiker wie Flume, vgl. § 10, 3 d; vgl. ferner z. B. im Hinblick auf Formmängel BAGE 8, 38, 47; A. Hueck DB 68, 1210); mag damit der Sache nach auch Richtiges gemeint sein, so ist die dogmatische Unhaltbarkeit einer derartigen Terminologie doch offenkundig. 4 Zur Terminologie vgl. oben S. 271. 5 Damit stimmt überein, daß auch für die Verwirkung die Verbindung mit dem Vertrauensgedanken ganz überwiegend als wesentlich angesehen wird; vgl. z. B. Enn.-Nipperdey § 228 IV 2; Larenz A. T. § 19 III b; Fikentscher § 27 II 3 a; Siebert aaO. S. 246 f.; Eichler S. 35; Steindorff SAE 65, 155; Lenz S. 34 f.; Bydlinski S. 187; ablehnend Krause S. 192 ff. 6 Diese genügt hier ebenso wie sonst, vgl. dazu z. B. oben S. 347 sowie allgemein unten § 40 III 2 a. E.
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von Schadensersatz- oder Bereicherungsansprüchen eine mit Treu und Glauben zu vereinbarende Lösung darstellt.7 Hinzukommen muß weiter entsprechend der Eigenart der an die Verwirkung anknüpfenden Problematik ein mehr oder weniger langer Zeitablauf, der insoweit den typusbildenden Umstand darstellt. Dieser spielt hier dieselbe Rolle wie bei der „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“ der Eintritt eines „irreversiblen“ Ereignisses:8 er läßt es als rechtsethisch untragbar erscheinen, sich jetzt noch auf die „eigentliche“ Rechtslage zu „berufen“ und dadurch das Vertrauen des anderen Teils zu enttäuschen. Im übrigen aber beeinflußt der Zeitfaktor auch das Gewicht der anderen Kriterien; denn je mehr Zeit vergeht, desto stärker wird regelmäßig der Vertrauenstatbestand, desto umfangreicher das Ausmaß der Dispositionen (bzw. desto größer die entsprechende Wahrscheinlichkeit) und desto höher der Grad der Zurechenbarkeit. Eine abschließende Festlegung der Tatbestandsmerkmale ist freilich hier sowenig möglich wie bei der Verwirkung oder bei der Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens: wieder entscheidet das „bewegliche Zusammenspiel“ der einzelnen Faktoren „je nach Zahl und Stärke“, und wieder läßt sich die Rechtsfolge letztlich nur im Hinblick auf den konkreten Einzelfall bestimmen.9[374] Zur Veranschaulichung und zur Klärung der Einzelheiten sei im folgenden das einschlägige, freilich z. T. noch recht spärliche Rechtsprechungsmaterial analysiert.10 Dabei ist zunächst die allgemeine, in den §§ 27–29 für das venire contra
7 Bei der Verwirkung ist die Möglichkeit, auf dem – regelmäßig wesentlich gesetzesnäheren! – Weg des Schadens- oder Aufwendungsersatzanspruchs zu sachgerechten Ergebnissen zu kommen, bisher nicht hinreichend beachtet worden; richtigerweise ist jedoch auch hier grundsätzlich eine besondere Prüfung zu verlangen, ob wirklich gerade nur der Anspruchsverlust, nicht aber auch eine andere, weniger einschneidende Rechtsfolge mit Treu und Glauben vereinbar ist. Dies kann z. B. für die Frage, ob das Wandlungsrecht schon durch die bloße Ingebrauchnahme einer Sache in Kenntnis des Sachmangels verwirkt wird (vgl. dazu z. B. RGZ 145, 79, 83; Krause S. 58 m. Nachw. in Fn. 211 und S. 166), von praktischer Bedeutung sein, da Schadensersatzund Nutzungsansprüche insoweit einen durchaus angemessenen Ausgleich darstellen dürften (vgl. freilich auch die Wertung der §§ 351–353 BGB); ähnliches gilt für die Rücknahme eines Rechtsmittels (vgl. dazu OLG Naumburg JW 1930, 3866 und Krause S. 166) oder für die verspätete Geltendmachung einer Einrede wie z. B. der der Verjährung: ist der andere Teil dadurch zu Dispositionen veranlaßt worden, so wird regelmäßig ein Aufwendungsersatzanspruch einen ausreichenden Schutz darstellen, so daß der Verlust des Rechtsmittels bzw. der Einrede keineswegs von § 242 BGB gefordert wird. Allerdings bereitet insoweit die Frage der Rechtsgrundlage mitunter Schwierigkeiten, doch wird man meist auf Ansprüche wegen „Schutzpflichtverletzung“ (c. i. c. oder pVV.) oder auf eine analoge Anwendung des § 122 BGB bzw., soweit Prozeßkosten entstanden sind, des § 93 ZPO zurückgreifen können. 8 Vgl. zu dessen Bedeutung schon oben S. 288 sowie zusammenfassend unten S. 531. 9 Zu der hier zugrunde liegenden Konzeption eines „beweglichen Systems“ vgl. als Ausgangspunkt oben § 27 III 2 sowie allgemein unten § 43 II 1. 10 Die Verwirkung im Warenzeichenrecht (vgl. statt aller Siebert-Knopp § 242 Rdzn. 309 ff.) stellt trotz einer gewissen Verwandtschaft keinen Fall der „Erwirkung“ dar. Denn der Verletzer eines fremden Zeichens erwirbt dadurch, daß der Unterlassungsanspruch des Berechtigten
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factum proprium eingehend erörterte Problematik darzustellen, die sich ergibt, wenn sich das Vertrauen auf das Bestehen einer bestimmten Rechtslage richtet; im Anschluß daran sind dann die besonderen, in § 30 näher herausgearbeiteten Fragen zu untersuchen, die sich stellen, wenn die Erwartungen des Vertrauenden lediglich dahingehen, daß ein anderer freiwillig eine bestimmte Leistung erbringen wird.
verwirkt ist, noch nicht seinerseits das Recht; im Gegenteil: die Eintragung des Zeichens ist ihm nach wie vor verwehrt (vgl. zuletzt BGH GRUR 69, 694).
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§ 31 Erwirkung als anspruchsbegründendes Merkmal bei Vertrauen auf das Bestehen einer bestimmten Rechtslage Ebenso wie bei der Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens ist auch bei der Erwirkung der nächstliegende, weil dem echten Arglisteinwand am engsten verwandte Fall der, daß die „Berufung“ auf die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts gemäß § 242 BGB versagt wird. I. Die Erwirkung als Mittel des Vertrauensschutzes bei nichtigen Rechtsgeschäften Da das Verbot des venire contra factum proprium, wie in den §§ 27 f. dargelegt, grundsätzlich gegenüber jedem Nichtigkeitsgrund durchgreifen kann, vermag auch die Erwirkung Schutz vor Wirksamkeitsmängeln aller Art zu gewähren. Selbstverständlich bedarf es aber auch hier stets einer sehr sorgfältigen Prüfung, ob der Schutzzweck der fraglichen Norm im Einzelfall wirklich hinter den rechtsethischen Geboten zurücktreten muß. 1. Erhöhte Zurückhaltung ist insoweit wie immer vor allem beim Vorliegen eines Formmangels i. S. von § 125 S. 1 BGB angebracht. Sofern aber besondere Umstände wie etwa eine die gesamte persönliche oder wirtschaftliche Existenz ergreifende „Vertrauensinvestition“ gegeben sind, ist auch hier eine Erwirkung durchaus denkbar.1 Als Beispiel2 sei das erste Hofübergabeurteil des BGH genannt, bei dem nicht ein bestimmtes Ereignis, sondern lediglich die Länge des Zeitablaufs die „Irreversibilität“ der eingetretenen Entwicklung begründete und in dem es daher der Sache nach um die Problematik der Erwirkung ging;3 auch den Kleinsiedler- [375] fall4 könnte man streng genommen in diesen Zusammenhang einordnen, sofern man als entscheidend nicht schon den bloßen Umzug in die neue Wohnung ansieht, sondern, wie das allein richtig sein dürfte, erst die „Verwurzelung“ in dem neuen „Lebenskreis“, die ja einen gewissen Zeitablauf voraussetzt.5 Selbst bei wiederkehrenden Leistungen können Fälle einer Erwirkung vorkommen. So mag man etwa daran denken, daß sich der Empfänger eines nach 1 Ausnahmslos gegen die Möglichkeit einer Erwirkung insoweit Wiedemann NJW 68, 772, der jedoch die enge Verwandtschaft zwischen der Erwirkung und dem – gegenüber § 125 BGB jedenfalls u. U. vorrangigen – venire contra factum proprium nicht genügend berücksichtigt. 2 Vgl. ferner BGH LM Nr. 1 zu § 105 PreußAllgBergG (Bl. 53 Rücks.). 3 Vgl. oben S. 359 mit Fn. 38. 4 Vgl. oben S. 290. 5 Es ist daher i. E. zutreffend, daß der BGH im Gemeindewohnungsfall WM 66, 89 u. a. auch auf die Länge der verflossenen Zeit abgestellt hat, vgl. dazu oben S. 307.
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§ 518 I oder § 761 BGB formnichtigen Rentenversprechens in seiner gesamten Lebensführung auf die Fortdauer der längere Zeit hindurch anstandslos erbrachten Zahlungen eingerichtet hat und nunmehr – z. B. wegen Alters oder Krankheit – nicht mehr in der Lage ist, anderweitig für die Sicherung seiner Existenz zu sorgen; sind hier die Zurechnungselemente stark, hat also der Versprechende z. B. den Mangel von Anfang an gekannt oder nur infolge grober Fahrlässigkeit verkannt oder hat er ihn erst ungebührlich spät nach seiner Entdeckung geltend gemacht, und kommen vielleicht sogar noch zusätzliche Umstände wie die Rücksichtnahme auf sittliche oder verwandtschaftliche Pflichten hinzu, so kann es durchaus eine „rechtsethische Notwendigkeit“ sein, trotz des Formmangels eine Bindung auch für die Zukunft zu bejahen.6 2. Bei anderen Mängeln hat der Schutzzweck der verletzten Norm meist geringeres Gewicht. Das gilt vor allem dann, wenn die fragliche Rechtsfolge ohne weiteres durch eine entsprechende Parteierklärung herbeigeführt werden könnte wie z. B. bei der Genehmigung oder bei der Vollmacht. Charakteristisch für die Problematik der ersteren ist insbesondere7 der „Teilerbauseinandersetzungsfall“ BGH LM Nr. 3 zu § 1829 BGB. Hier war vor Jahrzehnten einem von mehreren Miterben das väterliche Handelsgeschäft bei einer Teilerbauseinandersetzung gegen Abfindung übertragen worden, und außerdem war ihm das ebenfalls zum Nachlaß gehörende Betriebsgrundstück langfristig verpachtet worden. Dabei hatte für die damals noch minderjährigen Beklagten deren Mutter als gesetzliche Vertreterin mitgewirkt. Da die nach §§ 1643 I, 1822 Ziff. 3 BGB erforderliche Genehmigung des Vormundschaftsgerichts nicht eingeholt worden war, [376] machten die Bekl. die Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte geltend. Der BGH trat dem mit der Begründung entgegen, die Bekl. setzten „sich damit, nachdem beide Verträge viele Jahre, fast ein Menschenalter, ohne wesentliche Reibungen durchgeführt sind, mit ihrem früheren Verhalten in Widerspruch“ (Bl. 1033 Vorders.); denn sie seien schon seit Jahrzehnten volljährig und daher gemäß § 1829 III BGB selbst für die Genehmigung zuständig gewesen. Ihrer „Berufung auf die Nichtigkeit oder Unwirksamkeit des Vertrages“ stünde folglich der „Einwand“ der „unzulässigen Rechtsausübung“ entgegen.
6 Vgl. auch BAGE 8, 38 (46 f.) = AP Nr. 2 zu § 518 BGB (m. zustimmender Anmerkung von A. Hueck), wo jedoch die im Text herausgearbeiteten maßgeblichen Umstände nicht hinreichend geprüft worden sind, so daß die Abweisung der Klage nicht voll überzeugt. 7 Vgl. ferner die obiter dicta in RGZ 130, 39 (46) und 137, 324 (339), die Fälle RGZ 104, 413 (415) und 160, 225 (235) (vgl. oben § 28 III) sowie vor allem OGHZ 1, 279, wo es in mancher Hinsicht ähnlich lag wie in dem im Text behandelten Fall. Die Lösung des OGH, lediglich dem Berichtigungsanspruch mit der Arglisteinrede zu begegnen, ist wenig befriedigend, da sie dem Bekl. noch auf viele Jahre die volle Eigentümerstellung vorenthält, wohingegen dieser nach der hier vertretenen Ansicht einen Genehmigungsanspruch aus Erwirkung hätte; problematisch war hier allerdings, ob der Bekl. nicht die wahre Rechtslage kannte (vgl. S. 284 f.) und ob die dann zu stellenden zusätzlichen Voraussetzungen (vgl. oben § 30 und unten § 32) vorlagen.
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Diese Konstruktion des BGH ist nun allerdings dogmatisch unhaltbar; denn bekanntlich bedarf es einer „Berufung“ auf die Nichtigkeit eines Vertrages überhaupt nicht, und demgemäß ist auch ein „Einwand“ gegen diese sinnlos. Konstruktiv gesehen geht es vielmehr darum, den Kl. trotz der Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts ebenso zu stellen wie bei dessen Gültigkeit, d. h. ihm eine „eigentlich“ nicht gegebene Rechtsposition zuzuerkennen. Da dafür aber, wie auch der BGH mit Recht betont, ein entscheidender Grund in der Länge der seit dem Vertragsschluß verflossenen Zeit zu sehen ist, handelt es sich hier der Sache nach um ein geradezu klassisches Beispiel der Erwirkung. In der Tat sind nämlich auch deren sonstige Voraussetzungen erfüllt. Denn der Kl. hatte sich im Vertrauen auf die Gültigkeit des Vertrages in seiner beruflichen Existenz „eingerichtet“, indem er das Geschäft übernommen und offenbar jahrzehntelang geführt hatte. Auch war den Bekl. die entstandene Lage zurechenbar, da ihnen die frühzeitige Aufdeckung der Nichtigkeit grundsätzlich möglich war8 und da sie seit Eintritt ihrer Volljährigkeit auch die erforderliche Zurechnungsfähigkeit besaßen. Mögen die Zurechnungselemente auf ihrer Seite auch verhältnismäßig schwach sein, so steht dem doch als Ausgleich die ungewöhnliche Länge der verflossenen Zeit und das erhebliche Ausmaß der Dispositionen gegenüber. Nimmt man nun noch hinzu, daß die Beeinträchtigung der gesetzlichen Schutzzwecke angesichts der Regelung des § 1829 III BGB nicht besonders schwer wiegt, so wird man es in der Tat als „rechtsethische Notwendigkeit“ ansehen müssen, den Kl. in seinem Vertrauen zu schützen. Ein in mancher Hinsicht verwandtes Beispiel einer Erwirkung stellt der „Prokuristenpensionsfall“ BAG AP Nr. 1 zu § 242 BGB (Geschäftsgrundlage) dar. In diesem war dem Kl., dem Prokuristen der bekl. Wohnungsbaugesellschaft, bei seinem Ausscheiden „in Anbetracht der langjährigen treuen Dienste“ eine Altersunterstützung von DM 100,monatlich versprochen worden; außerdem hatte er die Zusage erhalten, er dürfe seine bisherige, der Bekl. gehörende Wohnung zu einer Monatsmiete von DM 50.- auf Lebenszeit beibehalten. Dieses Abkommen war mit einem Aufsichtsratsmitglied der Bekl., das zugleich Vorstandsmitglied der Muttergesellschaft war, ausgehandelt und vom Geschäftsführer sowie dem Kl. selbst als den satzungsmäßigen Vertretern der Bekl. unterschrieben worden. Nachdem diese das Ruhegehalt über drei Jahre lang anstandslos gezahlt hatte, berief sie sich im Zusammenhang mit einer für den Kl. günstigen Umstellung einer anderweitigen Pension auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage, und im Verlauf des Prozesses stellte sich dann der Verstoß gegen § 181 BGB heraus. – Das BAG meinte, der Mangel sei inzwischen durch eine konkludente Genehmigung geheilt worden, wobei es [377] diese in der „jahrelangen, laufenden und unbeanstandeten Zahlung“ sah. Eine solche Konstruktion muß indessen schon daran scheitern, daß für die Parteien überhaupt kein
8 Zu den Problemen, die sich bei der hier in Frage stehenden Zurechnung eines Unterlassens ergeben, vgl. allgemein unten § 38 III 8.
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Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht Zweifel an der Gültigkeit des Abkommens bestand und daß es deshalb bereits am objektiven Tatbestand einer Genehmigung, die ja stets eine erkennbar genehmigungsbedürftige Rechtslage voraussetzt, fehlt; abgesehen davon aber lag natürlich auch das entsprechende Erklärungsbewußtsein nicht vor, da auch für dieses anerkanntermaßen zumindest Zweifel an der Wirksamkeit des fraglichen Rechtsgeschäfts erforderlich sind.
In Wahrheit ging es auch hier um die Problematik der Erwirkung. Für diese ist insoweit – außer der Länge der verflossenen Zeit – vor allem bedeutsam, daß die Pensionszahlung sowie der Verzicht der Bekl. auf einen Teil der Miete geeignet waren, den Lebensstandard des Kl. zu beeinflussen; es besteht also eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, daß dieser sich im Laufe der Zeit „in seiner Existenz“ auf die Gewährung der Vergünstigungen eingerichtet hatte. Es kommt hinzu, daß der Schutzzweck der verletzten Norm des § 181 BGB nur unwesentlich beeinträchtigt war; denn irgendeine Rechtsunklarheit war überhaupt nicht zu besorgen, und auch die Gefahr eines Interessenwiderstreits war angesichts der Tatsache, daß das Abkommen mit einem Aufsichtsratsmitglied ausgehandelt und vom Geschäftsführer mitunterzeichnet worden war, äußerst geringfügig. Gewisse Schwierigkeiten bereitet freilich die Zurechnung, da die Bekl. nach dem Ausscheiden des Kl. keinen neuen Prokuristen bestellte und daher überhaupt keine ausreichende satzungsgemäße Vertretung besaß,9 doch kann ein solcher „Organisationsfehler“, wie auch das BAG i. E. angenommen hat, ihrer Haftung nicht entgegenstehen.10 Problematisch war schließlich, worauf LARENZ mit Recht in der Anmerkung hingewiesen hat, ob der Kl. nicht bösgläubig war. Vermutlich war ihm die Regelung des § 181 BGB jedoch unbekannt oder zumindest nicht gegenwärtig, und daher verdiente er jedenfalls dann, wenn er kein Jurist war – darüber läßt sich aus dem Urteil nichts entnehmen – durchaus Schutz; denn das Aufsichtsratsmitglied und der Geschäftsführer waren mindestens ebenso „nahe daran“ wie er, den Mangel zu erkennen. Bei einer Gesamtabwägung der Umstände erscheint es daher in der Tat als ein Gebot von Treu und Glauben, dem Kl. auch für die Zukunft einen Anspruch auf Zahlung der Rente und Belassung der Wohnung zu dem niedrigen Mietzins zuzusprechen – zumal die Bekl. dadurch wirtschaftlich ungleich weniger getroffen wird als der Kl. durch den Verlust seiner Position. 3. In den Zusammenhang der Erwirkung gehören schließlich noch einige Entscheidungen des BGH zur Problematik der fehlerhaften Satzungsänderung im Vereinsrecht.11 [378]
Zur Maßgeblichkeit der Stellvertretungsvorschriften für diese Frage vgl. unten § 36 III. Vgl. allgemein unten S. 460. 11 Vgl. ferner den „Mutterlogenfall“ BGHZ 19, 51, in dem es um einen nichtigen, aber unter dem Druck des Nationalsozialismus jahrelang hingenommenen und z. T. auch durchgeführten Auflösungsbeschluß ging (vgl. dazu auch unten Fn. 16). 9
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In den beiden „Turnvereinsfällen“ BGHZ 16, 143 und BGHZ 23, 122 hatte sich das Vereinsleben viele Jahre lang unangefochten auf der Grundlage von Beschlüssen vollzogen, die wegen Verstoßes gegen § 33 I S. 2 BGB unwirksam waren und die entgegen § 71 I S. 1 BGB auch nicht in das Vereinsregister eingetragen worden waren. Zu der Änderung des Vereinszwecks i. S. von § 33 I S. 2 war es dabei nur auf Grund eines entsprechenden Druckes der nationalsozialistischen Machthaber gekommen. Der BGH führte aus, wenn einem Verein „von außen her die Änderung von Namen, Zweck und Satzung aufgezwungen .... (werde) und sämtliche Mitglieder die Durchführung dieser Änderungen längere Zeit widerspruchslos hinnehmen, so (sei) das unter normalen Verhältnissen in der Regel als Zustimmung zu werten“ (16, 143, Leitsatz). Er lehnte jedoch in beiden Fällen die Annahme einer Genehmigung ab, da die Mitglieder auf Grund der politischen Verhältnisse „nicht die Möglichkeit zur freien Entschließung“ hatten (23, 122, 1. Leitsatz). – Auch hier vermag der dogmatische Ansatz des BGH nicht zu befriedigen. Selbst „unter normalen Verhältnissen“ hat nämlich das Ausbleiben eines Widerspruchs gegen eine nach § 33 I S. 2 BGB unwirksame Satzungsänderung keineswegs typischerweise die Erklärungsbedeutung des Einverständnisses, und daher kann das Schweigen hier entgegen der Ansicht des BGH12 grundsätzlich nicht „als Zustimmung gewertet werden“; denn da die Vereinsmitglieder häufig gar keine Kenntnis von dem Einstimmigkeitserfordernis des § 33 I S. 2 haben werden, besteht keinerlei Wahrscheinlichkeit dafür, daß sie durch ihr Schweigen den Beschluß genehmigen wollen, und daher fehlt es schon am objektiven Tatbestand einer Zustimmung, so daß es auf die Frage des Erklärungsbewußtseins nicht einmal mehr ankommt. Abgesehen davon aber schließt § 33 I S. 2 Halbs. 2 die Annahme einer konkludenten Genehmigung durch Schweigen ohnehin aus, indem er die Zustimmungserklärung der nicht erschienenen Mitglieder dem Erfordernis der Schriftform unterwirft.13 Schließlich ist die Ansicht des BGH auch insofern unstimmig, als er das Schweigen – i. E. durchaus zutreffend! – nur dann als Zustimmung werten will, wenn längere Zeit oder sogar mehrere Jahre vergangen sind,14 während bei seiner Konstruktion folgerichtig nur der „unverzügliche“ oder der „binnen angemessener Frist“ erfolgte15 Widerspruch die Annahme des Einverständnisses verhindern dürfte.
Demgegenüber läßt sich die Problematik mit der Lehre von der Erwirkung ohne weiteres sach- und systemgerecht bewältigen. Danach genügt es freilich anders als bei der ganz im Banne der Rechtsgeschäftslehre stehenden Konstrukti12 Vgl. BGHZ 16, 143 (Leitsatz); 19, 51 (64); 23, 122 (131); 25, 311 (316); vgl. auch schon RG JW 1925, 237 (238 Sp. 1); aus dem Schrifttum vgl. z. B. Enn.-Nipperdey § 111 I 3 a. E.; SoergelSchultze.-v Lasaulx § 33 Rdz. 5; Palandt-Danckelmann § 33 Anm. 1 a. E. 13 Die im Schrifttum z. T. vertretene stark einschränkende Auslegung des § 33 I 2 Halbs. 2 (vgl. z. B. Soergel-Schultze-v. Lasaulx § 33 Rdz. 9 m. Nachw.) entbehrt einer hinreichenden Begründung. 14 Vgl. BGHZ 16, 143 (Leits.) bzw. BGHZ 25, 311 (2. Leits.). 15 Ähnlich wie z. B. beim Bestätigungsschreiben müßte es für die Länge der Frist darauf ankommen, bis zu welchem Zeitpunkt der Erklärungsadressat, hier also der Verein, mit dem Widerspruch rechnen durfte.
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on des BGH nicht, wenn die betreffenden Vereinsmitglieder lediglich während einer längeren Zeit geschwiegen haben. Hinzukommen muß vielmehr, daß sich der Verein im Vertrauen auf die Gültigkeit des Beschlusses „eingerichtet“ hat, daß sich also z. B. das Vereinsleben auf der Grundlage des unwirksamen Beschlusses abgespielt hat, und daß es nunmehr angesichts der eingetretenen Entwicklung und des Zeitablaufs [379] als untragbar erscheint, die entstandene Lage wieder rückgängig zu machen.16 Außerdem ist wie immer erforderlich, daß die Zurechnungsvoraussetzungen vorliegen. Daran – möglicherweise aber auch schon an einem Vertrauenstatbestand – fehlte es in den beiden Turnvereinsfällen, da den Mitgliedern die Erhebung eines Widerspruchs angesichts der politischen Verhältnisse nicht zuzumuten war, und daher hat der BGH i. E. richtig entschieden. Hätte diese besondere Lage dagegen nicht bestanden, so wären hier die Voraussetzungen der Erwirkung wohl in der Tat zu bejahen gewesen; die betreffenden Vereinsmitglieder wären dann verpflichtet gewesen, dem Beschluß nachträglich zuzustimmen,17 und der Herbeiführung einer – konstitutiven! – Eintragung in das Vereinsregister18 hätte somit nichts im Wege gestanden. Daß die Fiktion einer rechtsgeschäftlichen Zustimmung durch Schweigen, mit der der BGH die Problematik zu lösen versucht, auch im praktischen Ergebnis zu erheblichen Unterschieden gegenüber der hier vertretenen Ansicht und zu bedenklichen Konsequenzen führt, zeigt die dritte in den vorliegenden Zusammenhang gehörige Entscheidung des BGH. Im Fall BGHZ 25, 311 hatte die Mitgliederversammlung einer „Waldinteressentenschaft“, die eine nach preußischem Recht zu beurteilende, dem nicht-rechtsfähigen Verein sehr ähnliche Bruchteilsgemeinschaft darstellt, mit Mehrheit beschlossen, eine im gemeinsamen Eigentum stehende Parzelle zu veräußern. Ein Mitglied, das damit nicht einverstanden war, klagte daraufhin auf Feststellung der Unwirksamkeit des Beschlusses und brachte zur Begründung u. a. vor, daß eine Veräußerung nur auf Grund eines einstimmigen Beschlusses erfolgen dürfe. Der BGH unterstellte, daß diese Ansicht der ursprünglichen Rechtslage entsprach (S. 315), wies die Klage jedoch gleichwohl ab, weil die Miteigentümer durch eine einstimmig beschlossene Satzungsbestimmung eine abweichende Regelung treffen könnten und von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hätten; zwar habe der Kl. die fragliche Klausel nicht in diesem Sinne verstanden, doch sei „die jahrelange widerspruchslose Hinnahme ... als schlüssige Willenserklärung zu werten und sie (habe) diese Rechtswirkung oh16 Das war z. B. im Mutterlogenfall BGHZ 19, 51 jedenfalls insoweit ohne weiteres möglich, als über das Vermögen der Loge noch nicht verfügt worden war. Auch soweit dies geschehen war, ist jedoch entgegen der Ansicht des BGH (vgl. S. 65 f. und 67) nicht einzusehen, warum die Maßnahmen des Liquidators trotz der Nichtigkeit seiner Einsetzung (S. 67) ohne weiteres als wirksam anzusehen sein sollen; die Vorschriften über den gutgläubigen Erwerb, die der BGH zumindest nicht ausdrücklich berücksichtigt hat, dürften vielmehr insoweit einen ausreichenden Schutz gewährleisten. 17 Zur Ablehnung einer dinglichen Wirkung vgl. allgemein unten § 42 II 3. 18 Diese hält auch der BGH mit Recht für erforderlich, vgl. BGHZ 16, 151.
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ne Rücksicht darauf, ob das betreffende Mitglied überhaupt eine entsprechende Erklärung hat abgeben wollen und ob es sich eine Vorstellung über die Bedeutung seines Schweigens gemacht hat“ (S. 316).
Der Fiktionscharakter dieser Konstruktion ist offenkundig; denn bei einer augenscheinlich alles andere als eindeutigen Satzungsbestimmung kann in dem Schweigen noch viel weniger als sonst der Ausdruck des Einverständnisses gesehen werden, ganz abgesehen davon, daß auch hier der Kl. sich vermutlich nicht einmal des [380] Zustimmungserfordernisses bewußt war und daß der BGH auch im übrigen die Regeln über das Fehlen des Erklärungsbewußtseins in krasser Weise mißachtet.19 Die Abweisung der Klage vermag denn auch im Ergebnis nicht zu überzeugen. Die fragliche Satzungsbestimmung war nämlich noch nicht „praktiziert“ worden (vgl. S. 317), und die Gesellschaft hatte sich daher im Vertrauen auf ihre Gültigkeit bzw. auf ihren angeblichen Inhalt noch in keiner Weise „eingerichtet“. Wenn der BGH sie gleichwohl trotz Fehlens eines entsprechenden einstimmigen Beschlusses als wirksam erklärt, so läuft das letztlich auf eine Heilung durch bloßen Zeitablauf hinaus, also auf ein mit dem geltenden Recht unvereinbares und auch von der Sache her