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German Pages 440 [441] Year 2022
Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Band 234
Reinhard von Bendemann
Christus der Arzt Frühchristliche Soteriologie und Anthropologie im Licht antik-medizinischer Konzepte
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-041054-1 E-Book-Format: pdf: 978-3-17-041055-8 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Vorwort Dank für gemeinsames wissenschaftliches Arbeiten und den Austausch auch über die Fächergrenzen hinaus schulde ich im Rückblick einer solchen Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen, dass ich hier auf eine Auflistung, die immer in irgendeiner Weise auch eine Priorisierung implizieren würde, verzichte. Meinen Dank möchte ich auf diejenigen beschränken, die es ermöglicht haben, dass dieses Buch im Verlauf des Wintersemesters 2021/22 trotz gravierender widriger Umstände gerade auch gesundheitlicher Art fertig gestellt wurde. An erster Stelle danke ich hier meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin, Carolin Schaefer, die u.a. auch die beiden Register zu diesem Band erstellt hat. Ihr und damit dem Projekt eng zur Seite standen Ines Paternoga und Lena Setzer; auch diesen beiden gilt mein herzlicher Dank. Für eine letzte kritische und inhaltlich wichtige Lektüre des Buches danke ich der Kollegin Bärbel Bosenius (Humboldt Universität zu Berlin) sowie meinem Freund Ulrich Pohl. Marlis Gielen sowie auch Walter Dietrich und Ruth Scoralick danke ich bei dieser Gelegenheit für die jahrelange sehr gute Zusammenarbeit in der Herausgeberschaft von BWANT; und keineswegs fehlen darf in diesem Zusammenhang der Dank an den Verlag Kohlhammer, hier namentlich an die Adresse von Sebastian Weigert und Florian Specker. Mein ganz besonderer Dank im Wintersemester 2021/22 gilt zuletzt meinem Bochumer Kollegen Ralf Gold (Dekan der Medizinischen Fakultät). Bochum, Januar 2022
Reinhard von Bendemann
Inhalt Einleitung ................................................................................................... 13 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Das Christologumenon medicus / ἰατρός. Entdeckungszusammenhang und wirkungs-/ auslegungsgeschichtlicher Ausgangspunkt ..................................... Zur Forschungsgeschichte .................................................................. Ältestes Christentum und hellenistisch-römische Medizin .......... Historische Horizonte und Neubewertungen von Kontexten ...... Narrative Salutogenese ....................................................................... Ausblick – Contagion ...........................................................................
13 14 20 25 28 30
TEIL I CHRISTUS DER ARZT- DER SALUTOGENETISCHE ANSATZ Christus der Arzt. Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen des Markusevangeliums .............................................................................. 37 1. 2. 3. 4.
5.
Christus Medicus im Markusevangelium? Annäherungen an ein umstrittenes Problemfeld ....................... Leitsymptomatische Krankheitsdeutung im Markusevangelium ............................................................................... „Viel Leid von vielen Ärzten“ (Mk 5,26). Der Topos vom Versagen der Ärzte im Markusevangelium ......... „Die Gesunden benötigen keinen Arzt [...], aber die, denen es schlecht geht“ (Mk 2,17). Der Arztberuf in hellenistisch-römischer Zeit und die Krankenheilungen im Markusevangelium ....................................... „Antipathie“ und/oder „Sympathie“? Das hermeneutische Problem dämonologischer Krankheitsdeutung ..............................
37 40 46
51 60
Krankheit in neutestamentlicher Sicht. Ansätze – Perspektiven – Aporien .................................................. 67 1.
Vermessung einer terra incognita ....................................................... 67
8
Inhalt
2.
Krankheit, gattungsspezifische Codes und Rollendetermination durch soziale Interaktion .................................................................... Der entstellte Leib. Physiologische Ansatzpunkte der Konzeptualisierung von Krankheit ............................................................................................... Krankheit als Tatfolge? Zur religiösen Krankheitsdeutung im frühen Judentum und im Neuen Testament .................................................................... Krankheit als Metapher? .....................................................................
3. 4. 5.
74 79 83 88
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin ................................ 91 1. 2.
3. 4.
Zur grundsätzlichen Inkommensurabilität der ältesten Jesustradition mit Ansätzen hellenistisch-römischer Medizin .... Ἰάσεις ἀποτελῶ (Lk 13,32). Zu medizinischen Konnotationen und Resonanzen der dämonenbannenden und therapeutischen Aktivität Jesu in frühchristlichen Texten ...................................................................... Die Heilpraxis Jesu im Kontext medikaler Kultur(en) .................... Jesus medicus? Zu Grundproblemen der historischen Konstruktion der heilenden Praxis Jesu ...........................................
93
101 110 118
Heilige Krankheit? Epilepsie im Spannungsfeld physiologisch-sozialer und religiöser Deutungen im Neuen Testament und im rabbinischen Judentum ....................................................................... 125 1. 2. 3. 4. 5. 6.
„Das ist eine alte Krankheit […]“ ........................................................ „Die Krankheit im Kopf“. „Epilepsie“ als sozial vermitteltes Wirklichkeitskonstrukt .......... „Wir aber, die wir dem Evangelium glauben, sagen […]“ Zur Deutungsgeschichte der Epilepsie in der Alten Kirche ........... „Schutzsuche des Lebendigen“. „Epileptische“ Krankheitsphänomene im rabbinischen Judentum ............................................................................................... Der Sieg über die „heilige Krankheit“ in Mk 9,14–29 par ............. Ergebnis und Ausblick .........................................................................
125 130 133 139 148 153
Inhalt
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TEIL II
TESTFÄLLE FRÜHCHRISTLICHER UND ANTIKMEDIZINISCHER KRANKHEITSKONSTRUKTIONEN Elementar feurige Hitze. Zur Krankheitshermeneutik frühjüdischer, hellenistischrömischer und frühchristlicher Fieberheilungen ................... 159 1. 2. 3. 4. 5.
Jenseits des Messbaren. Das hermeneutische Problem des „Fiebers“ .................................... Lebensbedrohliche Hitzigkeit. Zu Ansätzen antik-jüdischer „Fieber“-Interpretationen und zum Problem der dämonologischen Pyretologie............................ Animalische Wärme und Hitze contra naturam. Zur medizinischen Konzeptualisierung der „Fieber“ in der griechischen und römischen Literatur ............................................. Zur Fieberhermeneutik in frühchristlichen Therapieerzählungen........................................................................... Die Zeit des Krankseins – Schluss und Ausblick ..............................
159 161 168 179 187
„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par) ................................................... 189 1. 2. 3. 4. 5.
Zur Ausblendung von Rekadenz-Phänomenen in Zeugnissen der Wundertätigkeit, Magie und Medizin. Einleitende Erwägungen ..................................................................... Die dämonologische Konstruktion eines „Rückfalls“ in Lk 11, 24–26 par ................................................................................ Zur pyretologischen Konzeptualisierung des „Rückfalls“ in CH De morbis popularibus III A 2 ....................................................... Therapeutik in Anbetracht des drohenden „passionis recursus“. Das Krankheitsbild der Phrenitis bei Caelius Aurelianus............... Medikale Multilingualität. Abschließende und ausblickende Erwägungen ...............................
189 194 201 205 211
Auditus et Testamentum. Die Heilung des Tauben/Stummen in der Dekapolis (Mk 7,31–37) .............................................................................................. 217 1.
Vom Sinn des Gehörs ........................................................................... 217
10
Inhalt
2.
Surdus mutus – surdus aut mutus – surdus sive mutus? Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Krankheitsbildes in Mk 7,31–37 ......................................................... „Die Ohren der Tauben/Stummen werden hören […], und deutlich wird die Sprache des schwer Redenden sein“ (Jes 35,5f.LXX). Zur Syntagmatik der Therapie des surdus mutus ............................. Jenseits des eigenen Sprachverbandes. Zum narrativen Ort des surdus mutus im Markusevangelium ....... Die schöpfungsgemäße Restitution des Testierunfähigen ............
3.
4. 5.
220
225 228 231
Zur Metaphorik göttlicher Medizin bei Plutarch und im frühen Christentum ............................................................................... 237 1. 2. 3. 4. 5.
Metapher und Sinnlichkeit ................................................................. „Schneiden und Brennen schmerzt“. Zur Metaphorik göttlicher Medizin bei Plutarch von Chaironeia.............................................................................................. Christus, der Arzt des Leibes und der Seelen. Zur Metaphorik göttlicher Heilkunst in altchristlichen Texten ..................................................................... Das Christologumenon des Arztes. Zur weiteren Entwicklung der Metaphorik göttlicher Heilkunst im frühchristlichen Schrifttum ....................................... Schluss und Ausblick............................................................................
237 241 254 262 268
TEIL III ANTHROPOLOGISCHE HORIZONTE UND TRADITIONSGESCHICHTLICHE GRENZZIEHUNGEN Dem „Schmerz“ begegnen. Ansätze und Konzepte der hippokratischen und der hellenistisch-römischen Medizin.................................................... 273 1. 2.
„Schmerzen“ als Prüfstein für Körper-Konzepte ............................ 273 Zu Konzeptualisierungen von „Schmerz“ in Texten des Corpus Hippocraticum............................................................................. 279
Inhalt
3. 4.
11
Zugänge zum „Schmerz“ in der hellenistisch-römischen Medizin................................................................................................... 287 Rückblick und Ausblick ....................................................................... 311
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum im Licht der hellenistisch-römischen Medizin.................................................... 323 1. 2. 3. 4.
Doctrina medicinalis Pauli? ..................................................................... „Medikale Kultur(en)“ und die Rezeption medizinaler Vorstellungen in Texten der hellenistisch-römischen Zeit .......... Paulus und die „medikale Kultur“ der frühen Kaiserzeit .............. Ergebnisse ..............................................................................................
323 325 333 350
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung des Leibes? ................................................................................................. 353 1. 2. 3. 4. 5.
„Philosomatismus“ und anthropologischer „Holismus“? ............. Die Koinzidenz von Sterben und postmortaler Christusgemeinschaft (Phil 1,18b–26) ............................................... Der Tod als Zerstörung des hinfälligen Zelthauses und Emigration aus dem Leib (2 Kor 5,1–10) ........................................... „Geistlicher Leib“ / ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ. Eschatologische Geistidentität als Neuschöpfung (1 Kor 15,35-49) ..................................................................................... Zur indikatorischen Bedeutung der Frage nach postmortaler/eschatologischer Existenz bei Paulus ......................
353 360 364 371 377
Quellenausgaben und Hilfsmittel.................................................... 381 Literatur ...................................................................................................... 397 Register ....................................................................................................... 417 1. 2.
Stellenregister (Auswahl).................................................................... 417 Sachregister (Auswahl)........................................................................ 432
Einleitung Die in diesem Buch vereinten Beiträge sind durch bestimmte Grundannahmen und Grundperspektiven miteinander verbunden, die ihre Publikation im Zusammenhang sinnvoll erscheinen ließen, auch wenn sie ursprünglich und von Hause aus unter verschiedenen Blickwinkeln und aus verschiedenen diskursiven Zusammenhängen heraus ansetzen. Einige dieser zentralen verbindenden Grundannahmen und Grundperspektiven sollen in der Einleitung als solche hervorgehoben werden – ohne damit eine Systematik anzuzielen, in welche alle Einzelstudien lückenlos einzuzeichnen wären.1
1.
Das Christologumenon medicus / ἰατρός – Entdeckungszusammenhang und wirkungs/auslegungsgeschichtlicher Ausgangspunkt
Sehr bald in der Zeit nach den hypothetischen Abfassungszeiten derjenigen Schriften, die schließlich in den neutestamentlichen Schriftenkanon aufgenommen wurden, teilweise zeitlich auch überlappend, wird das Bekenntnis zu Jesus als „Arzt“, zum Χριστὸς ἰατρός, zu einem, wenn nicht dem Integral altchristlicher Christologie“ und Soteriologie. Bei Kirchenvätern wie Tertullian, Origenes oder schließlich auch bei großen Einzelnen wie im vierten Jahrhundert Nemesius von Emesa2 – um in der Einleitung nur einige wenige Namen anzusprechen – wird dabei die griechisch-römische Medizin mit ihren Anthropologumena und Therapeutica wertgeschätzt und umfassend zur Explikation christlicher Theologie und Soteriologie herangezogen. In der Begegnung mit Zeugnissen der griechisch-römischen Medizin und weit über sie hinausgehend wird der deus medicus bzw. der Christus medicus bzw. der „Oberarzt“ Christus (Origenes) zum Kristallisationspunkt soteriologischer Vorstellungen, der Hamartiologie und Sakramentologie (vgl. Ignatius; Tertullian). Die gesamte Weltgeschichte kann als eine medizinisch-therapeutische Geschichte Gottes mit der Menschheit aufgefasst werden (Euseb von Cäsarea). Dieser Vorgang der zunehmenden Aufwertung des 1
2
Die detaillierte Begründung, auch in Hinsicht auf den jeweiligen Stand der Forschung, wird in der Einleitung nicht redupliziert, sondern findet sich in den Einzelbeiträgen. Lediglich an wenigen Punkten, die im Corpus des Buches nicht näher ausgeführt sind, erfolgt eine intensivere Abstützung in Petit-Abschnitten und mit Forschungsliteratur in den Anmerkungen. Siehe zur Nemesius-Forschung VETTEN, Art. Nemesius, 516f.
14
Einleitung
Christologumenons „Arzt“ wird ebenso wie die in seinem Hintergrund stehende, sich über mehr als sieben Jahrhunderte erstreckende Entwicklung der griechischen und römischen Medizin in diesem Buch vertieft werden. Am Anfang der Beschäftigung mit dem Thema stand und steht aber die Überlegung: Haben die altkirchlichen Verfasser nicht auch im Blick auf die initia, auf Jesus und seine frühen nachösterlichen Nachfolger im Kern etwas Richtiges erkannt? Gibt es zu dem Bekenntnis zum „Arzt“ Christus bei den Kirchenvätern ein Widerlager in den frühen Texten des 1. und 2. Jahrhunderts? Kann insbesondere für diese Zeit eine Begegnung frühchristlicher Erzähltexte resp. einzelner Wundererzählungen mit dem weiten Feld der antiken griechischen und römischen Medizin einen Gewinn für die Interpretation und auch: für eine neutestamentliche Theologie erbringen? Die „Väter“ haben gewiss unter veränderten geistes- und theologiegeschichtlichen Vorzeichen in vielem neu angesetzt; man kann ihre Lesarten der Heilungserzählungen nicht in die Zeit der Anfänge frühchristlicher Literaturbildungen rückprojizieren. Zugleich sind sie in ihrem Verstehen viel näher an den ursprünglichen Texten, ihren Entstehungskontexten und ihren Sinnpotentialen, als wir Heutigen es sind. Ist es also sachgerecht, wenn ein Vergleich frühchristlicher Texte, die mit Krankheit und Heilung umgehen, mit der antik-medizinischen Literatur in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden hat? Ist dem Arzt Christus auch für die frühe Zeit der Entstehung und Etablierung des Christentums mehr „Raum zu geben“ (vgl. Sir 38,12LXX: καὶ ἰατρῷ δὸς τόπον)?
2.
Zur Forschungsgeschichte
Die Geschichte von Forschungen, die sich mit der ältesten Jesustradition und ihren erzählerischen Rezeptionen unter der Fragestellung des Ärztlichen/Medizinischen befasst haben, ist äußerst komplex und nicht linear nachzuzeichnen. Im Blick auf die Forschungsgeschichte des 20. Jahrhunderts kann man insgesamt von einer starken Reserve gegenüber dem „Arzt“ Jesus sprechen; die Frage als solche wird vielfach a limine negiert. Betont wird damit der deutliche Abstand (wenn nicht Bruch) in Hinsicht auf die christologische Lehrbildung in der Zeit der alten Kirche, in der „Arzt“ (oder auch: „Apotheker“) quasi zu einem Hoheitstitel Jesu avancieren kann. Immer wieder begegnen jedoch auch Stimmen, z. T. auch aus Richtung der Medizin oder der Medizinhistorie, die anders urteilen, dies unter Zugrundelegung ganz unterschiedlicher Begriffe von „Medizin“ und vom „ärztlichen Handeln“ sowie auch von heilenden Dimensionen des „Religiösen“. In den frühchristlichen Texten wurde dabei ganz Unterschiedliches gesehen. Vor allem das votum ADOLF VON HARNACKs (s. u.) hat eine lange Wirkspur in der neutestamentlichen Exegese hinterlassen. In der Folgezeit und teils bis heute wird von ihm her
Einleitung
15
ein historisches partim – partim konstatiert: Jesus, wie er in den Evangelien erzählt wird, bzw. auch seine Nachfolger seien in manchen Einzelzügen medizinischer Praxis zu koordinieren, im „Arzt“-Begriff sei somit Richtiges gesehen; in anderen charakteristischen Zügen seien die Differenzen zu ausgeprägt, insofern sei der „Arzt“ keine Kategorie, der man die Praxis Jesu insgesamt subsumieren könne. Solches partim – partim-Urteil beruht dabei in der Regel auf bestimmten Annahmen von einer klaren traditionsgeschichtlichen Unterscheidung der Bereiche/Felder: „Medizin“ wird dann festgelegt auf die Fachliteratur der hellenistisch-römischen Ärzte, die von „Religion“, „Wunderglaube“, „Dämonenglauben“ und „Magie“ scharf zu differenzieren sei. 3 Die jüngere und jüngste Forschung zeigt demgegenüber, dass Textbeobachtungen durch solche clearcut-Differenzierungen vielfach eher erschwert werden. Im Gefolge medizinhistorischer, medizinsoziologischer und medizinanthropologischer Forschungen kann das „Medizinische“ als Praxis aufgefasst werden, die Menschen aufgrund bestimmter Wirklichkeitsannahmen und -logiken körperlicher Gesundheit zuzuführen bzw. näherzubringen vermag. Innerhalb eines „medizinischen Systems“ bzw. eines „Gesundheitssystems“ ist ein „Arzt“ dann nicht ein geschulter hippokratischer Mediziner, sondern ein Akteur mit entsprechenden besonderen Kompetenzen. Z. B. wäre ggf. auch ein Dämonenbanner als „Arzt“ zu klassifizieren, wenn er im weiteren Umfeld eines „Gesundheitssystems“ resp. einer Gesellschaft wirkt, die von der Existenz von den Menschen ggf. schwerwiegend schädigenden bösen Geistern/Dämonen ausgeht. Die Darstellung einer gegliederten Forschungsgeschichte, die den je eigenen wissenschaftstheoretischen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der einzelnen Zugänge gerecht würde, bedürfte einer eigenen Monographie.4 Hier sollen lediglich einige Schlaglichter benannt werden. Deutlich wird insgesamt, dass ein nahtloser und einfacher Anschluss an diese älteren Beiträge im 21. Jahrhundert nicht gelingen kann. Zu verschieden sind sowohl die neutestamentlich-methodischen als auch die weiteren altertumswissenschaftlichen und auch medizin-historischen Prämissen im Vergleich zu den älteren Zugängen. Die Frage nach einer „medizinischen“ Praxis Jesu und seiner Jünger erweist sich früh als ein Teilproblem der „historischen“ Erforschung der Wundererzählungen und partizipiert an deren verschiedenen Phasen im Horizont der Frage nach dem historischen Jesus, von ihren rationalistischen Anfängen, über mythologische und kerygmatische Annäherungen bis hin zu den jüngeren und jüngsten Fragerunden, die vor allem eine adäquate Integration der Jesusbewegung in das in sich vielfältige antike Judentum anstreben. Generell lässt sich feststellen, dass der älteren Forschung die westliche (d. h. die rationalistische, vor allem auf Galen zurückgeführte) Medizin mit „der“ Medizin deckungsgleich gilt; man blickt so in den Quellen quasi von Westen nach Osten – ggf. mit erheblichem Überlegenheitsbewusstsein. Unter rationalistischen Vorzeichen suchte 1800/1802 C. H. VENTURINI in seiner „Natürlichen Geschichte des großen Propheten von Nazareth“ eine nonsupranaturalistische Erklärung der Heiltätigkeit Jesu, indem er beim Bild der „Taten des Petrus und der zwölf Apostel“ (NHC VI) ansetzte. Jesus habe sein Volk aus den Händen von „Quacksalbern und 3 4
Vgl. KOLLMANN, Christen, 365; vgl. DERS., Wundergeschichten, 78. Vgl. in Ansätzen V. D. GOLTZ, Krankheit.
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Einleitung Scharlatanen“ befreien wollen5 und darum selbst als Arzt mit chirurgischer Ausrüstung und Arzneimittelkasten (vgl. ActPetr 9,30–32) gewirkt.6 Mit dem Postulat der scharfen Differenz zwischen der medizinischen Fachkompetenz Jesu und der Unbildung des jüdischen Volkes, „dessen ganze Arzeneywissenschaft auf kümmerliche Behandlung einiger äußerlichen Krankheiten […] beschraenkt war“7, zielte Venturini einerseits auf die Erklärung der Heilerfolge Jesu aus natürlichen Ursachen, andererseits aber auf ein Modell für die Entstehung eines „Wunder“glaubens – in Verbindung mit einer scharfen Demarkation gegenüber dem zeitgenössischen Judentum.8 Anders setzten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die einschlägigen Beiträge ADOLF VON HARNACKs an, der nicht nur die altkirchliche Auffassung von Lukas als Arzt historisch-philologisch zu untermauern suchte – ein Bemühen, das sich schon bald als gescheitert herausstellen sollte –9, sondern vielmehr das Bild Jesu als eines „Arztes sowohl auf der historischen Ebene als auch auf der konzeptionellen Ebene der Evangelisten als zentral beurteilte.10 Als Arzt sei „Jesus in die Mitte seines Volkes getreten […]“11, in den Evangelien gebe es darum „[…] keine zutreffendere und ergreifendere bildliche Darstel-
5 6
7 8
9
10
11
VENTURINI, Geschichte, Bd. 2, 24f. Vgl. zur Reiseapotheke und den Instrumenten Jesu VENTURINI, Geschichte, Bd. 2, 215. Die Exorzismen sind nach VENTURINI Konzessionen an den Aberglauben der Kranken; im Übrigen habe Jesus sich rationaler Medizin bedient. VENTURINI, Geschichte, Bd. 2, 14. Immer wieder findet sich die Vorstellung von Jesus als Arzt in rationalistischen Versuchen der Explikation des neutestamentlichen Wunderglaubens. 1812 stellte H. C. GUTSMUTH in seiner Dissertatio inauguralis medica de Christo medico (Jena) die These auf, Jesus habe „per physiognomiam suam“ und durch seine „vis magnetica“ geheilt. V. HARNACK, Beiträge, Bd. 1, fußt 1906 mit seiner These „das dritte Evangelium und die Apostelgeschichte sind von einem Arzte verfaßt“ (a. a. O., 137), auf der Untersuchung W. K. HOBARTʼs über die medizinische Sprache des Lukas von 1882, sucht die ärztliche Verfasserschaft des lukanischen Werkes im synoptischen Vergleich weiter zu untermauern und ergänzt die sprachlichen „Evidenzen“ HOBARTʼs (vgl. DERS., Language, 122–137), wenn z. B. Lk 18,25 (unter Rückgriff auf ZAHN) mit Nadel (βελόνη) und Faden (τρῆμα) des Chirurgen bei Galen erklärt wird. Gegen das methodische Verfahren konnte dabei bereits JÜLICHER einwenden, mit gleichem Recht sei aus Texten wie 1 Thess 5,3 zu folgern, dass Paulus Gynäkologe gewesen sei (DERS., Einleitung, 407f.). PLUMMER und CADBURY haben demgegenüber gezeigt, dass aus dem idiomatischen Sprachgebrauch eines hellenistischen Literaturwerkes wie dem lukanischen Doppelwerk nicht auf die Profession des Verfassers rückzuschließen ist. PLUMMER wies nach, dass achtzig Prozent der von HOBART verzeichneten vermeintlichen medizinischen termini technici in der Septuaginta oder weiterer hellenistischer Literatur verwurzelt sind (PLUMMER, Commentary, LXIII-LXVI). Vgl. CADBURY, Style, 50f.: „The style of Luke bears no more evidence of medical training and interest than does the language of other writers who were no physicians [...]“. Zum schriftstellerischen Idiom des auctor ad Theophilum immer noch grundlegend: RYDBECK, Fachprosa. Vgl. kritisch zu der immer noch vereinzelt vorgetragenen These des Arztes Lukas als Verfasser des lukanischen Doppelwerkes auch WEISSENRIEDER, Images, 329–357. V. HARNACK, Medicinisches; DERS.; Mission (das Kapitel „Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung“ ist eine Überarbeitung von „Medizinisches“, Abschnitt VI [1892]; vgl. V. HARNACK, Mission, 129 Anm.1). V. HARNACK, Mission, 129. „Er spricht nicht viel von der Krankheit, sondern er heilt sie. Er erklärt nicht, daß die Krankheit gesund sei, sondern er nennt sie beim rechten Namen, aber er erbarmt sich der Kranken […] Er sieht Scharen von Kranken um sich, er zieht sie an sich, und er hat nur den Trieb zu helfen“ (ebd.).
Einleitung
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lung der Wirksamkeit Jesu“ als eben die des Arztes.12 Dem Christentum sei die „Regel“ „eingepflanzt“ gewesen, dass es „Religion für die Kranken“ sei. „Daß sie Heilung versprach und brachte, daß sie in dieser Eigenschaft alle anderen Religionen und Kulte überstrahlte, das hat ihren Sieg bereits begründet, bevor sie ihn durch eine eindrucksvolle Religionsphilosophie vollends gewann. Nicht nur setzte sie dem erträumten Asclepius den wirklichen Jesus gegenüber, sondern sie gestaltete sich selbst als die ‚Religion der Heilung’, als ‚die Medizin der Seele und des Leibes’ bewußt und bestimmt aus, und sie sah auch in der tatkräftigen Sorge für die leiblichen Kranken eine ihrer wichtigsten Pflichten.“13 Auf der Basis von Stellen wie 1 Thess 5,14; 1 Clem 59; Jak 5,14 und Iust. Apol. I 67 sah V. HARNACK in der entwickelten Fürsorge für Kranke zugleich einen wesentlichen Faktor für die Attraktivität und Ausbreitung des ältesten Christentums als „Religion der Heilung“.14 Der „Arzt“ wird bei V. HARNACK zum Integral der Praxis Jesu und seiner Nachfolger; „ärztliche Praxis“ avanciert zu einem Schlüssel frühchristlicher Missions- und „Propaganda“-Geschichte.15 Was denn aber in der Zeit ein „Arzt“ tatsächlich wäre, wird bei V. HARNACK nicht weiter untersucht; sachlich geht er von Kontinuierungsmöglichkeiten der hippokratischen Medizin und ihren hellenistischen Rezeptionen aus. Das Judentum bleibt weitgehend unberücksichtigt. Zugleich wirkt sich bei V. HARNACK die ältere und höchst problematische These einer geistesgeschichtlichen Dekadenzentwicklung der hellenistisch-römischen Epoche aus: Christus und die Seinen treten in eine gealterte, „heillose“ Welt. Die Wirkspur der thetisch vorgetragenen Position V. HARNACKs war in der neutestamentlichen Wissenschaft zunächst beträchtlich und reicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein (teils auch über diese hinaus). Systematisch überprüft wurde sie in der weiteren Forschungsgeschichte jedoch nicht. Ähnlich gelagert war in der Sache der Ansatz WOLZENDORFFs, der auf der Basis eines liberal-theologischen Persönlichkeits-Begriffs postulieren konnte, nichts könne „[…] den Heiland unserem Verständnis näher […] bringen, sein Wesen besser […] erschließen […]“, als die ärztliche Praxis Jesu, die dieser „in schlichter, Aufsehen vermeidender Art“ ausgeübt habe. „Gerade auf diesem Felde seines Wirkens“ trete „seine Persönlichkeit uns in greifbarer Plastik entgegen […]“.16Auch nach der Auffassung OEPKEs galt die Vorstellung von Jesus „als dem großen Wunderarzt“ in den Evangelien als fest etabliert.17 Für E. SCHWEIZER konnte Jesus als der „einzige wirkliche Arzt“ gelten.18 Die oben angesprochene partim – partim-Lösung findet sich dann z. B. bei R. OTTO, der Jesus einerseits als Typus des Charismatikers“ interpretieren konnte, andererseits jedoch festhielt: „[…] er ist zugleich wirklich Arzt und bedient sich gelegentlich der Mittel populärer Volksmedizin“.19 Ähnlich optierte HERZOG im „Reallexikon für Antike und Christentum“: „Die Frühzeit beherrscht Jesus, der Arzt der Armen, der große Wundertäter, frei von ärztlicher Wissenschaft, im Gefühl einer inneren Kraft“.20 Teilweise – innerhalb eines
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16 17 18 19
20
V. HARNACK, Medicinisches, 125 [89]; DERS., Beiträge, Bd. 1, 135f. V. HARNACK, Mission, 136.
V. HARNACK, Mission, 147f.
Vgl. V. HARNACK, Mission, 156: „Als Dämonenbeschwörer sind die Christen in die große Welt eingetreten, und die Beschwörung war ein sehr wichtiges Mittel der Mission und Propaganda“. WOLZENDORFF, Gesundheitspflege, 63. Vgl. V. D. GOLTZ, Krankheit, 32f. OEPKE, Art. ἰάομαι κτλ., 204, wiederholt die Einschätzung V. HARNACKs. SCHWEIZER, Jesus, 646. OTTO, Reich, 307. Eine eigenwillige historische Konstruktion schlug EITREM vor: Er unterschied eine medizinische und eine prophetisch-wortgewirkte Phase in der Heilaktivität Jesu. Die Zäsur markiere die Taufe durch Johannes (DERS., Notes, 12f., 64 u. a.). HERZOG, Art. Arzt, 723. Vgl. FASCHER, der zwar festhält, dass nicht allein die Bezeichnung des Arztes, sondern auch die des „Retters“ (σωτήρ) in der ältesten Jesustradition fehlt,
18
Einleitung schmalen Strangs der Forschung – auch von medizinischer Seite vertreten, wurde in verschiedener Weise immer wieder festgestellt, dass Jesus wohl „Arzt“ gewesen sei, aber zugleich „mehr“ als ein „Arzt“ (in Analogie zum „mehr als Jona“/ „mehr als Salomo“: vgl. Lk 11,31f. par), insofern er z. B. in der Antike als unheilbar konzeptualisierte notorische Leiden heilen und insgesamt als Herr über Leben und Tod gelten konnte.21 Veränderungen der Bewertung ergaben sich mit der beginnenden formgeschichtlichen Forschung, die das Problem auf die Mikrogattungen und ihre literarische Gestaltung bezog, diese jedoch zugleich historisch auswertete. M. DIBELIUS kann in seinem formgeschichtlichen Zugang mit einem festen Charisma der Krankenheilung (vgl. 1 Kor 12,28.30) in den frühen Gemeinden als „Sitz im Leben“ für Wundererzählungen rechnen. Erzählungen wie die Heilung des Taubstummen in Mk 7,31–37 oder die zweiphasige Blindenheilung in Mk 8,22–26 enthielten Aspekte der Anleitung für frühchristliche Wunderheiltäter.22 Mit dem Übergang der älteren Formgeschichte zur redaktionsgeschichtlichen Analyse der Evangelien änderte sich die Perspektive neuerlich. Aussagen über Jesus als „Arzt“ verlagerten sich auf die Ebene der Beschreibung der Darstellungsintention der einzelnen Evangelisten. Das partim – partim wird von der Ebene historischer Urteilsbildung auf die literarische Ebene transferiert. So konstatierte z. B. J. WILKINSON, dass obwohl „Jesus may not have been given the name of a physician in the New Testament, there is no doubt that he is described as carrying out the work of a physician and healing men and women of disease“23. Zugleich nimmt auch unter den sich verändernden methodischen Bedingungen der neutestamentlichen Wissenschaft im 20. Jahrhundert die Ablehnung eines solchen partim – partim zu, und damit der grundlegende Widerspruch gegen die Anstöße, die V. HARNACK gegeben hatte.24 Solcher Widerspruch erfolgte aus unterschiedlichen Gründen. In historischer Hinsicht problematisch war z. B. die These von J. HEMPEL, die Reserve in den frühchristlichen Darstellungen Jesu resultiere daraus, dass der Beruf und damit auch der Titel „Arzt“ in der Zeit als „anrüchig“ gegolten habe.25 Die Differenz zwischen der Praxis Jesu und seiner Nachfolger von der „ärztlicher“ Akteure wurde auch von medizinischer Seite mit betont.26 Die gesamte Forschungsgeschichte zur Frage nach einer medizinischen/ärztlichen Praxis Jesu und seiner Nachfolger bzw. eines entsprechenden Bildes in den Quellen müsste zudem unter dem Aspekt der Wahrnehmung des Judentums geschrieben werden. In äußerst problematischer Weise koinzidieren mehr als hundert Jahre gerade in der protestantischen Forschung die These der „Arzt“-losigkeit und die der „Heil“-losigkeit in der Bewertung der Praxis des Judentums. Im Artikel ἰάομαι vertritt z. B. OEPKE im „Theologi-
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Jesus dann aber doch ärztlichen Vorstellungen annähert und ihn zugleich als Seelsorger interpretiert (vgl. DERS., Jesus, 38–40). Vgl. hierzu die Arbeit des Mediziners KNUR, Christus. Anders zielt 1903 die Arbeit des Mediziners EBSTEIN darauf, als „moderne[r] Arzt“ „[…] aus dem mannigfach mystischen Gewande den wirklichen Kern der Sache herauszuschälen“. Im neutestamentlichen Teil seiner Untersuchung (DERS., Medizin, 49–110) werden sukzessive die verschiedenen im Neuen Testament erwähnten Leiden bis hin zu Scheintod und der „Krankheit“ des Judas verhandelt, wobei jeweils neuzeitliche Phänomene erklärend hinzugesetzt sind (vgl. a. a. O., 61, zur Besessenheit) und – anachronistisch – etwa die Vorstellung des Nervensystems zugrunde gelegt ist. – Siehe zu den „Nerven“ V. BENDEMANN, Schmerz (siehe in diesem Band 287–292). DIBELIUS, Formgeschichte, 81–84. WILKINSON, Health, 17. Vgl. OTT, Bezeichnung, 454, 458. HEMPEL, Herr, 825. Vgl. hierzu die Koproduktion der Gebrüder HENGEL aus dem Jahr 1959 (HENGEL/HENGEL, Heilungen, 338–373).
Einleitung
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schen Wörterbuch zum Neuen Testament“ exemplarisch die für diese Zeit vorherrschende und heute völlig überholte Auffassung, dass das Judentum stark unter dem Einfluss des von ihm so genannten „Zentraldogma[s]“ der Vergeltungslehre gestanden habe.27 Das Judentum wird in vielen Forschungsbeiträgen quasi pathologisiert. FENNER wollte in der „Hysterie“ die eine Grunderkrankung ausmachen, die hinter allen anderen Leiden im Neuen Testament stehe. Man könnte sagen, die theologische Unterscheidung von „Gesetz“ und „Evangelium“ wird hier psychologisiert; und die von FENNER bemühte „pathologische Grundlage“ wird dann in enge Beziehung zu einer von ihm postulierten „psychologische[n] Epidemie“ im zeitgenössischen Judentum gebracht.28 Im Lauf des 20. Jahrhunderts kann teils der „Medizin“ als ein eigenes Feld in Darstellungen der Religionshistorie des Frühchristentums mehr Raum gegeben werden, teilweise jedoch nur, um sogleich wieder scharfe Grenzmauern zu errichten.29 Ein entscheidendes Hemmnis, welches wirkliche Fortschritte verhinderte (und verhindert), ist darin zu erkennen: Wenige Forschende haben sich um ein intensiveres Verständnis der antik-medizinischen Quellen bemüht, diese sorgfältig studiert und in ihrer philologisch-konzeptionellen Gestalt ernst genommen, um zu einem differenzierteren Urteil zu gelangen. Somit war es aber überhaupt nicht möglich, neue Beziehungen zwischen den verschiedenen traditionsgeschichtlichen Feldern zu erkennen bzw. diese zu beschreiben. Im deutschsprachigen Raum war es vor allem D. LÜHRMANN, der diesen Mangel als solchen benennen konnte und beklagte, dass ein Vergleich mit antiker Medizin in der bisherigen Forschung „keine Rolle gespielt“ habe.30 LÜHRMANNs Interpretationsansätze zeigen das Desiderat und den (nicht nur) traditionsgeschichtlichen Gewinn einer Einbeziehung antik-medizinischer Texte und Vorstellungen in die Analyse frühchristlicher Texte. Exemplarisch spiegelt sich solcher Gewinn in der Dissertation von M. WOHLERS über die „Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion“ (1999). Sodann sind v. a. die Arbeiten von A. WEISSENRIEDER zu nennen, die nicht zufällig noch einmal von Lukas her ansetzte.31 In jüngerer Zeit kann z. B. auch J. SCHRÖTER fordern, den Bereich der antiken Medizin als „Kontext“ für die Heilungen Jesu heranzuziehen.32 Innerhalb der Geschichte einer Neubewertung der Problematik wäre sodann intensiver auf Forschungen einzugehen, die einen interdisziplinären Dialog mit der Medizinsoziologie und Medizinanthropologie (u. a. die Beiträge von A. KLEINMAN, F. KLUCKHORN und
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31 32
OEPKE, Art. ἰάομαι κτλ., 200. FENNER, Krankheit, 29, 74f. Die Auffassung, dass im Grunde sämtliche Krankheiten im Neuen Testament auf einen psychischen Kern zurückzuführen seien, begegnet häufiger in der älteren Forschung: siehe V. D. GOLTZ, Krankheit, 68. H. C. KEE gibt Mitte der 1980er Jahre einen Überblick über die verschiedenen Felder von Medizin, Wunder und Magie als „three major modes of healing“ in neutestamentlicher Zeit und zieht eine scharfe Grenze zwischen dem prophetisch-eschatologischen Jesusbild der neutestamentlichen Schriften und der antiken Medizin (vgl. DERS., Medicine, 122: „different system of cosmic order“). Zur Kritik an der triadischen Unterscheidung bei KEE, in der das frühchristliche Konzept von Wundertätigkeit in der Sache als unableitbar und einmalig herausgestellt wird: AVALOS, Health, 85. LÜHRMANN, Wundergeschichten, 198; vgl. den Anhang zu LÜHRMANN, Markusevangelium, mit Auszügen aus der hippokratischen Schrift „De morbo sacro“; a. a. O., 274–279. WEISSENRIEDER, Images. SCHRÖTER, Heilungen, 131–154. Vgl. ähnlich in der Sache DORMEYER, Weltbild, 71. „Die Verfasser der neutestamentlichen Evangelien vermitteln kein Bild von Jesus als einem ‚Wunderheiler’, der gegen medizinische Ärzte zu Felde ziehen will […]“ (DÖRNEMANN, Krankheit, 294; vgl. a. a. O., 296).
20
Einleitung F. STRODTBECK) anzielen. Hier sind hier die Arbeiten von J. J. PILCH33 und H. AVALOS34 zu nennen, die je verschieden die Frage nach medikalen Kulturen und „Gesundheitssystemen“ der antiken Welt fokussieren.
Jüngere und jüngste Beiträge der religionshistorischen Erforschung der Praxis Jesu und der ersten Christen wie auch ihrer hermeneutischen Erschließung helfen in vielversprechender Weise, alte apologetische Barrieren zu überwinden und das Feld des „Medizinischen“ in der Antike in seiner ganzen Breite und Tiefe wahrzunehmen. Die Grenzen der früher quasi chemisch rein unterschiedenen Felder von „Wundercharismatikertum“, „Magie“ und „Medizin“ können damit in der Forschung durchlässiger werden. Insgesamt wird stärker anerkannt, dass Krankheiten zum menschlichen Leben gehören, darum verschiedenste „Felder“ mit ihnen befasst sind und bereits in der Antike verschiedene Erklärungskonzepte von Krankheit, Gesundheit und Heilung synchron koexistieren und auch amalgieren konnten; dies gilt insbesondere auch in der Erforschung von Zeugnissen des antiken Judentums.35 Zusammengefasst kann dem Feld der antiken Medizin damit ein größerer Raum und eine erhöhte Erschließungskraft für die frühchristlichen Quellen zugeschrieben werden. Hier schließen die in diesem Buch zusammengeführten Beiträge sachlich an.
3.
Ältestes Christentum und hellenistisch-römische Medizin
Alle Artikel dieses Buches verbindet die These, dass der äußerst weit gespannte Bereich der antiken griechischen und römischen Medizin, der in der neutestamentlichen Wissenschaft in seiner Abständigkeit bislang vergleichsweise wenig beachtet und mit erforscht wird, dazu verhelfen kann, Konzepte von körperlicher Schädigung von Menschen sowie ihrer angezielten, erhofften und auch erreichten Überwindung besser zu verstehen und klarer zu profilieren. Die Tatsache, dass in den ersten beiden Jahrhunderten genealogische Abhängigkeiten frühchristlicher Literatur von medizinischen Fachtexten in den seltensten Fällen wahrscheinlich zu machen sind und dass die Zugänge so stark differieren, 33
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35
PILCH schließt u. a. an die kulturanthropologischen Forschungen von B. MALINA (DERS., World, 73–81) an: PILCH, Healing, 8, 107 u. passim. Der Ansatz bewegt sich weitgehend in Ferne zu konkreten Texten in ihrer philologischen Gestalt und ist nicht frei von Modernismen und Anachronismen. AVALOS knüpft medizinanthropologisch an den Arbeiten von A. KLEINMAN an (DERS., Patients; DERS./GOOD, Culture). Die Untersuchung hat ein apologetisches Ziel (zur Überlegenheit der frühchristlichen Heilpraxis: a. a. O., 119). Vgl. hierzu die zahlreichen Arbeiten von M. FRENSCHKOWSKI zum Feld des „Magischen“ (DERS., Art. Magie, 857–957; DERS., Magie u. a.).
Einleitung
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bedeutet nicht, dass man für das Neue Testament und die weitere frühchristliche Literatur nichts aus einem Studium antik-medizinischer Literatur lernen kann. 1.
Zeugnisse der griechisch-römischen Medizin, die sich in all ihrer Fülle, ihren Entwicklungsstadien, ihren bedeutenden Einzelvertretern und in ihrem Körperwissen über Jahrhunderte auf den großen Arzt Hippokrates zurückbezieht, stehen dabei zunächst einmal für sich.36 Oft ist es bereits ein Wagnis, Texte aus dem medizinischen Feld zunächst einmal nur neben neutestamentliche Texte und weitere altchristliche Zeugnisse zu stellen. An vielen Stellen zeigt sich jedoch, dass die zunächst der jüdisch-christlichen Tradition so fremden Quellen diese in ihren anthropologischen und auch soteriologischen Potentialen öffnen und „zum Sprechen bringen“ können. Auf diese Weise leisten die Zeugnisse der griechischen-römischen Medizin einen Beitrag zu einer neutestamentlichen Theologie der Heilung. Sie helfen dazu – wenn auch bisweilen nur kontrastiv/e contrario –, Modelle vom Menschen, seiner Körperlichkeit, seiner Fragilität und seinen Aussichten auf ein restituiertes Bild von „Gesundsein“ im Neuen Testament und weiteren Frühchristentum als solche transparent zu machen bzw. konturschärfer zu betrachten.
2.
Medizinische Texte eröffnen Beschreibungsmöglichkeiten des Menschen, seiner Einbindung in den Kosmos, seiner Lebendigkeit und Kommunikationsfähigkeit, welche die Ausdrucksformen frühjüdischer und frühchristlicher Texte in ihrer Differenziertheit weit transzendieren können. Dies haben die Kirchenväter erkannt, wenn sie in Auseinandersetzung mit medizinischen Anthropologumena zu höchst komplexen Bildern vom Menschen und seiner Wirklichkeit nicht nur in physiologischer Hinsicht voranschreiten konnten, die jede einfach konturierte holistische Sicht auf den menschlichen Körper weit hinter sich ließen. Zugleich sind gerade im Bereich der Anthropologie klare Grenzen des traditionsgeschichtlichen Vergleichs zu benennen. Nicht alles aus dem reichen Schatz medizinischer Literatur war einer christlichen Realitätsdeutung kompatibel zu machen. Um entsprechende Grenzziehungen geht es im dritten Teil des vorliegenden Buches, nachdem die Beiträge im ersten Teil den salutogenetischen Ansatz begründen und diejenigen im zweiten Teil Fallstudien erzählerischer Krankheitskonstruktionen vorstellen. Die im neutestamentlichen Schrifttum nach wie vor bestimmenden Anstöße antik-jüdischer Anthropologie setzen nicht von der φύσις des Menschen her an, wie sie als Konzept am Anfang der antik-griechischen Medizinhistorie steht, sondern bedenken die Kommunikationsfähigkeit des Men-
36
Vgl. pars pro toto den Überblick über die Geschichte der hellenistisch-römischen Medizin bei WEISSENRIEDER/DOLLE, Körper, 11–51.
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Einleitung schen coram Deo. In diesem Buch zeigen sich entsprechende gravierende Differenzen z. B. im Fall eines Vergleiches antik-medizinischer „Schmerz“Konzepte mit entsprechenden frühchristlichen Wahrnehmungen, in denen ein vacat nahezu aller Schmerz-Begriffe zu verzeichnen ist, die man aus der medizinischen, aber auch im Vergleich zur erzählenden antiken Literatur erwarten würde.37 Auf kaum einem anderen Feld wird die Abständigkeit der griechisch-römischen Medizin als „Kunst“ von den Bereichen altchristlicher Literatur so manifest wie auf dem der Thanatologie. Der Tod des „Patienten“ wird in Fachtexten der antiken Medizin als das vitandum primum medicinae konzeptualisiert, und dies nicht nur in dem Sinn, dass der Arzt alles zu tun hat, um einen vorzeitigen Tod Kranker zu verhindern, sondern vor allem auch in dem Sinn, dass das Sterben eines „Patienten“ gegebenenfalls die Reputation des Arztes und seiner Zunft schädigen wird. Nach der Schrift Prognosticon (CH Progn. 1,1–22) ist die Prognose zentrale Aufgabe des hippokratischen Arztes; zu ihr gehört die Einsicht, dass Menschen sterben und dass der Arzt mit einer natürlichen „Kraft der Krankheit“ (ἰσχύς τοῦ νούσου) bzw. mit natürlichen Beschaffenheiten der Leiden (τῶν παθέων τὰς φύσιας) zu rechnen hat, die den menschlichen Körpern kräftemäßig überlegen sind (ὑπὲρ τὴν δύναμιν τῶν σωμάτων). Mit der Entscheidung, wer sterben und wer am Leben bleiben wird, zielt der Arzt auf die Entbindung von „Verantwortung“/„Schuld“ (ἀναίτιος). In den Zusammenhang einer solchen Prognose gehören die signa mortis, die „Zeichen“, die der Arzt beginnend beim ersten Anblick des Kranken (Gesichtsausdruck; Lage im Bett; Bewegen der Hände; Atmung; Schweiß u. a.) über die Untersuchung seiner Beweglichkeit und Temperatur bis hin zur ggf. wiederholten Befragung wahrzunehmen hat.38 CH Progn. 2 (vgl. Cels. med. II 6) entwickelt in diesem Zusammenhang eine Zeichenlehre des menschlichen Gesichts, die später im 16. Jahrhundert auf den Begriff der facies Hippocratica gebracht wurde.39 Die Intentionalität ist darin zu erkennen, ein Scheitern der ärztlichen Maßnahmen, d. h. den vorzeitigen Tod des/ der Kranken, im Vorfeld abzufangen. In diesem Zusammenhang ist das sogenannte „Behandlungsverbot“ für chronisch resp. sterbenskranke Menschen zu diskutieren, welches in dieser Schärfe in den medizinischen Quellen auch nicht durchgängig behauptet werden kann. Bei aller Verschiedenheit, in welcher der Tod in den verschiedenen hippokratischen Schriften, ihren hellenistisch-römischen Nachfolgern und bei einzelnen bedeutenden Ärzten beobachtet, mit bestimmten katastatischen Konstellationen oder fest umrissenen Krankheitsbildern wie Fieber oder Phthisis verknüpft und in seinen Voraussetzungen analysiert werden kann, wird er als solcher nicht zum systematischen Untersuchungsgegenstand. Die in der hippokratischen Tradition und ihren schulischen Adaptionen und Weiterentwicklungen ausgebildeten Ärzte erachten sich grundsätzlich für den (eingetretenen) Tod, die Frage, was eigentlich am Menschen
37 38 39
Siehe V. BENDEMANN, Schmerz (siehe in diesem Band 273–321). Vgl. z. B. die Beobachtung und Interpretation des Atems in CH Coac. Praec. 255,1–9. Siehe hierzu GRMEK, indicia; SCHADEL, ΘΑΝΑΤΟΣ, 94–114. Die Semiotik von CH Progn. 2 ist nicht modern zu entschlüsseln; z. B. gehören auch zurückgebogene Ohrläppchen zu den „Todeszeichen“. Bei Galen von Pergamon gewinnt der Puls – wenn er parvus resp. tarduus et vacuus oder auch intermittens ist – zentrale Bedeutung in der Lehre thanatognostischer Zeichen.
Einleitung
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stirbt und wie dies geschieht40, resp. für den Toten als grundsätzlich nicht zuständig.41 Überraschend ist von einem neuzeitlichen Standpunkt her betrachtet, wie selten überhaupt das Substantiv θάνατος in antik-medizinischen Texten begegnet. Die Texte wissen nichts von „dem“ Tod als Macht (vgl. Paulus), der Tod wird nicht mythisch personalisiert oder kollektiviert. Moralische, politische oder religiöse Deutungen „des Todes“ liegen außerhalb des Gesichtskreises der Schriften; menschlicher Tod wird nicht juridisch als Strafe begriffen. Der Tod wird nicht in Hinsicht auf seinen Nutzen oder Schaden für andere reflektiert bzw. nicht in Hinsicht auf seinen „Ehren“-Gehalt; völlig undenkbar wäre eine soteriologische Deutung des Todes eines Menschen. Auf der Basis der jeweils zugrunde liegenden Physiologie ist der menschliche Tod auch nicht als „Befreiung“ des „Selbst“ von/aus einem Körper zu denken; der „Tod“ tötet nicht den Körper, vielmehr kann man umgekehrt sagen: Der Tod ist Teil/Grenzfall des physiologisch-körperlichen Lebens, welches in seiner letzten Phase an sein Ende/Ziel gelangt, nachdem im Alter das „Kalte“ und „Trockene“ im menschlichen Körper das „Warme“ und „Feuchte“ der jüngeren Jahre und die dazwischen erreichte Balance in der Akmé verdrängt hat. Damit ist zugleich deutlich, dass auch die Vorstellung einer Lebensperspektive für Körper post mortem grundsätzlich außerhalb der Reichweite geschulter medizinischer Theoriebildung angesiedelt ist. Die antik-medizinischen Schriften reflektieren in vielfältigster Weise auf die lebendige ψυχή des Menschen (vgl. die bemerkenswerten Aussagen in CH De victu I 25,1–16, die von der „Näherung“ der Seele im Körper handeln). Die Frage jedoch, ob sich qua anima Kontinuierungsmöglichkeiten über ein physisches Ende des Lebens eröffnen, kann grundsätzlich kein Gegenstand sein, den die antike Medizin klären wollte.42
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Grundsätzlich wird der Tod im Griechentum nicht punktuell aufgefasst, sondern es gibt eine liminale flux-Phase zwischen „Leben“ und endgültigem Abgeschiedensein aus diesem. Siehe hierzu GARLAND, Way (a. a. O., 13–20 und passim). Zum Umgang mit Toten, zur Sterblichkeitsrate und zur Konzeptualisierung des Todes im Rom der Kaiserzeit: SHAW, Seasons, 100–138. Zum Ansatz und zur – je nach Schrift, Autor, Zielsetzung, Gattung etc. verschiedenen – Konzeptualisierung des Todes in der antiken Medizin vgl. VAN HOOFF, Thanatos, 85–101; POTTHOFF, Tod; SCHADEL, ΘΑΝΑΤΟΣ. Allerdings gibt es in einigen Quellen Ausnahmen von dieser Regel. Sehr spannend sind hier z. B. die verschiedenen entsprechenden Ansätze bei Galen von Pergamon, der tatsächlich ein eigenes theoretisches Interesse am Vorgang des Sterbens/des Todes hat. Galen sucht den Tod in sein teleologisches Denken zu integrieren, insofern die „Natur“ (φύσις) – vergleichbar der causa finalis bei Aristoteles – alles am Menschen bis hin zum kleinsten Glied und jede Stufe seiner körperlichen Entwicklung planvoll und bestmöglich organisiert und eingerichtet hat. Siehe zur Galenischen Thanatologie SCHADEL, ΘΑΝΑΤΟΣ, 121–135. A. a. O., 127: „Die gleichen Kräfte nämlich, die als Gestaltungskräfte die Körperform aus dem Feuchten, Ungestalten werden lassen, richten sich als destruierende Kräfte gegen das Gestaltete selbst, wenn ihr eigentliches Ziel, die Formung und Entfaltung der Körpergestalt, erreicht ist. […] Galen versucht mit dieser gegensätzlichen Kräftebewegung Anfang und Ende der Lebensbewegung eines Organismus aus diesem selbst heraus zu begreifen.“ Zum Demiurgen Galens, der in seiner „Weisheit“ und in seinem Einrichtenwollen des gesamten Kosmos personale Züge gewinnt: Galen Us. part. 237f. Auch Galen muss dabei von seiner Theoriebildung her die Vorstellung einer unsterblichen „Seele“ bzw. eines eigenständigen Seins der „Seele“ – die ihm aus der platonischen Tradition vertraut ist – einerseits skeptisch negieren. Andererseits kann er die Frage jedoch auch unentschieden lassen. Siehe die Diskussion der verschiedenen Galenischen Äußerungen zur Unsterblichkeit der Seele bei SCHADEL, a. a. O., 127f.
24
Einleitung Insgesamt ist die Thanatologie ein Feld, auf dem frühchristliche Sprach- und Differenzierungsmöglichkeiten weit über das hinausgehen, was in antik-medizinischen Quellen aussagbar ist. Der Fokus ist ein anderer, das Interesse an post mortem-Vorgängen schärft den anthropologischen und den kosmologischen Blick und gestaltet ihn konkret und detailreich.43 Das ist ein signifikanter Befund, insofern der Vergleich der unterschiedlichen Wissensgebiete und Traditionsfelder ansonsten oft zum umgekehrten Urteil führt, nämlich zu dem, dass medizinische Quellen als Fachtexte einen höheren Differenzierungsgrad aufweisen.
3.
Im Fokus muss das Bemühen um eine vertiefte Einsicht in die Sprachkompetenz der so verschiedenen Texte und Corpora stehen.44 Dass diese sich überhaupt gegenseitig in eine Beziehung setzen lassen, ergibt sich auf der Basis der (spät-)antiken Philosophie.45 Bestand von Beginn an eine enge Wechselwirkung zwischen der Theoriebildung resp. „Kunst“ der Ärzte in der Tradition des großen Hippokrates und philosophischen Theoremen, so wurde die Philosophie schließlich zum Motor des Wissenstransfers medizinaler Anschauungen in der urbanen Welt. Elemente und Sprachformen hellenistisch-römischer geschulter Medizin wurden auch zu „Laienwissen“, und dies besonders dort, wo Städter Wissen und einschlägige Erfahrungen mit Ärzten besaßen. Angefangen bei der frühionischen Naturphilosophie über die großen Philosophen der Zeit der klassischen Polis bis hin zu einem dem eklektischen Stoizismus verpflichteten Seneca oder dem dem Mittelplatonismus zuzurechnenden Plutarch von Chaironeia sind Vorgänge der Rezeption medizinischen Fachwissens in erheblichem Umfang festzustellen. Die kaiserzeitliche Popularphilosophie macht z. B. umfassend von einer metaphorischen Auslegung von „Lastern“ als „krankhaft“ Gebrauch und begreift ihre Überwindung als Heilung durch den medizinischen Logos der (richtigen) Philosophie.46 Die hellenistische und dann die kaiserzeitliche Philosophie sind auch ganz wesentlich dafür verantwortlich, dass entsprechende Kenntnisse und entsprechende literarische Adaptionen sehr bald im hellenistischen Judentum begegnen. Hier vermag das werdende Christentum anzuschließen, wie es sich in ersten Ansätzen im ersten Jahrhundert zeigt und dann ab dem zweiten Jahrhundert immer umfassender geschieht.
43
Vgl. hierzu V. BENDEMANN, ΣΩΜΑ, 81–120 (siehe in diesem Band 353–379). In der Sache sind alle Beiträge in diesem Buch dem Programm des (alten und neuen) WETTSTEIN bzw. dem des Corpus Hellenisticum verpflichtet – ohne dass damit die eminente Bedeutung des (hellenistischen) Judentums in irgendeiner Weise herabgesetzt werden soll. Ein Studium der Zeugnisse des hellenistischen Judentums setzt die Kenntnis der hellenistischen Literatur voraus. Siehe hierzu V. BENDEMANN, Körperkonzeptionen, 157–191 (siehe in diesem Band 323–352); zu Plutarch: DERS., Metaphorik, 181–213 (siehe in diesem Band 237–269). Zu Cicero und seinen Vorgängern: KOCH, Philosophie.
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Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, wie wenig das medizinale Paradigma in den Briefen des Apostels Paulus aktiviert wird.47 Im Blick auf das in den neutestamentlichen Kanon eingegangene Schrifttum, und hier auf die ältesten in ihm enthaltenen Schriften, erstaunt das nahezu völlige Fehlen entsprechender medizinischmetaphorischer Vorstellungen in der paulinischen Anthropologie, Hamartiologie und Soteriologie. In einem höheren Maß, als dies zumeist in „Theologien des Neuen Testaments“, die oft im paulinischen Schrifttum einen – wenn nicht den – sachlichen Ausgangspunkt für Systematisierungen nehmen, zur Geltung gebracht wird, verweist dies auf die eigene Positionierung der paulinischen Weltsicht und Interpretation des Christusgeschehens. Bei Paulus stoßen wir gegenüber der ältesten Jesustradition und den ihr verpflichteten Erzählungen der Evangelien auf einen dezidiert anderen Ansatz, der nicht vom Paradigma körperlicher Heilung ausgeht. Der Befund überrascht um so mehr, als Paulus in seinem literarischen Schaffen in vielem dem hellenistischen Judentum, welches sich griechischer Bildung und entsprechendem Fach- und Alltagswissen der griechischen Medizin in Ansätzen geöffnet hatte, verpflichtet ist und über eine Bildung verfügt, mit der ihm Kenntnisse der verschiedenen medikalen Kulturen seiner Zeit zugängig sein mussten. Paulus denkt in seiner Anthropologie jedoch nicht vom Menschen qua natura (φύσις) her, er kennt z. B. nicht den temperierten Menschen, wie er in antik-medizinischer Krankheitskonstruktion im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen kann.48 Er nutzt in seiner Hamartiologie nicht das „Krankheits“-Paradigma, und umgekehrt entwirft er anders als dann Kirchenväter wie Tertullian oder Origenes die Bedeutung des Christusgeschehens noch nicht in medizinalen Metaphern.49 Der 1. Korintherbrief zeigt, wie Paulus reagiert, wenn ihm entsprechende Fragen und Probleme des Umgangs mit Körperlichkeit von außen aufgedrängt werden. Trotz der Konfrontation mit Problemstellungen, die sich im weiteren Sinn einer städtisch-medikalen Kultur zuwiesen lassen, entwickelt er seine Lösungen hier jedoch nicht vom Paradigma der ArztSorge (Christi) her, sondern vielmehr weithin non-medikal gedacht von der Idee der Selbstsorge des Körpers. Wurde ehedem in Gesamtdarstellungen einer Theologie des Neuen Testaments vielfach Paulus in problematischer Weise gegen die Evangelien ausgespielt, so darf man freilich nun nicht in der umgekehrten Richtung dem Fehler verfallen, die Evangelien mit ihrem therapeutischen Jesusbild gegen Paulus zu sistieren. Paulus setzt anders an; als jüdischer Mensch repräsentiert er nicht eine „arztlose Gesellschaft“ (zu dieser forschungsgeschichtlichen Sackgasse s. o.), und „Körperlichkeit“ wird bei ihm anders konzeptualisiert und durchdrungen.
4.
Historische Horizonte und Neubewertungen von Kontexten
Die Beiträge in diesem Buch sind nicht primär historisch orientiert, sondern zielen auf die literarische Darstellungsebene bzw. das Textverstehen (s. u. Pkt. 5.). 47 48 49
Siehe hierzu V. BENDEMANN, Körperkonzeptionen, 157–191 (siehe in diesem Band 323–352). Siehe hierzu V. BENDEMANN, Hitze, 231–262 (siehe in diesem Band 159–188). Extensiv machen auch mittelalterliche und frühneuzeitliche Theologen von medizinalmetaphorischer Sprache Gebrauch. Das gilt besonders auch für Luther; vgl. hierzu PLATHOW, Christus, 23–34.
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Sie haben aber gleichwohl historische Implikationen, die verschiedene Bereiche der neutestamentlichen Wissenschaft betreffen. 1.
Die Frage, wie die wunderbare Heilpraxis Jesu adäquat zu beschreiben und zu interpretieren ist, bleibt in der Forschung nach wie vor umstritten. Ein grundlegendes Anliegen der Beiträge in diesem Buch ist es, Proportionen und Maßstäbe eines Gesamtbildes zurechtzurücken, wie es die Forschung im 20. Jahrhundert lange dominiert hat und teils immer noch nachwirkt. In älteren Gesamtdarstellungen des „historischen Jesus“ wurden die Dämonenbannungen und Therapien Jesu häufig nur relativ knapp und eher appendixhaft im Blick auf die sogenannte Wortüberlieferung behandelt. 50 Die Heilpraxis Jesu wurde damit weit reichend auf die Illuminierung seiner Lehre reduziert. Teilweise konnte hierbei nachwirken, dass man sich in Reaktion auf die Forschungsdebatten nach dem 2. Weltkrieg („Entmythologisierung“ u. a.) vor Konflikten mit dem neuzeitlichen Weltbild fürchtete resp. sich so der ältesten Jesustradition unter Aspekten ihrer Kommunikabilität ein Stück weit „schämte“. Einem entsprechenden downsizing des Heiltäters Jesu widersetzen sich die textuellen Befunde jedoch. Die Überlieferung der „Taten“ Jesu muss keineswegs mehr in ihrer „Echtheit“ verdächtigt werden als die der Worte. Im Gegenteil sprechen sehr gute Gründe dafür, dass in vielen Erzählstoffen aufgrund ihrer variantenreichen und unverwechselbaren Gestalt und Syntagmatik nicht erst Produkte der nachösterlichen „Missionspropaganda“ (vgl. A. V. HARNACK; vgl. R. BULTMANN, Geschichte der Synoptischen Tradition) greifbar werden, sondern man den Boden der ältesten Jesustradition betritt. Die Texte reflektieren deutlich den Primat der therapeutischen Praxis Jesu gegenüber der worthaften Ansage, dass die βασιλεία des Gottes Israels nahe sei: Die Erfahrung, dass Dämonen weichen und Kranke von ihren Leiden befreit werden, begründet die Gewissheit der Ankunft der Königsherrschaft Gottes sowohl auf Seiten des Heiltäters als auch auf Seiten der Heilung Erwartenden, die Jesus eben darum in Scharen zulaufen. 51 Die wissenschaftssprachliche Beschreibung dieser Praxis und dieses Gefälles ist beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht abschließend zu beurteilen bzw. auch zu nominalisieren. Festzustellen ist: In der aktuellen Forschung ist z. B. die Furcht vor der Verwendung des „Magie“-Begriffs im Zusammenhang der wundertätigen Performativität, wie sie Jesus in den Erzählungen zugeschrieben wird, rückläufig. Man kann von einer Entmythologisierung des „Magie“-Begriffs sprechen. Hiermit ergeben sich neue An-
50
Siehe hierzu die Einzelnachweise in V. BENDEMANN, Heilungen, 305–312 (siehe in diesem Band 118–124). Dabei sind „Worte“ und „Taten“ natürlich nicht voneinander zu separieren. Die βασιλείαVerkündigung bietet das entscheidende reframing, innerhalb dessen die πράξεις Jesu erst ihre Wirkung entfalten können.
51
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schlussfelder zu Bereichen medizinischer Praxis (medicina magica; „Paramedizin“).52 Von der neutestamentlichen Forschung des 20. Jahrhunderts wurde der Abstand zur antiken Medizin in der Regel so stark betont, dass ein traditionsgeschichtlicher Dialog mit ihren Zeugnissen weithin sinnlos erscheinen musste. In die ältere Forschungsgeschichte spielte auch das Vorurteil des Judentums als einer arztlosen Gesellschaft hinein. Jüngere Forschungen legen dagegen den Abschied von der Vorstellung nahe, dass sich eine feste Systematik der Felder resp. der Attribute (Prophet; Messias; Magier; Schamane; apokalyptischer Wundercharismatiker; charismatischer Heiler u. v. a. m.) entwickeln lässt. Je nach Betrachtungsperspektive ergeben sich unterschiedliche Facetten eines Bildes, das in jedem Fall immer auf Forschungstheoreme rückbezüglich bleibt, es sei denn, man würde der kurzschlüssigen Annahme erliegen, man könne wissenschaftliche Beschreibungsbegriffe einfachhin durch das Verwenden oder Prolongieren von quellsprachlichen Kategorien gewinnen. Modelle, an denen sich Darstellungen des „historischen Jesus“ ausrichten, dürfen auch in einer Spannung stehen. Mehrere Modelle können dazu verhelfen, ein Problem besser zu beschreiben und gerade auch unter der Inkaufnahme gewisser systemischer/ logischer Spannungen zu einer Lösung beitragen.53 2.
Die Beiträge dieses Buches interagieren auch mit verschiedenen Möglichkeiten einer Darstellung der Geschichte des Frühchristentums. Die Wahrnehmung von körperlichen Zusammenhängen sowie der Praxis heilender Akteure in Zeugnissen des Neuen Testaments und des weiteren Frühchristentums bietet ein „Messinstrument“ der historischen resp. theologiegeschichtlichen Entwicklung des Christentums der ersten Jahrhunderte. Im ersten Jahrhundert sieht man Vorgänge der Rezeption von griechisch-römischem heilkundlichem Wissen erst in statu nascendi. Sukzessive begegnen die zunächst überwiegend zur Unterschicht zu rechnenden Angehörigen des neuen Glaubens geschulteren Ärzten, Erklärungsmodellen, Theoremen und Praxisformen der griechisch-römischen Medizin. Es kommt dort, wo jüdische Erklärungskonzepte von Krankheit und Gesundwerden in der Begegnung mit griechisch-römischen Erklärungsansätzen und Praktiken dominieren, zu Fremdheitserfahrungen und Vorgängen der Demarkation. Zugleich kann das sich etablierende und ausbreitende Christentum an verschiedene Formen von „Judentümern“ mit ihren beginnenden Rezeptionen medizinaler Sprachformen und Vorstellungen anschließen; nach und nach, jedoch
52
Siehe zum Problem „magischer“ Praxis V. BENDEMANN, Rückfall, 469–506 (siehe in diesem Band 189–216). Zum Problem siehe SCHRÖTER, Heilungen, der mit Recht geltend macht, dass die Kategorie „Wunder“ („Wundertäter“) die Problematik der Konzeptualisierung lediglich überwölbt, sie aber nicht löst (a. a. O., 137f.).
53
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Einleitung keineswegs gleichmäßig und unkritisch, sind dann Vorgänge der Öffnung und Annäherung zu beobachten, die mit sich ändernden sozialen Situierungen und Bildungsniveaus einhergehen.
3.
5.
Spannend werden entsprechende Forschungsschritte auch in der Verbindung mit rezeptionsbezogenen Herangehensweisen an frühchristliche Texte. Es finden sich Indizien dafür, dass Erzähltexte schon früh für eine heilkundliche „Multilingualität“ anschlussfähig sind: Im Visier können Leserschaften frühchristlicher Texte sein, die nicht nur das eine „Modell“ (s. o.) kennen – das einer wunderbaren/erhofften vollständigen Befreiung von krankhaften Leiden durch das souveräne Charisma eines Wundertäters/ Heilers o. ä. –, sondern z. B. auch Zugänge einer jüdischen medicina domestica bzw. der priesterlich konzeptualisierten Deutung von Krankheit und Leid, und die schließlich auch Erfahrungen mit Akteuren der hellenistisch-römischen Medizin gemacht haben. Solche Leserschaften waren seit dem 1. und 2. Jahrhundert ggf. in der Lage, die unterschiedlichen „Modelle“ in eine Beziehung zueinander zu setzen, sie zu vergleichen, und auch: sie gewissermaßen von einer medizinalen Zeichenlehre in eine andere zu übersetzen. So kann z. B. das dämonologische Modell in altchristlichen Texten mit einer medizinisch konturierten Vorstellung der materia peccans translatorisch vermittelt werden, wenn Leserinnen und Leser frühchristlicher Texte ihrerseits Erfahrungen mit „Ärzten“ gemacht hatten.
Narrative Salutogenese
Der Hauptfokus der Beiträge in diesem Buch liegt nicht auf historischen Fragen, sondern auf der Ebene der erzählerischen Konstruktionen und des Textverstehens sowie auf Fragen einer erzählerischen Hermeneutik von Krankheit und Heilung.54 1.
In den frühchristlichen Zeugnissen der ersten beiden Jahrhunderte ist eine eigentümliche Verbindung des Themenfeldes Krankheit/Gesundheit zur narrativen Sprachform festzustellen. Die Beiträge dieses Buches beschreiten verschiedene methodische Wege, um mit der narrativen Sprachform in ihrer besonderen Affinität zum Themenkreis Krankheit/Gesundheit/Heilung umzugehen. Vor allem das Erzählen konkreter Krankheiten gewinnt in den frühchristlichen Texten ein unverwechselbares und besonders Profil. „Krank-
54
Vgl. zur Vermittlung von Literatur, Kunst und medizinischem Wissen bzw. Konzepten von Kranken und Krankheit das von B. VON JAGOW und F. STEGER seit 2007 herausgegebene „Jahrbuch Literatur und Medizin“.
Einleitung
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heitsbilder“ und „Krankheitswissen“ bestimmen und strukturieren die Geschichten in einem viel höheren Grad, als es insbesondere die lange Zeit die neutestamentliche Forschung so stark dominierende Formgeschichte der „Wunder“ wahrzunehmen vermochte. Manche Erzählungen appellieren auch an ein Krankheitswissen der Leserschaft; sie aktivieren entsprechende Konnotationen und evozieren auf dieser Basis unverwechselbare Bilder der „Patienten“, des Heiltäters, weiterer beteiligter Akteure und ihrer handelnden Interkorrelation. Erzählungen gesundheitlicher Störungen und ihrer Überwindung sind von erheblicher Bedeutung für das Verständnis der Konzeptionen der Makroerzählungen, deren Teil sie in der frühchristlichen Literatur und im weiteren altkirchlichen Schrifttum geworden sind.55 2.
Sowohl ärztliches Handeln als auch diejenigen Zugänge und Praktiken, die sich weiteren institutionellen Bereichen wie einzelnen mit Heilung befassten Akteuren zurechnen lassen, zielen intentional die Befreiung von körperlichem Leiden an. Dies gilt in Sonderheit für das Handeln Jesu und seiner Nachfolger, so wie die Evangelien berichten. Insofern kann man von einer grundsätzlichen sanitas- resp. salus-Orientierung der Texte sprechen, die dem doppelten semantischen Potential der griechischen Wurzel σῴζ- („retten“ und gesundheitlich „heilen“) entspricht. Im Vergleich mit dem großen Corpus antik-medizinischer Literatur, dessen Genese sich über einen Zeitraum von ca. 700 Jahren erstreckt, ist eine Eigentümlichkeit der frühchristlichen Erzählungen darin zu erkennen, dass die „Patienten“ und ihre kranken Körper erzählerisch nicht primär unter der Perspektive von Faktoren konzeptualisiert und inszeniert werden, die sie krank machen / gemacht haben (materia peccans u. a.), sondern vielmehr a priori unter dem Vorzeichen einer optimistischen Haltung, die das Christusgeschehen als Gesundheit und Heilung siegreich vermittelnd interpretiert. Der in diesem Band für entsprechende Vorgänge literarischer Konzeptualisierung von Krankheit und Heilung vorgeschlagene und genutzte Begriff der Salutogenese entstammt als terminus ursprünglich den health care studies. Dieser auf AARON ANTONOWSKY zurückgehende und seinerzeit innovative Ansatz ist inzwischen seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Wissenschafts-
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Die Eigenart der Texte bedingt, dass die „Betroffenenebene“ nur wenig belichtet ist; die iatrozentrische Sicht schlägt auch in frühchristlichen Texten durch. „Krankengeschichten“ (illness narratives) als Wirklichkeitserzählungen (vgl. KLEIN/MARTÍNEZ, Wirklichkeitserzählungen) aus dem Mund der tangierten Menschen („Patienten“), die auf ihr Leben und dessen Beeinflussung durch ein Leiden persönlich reflektieren, sind allenfalls rudimentär angelegt. Es dominiert auktoriales Berichten der Erzählerinstanzen der jeweiligen Schriften, die die Heilhandlungen strukturieren, Gegebenheiten, Sequenzen, Figuren, Orte und Zeiten differenzieren und ausgestalten.
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Einleitung zweigen und Disziplinen über die Gesundheitsforschung hinaus intensiv diskutiert und teils auch kritisch hinterfragt worden.56 Die Beiträge im vorliegenden Band schließen intentional jedoch nicht an den Diskurs in den health care studies an, sondern beziehen sich vielmehr sachlich auf grundlegende Ansätze aus dem Bereich der Literaturwissenschaften und insbesondere auf einen Zweig der Erzählforschung, der das Konzept der Salutogenese in die Interpretation narrativer Texte einbringt.57 Hiermit verbinden sich auch Fragen nach der heilenden Wirkmächtigkeit des Erzählens resp. der Rezeption von Literatur und der Heilungshermeneutik des Lesens.58 Das Neue Testament leistet mit seiner Wirklichkeitsdeutung einen Beitrag dazu, einseitige Perspektivierungen von Krankheit zu überwinden, insbesondere eine vereinseitigend pathogenetische Sichtweise.
6.
Ausblick – Contagion
Gerade das Feld der Erforschung frühchristlicher Konzepte von Krankheit, Heilung und Heil zeigt – auf seine Geschichte gesehen –, dass auch kritische Forschung sich niemals gänzlich unabhängig von zeitgeschichtlichen, kulturellen und sozialen Kontexten vollzieht. Leserinnen und Leser dieses Buches werden ggf. ein Wort zur „Corona“-Situation erwarten. Seit Anfang des Jahres 2020 grassiert weltweit das SARS-CoV-2 Virus. Dieses Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem die gesundheitlichen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen und auch die theologischen Folgen der Pandemie noch in keiner Weise überblickt werden können, vielmehr der Aufarbeitung in verschiedensten Wissenschaftsgebieten harren, die Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. In vielerlei Hinsicht werden körperliche, vor allem aber auch soziale Implikationen und Konsequenzen intensiverer Erforschung bedürfen. Dem kann und soll hier nicht vorgegriffen werden. Immerhin sei in Hinsicht auf die in diesem Buch untersuchten Textgruppen und Wissensfelder vorläufig soviel festgestellt: Die viralen Ursachen für pandemisches Erkranken und Sterben, welches es bereits in der Antike gab, liegen außerhalb des kognitiven Gesichtskreises der 56
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ANTONOWSKY, Health; DERS., Salutogenese; DERS., Mystery; SCHÜFFEL u. a. (Hg.), Handbuch; WYDLER, Salutogenese; TAGAY, Salutogenesis, 1707–1709. Besonders in Hinsicht auf das inhärierte Menschenbild bzw. die Intentionalität einer möglichst raschen und effizienten Wiederherstellung menschlicher Lebenskraft und Leistungsfähigkeit ist das Konzept vor Gefahren einer ökonomisch-missbräuchlichen Instrumentalisierung nicht gänzlich geschützt. Siehe hierzu mit weiterer Forschungsliteratur NÜNNING/NÜNNING, Well-Being, 157–186. Vgl. hierzu CHARON, Medicine; GERK, Lesen; MEHL-MADRONA, Medicine; ECHTERHOFF, Geschichten, 265–290; HYDÉN/BROCKMEIER (Hg.), Health; MATTINGLY/GARRO (Hg.), Narrative.
Einleitung
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ersten Christinnen und Christen. Retrospektiv beurteilt, blicken wir hier in eine Welt des Nicht-Wissens und des Nicht-Verstehens und zeigt sich der eminente Fortschritt der modernen Medizin im Vergleich zu ihren der westlichen Medizin v. a. durch Galen von Pergamon vermittelten Anfängen. „Seuchen“ können im Frühchristentum – unverstanden – unter die apokalyptischen signa gerechnet werden.59 Dem Jesus der Evangelien und den nachösterlichen Zeugen, die nach dem Bild der Apostelgeschichte des Lukas die therapeutische Praxis fortführen, werden eine Kontrolle oder gar eine Beseitigung gravierender „epidemischer“/ „pandemischer“ Störungen nicht zugeschrieben.60 Dagegen finden wir in frühchristlichen Texten verschiedene Konzepte eines contagion, in denen ein ansteckendes „Überspringen“ nicht stofflich verstanden ist.61 Vielmehr sind Vorgänge der Konzeptualisierung eines mentalen, sozialen und emotiven contagion („Ansteckung“)62 zu beobachten. Frühchristliche Texte fokussieren dabei vorrangig auf die religiös-theologischen Implikationen und verhängnisvollen Auswirkungen solcher contagion-Mechanismen, durch welche homines hominibus lupi (Menschen anderen Menschen zu Wölfen) werden können.63 Unter die wesentlichen Voraussetzungen hierfür sind antikjüdische Konzepte von Gemeinschaftsfähigkeit, Reinheit und Kultfähigkeit zu rechnen, die im Neuen Testament rezipiert und nicht einfach kritisiert werden (vgl. nur Mk 1,40–45). Bemerkenswert ist, dass es auch im professionellen antik-medizinischen Schrifttum bis in die Zeit Galens nur wenige und in der Forschung umstrittene Belege für die Vorstellung gibt, dass ein contagion im Sinne eines giftigen Stoffes oder von semina („Samen“) zu begreifen sei, welche von einem Menschen zum
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Lukas fügt in Lk 21,11 gegenüber Mk 13,7 die λοιμοί hinzu. Die Erdbeben werden zu „großen“ Erdbeben; das „von Ort zu Ort“ wird zu den „Hungersnöten“ transloziert. Dadurch wird im Griechischen die Nebeneinanderstellung von λιμοὶ καὶ λοιμοί erreicht, die literarisch auch sonst als Paar begegnen: Hes. erg. 243; Herodot VII 171; Plut. mor. 370 B; Ios. bell. Iud. I 377; IV 361; TestJud 23,3; OrSib 2,23; 8,175 u. a. Man muss beachten, dass der Begriff der „Epidemie“ im Gefolge der hippokratischen Tradition anders konfiguriert ist als im neuzeitlichen Sprachgebrauch; „Epidemien“ sind Krankheiten resp. Leiden, die eine besondere Affinität zu einer Gegend, einem „Volk“ haben bzw. unter besonderen klimatisch-jahreszeitlichen Bedingungen hier gehäuft zu verzeichnen sind. Zur Frage, ob es im „Aussatz“-Problem um „Ansteckungs“-Gefahr geht, schon PREUSS, Medizin, 371–373 (a. a. O., 372: „Wir nehmen nur an, dass es die Furcht vor der Uebertragung war, weil wir heute keinen anderen Grund zur Abschliessung eines körperlich Kranken mehr anerkennen […]“). Zum mentalen, emotionalen und sozialen contagion: BRODIE, Virus; DOHERTY, Contagion, 131– 154; BURT, Contagion, 1287–1335; GARDNER; Pestilence; HATFIELD u. a. (Hg.), Contagion; JONES/JONES, Pathways, 193–209; LEVY/NAIL, Contagion, 233–284; WHEELER, Theory, 179–192. Vgl. z. B. in V. BENDEMANN, Krankheit, 163–185 (siehe in diesem Band 67–90) das Beispiel von Lk 14,1–6; vgl. zur Epilepsie DERS., Heilige Krankheit, 11–44 (siehe in diesem Band 125– 156); zur Taubstummheit DERS., Auditus, 55–69 (siehe in diesem Band 217–235).
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Einleitung
anderen Menschen weitergeben werden.64 K.-H. Leven konstatiert, dass „das Konzept der Ansteckung“ in medizinischen Fachtexten „kaum eine Rolle“ spiele.65 „Ansteckung“ vieler wird grundsätzlich konzeptualisiert als ein Affiziertwerden der vielen von einer bedrohlichen Materie, von einem Konglomerat ungünstiger Konditionen o. ä. – gemeinsam, aber nicht in interpersonaler Dependenz eines Gesunden von einem Kranken. Vereinfacht gesagt: A [krank] „steckt“ nicht B [gesund] „an“, „steckt“ nicht erkrankt C [gesund] „an“ […]; sondern vielmehr: „A [gesund], B [gesund] und C [gesund] …“ werden ggf. unabhängig voneinander von xy „affiziert“.66 Dieser Befund bestätigt sich insgesamt auch in den literarischen Berichten „epidemischer“ Massenerkrankungen in der Antike und Spätantike, die in der Forschung unter dem Label „Pest“ verhandelt werden.67 Es wäre intensiver zu erforschen, wie sich contagion und Mechanismen der Exklusion in altjüdischen und frühchristlichen Texten genauer zueinander ver64
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Zu unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Ansteckung in antik-medizinischen Quellen: LEVEN, Art. Ansteckung, 55. Der Charakter des bei der Ansteckung weitergegebenen Stoffes sei am ehesten einem Gift zu vergleichen, jedoch stets hypothetisch gewesen. Das semina-Konzept ist dabei ein Sonderfall, der seine Wurzeln in atomistischen Vorstellungen hat. Krankheiten werden hier auf schädliche Stoffe in der Luft zurückgeführt; die Belege sind im Einzelnen umstritten (vgl. NUTTON, Seeds, 1–34). LEVEN, Art. Krankheitssamen, 535. Zum Forschungsproblem der Konzeptualisierung von „Ansteckung“ in antik-medizinischen Texten: GRMEK, Vicissitudes, 53–70; JOUANNA, Air, 9–28; NUTTON, Greeks, 137–162; TEMKIN, Analysis, 456–471. Zur sogenannten „Antoninischen Pest“ (ontologisch nicht zu diagnostizieren und insbesondere nicht sicher mit „Pocken“ zu identifizieren), die im Heer des Avidius Cassius am Tigris ausbrach und sich schnell ausbreitete, vgl. Amm. XXIII 6.24; zuvor wird sie schon bei den Partern identifiziert; vgl. Lukian hist. conscr. 15; aus Arist. Or. 48,38–45 geht hervor, dass die „Pest“ bald Smyrna erreichte; im Jahr 166 wird Galen in Rom mit ihr konfrontiert, der einen weiteren Ausbruch in Aquileia erlebt (Galen libr. propr.). Von Rom wird sie in den Westen und in den Norden des Imperiums transloziert (vgl. inschriftlich: CIL 3,5567 u. a.). Nach Cass. Dio 73,14,3f. hätte die „Pest“ in Rom im Jahr 189 zweitausend Tote täglich gefordert. Erfasste die „Antoninische Pest“ nahezu den gesamten Radius des römischen Imperiums, so blieb demgegenüber nach den Quellen die sog. „Attische Pest“, die zu Beginn des Peloponnesischen Krieges auftrat, offenbar weitgehend auf Athen beschränkt. Galen bezieht sich später auf den literarisch sehr einflussreichen Bericht des Thukydides von ihr (vgl. Thuk. II 47–54; III 87) und bringt sie mit der von ihm erlebten „Antoninischen Pest“ in Verbindung (Galen Simpl. Med. temp. I 4); Thukydides nennt er in diesem Zusammenhang in medizinischen Fragen einen ἰδιώτης (vgl. Galen Diff. resp. 2,7). Die sog. „Justinianische Pest“ erfasste im 6. Jahrhundert ausgehend von Ägypten das byzantinische Reich sowie das Gebiet der Sasaniden in periodischen Schüben; über sie unterrichten Prokop (Bell. Pers. II 22f.) und Euagrios Scholastikos (Hist. eccl. 4,29) sowie zahlreiche weitere Quellen. Siehe im Einzelnen BERGDOLT, Art. Pest, 684–686; DUNCAN-JONES, Impact, 108–136; HORSTMANNSHOFF, Epidemie, 43–65; KUDLIEN, Urteil, 132f.; LEVEN, Thukydides, 128–160; DERS., Art. Krankheitssamen, 535f.; DERS., Pest, 137–161; LITTMAN/ LITTMAN, Galen, 243–255; MEIER, Pest. Siehe die jüngst intensiv diskutierte Arbeit von HARPER, Fate; NUTTON, Krankheiten, 1102–1104; BRUUN, Plague, 201–217. Zu Infektionskrankheiten römischer Kaiser: CORDRUWISCH, Infektionskrankheiten.
Einleitung
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halten und in welchen kommunikativen Zusammenhängen „Aggression“ zu beobachten ist. Zudem stellt sich auch hier die Frage, wann, wo und unter welchen Bedingungen es im Übergang vom Frühchristentum hin zur Alten Kirche ggf. auch zu einem genaueren physiologischen Verstehen von contagion-Vorgängen etwa beim Kontakt mit Tieren68 oder mit Leichen69 kommt und verschiedene Paradigmen der Erklärung (sc. medizinische, religiöse, hygienische u. a.) aufeinander bezogen und ggf. auch wechselseitig ineinander übersetzt werden können.
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Ein Beispiel dafür, dass derlei in der Antike bekannt war, findet sich in den „Quaestiones Romanae“ des Plutarch. Dieser erörtert hier, warum dem flamen Dialis, einem römischen Jupiterpriester, das Berühren einer Ziege und das Aussprechen des Wortes „Ziege“ nicht erlaubt war (Plut. quR. 290 ab). Plutarch führt zwei Begründungen an: Neben der Möglichkeit, dass der Ekel vor dem Gestank und der Geilheit der Ziege dahintersteht, wird die Furcht vor Ansteckung mit Epilepsie genannt: „Denn offenbar erkrankt sie von allen Tieren am häufigsten an Epilepsie und steckt, wenn sie die Erkrankung hat, (Menschen), die (ihr Fleisch) essen oder sie berühren, an (προσαναχρώννυσθαι). Man sagt, die Ursache seien ihre engen und deshalb häufig verstopften Luftwege, und nennt als Beweis ihre schwache Stimme.“ – In CH De morb. 11,2ff. wird demgegenüber als physiologischer Grund angeführt, Ziegen hätten zuviel feuchtes Phlegma im Gehirn. Zur Verunreinigung an/mit Toten und den entsprechenden Problemen der Versorgung der Leichname im antiken Rom: LINDSAY, Death-Pollution, 152–173.
TEIL I CHRISTUS DER ARZT – DER SALUTOGENETISCHE ANSATZ
Christus der Arzt Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen des Markusevangeliums 1.
Christus Medicus im Markusevangelium? – Annäherungen an ein umstrittenes Problemfeld
Nach der hippokratischen Schrift „Prognostikon“ gilt als der beste Arzt derjenige, der die richtige Prognose über den Verlauf einer Krankheit zu geben vermag. Hierbei hat der Arzt vor allem eine Grundunterscheidung möglichst zuverlässig zu treffen: Die Unterscheidung zwischen Kranken, die sterben werden, und solchen, die zu retten sind (vgl. CH Progn. I; XXV).1 In seiner Behandlung wird der Arzt dann versuchen, Gesundheit wiederherzustellen, zu verlängern und zu bewahren: Gesundheit im Sinne des guten und richtigen Zustandes einer neuen Normalität. Das frühchristliche MkEv vermittelt demgegenüber ein anderes, von umfassenderem Zutrauen getragenes Bild eines Heiltäters. Zum einen bedarf dieser der Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen therapierbaren und aussichtslosen Krankheitsfällen nicht. Seiner Heilfähigkeit ist grundsätzlich kein Leid unüberwindlich. – Auch wenn Mk noch nicht explizit behauptet, Jesus habe alle geheilt (vgl. den Unterschied zwischen Mk 1,34; 3,10 und Mt 12,15).2 Zum
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Ursprünglich erschienen in: BZ 54 (2010), 36–53.162–178. Geringfügig bearbeitete und durch Anmerkungen ergänzte Fassung der Gastvorlesung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz am 27.4.2005. In gekürzter Form erschien der Text in: PICHLER, J./HEIL, C. (Hg.), Heilungen und Wunder. Theologische, historische und medizinische Zugänge, Darmstadt 2007, 105–129. CH Progn. I (lat.): [...] salvos enim facere omnes aegrotantes impossibile est [...]; [...] morituros autem et evasuros praesciens et praedicans inculpabilis erit; XXV: opportet autem eum qui recte habet praedicere evasuros et morituros [...] Zum Hintergrund der Differenzierung im Corpus Hippocraticum (περὶ τέχνης; Art.; Morb. Sacr.): WACHT, Art. Krankenfürsorge, 842f. Die summarischen Notizen der Evangelien spiegeln das zugrunde liegende primäre Gesundheitssystem, in dem zunächst die Familie, Sippe oder Dorfgemeinschaft Verantwortung für die Kranken übernimmt. Das konveniert auch mit römischer pietas (vgl. Hor. sat. I 1,80–84; Tac. Agr. 45,4; Suet. Tib. 11,2; Apul. met. VIII 11,3 u. a. m.); nach Xenoph. oec. 7,37 obliegt der Hausfrau die Sorge für die erkrankten Familienmitglieder; siehe weiter WACHT, Art. Krankenfürsorge, 839f.847–849.855f. Ewige Freiheit von Krank-
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Christus der Arzt
anderen aber ist für Jesus, wie von ihm im zweiten Evangelium erzählt wird, „Gesundheit“ in dem in der Antike verbreiteten Sinn der Stärke kein Wert oder Zweck an sich.3 Das „Heil“, das Jesus als Heiltäter vermittelt, hängt mit der Appräsentation einer fremden, anderen Zeit zusammen, die nicht allein menschliche Krankheit und körperliches Leid als Symptome einer auf ihr Ende zugehenden Zeit relativiert, sondern auf die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Daseins und menschlicher Ordnungswelt überhaupt verweist. Auf dem Hintergrund solcher Differenzen ist die monolineare Identifikation V. HARNACKs nicht durchführbar, nach dem Jesus inmitten einer als heilungssüchtig eingestuften Welt „als Arzt […] in die Mitte seines Volkes getreten […]“ sei bzw. es in den ntl. Erzählungen „keine zutreffendere und ergreifendere bildliche Darstellung der Wirksamkeit Jesu“4 gebe als die des Arztes. Gleichwohl aber mehren sich die Anzeichen in jüngster Zeit, dass man für die Evangelienliteratur ein lohnendes Forschungsfeld lange Zeit zu Unrecht hat brachliegen lassen.5 Die folgende Analyse beschränkt sich auf das erzählerische Bild Jesu als Heiltäter im MkEv. Von den – je nach Zählung – siebzehn so genannten Wundererzählungen im zweiten Evangelium6 bieten die Mehrzahl Therapien und Exorzismen. Gemessen an der Länge des Textes ist das MkEv mit seinen zahl- und variantenreichen Krankenheilungen im Spektrum der (sowohl frühjüdischen als
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heit gehört ins Märchenland (Hom. Od. XV 407f.) oder in das Goldene Zeitalter (Hes. erg. 109–115; vgl. Diod. V 66,6). Vgl. zum Kult der Hygieia/Salus/Valetudo in der Antike KUDLIEN, Art. Gesundheit, 920–926. V. HARNACK, Medicinisches, 125 [89]. Zum Desiderat der Einbeziehung antik-medizinischer Texte und Vorstellungen in die Interpretation ntl. Heilungserzählungen vgl. LÜHRMANN, Wundergeschichten, 195–204. In den klassischen formgeschichtlichen Distinktionen: Dämonenbannungen: Mk 1,21–28; 5,1–20; 7,24–30; 9,14–29; Therapien: Mk 1,29–31.40–45; 2,1–12; 3,1–6; 5,25–34; 7,31–37; 8,22–26; 10,46–52; Totenerweckung: 5,21–24.35–43; sog. „Naturwunder“: 4,35–41; 6,45–52; Speisungs-/Geschenkwunder: 6,35–44; 8,1–9; vgl. das „Strafwunder“ in 11,12–14.20-26. Die formgeschichtlichen Gruppenbildungen sind dabei nicht abseits moderner hermeneutischer Konzepte zu gewinnen (besonders deutlich bei der in der älteren Formgeschichte definierten Kategorie der „Naturwunder“). In Hinsicht auf die Krankheitsthematik fällt auf, dass diese für die formgeschichtliche Reflexion keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Exemplarisch hierfür steht das Werk von THEIßEN, Wundergeschichten. Implizit und in die Einzelexegesen eingelagert bildet Theißens Arbeit das Mitte der 70er Jahre in der Bundesrepublik weithin prägende krankheits- und heilungshermeneutische Modell ab, nach dem strukturelle bzw. sozial-politische Faktoren als Determinanten menschlicher Erkrankung gelten, mit dem Effekt eines Profil- und Bedeutungsverlusts individuell-distinkter und konkreter körperlicher Störung. In Theißens formgeschichtlicher Typologie werden die einzelnen Leiden in funktional-motivischer Betrachtungsweise (vgl. ebd. 82f.) wechselseitig substituierbar. Diese Typologie (zu jüngeren Weiterentwicklungen und Korrekturen: KAHL, Testament) hat nachhaltig dazu beigetragen, dass den konkreten lebensweltlichen und krankheitshermeneutischen Faktoren in der Analyse von einzelnen Erkrankungen in der folgenden Geschichte der Erforschung frühchristlicher Therapieerzählungen kaum mehr Beachtung geschenkt worden ist.
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auch paganen) Literatur des 1. Jh. ein extravaganter Text.7 Darüber hinaus bündelt, interpretiert und verstärkt Mk das Bild Jesu als Heiltäter in drei (redaktionellen) Summarien im ersten erzählerischen Hauptteil. In Mk 1,32–34 wird berichtet, dass nicht weniger als die ganze Stadt Kafarnaum die Tür des Petrushauses belagert, um Kranke und Besessene zu bringen. Im zweiten großen Summar strömen Menschen aus nahezu sämtlichen Landesteilen, darüber hinaus aus Tyros und Sidon, zu Jesus (Mk 3,7–12). Und schließlich wird Jesus nach Mk 6,53–56 an jedem Ort, an den er kommt, von Heilung Suchenden umgeben. Es entsteht so im zweiten Evangelium der Gesamteindruck einer Aktivität, für die nach antikem Grundwissen keine andere Disziplin in der Weise zuständig wäre als die Heilkunde respektive Medizin. Auf das entsprechende erzählerische Gesamtbild hat sich die bisherige Erforschung der Wundererzählungen in dem Maß wenig konzentrieren können, in dem sie bis heute oft einseitig die Frage nach religionsgeschichtlichen Voraussetzungen und Analogien der Bauformen der Einzelerzählungen in den Vordergrund rückt. Das MkEv insgesamt hat ein therapeutisches Konzept – oder vorsichtiger: Es aktiviert verschiedenartige therapeutische Konzepte, die von Leserinnen und Lesern des 1. Jh. mit heilkundlichen Vorstellungen zu korrelieren sind. Die Erzählung des MkEv unterscheidet sich dabei noch deutlich von späteren bekenntnishaften Aussagen des 2. Jh. Erst etwa ein halbes Jahrhundert später erscheint Jesus erstmals explizit als göttlicher Arzt.8 Doch Ansatzpunkte dieser späteren Bekenntnisentwicklung finden sich bereits in der frühen Evangelienliteratur. 7
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Eine solche Beobachtung ist von der in der Forschung nach wie vor begegnenden Auffassung zu unterscheiden, die Voraussetzungen für eine entwickelte Heilkunst bzw. Diakonie habe erst das frühe Christentum schaffen können (so TOELLNER, Art. Heilkunde/Medizin, 747; vgl. zum Problem: POLLAK, Heilkunde, Bd. 2, 291–346), im Unterschied zu Israel und dem frühen Judentum. Dagegen hängt das weitgehende Schweigen der atl. und zeitgenössisch-jüdischen Schriften in Hinsicht auf medizinische Fragen unbeschadet einer bis ins Frühjudentum sich durchhaltenden grundlegenden Skepsis (vgl. Philo Sacr. 70; TestHiob 38 u. a.) zunächst mit dem genus der Texte zusammen, erlaubt jedenfalls keineswegs den Rückschluss einer gänzlichen Absenz der Medizin in Israel (vgl. NIEHR, JHWH, 17; siehe die wichtigen Korrekturen des älteren Bildes bei KUDLIEN, Art. Heilkunde, 236–239, nach dem es reguläre Ärzte und „eine wahrscheinlich über bloße Wund-H[eilkunde] hinausgehende“ Heilkunde schon im alten Israel gab; a. a. O., 238, u. a. gegen HENGEL/HENGEL, Heilungen, 338–373; vgl. AVALOS, Illness, 416f.; FERNGREN, Art. Krankheit, 983; zum Krankenbesuch in frühjüdischer Sicht: WACHT, Art. Krankenfürsorge, 853–855). In anders lautenden Einschätzungen wirken in der Sache apologetische Grenzziehungen aus der Alten Kirche nach; vgl. z. B. Julian, nach dem die Heilkunst der Juden defizitär blieb (Iul. epist.; in Gal. 222A); vgl. die Polemik Galens gegen den jüdischen Hippokrates-Kommentar des Rufus von Samaria: „das Volk dieses Mannes hat […] nicht die Fähigkeit, Bücher der Alten zu erklären […]“ (in CH Epid. 6 Comm 7; siehe KUDLIEN, Art. Gesundheit, 240f.). „Einer ist Arzt, fleischlich und auch geistlich […]“ (Ign. Eph. 7,2; zu medizinischen Vergleichen vgl. lgn. Eph. 20,2 [hierzu WEHR, Arznei, 106–111]; Trall. 6,2; Pol. 1,3; 2,1). Vgl. ActJoh 108 mit betontem μόνος: Christus als alleiniger „Beschützer deiner Knechte und Arzt“, der unentgeltlich heilt (ἰατρὸς δωρέαν ἰώμενος), zugleich alleiniger Retter (σωτήρ).
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Christus der Arzt
Im Folgenden soll nach den Bedeutungsaspekten von Krankheit/Krankheiten und Heilung als literarisch und insofern kulturell konstruierten Konzepten im MkEv gefragt werden. Es geht nicht um eine medizinhistorische Analyse, sondern vielmehr um Krankheits- und Heilungshermeneutik im Horizont hellenistisch-römischer Erzählkultur. 9 Wenn hierbei die Leserinnen und Leser des MkEv Teil der Analyse sind, dann ist damit im Folgenden zunächst die implizite Leserschaft gemeint, also eine Leserschaft, wie sie Teil der Textstrategie des Evangelisten ist. Diese Leserschaft muss aber unter den besonderen lebensweltlichen und soziohistorischen Rahmenbedingungen des 1. Jh. – als Teil der hellenistisch-römischen Zeit und Welt – darstellbar sein (d. h. es ist die Gefahr zu meiden, sie „modern“ zu modellieren).
2.
Leitsymptomatische Krankheitsdeutung im Markusevangelium
Bemerkenswert und als solche in der Forschung oftmals viel zu wenig berücksichtigt ist die Fülle verschiedener Krankheiten und Leiden, von denen im MkEv erzählt wird. Der Evangelist selbst spricht im Summar von vielfältigen/bunten/ facettenreichen Krankheiten (Mk 1,34: καὶ ἐθεράπευσεν πολλοὺς κακῶς ἔχοντας ποικίλαις νόσοις). Den Heilungen verschiedener Krankheiten kommt im Gerüstbau des MkEv eine je besondere und unverwechselbare Funktion zu. Für die Beschreibung des therapeutischen Konzepts des MkEv ist also nicht nur zu berücksichtigen, dass Jesus heilt und in welchen literarischen Formen dies dargestellt wird, sondern auch welche Krankheiten er heilt und welche Rolle diesen spezifischen Krankheiten im Gerüstbau der Erzählung zukommt (vgl. Beispiele u. Pkt. 4.).10 Mk aktiviert dabei in seiner Erzählung Krankheitswissen und Krankheitserfahrungen seiner Leserschaft und verarbeitet diese unter besonderen Prämissen: 1.
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„Krankheit“ ist schon in der Antike kein neutraler Begriff. Im Griechischen sind hier die verschiedenen Nuancen der attributiven oder verbalen, der priZur unterschiedlichen altkirchlichen Entwicklung des Vorstellungskreises vgl. KOLLMANN, Christen, 363–366; ARBESMANN, Concept, 1–28; FICHTNER, Christus, 1–18; FRINGS, Medizin; FERNÁNDEZ, Cristo; DÖRNEMANN, Krankheit (mit weiterer Literatur; vgl. a. a. O., 1f. Anm. 4); zur ikonographischen Wirkung: KNIPP, Christus (mit Literatur); zur reformatorischen Rezeption des Christologumenons: PLATHOW, Christus, 23–34. Vgl. zum methodischen Hintergrund PILCH, Healing (vgl. a. a. O., 41, zur Interdependenz der individuellen und kollektiven Konstruktion von Krankheitsbildern mit sprachlicher Wirklichkeitserschließung). Vgl. auch WEISSENRIEDER, Images, 21–42. Siehe hierzu V. BENDEMANN, lllnesses, 100–124.
Christus der Arzt
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vativen oder positiven Begrifflichkeit zu unterscheiden. 11 Schon der terminologische Befund weist darauf hin: Krankheit konstituiert sich als ein durch verschiedene Wahrnehmungen und Grundgegebenheiten bestimmtes Gefüge. Jede Identifikation eines Leidens basiert auf dem komplexen Verbund einer physisch, sozial und religiös präfigurierten Wirklichkeitsdeutung.12 Die Interpretation von Krankheiten in der frühchristlichen Literatur hat mit dem gravierenden Problem umzugehen, dass von einem „ontologischen“, d. h. objektiven (im Sinn von zeit- und kulturunabhängigen) Krankheitsbegriff13 nicht ausgegangen werden darf. Dies betrifft eine generelle Schwierigkeit des Umgangs mit kulturdependenten Definitionen körperlicher Störung und ihrer Überwindung.14 Diese generelle Problematik lässt sich nicht einfach dadurch auflösen, dass man in der Interpretation einzelner frühchristlicher Texte auf eine textinterne (kanonische o. ä.) Systematisierung ausweicht, insofern sich entsprechende Systeme ihrerseits wandeln und nie zeit-, ort- und kulturunabhängig darstellbar sind. In der Auslegung der Therapieerzählungen der Evangelien wurde und wird dagegen vielfach vorausgesetzt, Krankheiten seien fest umrissene Entitäten und es gebe individuen- und gruppenübergreifende Symptome, die auf zeit- oder quelleninvariante Befunde verweisen. So erklären sich zahlreiche Fehlidentifikationen der einzelnen Leiden in frühchristlichen Texten; Fehlidentifikationen weniger, weil es nicht – wenigstens in ausgesuchten Fällen – historisch so hätte sein können, sondern Fehlidentifikationen, weil überhaupt ein „ontologischer“ Ausgangspunkt gesucht und eine entsprechende (traditionalistische oder literarische) Systembildung unterstellt wird.
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Zur sprachlichen Konzeptualisierung von Krankheit und Heilung im Griechischen vgl. WELLS, Language; FERNGREN, Art. Krankheit, 972–974 (mit weiterer Literatur). Die religiösen Anteile werden in modernen Darstellungen häufig den sozialen bzw. kulturellen Dimensionen subsumiert. Wichtig ist ferner die Differenzierung von Selbstinterpretation und Fremdperspektive. Vgl. SIEGRIST, Soziologie, 181–185. Siehe hierzu SIGERIST, Arzt, 95f. „Selbst medizinisch-wissenschaftliche Terminologie spiegelt eine kulturspezifische [Krankheits]lehre oder -auffassung wider u. bildet keine objektive Beschreibung eines pathologischen Zustandes“ (FERNGREN, Art. Krankheit, 967). Vgl. JOUANNA, Entstehung, 28–80, zur altgriechischen Medizin: „Wenn man die Schriften dieser Ärzte der Antike übersetzt, riskiert man häufig Fehler zu begehen, indem man Begriffe benutzt, die einen Wissensstand voraussetzen, den sie nicht besaßen. Man muß die Errungenschaften der modernen Medizin vergessen, wenn man jene der Alten richtig verstehen will! Selbst so einfache Wörter wie ,Organe‘, ,Nerven ‘, ,Venen‘ oder ,Arterien‘ können nicht ,zeitgemäß‘ verwendet werden […]“ (a. a. O., 65). Vgl. a. a. O., 67, zum vagen Begriff der κοιλία (Bauch, Höhle; vgl. Mk 7,19 par Mt 15,17; Röm 16,18 u. a. m.).
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Christus der Arzt Wo von „Fieber“ die Rede ist, kann dann etwa eine Malaria-Erkrankung identifiziert werden.15 Der παραλυτικός in Mk 2,1–12 par wird als ein „Gichtbrüchiger“ bestimmt.16 Der blutenden Frau in Mk 5,25 wird ein Uterusleiden zugeschrieben, so, als verfügten die ntl. Autoren bereits über ein organologisches Wissen um den weiblichen Zyklus (vgl. u. Pkt. 3.), und der Aussatz in Mk 1,40–45 par wird an der Hansen’schen Krankheit vermessen. 17 Die Zahl entsprechender „ontologischer“ Bemühungen um die Krankheiten in der ntl. Forschungsliteratur ließe sich problemlos vermehren. Ein besonders heikles Feld beschreiben dabei die verschiedensten Geisteskrankheiten, die für die Interpretation von exorzistischen Texten herangezogen worden sind.18 Analog lässt sich der bis heute nicht enden wollende Streit um die Krankheit des Paulus (vgl. Gal 4,13–15; 2 Kor 12,7–10) vergleichen.19 Im weiteren Horizont der ntl. Erzählungen (die allerdings auf Epidemien kaum zu sprechen kommen) ist zu berücksichtigen, dass sich über die Art von sich ausbreitenden Seuchen (vgl. Lk 21,11), zumal auf der Basis ihrer Wahrnehmung durch Laien, keine gesicherten Aussagen treffen lassen, auch hier mit lokal und temporal sehr verschiedenen Erscheinungsformen zu rechnen ist, die sich in neuzeitlichen Klassifikationen kaum erfassen lassen, zudem häufig literarisch inspiriert oder präformiert sind. Insgesamt ist festzuhalten: Hier bedarf es in der Interpretation frühchristlicher Texte dringend einer konsequenten Entmodernisierung der Kategorien und Interpretamente.
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So z. B. DAVIES/ALLISON, Gospel, Bd. 2, 34, zu Mt 8,14f. Zu antik-pyretologischen Konzepten (mit Literatur): V. BENDEMANN, Illnesses, 103–114. So u. a. V. HARNACK, Beiträge, 131 (zu Lk 13,11–17); FENNER, Krankheit (a. a. O., 55; vgl. 57: Rückführung auf „schwere [...] Depressionszustände“ ); TRAUB, Wunder, 149; HENGEL/HENGEL, Heilungen, 365; SUHL, Wunder, 485. Vgl. dagegen STAMATU, Art. Gicht, 356– 358 (a. a. O., 356: einen griechischen oder lateinischen Oberbegriff für „Gicht“ hat es nicht gegeben). Siehe zu den Lähmungserkrankungen V. BENDEMANN, Illnesses, 114–120 (a. a. O., 115 Anm. 54). Vgl. zur literarischen Rezeption der in der Kaiserzeit häufigen Fußgicht LUCHNER, Philiatroi, 65–77. Zum Problem der verschiedenen (im Unterschied zur gefährlichen Lepra heilbaren; vgl. Lev 13,37; 14,2f.) Phänomene und ihrer begrifflichen Fassung in Lev 13f. vgl. GERSTENBERGER, Buch, 140–178. Vgl. SEYBOLD/MÜLLER, Krankheit, 55–60.63–69.116–121; BAYER, Art. Aussatz, 1023–1028; PREUSS, Medizin, 369–390; GLÄSER, Lepra; GRMEK, Diseases, 152–176. Überblick und Literatur: LEVEN, Art. Lepra, 565–567. Neben der Lepra bildet im Blick auf weitere antike Texte die Syphilis einen prominenten Fall ontologischer Äquivokation (vgl. FERNGREN, Art. Krankheit, 970f.). Traub erkennt z. B. in der Stummheit des Kindes in Mk 9,14–29 das Symptom einer „allgemeinen geistigen Erkrankung“ (TRAUB, Wunder, 149). Hiervon steht nichts im Text. Siehe zum möglichen Spektrum KOLLMANN, Christen, 174–215. Zu Geisteskrankheiten in der Antike: WACHT, Art. Krankenfürsorge, 843–846. Zur nicht sicher bestimmbaren Krankheit des Paulus vgl. (auswahlweise) FENNER, Krankheit, 30–40; V. D. GOLTZ, Krankheit, 1–30; HECKEL, Dorn, 65–92.
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2.
In Einklang mit einem frühjüdischen Verständnis von Krankheit und in Folge einer weitgehend mangelnden Kenntnis der unsichtbaren Welt des Körperinneren setzt Krankheitswahrnehmung in der ältesten Evangelienliteratur vorrangig ästhetisch-extern an. Wahrgenommen werden Beeinträchtigungen einzelner Körperteile, fokussiert wird sodann vor allem die mit diesen einhergehende sozial-religiöse Minimierung. Rückschlüsse auf das Innere des Menschen, wie sie in medizinischen Kontexten begegnen, fehlen nahezu ganz. Prominentes Beispiel für die religiöse Diskriminierung von Kranken bietet der Aussatz (griechisch: λέπρα; vgl. Mk 1,40–45). Hier wirken sich besondere Differenzierungen in den zugrunde liegenden Körperkonzeptionen aus. Die Haut gilt als der sensible Grenzbereich zwischen Innen und Außen. Die Frage der Kontaminierung der Haut (oder auch: der Kleidung, der Hauswände als Grenzflächen; vgl. Lev 14,33–57) wird vor allem unter den Vorzeichen kultischer Reinheit betrachtet. Sodann gilt der Bereich der Geschlechtsorgane im Umfeld der frühchristlichen Heilungserzählungen als tabu.20 Auch hierin bricht sich jüdisches Erbe Bahn. Biblisch-semantisch ist es eine Besonderheit, wenn Paulus in 1 Kor 12,23 gerade die sogenannt „unanständigen“ (ἀσχήμονα) Körperteile als besonders wichtig einstufen kann. 21 In den frühchristlichen Heilungserzählungen kommen sie dagegen explizit nicht vor.22
3.
Im Licht der Unterscheidungsmöglichkeiten griechisch-römischer medizinischer Texte stößt man in den ntl. Erzählungen auf eine weitere Auffälligkeit: Die in der altgriechischen Heilkunde im Vordergrund stehenden traumatischen Erkrankungen fehlen weitgehend (vgl. Lk 10,34). Vielmehr sind solche Krankheiten akzentuiert, mit denen man nach Platon gar nicht zum
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Dies betrifft zunächst die Schamteile als äußerlich sichtbare Geschlechtsorgane. Die inneren an der Zeugung beteiligten Organe der Frau sind von den antiken Autoren vielfach als innere Analoga der männlichen Zeugungsorgane aufgefasst. Auch hier gilt: „Eine der neuzeitlichen vergleichbare Vorstellung“ von Geschlechtskrankheiten „im Sinne einer Krankheitsgruppe […] hat es in der Antike nicht gegeben“ (LEVEN, Art. Geschlechtskrankheiten, 342). Zum Problem von 1 Kor 12,23 vgl. SCHRAGE, Korinther, Teilbd. 3, 226f.; vgl. zu den „heimlichen Körperteilen“ bei Celsus (Geschlechtsteile, Harnröhre, After) POLLAK, Heilkunde, Bd. 2, 257. Dagegen gilt der nackte Mensch besonders in Hinsicht auf seine Geschlechtsorgane in der paganen Heilkunst der Antike als selbstverständlich. Zu vergleichen ist z. B. das Innenbild der athenischen Trinkschale des Töpfers Sosias mit der Darstellung der Verbindung des Patroklos durch Achilleus (500 v. Chr.), das die Geschlechtsteile des Kranken in sitzender Position präsentiert (dabei zugleich eine homoerotische Beziehung andeutet). Vgl. auch die Darstellung des nackten Kleinwüchsigen auf dem Gefäß des so genannten Klinikmalers (Athen um 480–470 v. Chr.). Darstellung und Deutung leicht zugänglich bei: KÜNZL, Medizin, 15f.
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Christus der Arzt Arzt ging, da Heilung nicht mehr zu erwarten war. 23 Hiermit hängt zusammen: Es fehlen zahlreiche akute Störungen, wie sie in der medizinischen Literatur verhandelt werden. Nirgends lesen wir von der Heilung nicht nur eitriger Wunden, sondern auch von Zahnschmerzen, Schwangerschaftsproblemen, Atemstörungen, Blasen, Abszessen, Magen-, Kopf-, Ohrenschmerzen etc.24 Es dominieren dagegen die chronischen Leiden, die in der älteren Medizin nicht systematisch traktiert wurden, sofern sie als nicht therapierbar galten.25 Weiterhin fehlt im MkEv ein deutlicher Hinweis auf Epidemien, d. h. auf Krankheiten, wie sie in der Antike die Bevölkerung ganzer Städte und Länder erfassten.26 In der Auswahl von Erkrankungen und Leiden, die nach antik-medizinischer Einschätzung als nontraumatisch bzw. chronisch galten und keinen klaren epidemischen Zusammenhang erkennen lassen, ergibt sich – bei deutlichen Abweichungen – eine Entsprechung zur Krankheitsstatistik der Heilinschriften von Epidauros. Die Verteilung weist so in einen Bereich von
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Vgl. Plat. rep. 405C–410A; nach Platon ist die Sorge um unheilbar Kranke nichts anderes als νοσοτροφία, die den Interessen des Gemeinwesens entgegensteht (rep. 407B); die, die natürlicherweise nicht zur Heilung disponiert sind, soll man sterben lassen (rep. 409E– 410A); hierzu: KUDLIEN, Beginn, 48.111.118f.123f.; WACHT, Art. Krankenfürsorge, 842f. Siehe die in CH Progn. behandelten Leiden; vgl. die Übersicht der bei Pedanios Dioskurides begegnenden Krankheiten TOUWALDE, Art. Krankheit, 797–802. Sie sind erst in späterer Zeit zum Gegenstand systematischer medizinischer Darstellung geworden, insofern gerade ihre Behandlung Ruhm einbringe (vgl. Cael. Aur. chron. Praef. 3: Scribentium igitur medicinam nullus ante Themisonem tardarum passionum curationes principaliter ordinavit. Alii vero has omnino tacuerunt tanquam impossibiles iudicantes vel incurabilium passionum [...]). Erhöhtes Augenmerk auf die Dauer von Krankheiten bzw. ihr Vorhandensein von Geburt an lenkt Lk. Auch hier sind moderne Rückschlüsse auf die Interdependenz von Dauer und Schwere einer Krankheit jedoch unzulässig (vgl. V. BENDEMANN, Illnesses, 115 mit Anm. 51). SHAW, Seasons, 100–138, macht wahrscheinlich, dass die „big killers“, die ein saisonbedingtes Ansteigen der Sterblichkeitsrate im spätantiken Rom erklären können, Infektionskrankheiten waren (vgl. a. a. O., 133). – Damit ist eine Welt markiert, die den biblischen Schriftstellern prinzipiell unzugänglich war (vgl. HEMER, Medicine, 50–52). Zu den Seuchen im Altertum: POLLAK, Heilkunde, Bd. 2, 232–235. Oben wurde bereits festgestellt, dass auch die Rede von „Pest“ auf sehr differente Krankheitsbilder verweist; „Attische Pest“, „Antoninische Pest“, „Karthagische Pest“ und „Justinianische Pest“ verteilen sich mit ihrem jeweiligen Wiederauftreten über ein knappes Jahrtausend; sie sind ihrerseits von mittelalterlichen Krankheitsbildern zu unterscheiden, die ebenfalls unter dem titulus Pest begegnen (zu christlichen Pestdarstellungen, die auf die Vorbildlichkeit christlicher Nächstenliebe im Unterschied zu paganer Lieblosigkeit gegenüber den Kranken zielen: WACHT, Art. Krankenfürsorge, 869f.). Die Sterberate im Fall der Antoninischen Pest erhellt das 1992 aufgefundene Mitgliederverzeichnis der Mithraskultgemeinde von Virunum, wenn der bei fünf der vierunddreißig Genannten nachgetragene griechische Buchstabe Θ auf Pesttod hin gedeutet werden darf (vgl. BREITWIESER, Virunum, 149–156).
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Leiden Einzelner, für den man in der antiken Schulmedizin regulär keine Hilfe mehr erwarten konnte.27 4.
Über die Selektion von Krankheiten hinaus zeigen sich Besonderheiten in der Konzeptualisierung des Einzelleidens. Auch hier werden Grundmuster erkennbar. Für die Mehrzahl der mk Texte ist festzustellen: Einzelne Krankheiten und Leiden werden jeweils unter den Vorzeichen eines bestimmten Leitmotivs rekonstruiert. Dieses Leitmotiv wird als Kern der Krankheit selektiert und zum Gerüst gemacht, auf das dann die anderen Symptome und Konsequenzen bezogen sind.28 Solche leitsymptomatische Krankheitswahrnehmung kann man im zweiten Evangelium beispielsweise an Mk 3,1–6 beobachten. Hier ist die Krankheitsätiologie nicht weiter ausgeführt. Es ist lediglich angedeutet, dass es sich physiologisch um eine Austrocknung oder Auszehrung der Hand handelt. In sozial-religiöser Hinsicht hängt die Lähmungserkrankung (vgl. anders 2,1–12 am Anfang der Kontroversszenen in 2,1–3,6) vielmehr eng mit der Sabbatproblematik zusammen. Als eine übergeordnete und bestimmende (leitmotivische) Frage, von der her Krankheit avisiert ist, kann die nach richtiger oder verfehlter Ruhigstellung des Menschen identifiziert werden.29
5.
Mit den soweit beschriebenen Eigentümlichkeiten der Krankheitswahrnehmung hängt schließlich zusammen: Die mk Texte können von einer zeitlichen Konzeptualisierung von Krankheit und Heilung nahezu gänzlich absehen. Der in Zeitspannen erfolgende Verlauf einer Erkrankung in praemorbiden Erscheinungen, Beginn, Durchbruch, Höhepunkt und Nachlassen bzw. sekundärer Behandlung und Integration (gegebenenfalls bis zum Tod) spielt im zweiten Evangelium kaum eine erkennbare Rolle. Vorgeschichte oder Dauer einer Krankheit kommen erzählerisch allein dort in den Blick, wo die Not akzentuiert werden soll, aus der Jesus befreit. Auch wenn der Ausgangs-
27
Vgl. HERZOG, Wunderheilungen. Augenleiden und Lähmungen stehen an prominenter Stelle. Kindsnöte, Sprachstörungen, besondere Leiden, die chirurgischen Eingriff nach sich ziehen, sowie etliche varia (sowie die mit dem Kultort verknüpften Votivgaben bzw. die zahlreichen Strafwunder) differieren teils erheblich gegenüber den ntl. Befunden (vgl. a. a. O., 71–112). Zur frühchristlichen Konzeptualisierung von Krankheit (mit weiterer Literatur): V. BENDEMANN/NEUMANN, Art. Krankheit, 64–68. Auch in der römisch-methodischen Medizin wird festgehalten, dass stets der ganze Körper krank ist (Cael. Aur.: communiter totum corpus patitur […]); identifiziert aber wird die Krankheit von jenem Ort des Körpers her, wo das Leiden manifest wird (a parte corporis quae patitur nomen accepit [...]). Vgl. GOUREVITCH, Wege, 126. Siehe im Einzelnen V. BENDEMANN, Illnesses, 114–120.
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Christus der Arzt punkt in den Evangelien vor allem bei den chronischen Leiden liegt, kommt es so zu einer punktuell-statischen Zuspitzung der Wahrnehmung.30
3.
„Viel Leid von vielen Ärzten“ (Mk 5,26). Der Topos vom Versagen der Ärzte im Markusevangelium
In Mk 5,26 heißt es in der einleitenden Erzählerbemerkung zur Heilung der so genannten blutflüssigen Frau: „[...] und sie hatte vieles von vielen Ärzten erlitten und hatte von ihrem Eigentum alles aufgebracht und hatte keine Hilfe empfangen, sondern war noch mehr in eine schlechtere Lage geraten“ (καὶ πολλὰ παθοῦσα ὑπὸ πολλῶν ἰατρῶν καὶ δαπανήσασα τὰ παρ᾽ αὐτῆς πάντα καὶ μηδὲν ὠφεληθεῖσα ἀλλὰ μᾶλλον εἰς τὸ χεῖρον ἐλθοῦσα).31 1.
Berichtet wird eine Erfahrung, in der sich ärztliche Kunst in das Gegenteil ihrer Zielsetzung verändert hat. Statt Leiden zu minimieren haben die Ärzte
30
Vgl. dagegen zum Problem nonperfektionistischer Gesundheitskonzepte KUDLIEN, Art. Gesundheit, 905f. In Mk 5,25–34 findet sich die neben Mk 1,29–31 einzige ausgeführte Geschichte von der Heilung einer Frau im zweiten Evangelium. Mittels erzählerischer Inklusionstechnik ist sie in die Erzählung von der Erweckung der Tochter des Synagogenvorstehers Jairus hinein verwoben. Es handelt sich hierbei nicht um bloße Addition. Vielmehr motiviert die Binnenerzählung Mk 5,25–34 eine Zuspitzung in der Rahmengeschichte: In Mk 5,23 ergeht die Bitte um Heilung des im Sterben liegenden Töchterleins. In Mk 5,35 ist dann in Folge der zeitlichen Unterbrechung der Tod des Kindes eingetreten. Binnen- und Rahmenerzählung sind durch direkte Rede gekennzeichnet. Das Geschick der Tochter des Synagogenvorstehers ist so zunächst nicht Gegenstand der Erzählerrede, sondern allein der Figurenrede (Mk 5,23.35). Ähnlich wird die Motivation der chronisch blutenden Frau in Mk 5,28 im Monolog dargestellt. Auch das Motiv der Krankheitsdauer unterstützt die Korrelation der Geschicke von krankem Kind und kranker Frau. Das Alter des Mädchens wird erst in Mk 5,42 nachgetragen; dieses kongruiert mit der – eingangs der Binnenerzählung verzeichneten – Dauer des blutigen Leidens der Frau (Mk 5,25; dass die Zahl zwölf symbolisch für das Zwölfstämmevolk Israel stehe [so HURTADO, Mark, 86–88], legt sich vom Text aus kaum nahe). In beiden Erzählsträngen fallen die an Jesus herantretenden Figuren vor diesem nieder: Der Synagogenvorsteher ist gleich zu Beginn kniefällig als Ausdruck der Haltung des Bittenden (Mk 5,22), die Frau fällt nieder in Konsequenz der Heilung (Mk 5,33): Und sie sagte ihm die ganze Wahrheit (ἀλήθεια). In beiden Erzählpartien spielt weiter der Glaube eine zentrale Rolle: Die perfektische Aussage in Mk 5,34 untermauert und affirmiert so aber den Imperativ an den Synagogenvorsteher in 5,36. Siehe zur Erzählstrategie in Mk 5,21–43 ausführlich OPPEL, Heilung.
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– wie es im Griechischen mit verdoppelter Wurzel πολλ- nachdrücklich betont ist – vielmehr viel Leid herbeigeführt.32 Nach Aristoteles ist das τέλος der Heilkunst dagegen die Gesundheit (Aristot. eth. Nic. I 1 [1094a]). Entsprechend heißt es beim Enzyklopädiker Celsus: „Wie der Ackerbau den Gesunden Nahrungsmittel verheißt, so haben die Kranken von der Heilkunst Genesung zu erhoffen [...]“ (Ut alimenta sanis corporibus agricultura, sic sanitatem aegris medicina promittit; Cels. med. Prooem 1). In Mk 5,26 kehrt sich insbesondere auch die Bestimmung des Hippokratischen Eides um, nach der Medizin scientia sanandi und nicht scientia nocendi zu sein hat.33 32
33
Mk 5,29 ist die einzige Belegstelle für das Verb ἰᾶσθαι („heilen“) im zweiten Evangelium (dagegen die Seitenreferenten: Mt 8,8.13; 13,15; 15,28; Lk 5,17; 6,18f.; 7,7; 8,47; 9,2.11.42; 14,4; 17,15; 22,51; vgl. Apg 9,34; 10,38; 28,8.27). Sieben participia coniuncta in Mk 5,25–27 bilden die zwölf Jahre der Krankheit ab. – Auf dem Hintergrund der sonstigen mk Tendenz zur syndetischen Reihung sticht diese Konstruktion heraus. Die Reinheitsproblematik ist im mk Text nicht explizit angesprochen. Vorausgesetzt ist, dass die Frau sich vor ihrer Heilung innerhalb einer „großen Menge“ (Mk 5,24.27) befindet (eine entsprechende Regelungslücke findet sich jedoch auch in Lev 15; verunreinigt sich nach Lev 15,23 schon der, der in indirekten Kontakt zu einer Menstruierenden gerät, so ist die Möglichkeit der Haushaltsführung durch die Frau hiervon offenbar nicht tangiert). Wahrscheinlich ist, dass – ohne weitere Spezifizierung – an einen Blutfluss aus der Vagina zu denken ist. Die Krankheit ist in ihrer Duration dabei jedoch kaum auf „menstrual disorder“ festzuschreiben (so mit anderen: FRANCE, Gospel, 236). Der Text setzt eine religiös-soziale Konzeptualisierung von Krankheit als Geißel (Mk 5,34; vgl. 3,10; Lk 7,21; Jes 38,9; 53,3LXX; Hiob 33,19LXX u. a. m.) voraus. Zur jüdischen Evaluation von Blutfluss vgl. Lev 15,19–30; Ios. bell. Iud. VI 426f.; ant. Iud. III 261; 11QTR 48,15–17; zur Formulierung in Mk 5,25 vgl. Lev 15,25; an Lev 15,33 gleicht Mt 9,20 an. Zur rabbinischen Auslegung vgl. PREUSS, Medizin, 434–440; vgl. den Überblick bei FANDER, Stellung, 182–199. Konsequenzen wie soziale Isolation (eventuell: die Unmöglichkeit der Ehe) und umgekehrt eine Reintegration in die Gemeinschaft sind im Text nur indirekt zu erschließen. Im Hintergrund ist eine männliche Perspektive wirksam, der die Blutabsonderungen der Frau als ominös, unheimlich und gefahrdrohend bzw. sogar als ansteckend gelten (vgl. GERSTENBERGER, Buch, 136.139f., der die Ursache jedoch nicht in einer Vorstellung von Schmutz oder Minderwertigkeit, sondern vielmehr in der der „Mächtigkeit weiblichen Blutes“ und im „magischen Verständnis des Heiligen [...]“ findet [a. a. O., 140]). Zur Schamgrenze im Fall medizinischer Behandlung von Frauenleiden vgl. FLASHAR, Ethik, 16–18; zu hiermit verknüpften psychosozialen Implikationen der Erkrankung: HOWARD, Disease, 94. Zu Therapiemöglichkeiten der antiken Medizin bei verschiedenen Formen des Blutflusses: SUK, Welt, 54f.; V. KARGER, Reaktionsweisen, 12 (Hahn- und Hühnerblut). Zu beachten ist, dass der (auch der medizinisch informierten) Antike die moderne Vorstellung des Blutkreislaufes im Körper noch nicht geläufig war; auch dort, wo man anatomisch von Gefäßen weiß, begegnen sehr verschiedene Vorstellungen von der Konzentration des Blutes im Körper sowie seinen Fließbewegungen. Vgl. LEVEN, Art. Blutbewegung, 168f. Vgl. zu Frauenleiden und Frauenheilkunde SCHUBERT/HUTTNER, Frauenmedizin. Vgl. zum Hippokratischen Eid mit seiner Maxime des „Nutzen und (wenigstens) nicht Schaden“ DEICHGRÄBER, Standesethik, 94–120; HARIG/KOLLESCH, Eid, 157–176; KOELBING, Arzt, 104–155; JOUANNA, Entstehung, 34f. (zur familiär-sozialen Situierung). Aufgrund des
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Christus der Arzt Leserinnen und Leser des 1. Jh. werden hier bei einschlägigen Erfahrungen angesprochen. Solche Erfahrungen können sich im Topos nicht nur von den Grenzen der Heilkunst, sondern vielmehr vom Versagen der Ärzte verfestigen.34 Beredt ist ein Epigramm Martials, das an den Arzt adressiert ist (Mart. epigr. V 9): Languebam: sed tu comitatus protinus ad me venisti centum, Symmache, discipulis. Centum me tetigere manus aquilone gelatae: non habui febrem, Symmache, nunc habeo. Ich ließ krank die Flügel hängen. Aber du kamst gleich zu mir, begleitet, Symmachus, von hundert Schülern. Hundert Hände, vom Nordwind eiskalt, berührten mich. Kein Fieber hatte ich, Symmachus, jetzt habe ich es.35
Der Plural der Ärzte in Mk 5,26 legt antiken Leserinnen und Lesern nahe, dass die Frau widersprüchliche Diagnosen und therapeutische Ratschläge erhalten hat. Auch diesbezüglich gibt es reichlich Kritik und Spott. Nach Plinius d. Ä. ändert die Heilkunst ihre Meinungen täglich (mutatur ars cottidie [...]; Plin. nat. XXIX 11; vgl. 2: nullam artium inconstantiorem fuisse aut etiam nunc mutari [...]; vgl. auch Petron. 42). Er karikiert die Zänkereien der Ärzte am Bett der Kranken, wobei wechselseitige Zustimmung aus egoistischen Gründen unterbleibt.36 2.
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Die konsultierten Ärzte, so wird der Leserschaft in Mk 5,26 unmissverständlich nahegebracht, haben im Fall dieser kranken Frau in ihrem Handwerk versagt. Umso deutlicher fällt nun der Kontrast aus, den der Evangelist erzählerisch gestaltet: Jesus ist auf dem Weg in das Haus des Synagogenvorstehers (Mk 5,24). Auf die Frau kann er – wäre ihm ihr Leiden ersichtlich – der erzählerischen Logik nach keinerlei Mühe verwenden. Weder – so kann die Leserschaft auf dem Hintergrund eines Vergleiches mit den Ärzten feststellen – erfolgt eine Anamnese, noch findet irgendeine aktive therapeutische Handlung statt. Jesus selbst realisiert den Heilvorgang vielmehr erst im 1966 aufgefundenen Papyrus P Oxy. 2547 kann als sehr wahrscheinlich gelten, dass der Eid regulär auch dokumentarisch zur Anwendung kam. Vgl. NUTTON, Oath, 10–37; RÜTTEN, Themen, 65–120 (mit Literatur). Zur gescheiterten Heilungsbemühung vgl. 4 Kön 4,29–31LXX; Lukian Philops. 35f.; Ael. nat. IX 33; vgl. auch Mk 9,18.28f. Zum Versagen der Ärzte: Tob 2,10; Philo Spec. leg. I 252 (die schwachen und sterblichen Ärzte, die sich nicht einmal selbst gesundzumachen vermögen und den Menschen bisweilen sehr schaden); Somn. I 51; Philostr. Ap. IV 45; 1QGenAp XX 20. Beispiele bei WEINREICH, Heilungswunder, 195–197. Vgl. zu den Grenzen der Heilkunde KUDLIEN, Art. Heilkunde, 230f. Plinius vertritt die Auffassung, dass es in Rom vor der Berührung mit der griechischen Medizin wohl medicina, aber keinen medicus gegeben/gebraucht habe (vgl. Plin. nat. XXIX 11). Kritik an unfähigen Ärzten findet sich auch in Lukians Schrift über den „Büchernarren“ (29). Siehe insgesamt LEVEN, Art. Medizinkritik, 600f.
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Nachhinein und muss darüber durch die Jünger aufgeklärt werden (Mk 5,30f.). Gleichwohl aber wird die Frau „sogleich“ geheilt (Mk 5,29 mit typisch mk εὐθύς). Kann Mk in anderen Heilungserzählungen detailliert verbale, manuelle oder auch medikamentöse (vgl. Mk 7,31–37; 8,22–26) Therapien berichten, so wird die Frau hier alleine durch ihr Berühren des Heiltäters frei von ihrem Blutfluss (vgl. summarisch Mk 6,56). Heilung, so müssen die Leserinnen und Leser schlussfolgern, geschieht hier ganz anders als durch die Kunst der Ärzte – nämlich sozusagen „von selbst“ (vgl. Mk 5,30 δύναμις) und beiläufig. Mk erzählt den Vorgang wie eine Art Naturereignis,37 dem Jesus erst a posteriori die korrekte Lesart verleiht: Die Anrede: „Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Gehe hin in Frieden, und wisse, dass du gesund bist von deiner Krankheit!“ (Mk 5,34; vgl. zur Entlassung in Frieden 1 Sam 1,17; 2 Sam 15,9; Ri 18,6; Apg 16,36 u. a.) klappt eigentümlich nach (vgl. die Notiz der Gesundung in Mk 5,29). 3.
Allerdings liegen die Dinge nun auch im mk Text nicht so einfach, und Mk stellt hier die Ärzte nicht unter pauschalen Verdacht, indem er auf Jesus als inkommensurablen Wundertäter verweist. Vielmehr zielt die Erzählung eine besondere Korrelation der Aktivitäten des Arztes und Jesu an. Zunächst ist zu beachten, dass Mk 5,26 nicht pauschal von „den“ Ärzten spricht, sondern lediglich undeterminiert im Plural von Ärzten, die nicht helfen konnten. Er spricht, so ist zu folgern, von schlechten Ärzten. Sodann ist auf dem Hintergrund der topischen Ärztekritik der hellenistisch-römischen Zeit festzuhalten: Der Topos vom Versagen ärztlicher Bemühungen ist vom Topos des Arztes als ungestraftem Mörder 38 zu unterscheiden. Mk bezeichnet nicht mit Asklepiades von Prusa (nach Galen Ven. Sect. 5 [11.163.9f. KÜHN]) die Heilkunde der Alten als „Sterbehilfe“ (θανάτου μελέτη). Er spricht auch nicht mit Plinius d. Ä. von Ärzten, die sich ihre Popularität mit dem Leben ihrer Patienten erkaufen.39 Und er folgt nicht dem weiteren Spott des Martial (Mart. epigr. I 47): Nuper erat medicus, nunc est vispillo Diaulus: Quod vispillo facit, fecerat et medicus. Ehemals war Diaulus ein Arzt, jetzt ist er Leichenträger. Was der Leichenträger [jetzt] tut, tat auch der Arzt [zuvor].
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Dazu PREISIGKE, Gotteskraft, 210–247; WEINREICH, Heilungswunder, 63–66; KOLLMANN, Christen, 230f. mit Anm. 39. Zu den Verben der Berührung in Heilungserzählungen siehe WELLS, Language, 195–202. Vgl. KUDLIEN, Ethics, 98–100. Vgl. Plin. nat. XXIX 11: hinc illa infelix monumentis inscriptio, turba se medicorum perisse. Vgl. XXIX 18: [...] experimenta per mortes agunt, medicoque tantum hominem occidisse inpunitas summa est. Die Kritik des älteren Plinius spiegelt eine besondere Perspektive, die nicht verabsolutiert werden darf. Zu ihrem Hintergrund: KOELBING, Arzt, 178–184; JACKSON, Doctors, 56–85.
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Christus der Arzt Die Kritik, sofern man sie dem mk Text entnehmen darf, fällt auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Möglichkeiten moderat aus. Sie trifft nicht den Berufsstand per se. Zurückzuweisen ist auch die Schlussfolgerung, in Mk 5,26 würden die Ärzte per se als geldgierig disqualifiziert. Wird in der Antike die Habgier von Ärzten beklagt, so ist anders bei Mk Ausgangspunkt der schlichte Erfahrungswert: Bereits in der Antike konnte, wer häufiger zum Arzt gehen musste, hier sein Geld lassen.40 Akzentuiert ist der hilflose Zustand der Frau, die nun nicht weitere Ärzte aufzusuchen vermag, da sie ihr Vermögen ausgegeben hat. Schließlich unterscheidet der Evangelist das, was Jesus an der kranken Frau bewirkt, terminologisch nicht vom Wirken des Arztes. Die Wiederaufnahme von ἰατρός durch das Verb derselben Wurzel (ἰᾶσθαι; im Perfekt Passiv der Vermeldung des Heilerfolges) in Mk 5,29 verweist auf die erzählerische Korrelation der Praxis Jesu mit der der Ärzte. Das, was Jesus hier – wenngleich auf eine unter schulmedizinischen Vorzeichen extravagante Weise – vollbringt, ist von außen und im Ergebnis betrachtet nichts anderes als das, was ärztlicher Zielsetzung entspricht: Die Herbeiführung von Heilung und Gesundheit. So gesehen ist Jesus der bessere Arzt, die „Kapazität“. Innerhalb des zweiten Evangeliums bedeutet dies einen Rückgriff auf Mk 2,17, und damit den einzigen weiteren Beleg für ἰατρός im zweiten Evangelium: Hier kann Jesus sein Wirken unter sündigen Menschen mit dem des Arztes unter den Kranken vergleichen. Auch in diesem Vergleich wird der Abstand gewahrt,41 zugleich aber die Verbindung als solche realisiert.
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Vgl. zum Gehalt der Ärzte HERZOG, Art. Arzthonorar, 724f.; KUDLIEN, Arzt, 27; KRUG, Heilkunst, 193f. Zur vielfältigen Kritik an der Geldgier der Ärzte: Plat. rep. 408B; Mart. epigr. VI 31; Plin. nat. XXIX 2.5.7–9.21f.; Cels. med. III 4,10; Orig. c. Cels. 7,59f. u. a. Die frühen Christen waren jedoch nicht die ersten, die unentgeltlich Heilung anboten. Zu den Gemeindeärzten vgl. WACHT, Art. Krankenfürsorge, 830f.; HILTBRUNNER, Art. Krankenhaus, 889. Der Rede von leidvoller Erfahrung der Frau im mk Text ist Näheres nicht zu entnehmen; in medizinischer Praxis wurde teils gezielt mit der Angst der Patienten gerechnet; Operationsinstrumente sollen z. B. nach hippokratischer Vorstellung so platziert sein, dass sie den Klienten Furcht einflößen (CH Medic. 2; Off. 2; vgl. WACHT, Art. Krankenfürsorge, 841). Es fehlt in der ältesten Jesusüberlieferung nahezu gänzlich der in den hellenistisch-römischen Medizinrichtungen je unterschiedlich wichtige Bereich der Pharmazeutik (in der Antike waren Arzt und Apotheker keine geschiedenen Berufe – siehe POLLAK, Heilkunde, Bd. 2, 228f.; vgl. SCHMITZ, Geschichte, Bd. 1, 27–36, zu AT und antikem Judentum; vgl. Ez 47,12) und Diätetik. Der mk Jesus hat kein Iatreion (lateinisch: taberna oder medicina; vgl. das Haus des Chirurgen in Pompeji JACKSON, Doctors, 66f.), kein Sprechzimmer wie ein städtischer Arzt (zum ärztlichen Hausbesuch: POLLAK, Heilkunde, Bd. 2, 218; WACHT, Art. Krankenfürsorge, 847–849.853f.). Der terminologische Befund im MkEv ist eng limitiert: zu ἰᾶσθαι siehe Anm. 32; ἰατρός – nur Mk 2,17 (par Mt 9,12; Lk 5,31); 5,26 (par Lk 8,43); im NT sonst noch: Lk 4,23; Kol 4,14; ἴασις – vacat; θεραπεύειν – als Ausdruck summarischer Koordination: Mk 1,34; 3,2.10; 6,5.13; θεραπεία (vgl. Lk 9,11; Offb 22,2) – vacat; das Adjektiv
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4.
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„Die Gesunden benötigen keinen Arzt [...], aber die, denen es schlecht geht“ (Mk 2,17) – Der Arztberuf in hellenistisch-römischer Zeit und die Krankenheilungen im Markusevangelium
Nutton stellt für die hellenistisch-römische Zeit fest: „the doctor was a gentleman, working within an honourable profession […]“.42 Ärzte konnten bereits in der Antike eine prominente soziale Stellung innehaben. 43 Mk schreibt in einer Zeit, in der sich die Reputation des öffentlichen Arztes in Überwindung mancher Vorbehalte der altrömisch-häuslichen, am pater familias orientierten Heilkunde gefestigt hatte. Ärzte erhielten in dieser Zeit reichsweit Legitimation und Privilegien.44 Die Medizin gehörte zwar nicht zur enkyklios paideia, stand aber den klassischen (septem) artes auch in Rom bald kaum mehr nach (vgl. Sen. epist. XV 95,9).45 Cäsar verlieh 46 v. Chr. den in Stadtrom praktizierenden ausländischen Ärzten das Bürgerrecht (vgl. Suet. Iul. 42; vgl. zu Augustus Suet. Aug. 42,3). Mit dieser „green card“ sollten zugleich weitere befähigte ausländische Ärzte in die Stadt geholt werden. Augustus führte dieses Bemühen durch die Gewährung von Steuerbefreiung weiter (vgl. Cass. Dio LIII 30,3; Suet. Aug. 42,3; 59). Die Cäsaren beschäftigten eigene Leibärzte. Der Leibarzt des Augustus wurde in den Ritterstand erhoben, und der Senat errichtete ihm eine Bildsäule.46 Unter Vespasian – damit in unmittelbarer Nähe zur Entstehungszeit des MkEv – wurden im Jahr 74 n. Chr. im ganzen Reich aus Gründen der utilitas civitatis Ärz-
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43 44
45 46
ὑγιής findet sich nur in Mk 5,34 (vgl. die Änderung von Mk 2,17 durch Lk); das zentrale mk Verbum, das sowohl „heilen“ als auch (vor dem Tod) „retten“ bedeutet, lautet σῴζεσθαι (Mk 3,4; 5,23.28.34; 6,56; 8,35; 10,26.52; 13,13.20; 15,30f.). Siehe den Überblick über die synoptische Verteilung bei WELLS, Language, 364–439. In der LXX verweist die Distribution der Belege für ἴασις, ἰᾶσθαι κτλ. auf das Heilungsmonopol des Gottes Israels; die θεραπ-Derivate zielen zunächst die Behandlung als solche, nicht notwendig den heilvollen Erfolg an (vgl. a. a. O., 119.222f.). NUTTON, Morality, 39. Vgl. KOELBING, Arzt, 177. Schon bei Homer sind heilkundige Helden höchst angesehen (vgl. Hom. Il. XI 514). Siehe KUDLIEN, Arzt, 27–64. Vgl. KUDLIEN, Stellung, 154–181, für die Republik und Kaiserzeit; zum Beispiel des beliebten Arztes Asklepiades: SCHULZE, Entwicklung, 494–497. Siehe KUDLIEN, Art. Heilkunde, 234. Hierzu: FISCHER, Entwicklung, 165. Berühmtes Beispiel für die Karriere eines Leibarztes ist die Laufbahn des Gaius Stertinius Xenophon von Kos, der in Rom das Bürgerrecht erhielt und Tiberius, Caligula und Claudius Dienste tat und damit ein Vermögen verdiente. Vgl. WOLTERS, Xenophon, 47–60.
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ten, Erziehern und Gymnastikern Kooperationsrecht und Immunität zugestanden.47 Waren die konkreten Erfahrungen mit Ärzten auch häufig leidvoll, so tendiert die hellenistisch-römische Zeit zu einem überaus positiven Bild des Arztes als Wohltäter. Seneca (Sen. benef. VI 15,1) kann den Arzt im günstigen Fall unter diejenigen rechnen, denen man magna caritas und magna reverentia schuldet. Er kann ein Idealbild des Arztes entwerfen (Sen. benef. VI 16,4f.): [...] pro me, non pro fama artis extimuit; non fuit contentus remedia monstrare: et admovit; inter sollicitos adsedit, ad suspecta tempora occurrit; nullum ministerium illi oneri, nullum fastidio fuit; gemitus meos non securus audivit; in turba multorum invocantium ego illi potissima curatio fui [...] huic ego non tamqam medico sed tamquam amico obligatus sum [...] [...] für mich, nicht für den Ruf seiner Kunst hat er Furcht ausgestanden; nicht war er damit zufrieden, Heilmittel aufzuzeigen: auch angewandt hat er sie; bei den besorgten Angehörigen hat er gesessen, in kritischen Situationen ist er zu Hilfe gekommen; kein Dienst ist ihm lästig, keiner ekelhaft gewesen; mein Stöhnen hat er nicht ohne Sorge gehört; in der Schar der vielen, die seine Hilfe in Anspruch nahmen, bin ich ihm die wichtigste Sorge gewesen [...] ihm bin ich nicht wie einem Arzt, sondern wie einem Freund verpflichtet [Übers. Rosenbach].
So kann der Arzt in der Spätantike im glücklichen Fall als Typos von Moral und Sitte, von humanitas und auch von misericordia gelten. Er kann zum Hoffnungsträger der Menschen stilisiert werden. Historisch gesehen ist hierbei zu berücksichtigen: Im 1. Jh. war der studierte und spezialisierte Haus- oder Facharzt nicht der Normalfall. Entsprechende Versorgung gab es in den Städten, wie wir z. B. auch aus Pompeji wissen.48 Doch kann man mit Pollak festhalten: „Genauso wie in Hellas war auch in Rom die ärztliche 47
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Vgl. das Edikt Vespasians vom 27. XII. 75: MCCRUM/WOODHEAD, Documents, Nr. 458; HERZOG, Art. Arzt, 722; WACHT, Art. Krankenfürsorge, 833f.; POLLAK, Heilkunde, 215–217, zu weiteren Privilegien unter Trajan und Hadrian. Unter den römischen Kaisern verdient Vespasian für die Interpretation des MkEv auch insofern besondere Aufmerksamkeit, als von ihm Heilwunder berichtet werden. Heilwunder gehörten nicht generell in den Fundus der Propaganda der Cäsaren. Vespasian beschreibt hier eine Ausnahme (zu den wenigen weiteren Texten: CROON, Art. Heilgötter, 1216f.). Die in verschiedenen Fassungen von Tacitus, Sueton und Cassius Dio berichtete Heilung eines Blinden und eines Gelähmten in Alexandria dient dem „Ruhm“ und damit der Legitimierung des Kaisers (vgl. Tac. hist. IV 81; Suet. Vesp. 7; Cass. Dio LXVI 8). Vespasian hat insofern ein Legitimationsproblem, als mit ihm nach dem Ende der julisch-claudischen Ära eine neue Dynastie beginnt (Auctoritas et quasi maiestas quaedam ut scilicet inopinato et adhuc novo principi deerat; Suet. Vesp. 7,2; zum traditionsgeschichtlichen und historischen Hintergrund: KOLLMANN, Christen, 106–109.235f.; CLAUSS, Kaiser, 113–117; zum „market-place“-Modell der Integration verschiedener Gottheiten innerhalb des Kaiserkultes: a. a. O., 479). Josephus berichtet ferner davon, er sei zugegen gewesen, als ein Jude namens Eleazar im Beisein des Kaisers Vespasian, seiner Söhne, der Obersten und Soldaten einen Exorzismus mit Hilfe eines Rings durchführte: Ios. ant. Iud. VIII 46–48. Zum „health care system“ Pompejis vgl. KÜNZL, Medizin, 56–65; LEVEN, Art. Pompeji, 724f. (mit Literatur). Zum „Erbarmen“ des Arztes: FRINGS, Medizin, 43–46.
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Praxis ein freies Gewerbe, das jedermann offenstand. Keine staatliche Prüfung oder Aufsicht regelte die Ausbildung der künftigen Ärzte. Wer sich dazu befähigt hielt, konnte als Arzt praktizieren. Es gab keine scharfe Trennungslinie zwischen Arzt und Kurpfuscher. Der geniale oder gerissene Scharlatan konnte einen größeren Zulauf an Patienten erreichen als der Absolvent einer Medizinschule“.49 Plinius d. Ältere begründet dies so: „Deshalb, Hercules, geschieht es in der Tat bei dieser von den Künsten allein, dass man jedem, der sich für einen Arzt ausgibt, sofort Glauben schenkt, obwohl doch bei keiner Lüge eine größere Gefahr besteht. Dennoch achten wir nicht darauf, so verführerisch ist für jeden von uns der Zauber des Hoffens (adeo blanda est sperandi pro se cuique dulcedo) [...]“ (Plin. nat. XXIX 17f.). Neben installierten und approbierten Ärzten bestand in hellenistisch-römischer Zeit das überkommene Berufsprofil des wandernden Arztes fort.50 Bei allen Schwierigkeiten, sich auf der Basis der vorhandenen Quellen von den Wanderärzten (περιοδευταί) ein Bild zu machen, ist festzuhalten: Sie kamen – topisch – „über Land und Meer“ (Lukian Iupp. trag. 265–269) und hatten, anders als die Gemeindeärzte (vgl. Plat. Gorg. 455B; 456B; Aristoph. Ach. 1043; Xen. cyr. I 6,15; Mem. IV 2,5 u. a.), keinen standesmäßigen Rückhalt. Sie mussten sich vor Ort zunächst einmal orientieren. Sie sahen die ihnen unbekannten Patienten oft zum ersten Mal, konnten nur kurz bei ihnen verweilen, waren ansonsten nicht verfügbar. Es fehlte ihnen damit regulär auch eine Einbettung in dasjenige Milieu, dem der Patient entstammte. Sie behandelten oft vor skeptischem Publikum, waren aber andererseits auf Erfolg und Werbung angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Mit dem Modell solcher Wanderärzte eröffnet sich ei49
50
POLLAK, Heilkunde, Bd. 2, 211f. Zu fragwürdigen Ärzten ohne Approbation: Mart. epigr. I 30.47; VIII 74. Vgl. KUDLIEN, Scharlatane, 137–163. Die griechische Medizin war von Beginn an „Allgemeinmedizin“ und anders als die ägyptische Medizin nicht in Einzeldisziplinen spezialisiert. Bereits Platon setzt eine Differenz von wissenschaftlich geschulten Ärzten und unfreien Praktikern voraus (Plat. leg. 720AB), die aber ebenfalls ἰατροί/Ärzte genannt wurden – eine Unterscheidung, die man bis in die Zeit Augustins weiterverfolgen kann (vgl. WACHT, Art. Krankenfürsorge, 832). In römischer Zeit gab es jenseits einer städtischen Versorgung durch den öffentlichen Ärztestand (zu Rom: JACKSON, Medicine, 79– 101) unabhängige praktische Ärzte (a. a. O., 85: „lt is probable that the independent medici were the largest single group of physicians and that there was considerable variation in their ability, training and experience“; vgl. zu den Grabinschriften: „[...] the word medicus is seldom qualified“; a. a. O., 91; vgl. KUDLIEN, Stellung, 47–50, zu jüdischen und ägyptischen Ärzten im Rom der Kaiserzeit). Die häufig zur Systematisierung der hellenistischrömischen Medizin herangezogenen Schulunterscheidungen versagen hier auch in prominenten Fällen wie dem des – oft einer pneumatischen Medizin zugerechneten – Aretaios von Kappadokien (zum Datierungsproblem: GOUREVITCH, Wege, 132). Vgl. WACHT, Art. Krankenfürsorge, 835f.; VEGETTI, Wissen, 81–113, bes. 90; FLASHAR, Ethik, 7: „Unter den mannigfachen Erscheinungsformen des antiken Arztes dominiert der Typ des Wanderarztes [...]“. Auch der Stadtarzt war oftmals ein zugereister Fremder. Vgl. KUDLIEN, Krankenversicherung, 75–102. Vgl. Galens Klage über die Anonymität der Ärzte in Rom Praes. 4 [XIV p. 622–624 KÜHN].
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ner Leserschaft des 1. Jh. ein möglicher Vergleichspunkt zu den wandernden Gestalten der ältesten Jesusbewegung (vgl. Lk 10,9 par) bzw. zu den Jüngern der mk Jesusgeschichte.51 Mk 6,13 berichtet von den von Jesus ausgesandten Jüngern: „Und sie trieben viele Dämonen aus und salbten mit Öl viele Kranke (ἀρρώστους) und behandelten sie.“52 Dass die Möglichkeit eines solchen Vergleichs für eine antike Leserschaft nicht aus der Luft gegriffen ist, lässt sich möglicherweise noch in einer anderen Richtung untermauern: Medizinische Texte können, angefangen bei den hippokratischen Schriften (vgl. Art. 72; Fract. 13), teils deutlich zwischen ärztlicher Praxis auf dem Land und (technisch aufwändigeren) Behandlungsmöglichkeiten in der Stadt differenzieren. Grundsätzlich stellt die antike Ärztekunst ein städtisches Phänomen dar. Insbesondere Galen beachtet in seinen vielfältigen Schriften immer wieder das hieraus folgende Desiderat der Unterscheidung: Was sich städtischer Praxis des Arztes verbietet, kann auf dem Land im konkreten Fall durchaus legitim und geboten sein. 53 Dies gilt insbesondere für die so genannte Dreckapotheke, die mit Mitteln wie Speichel, Urin und Kot behandelt.54 Galen 51
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Das in der ältesten Jesusbewegung so sperrige Feindesliebegebot (Mt 5,44f. par; nicht bei Mk), welches der klassischen griechischen Maxime zuwiderläuft, wonach Freunde sich untereinander helfen (und man den Feinden zu schaden hat; vgl. unter Rekurs auf den Arzt in kritischer Überwindung durch Sokrates bei Plat. rep. 332D), findet eine enge Analogie in dem medizinischen „Nutzen und nicht Schaden“, welches soziale Gefällegrenzen übergreift (vgl. im Hippokratischen Eid die Absage an Missbrauch von Frauen und Sklaven [CMG 1/1,5]) und sich gerade auch auf die Feinde erstreckt. Vgl. den berühmten Fall des westgriechischen Arztes Demokedes, der in der Gefangenschaft seinen Peiniger Dareios heilt (vgl. Hdt. III 129f.). Zum Problem: KUDLIEN, Ethics, 91–121; FLASHAR, Ethik, 13–15, zum Rückfall hinter die hippokratische Ethik im späteren Briefroman der ersten neun sogenannten Hippokrates-Briefe. Zum Problem mit Literatur: RÜTTEN, Themen, 99f. In der Medizin als „der“ philanthropischen Profession gibt es – idealtypisch gefolgert – keinen persönlichen oder national-ethnischen „Feind“; der eigentlich aktive „Feind“, den es anzugehen gilt, ist vielmehr die Krankheit (vgl. FLASHAR, Ethik, 29). „Das Wirken der Ärzte verrät oft großen Gemeinsinn: Dankdekreten zufolge boten sie in Notlagen, etwa Epidemien, ihre Dienste auch unentgeltlich an, wie sie auch sonst keinen Unterschied machten zwischen reich u[nd] arm“ (WACHT, Art. Krankenfürsorge, 831). Die Bestimmung Lk 10,9 bleibt in der avisierten konkreten Praxis der ausgesandten Jünger eigentümlich blass; anders ist dies in Mk 6,13; vgl. HÜNEBURG, Jesus, 162–166. Signifikant ist demgegenüber die enge Verbindung mit der Reich Gottes-Verkündigung, d. h. das eschatologische Vorzeichen dieser Praxis. In diesem Kontext transzendiert die Salbung mit Öl den rein medizinischen Aspekt. Vgl. KRANEMANN, Art. Krankenöl, 920. Die Unterscheidung von Stadt- und Landarzt ist generell aus den Quellen nicht eindeutig zu gewinnen. Man sollte darum besser von ländlicher und/oder städtischer Praxis des Arztes sprechen (vgl. Galen). Zum Problem: KÜNZL, Medizin, 65. Die Unterscheidung von Stadt und Land als Wirkräumen verweist zugleich auf die Differenz der sozialen Schichten und Milieus bzw. der finanziellen Situierung. Vgl. zur Stadt/Land-Problematik (im Hinblick auf Galiläa) THEIßEN, Wundergeschichten, 244–247. Siehe hierzu mit Literatur STAMATU, Art. Dreckapotheke, 235f.; BRASHEAR/BREITENBACH, Art. Kot, 764f.773–776.
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reflektiert die Situation, dass der Arzt auf der Reise, der Jagd oder beim Aufenthalt auf dem Land nichts Besseres zur Verfügung haben kann, und kombiniert dies zugleich mit einer Beschreibung der „hartfleischigen“ (σκληρόσαρκος) und eselsähnlichen Konstitution der Landbewohner. 55 Die mk Jesusgeschichte ist – anders als später die des Lk mit ihrer städtischen Perspektive – vorrangig eine ländliche Geschichte. In diesem Kontext kann es also für hellenistisch-römische Leserinnen und Leser durchaus plausibel sein, wenn Jesus Symptome der Sprachunfähigkeit und Blindheit mit Speichel therapiert (Mk 7,31–37; 8,22–26; vgl. den Brei aus Speichel und Erde/Kot in Joh 9,6). Medizinische Vorstellungen schlagen sich in der Brechung von Grundwissen, Überlieferung und/oder bereits literarischer Präformierung im zweiten Evangelium noch in anderer Hinsicht nieder. Hierzu noch einige wenige Beobachtungen. Es ist kein Zufall, dass Mk am Beginn der Wirksamkeit Jesu in Mk 1,29–31 eine Fiebertherapie berichtet. Die Erzählung gibt kaum Details zu erkennen. Doch ist das Fieber nach antikem Grundwissen als quasi summarisches Leiden ein Integral für verschiedenste Krankheiten. Als potentieller Vorbote des Todes (vgl. Joh 4,47.52) verweist es leitsymptomatisch auf die Alternative von Leben und Tod. Im Hintergrund scheint möglicherweise die in der Antike überaus einflussreiche Vorstellung der Wechselfieber durch. Sie ist über den medizinischen Bereich (Cels. med. III 3 u. a.) hinaus auch sonst in weiteren antiken Literaturkreisen bekannt.56 In der erzählerischen Schlussnotiz Mk 1,31 heißt es, dass die geheilte Schwiegermutter des Petrus „ihnen diente“ (διηκόνει αὐτοῖς). Das durative Imperfekt stellt hier sicher, dass es sich nicht lediglich um das Ende eines kritischen Krankheitsintervalls handeln kann, sondern ein dauerhafter Heilerfolg erzielt worden ist. Als weiteres Beispiel für medizinische Konnotationen ist die Erzählung der Heilung des Tauben/Stummen in der Dekapolis in Mk 7,31–37 (vgl. Mt 15,30f.) anzuführen. Sie gewinnt ihr Profil durch die ausführliche Schilderung einer therapeutischen Bemühung, die nicht auf das heilswirkende Wort (Mk 7,34) begrenzt ist, sondern Bezug nimmt auf die weitverbreitete Vorstellung von der heilenden Wirkung des Speichels,57 die in eine komplexe Therapie integriert wird (Mk 7,33–35). Weiter heilt Jesus in Mk 8,22–26 (ebenfalls mk Sondergut) einen Blinden mit Speichel. Bemerkenswert ist dabei der zweiphasige Heilungsverlauf, in dem erst die zweite Stufe zum „gänzlich scharfen“ Sehen führt 55
56 57
Galen Simpl. Med. temp. I 12,299, Übers. POLLAK, Heilkunde, Bd. 2, 209: „Auf der Reise, der Jagd oder auf dem Lande, wo nichts Besseres zur Verfügung steht, oder bei den Bauern, die abgehärtet sind wie die Packesel, kann man zuweilen in die Lage kommen, Dünger medizinisch zu gebrauchen.“ Es handelt sich dabei teils um freie Paraphrase. Galen spricht genauer vom „Trinken“ besonderen tierischen Kots (σπύραθα). Zur Unterscheidung bei Galen: V. KARGER, Reaktionsweisen, 14–17.22.24 u. a.; vgl. Oreib. Coll. Med. XLIX. Siehe zum obscurum fascinosum febris V. BENDEMANN, Illnesses, 103–114. Dazu MUTH, Träger, 26–64.82–117.
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(Mk 8,25: καὶ διέβλεψεν καὶ ἀπεκατέστη καὶ ἐνέβλεπεν τηλαυγῶς ἅπαντα; zur Zweistufigkeit in 8,23–25 vgl. Epidaurosinschrift W 18). Der zwischengeschaltete Dialog Jesu mit dem Kranken (Mk 8,23) erinnert an einen Arzt-Patient-Dialog, der auf der Idee der Kooperation zweier vernünftiger Menschen beim Heilvorgang basiert, wobei der Arzt als wissende Autorität gezielte Fragen stellt.58 Einen Sonderfall von Erkrankung bietet das Anfallsleiden in Mk 9,14–29. Es spiegelt im Aufriss des MkEv die Sonderstellung der „Epilepsie“ nicht nur in antik-medizinischen Texten, sondern vielmehr in einer Fülle weiterer literarischer Zeugnisse, insbesondere auch philosophischer Texte der hellenistisch-römischen Zeit. Ein Begriff für die Krankheit („Ontologie“) fehlt im Text. Doch in keiner anderen mk Erzählung sind vergleichbar zahlreiche Berührungspunkte zu Beschreibungen des Krankheitsbildes zu erheben, wie sie sich auch in medizinischen Texten finden. Insbesondere akzentuiert Mk die religiös-sozialen Konnotationen der „heiligen Krankheit“ und gestaltet die Heilung des hinfälligen Kindes Mk 9,14–29 innerhalb eines übergreifenden Erzählrahmens (vgl. die Ansage des Leidens des Menschensohnes in Mk 9,12 und 9,31) als ein planvolles Pendant zur vorausgegangenen Verklärungserzählung, in der Jesus vorgreifend in die himmlische Sphäre gerückt ist.59
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Zu den im Corpus Hippocraticum differierenden Vorstellungen diesbezüglich: FLASHAR, Ethik, 12; vgl. insgesamt KOELBING, Arzt, 104–155; SCHULZE, Art. Patient, 673–678. Vgl. FISCHBACH, Totenerweckungen, 7–15, zu Anleihen aus dem medizinischen Vorstellungskreis in den Totenerweckungserzählungen. „Epilepsie“ war bereits in der Antike als ein Kinderleiden bekannt, eine νόσος παιδική. Als auffälligstes Symptom gilt das unkontrollierbare Hin- und Her- und Zu-Boden-Gerissenwerden des „Epileptikers“. Das Stürzen setzt den Kranken wie in Mk 9,22 tödlicher Gefahr aus. Bereits in der Antike heißt die „Epilepsie“ darum auch „Fallsucht“/„morbus caducus“. Weitere Symptome sind das Schäumen des Mundes (Mk 9,18.20), das Zähneknirschen (Mk 9,18) und der todesähnliche Zustand im Anschluss an den Anfall bzw. die therapeutische Bemühung. Auch das Symptom der Stummheit bzw. der Taubheit in Mk 9 lässt sich möglicherweise dem Krankheitsbild zuordnen. Anders hat BORNKAMM, Πνεῦμα, 21–36 (ihm folgend weitere Exegeten: vgl. Positionen bei KOLLMANN, Christen, 211f.) hier eine Vorform der Erzählung rekonstruiert, in der alternativ zur „Epilepsie“ von einem Taubstummen erzählt worden sei (vgl. auch HENGEL/HENGEL, Heilungen, 360 Anm. 93: „eine mit Taubheit verknüpfte Aphasie“ ). Gegen diese Lösung sprechen jedoch die klaren Differenzen im Text gegenüber der Taubstummenheilung in Mk 7,31–37. Vor allem aber: Sprechund Hörunfähigkeit des Kranken können auch in antik-medizinischen Texten als Symptome der „Epilepsie“ gelten: Zur (vorübergehenden) Stummheit (Mk 9,17.25): CH Morb. VII 1; X 6; CH Epid. VII 46; Aret. I 5,5. Antike Medizin erkennt ein enges Wechselverhältnis zwischen Melancholie und „Epilepsie“. Von Melancholikern heißt es, dass sie ihre Zunge nicht mehr zu kontrollieren vermögen bzw. von Aphasie befallen werden (Belege bei FLASHAR, Melancholie, 47 mit Anm. 60). Zum „Epilepsie“-Leiden Caesars bei Plutarch: LUCHNER, Philiatroi, 205–210; Plutarch nutzt „[...] das ,Bewährungspotential‘, das zumal in einer solch chronischen Krankheit liegt, um die charakterlichen Eigenschaften seines Helden positiv hervorzuheben“; a. a. O., 205; vgl. aber Plut. Caes. 60,7, zur Krankheit als Vorwand Caesars. Vgl. zum Gesamtphänomen WOHLERS, Krankheit.
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Dass erzählte Soteriologie und heilkundliches Denken überhaupt in ein derartiges Wechselverhältnis treten können, wie wir es im zweiten Evangelium erstmals im frühen Christentum in einer kohärenten Erzählung beobachten können, resultiert nicht aus einer genealogischen Abhängigkeit des frühchristlichen Schrifttums von medizinischen Texten. Setzt man mit der Frage nach einer über zugrunde liegendes Erfahrungswissen (wie es auch nichtliterarisch transportiert werden kann) hinausgehenden Vermittlung und Vorbereitung an, so wird man zuerst in die Gebiete der spätantiken Philosophie verwiesen. Zwischen den Bereichen der Philosophie und Medizin sind von den Anfängen an Vorgänge einer wechselseitigen „Osmose“ festzustellen. 60 In diese osmotischen Vorgänge ist auch die Theologie unmittelbar einbezogen. 61 Medizinische Beobachtungen und Theoreme boten sowohl der Philosophie als auch der Theologie in breitem Umfang Stoff, der es erlaubte, über das Innere des Menschen Aufschluss zu gewinnen und über die Möglichkeitsbedingungen seines „Glücks“ respektive seines „Heils“ / seiner „Rettung“ zu reflektieren. Besonderer Beliebtheit erfreute sich die metaphorische Nutzung medizinischer Sachverhalte und Zusammenhänge.62 Dieser Vorgang setzt bei den Vorsokratikern ein und ist dann über Platon und Aristoteles bis in die philosophischen Strömungen der Kaiserzeit zu verfolgen. Medizinische Metaphern und Denkmodelle durchziehen die philosophischen 60
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JOUANNA, Entstehung, 60.77–80. Zum engen Verhältnis von Medizin und Philosophie in der Antike grundsätzlich: VAN DER EIJK, Medicine. Man darf sich also von der Auskunft des Celsus im Vorwort seiner Schrift „De medicina“ nicht fehlleiten lassen, nach der Hippokrates die Heilkunst von der Philosophie getrennt habe (Cels. med. Prooem. 8). Zunächst steht im Hintergrund solcher Auskunft die These, die Medizin sei aus der Philosophie hervorgegangen. Dass beide sich aber von nun an grundlegend getrennt hätten, entspricht nicht den Quellenbefunden. Es geht umgekehrt zu weit, wenn KEE meint, Ärzte seien in der griechischen Tradition grundsätzlich als Philosophen angesehen worden (KEE, Medicine, 28). Doch ist eine enge Wechselbeziehung zwischen antik-philosophischen Ansätzen und medizinischen Erklärungsmodellen nicht erst in hellenistisch-römischer Zeit zu beobachten. Die hippokratische Medizin bezog ihre physiologischen Denkvoraussetzungen weit reichend aus den Theoremen der Vorsokratiker (vgl. zu Alkmaion von Kroton SCHUBERT, Menschenbild, 125–129). Nach der Forderung Galens solle der beste Arzt zugleich auch Philosoph sein (seine Schrift „Quod optimus medicus sit quoque philosophus“). Vgl. SIGERIST, Arzt, 83; zum Verhältnis von Peripatos und hellenistischer Medizin: VEGETTI, Wissen, 87–89; zum auf dieser Basis aufbrechenden Individualitätsproblem: KUDLIEN, Beginn, 140–145; FREDE, Philosophy, 211–232; PIGEAUD, Maladie; LUCHNER, Philiatroi, 99–170, mit reichem Anschauungsmaterial zu Platon, Musonius Rufus, Sextus Empiricus, Dion von Prusa, Maximus von Tyros, Epiktet u. a. Luchner zeigt, wie sich die Arztmetapher in der Konkurrenzsituation zwischen Philosophie und Medizin im kaiserzeitlichen Bildungsbetrieb polemisch verändert (vgl. a. a. O., 160). Vgl. zum Konnex von Schulphilosophie und Theologie SCHMELLER, Schulen, 46–92 (mit Literatur); KLAUCK, Umwelt, Bd. 2, 143, zur hellenistisch-kaiserzeitlichen Philosophie als wichtigster und umfassendster Vergleichsgröße „für die geistes- und religionsgeschichtliche Verortung des frühen Christentums“. Vgl. V. KARGER, Reaktionsweisen, 4, 8–28, zu Galen. Vgl. JAEGER, Paideia, Bd. 2, 11–58: „Die griechische Medizin als Paideia“.
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Schriften eines Plutarch oder Seneca – um nur zwei prominente Beispiele zu nennen. Zu einem Topos wird die metaphorische Anwendung des Arztbegriffes nicht nur auf den Staatsmann, den Rhetor oder den Erzieher, sondern vor allem auf den Philosophen als Seelendoktor.63 Der philosophische Arzt ragt dabei über den für die physischen Leiden zuständigen Arzt hinaus, denn er beansprucht für sich das Alleinprivileg, auch den inneren Menschen heilen zu können.64 Insbesondere wird die Arztmetaphorik in der hellenistischen Ethik im Verbund mit zahlreichen Anschauungsbeispielen aus der Medizin zu einem zentralen Bezugssystem philosophischen Denkens. Rechte Handlungsanweisung ist remedium bzw. medicina der Seelen, auch wenn ihre Aneignung mit ähnlichen Mühen und Schmerzen verbunden sein kann, wie im Fall der Behandlung eitriger Wunden bei Frontsoldaten (Sen. Cons. Helv. III 1) oder chirurgischen Schnittes (vgl. Sen. epist. V 52,9; vgl. Sen. Const. XIII 2; nach Epiktet ist das Lernen der Philosophie den heilsamen Schmerzen zu vergleichen, die die ärztliche Therapie bringt [Epikt. diss. III 23,30]; nach Plut. Lib. Educ. 17, soll der Erzieher wie der Arzt bittere und süße Heilmittel mischen etc.). Umgekehrt ist ethisches Versagen unter den metaphorischen Prämissen verschiedenster Krankheiten und Leiden zu beschreiben.65
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Siehe ausführlich CORDES, Iatros, 138–169, zur Medizin als Modell für die Staatskunst und zum Philosophen und Erzieher als Arzt bei Platon (vgl. a. a. O., 153f. mit Anm. 34 zur „Methode des Hippokrates“, nach der der Teil nicht ohne das Ganze behandelt werden dürfe: Plat. Phaidr. 270C); vgl. WEHRLI, Arztvergleich, 36–62. Häufig ist zudem in philosophischen Texten der Vergleich mit dem Steuermann, der den Schiffbruch auch bei schwerer See zu verhindern und somit die „Gesundheit“ der Passagiere zu garantieren hat. Vgl. Plat. Charm. 154–158; Sen. epist. II 15,1–2: ,,[…] ohne Philosophieren ist die Seele krank: auch der Körper, selbst wenn er große Kräfte hat, ist nicht anders als der eines Rasenden oder Wahnsinnigen gesund. Also sorge vor allem für die geistige Gesundheit, sodann auch für jene zweite […]“; vgl. Dion Chrys. or. I 8: Der Philosoph als derjenige, der vollkommene Heilung gewähren kann; vgl. XXXIII 6; nach Seneca hat die Philosophie den Vorteil, dass ihre Heilmittel im Unterschied zu bitterer Medizin wohlschmeckend sind; vgl. Sen. epist. V 50,9; vgl. Plut. Lib. Educ. 10.Vorausgesetzt ist die platonische Auffassung, dass die Seele wertvoller ist als der Körper (vgl. Plat. Hipp. Min. 372E.F; Gorg. 479B; leg. 743C.870A.B u. a. m.). Vgl. Aristot. eth. Nic. VI 7 [1141a]; Sen. Tranq. II 1, von Serenus‘ Zustand; vgl. weitere Stellen bei DÖRNEMANN, Krankheit, 49f. Gemäß stoischer Anschauung gelten vor allem die πάθη als krankhaft. Krankhaft sind Begierden, Neid und Hass. Besonders der Zorn wird in verschiedener Weise als Seelenkrankheit metaphorisch ausgelegt (vgl. Plut. Cohib. Ira 1–3). Die Stoa verknüpft das Problem der krankhaften Leidenschaften in der Grundtendenz immer noch sokratisch mit dem Erkenntnisproblem: Wird der Mensch vom Leiden seiner Uneinsichtigkeit geheilt, so meint die Stoa optimistisch, vermöge er auch richtig zu handeln. Hierbei handelt es sich um einen in der Spätantike keineswegs unumstrittenen Kunstgriff, insofern die Philosophie im nächsten Schritt behauptet, sie allein könne (auch im Unterschied zur Medizin) dieses gravierendste Leiden der Unwissenheit therapeutisch beseitigen, wohingegen die physische Gesundheit zum Adiaphoron werden kann (SVF 3, 149f. u. a.; vgl. zur Bandbreite der Positionen KUDLIEN, Art. Gesundheit, 912–915). Ein schönes Beispiel für
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Theologisch sind vor allem die Schriften Plutarchs zu vergleichen, in denen wiederholt die Vorstellung begegnet, dass Gott mit Menschen wie ein Arzt umgeht (vgl. die medizinischen Vorstellungen in Plut. de sera; am. 758A; Per 13,13 u. a.).66 Solche metaphorische Deutung medizinischen Denkens hat auch das hellenistische Judentum in vielfältiger Weise aufgegriffen. 67 Wenn auch Mk sie anwendet, ist er im Frühchristentum nicht der Erste, der so verfährt. Er hat jedoch neue und andere Möglichkeiten, da er als Erster ein kohärentes Erzählwerk schafft. Wenige Beispiele: Erzählerisch macht sich Mk zu Nutze, dass besonders Krankheiten der Sinnesorgane, wie in der Antike üblich, metaphorische Deutungen unterlegt werden. Die Öffnung des „Gehörs“ und die Lösung der „Fessel seiner Zunge“ (Mk 7,35) gestaltet Mk – auf heidnischem Gebiet – symbolisch transparent für die Ausweitung der christlichen Verkündigung unter den Heiden (vgl. Mk 7,31). Die zweiphasige Blindenheilung in Mk 8,22–26 zielt anders auf der Schwelle zum Weg nach Jerusalem auf die Passion voraus und bildet literarisch-metaphorisch ab, dass man erst vom Leiden und Kreuz her „gänzlich scharf“ sieht – ein doppelter therapeutischer Schritt, zu dem im Erzählkontext die Jünger in ihrer – metaphorischen – Blindheit nicht in der Lage sind (vgl. Mk 8,17–21). Die zweite Blindenheilung im MkEv – die Geschichte von Bartimäus in Mk 10,46–52 – verdoppelt auch in dieser Hinsicht nicht einfach die erste, sondern wird über ihren besonderen physiologischen Anhalt hinausgehend metaphorische Ausdrucksform eines (intendierten) graduellen Erkenntnisfortschritts.68 Einschlägig sind auch die Gegner Jesu in Mitleidenschaft gezogen. Nach Mk 3,5 leiden die jüdischen Opponenten an „Herzensverengung“ (πώρωσις τῆς καρδίας), ein Syntagma, das im antiken Sprachgebrauch in den Bereich der Medizin verweist und von Mk (auf der Basis hellenistisch-jüdischer Sprachkompetenz) metaphorisch-ethisch ausgelegt wird (vgl. Mk 6,52; 8,17).69 Ein wesentlicher Differenzpunkt der frühchristlichen Heilungserzählungen zu metaphorischer Krankheitsreinterpretation bleibt dabei: Die Geschichten erzählen von konkreten Situationen körperlichen Leidens und konkreter Lebensminimierung bis hin zur Todesnähe. Sie appellieren nicht nur an das Verstehen, sondern rechnen vielmehr auch mit den Erfahrungen und Gefühlen ihrer Leserinnen und Leser, beispielsweise mit Ängsten bei einem epileptischen Anfall, beim Scheitern eines Exorzismus oder beim Berühren unreiner und sterbender
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diese Figur bietet Plutarchs Traktat Animine an corporis affectiones sint peiores (HELMBOLD, Moralia, 377–391). Siehe mit weiterer Literatur HIRSCH-LUIPOLD, Gott; DERS., Denken, 225–281. Zu Philo vgl. HOGAN, Healing; zu Flavius Josephus: KOTTEK, Athens, 140–149. Mit TRUMMER, Augen, 103. Zu πώρωσις vgl. CH Fract. 23; Art. 15; Galen I 387; zur „Herzensverengung“ vgl. Eph 4,18; Röm 11,25. SCHMIDT/SCHMIDT, Art. Πωρόω κτλ., 1029f.
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Menschen. Mk wehrt einer Banalisierung physischen Leidens. Mk ist kein Gnostiker, und sein Jesus ist nicht allein Seelenarzt.70
5.
„Antipathie“ und/oder „Sympathie“? – Das hermeneutische Problem dämonologischer Krankheitsdeutung
Der markinische Jesus überragt als Gottes- und Menschensohn wie als qualifizierter „Christus“ und „Davidssohn“ den hellenistisch-römischen Typos des Arztes unter besonderen Voraussetzungen. Sein rettendes Handeln bleibt jedoch – auch im Rahmen eines umfassenderen Konzepts von „Heil“ und „Rettung“ (vgl. Pkt. 1.) – physisches Heilen, welches keine andere Gesundheit und Ganzheit anzielt als heilkundliche Kunst. Er wird als Anlaufstelle für diejenigen erzählt, die sich mit ihren vielfältigen Krankheiten auf der Suche nach einem Arzt sonst nicht mehr zu helfen wissen und die ihm eben darum ein in sonstiger Kommunikation unübliches antizipatorisches Vertrauen entgegenbringen. Solches Vertrauen kann Mk auf der Basis einer bereits geprägten frühchristlichen Sprachkompetenz als qualifizierten Glauben interpretieren (vgl. zum „rettenden“ Glauben Mk 5,34 par; 10,52 par; Lk 7,50; 17,19; Apg 14,9; Eph 2,8 u. a. m.). Insofern bietet das MkEv in seinen Therapieerzählungen und über sie hinaus (vgl. Mk 1,15) eine Explikation derjenigen Aspekte, die im griechischen Verb σῴζεθαι beide festgehalten sind: Retten und Heilen. Der mk Jesus zielt in seiner dem ärztlichen Handeln vergleichbaren Praxis physische Gesundung an, und er tut dies zugleich im weiteren Horizont seiner Ansage der anbrechenden Heilszeit. Abschließend ist zu fragen, wie sich solche Interpretation von Krankheit und Heilung zur Dämonologie und zur exorzistischen Praxis verhält, wie Mk sie erzählt. Hier gibt es ein gravierendes hermeneutisches Problem: Die mk Jesusgeschichte partizipiert nicht nur an Krankheits- und Heilungskonzepten ihrer Umwelt, sie muss vielmehr als Literatur gerade in ihrer religiösen Deutung für christliche Leserinnen und Leser auch meinungsbildend und handlungsleitend wirken. Hierbei macht es einen Unterschied, ob Leserinnen und Lesern vermittelt wird, dass sie mit einem Leiden zu einem Arzt gehen können/sollen oder sich in 70
Insbesondere ist den frühchristlichen Schriftstellern die (auf Homer zurückgehende) leibfeindlich-dualistische σῶμα-σῆμα (Leib-Grab)-Gleichung fremd. Gemeinsames Kennzeichen ntl. Heilungstexte ist, dass „[...] Krankheit weder ausschließlich auf einer rein körperlichen Ebene, noch auf einer rein kultisch-religiösen Ebene interpretiert wird. ,Krankheit und Heilung‘ des Menschen werden auf einer anthropologischen, somatischen, individuellen, sozialen und religiösen Ebene dargestellt, ohne daß eine Trennung zwischen diesen Ebenen unternommen wird [...]“ (KOSTKA, Mensch, 210f.; DÖRNEMANN, Krankheit, 67; vgl. Joh 7,23).
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Geduld, Glauben und Gebet (oder auch im Fasten71) üben sollen. Der Akzent im MkEv liegt in Wahrung frühjüdischer Voraussetzungen eindeutig auf der zweiten Linie. Hermeneutisch besonders problematisch ist eine Deutung von Krankheit, die diese auf Dämonen zurückführt. Auch hierin haben die Evangelien meinungsbildend gewirkt, wie die Rezeptionsgeschichte bestätigt. Beispielhaft lässt sich das an der Geschichte des Umgangs mit „Epileptikern“ studieren. Origenes hat im Rückgriff auf den Text der Evangelien eine medizinische Deutung des Leidens abgewiesen, dagegen an der dämonologischen Interpretation als christlicher Interpretation festgehalten (Orig. comm. in Mt XIII 6 [193, 12–25 Klostermann]: „[...] nos autem, qui evangelio sumus credentes, dicimus hanc passionem inmundum spiritum in hominibus operari“). Bei Origenes wird exemplarisch ein Strang altchristlicher Krankheitsdeutung greifbar, der ärztliche, z. B. medikamentöse Behandlung von Leiden per se ablehnt. In der Folge wurden „Epileptiker“ in der Alten Kirche religiös diskriminiert, auf der Synode von Elvira wurden sie zusammen mit Besessenen von der oblatio und communio ausgeschlossen.72 Für solche religiöse Krankendiskriminierung, die eine Heilung durch ärztliche Kunst faktisch ausschloss (vgl. demgegenüber CH Morb.), gibt es in der frühen Kirchengeschichte zahlreiche weitere Beispiele.73 Insgesamt muss man die verbreitete Vorstellung in Frage stellen, nach der die institutionelle Übernahme pflegerischer und heiltätiger Aufgaben in der Alten Kirche ein geradliniger, selbstverständlicher und unumstrittener Vorgang gewesen sei. 74 Abschließend seien einige Gesichtspunkte zur hermeneutischen Problematik genannt, ohne dass diese hier weiter zu systematisieren wären. Mk kann in summarischen Aussagen deutlich zwischen Kranken und dämonisch Besessenen bzw. zwischen Therapien und Exorzismen unterscheiden (vgl. 71
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Vgl. den Nachtrag des Fastens zum Gebet in Mk 9,29 in Papyrus 45 (vid.), einer Korrektur im Codex Sinaiticus, den Majuskeln A, C, D, L, W u. a. m. Vgl. SCHIPPERGES, Art. Krankheit, 687. Zur Diskriminierung von Tauben/Stummen, insofern sie zum qualifizierten „Hören“ nicht in der Lage sind, vgl. V. BENDEMANN, Auditus, 55–69, bes. 67 mit Anm. 45 (siehe in diesem Band 217–235, bes. 233 mit Anm. 45). Vgl. BRENNECKE, Heilen, 23–45; BARRETT-LENNARD, Healing. Höchster Standard in der Krankenversorgung wurde früh in römischer Zeit in den Valetudinarien des Heeres erreicht – allerdings nur für die Partizipanten des Militärdienstes (vgl. WILMANNS, Sanitätsdienst, 103–124); demgegenüber entstand das erste christliche Krankenhaus aus dem ξενοδοχεῖον erst im 4. Jh. im oströmischen Reich. Im Westen blieb diese Herkunft aus dem Herbergswesen zunächst prägend; Kranke wurden weniger medizinisch versorgt als mit anderen Hilfesuchenden in der Hoffnung auf göttliche Intervention gemeinsam betreut. In den Nosokomeia des Ostens gab es dagegen eine Form, in der unbeschadet grundlegender Verpflichtung gegenüber dem Christus medicus Grundsätze der hippokratisch-galenischen Medizin beachtet wurden (siehe im Einzelnen: HILTBRUNNER, Art. Krankenhaus, 890– 893.904f.). Zur Frage der Rezeption des Zusammenhangs von Eschatologie und Heilung in der Alten Kirche: NIELSEN, Heilung, 218–231.
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Mk 1,32.34). Eine pandämonologische Deutung von Krankheit75 kommt für ihn nicht in Betracht. Eine ganze Reihe von Krankheiten ist im MkEv nicht auf Dämonen zurückgeführt – beispielsweise Blindheit oder Lahmheit. Es bedarf damit deutlicherer Differenzierung im Fall der verschiedenen Einzelleiden, als sie in der älteren Forschung teilweise realisiert worden ist. Andererseits ergibt sich kein klarer Ansatzpunkt für eine Rationalisierung von Krankheits- und Therapiekonzepten jenseits der von dämonologischer Deutung potenziell erfassten Wirklichkeitskonzeption.76 Mk eröffnet seine Erzählung der Aktivität Jesu an einem programmatischen Sabbat mit einem stilgerechten Exorzismus (Mk 1,21–28). Diese Episode hat – abgekürzt – die Funktion, bereits im erzählerischen Prolog des Evangeliums eine Grundalternative zu markieren, die in Verbindung mit der These von Mk 1,15 in der Erzählung bestimmend bleibt. Sie hängt mit der eingangs erwähnten Appräsentation einer neuen Zeit zusammen. In der Sache ließen sich Stellen wie Lk 10,18 vergleichen: Im Wirken Jesu insgesamt kommt die Gottesherrschaft in der Weise nahe, dass widergöttliche Kräfte und Mächte das 75
76
Vgl. BÖCHER, Christus (vgl. a. a. O., 77–175) – eine Position, die immer noch ungebrochen rezipiert werden kann (z. B. WEBER, Dämonen, 21, 23). In solcher Richtung zu weit geht FERNGREN, Art. Krankheit, 985–993, nach dem die frühen Christen ein weitgehend natürlich-rationales Verständnis körperlicher Leiden gehabt hätten und eine deutliche Verknüpfung von Krankheit und dämonologischer Deutung nur im Fall der Epilepsie (sowie mit Abstrichen Mt 9,32f.; 12,22 par) Platz gegriffen habe. Richtig ist, dass exorzistische oder weitere magische Therapieformen nicht eo ipso implizieren, dass man in der Krankheitsätiologie auf Dämonen, Geister etc. zurückgriff. Doch das von Ferngren für die frühen Christen postulierte „normalerweise“ (a. a. O., 985) ist doch zu neuzeitlich-schematisch ausgelegt (zumal a. a. O., 989, dann widersprüchlich behauptet wird, für das NT sei „Satan prinzipiell die Quelle“ von Erkrankungen). Die Vorstellung, dass es rationales therapeutisches Handeln in einer klar-distinkten Unterschiedenheit von religiösen Konzepten gegeben habe, ist grundsätzlich auch für die hellenistisch-römische Medizin nicht durchführbar. Auch nach dem hippokratischen Traktat „Prognostikon“ muss der Arzt im Einzelfall fragen, inwieweit sich „Göttliches“ in den Krankheiten offenbart (CH Progn. 1). Vgl. KUDLIEN, Beginn, 88–97. Zum hippokratischen Rationalismus, der dem des Thukydides in der Geschichtsschreibung bis zu einem gewissen Grad entspricht, aber keine „absolute Kohärenz“ impliziert: JOUANNA, Entstehung, 46–49. Dieser zeigt insbesondere, wie die hippokratischen Autoren bewusst eine offene Konfrontation mit der zur gleichen Zeit erblühenden Tempelmedizin vermeiden. Lesky sprach hier klassisch von einer Spannung von „Aufklärung“ und „Frömmigkeit“ (siehe den Überblick über die ältere diesbezügliche Forschung bei SCHÖLLKOPF, Problem). Vergleichbares ist unter veränderten Vorzeichen auch für die großen Mediziner und Enzyklopädisten der römischen Kaiserzeit zu konstatieren. Manche ältere Vorstellung erscheint hier rationalisiert. Doch ist beispielsweise bei Galen eine grundsätzliche Offenheit zu magischen Vorstellungen im Umgang mit Stoffen zu beobachten. Die Natur und ihre Elemente sind als göttliche Werke gesehen (vgl. zum Problem V. KARGER, Reaktionsweisen passim; die von V. KARGER postulierte These einer allgemeinen Hinwendung zum Irrationalen in der römischen Kaiserzeit ist allerdings fraglich [vgl. a. a. O., 72]). Umgekehrt bietet die Tempelmedizin nicht grundsätzlich die irrationale Antipode zu medizinischer Praxis (vgl. WACHT, Art. Krankenfürsorge, 829f.; DÖRNEMANN, Krankheit, 45f.).
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Feld räumen müssen. Entsprechend sind Exorzismen in sämtlichen größeren Spannungsbögen der mk Jesusgeschichte verankert (nach 1,21–28: 5,1–20; 7,24– 30; 9,14–29) – mit Ausnahme der Passionsgeschichte, wo Jesus anders als bei Mt (vgl. Blinde und Lahme im Tempel: Mt 21,14) nicht mehr heilt. Auf dem frühchristlichen Hintergrund gesehen, bedeutet die summarische Differenzierung von dämonischer Besessenheit und Krankheiten keineswegs eine klare Ausschlussmöglichkeit dämonologischer Konnotationen im Fall einzelner Leiden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Leserinnen und Leser des MkEv unter ihren Bildungsvoraussetzungen hier so klar hätten unterscheiden können. Entsprechende Mehrdimensionalität in der Konzeptualisierung von Krankheit und Heilung bestätigt ein Blick auf weitere frühchristliche Texte. Bei Mt z. B. kann Blindheit zusammen mit Stummheit/Taubheit anders als bei Mk dämonologisch interpretiert werden (vgl. Mt 12,22; vgl. Lk 11,14: der stumme Dämon). Lk kann Lähmungserscheinungen – anders als Mk – auf eine „Bindung“ des menschlichen Körpers zurückführen (vgl. Lk 13,10–17), was an dämonologische Vorstellungen erinnert.77 Umgekehrt sind sogenannte „Heilmittel“, derer sich der mk Jesus in wenigen Fällen in den Therapieerzählungen bedient, ebenfalls vieldeutig. So kann zwar der Speichel in Mk 7,31–37; 8,22–26 zunächst als remedium im Zusammenhang der Dreckapotheke betrachtet werden (vgl. bei Augenleiden Plin. nat. XXVIII 37.86; Marc. Emp. Med. VIII 43.166 u. a.); im Verbund mit den weiteren erzählten Praktiken transzendiert er jedoch medizinisch-therapeutische Bemühung. Damit stellt sich im Einzelfall die Frage, inwieweit Krankheitskonzepte, die wir heute aufgrund besserer medizinischer Forschung und Einsicht nicht mehr teilen können, laienmedizinische Vorstellungen,78 die die Schulmedizin über Jahrhunderte Zug um Zug entkräftet hat, ebenso wie moralische oder religiöse 77
78
FERNGREN, Art. Krankheit, 988, rechnet für Lk 13,10–16 mit einer „gemischten Aitiologie“; der „Geist der Schwachheit“ (Lk 13,11) sei „auch im übertragenen Sinn zu verstehen“ (a. a. O., 988, im Anschluss an FOERSTER, Art. σατανᾶς κτλ., 159). Auch hier geht jedoch das Bestreben, das Krankheitskonzept zu rationalisieren, zu weit. Vgl. anders zur Fesselung geistig Behinderter: Aristoph. Vesp. 191–196; Xen. Mem. I 2,49; Plaut. Men. 845; Capt. 598f.; Cic. Tusc. 2,48; Cels. med III 18,4; vgl. Jer 29,26; Mk 5,2–4 u. a. Die gängigen Kategorien der Beschreibung dieses Feldes weisen in der ntl. Wissenschaft allerdings erhebliche Unschärfen auf. Dies betrifft die summarische Rede von einer „volkstümlichen Medizin“ / „folk medicine“ oder auch „low medicine“ (zu Plinius d. Ä. als Hauptvertreter der „low medicine“, zu einschlägigen Anhaltspunkten in den Papyri, den Hermetica und den Schriften Marcellus Empiricus‘ in römisch-imperialer Zeit: RIDDLE, Medicine, 117–120) bzw. anders – wo die exorzistischen Aspekte stärker gewichtet sind – von einer „Überwältigungsmedizin“ oder „Paramedizin“. Vgl. LEVEN, Art. Volksmedizin, 908f.: Der Begriff ist „in jeder Epoche gleich problematisch“. Richtig bleibt, dass Ausbildungsgrad, Systematik und Binnendifferenzierung hellenistisch-römischer Schulmedizin bzw. einzelner ihrer Richtungen und Vertreter in den frühchristlichen Texten kein Widerlager finden (können). Zum Krankheitsbegriff des „Laiensystems“: BASLER, Psychologie, Bd. 2, 21.
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Bewertungen von Leiden klarer Sachkritik zu unterziehen sind. Theologischer Überhöhung von konkreten Leiden und ihrer Heilung ist zu wehren. 79 Die – methodisch freilich strittige – Einbeziehung psychoanalytischer Anstöße in der Auslegung frühchristlich-exorzistischer Texte kann dazu verhelfen, weitere Lebens- und Wirklichkeitsdimensionen konkreter Krankheitskonzepte aufzudecken. Sie verweist beispielsweise auf die Interdependenz individuellen Leidens mit weiteren sozialen und politischen Strukturen, in denen sich Menschen vorfinden. Auch sie stößt freilich auf Grenzen, insofern es z. B. in den frühchristlichen Exorzismen nie um die Integration dämonischer Machtphänomene, sondern vielmehr um ihre Bannung und Separation geht.80 Die Interpretation der verschiedenen Krankheitskonzeptionen im MkEv hat zuerst zu beachten, dass menschliches Leiden hier generell von seiner Überwindung her konzeptualisiert ist.81 In Aufnahme eines jüngeren medizinsoziologischen Ansatzes von Antonovsky könnte man von einem „salutogenetischen“ Modell sprechen.82 Die primäre Frage, die die Narrativierung von Krankheit und Heilung bestimmt, ist demnach nicht die traditionalistische Frage, was Menschen krank, sondern vielmehr die, was sie heil und gesund machen kann. Dass der pathogenetische Blickwinkel nicht der bestimmende ist, spiegelt sich auf der Erzählebene darin, dass die frühchristlichen Heilungserzählungen regulär nicht mit der Schilderung des Krankheitsbildes, sondern mit der Annäherung des Heiltäters beginnen.83 Mk geht unter den besonderen Vorzeichen seiner Jesusgeschichte damit zugleich über die Frage hinaus, was es kranken Menschen überhaupt erlaubt, zu leben, oder wie Stärkung auch im Fall bleibend eingeschränkter Gesundheit zu erwirken ist, insofern sein Verständnis von „Leben“ ein qualifiziertes ist, wel– 79
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Kriterien eines sachkritischen Umgangs mit der Problematik sind bis zu einem gewissen Grad dem zweiten Evangelium selbst abzugewinnen. Der Evangelist stilisiert z. B. an keiner Stelle seiner Jesusgeschichte konkretes Leiden von Kranken als Antizipation oder Partizipation des Leidens des Menschensohnes. Die – vermittelt u. a. durch Mt 25,34–40 und Paulus – in der Alten Kirche so wichtige Vorstellung, dass im Kranken Christus selbst begegnet und die Krankenfürsorge an diesem Anteil gibt (vgl. WACHT, Art. Krankenfürsorge, 876–879), ist im zweiten Evangelium noch nicht ausgearbeitet. Vgl. MERKLEIN, Heilung, 190–210. Dies bedingt auch, dass die in der altgriechischen Medizin bereits wichtige Vorstellung „relativer“ Gesundheit abschattiert ist. Vgl. KUDLIEN, Art. Gesundheit, 917f. Vgl. ANTONOVSKY, Health; DERS., Mystery; DERS., Gesundheitsforschung, 3–14. Vgl. neben Antonovsky AHMED/COELHO (Hg.), Definition; PAULI, Bekämpfung, 34–41. Zum Hintergrund vgl. BAUCH, Medizinsoziologie; STOLLBERG, Medizinsoziologie. Vgl. hierzu WOLTER, Heilungsberichte, 170f. (mit Hinweis auf die Ausnahme in Apg 9,36–42). Kritisch zu fragen ist allerdings, ob die von Wolter postulierte Differenz zu den Heilinschriften der antiken Asklepieien an diesem Punkt Bestand hat, insofern diese die Präsenz des Heilgottes am Heilort (im Abaton) voraussetzen (vgl. HERZOG, Wunderheilungen, 63, der von einem „sicheren Untergrund“ spricht, vor dem die Pinakes ihre Wirkung entfalten konnten). Zur neuzeitlichen Perspektive pathogenetischer Krankheitskonzepte: CARTER, Rise.
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ches nicht abseits der These von Mk 1,15 zu begreifen ist. Die mk Geschichte impliziert damit einen positiven Gesundheitsbegriff, der jenseits der Bestimmung der Abwesenheit von Krankheit angesiedelt ist, zugleich aber Menschen unter besonderen eschatologischen Prämissen avisiert, die nicht auf Aktivierung ihrer Eigeninitiative oder Eigenkräfte zielen, sondern extern angreifen (s. Pkt. 1.).84 Dem entspricht, dass in der mk Jesusgeschichte eben nicht nur „Kranke“, sondern zugleich zahlreiche „Besessene“ begegnen. Im Anschluss an RÖHR85 kann man in der (spätantiken) Konzeptualisierung von Heilmitteln zwei Grundmodelle unterscheiden: Auf der einen Seite steht die Grundvorstellung der „Sympathie“. Sie verweist auf die Möglichkeit des „Affiziertwerdens“ sowie der konsonanten und potentiell ubiquitären Wechselbeziehungen zwischen Individuen, Gruppen und Geschehnissen innerhalb ihrer Lebenswelt.86 Hiervon zu unterscheiden ist das „Antipathie“-Konzept, das auf eine grundsätzliche Dissonanz verweist und Abwehrhandlungen fordert.87 Die dämonologische Krankheitsdeutung ist Teil eines solchen „Antipathie“-Modells. Für das frühe Christentum war ein solches „Antipathie“-Konzept insgesamt darum bedeutsam, weil es eine Lösung der Frage anbot, wie sich das Gutsein Gottes zu (körperlichen) Störungen des Menschen verhält. Entsprach es altisraelitischer und frühjüdischer Vorstellung, dass nicht nur Gesundheit, sondern auch Krankheiten und Lebensminimierungen nicht abseits der souveränen Wirklichkeit des Gottes Israels zu verstehen sind (vgl. Ex 15,26; Num 12,10f.; Dtn 28; 32,39; Philo Migr. Abr. 87f.124; Philo Leg. All. III 178.215f. u. v. a.), so ermöglicht es das „Antipathie“-Konzept im Ansatz, am Axiom des Gutseins Gottes, seiner salutogenetischen Intention festzuhalten, damit aber zugleich die These zu bestreiten, dass kranke Menschen für ihr Kranksein selbst verantwortlich und verloren sein könnten. Vielmehr gilt der Mensch im „Antipathie“-Konzept metaphorisch als ein Gefäß für Mächte, von denen er durch überlegene göttliche Kraft auch wieder freigesetzt werden kann (vgl. Mk 3,22; Lk 11,20.24–26 par u. a.). Die Energie 84
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Anders fasst ANTONOVSKY die protektiven Faktoren im Konzept des „sense of coherence“ als eines dynamischen Vertrauens in die Verlässlichkeit der Welt zusammen (vgl. DERS., Mystery, 12f.). Vgl. BAUCH, Medizinsoziologie, 154f.: ANTONOVSKY intendiert, „[...] in der Tradition der Streß- und Copingforschung verschiedene Widerstandsressourcen gegenüber krankmachenden Einflüssen zu identifizieren, so die ,klassischen‘ internalen Ressourcen wie Ich-Stärke, Selbstvertrauen und Optimismus sowie die externalen Ressourcen wie Status, Einkommen, soziale Unterstützung, soziale Integration [...]“. Zur Kritik an der fehlenden Reflexion struktureller und sozialer Faktoren bei der Entwicklung eines „Kohärenzgefühls“ vgl. DERS., Mystery, 156–178. RÖHR, Kraftbegriff. Vgl. RÖHR, Kraftbegriff, 35, 38; V. KARGER, Reaktionsweisen, 6. Das Sympathie-Konzept kann ätiologisch begegnen: Galen unterscheidet so sympathische von idiopathischen Krankheiten. Es kann aber auch auf den Bereich magischer Heilpraktiken angewandt sein, wenn es beispielsweise um Krankheitssubstitution geht. „Ein Antipathiemittel ist [...] ein Mittel, das Haß gegen andere Wesen [...]“ impliziert und ihrer Bekämpfung dient (RÖHR, Kraftbegriff, 38; V. KARGER, Reaktionsweisen, 7).
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des Heiltäters richtet sich gegen die von außen in den Menschen eingedrungenen Kräfte, nicht gegen die erkrankten Menschen selbst. Insofern lässt sich auch die dämonologische Krankheitsdeutung unter den besonderen soziohistorischen und kulturell-religiösen Bedingungen der Zeit als Bestandteil des therapeutischen Konzeptes des MkEv begreifen, das heilvolle Erfahrungen in der christlichen communitas reflektiert, zugleich auf heilendes Handeln an Kranken über diese hinaus auch dort zielt, wo zeitgenössische Schulmedizin ihre Grenzen findet. Das hermeneutische Problem ist damit freilich nicht einfach aufzulösen. Es bleibt bestehen.
Krankheit in neutestamentlicher Sicht Ansätze – Perspektiven – Aporien 1.
Vermessung einer terra incognita
In den Heilungs- und Exorzismuserzählungen der Evangelien und der Apostelgeschichte werden Krankheiten und Leiden und wird der je einzelne kranke Mensch ganz auf die Appräsentation der Heilung und des Heils hin konstruiert, die sich in Jesu vollmächtigem Handeln bzw. in dem der in seinem Namen agierenden Jünger/Zeugen aktualisiert.1 Dieses besondere Profil neutestamentlicher Konzeptualisierung von Krankheit wird dann erkennbar, wenn man beobachtet, dass das Subjekt der (jeweiligen) Kranken in neutestamentlichen Äußerungen, anders als in antik-medizinischen Texten sowie denen der weiteren Literatur der griechisch-römischen Zeit, kaum entwickelt wird. Nirgends finden wir ausführlichere Schilderungen über das Leben mit einer Erkrankung; nur an wenigen Stellen begegnet in Ansätzen der aktive Kranke (vgl. den Blinden in Mk 10,46–52; einen Sonderfall bietet der kranke Paulus); z. B. fehlen die antik verschiedentlich zu belegenden Gestalten des rebellierenden, die des klagenden – ein Topos, der sich vom Motiv des Hilferufs oder des stellvertretend klagenden Angehörigen wesentlich unterscheidet –, die des auf seine Situation reflektierenden, die des sich permanent entschuldigenden oder auch die des eingebildeten Kranken.2
* 1
2
Ursprünglich erschienen in: G. THOMAS/I. KARLE (Hg.), Krankheitsdeutung in der post–säkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 163–185. In frühchristlichen Texten sind mehrheitlich Krankheiten thematisiert, die nach den Distinktionen der antiken Medizin bzw. nach einem auch über die Medizin hinaus verbreiteten Grundwissen nicht als akut (vgl. den Ausnahmefall im Gleichnis in Lk 10,30–35), sondern als chronisch zu gelten haben. Chronische Krankheiten wurden erst verhältnismäßig spät systematischer Gegenstand der wissenschaftlichen Heilkunst; dabei spielte die Frage der Reputation des Arztes eine wesentliche Rolle, die im Fall unheilbarer Krankheiten in Frage stand. Eben solchen Leiden aber wendet sich Jesus nach dem erzählerischen Bild der Evangelien überwiegend zu. Croon bescheinigt z. B. Aelius Aristides, der von seinen zahllosen Krankheiten berichtet, mit denen er Heilung am Asklepieion von Pergamon sucht, „nahezu neurotische Züge“ (CROON, Art. Heilgötter, 1216).
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Krankheit in neutestamentlicher Sicht
Dieses salutogenetische Konzept3 wird unterstrichen durch summarische Reflexionen der Heilaktivität Jesu bzw. durch Aussagen, die diese als Erfüllungsgeschehen biblischer Verheißungen deuten (vgl. z. B. 1 Clem 16,4; Barn 5,2/ Jes 53,4f.LXX).
1.1.
Missverständnisse und Verkürzungen
Zwei in der neutestamentlichen Forschung weit verbreiteten Missverständnissen bzw. Verkürzungen ist ausdrücklich zu widersprechen: a) Anders als häufig vorausgesetzt wird, ist in den frühchristlichen Texten keineswegs nur das „dass“ der beseitigten körperlichen Störung bzw. des Defekts fokalisiert. Ein entsprechendes Missverständnis hat die Interpretation der neutestamentlichen Heilungserzählungen lange Zeit dominiert. Es bildete eine enge Allianz mit der älteren Formgeschichte, in der erzählte Krankheiten und Leiden in das generische Muster der Wundergeschichten eingebettet, in der Regel jedoch nicht weiter interpretiert wurden. Unter der Prämisse eines baugleichen – nur je verschieden aktualisierten – Erzählplans der Exorzismus- und Therapieerzählungen konnten die je eigenen Krankheitskonzepte der frühchristlichen Erzählungen nahezu gänzlich abschattiert werden. Folge war ein – auch in der religionsgeschichtlichen Einschätzung – weitreichend homogenisierter Krankheitsbegriff: Die einzelnen kranken Menschen in den Texten avancierten zu Austauschmodellen.4 Die (relativ überschaubare) Forschungsgeschichte ist hier nicht nachzuzeichnen. Es ließe sich jedoch zeigen, dass sowohl begriffsgeschichtliche Untersuchungen (zu Begriffen wie νόσος, ἀσθένεια, μαλακία, πάθος etc.), religionsgeschichtliche Analysen als auch methodisch innovativere narratologisch orientierte Ansätze nach wie vor an den älteren Uniformierungstendenzen partizipieren. Als Gefahr und Preis dieses Vorgehens ist ein beträchtlicher Lebensverlust, eine „Blutleere“ in der Interpretation zu konstatieren.
In jüngster Zeit und in ersten Ansätzen ist in der neutestamentlichen Forschung vermehrt zur Geltung gekommen, dass die frühchristlichen Texte nur einen synthetischen Krankheitsbegriff im Singular verwenden, insofern sie diesen zugleich auf plurales Krankheitswissen und plurale körperliche Krankheitserfahrungen zurückbeziehen.5 Die besondere Bedeutung der konkreten Krankheiten, eines jeweils besonderen Krankheitswissens und besonderer Krankheitserfahrungen, erschließt sich jedoch nicht im Sinn ontologischer Evidenzen als des Versuchs der Identifizierung neutestamentli3
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Zum „salutogenetischen“ Krankheitsverständnis vgl. V. BENDEMANN, Christus, 176–178 (siehe in diesem Band 64–66). Im Blick auf das unten näher besprochene Beispiel des Wassersüchtigen in Lk 14,2 genügt hier ein Blick in ausgewählte Kommentare: CREED, Gospel, 188, begreift den Kranken als Teil eines „literary device to provide a setting for the sayings […]“; vgl. BOVON, Evangelium, 464: Der Wassersüchtige sei „ein […] Unbekannte[r] ohne Bedeutung“. Vgl. exemplarisch LÜHRMANN, Wundergeschichten; WOHLERS, Krankheit.
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cher Krankheitsbeschreibungen mit neuzeitlichen Krankheitskonzepten. Auch in den frühchristlichen Texten verweist die Rede von Krankheit(en) je auf ein komplexes Welt- und Wirklichkeitskonstrukt. Auf dieses kann weder einheitlich physiologisch zugegriffen werden, noch sind die soziokulturellen Codes und religiösen Deutungsansätze einfach zu homogenisieren. Die konkreten Krankheitsbezeichnungen und -beschreibungen sind also in ihrem jeweils sorgfältig zu bestimmenden soziokulturellen und literarischen Kontext in ihrer Bedeutung zu erschließen. b) Hinter dem ersten Missverständnis steht ein zweites, grundlegenderes: Die neutestamentlichen Derivate der Wurzel σῴζ- umfassen stets beides: Den Aspekt der Rettung, Befreiung/Erlösung (aus Not, Hoffnungslosigkeit, Gericht und Tod) sowie den der Heilung, des Gesundmachens von und der Bewahrung vor körperlichem Leiden und Schmerz. In Ansätzen der Interpretation von Krankheit(en) im frühchristlichen Schrifttum ist dabei lange Zeit einseitig der Akzent auf den ersten Aspekt gelegt worden. So richtig es ist, dass das in der Reflexion des Christusgeschehens angezielte Neuwerden des/der Menschen umfassendere Zusammenhänge beschreibt und von tiefgreifenderem Heil weiß, welches somatisches Heil- und Wohlsein transzendiert, so sicher ist es, dass der zweite Aspekt in der Interpretation nicht sublimiert werden darf. Anders droht die Gefahr einer Banalisierung der Aussage von der rettenden und zugleich heilenden Macht Gottes. In der neutestamentlichen Theologie korrespondiert dieser Verdrängung der heilenden Macht Gottes die Präferenz juridischer Sprachspiele, wie vor allem Paulus sie zur Explikation des Christusgeschehens aktiviert, vor den therapeutischen – dies auch, da sie für eine terminologisch verfasste „Theologie“ anschlussfähiger scheinen. Auf das Ganze des Neuen Testaments gesehen (unter Einschluss der Geschichtsbücher) scheint es angezeigt, auch hier über Gewichtgebungen und proportionale Verhältnisbestimmungen neu nachzudenken.
1.2.
Das Problem der Vermittlung von Text und Körpererfahrung
Bei einer sorgfältigen Analyse der Probleme, die sich mit Sammelbegriffen für Krankheit wie mit den verschiedenen Einzelphänomenen in den neutestamentlichen Texten einstellen, eröffnet sich ein weites Forschungsfeld. Die Risiken, mit denen man auf ihm konfrontiert wird, sind nicht unerheblich. a) In methodischer Hinsicht ist zuerst folgendes Problem virulent, vor das sich auch der Ansatz einer neutestamentlichen Anthropologie gestellt sieht: Wie
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Krankheit in neutestamentlicher Sicht sind Textaussagen mit körperlichen und lebensweltlichen Realitäten zu verknüpfen, die nicht „per se“ im Sinne einer Realienlehre der Zeit der frühen Christen abrufbar sind und sich auch durch andere Quellen und Zeugnisgruppen nicht quasi neutral beschreiben lassen? Mit dem Versuch einer historischen Verobjektivierung entgeht man den strukturellen Problemen nicht. Festzuhalten ist, dass Heilungen kranker Menschen aus dem unverwechselbaren Profil der Wirksamkeit des historischen Jesus nicht zu extrapolieren sind. Insbesondere die Christologie der Evangelien ist ohne die erinnerten und erzählten Exorzismen und Therapien Jesu undenkbar. Diese greifen – auch in der narrativen Anordnung der Evangelien (vgl. die Taten des Messias in Mt 8f. im Anschluss an die Bergpredigt) – gleichwertig und gleichgewichtig mit der sogenannten Wortüberlieferung zusammen. Noch in jüngsten Gesamtdarstellungen des historischen Jesus kann das Problem der Balance der βασίλεια-Verkündigung im Verhältnis zu den Berichten seiner heilenden Aktivität als nicht wirklich gelöst gelten.6 Dieses Defizit wird aber nur dann zu überwinden sein, wenn die besonderen lebensweltlichen, kulturellen, sozialen und anthropologischen Parameter der Repräsentanz von Krankheit resp. Gesundheit/Heil mit ausgearbeitet werden. Die konkreten heilkundlichen Prämissen der therapeutischen Aktivität Jesu bedürfen auch in historischer Hinsicht weiterer Erforschung.
Die neutestamentliche Forschung ist hier herausgefordert, Binnenperspektiven zu transzendieren und insbesondere die traditions- bzw. religionsgeschichtliche Fragestellung in Hinsicht auf die Medizinhistorie zu erweitern. Antik-medizinische Texte sind mehrheitlich einem Bildungsmilieu zuzuordnen, das sich zur Welt der ersten Christen abständig verhält. Beispielsweise spielen die in der antiken Medizin so wichtigen Fragen der Krankheitsprognose, der Prävention und Diätetik (als ‚Lebenskunst‘) in frühchristlichen Texten allenfalls am Rand eine Rolle (vgl. 1 Tim 5,23). Zugleich partizipieren medizinische Texte an natürlichen, organologischen, kulturellen, sozialen, politischen, kosmologischen, thanatologischen und auch theologischen Vorstellungen, wie sie – besonders vermittelt durch die Philosophie – auch auf die frühchristlichen Schriftsteller und ihre Leserschaft eingewirkt haben. Medizinische Texte lassen nach Umweltkonditionen und regionalen Differenzierungen der Wahrnehmungsschemata von Krankheiten fragen. Sie eröffnen gesichertere Anhaltspunkte für die Fragen der Verhältnisbestimmung von geistiger und körperlicher Verfasstheit des Menschen, von gender-Differenzen oder Altersabhängigkeit von Erkrankungen. Bieten Bewertungen der „Schwere“ von Einzelleiden bzw. der „Stärke“ von Beeinträchtigungen und Schmerzen ein häufiges Einfallstor für Fehlurteile in der Exegese der neutestamentlichen Therapieerzählungen, so ist auch hier sicherer Boden nur durch Frageschritte zu gewinnen, die sinnvollerweise in der antiken Medizin anzusetzen haben. Nur in solchen vergleichenden Frageschrit6
Man vergleiche in jüngsten Gesamtdarstellungen des historischen Jesus jeweils das Textquantum, das die so genannte Wortüberlieferung behandelt, mit dem, in dem die Wundertätigkeit Jesu zur Darstellung gebracht wird.
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ten wird auch zu klären sein, was gemeinhin sogenannten „volkstümlichen“ oder „laienmedizinischen“ Vorstellungen zugeschrieben wird. Medizinische Schriften können Einblick in Modelle geben, nach denen man das Verhältnis von Einzelnen und sozialer (Um)welt bestimmte („Mikrokosmos“/„Makrokosmos“). Auch in der medizinischen Literatur bricht sich das Wissen darum, dass Reaktionen, die von Krankheiten ausgelöst werden, für die Stabilität von Kulturen und Gesellschaften folgenreich sind. Damit stehen insgesamt Kontrollinstrumente zur Verfügung, die einer – in der Exegese so oft erfolgten – Modernisierung frühchristlicher Krankheitsdeutung entgegenwirken und dazu beitragen, körperliche und lebensweltliche Realitäten als (sub)kulturelle Konstrukte zu rekonstruieren. b) In einer zweiten methodischen Hinsicht ist sorgfältige Reflexion vonnöten: Die Konzeptualisierung von Krankheiten innerhalb des frühen Christentums erschließt sich uns nur literarisch. Krankheiten sind im Neuen Testament ein Teil von Literatur. Literatur aber bildet Wirklichkeit nie in einem Eins-zu-eins-Verhältnis ab. Sie bewahrt auch nicht nur Informationen, tradierte Erfahrungen, Haltungen oder Stilelemente. In der Antike dependent von der jeweiligen Gattung basiert sie vielmehr auf eigenen darstellerischen Regeln und ist auf ihre konkreten Intentionen und Strategien hin zu befragen. Die besonderen Formen der Rede von Krankheit sind also innerhalb der frühchristlichen Literatur nur zu erfassen, wenn zeitgenössische literarische Darstellungsmöglichkeiten als Vergleichspunkte herangezogen werden.
1.3.
Das Problem der Wahrnehmung jüdischer Krankheitskonstruktionen
Auf frühchristliche Krankheitskonstruktionen wirken vor allem jüdische Konzepte ein. Mit ihnen ist auf die Differenz neutestamentlicher Vorstellungen zur wissenschaftlichen Welt der antiken Medizin verwiesen. Ein positives Bild vom Arzt und eine theoretisch wie praktisch spezialisiertere Medizin haben sich in Israel erst spät und gegen erhebliche Widerstände durchsetzen können (vgl. Sir 38,1–15). Das ältere Bild des Judentums als einer medizinlosen (resp. in dieser Hinsicht: „heillosen“) Religion bedarf allerdings der Korrektur. Spätestens in neutestamentlicher Zeit hat medizinisches Wissen über den Binnenkreis wissenschaftlicher Spezialisierung hinaus auch das frühe Judentum erreicht. Der hellenistisch-jüdische Schriftsteller Flavius Josephus nutzt beispielsweise wie selbstverständlich Kenntnisse der medizinischen Wechselfieberlehren. Auch die jüdische Literatur hat in unterschiedlichem Grad teil an der Osmose zwischen antiker Medizin, Philosophie, Religion und einer weiteren Rezeption in der Erzählliteratur und Poesie.
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Krankheit in neutestamentlicher Sicht
Die Ermittlung der Bedeutung jüdischer Krankheitskonzepte für frühchristliche Konzeptualisierungen wird jedoch durch die folgenden Probleme erschwert: a) Die Ansätze jüdischer Krankheitskonzeptualisierung sind vielfach schwer genau zu beschreiben. Im Judentum werden einzelne Erkrankungen ästhetisch-funktional erfasst, d. h. nicht von einer inneren resp. organologischen Kenntnis des menschlichen Körpers her bestimmt und vorrangig religiös ausgelegt. Die Frage der Gemeinschaftsfähigkeit der Kranken, ihrer Reinheit und Kultfähigkeit erweist sich als zentral. Religiöse Wahrnehmungsschemata dominieren Krankheitskonzepte, so dass im Vergleich zu griechisch-römischen Konzeptualisierungen in der Tat eine Rückläufigkeit zu konstatieren ist, die es erschwert, das konkrete Krankheitskonstrukt in seiner Differenz zu bestimmen. b) Hinzu kommt, dass für eine Fülle in der frühchristlichen Literatur genannter Krankheiten kein klares Widerlager im alttestamentlichen Schrifttum oder auch in frühjüdischen Texten zu verifizieren ist, so dass die Quellenlage es nicht erlaubt, den Beitrag jüdischer Krankheitskonzepte in allen Fällen zu ermitteln bzw. für diese Krankheiten der jüdische Kontext möglicherweise nicht dominant ist. c) Frühjüdische Krankheitsmodelle sind zudem bislang wenig erforscht. Dies betrifft besonders das weite und schwierige Feld der Rabbinica. d) Ein notorisches Problem bildet auch die dämonologische Krankheitsinterpretation, die auf frühjüdischen Prämissen basiert, insgesamt im frühen Christentum jedoch eine neue Qualität gewinnt und wirkungsgeschichtlich bzw. im Blick auf die Praxis des Umgangs mit Kranken eminent folgenreich war. Die frühen christlichen Gemeinden, die aus dem Judentum heraus entstanden und an dessen Abständigkeit zur wissenschaftlichen Welt der antiken Medizin partizipierten, fanden sich in einer Welt wieder, in der sich eine wissenschaftliche Heilkunst etabliert hatte, in der Krankheiten Gegenstand professioneller und institutionalisierter Bemühungen waren und in der es differenzierte Konzepte der sozialen und religiösen Deutung von körperlichen Leiden gab. Mit fortschreitender Etablierung der frühen Gemeinden unter den Bedingungen besonders der Städte des römischen Imperiums mit ihrem entwickelten Gesundheitswesen, bereits arbeitsteilig organisierten Facharztpraxen (z. B. in Pompeji), ärztlichen Gebührenordnungen ebenso wie mit ihren mannigfachen weiteren Heilungsangeboten manifestierte sich das Desiderat, christliche Vorstellungen von Heilung und Heil auch in besonderer Hinsicht auf diese differenzierten Krankheitskonzepte zu klären, zu präzisieren bzw. auf die eigene Praxis hin zu reflek-
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tieren. Im Zuge der Praxis, der Vertiefung und Reflexion der eigenen Überzeugungen entwickelten die frühen Christen sukzessive eigene Modelle der Wahrnehmung und Bewältigung von Krankheit(en), mit denen sie innerhalb der hellenistisch-römischen Mehrheitsgesellschaft identifizierbar wurden.
1.4.
Ein Testfall
Die Erschließung differenter neutestamentlicher Krankheitskonzepte bedarf also eines methodisch differenzierten, sorgfältig und zielgenau anzuwendenden Instrumentariums. Jedes einzelne Krankheitskonzept ist als solches zu rekonstruieren; einen Generalschlüssel, der alle frühchristlichen Krankheitsmodelle eröffnen könnte, kann es nicht geben. Wie ein frühchristliches Krankheitskonzept methodisch erschlossen werden kann, soll im Folgenden also an einem Testfall gezeigt werden. Wir gehen von einer kurzen apophthegmatischen Szene im dritten Evangelium aus. In Lk 14,1–6 heilt Jesus im Rahmen einer konfliktträchtigen Episode einen Wassersüchtigen. Diese Episode erweist sich als planvoll eingebunden in einen weiteren szenischen Zusammenhang (14,1–24). Dieser steht im langen Mittelteil des Lukasevangeliums in Nachbarschaft zu weiteren längeren dramatischen Szenen, in denen Jesus nach einem Rotationsprinzip abwechselnd die Jünger, die Volksmengen und jüdische Gruppen und Einzelne adressiert. Der Effekt dieser Rotation ist ein Übergreifen der Lehre und Mahnung Jesu auf die je komplementären Gruppierungen. Warnungen und Mahnungen an die Menge oder an die Pharisäer kann Lukas so zugleich auf die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des Jüngerseins hin öffnen. Damit sind im Gesamtzusammenhang stets die Lukasleser im Blick. Die paränetische Zielsetzung erweist sich als bestimmend. Die dramatische Episode Lk 14,1–24 ist im Haus eines Pharisäers lokalisiert. Man liegt am Sabbat zu Tisch (vgl. 14,15). Die kohärente Szenenfolge gliedert sich in eine apophthegmatische Anfangsszene (14,1–6). In ihr verschränken sich zwei Konfliktthemen: Das des Sabbats und das des bei einer Sabbatmahlzeit präsenten Wassersüchtigen. Es schließen sich paränetische Regeln an die Eingeladenen (14,7–11) und an den Gastgeber (14,12–14) an. Auf den Zwischenruf eines Mahlteilnehmers hin, der im Anschluss an den Makarismus Jesu (14,14) einen eigenen Makarismus formuliert (14,15), endet der Erzählzusammenhang ohne weiteren narrativen Schlusskommentar mit der Gleichniserzählung vom großen Mahl (14,16–24). In der folgenden Analyse werden die diachronen Probleme dieses Erzählzusammenhangs zurückgestellt. Lukas arbeitet mit traditionellem Material. Nicht alle Spannungen sind beseitigt bzw. leicht erklärlich. Dies betrifft besonders die Schwierigkeit, das ἀπολύειν in Lk 14,4 zu verstehen.
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Krankheit in neutestamentlicher Sicht
In der Regel wird es (in Einklang mit zahlreichen entsprechen Belegen; vgl. Mk 6,36.45; 8,9 – par; Apg 4,21.23; 13,3 u. v. a. m.) mit „entlassen“ übersetzt. 7 Dagegen geht es jedoch im anschließenden Dialog nicht um die zu entlassenden, sondern um die einzuladenden Kranken (Arme, „Krüppel“, Blinde und Lahme: Lk 14,13; im Gleichnis – in leicht veränderter Reihenfolge – in der Liste der Ersatzgäste: 14,21). Auch weisen die engen Verbindungen zur vorausgegangenen Sabbatheilung in Lk 13,10–17 eher auf die Annahme, dass ἀπολύειν wie dort (vgl. Lk 13,12: ἀπολέλυσαι τῆς ἀσθενείας σου) im Sinn von „frei werden“ / „los werden“ (von der Krankheit) zu verstehen ist (vgl. anders Lk 2,29; 6,37; vgl. λύειν in Apg 2,24; 7,33; sachlich: λύτρωσις in Lk 1,68; 2,38; ἀπολύτρωσις in Lk 21,28; Röm 3,24; 8,23; 1 Kor 1,30; Eph 1,7 u. a.). Insgesamt bewährt sich in der Einzelanalyse die Annahme, dass Lukas einen planvollen Erzählverbund geschaffen hat, der insgesamt auf inhärierende und implizierte Krankheitskonzepte zu befragen ist. Hierbei ist zugleich die Frage der Kommunikation mit der Leserschaft des Evangeliums (ihrem Krankheitswissen und ihren einschlägigen Erfahrungen) im Blick zu halten.8 Die konkreten genannten Krankheiten gewinnen ihr Profil in den Interaktionsverhältnissen verschiedener sozialer bzw. religiöser Gebilde und Instanzen. Krankheit und konkret identifizierte einzelne Krankheiten sind eingezeichnet in die kognitiven und emotiven Erwartungen der beteiligten sozialen Gruppen (horizontale Dimension). Zugleich ergibt sich die besondere Konzeption im Zusammenhang der widerstreitenden religiösen Deutungen, insbesondere der am Ende im Gleichnis formulierten eschatologischen Erwartung (vertikale Dimension). Beide Dimensionen spiegeln sich im Kontrast der beiden erzählten Gastmähler.
2.
Krankheit, gattungsspezifische Codes und Rollendetermination durch soziale Interaktion
Der in Lk 14,2 genannte Wassersüchtige sowie die weiteren Gruppen von Kranken (14,13.21) sind zunächst im Schnittfeld eines sozialen Definitionsprozesses verortet. Sie sind unter dem Aspekt ihrer Einbindung in soziale und religiöse Lebenszusammenhänge erzählt, genauer unter dem ihrer Abweichung von Grup-
7
8
So mit vielen BOVON, 463, 475f.: „Der Kranke, der fehl am Platz ist im Rahmen eines Festmahles, kann nach Hause zurückkehren“. Lukas arbeitet in 14,1–24 synthetisch, indem er mit dem von ihm geschaffenen Erzählrahmen sowohl Sondergutüberlieferung als auch Q-Stoff (14,5 par Mt 12,11f.) zu einer literarischen Einheit ausgestaltet. Zur quellen- und redaktionskritischen Analyse von Lk 14,1–24: BRAUN, Feasting, 22–25, 45–48, 54–61, 62– 73; BOVON, Evangelium, 466–470, 484–486, 504– 507; zu Lk 14,1–6 (besonders 14,5): MAYER-HAAS, Geschenk, 341–359.
Krankheit in neutestamentlicher Sicht
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penerwartungen und einer entsprechenden Zuschreibung sozialer und religiöser Rollen.
2.1.
Zur Bedeutung von literarischer Form und Gattung für die Konzeptualisierung von Krankheit
Lk 14,1–6 bildet eine apophthegmatische Szene (je nach Terminologie: Chrie; Elemente eines Streitgesprächs). Solche Szenen sind gattungsgeschichtlich dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen opponierende Gruppen auftreten, nicht Einzelfiguren (auch der Interpellant in Lk 14,15 ist Repräsentant der Gruppe). Sie stehen damit als Platzhalter für bestimmte soziale Rollen und religiöse Überzeugungen. In Lk 14,1–24 fehlt, anders als in Lk 5,27–39, der ersten Gastmahlszene im Lukasevangelium, die Gruppe der Jünger. Jesus konfrontiert vielmehr unmittelbar und allein die Pharisäer und Gesetzesspezialisten.9 Apophthegmen dienen regulär der Grenzziehung gegenüber den jüdischen Gruppierungen. Im Neuen Testament geht die Auseinandersetzung mit jüdischen Gesprächspartnern um Fragen wie die der Speise- und Reinheitstora oder der Sabbatobservanz („identity marker“; vgl. Mk 2,18–22 u. a.). Mehrheitlich sind dabei Kranke bzw. Krankheiten Auslöser der verschiedenen Sabbatkonflikte (vgl. Mk 3,1–6 par; Lk 13,10–17; 14,1–6; Joh 5,1–18; Joh 9,1–7.13–17; Ausnahme: Mk 2,23–28).10
2.2.
Zur Verwendung der Form in der lukanischen Erzählung
Lukas hat in Lk 14,1–24 das Genre eigenständig erzählerisch weiterentwickelt. Er bildet eine Gastmahlszene, indem er auf vorausgegangene entsprechende Szenen in seinem Evangelium rekurriert. Die erste Gastmahlepisode im dritten Evangelium findet sich in Lk 5,27–39 (δοχή in Lk 14,13 begegnet sonst nur in 5,29). Der dritte Evangelist gestaltet sie zunächst, indem er die Erzählung vom Zöllnergastmahl (Mk 2,15–17) und die von der Fastenfrage (Mk 2,18– 22) zu einer kohärenten Episode zusammenbindet. In Lk 5,30–39 geht es – wie in 14,1–24 – um die Auseinandersetzung mit den Pharisäern und („ihren“ – so nur in Lk 5,30) Schriftgelehrten, wobei Lukas den Konflikt im Vergleich zum Markusevangelium gemildert hat. Zwischen Lk 5,27–39 und 14,1–24 hat Lukas zwei weitere Erzählkomplexe als Gastmahlszenen ausgestaltet. In Lk 7,36–50 ist der lukanische Jesus ebenfalls Gast im Haus eines Pha9
10
Auf das Problem der νομικοί in Lk 14,3 ist hier nicht näher einzugehen (es handelt sich um eine lukanische Vorzugsbezeichnung der Schriftgelehrten; vgl. Lk 7,30; 10,25; 11,45f.52 u. a.). Lk 14,1–6 bietet nach Lk 6,6–11 (par) und 13,10–17 die dritte Sabbatheilung im dritten Evangelium. Die Kürze der Episode Lk 14,1–6 erklärt sich daraus, dass die drei Szenen aufeinander aufbauen. Alle drei Szenen tragen – bei deutlichen Variationen (vgl. BOVON, 466– 468) – apophthegmatischen Charakter bzw. bieten Elemente von Streitgesprächen. In den drei Szenen ist die ‚gegnerische‘ Reaktion besonders akzentuiert: Jesus bringt die jüdischen Gesprächspartner sukzessive zum Verstummen.
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Krankheit in neutestamentlicher Sicht risäers. In Lk 11,37–54 wird er erneut in ein pharisäisches Haus zu einem Mahl geladen (vgl. ferner Lk 22,14–38; vgl. 19,1–10).
Die Szenen folgen einem vergleichbaren Aufbau. Am Beginn der Szenen steht eine Notiz über das Mahl bzw. seine Teilnehmer; im Erzähleingang wird eine konfliktträchtige Situation oder Handlung benannt; die Kritik der Pharisäer (und Schriftgelehrten) artikuliert sich direkt oder indirekt. Im Rahmen des freigesetzten Diskurses spielen Fragen der Konvention der Gastfreundschaft bzw. der Mahlpraxis eine wichtige Rolle. Insbesondere Lk 14,1–24 gewinnt semantische Kohärenz durch die variationsreiche Mahlterminologie (vgl. 14,1.7f.12f.15f.24). In Lk 5,36–39; 7,41–43 und 14,16–24 findet sich jeweils am Ende des episodischen Zusammenhangs ein Gleichnis Jesu. Die gleichförmige und im lukanischen Werk mehrfach repetierte und variierte Struktur des Textes spiegelt die Ritualisierung eines bestimmten Sozialvollzugs: die eines antiken Gastmahls respektive eines Symposiums.
2.3.
Zur Interdependenz von Form und lebensweltlichem Kontext der Krankheitskonzeptualisierung
Ein Gastmahl basiert auf einem gleichwertigen Status (vgl. zum Statusproblem Lk 14,8–10) und einem gemeinsamen Selbstverständnis (Konsens) der Teilnehmenden. Es setzt die soziale Interaktionsfähigkeit auch jenseits des konkreten Mahls voraus; es dient in festgelegtem Sprachstil der Selbstpräsentation im Umgang miteinander; es bedingt eine Autoritätshierarchie in der Gruppe (Gastgeber; Eingeladene in ihrer Sitzordnung) und impliziert einen hohen Grad an Rollenspezifizität.11 Der Sozialform des Gastmahls kommt insbesondere im Rahmen der antiken Freundschaftsethik eine wichtige (stabilisierende, affirmierende, immunisierende) Funktion zu. Die auf die Episode Lk 14,1–6 folgenden Regeln an die Eingeladenen und den Einladenden (Lk 14,7–14) zeigen diese Affinität zum antiken Freundschaftswesen, die Lukas in der Szene beachtet. Man lud Freunde zu Symposien ein; diese dienten geradezu dem „Freunde-Machen“ (vgl. Plut Mor 612D u. a.). Statuskonformität und Reziprozität sind die Grundaxiome solchen Verhaltens. Die Grenzen gegenüber „Outsidern“ sind damit scharf markiert. Lukas lokalisiert die Episode in das Haus eines ἄρχων der Pharisäer. Eine genaue Funktionsbestimmung ist aus dem Begriff ἄρχων im Kontext nicht abzuleiten (vgl. die verschiedenen Belege in Lk 8,41; 12,58; 18,18; 23,13). Für Lukas spielt eine wesentliche Rolle, dass Jesus in seiner Aktivität gehobenere Schichten städ11
Zum „sympotischen“ Hintergrund von Lk 14,1–24 sowie den Differenzen zu antiken Symposien: HUG, Symposion; DERS., Symposion-Literatur; STEELE, Luke; SMITH, Table; MCMAHAN, Meals; KLINGHARDT, Gemeinschaftsmahl. Vgl. insgesamt BRAUN, Feasting; V. BENDEMANN, ΔΟΞΑ.
Krankheit in neutestamentlicher Sicht
77
tischer Milieus und ihre Repräsentanten erreicht. Die Erzählung baut auf vorausgegangenen Szenen in den Häusern von Pharisäern auf, summiert sie und zeigt mit der herausgehobenen Figur des Einladenden eine weitere Steigerung an. Die Konzeptualisierung von Krankheit erfolgt also in Lk 14 in der Unterscheidung von „Insidern“ und „Outsidern“ sowie über die Zuschreibung sozialer Rollen.
2.4.
Der Kranke als Gast – Krankheit und Ritual
In dieses stark ritualisierte soziale Interaktionsgefüge einer ‚gehobenen‘ Gesellschaft zeichnet der Erzähler nun den konfliktauslösenden Krankheitsfall ein. Nach der für die Leser des dritten Evangeliums bereits vertrauten Situationsangabe (Lk 14,1) sieht sich Jesus unvermittelt einem ἄνθρωπός τις ὑδρωπικός konfrontiert. Angesichts der Kürze der Schilderung – der Erzähler belässt es bei einem abbreviatorischen ἔμπροσθεν αὐτοῦ – eröffnet sich mit dem Vorgang für eine antike Leserschaft ein weiterer Assoziationsradius. Auf der Basis der Gattungskonvention des Symposiums ist zunächst an die Figur des ungebetenen Gastes zu denken, der unvermittelt auftritt und die Gesellschaft irritiert (vgl. Xen. symp. I 15; Plat. symp. 174B; 212C.D; Petron. 65 u. a.). Wirklich deutlich wird dies in Lk 14 jedoch nicht. Im gegebenen Erzählverbund ist ebenso in Erwägung zu ziehen, dass es sich bei dem Kranken um einen derer handelt, die (von Beginn an) mit zu Tische liegen.12 Antike Leser können hier an literarische Beispiele von Wassersüchtigen denken, die – unvernünftiger Weise – gerade das tun, was ihren Körper weiter ruinieren muss: Nämlich an üppigen Gastmählern teilnehmen. Als prominentes, freilich spätes Beispiel sei hier das Leben des Apollonius von Tyana angeführt, wie es im 3. Jh. Philostratos aufgezeichnet hat. In ihm verbindet sich eine philosophische Wertung der Wassersucht mit einer besonderen Konzeption eines „göttlichen Mannes“ (vgl. Vit. Ap. I 2–5.7.9 u. a.).13 Der junge Apollonius hat mit seinem Lehrer die lasterhafte Stadt Tarsos verlassen und siedelt mit diesem nach Aigai über, wo sich schließlich der Gott selbst über seine Anwesenheit im Tempel freut. Hier vollbringt Apollonius seine erste Tat, indem er einen as-
12
13
Das Signal καὶ ἰδού muss nicht darauf verweisen, dass der Kranke erst jetzt in der Gesellschaft erscheint; es markiert die Konfrontation, die jetzt erst eintritt. Die in der Forschungsliteratur immer wieder geäußerte Annahme, der Wassersüchtige von Lk 14,2 sei von dem Pharisäer gezielt eingeladen, um Jesus auf die Probe zu stellen (resp. ihn zu „versuchen“; vgl. das „belauern“/„beobachten“ im durativen Imperfekt in Lk 14,1; zu παρατηρεῖν bei Lukas: Lk 6,7; besonders Apg 9,24; vgl. Lk 20,20), lässt sich vom Text her nicht stützen. Sie ist im Rahmen des lukanischen Pharisäerbildes (s. u.) eher unwahrscheinlich (vgl. z. B. im engeren Kontext Lk 13,31: Die Pharisäer warnen Jesus vor Herodes). Vgl. SCHIRREN, Philosophos.
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Krankheit in neutestamentlicher Sicht syrischen Jüngling, der an Wassersucht leidet14 und sich vergeblich um Heilung im Asklepieion bemüht hat, mit Hilfe diätetischer Ratschläge heilt (Vit. Ap. I 9).15 Im Vergleich mit Lk 14 ist bemerkenswert, dass es von diesem Knaben heißt, er pflege – trotz seiner Wassersucht – zu schwelgen/prunken (τρυφᾶν) und sich auf Trinkgelagen aufzuhalten (ἐν πότοις ἔζη). Die Heilung vollzieht sich als physiologische bzw. humoralpathologische Aufklärung durch Apollonius: Indem der Wassersüchtige sich der Schwelgerei (τρυφή) anheimgebe, führe er den feuchten und verderbten Eingeweiden Schlemmerei (genauer: den bei den Pythagoreern tabuisierten Fleischgenuss) zu und fülle den Kot/den Verdauungsschlamm noch zusätzlich mit Wasser an. Wassersucht ist in der Vita Apollonii eng mit Fehlverhalten korreliert, wie es sich in pythagoreisch-sophistischer Sicht darstellt.
2.5.
Krankheit und Statusverlust
So andeutungshaft der Text in Lk 14,1–6 bleibt, auf der Basis der Gattung und der antiken Konventionen eines Symposiums ist festzuhalten: Der Wassersüchtige bewegt sich nach Wissen und Erwartung der antiken Leserschaft bei einem Symposium auf typischem und zugleich hybridem Terrain. Er ist als Kranker abhängig von vorausgesetzten sozialen Einstellungen, Normen, Rollen und religiösen Urteilen. Lukas richtet sich mit seiner Erzählung an ein aufstiegsorientiertes städtisches Milieu. Vorausgesetzt ist, dass gesunde Menschen eher aufsteigen als kranke und dass der Kontakt zu Armen und Kranken (vgl. Lk 14,13.21) demgegenüber hemmend und gegebenenfalls statusruinös sein kann. Der Wassersüchtige unterliegt erwartungsgemäß nicht nur einer physischen, sondern zugleich einer sozialen Beeinträchtigung. Er kann sich eo ipso nur dysfunktional verhalten. Zusammengefasst: Die Erzählung in Lk 14,1–24 spiegelt eine Hermeneutik körperlichen Leidens, die das Krankheitskonstrukt im sozialen Umgang von „Gesunden“ und „Kranken“ inszeniert und ihm damit Geltung verschafft. Aus diesem Befund ist nun allerdings nicht zu folgern, dass die Krankheitsätiologie auf soziale Faktoren wie Übernahme von Fremdinterpretationen („labeling“), Anpassungsdruck, Effizienz- und Ergebniserwartungen etc. zu reduzieren wäre.16 14
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16
Von ὕδερος ist zuvor schon in I 6 im Zusammenhang der Quelle Asbamaion gehandelt, deren Wasser den Meineidigen durch die Zufügung von „Wassersucht“ und „Auszehrung“ (φθόη/φθίσις) das Fortkommen solange unmöglich macht, bis sie ihren Meineid offen legen. Vgl. zum Eid bei den Pythagoreern KOLLMANN, Schwurverbot. Dies fügt sich der neupythagoreischen Ausrichtung des Apollonius; vgl. Iambl. Vit. Pyth. XXIX 16,3. Forschungsgeschichtlich sind hier auch nicht nur die zahllosen ontologischen Fehlidentifikationen zurückzuweisen, die auf modernen medizin-wissenschaftlichen Prämissen basieren, sondern vor allem die Reduktion der in den neutestamentlichen Therapieerzählungen begegnenden Leiden auf psychische Störungen. So klassisch: FENNER, Krankheit; vgl. immer noch SANFORD, Body, 120. Rezeptionsgeschichtlich gilt: „Der Grundsatz, daß das Seelenheil vor dem leiblichen komme, führte zu dem kirchlichen Zwang auf die Ärzte, vom Kranken Ablegung der Beichte u. Kommunion vor dem zweiten Krankenbesuch zu verlangen“ (HERZOG, Art. Arzt, 724).
Krankheit in neutestamentlicher Sicht
79
Vielmehr setzt die Erzählung ein spezifisches Phänomen somatischen Leidens und einschlägige Erfahrungen ihrer Leser voraus. Erst auf der somatischen Basis erschließen sich auch die sozialen und religiösen Krankheitscodes in ihrem vollen Umfang.
3.
Der entstellte Leib – Physiologische Ansatzpunkte der Konzeptualisierung von Krankheit
Beim (ἄνθρωπός τις) ὑδρωπικός handelt es sich um einen medizinischen Fachbegriff.17 Es legt sich darum nahe, zur Erhellung der physiologischen Koordinaten der Krankheitskonstruktion einen Blick in die medizinische Literatur der Kaiserzeit zu werfen. Dies kann im Folgenden nur auswahlweise geschehen. Zielsetzung ist dabei nicht lediglich eine Illumination oder Bestätigung der neutestamentlichen Befunde mit vermeintlichen Parallelen. Vielmehr nähern wir uns – über den Wurzelboden des Judentums hinaus – kommunikativen Kontexten, innerhalb derer sich die frühen Christen Wirklichkeit aneigneten, Texte lasen und verstanden.
3.1.
Das medizinische Krankheitsbild
Antik-medizinische Modelle der Wassersucht können – angefangen bei den frühen Schriften des Corpus Hippocraticum – erheblich differieren.18 Gemeinsam ist die Beobachtung, dass sich der Körper durch Akkumulation von Wasser (oder auch Luft: s. u.) verändert (vgl. Cael. Aur. morb. chron. III 96) und anschwillt, wobei weitere Erscheinungen und Symptome hinzutreten können. Symptomatisch ist der unbändige Durst, mit dem die Kranken den erhöhten Flüssigkeitsbedarf im Körper zu decken versuchen. Celsus (med. III 21) berichtet gar einen Fall, wo ein Patient den eigenen Urin trinkt.19 In der Medizin der hellenistisch-römischen Zeit werden – im Anschluss an frühere hippokratische Konzepte – drei Formen der Wassersucht unterschieden (vgl. Cels. med. III 21), wobei die Abgrenzung umstritten ist, mehrere Formen
17
18 19
Klassisch: HOBART, Language, 24. Der ὑδρωπικός in Lk 14,2 ist ein Hapaxlegomenon im Neuen Testament. Ein vacat ist auch in der Septuaginta zu verzeichnen. Vgl. KURZ, Art. Wassersucht. D. h. zugleich, dass Trinksucht und Wassersucht in der antiken Medizin nicht klar zu differenzieren sind (anders KLEIN, Lukasevangelium, 498). Vor diesem Hintergrund spitzt sich das Leiden in Lk 14,2 subtil zu, befindet sich der Wassersüchtige hier in der Gemeinschaft, die durch das Trinken konstituiert wird.
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zugleich auftreten bzw. die Formen ineinander übergehen können (so z. B. Aret. morb. chron. II 1): a) Erstens unterscheidet man die Bauchwassersucht („Ascites“; vgl. Plut. mor. 1097f.), bei der nach Galen (In CH aph. Comm. IV 11; KÜHN 17,2,670) das Wasser im Bauchfell wie in einem Schlauch angestaut wird. Nach Caelius Aurelianus handelt es sich hierbei um die am leichtesten therapierbare Krankheitsform.20 b) Zweitens gilt „Tympania(s)“ als die trockene Wassersucht. Bei ihr rechnet man nicht mit einer Ansammlung von Wasser, sondern von Luft in der Bauchhöhle. Infolge der Ätiologie war die Krankheitsbezeichnung umstritten. Caelius Aurelianus z. B. weist auf die Absurdität, von einem Wassersüchtigen zu sprechen, wo keine Wasserakkumulation vorliege. c) Schließlich interpretiert man den „Hydrops anasarca“ als ein subkutanes Ergießen von Flüssigkeit bzw. ein Eindringen von Flüssigkeit in das unter der Haut liegende Fleisch. Da man hierbei dem weißen Schleim im Körper eine wesentliche Funktion zuschreibt, bezeichnet man die Krankheit auch als „Leukophlegmatia“. „Allen dreien gemeinsam ist ein zu großer Überfluss an flüssigen Stoffen, weshalb auch Geschwüre bei dergleichen Kranken nicht leicht heilen“ (Cels. med. III 21: „Communis tamen omnium est umoris nimia abundantia, ob quam nec ulcera quidem in his aegris facile sanescunt“).
3.2.
Variierende konzeptionelle Zuschreibungen und Therapien
Zeitliche und lokale Differenzierungen des Krankheitsverlaufes spielen in der antiken Medizin eine wichtige Rolle. Bereits Asklepiades unterscheidet einen akuten Prozess der Wassersucht von einem chronischen, wobei die Beobachtung begleitenden Fiebers den wesentlichen Anhaltspunkt bietet (vgl. auch Cels. med. III 21,16). Die Krankheit kann fiebrig verlaufen bzw. aus viertägigem Fieber resultieren.21 Nach Celsus (med. III 21) wird die Krankheit chronisch, wenn sie nicht in den ersten Tagen geheilt wird. Caelius Aurelianus hebt eine lokale Form der Wassersucht, die nur an der Bauchhöhle auftritt, von einer solchen ab, die sich am gesamten Körper zeigt. Aretaios gliedert das Auftreten der verschiedenen 20
21
Cael. Aur. chron. III 98f.103.105.114–116. Zugrunde liegt eine „tonos“-Lehre, die Gesundheit von der richtigen Balance des Pneuma im Körper abhängig erkennt. Siehe HELLMANN, Art. Aszites, 118. Vgl. schon CH Aer. 10,4. Zur Abhängigkeit des Celsus von Asklepiades und zu den Parallelen zu Cael. Aur. chron. III 8: WELLMANN, Schule, 58f.
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81
Wassersuchtarten nach Altersstufen: Kinder werden am häufigsten vom Anasarca und der Leukophlegmatia befallen, junge Menschen dagegen von Ascites.22 Die konkreten therapeutischen Vorschläge, die in den antik-medizinischen Texten erörtert werden, zielen auf die Beseitigung der Flüssigkeit im Körper23: durch Enthaltung von Essen und Trinken, durch den Urin, Schweiß (Dampfbäder; Schwitzofen), Stuhlgang und zusätzliche ärztliche Maßnahmen (Einreiben des Leibes; Senfpflaster; leicht verdauliche Speisen mit Kümmel, Anis oder Fenchel, Eisenpräparate). Empfohlen werden Kuraufenthalte am Meer und Leibesübungen. Dass man Wassersüchtigen Fußmärsche verordnete, spiegelt sich im dictum des Horatius: „atqui, si noles sanus, curres hydropicus“ (Hor. epist. I 2.33f.). Schon in der hippokratischen Medizin werden operative Eingriffe diskutiert. So schnitt man den Körper des Wassersüchtigen neben dem Nabel oder am Rücken ein. Die operative Punktation („Paracentese“) war freilich umstritten (vgl. Cels. med. III 21; Cael. Aur. chron. III 122–135).24 Unter gender-Aspekten interessant ist die Behandlung von Wassersucht in der antiken Gynäkologie. Soran diskutiert den Fall des wassersüchtigen Embryos, der gewaltsam unter Entfernung der Körperflüssigkeit aus dem uterus extrahiert werden muss (Soran. gyn. IV 11; vgl. III 4.9). Uneinigkeit herrscht in den antik-medizinischen Texten über die Frage des Geschlechtsverkehrs. Nach Caelius Aurelianus (chron. I 4,228) hat schon Asklepiades den Geschlechtsverkehr im Fall von Wassersucht empfohlen (so auch Rufus von Ephesos; Act. III 8); Celsus und Galen (VIII 341 KÜHN) dagegen untersagen ihn. Die Krankheit hat damit gegebenenfalls Auswirkungen auf das sexuelle Selbstbewusstsein der Erkrankten.
22
23
24
Aret. morb. chron. II 1. Zur Präzisierung der Krankheitsätiologie nahm Erasistratos Sektionen an wassersüchtigen Leichen vor und schloss auf eine Verhärtung der Leber als Ursache. Insgesamt suchte man die Formen der Wassersucht in die humoralpathologischen Theoreme einzuordnen (sog. „Vier-Säfte-Lehre“). Zu weiteren ätiologischen Konzepten und Symptomen der Wassersucht: PUSCHMANN, Alexander, 251–259. Nach Celsus führt die Entleerung des Körpers von Flüssigkeit freilich als solche nicht zur Heilung, bietet jedoch die Voraussetzung für die weitere Therapie (vgl. med. III 26: „neque enim sanat emissus umor, sed medicinae locum facit“). In der Epidaurosinschrift W 21 vollzieht die Mutter die Inkubation stellvertretend für ihre Tochter. Im Traum, den die Tochter nach der Schlussnotiz der Inschrift teilt, wird eine Operation vollzogen, die ein ἀδύνατον darstellt: Arate träumt, der Gott schneide ihrer Tochter den Kopf ab und hänge den Körper mit dem Hals nach unten auf. Nach dem Ausfließen der überschüssigen Flüssigkeit habe der Gott den Körper abgehängt und den Kopf wieder auf den Hals der Frau aufgesetzt (zum medizinischen Hintergrund des Aufhängens an den Füßen: HERZOG, Wunderheilungen, 77). Der Text von W 49 ist teilweise zerstört. Vorausgesetzt ist eine medikamentöse Behandlung mit spanischen Fliegen („Kanthariden“) in einem Trunk, der wohl dem Entzug der Flüssigkeit dienen soll.
82
3.3.
Krankheit in neutestamentlicher Sicht
Unheilbarkeit und paramedizinische Hilfesuche
Trotz der Unterscheidung von akuten und chronischen Ausformungen der Wassersucht und der Uneinigkeit über die Ätiologien und Therapeutik gilt die Krankheit insgesamt nach antik-ärztlicher Auffassung als gravierend und kaum heilbar. Wie sehr man die Krankheit fürchtete, wäre weiter durch eine genaue Untersuchung der verschiedenen Praktiken, Riten, Opfer und (mineralischen, pflanzlichen und tierischen) Stoffe zu dokumentieren, zu denen man jenseits geschulter ärztlicher Heilkunst im Fall von Wassersucht griff.25 Plinius der Ältere referiert in seiner „naturalis historia“ (XXX 105) u. a. den Glauben, dass das Wasser im Körper der hydropici abgeführt werde (aquam trahere promittitur), wenn man das von Hunden Erbrochene auf ihren Leib streiche (vomitus canum inlitus ventri). Auch weiß er von der Gabe eines Trunks bestehend aus in Wein gelöstem Wollfett unter Zusatz von Myrrhe (oesypum ex vino addita murra modice potui datur) bzw. Gänsefett in Myrtenwein (anserinum adipem ex vino myrteo). Schließlich nahm man nach Plinius den Schmutz von den Eutern des Schafes (sordes ab uberibus ovium) oder das abgehangene Fleisch eines Igels (carnes inveteratae irenacei) zu sich. Die Vorstellung der Erblichkeit der Wassersucht spiegelt sich in der Schrift Plutarchs „Über die späte Strafe der Gottheit“. Im zweiten Hauptteil, in dem er das Problem der verzögerten göttlichen Rache kollektiv beleuchtet, erwähnt er den Brauch, dass man die Füße der Kinder von verstorbenen Wassersuchtkranken so lange in ein Wasserbad stellt, bis der Leichnam des Verstorbenen verbrannt ist. Ziel dieser Praxis ist nach Plutarch, das Überspringen der Krankheit über die Generationengrenze hinweg zu verhindern (de sera 14 [mor. 558 D]). Abschließend ist auf das Urteil des pneumatischen Mediziners Aretaios von Kappadokien zu verweisen. Dieser beurteilt es als ein Wunder, wenn ein wassersüchtiger Mensch Genesung erfährt: Der Arzt müsse im Fall des Anasarca etwas vollbringen, das selbst für die Götter nicht leicht sei. „Die Wassersucht ist nicht nur eine für den Anblick hässliche, sondern auch eine schwere Krankheit (῞ϒδρωψ ἀτερπές μέν ἐσιδεῖν πάθος, χαλεπὸν δὲ καὶ παθεῖν); denn es genesen nur wenige ganz davon und dies mehr durch Zufall und
25
Es gibt keine zwingenden Gründe für die Annahme, dass zu den sich früh im Mittelmeerraum konstituierenden christusgläubigen Gemeinden nicht Menschen gehörten, die im konkreten Krankheitsfall entsprechende Mittel der Krankheitsbekämpfung weiter nutzten, wie sie ihnen aus ihrer („heidnischen“) Vergangenheit (bzw. aus den Milieus, aus denen sie stammten) vertraut waren. Anders als im Fall dezidierter (d. h. als solcher qualifizierter; vgl. Apg 8; 13 u. a.) Magie sind „volkstümliche“ Therapeutica im Neuen Testament nirgends ausdrücklich sanktioniert (vgl. die diätetische Anweisung in 1 Tim 5,23 u. a.); Jesus selbst nutzt entsprechende Mittel in seiner heilenden Praxis (vgl. Mk 7,31–37; 8,22–26).
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Glück und die Hilfe der Götter als durch die Kunst der Menschen“ (ὑπ̕ εὐτυχίης καὶ θεῶν μᾶλλον ἢ τέχνης; Aret. morb. chron. II 1). Lk 14 erzählt also einen der wenigen Fälle in der antiken Literatur, in denen Wassersucht tatsächlich geheilt wird.26 Der Text gibt über den terminus des Wassersüchtigen hinaus keinerlei Bezüge zu den Distinktionen der griechisch-römischen Medizin zu erkennen. Der Vergleich hat jedoch deutlich gemacht: Krankheit hat nicht nur eine soziale Bedeutung, die im kulturellen und gesellschaftlichen Diskurs entsteht, sondern zugleich eine physische Bedeutung. Diese erschließt sich im Text als ein Topos.27 Zuletzt ist die Frage der religiösen Krankheitskonstruktion im Blick auf Lk 14 besonders umstritten. Zeichnen sich die medizinischen Texte dadurch aus, dass religiöse Bewertungen der Krankheit fehlen, so spielt die Annahme, dass dies im Judentum grundlegend anders sei, in der Auslegung von Lk 14 eine wesentliche Rolle. Im Hintergrund solcher Annahme stehen Postulate sowohl bezüglich des jüdischen als auch des christlichen Krankheitsverständnisses.
4.
Krankheit als Tatfolge? – Zur religiösen Krankheitsdeutung im frühen Judentum und im Neuen Testament
Gegenstand des Konflikts in Lk 14,1–6 ist zunächst die Frage der Sabbatobservanz. Der Konflikt wird dabei nicht eigentlich ausgetragen; die Erzählung doku26
27
Im Zusammenhang der Heilung wird eine manuelle (oder sonstige) Therapie nicht berichtet, und es verlautet auch nichts über ein heilwirkendes Wort Jesu. In Lk 14,4 stellt Jesus durch Berührung die Gemeinschaftsfähigkeit des Kranken her (ἐπιλαμβάνεσθαι vgl. Mk 1,41f.; Mt 20,34; Lk 22,51; in der Auseinandersetzung mit einem Pharisäer auch die Berührung der Frau in Lk 7,39). Angesichts der Schwierigkeiten in der Interpretation von Lk 14,3f. (ist der Wassersüchtige von vornherein eingeladen? Bedeutet ἀπολύεσθαι „entlassen“ oder verweist es auf das Freiwerden von der Krankheit – unter der Voraussetzung, dass der Geheilte beim Mahl zugegeben bleibt? – s. o.) ist jedoch nicht klar zu entscheiden, inwieweit die Gemeinschaftsfähigkeit im Kreis der Pharisäer und Schriftgelehrten überhaupt fraglich ist. Vgl. frühchristlich die ganz anders geartete Heilung des wassersüchtigen Hermokrates durch Paulus in Myra in den apokryphen Paulusakten (ActPaul 28). Der Text ist verderbt; deutlich sind jedoch Züge einer Totenerweckung erkennbar. Vergleichbar wäre im 21. Jahrhundert die Aussage: „Er/sie hat Krebs“. Die Nominalisierung der Krankheit aktiviert beim Empfänger der Auskunft eine Fülle von Leidensvorstellungen, ohne dass diese explizit gemacht werden müssen. Wassersucht ist insgesamt in der Antike eine bekannte Krankheit. Sie gewinnt topischen Charakter. Zur Wassersucht des Heraklit: Plut. de san. praec. 25 (mor. 136 B); vgl. De communibus notitiis 11 (mor. 1064). Zur Krankheit des Herodes, bei der u. a. die Füße (und der Unterleib) wie bei einem Wassersüchtigen anschwellen: Ios. bell. Iud. I 656f.; vgl. ant. Iud. XVII 168–173 (unsicher).
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Krankheit in neutestamentlicher Sicht
mentiert vielmehr, dass er angesichts der Vollmacht Jesu (vgl. Lk 4,18; 5,17; 6,19 u. a.) bereits entschieden ist. Auf der Basis der medizinischen Wertung sowie im Vergleich zu den Sabbatheilungen, die Lukas in seinem Evangelium so weit bereits erzählt hat (Lk 6,6–11; 13,10–17), ist festzuhalten, dass auch die Krankheit in Lk 14 keinen akuten Fall beschreibt, dessen Heilung keinen Aufschub dulden würde. Wie in den anderen Sabbatszenen stellt Lukas so heraus, dass es gerade der Sabbat ist, an dem Jesus heilen muss (vgl. zur eigentlichen Bestimmung des Sabbat Mk 3,4; vgl. an einem Sabbat: Lk 4,18f./Jes 61,1f.).28 Das Besondere im Vergleich mit den vorausgegangenen Szenen besteht in Lk 14 darin, dass die Heilung des Wassersüchtigen Teil der Antwort an die Adresse der Pharisäer und Schriftgelehrten wird. Sie geht der diskursiven Aussage in Lk 14,5 voraus.29 Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Krankheit als solche zum Teil des Konflikts wird. Ist dem Text etwas darüber zu entnehmen, dass der Kranke in eine tradierte religiöse Rolle gedrängt wird? Wird die Pathogenese des Individuums bezogen auf die Pathogenese eines religiösen Systems? Diese Auffassung wird in der Auslegung von Lk 14 vielfach (explizit oder implizit) vertreten. Als exemplarisch kann die Äußerung von F. BOVON zur Stelle gelten: „Auch das Judentum kennt die Wassersucht und fügt sie in sein interpretierendes religiöses und moralisches System ein. Diese Krankheit bedeutet ein Verfluchtsein als Konsequenz einer Verfehlung.“30 Diese Auffassung bedarf der Überprüfung.
4.1.
Das ambivalente Pharisäerbild
Die Pharisäer (und Schriftgelehrten), die in der Geschichte durch den prominenten Gastgeber wie durch den Interpellanten von V.15 repräsentiert sind, werden von Lukas als besondere Gruppe des frühen Judentums mit eigenem Pro28
29
30
Zum Sabbat als Datum der Schöpfungsruhe, der Erwählung und der erhofften Vollendung vgl. Gen 2,2f.; Ex 20,8–11; 23,12; 31,13–17; 34,21; 35,2f.; Lev 23; Num 15,32–36; Dtn 5,12–15; Jes 58,13; Jer 17,21f.24.27; Neh 10,32; 13,15–22. Zu den stark divergierenden frühjüdischen Auslegungsmöglichkeiten des Sabbatgebotes vgl. 1 Makk 1,41–44; 2,29–41; 2 Makk 6,6; Jub 2,16–20.30; 50,10–12; CD 9,4.13f.; 10,14–11,18; 12,3–6; Philo Vit Mos II 22; JosAs 8,9; 22,13; mSchab 7,2; 18,3 (Verbot des Beistandes gegenüber einem werfenden Tier; wegen einer gebärenden Frau kann das Sabbatgebot außer Kraft gesetzt und eine Hebamme auch von weit her geholt werden); insbesondere TSchab 14,3; bSchab 128b u. a. Vgl. die bei BILLERBECK, Evangelium, 623–627, genannten Texte. Zum Hintergrund: DOERING, Schabbat, MAYER-HAAS, Geschenk; SCHALLER, Jesus, 146f. Unter der Voraussetzung der Integration der Heilung in das Apophthegma können weitere Elemente, wie sie sich häufig in lukanischen Heilungsgeschichten finden, entfallen (vgl. zur Theozentrik den Lobpreis Gottes am Ende von Heilungswundern: Lk 5,25; 7,16; 17,15f.; 18,43). BOVON, Evangelium, 472; vgl. BOCK, Luke, 1256 (zum jüdischen Verständnis: „[…] dropsy was often viewed as God’s judgment, either for sin or uncleanness“ [Bock sieht allerdings, dass die Einschätzung erst spät zu belegen ist]).
Krankheit in neutestamentlicher Sicht
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fil erzählt. Das lukanische Doppelwerk reflektiert einerseits die Nähe des werdenden christlichen „Weges“ besonders zur pharisäischen Gruppe (vgl. exemplarisch Apg 15,5; vgl. 5,34–39; 23,6–10; 26,5 u. a.; Paulus, die wichtigste Figur der zweiten Hälfte der Apg, ist Pharisäer). Trotz zahlreicher kritischer Erzählungen und Äußerungen im Blick auf die Pharisäer wahrt die Jesusgeschichte des Lukas die Nähe. Gleichniserzählungen an pharisäische Adressaten wie die in Lk 14,16–24 enden auch sonst offen (Lk 15,11–32; 16,19–31; vgl. 13,6–9), d. h. eine abschließende (ggf. negative) Reaktion der Adressaten wird vom Erzähler nicht benannt. Das Performativ der (bleibenden) Einladung wird so gewahrt. Andererseits können die Pharisäer im dritten Evangelium als eine uniformierte Gruppe erscheinen, die in ihren rituellen Erwartungen an eigenen rollenspezifischen Vorgaben ausgerichtet ist und sich in kastenähnlicher Weise isoliert (vgl. insgesamt Lk 11,37–54). Lk 14,1–6 beinhaltet eine kritische Position im Blick auf die Pharisäer. Im Text repräsentieren sie (unter Voraussetzung der in Lk 14,5 enthaltenen Auseinandersetzung) ein Monopol der Kontrolle und der Verteilung von Gesundheitsgütern. Jesus stellt eine solche Option vor jeder Diskussion durch die Heilung des Kranken souverän in Frage und bringt die Opponenten (nach den vorausgegangenen Sabbatkonflikten) vollends zum Schweigen (Lk 14,6: καὶ οὐκ ἴσχυσαν ἀνταποκριθῆναι πρὸς ταῦτα). Die Kritik an der pharisäischen Praxis wird dabei (wie sonst bei Lukas) vom Erzähler paränetisch zugleich so ausgelegt, dass von ihr auch eine christliche Leserschaft erreicht wird, die sich in entsprechender Weise an Statussymbolen orientiert bzw. der reziproken Maxime des do ut des bzw. ut aliquid fiat (vgl. Lk 14,12.14) erliegt. Die Konfliktszenen mit den Pharisäern beschreiben in dieser Hinsicht einen Lernprozess für christliche Leserinnen und Leser, die ihre Normen und Rollen kritisch reflektieren sollen.
4.2.
Krankheitskonstruktion jenseits des Tun-ErgehenZusammenhanges
Gegenüber einer weit verbreiteten Auffassung in der Forschungsgeschichte gibt der Text von Lk 14 nun jedoch nicht zu erkennen, dass auch das Krankheitsbild als solches Teil der religiösen Kontroverse wird. Insbesondere geschieht dies nicht so, dass hier ein (allgemeines) jüdisches Krankheitskonzept, nach dem Krankheit Folge von Sünde sei, auf ein hiervon grundlegend unterschiedenes „christliches“ Verständnis trifft. – Eine Auffassung, die die Beurteilung frühchristlicher Krankheitsdeutung häufig insgesamt steuert. Generell richtig ist, dass sowohl jüdische als auch christliche Texte den Zusammenhang von menschlichem Tun und Krankheit reflektieren und diese Ver-
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Krankheit in neutestamentlicher Sicht
bindung coram Deo bedenken.31 Doch ist stets zu beachten, wo ein solcher Konnex explizit und wie er realisiert wird (innerhalb der Heilungserzählungen markiert er den Ausnahmefall: Mk 2,1–12; vgl. dagegen Joh 9). Im Fall der Wassersucht sind die – in der Literatur mit Regelmäßigkeit benannten – alttestamentlichen und frühjüdischen Vergleichsstellen in ihrer Erklärungsvalenz sehr unterschiedlich. Ob das Fluchwasserritual an der Ehebrecherin in Num 5,21 mit dem Krankheitsbild der „Wassersüchtigen“ verbunden werden darf, ist nicht nur angesichts des Fehlens der entsprechenden Begrifflichkeit in der Septuaginta an dieser Stelle äußerst fraglich. 32 Entsprechendes gilt für die Verfluchung der Feinde in Ps 108LXX(109),18. Insgesamt bestätigen die Ergebnisse einer Suche nach Wassersucht/Wassersüchtigen in der frühen jüdischen Literatur die Einsicht, dass griechisch-römische und jüdische Krankheitskonstrukte einander erst spät, in nachbiblischer Zeit, begegnet sind, ohne einander einfach kompatibel zu werden. Bei den beiden im rabbinischen Schrifttum begegnenden Begriffen ִא ְדרוֺ פִ יקוֺ סund הִ ְדרוֺ קׇ ן handelt es sich offenbar um Lehnwörter. Inwieweit sich mit ihnen ein von der griechischen oder auch römischen Medizin beeinflusstes Krankheitsmodell verbindet, muss unsicher bleiben.33 Auf eine religiöse Wertigkeit des als ִא ְדרוֺ פִ יקוֺ ס bezeichneten Leidens verweist WaR 15,2 (115 c). In der Auslegung von Hiob 28,25b werden dem Menschen gleich viele Teile von Wasser und Blut zugeschrieben. Im Fall tugendhaften Verhaltens wird das Gleichmaß nicht gestört, im Fall der Sünde aber nimmt das Wasser zuweilen überhand, wodurch er wassersüchtig wird, zuweilen auch das Blut, wodurch er dann aussätzig wird.34 Wassersucht und Aussatz als religiös bestimmte Krankheit (vgl. Lev 13f.) werden hier als gleichursprüngliche Möglichkeiten unterschieden; beide werden auf menschliche Sünde zurückgeführt. Das zugrunde liegende Krankheitskonzept bleibt freilich dunkel. Es scheint eine Art Krasislehre vorausgesetzt. Manche erwägen, ob in bSchab 33a die griechisch-römische Dreiteilung des Krankheitsbildes (s. o. unter Punkt 3.1) im Hintergrund steht. 35 Doch sind die Bezugsgrößen keineswegs
31
32
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34 35
Dies verweist zunächst nicht auf eine theologisch gewagte Figur, sondern auf einen Erfahrungskonnex. Neuzeitlich: Wer viel raucht oder gefährlichen Extremsport betreibt, setzt sich in erhöhtem Maß Gefahren aus. Anders mit vielen: BOVON, Evangelium, 472. Dagegen: ROSNER, Encyclopedia, 107: „It is not clear whether the abdominal swelling of a suspected adulteress after she drank the bitter waters represents dropsy“. Vgl. DERS., Ordeal. Vgl. PREUSS, Medizin, 191: „Das Wort adripiqos ist natürlich das hydropicos der Griechen, und das hadroqan der Gemara stellt vielleicht die im Volksmunde verkürzte Form desselben vor.“ Vgl. LEVY, Wörterbuch, 34, mit Hinweis auf Jalkut I 156 b. So PREUSS, Medizin, 191. Der Kontext der Behandlung der Krankheit in bSchab 33 ist insgesamt hamartiologisch. Doch wird zugleich die Genesung Schemuels „des Kleinen“ erwähnt; und Raba verweist auf die höhere Zahl der „Toten des Stuhles“, d. h. derer, die infolge gehemmter Entleerung an der Krankheit leiden. Zur hamartiologischen Deutung
Krankheit in neutestamentlicher Sicht
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klar. Man muss dann die aus Hunger (nota bene: nicht aus sündhaftem Handeln) resultierende Krankheitsform mit Tympania(s) identifizieren, was vom Text her kaum zu begründen ist. Schwierigkeiten bereitet auch die Identifizierung der dritten in bSchab 33a genannten Form mit der Leukophlegmatia. Im Text verlautet nichts von Schleim o. ä.; vielmehr wird Zauberei als Ursache benannt. Insgesamt sind alle diese Texte spät; sie sind in ihren Konzeptionen nicht einfach systematisierbar. Die These, Wassersucht im Besonderen weise auf einen regulären Konnex von Krankheit und Sünde im jüdischen Verständnis hin, ist aus ihnen nicht eindeutig zu begründen. Jedenfalls finden sich in rabbinischen Texten weitere Ansatzpunkte jenseits eines solchen theologischen Verständnisses der Krankheit, darunter Erklärungen und Ratschläge, die sich in einem weiteren Sinn als medizinisch verstehen lassen.36 Auch Lk 14 akzentuiert einen Konnex von Tun und Ergehen nicht explizit.
4.3.
Krankheit und eschatologische Erwartung
Die – im Vergleich sowohl mit frühjüdischen als auch paganen Texten – innovative „religiöse“ Bestimmung des Krankheitskonzepts ergibt sich in Lk 14 vielmehr mit der eschatologischen Intervention. Im Verbund der Gesamtepisode kontrastiert das Mahl im Haus des Pharisäers der eschatologischen Gottesgemeinschaft, wie sie das den Diskurs abschließende Gleichnis Lk 14,16–24 als Brücke zwischen erzählter Welt, besprochener Welt und „idealer“ Welt thematisiert. Unter der Voraussetzung der in Lk 14,2–4 erzählten Heilung eröffnet das Gleichnis als Sprachform die Möglichkeit, von der Analyse des Sichtbaren zum Aufdecken der Bedingungen des verdeckten Konflikts fortzuschreiten und diesen antizipatorisch zu überholen und zu lösen. Dass die eschatologische Wertung die entscheidende ist, ergibt sich im weiteren erzählerischen Kontext auch unter den Vorzeichen der vorausgehenden eschatologischen Mahnrede von Lk 13,24–30. Lk 14,16–24 konkretisiert im weiteren Zusammenhang als Geschichte vom eschatologischen Mahl Lk 13,29: das Herzukommen aus allen Himmelsrichtungen zum gemeinschaftlichen Mahl mit den Stammvätern und den Propheten.37
36
37
vgl. auch in bJoma 66 b die unterschiedlichen Todesarten in Folge der Anbetung des goldenen Kalbes. In bErub 41b findet sich in der Gemara die Unterscheidung dreier Krankheitsfälle von solchen, die während des Erzählens/Sprechens/Unterhaltens sterben (können): Unterleibskranke, die Wöchnerin und der Wassersüchtige () ִה ְדרוֺ קׇ ן. Baraita Ber 25a: R. Schimon ben Gamliel (um 140) sagte: „Der zurückgehaltene Stuhlgang bringt den Menschen in die Gewalt der Wassersucht (( “) ִה ְדרוֺקׇ ןvgl. bBer 62 b). Hierzu s. o. Pkt. 3.2. Ein besonderes Problem, welches hier nicht der Diskussion bedarf, ist dabei die doppelte Ersatzeinladung im lukanischen Gleichnis. Lukas verbindet mit ihr wahrscheinlich eine allegorische Interpretation der universal orientierten Heilsgeschichte, die sich aus seiner
88
Krankheit in neutestamentlicher Sicht
Krankheit kommt an der Schnittstelle des eschatologischen Positionswechsels zu stehen („reversal“; vgl. Lk 1,52; 6,20–22; 10,15; 14,11; 16,15; 18,14; 22,26f.; vgl. auch Hiob 22,29; Sir 3,18–21; 2 Kor 11,7; Jak 4,6.10; 1 Petr 5,5f.; 1 Clem 30,2 u. a.).38 Krankheit wird damit in Lk 14 insgesamt in einen narrativen und diskursiven Deutungszusammenhang integriert, der nicht regressiv in Hinsicht auf den Kranken oder auf die Krankheit ausgerichtet ist, sondern progressiv bzw. antizipatorisch in Hinsicht auf die eschatologisch erhoffte, von Gott vorbehaltlos gewährte heilvolle Gemeinschaft.
5.
Krankheit als Metapher?
Haben Krankheiten als kulturelle Konstrukte zu gelten und werden sie hinsichtlich ihrer Heilung im frühen Christentum in einen jeweils spezifischen Zusammenhang mit dem (in Christus gegenwärtigen) Heil gestellt – in Lk 14, wie gezeigt, durch die Integration in ein eschatologisches Erwartungsgefälle, welches pragmatisch auf Hoffnung zielt –, so liegt die Frage nahe: Lässt sich das neutestamentliche Verständnis von Krankheit(en) insgesamt als „metaphorisch“ bestimmen? Metaphorische Konnotationen könnten mit dafür verantwortlich sein, dass der dritte Evangelist in Lk 14 gerade das Krankheitskonstrukt der Wassersucht gewählt hat. In der antiken Philosophie kann der Wassersüchtige als der unbeherrschbar Durstige zur Metapher für Geldgier/Habgier und avaritia werden.39
38
39
Sicht als doppelte Einladung – der Hinwendung zu den Juden und zu den Heiden – vollzogen hat. Zum umstrittenen Problem: VÖGTLE, Gott, 36–42; ROHRBAUGH, City. In Lk 14,7–24 bildet das Verb καλεῖν die tragende semantische Basis (11 Belege). Einzuladen sind die, die nach der Konvention hierfür als Letzte (vgl. Lk 13,30) bzw. überhaupt nicht in Betracht kommen: Arme, Krüppel, Lahme und Blinde. Nach Dion Chrysostomos (Or. XXX 42) verfehlen Blinde die Ästhetik eines Festmahles ebenso wie Unmäßige und Gierige. Lahme und Blinde bilden nicht erst frühchristlich ein festes traditionsgeschichtliches Paar. Die Vorordnung der Armen zeigt dabei, dass die Frage von Status und Besitz auch hier im Vordergrund steht. In Lk 14,21 müssen diese Gäste hereingeführt werden (εἰσάγειν), darin kann impliziert sein: Sie würden nicht von sich aus bei einem solchen Mahl erscheinen. Zugleich kommen kultische Konnotationen mit ins Spiel. Zu vergleichen ist insbesondere die Rezeption von Lev 21,17–23 in Qumran für die Bestimmungen der Zulassung zum (messianischen) Mahl sowie zum Kriegsdienst (vgl. 1Q28a II 3b–22; 1QM VII 3b–6). Stob. Anthologion III 10,45: „Diogenes verglich die Geldgierigen mit den Wassersüchtigen (φιλαργύρους τοῖς ὑδρωπικοι̑ς), jene nämlich verlangen, obwohl sie voll mit Wasser sind, nach Trank; die Geldgierigen aber verlangen, obwohl sie mit Geld vollgestopft sind, nach immer mehr (πλήρεις ὄντας ἀργυρίου ἐπιθυμεῖν πλείονος) […]“. Vorausgesetzt ist hier allerdings wahrscheinlich die diabetes inspidus. Vgl. Stob. Anthologion IV 33,31; Pol. XIII 2,2; Plut. mor 524A–D; vgl. zur avaritia Cic. Verr. II 3; Hor. epist. II 2,146–14; Ov. fast. 215f. (vgl. auch KLEIN, Lukasevangelium, 498 Anm. 15).
Krankheit in neutestamentlicher Sicht
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Als geldgierige Menschen aber beschreibt Lukas in seinem Evangelium auch die Pharisäer (vgl. Lk 16,14: οἱ Φαρισαῖοι φιλάργυροι ὑπάρχοντες). Der Wassersüchtige wäre dann als metaphorischer Repräsentant der pharisäischen Gemeinschaft zu interpretieren, soweit sie in Hinsicht auf Besitz und Status Fehlorientierungen erliegt. Er wäre damit zugleich Typos eines zukunftslosen Fehlverhaltens, wie es auch den Christinnen und Christen nach wie vor droht (vgl. Lk 12,16–21 im Zusammenhang von Lk 12). Damit wäre dann das (klassische; s. o.) Modell von Krankheit als Folge von Sünde bzw. Metapher für Sünde auf andere Weise wieder eingeführt. Das Neue Testament partizipiert auch in anderen Fällen an einer bereits in paganen (besonders philosophischen) sowie auch frühjüdischen Texten verbreiteten metaphorischen Sinndeutung einzelner Krankheiten. Dies betrifft vor allem Krankheiten der Sinnesorgane, die in der antiken Literatur vielfach mit metaphorischem Sinn unterlegt werden. In Mk 8,22–26 z. B. verweist die zweiphasige Blindenheilung auf dem Hintergrund des Unvermögens der Jünger zu sehen und zu begreifen (8,17–21) darauf, dass man erst von Leiden und Kreuz Jesu her ‚gänzlich scharf‘ sieht. In Mk 10,46–52 par erkennt der blinde Bettler auf der Schwelle nach Jerusalem (stellvertretend für die Leserinnen und Leser und in Kontrast zur anschließend erzählten Reaktion Jerusalems) in Jesus den Davidssohn. Blindheit erscheint hier als die anerkannte Krankheit der Antike; physische Blindheit kann die Kottionsfähigkeit für die Erkenntnis des Wesentlichen gerade steigern. In Mk 7,31–37 wird die Öffnung der Ohren des Tauben/Stummen transparent für die Eröffnung des Evangeliums über die Grenzen Israels hinaus. Im vierten Evangelium gewinnt in Joh 9 die Heilung des Blindgeborenen in der Auseinandersetzung mit den jüdischen Gesprächspartnern eine metaphorische Valenz. Die Heilung wird zum diakritischen „Zeichen“ (σημεῖον); es macht transparent, dass sich die Gegner physisch sehend im Blick auf das in Jesus präsente Heil blind verhalten (vgl. grundsätzlich den im Neuen Testament für die Deutung der jüdischen Responsion wichtigen Text Jes 6,9f.). Metaphorische Sprachpotentiale begegnen besonders im Zusammenhang der Exorzismen als Darstellungen eines Kampfgeschehens (vgl. z. B. Mk 3,22–27 par).40 Die Interpretation solcher Befunde kann auf der Basis jüngster kognitivistischer Metaphernkonzepte weiter geführt werden, die von regulären anthropologischen Vollzügen und Ordnungsmustern (Strukturmetaphern, ontologischen Metaphern u. a.) her ansetzen.41 Mit ihnen wäre die Frage zu stellen, inwieweit „Krankheit“ als „Metapher“ keinen Sonderfall beschreibt, sondern vielmehr auf 40
41
Zu metaphorischen Aspekten von Lahmheitserkrankungen in den Evangelien und in der Apg: V. BENDEMANN, Illnesses, 114–120. Vgl. zur jüngeren Diskussion (auswahlweise) LAKOFF/JOHNSON, Leben; HAVERKAMP, Theorie; BERTAU, Sprachspiel; FRIELING, Untersuchungen; SCHUMACHER, Metapher; BALDAUF, Metapher; BUNTFUß, Tradition; PUSTER, Erfassen; BERNHARDT/LINK-WIECZOREK, Metapher; VILLWOCK, Metapher; ZIMMERMANN, Bildersprache; TAURECK, Metaphern; vgl. GERBER, Paulus, 81–111.
90
Krankheit in neutestamentlicher Sicht
basale Strukturen der menschlichen Existenz bzw. menschlicher Kognition verweist und in ihnen unaufgebbar konzeptionell verwurzelt ist. Die Differenz zwischen metaphorischer und nichtmetaphorischer Krankheitsinterpretation könnte als obsolet betrachtet werden. Krankheitsbegriffe wie Gesundheitsbegriffe bieten immer schon metaphorische Konzepte. Es würde sich auf diese Weise eine Möglichkeit eröffnen, Gesundheit und Krankheit nicht als feste (und kulturunabhängige) Zustände, sondern als Übergänge innerhalb eines weiten prozessualen Spektrums der Interpretation von leiblicher Wirklichkeit zu verstehen. Gesundheit und Krankheit, Gesunde und Kranke wären nicht dichotomisch, sondern als gleichzeitige Möglichkeiten zu begreifen. Der Zusammenhang menschlicher Körperlichkeit und sprachlicher Wirklichkeitsaneignung wäre dabei genauer darzustellen. Gleichzeitig ist jedoch festzuhalten (vgl. o. Pkt. 1.): Nicht jedes Leiden wird im frühchristlichen Schrifttum mit metaphorischem Sinn unterlegt. Einige Texte schließen entsprechende Deuteschritte dezidiert aus. In Mk 1,29–31 ist beispielsweise dem Fieber keine divinatorische Sinnkomponente zuzuschreiben, wie sie in anderen antiken Texten begegnet (anders möglicherweise in Apg 28,8). Fieber ist todbringendes, quälendes Leiden. Auch in Mk 5,25–34 par geht es – in der erzählerischen Klammer von 5,21–43 – vor jeder symbolischen Interpretation der Krankheit als Unreinheit (vgl. Lev 15) zuerst um das chronische physische Leiden der Frau (5,25f.). Weiter ist das „epileptische“ Kind in Mk 9,14–27 von späteren Interpretationen abzusetzen, in denen es mit dem leidenden Christus identifiziert wurde. Einer solchen christologisch-metaphorischen Deutung widersetzt sich im Text die dämonologische Krankheitsinterpretation. Insgesamt spielt die in der Alten Kirche und vor allem im Mittelalter wirksam gewordene Vorstellung, dass das Leiden der Kranken mit den Leiden Christi verbindet, im Neuen Testament keine tragende Rolle.42 Sie darf also nicht zum Ansatzpunkt einer „Panmetaphorisierung“ von Krankheit werden. Ein generalisierendes Konzept metaphorischer Krankheitsdeutung steht damit in der Gefahr, den eingangs genannten Homogenisierungs-, Harmonisierungs- und Nivellierungstendenzen in der Interpretation distinkten körperlichen Leidens in den frühchristlichen Texten neuerlich Vorschub zu leisten. Methodisch müsste darüber hinaus gefragt werden, inwieweit neuere kognitivistische Metaphernansätze die Krisis ge-/zerstörter Körperordnung und Kognition konzeptionell integrieren können.
42
In den synoptischen Evangelien ist hier einzig auf die – erst später zur Siebenzahl aufgerundeten – so genannten „Werke der Barmherzigkeit“ im ersten Evangelium zu verweisen (Mt 25,34–39).
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin In den wahrscheinlich auf einer (nicht erhaltenen) griechischen Vorlage basierenden, im zweiten oder dritten Jahrhundert n. Chr. entstandenen koptischen (erst später so benannten) „Taten des Petrus und der zwölf Apostel“ (NHC VI)1 wird berichtet, dass sich die Apostel am Ende auf den Weg zur Stadt des Lithargoël begeben. Dieser ist in ActPt 5,7f.16–18 als Perlenhändler eingeführt worden und kommt, von den elf Jüngern unerkannt, aus der Stadt in der Gestalt eines Arztes, mit einer Salbbüchse/einer Medizinbox unter dem Arm sowie einem Schüler im Gefolge, der einen Arzneimittelbehälter trägt (ActPt 8,14–19). In einem anschließenden Dialog mit Petrus wird Lithargoël als der auferstandene Christus identifizierbar (ActPt 9,14–21). Die Apostel werfen sich vor ihrem Herrn nieder und befragen ihn nach seinem Auftrag an sie. Lithargoël übergibt ihnen daraufhin die Salbbüchse und den Arzneikasten (ActPt 9,30–32) und sendet sie in die „Inselstadt“ zurück, womit die Welt gemeint ist, mit dem Auftrag, sich der Armen anzunehmen. Sodann sollen die Jünger den Arzneimittelkasten dafür gebrauchen, die an den Namen Jesu Glaubenden in der Stadt zu heilen (ActPt 10,31– 34). In der Folge kommt es zu folgender Dialogszene, in der Johannes stellvertretend für die Apostel spricht: Da antwortete Johannes und sprach: „Herr, wir scheuen uns vor dir zu sehr, um viele Worte zu machen. Aber du verlangst von uns, dass wir diese Kunst ausüben. Wir sind nicht in ihr ausgebildet worden, um als Arzt wirken zu können. Wie also sollen wir die Fertigkeit haben, an Körpern Heilungen zu vollziehen, wie du es uns aufgetragen hast?“ Er antwortete ihm: „Vortrefflich hast du, Johannes, (einmal) gesagt: ,Ich weiß, dass die Ärzte der Welt (nur) die weltlichen (Krankheiten) heilen, die Ärzte der Seelen aber das Herz heilen.‘ Heilt also zuerst die Körper, damit auf Grund dieser aufweisbaren Wunder der Heilung ihres Leibes, (die) ohne Arznei aus diesem Äon (erfolgt), sie euch glauben, dass ihr die Vollmacht habt, auch die Krankheiten der Herzen zu heilen“ (ActPt 11,6–26).
Der Text kann in seiner besonderen Konzeptualisierung innerhalb der „Taten des Petrus und der zwölf Apostel“ hier nicht näher auslegt werden. Im Blick auf die Frage nach Korrelationen der ältesten Jesustradition zu den Feldern antiker Medizin ist er in dreierlei Hinsicht interessant, und es ergeben sich drei Fragehorizonte, die im Folgenden genauer beleuchtet werden sollen:
* 1
Ursprünglich erschienen in: Early Christianity 3 (2014), 273–312. Vgl. Einleitung und Übersetzung SCHENKE, Taten, 368–380; PARROTT, NHC, 197–229; deutsche Übersetzung auch: SCHENKE, NHC, 443–453. Vgl. zu den einleitungswissenschaftlichen Fragen RÖWEKAMP, Art. Petrus-Literatur, 496f.; KLAUCK, Apostelakten, 191–201. Vgl. DÖRNEMANN, Krankheit, 77–79. Die Frage der Zuordnung des Textes zur werdenden Gnosis ist umstritten.
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
a) Erstens setzen die „Taten“ voraus, dass die Heiltätigkeit Jesu und der von ihm instruierten Apostel sich kategorial von einer Ausübung der Medizin als „Kunst“ unterscheidet. Johannes stellt in der Dialogszene die mangelnde παιδεία, das Fehlen einer Ausbildung und Instruktion in der „Kunst“ und „Fertigkeit“, die hier von den Aposteln erwartet wird, fest. Im Text bricht sich mit anderen Worten die grundsätzliche Differenz und Inkommensurabilität zwischen der Heilpraxis der Jesusnachfolger und derjenigen der in ihrer Kunst fähigen „weltlichen“ Ärzte. b) An der Schnittstelle der beiden Konzeptionen, nämlich der einer besonderen Heilkunst der Christen und der technisch-schulischer Medizin, wird zweitens eine Differenz der Zeiten markiert. Fokussiert ist im Text der auferstandene Christus, der als Lithargoël die Apostel aus der Perspektive der Erzählgegenwart auf ihren missionarischen Auftrag nach Ostern anspricht. Man kann fragen, ob eine spätere Gemeinde hier ihre eigene Heilpraxis einträgt, im Bewusstsein der Differenz zu den Anfängen. 2 Diese im Text herausgehobene Unterscheidung lässt nach Anknüpfungspunkten, Übergängen und überlieferungsgeschichtlichen Transformationsprozessen fragen. Wie ist es von einer im Ansatz nicht-„medizinisch“ bestimmten Praxis der Jünger zu den Ansätzen eines besonderen „Heilauftrages“ gekommen, welcher die vom point of view der Erzählkonzeption der „Taten“ aus gegenwärtige Missionspraxis bestimmt, und wie und über welche traditionsgeschichtlichen Vermittlungsstufen schließt der Lithargoël-Christus als „Arzt“ an die dämonenbannende und heilende Aktivität des irdischen Jesus an? c) Denn drittens erscheint der beauftragende Lithargoël-Christus selbst deutlich in (nach „weltlichen“ Kategorien) ärztlicher Gestalt, ausgestattet mit den Attributen des Arzneikästchens bzw. eines Schülers mit weiteren Medikamenten. Die Konzeption der „Taten“ hält hier in grundsätzlichem Einklang mit dem Zeugnis der Evangelien und weiterer frühchristlicher Traditionen fest, dass die dämonenbannende und therapeutische Praxis zur besonderen Signatur der Wirksamkeit Jesu gehört, dessen Heilungen nicht nur etwas meinen und bedeuten, sondern auf eine tatsächliche physiologische Wirkung ausgerichtet sind, nämlich auf somatische Gesundheit. Und trotz der ausdrücklichen Fixierung einer Abständigkeit zur weltlichen Medizin als τέχνη wird die von den Jüngern eingeforderte Praxis gleichwohl als eine Heilkunst, eine „Medizin“, avisiert. Die adressierten Akteure gelten im Text als „Ärzte“; nur werden sie als „Ärzte der Seelen“ von denen der „Welt“ abgehoben und einem alternativen Radius des „Medizinischen“ zugeordnet, 2
Ob man in der „Gemeinde“ der „Taten des Petrus“ tatsächlich einen eigenen Ärzte- (und Apotheker-)stand voraussetzen darf (so z. B. WOHLERS, Krankheit, 85; vgl. a. a. O., 235), muss unsicher bleiben.
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
93
der es mit „Vollmacht“, „Lehre“ und „Glaube“ zu tun hat und der mit „Herzensheilung“ befasst ist.3 Für die Beschreibung und Bewertung einer entsprechenden Konzeption von „Herzensmedizin“ erweist sich eine Auseinandersetzung mit jüngeren Ansätzen der Medizinsoziologie sowie medizinhistorischer Forschungen zu „medikalen Kulturen“ als hilfreich und weiterführend, welche in höherem Maß ein transkulturelles Beschreiben und Vergleichen von „Gesundheitssystemen“ und heilenden Akteuren anzielen, ohne einseitige („westlich“neuzeitliche) Fixierungen auf Konstruktionen eines medizinischen „professional sector“ zugrundezulegen. Das spezielle narrative Konzept der „Taten des Petrus und der zwölf Apostel“ öffnet so einen Horizont von Perspektiven, der unter den Bedingungen neuzeitlich-historischer Fragestellungen, wie sie in der Erforschung des „historischen Jesus“ seit dem sogenannten „third quest“ entwickelt worden sind und weiter diskutiert werden, noch einmal anders zu ordnen ist. In methodischer Hinsicht stellt sich das Problem, inwieweit „Medizin“ als Beschreibungsbegriff für die Praxis Jesu fungieren kann, bringt man die grundlegende Differenz zur griechisch-römischen „wissenschaftlichen“ Heilkunst in Rechnung. Historisch betrachtet bedarf vor allem das Problem der Vermittelbarkeit der Heilpraxis Jesu mit Ansätzen frühjüdischer medikaler Kultur(en) weiterer Diskussion.
1.
Zur grundsätzlichen Inkommensurabilität der ältesten Jesustradition mit Ansätzen hellenistischrömischer Medizin
Zunächst soll die mit der Erzählung der „Taten“ angesprochene Frage nach axiomatischen Grunddifferenzen frühchristlicher Heilpraxis und griechisch-römischer medizinischer παιδεία näher beleuchtet werden. Es wird hier ein Feld beschritten, auf dem, bei allen Differenzierungen im Einzelnen, ein weit reichender forschungsgeschichtlicher Konsens zu verzeichnen ist. Die Zeugnisse der ältesten Jesustradition verhalten sich dem gegenüber, was man in der Forschung regulär unter das Label „(spät)antike Medizin“ fasst, äußerst sperrig und abständig. Die sich naturphilosophischen Voraussetzungen verdankende medicina grae3
Die „Taten“ von NHC VI erweisen sich hier als eingebettet und korreliert zu dem Bekenntnis zu Christus als „(Ober)Arzt der Seelen“, wie es in der christlichen Väterliteratur seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. immer zentralere Bedeutung gewonnen hat. Siehe DÖRNEMANN, Krankheit, insbes. 69–79 zum Arzt-Attribut in den apokryphen Apostelakten; DUMEIGE, Christ, 115–141; FERNÁNDEZ, Cristo.
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
ca sowie die von ihr bis in die Anfänge römischer Heilkunde hineinreichenden verschiedenen Stränge hellenistischer Medizin und die Erzählungen der Heilpraxis Jesu sind einander im Grundansatz inkompatibel.4 Die Texte sind nach ihrer soziohistorischen Verortung, ihrer Einbettung in unterschiedliche Kulturen und strata (s. u. Pkt. 3.) sowie im Blick auf ihre genera methodisch nur äußerst schwer in ein Gespräch zu bringen. Das Feld antiker medizinischer Fachliteratur erstreckt sich bis zur Zeit der Entstehung der später in den neutestamentlichen Kanon eingegangenen Jesusgeschichten und weiterer frühchristlicher Texte über einen Zeitraum von ca. 600 Jahren; in ihm wären eine Fülle von Einzelgestalten und Einzelwerken zu diskutieren; zugleich sind unter den Bedingungen der hellenistischen und dann der römischen Zeit beträchtliche Transformationen und ,Sprünge’ in der Rezeption und Neuinterpretation medizinischen Wissens zu verzeichnen. 5 Im Folgenden können darum nur in stark verkürzender und abstrahierender Weise einige Konturen benannt werden.
4
5
Forschungsgeschichtlich sind nur wenige Versuche zu verzeichnen, das Label des „Arztes“ im Sinne der antiken Medizin als ars in die Beschreibung und Interpretation der besonderen Praxis Jesu einzuführen. Nach der berühmten Darstellung C. H. VENTURINIS im zweiten Band seiner „Natuerlichen Geschichte des großen Propheten von Nazareth“ (Bd. I–III, „Bethlehem“ 1800–1802) hätte Jesus seine eigene Praxis ganz bewusst als rational-medizinische Alternative zu Quacksalbern und Scharlatanen, aber auch zur Unbildung im jüdischen Volk stilisiert (II 14, 18, 34f., 151, 176f., 215, 219 u. a.). Weithin einsam steht in der Forschungsgeschichte A. V. HARNACKs unter dem Einfluss seiner Auffassung von Lukas als „Arzt“ und Verfasser der Apostelgeschichte sowie stark von einer medizinischen Metaphorisierung der Soteriologie in patristischen Zeugnissen bestimmtes Urteil, nach dem Jesus „als Arzt […] in die Mitte seines Volkes getreten“ sei (DERS., Mission, 129). Unter den wenigen weiteren Forschern, welche die Spur des Christus medicus in historischer Weise fixieren wollten, ist EITREM zu nennen; dieser hält eine Frühphase der Praxis Jesu als „Doktor“ vor seiner Taufe durch Johannes den Täufer für möglich; erst nach der Taufe habe er sich als Messias begriffen (EITREM, Notes, 12f., 64) – eine Konstruktion, die an den Quellen nicht zu verifizieren ist. Dagegen wird in der Forschung überwiegend der grundlegende Abstand der Heilungen Jesu von der „wissenschaftlichen“ griechisch-römischen Medizin fixiert. Vgl. LÜHRMANN, Wundergeschichten, 195–204, hier 200, 203; KOLLMANN, Christen, 310, 313. TEMKIN, Hippocrates, 126–145, stellt das allmähliche Eindringen medizinischer Vorstellungen in das Christentum ab dem 2. Jahrhundert in wichtigen Stationen vor. Siehe grundlegend und insgesamt mit weiterführender Literatur NUTTON, Medicine. Die im Folgenden dargelegten Umrisse können aus Raumgründen in keiner Weise den z. T. beträchtlichen konzeptionellen Differenzen schon innerhalb der in das Corpus Hippocraticum (CH) eingegangenen Texte Rechnung tragen; auch kann auf Fragen der Chronologie und Echtheit nicht eingegangen werden. Vgl. LEVEN, Art. Echtheitskritik, 238–241. Vgl. den Überblick von POPKES, Medizinwesen, 79–86 (mit weiterer Literatur).
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
1.1.
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Zum physiologischen resp. iatrochemischen Ansatz der antiken griechisch-römischen Medizin
a) Die hippokratischer Tradition verpflichtete antike Medizin begreift sich als τέχνη, als „Wissenschaft“ (vgl. CH Praec. 2,9; 7,5; 8,9; 9,2.8; vgl. 13,9: ἱστορίης σύνεσις u. a.). Diese basiert zunächst auf sorgfältiger Beobachtung und Beschreibung, weniger dagegen auf der Anwendung und Bewährung von Theoremen. Der „technische“ Ansatz unterscheidet sich nach CH Prisc. 20,8 von der bloßen Schriftstellerei.6 Die τέχνη vollzieht sich selbst nicht mit den Methoden des philosophischen Argumentierens, sie wurzelt jedoch in bestimmten philosophischen Auffassungen, wie sie in der frühen jonischen Naturphilosophie über die die Welt und den Menschen bestimmenden Kräfte gewonnen wurden. Im Kern hat es die Medizin mit der φύσις zu tun. Ein Arzt ist zunächst ein Fachmann, welcher die natura des Menschen als Teil des Kosmos zu erkennen und zu durchdringen vermag und ihrer gegebenenfalls gestörten Harmonie und Balance aufzuhelfen vermag. Die Betrachtung der „Natur“ erfolgt zunächst induktiv; sie ist jedoch zugleich von axiomatischen Annahmen über den menschlichen Körper als Mikrokosmos und seine Einbindung in den Makrokosmos bestimmt. Die menschliche Physis erschließt sich als eine bestimmte Konsistenz von festen und flüssigen Stoffen (vgl. CH Nat. Hom. 2–4 u. a.). Diese stofflich-physikalische Basis „ist die Grundlage (ἀρχή) jeder Betrachtung/Lehre (λόγος) in der ärztlichen Kunst“ (CH Loc. Hom. 2,1). Die Lehre von den sogenannten vier „Kardinalsäften“ liegt dabei schon den in das Corpus Hippocraticum eingegangenen Schriften nicht überall gleichmäßig zugrunde; konsequent zur „Lehre“ durchsystematisiert wird sie erst von Galen und erhält so eine Gestalt, welche die abendländische Medizingeschichte viele Jahrhunderte beschäftigt hat. Über die Flüssigkeiten hinaus kommt dem Pneuma als Mikrokosmos und Makrokosmos korrelierende Kraft eine wichtige Bedeutung zu. Eine die griechische und römische Medizin u. a. von jüdischen Zugängen zum menschlichen Körper unterscheidende Besonderheit ist darin gegeben, dass der menschliche Mikrokosmos in stofflicher Entsprechung zum Makrokosmos als wesenhaft temperiert aufgefasst wird. Ausgehend von der Annahme einer „Urwärme“ werden in sehr verschiedener Weise Wärmequalitäten der Organismen differenziert. Gegebenenfalls stellt sich die Frage nach dem Verhältnis naturhaft-angeborener bzw. eingepflanzter Wärme zu hinzutretenden schädlichen Hitzephänomenen. 6
Der τέχνη -Begriff kann in medizinischen Fachtexten verschieden ausgelegt sein; vgl. zur Abgrenzung von τέχνη und τύχη, zur Bedeutung der ἀκρίβεια und zum φύσις -Verständnis in CH Prisc.: SCHIEFSKY, Hippocrates, 5–25. Zum Wissenschaftsbegriff in der antiken Medizin: ASPER, Science, 111–213 (zum „Greek Medical Writing“).
96
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
b) „Krankheit“ ist nach dieser physikalischen Sicht ein Ausdruck und Zustand gestörter stofflich-thermischer Balancen und Kräfteverhältnisse. Die Beobachtung einer gestörten Balance der φύσις lässt nach einer materia peccans, d. h. nach dem störenden Übermaß eines Stoffes im Körper fragen (vgl. CH Nat. Hom. 4; 7; 9; CH Flat. 5f. [von der Luftkonzentration] u. a.). Die Natur selbst ist dabei intentional so ausgerichtet, dass sie die irritierende Materie abzustoßen, auszusondern bzw. richtig zu distribuieren versucht (die sogenannte „Somatokatharsis“); der Arzt ist insofern Helfer der Natur, wenn er Schröpfköpfe anbringt, Ausscheidungen beobachtet und unterstützt und z. B. mit einem Aderlass eine „Apostase“ herbeizuführen versucht (vgl. CH Medic. 7). Die „Lösung“ erscheint dabei als „Krise“ (vgl. CH Praec. 14,10: „Die Krisis bedeutet Loskommen/die Lösung [von] der Krankheit“ [κρίσις δὲ ἀπόλυσις νούσου]). c) Die griechisch-römische Medizin lässt sich von hier aus insgesamt, stark verallgemeinert, als pathogenetisch orientiert ansprechen. An erster Stelle steht das genaue διαγινώσκειν des Arztes, welches den pathologischen Status möglichst präzise zu beschreiben und zu bestimmen sucht (vgl. CH Aff. 45,5: mit dem Ziel μανθάνειν; CH Art. 77,7 u. a.; vgl. διαγινώσκειν in CH Nat. Hom. 9,10; CH Morb. Sacr. 16,13 u. a.). Aus der „Diagnose“ folgt dann die „Prognose“, d. h. eine hypothetische Projektion der ärztlichen Beobachtungen in die Zukunft (vgl. CH De arte 6: „Die ärztliche Kunst hat ihren Bestand sowohl in dem ,warum?‘ als auch in den vorhergesagten Dingen [καὶ ἐν τοῖσι διά τι καὶ ἐν τοῖσι προνοουμένοισι]“; CH Progn.; CH Coa praesagia u. a.). Auf dieser Grundlage sind dann Konsequenzen bezüglich möglicher Therapien zu ziehen. Diese folgen unter den gegebenen physiologischen Prämissen häufig dem Grundsatz contraria contrariis (vgl. z. B. CH Flat. 1 [τὰ ἐναντία τῶν ἐναντίων ἐστὶν ἰήματα] u. a.). Die der hippokratischen Tradition verpflichteten Ärzte beziehen dabei auch Faktoren der allgemeinen physiologischen Konstitution der Patienten ein. Beobachtet werden individuelle Dispositionen, darüber hinaus aber auch epidemische Faktoren. Hierbei werden gender- und Generationen-dependente Aspekte berücksichtigt. Zugleich werden Umfeldfaktoren wie die jahreszeitlichen Wechsel und die klimatischen Bedingungen eines Ortes in die Analyse von Krankheitsbildern einbezogen (vgl. CH Nat. Hom. 7; 9; CH Aer; vgl. CH Epid.). d) In all dem repräsentiert der geschulte Arzt seine ars und seinen Berufsstand. Der Horizont von „Ehre“ und „Scham“ betrifft die ärztliche Kunst und ihre verschiedenen Akteure in spezifischer Weise. Nur derjenige Vertreter des ,Faches‘ wird Patienten werben und halten können, dessen Reputation in Geltung steht (vgl. hierzu CH Jusj.; CH Medic. 1; CH Decent. 17f.; CH Praec. 4f. u. a.). Auf die Wahrung der ärztlichen Reputation ausgerichtet ist u. a. auch
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
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die Unterscheidung von „chronischen“ und „akuten“ Krankheiten. Differenziert werden muss, wo im Fall von Kranken gänzliche Heilung möglich ist, wo Beschwerden immerhin gemildert werden können und wo die ärztliche Kunst nichts auszurichten vermag und der Misserfolg einer Behandlung entsprechend negativ auf den Arzt zurückfallen würde. 7 Der Aspekt der Reputation der „Kunst“ und des sie vertretenden Fachmanns bestimmt die deontologischen Schriften in weit reichender Weise bis hin zur Praxis des Erhebens von Honoraren durch den Arzt (vgl. CH Praec. 4; 6).
1.2.
Der differente theologisch-anthropologische Zugang in Erzählungen der Heilpraxis Jesu
Lenkt man von diesen stark verallgemeinerten Konturen antik-medizinischer Theorie und Praxis in hippokratischer Tradition den Blick auf die Wahrnehmung des Umgangs mit kranken und gestörten Körpern, wie sie in Zeugnissen der ältesten Jesustradition erinnert wird, so sind die Unterschiede mit Händen zu greifen. Sie beginnen bei der Eigenart der jeweiligen Literatur und ihrer sprachlichen Realisierung, betreffen den gesamten Wahrnehmungshorizont der physischen und sozialen „Welt“ und des in ihr situierten menschlichen Körpers und schlagen auf die verschiedenen Formen praktischer Bemühungen durch. a) Der ältesten Jesustradition ist der Ausgangspunkt bei einer Kosmos und Mensch verbindenden φύσις fremd. Physiologisch-stoffliche Phänomene, sofern sie den Menschen als Mikrokosmos in den Makrokosmos der „Natur“ stellen, liegen grundsätzlich außerhalb des Gesichtskreises der frühen Texte, in denen von Jesu dämonenbannender und heilender Praxis berichtet wird. In einer grundlegenden Kontinuität zu biblisch-jüdischer Anthropologie erscheint der Mensch demgegenüber als kommunikativ-beziehungsreiches Wesen in seinen sozialen Bezügen und in seinem Gegenüber zum Wirken eines als lebendig begriffenen personalen Gottes. Bei allen Differenzen in der Erzähl- und Logientradition im Einzelnen partizipieren die frühchristlichen Jesustraditionen an einer jüdischen Sicht des Menschen, die diesen 7
Zu dieser Unterscheidung vgl. CH De arte 3; 8; vgl. CH Fract. 36; vgl. auch CH Aph. 6,38; CH Mul. 1,71; Cels. med. V 26; VIII 13. Der unter anderen Vorzeichen formulierten Forderung Platons, schwer und chronisch Kranke nicht zu therapieren (vgl. Plat. rep. III 17; 409 e– 410 a), schließt sich allerdings bereits Aristoteles nicht an, der auch mit der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit der Behandlung unheilbar Kranker rechnet und bei dem sich damit so etwas wie ein Konzept „relativer Gesundheit“ andeutet (vgl. Aristot. rhet. I 1; 1355b 12f.). Und auch in der medizinischen Literatur gilt der Vorbehalt nicht einfach durchgängig (vgl. im Fall der „heiligen Krankheit“: CH Morb. Sacr. 1,6). Bei Caelius Aurelianus werden dann die chronischen Erkrankungen eigener Gegenstand der medizinischen Fachliteratur. Vgl. GUNDERT, Art. Krankheit, 534f.
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin als totus homo in den Blick nimmt, der vom Gott Israels ins Leben „gerufen“ ist und „lebt“, sofern er von diesem Gott und anderen Menschen ansprechbar erscheint und mit ihnen in handelnde Interaktion zu treten vermag. Entsprechend richtet sich der Blick in den Dämonenbannungs- und Heilungserzählungen nie auf ein physikalisches Inneres des Menschen; die Ansatzpunkte der Aufhellung innerer Logiken des Physiologischen im menschlichen Körper, wie sie die griechisch-römische Medizin kennzeichnen, sind der Jesustradition fremd. „Organe“ sind leitmotivisch dort angesprochen, wo die äußerlich erfahrbare Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit von Menschen beeinträchtigt ist, nicht insofern innere Interdependenzen und Abläufe gestört erscheinen. Was das „Herz“ des Menschen im Blick auf den „Blutkreislauf“ darstellt, welche Funktionen „Galle“ oder „Nieren“ haben oder was der Mensch als ein grundlegend „temperiertes“ Wesen bedeutet, ist Jesus ausweislich der frühen Texte verborgen, bzw. hier liegt in einem grundlegenden Einklang mit jüdischen Wahrnehmungen von erkrankten Menschen kein Fokus in den Erzählungen.
b) Die verschiedenen Zeugnisse der griechischen und auch der römischen Medizin sind insgesamt nicht als programmatisch a-religiös zu interpretieren; die hippokratischen Ärzte negieren die Sinnhaftigkeit des Kultes in der Polis nicht per se. Doch sind sie unter dem Aspekt der Konzentrierung auf eine res zu begreifen, die nicht primär im religiösen Feld verortet erscheint.8 Demgegenüber steht die Vorstellung des Handelns des Gottes Israels in den frühchristlichen Heilungserzählungen in einer gänzlich verschiedenen Orientierung im Fokus: Durch sie bedingt ist der eschatologische Sinnrahmen des Wirkens Jesu, der vom Horizont der Appräsentation einer neuen, heilvollen Zeit ausgeht. Und auf sie bezogen sind auch dämonologische Konzepte von Krankheit und Heilung, die der medizinischen Fachliteratur unvergleichbar sind. c) Die Züge, in denen Jesus in den ältesten Schriften gezeigt wird, unterscheiden sich deutlich von denen, welche in der griechisch-römischen medizinischen Literatur dem Arzt und seinen Aufgabenfeldern zugeschrieben werden. Jesus wird nicht als ein solcher „Arzt“ erzählt. So fehlt im Jesusbild der frühchristlichen Therapiegeschichten ein den primären Aufgaben des grie8
Häufig wird zu leichtfertig geurteilt, die hippokratische Medizin habe grundsätzlich einen aufgeklärten Affekt gegen jede Art von religiöser Deutung und Praxis gehabt. Vgl. demgegenüber CH Decent. 6: „[…] Die Ärzte beugen sich vor den Göttern […]“ (Οἱ δὲ ἰητροὶ θεοῖσι παρακεχωρήκασιν: οὐ γὰρ ἔνι περιττὸν ἐν αὐτέῃ τὸ δυναστεῦον). Der kritische Umgang und die Distanznahme beziehen sich ansonsten grundsätzlich auf Akteure, die Religiöses dazu missbrauchen, Erkrankte in die Irre zu führen (vgl. CH Morb. Sacr. 1). Zum Eindringen von „Besprechungen“/incantationes und Amuletten in die Medizin siehe TEMKIN, Hippocrates, 123–125.
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
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chisch-römischen Arztes vergleichbarer „diagnostischer“ Ansatz. Auch das Formulieren und Wägen von „Prognosen“ liegt grundsätzlich außerhalb des Radius der Texte. Entsprechend ist der ältesten Jesustradition eine medizinische Differenzierung zwischen „chronischen“ und „akuten“ Leiden als solche fremd. Fokussiert ist grundsätzlich allerdings die Zuwendung Jesu zu solchen Menschen, die nach dem entsprechenden an der ärztlichen Reputation orientierten Ethos vom (hippokratisch) geschulten Arzt keine Hilfe erwarten dürften. Jesus erscheint in seiner Heilpraxis nicht als „Fachmann“ unter „Fachleuten“; der erzählerischen Inszenierungstechnik der Evangelien nach wäre es undenkbar, dass die Hauptfigur in die Situation kommt, einen anderen Heiltäter seiner „Berufsgruppe“ um Rat oder Hilfe zu fragen (vgl. den Fall in Aristot. pol. III 16 1287 a). Er wird von den frühchristlichen Erzählern vielmehr als allein-souverän und kompetent geschildert, auf ihn und seine „Performance“ sind die Erzählungen konzentriert. Sie verbinden die Praxis mit einer worthaften Botschaft, nämlich der der Ansage des Nahegekommenseins der Königsherrschaft Gottes. Die erzählerischen Berichte sind damit zugleich im Grundansatz so ausgelegt, dass die Möglichkeitsbedingung für ein Heil-Werden mit der unbedingt vertrauenden Überantwortung des Kranken an die Person Jesu als Heiltäter korreliert. Kann der Verfasser des apologetisch orientierten deontologischen Traktats „De arte“ ausführen, die ärztliche Kunst zeige ihre Größe darin, dass auch diejenigen, die von ihrer Effizienz nicht überzeugt sind, offenbar durch sie „gerettet“ resp. „gesund“ werden (CH De arte 5: Καὶ τοῦτό γε τεκμήριον μέγα τῇ οὐσίῃ τῆς τέχνης, ὅτι ἐοῦσά τέ ἐστι καὶ μεγάλη, ὃπου γε φαίνονται καὶ οἱ μὴ νομίζοντες αὐτὴν εἶναι, σωζόμενοι δἰ αὐτήν ), so verhält sich dies in den frühchristlichen Therapieerzählungen grundlegend anders. d) Wie die ältesten Heilungsgeschichten Jesus nicht einem bestimmten Standesethos zuordnen, so fehlt auch eine entsprechende standesgemäße Lokalität für die Therapien (vgl. CH Off.). In Hinsicht auf Orte und Gelegenheiten eignet den frühchristlichen Heilungserzählungen ein zufälliges und spontanes Moment (vgl. Mk 2,1–3; Lk 14,1–6 u. a.). „Brennen“, „Schneiden“ und „Schröpfen“ oder auch Aderlassen als charakteristische Aktivitäten des in irgendeiner Weise geschulten Arztes sind der ältesten Jesustradition völlig inkommensurabel. Gelten gerade diese Therapieformen im Echo zeitgenössisch philosophischer Texte regelmäßig als exempla dafür, dass die Therapie des Arztes gegebenenfalls schmerzhaft sein wird, um Erfolge erzielen zu können, gilt demnach als hermeneutische Erwartung, dass der Arzt zunächst am Patienten etwas vollzieht, das dieser sich vordergründig nicht eo ipso wünschen wird (vgl. Iren. Haer. III 5,2), so liegen die Dinge in den Therapieerzählungen der Evangelien grund-
100
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin sätzlich umgekehrt: Was der Kranke will – die Wiedererlangung seiner Sehoder Gehfähigkeit o. ä. –, bewirkt Jesus auf wunderbare Weise. Schmerzhafte Begleiterscheinungen nicht nur des Leidens, sondern auch der „Therapie“ können allerdings in Exorzismusgeschichten fokussiert sein (vgl. Mk 1,26; 5,6–7.13; 9,26 par u. a.; s. u. Pkt. 4.).
e) Entsprechende Differenzen betreffen auch den Umgang mit „Medikamenten“. Stehen solche in den frühen hippokratischen Texten auch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit und wird eine medizinische Pharmakologie erst in späteren Schriften systematischer angegangen,9 so gilt doch grundsätzlich für die frühe Prinzipatszeit, dass das Eruieren von medizinisch geeigneten Stoffen und deren Zubereitung und Komposition zum festen Aufgabenfeld des Arztes gehören, der damit zugleich Apotheker ist.10 Demgegenüber fällt auf, dass medizinale Mittel in der ältesten Jesustradition nur in wenigen besonderen Texten begegnen (s. u. Pkt. 2.). Als therapeutica werden Öl und Wein in der Gleichniserzählung vom barmherzigen Samariter erwähnt (Lk 10,34); nach Mk 6,13 par vollziehen die ausgesandten Jünger Krankensalbungen mit Öl. Unter den pharmakologischen simplicia sind ansonsten weder lokal verfügbare Pflanzen, tierische Stoffe (vgl. Tob 6,9; 11,11 Fischgalle) und Mineralien Palästinas zu verzeichnen, noch exotische Mittel und Drogen. Die Erzählungen richten sich auch in keiner Weise auf den Erwerb entsprechender Kenntnisse und Fähigkeiten. So bleiben Lebensmittel und Stoffe wie etwa Honig (vgl. Spr 16,24LXX; 24,13LXX; vgl. Mk 1,6 par u. a.), Brot (vgl. Mk 3,20; 6,8.38 par u. a.), Salz (Lk 14,34 par), Asche (Lk 10,13 par) und auch Wasser (vgl. als Sonderfall Joh 5,2–9a), die den Erzählungen lebensweltlich nicht inkommensurabel wären und die in der pharmakologischen Literatur der griechisch-römischen Antike in verschiedener Weise diskutiert werden, medizinisch unberücksichtigt. Erst recht liegen damit composita, die in Form von Pillen, Umschlägen oder Tränken verabreicht werden, grundsätzlich jenseits des Horizontes der erzählten Praxis (vgl. aber Joh 9,6).
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Vgl. neben Galen vor allem Dioskurides’ „De Materia Medica“, die über Jahrhunderte in der abendländischen Medizin nachgewirkt hat; auf composita spezialisiert sind die an Gaius Iulius Callistus adressierten „Rezeptsammlungen“ des Scribonius Largus. Vgl. RÖMER, Art. Largus, 627f. Vgl. als Ausgangspunkt DILG, Art. Arzneischatz, 98f.
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
2.
101
Ἰάσεις ἀποτελῶ (Lk 13,32). Zu medizinischen Konnotationen und Resonanzen der dämonenbannenden und therapeutischen Aktivität Jesu in frühchristlichen Texten
Auch die Heilungen und Exorzismen Jesu zielen auf Genesung und Gesundheit. Wie und unter welchen Bedingungen konnte die Praxis Jesu, die offenkundig zunächst mit der hellenistisch-römischen Medizin kaum zu vermitteln war, dieser in späterer Zeit sukzessive angenähert werden? Wo setzen entsprechende transformative Interpretationen erstmals an, und wie und unter welchen historischen, kulturellen und religiösen Bedingungen entwickeln sie sich hin zu der immer weiter reichenden Etablierung des Motivs des Christus medicus in der Alten Kirche? Erste Ansatzpunkte finden sich bereits in der später in den neutestamentlichen Kanon eingegangenen Evangelienliteratur, und zwar nicht erst bei Lukas, auf den sich das Interesse der Forschung zumeist gerichtet hat,11 sondern bereits im zweiten Evangelium.12 Fragt man darüber hinaus hinter die Endgestalt der Texte zurück, so ist methodisch sehr schwer zu entscheiden, auf welcher Stufe von Überlieferungs-, Rezeptions- und Inszenierungsprozessen einzelne Motive und traditionsgeschichtliche Horizonte des „Medizinischen“ erstmals aktiviert werden und welche traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen hierfür im Einzelfall zu benennen sind. Die narratologische Betrachtung frühchristlicher Erzähltexte lässt es als möglich erscheinen, dass Bezüge, die von den Verfassern nicht bewusst und planvoll realisiert sind, von einer Leserschaft der Texte hergestellt werden, welche Erfahrungen mit Vertretern der „Medizin“ gemacht hat. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden im Folgenden lediglich einige ausgewählte Bereiche, Aspekte und Motive angesprochen, an die eine (spätere) interpretatio medicinalis anzuschließen vermag. a) Orte und „Gelegenheiten“. Berührungspunkte und Schnittmengen können sich ergeben, wo der „Heiler“ die Kranken überall an den Wegen und Plätzen von Dörfern und Städten antrifft. Den einschlägigen Berichten der neutestamentlichen Geschichtsbücher sind hier etwa die Fallstudien im 1. und 3. Epi-
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Vgl. HOBART, Language; HENGEL/SCHWEMER, Paulus, 18–26; vgl. zum dritten Evangelium WEISSENRIEDER, Images. Siehe V. BENDEMANN, Christus, 105–129 (siehe in diesem Band 37–66).
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin demienbuch (CH Epid. I 3,13 [1–14]; III 1,1–2,12; III 17 [1–16]) zu vergleichen.13 Sodann kann die Situation des in die Häuser eintretenden bzw. des die Kranken dort versorgenden Heilers konvergieren; der „Hausbesuch“ Jesu (beim bettlägerigen Kranken; vgl. Mt 8,6) ist in den frühchristlichen Erzählungen allerdings der Ausnahmefall (vgl. Mk 1,29–31; 5,38–43; vgl. Lk 10,5.9). Dagegen setzt das Jusjurandum die Praxis des „zum Nutzen der Daniederliegenden“ in die Häuser kommenden Arztes voraus (CH Jusj. 18: Ἐς οἰκίας δὲ ὁκόσας ἂν ἐσίω, ἐσελεύσομαι ἐπ᾿ ὠφελείῃ καμνόντων). Ausführliche Regeln für die Vorbereitung auf den Hausbesuch des Arztes, die Kleidung, innere Orientierung und Haltung in der Kommunikation finden sich in CH Decent. 11–17. Das Bild Jesu in den Evangelien nähert sich demgegenüber dem des seine Klienten oft zum ersten und einzigen Mal sehenden Wanderarztes, der noch in hellenistisch-römischer Zeit vielfach nicht der Ausnahmefall, sondern der Regelfall gewesen ist (vgl. zur Wandersituation des Arztes CH Lex 4 u. a.).
b) Konstruktionen von „Krankheiten“. So unterschiedlich die Wahrnehmungsschemata in Hinsicht auf die erkrankten Menschen in den Texten gelagert sind, so ergeben sich Berührungspunkte und Schnittmengen in der Konstruktion einzelner Leiden. Diese beginnt bei kognitiven Interpretamenten, die sich in einer Nomenklatur für Krankheiten wie z. B. „Fieber“ (Mk 1,29–31 par), „Lähmung“ (vgl. Mk 2,1–12 par; vgl. 3,1–6 par; Lk 13,10–17), „Mondsucht“ (vgl. Mt 4,24; 17,15) oder „Wassersucht“ (vgl. Lk 14,1–6) kondensieren können; sie reicht über die Schilderung einzelner symptomatischer Bilder von somatischem Leiden bis hin zur Berücksichtigung sozialer und religiöser Faktoren, welche auch in den medizinischen Texten Beachtung finden können.14 Das „Fieber“ (πυρετός) bietet ein Beispiel für eine Krankheit, die in den Quellen vorrangig dort notiert wird, wo griechisch-römische geschulte Ärzte vorauszusetzen sind. Die Rede von „Fieber“ setzt das physiologisch konturierte Bild des temperierten menschlichen Körpers voraus; ein entsprechendes somatisches Wahrnehmungsraster „generiert“ die Krankheit gewissermaßen im Sinne eines „making illness“; es ist die Domäne des entsprechend geschulten Arztes mit seiner Diagnose. „Fieber“ begegnet entsprechend auch in frühjüdischen Texten vor allem dort, wo vornehme Personen sich (griechisch-römisch geschulte) Ärzte leisten können (vgl. Ios. bell. Iud. I 103–106.656; ant. Iud. XIII 398; vgl. neutestamentlich den Sohn des 13
14
Nach einem breiten Konsens der Forschung gehören CH Epid. I und III eng zusammen und in den Radius der ältesten Texte im Corpus Hippocraticum. Vgl. LICHTENTHAELER, Kommentar. Vgl. V. BENDEMANN, Illnesses, 100–124.
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
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„Königlichen“ in Joh 4,46–54; vgl. den Vater des „Ersten“ der Insel in Apg 28,7f.; in dieser Hinsicht interessant: Mk 1,29–31). Grundsätzlich ist ein entsprechender anthropologisch-thermischer Ansatz frühjüdischen Zeugnissen von Hause aus fremd, auch wenn Phänomene von „Hitzigkeit“ gelegentlich festgestellt werden (vgl. Lev 26,26; Dtn 28,22 [nur hier in LXX: πυρετός] u. a.). Der Ansatz der Konzeptualisierung ist ein anderer; doch können frühchristliche Erzählungen der Heiltätigkeit Jesu, griechisch-römischen medizinischen Vorstellungen vergleichbar, ebenfalls Axiome des Geschlechts und des Lebensalters der „Patienten“ beachten.15 Die Krankheitskonstrukte frühchristlicher Therapiegeschichten sind im Ansatz „leitmotivisch“ ausgelegt, d. h. sie richten sich an wenigen Kernsymptomen aus, die für den narrativen Zusammenhang wichtig sind. Sie sind an Ätiologien, wie sie den medikalen Zugang kennzeichnen, zuallermeist gänzlich uninteressiert; z. B. spielen makrokosmische klimatische und jahreszeitliche Faktoren keine erkennbare Rolle; andererseits sind ätiologische Konzepte den Texten auch nicht gänzlich fern; so findet z. B. der Zusammenhang von Tun und Ergehen, der auch in frühchristlichen Heilungsgeschichten vorausgesetzt werden kann (vgl. Mk 2,1–12 par), strukturell eine Entsprechung in Konzepten medizinischer Diätetik. c) Arztbilder. Die oben bereits angesprochenen Differenzen im Bild Jesu zu dem eines griechisch-römischen Arztes wären um zahlreiche weitere Aspekte zu vermehren. Grundsätzlich kniet niemand vor einem „Arzt“ (vgl. dagegen Mk 1,40; 5,6.33; 7,25 – par; vgl. die „unreinen Geister“ in 5,11 u. a.), Jesus nimmt keine Honorare, und das unentgeltliche Heilen (vgl. ActJoh 108 u. a.) wird von hier aus zu einem wichtigen Differenzkriterium in altkirchlichen Texten (vgl. schon Apg 8,18–24) insbesondere in Auseinandersetzung mit Asklepios. Sehr deutlich wird die Differenz der Zugänge im Fall von Toten, für die der griechisch-römische Arzt arte nichts mehr tun kann;16 die ἐξουσία Jesu vermag dagegen die Schranke des individuellen Lebensendes in Ausnahmefäl15
16
Vgl. zu epileptischem Leiden als puerilis passio V. BENDEMANN, Heilige Krankheit, 11–44 (siehe in diesem Band 125–156); vgl. die zwölfjährige Tochter des Jairus (Mk 5,42 par); vgl. das Deminutiv in Mk 7,25; vgl. Mt 8,6. Nirgends wird allerdings ein – unter antiken Maßstäben – alter Mensch als solcher geheilt (vgl. nur indirekt die Erzählernotizen bezüglich der Andauer einer Krankheit in Lk 13,11.16; Apg 4,22; 9,33; Joh 5,5). Heilungen von männlichen und weiblichen Kranken kann dagegen in frühchristlichen Texten ein unterschiedenes und je eigenes Profil zukommen (vgl. z. B. zu Mk 5,25–27 V. BENDEMANN, Christus, 113f. Anm. 8 [siehe in diesem Band 39f. Anm. 8]). Vgl. zur sogenannten facies hippocratica des sterbenden Menschen CH Prog. 2. Zur antikmedizinischen Konzeptualisierung des Todes vgl. VAN HOOFF, Art. Tod, 868–870 (mit weiterführender Literatur). Verschiedentlich gehen medizinische Texte auf das Problem des Scheintodes ein (vgl. CH Mul. II 123.126.151; Galen VIII 4,14ff. [KÜHN]; Cels. med. II 6,13–16; vgl. auch Plin. nat. VII 124.173.175f.; XXVI 13 u. a.).
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin len zu transzendieren (vgl. Mk 5,22–24.35–43 par; Lk 7,22 par; 7,11–17; vgl. 3 Kön 17,17–24LXX; 4 Kön 4,18–37LXX). Gleichwohl gibt es im Bild des Heilers auch Schnittmengen und Berührungspunkte. Frühchristliche Heilungsgeschichten setzen voraus, dass das, was Jesus an den Kranken bewirkt und vollzieht, derjenigen Zielsetzung entspricht, welche auch die ärztliche Kunst auszeichnet, nämlich sanitas/Gesundheit (vgl. Mk 5,28f.; V. 34: ὑγιής ἀπὸ τῆς μάστιγος). Termini mediendi in frühchristlichen Texten können „medizinische“ Vorstellungen evozieren; dies gilt z. B. für die Verwendung von Verben wie ἰᾶσθαι17, θεραπεύειν18, ὑγιαίνειν19 und auch σῴζειν20. Rezeptionsgeschichtliche Anschlusspunkte ergeben sich über das Feld der medizinisch-deontologischen Literatur (vgl. CH Lex; CH De Medico; CH Praec.; CH Decent.; CH Jusj.; Soran. Gynaec. 1,3f.; Scribonius Largus, Comp. I 44–51; Galen Opt. Med. u. a.), soweit auf ihm bestimmte Tugenden des Arztes herausgestellt sind, die auch christologisch relevant werden können. Dem Arzt wird unbedingte „Autorität“ zugemessen (vgl. CH Medic. 1), ihm kommen Attribute wie das der „Ehrbarkeit“ /„Wohlanständigkeit“ (εὐσχημοσύνη; vgl. CH Praec. 10 u. a.) und des „Ansehens“ (δόξα; vgl. CH Decent. 1; 3 u. a.) zu. Dem mit „schrecklichen Dingen“ (δεινά) in Berührung kommenden Arzt (CH Flat. 1), der „nutzen“ und nicht „schaden“ (vgl. CH Jusj. 12) bzw. ermutigen (CH Praec. 9) soll, werden weitere Tugenden wie Empathie (vgl. CH Flat. 1),21 Ernsthaftigkeit, Redlichkeit, Entschiedenheit, Maßhalten,
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Das Verb ἰᾶσθαι in der neutestamentlichen Evangelienliteratur außer in Mk 5,29 noch Mt 8,8.13; 13,15; 15,28; Lk 4,18 v. l.; 5,17; 6,18f.; 7,7; 8,47; 9,2.11.42; 14,4; 17,15; 22,51 (vergleichsweise selten in Apg: 3,11 v. l.; 9,34; 10,38; 28,8.27; vgl. ἴασις in Lk 13,32; 4,22.30); Joh 4,47; 5,13; 12,40; das zugehörige Substantiv ἰατρός außer Mk 2,17 par; 5,26 par nur Lk 4,23. Das Verb ist auf die neutestamentlichen Geschichtsbücher beschränkt: Mk: 5x (vgl. 3,15 v. l.); Mt: 16x; Lk: 14x; Apg: 5x; Joh: 1x; ansonsten nur noch Offb 13,3.12; vgl. das Verbalsubstantiv θεραπεία in Lk 9,11; Offb 22,2 (anders gebraucht in Lk 12,42 [Mt 24,45 v. l.]). In den neutestamentlichen Geschichtsbüchern nur bei Lukas (5,31; 7,10; 15,27); der terminus ὑγιεία, der in griechischen Ohren theologisch besetzt ist, fehlt im Neuen Testament; das zugehörige Adjektiv in Mk 3,5 v. l.; 5,34; Mt 12,13; 15,31; Joh 5,4 v. l.; 5,6.9.11.14f.; 7,23; bei Lukas (vgl. 6,10 v. l.) nur in Apg 4,10. Vom Leben-Retten am Sabbat im Zusammenhang einer Heilungserzählung: Mk 3,4 par; in Verbindung mit der Bitte um Handauflegung und Hoffnung auf „Leben“: Mk 5,23; in enger Korrelation der durch Berührung vermittelten „Heilung“: Mk 5,28 par; 6,56; im Doppelsinn von „Heilen“ und „Retten“ in Bezug auf den „Glauben“: 5,34 par; 10,52 par; vgl. 15,30f. u. a. m. Vgl. weitere Verben wie ἀνορθοῦν (Lk 13,13), ἀποκαθιστάνειν (von der Hand: Mk 3,5 par; von der Sehfähigkeit: 8,25). Zum Terminologischen insgesamt vgl. WELLS, Language. CH Flat 1 bietet mit der Vorstellung des Leidens, das auch den Arzt affiziert (ἰδίας καρποῦται λύπας), allerdings eine Ausnahme. Der in hippokratischer Tradition stehende Arzt handelt grundsätzlich nicht auf der Basis eigener Gefühlslagen, sondern der Feststellung physiologischer Gegebenheiten. Zum Vertrauen schaffenden Verhalten des Arztes:
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Selbstbeherrschung, Zielgerichtetheit, Freisein von Habgier, Umgänglichkeit (vgl. die weitere Attribute umfassenden Tugendkataloge in CH Decent. 3; 5 und 7; vgl. 16) und vor allem auch „Gerechtigkeit“ gegenüber allen Menschen zugeschrieben (CH Medic. 1,15: Δίκαιον δὲ πρὸς πᾶσαν ὁμιλίην εἶναι: χρὴ γὰρ πολλὰ ἐπικουρέειν δικαιοσύνη). Der zuletzt genannte Aspekt der „Gerechtigkeit“ bedingt auch, dass der hippokratisch geschulte Arzt seine Patienten grundsätzlich unabhängig von ihrem sozialen Status behandeln wird resp. soll.22 Über die deontologischen Tugenden eröffnen sich Brücken in die antik-philosophische Literatur (CH Decent. 5); diese können schließlich in der altkirchlichen Literatur zur weiteren Ausgestaltung der Motivik des Christus medicus genutzt werden. d) Schüler (μαθηταί). Zu dem den deontologischen Schriften gemäßen Bild gehört konstitutiv auch, dass der Arzt eine „Lehre“ repräsentiert, die von „Schülern“ zu „erlernen“ ist. In diesem Zusammenhang begegnen diejenigen Begriffe, die an entsprechender Stelle auch in den Evangelien verwendet werden (διδάσκειν, μανθάνειν/μαθηταί u. a. m.). In verschiedener Weise setzen die Schriften voraus, dass das Wissen exklusiv nur dieser Schülerschaft zu übertragen ist. CH Lex 5 spricht von „heiligen Angelegenheiten“ (ἱερὰ ἐόντα πρήγματα), die nur „(ein)geweihten“/„heiligen“ Personen (ἱεροῖσιν ἀνθρώποισι) gezeigt werden (vgl. auch CH Jusj. 4–10). Die Schüler begleiten den Arzt und vertreten ihn (vgl. CH Lex 2; CH Decent. 17). CH Lex 2 setzt fest, welche Voraussetzungen für den Eintritt in eine ärztliche Schülerposition erforderlich sind (vgl. zu den Anfängern CH Medic. 2); nach CH Decent. 18 erfolgt die Lehre im Vollzug der Ausübung der therapeutischen Kunst. Sind hiermit terminologisch Lehrer-Schüler-Konstellationen bezeichnet, wie sie auch in philosophischen Texten beschrieben sind, so ergibt sich strukturell eine Entsprechung zu den Jesus bei seiner therapeutischen Aktivität begleitenden resp. beim ihm „in die Lehre gehenden“ (vgl. Mk 1,29 par; 3,7–10 par; 5,31.37 par u. a.) und zu dieser von ihm ausgesandten (Lk 10,8f. par; vgl. den gescheiterten Heilungsversuch der Jünger in Mk 9,14–18.27f. par u. a.) „Schülern“/„Jüngern“ (μαθηταί). Insbesondere der „Hausbesuch“ in Mk 1,29–31 kann eine Leserschaft mit entsprechenden Erfahrungen an die Visite des Arztes in Begleitung sei-
22
CH Medic. 1; Cels. med. III 5,11; 6,6–8; vgl. Galen Hipp. Epid. 6 comm. 4,8. Die Stelle CH Flat 1 (der Arzt, der schreckliche Dinge sieht) wird schon in der Antike viel diskutiert und auch von christlichen Autoren aufgegriffen (z. B. Eus. hist. eccl. X,4,11): vgl. TEMKIN, Hippocrates, 141–144. M. STAMATU merkt allerdings mit Bezug auf Plin. epist. 8,24,5 an, dass ärztliche „Gleichbehandlung“ von Sklaven „eher Zweckdenken“ als Nächstenliebe entsprungen sein dürfte und eine entsprechende Theorie nicht mit der tatsächlichen Praxis in eins fallen muss (DIES., Art. Nächstenliebe, 639).
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin ner Studenten erinnern (vgl. in ironischer Brechung Mart. Epigr. V 9). In der Reflexion der didaktischen Situation können dabei ähnliche Bildfelder aktiviert werden (vgl. z. B. zu Mk 4,3–9.13–20 par CH Lex 3).
e) Konstruktionen des Arzt-Patientenverhältnisses. Das Verhältnis von Arzt und Krankem in (griechisch-römischen) medizinischen Texten ist grundsätzlich paternalisch strukturiert.23 Das gilt unter anderen Vorzeichen auch für die asymmetrische Beziehung von Heiler und Kranken in frühchristlichen Traditionen. Doch wissen beide Literatur- und Praxisbereiche je verschieden auch von einer Mitwirkung der „Patienten“ im Heilungsvollzug. Medizinische Texte bringen das Desiderat der Synergie von Kranken in der Therapie zur Geltung (vgl. CH Epid. 1,11; CH Aph. 1,1 u. a.). Ansätze eines anamnetischen Arzt-Patienten Gespräches kann man z. B. in Mk 8,23f. finden (vgl. Mk 1,40f.; 10,51f. u. a.); in den entsprechenden Radius lassen sich auch Dialoge zwischen dem Heiltäter und Angehörigen der Erkrankten einschreiben (vgl. Mk 7,24–30 par; 9,16–19.21–24 par.; vgl. Mt 8,5–10). f)
Die Hand als instrumentum des Heilers. Angesichts der Multifunktionalität der menschlichen Hand besagt der Befund zunächst nicht viel, dass unterschiedliche „Heiler“ in vielfältiger Weise von ihr Gebrauch machen. Nach Aristoteles ist die Hand das dem Menschen eigene „Werkzeug aller Werkzeuge“ (ὄργανον πρὸ ὀργάνων; Aristot. part. an. IV 10,687a). Entsprechendes findet sich auch in medizinischen Texten im Zusammenhang der Sinneslehre reflektiert, in denen der Tastsinn nicht einem einzelnen menschlichen Organ zugeschrieben wird, wohl aber in den Händen als am meisten entwickelt gilt (vgl. Galens teleologische Ausführungen diesbezüglich in „De usu partium“ I 2,3; 4,9; 5,9f.; 12,34; II 1,88 u. a.). Die Hand gilt als wichtigstes Werkzeug des Arztes bei der Untersuchung und Behandlung von Kranken; in ihrem Gebrauch muss er besonders geübt sein (vgl. CH Off. 4; CH Epid. 4,43; CH Decent. 8 zur Palpation u. a.). Medizinische Konnotationen liegen entsprechend bei Vollzügen der Hand im Zusammenhang von Heilvorgängen nicht fern, und es ist jedenfalls wahrscheinlich, dass Leserinnen und Leser, welche entsprechende Erfahrungen mit Ärzten besitzen, bei einzelnen manuellen Praktiken auch entsprechende Korrelationen herstellen. Nicht jede Notiz des „Berührens“ oder festen „Ergreifens“ muss eo ipso im Sinne einer (rein) religiös konnotierten Geste bzw. eines religiösen Heilritus interpretiert werden. 24 Vielmehr sind die Grenzen
23
Vgl. SCHULZE, Art. Patient, 673–678; KOELBING, Arzt. Siehe MICHLER, Hand. Zum ἅπτειν des Heiltäters: In Verbindung mit dem Ausstrecken der Hand bei der Heilung des Aussätzigen: Mk 1,41 par (vgl. hierzu 2 Kön 5,11LXX, wo jedoch von einer Handauflegung [s. u.] die Rede ist); vom Berühren der Zunge des surdus/mutus: Mk 7,33; vom Berühren des Blinden: 8,22; von Kranken, die Jesus berühren (wollen): 3,10; 5,27f.30f. par; 6,56 [bis] par; im ersten Evangelium wird das markinische Bild grundsätz-
24
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zwischen „medizinisch“ und „nichtmedizinisch“ im Fall manueller Praktiken oftmals kaum scharf zu ziehen. Nach Mk 6,2 wirkt Jesus (wie der Arzt) διὰ τῶν χειρῶν αὐτοῦ, was er wirkt, sind jedoch δυνάμεις.25 Die entsprechende Spannung zeigt exemplarisch die Erzählung von der Heilung des surdus/ mutus in Mk 7,31–37, wo das Legen der Finger in die Ohren des Kranken in einen ausführlich gestuften therapeutischen Heilvollzug eingebettet ist. Der innerhalb der ältesten Jesustradition singulären manuellen Praktik, die über die ansonsten im zweiten Evangelium häufig notierten bloßen Berührungen hinausgeht, ist die Distanzierung des Erkrankten von der Menge vorgeschaltet; ihr folgen in Mk 7,33f. Notizen des Ausspuckens des Heiltäters, der Berührung der Zunge des Kranken, des Emporblickens Jesu zum Himmel, seines Seufzens und schließlich der Anrede des Kranken mit einem aramäischen Befehlsruf (ἐφφαθά). Das gesamte erzählte Gefüge lässt nach „magischer“ Praxis fragen (s. u. Punkt 4.2.). Eine den Bereich des „Medizinischen“ transzendierende Grenze scheint dort erreicht zu sein, wo dem Auflegen von Händen ein heilender Effekt zugemessen wird; doch auch hier sind die Grenzen nicht eindeutig zu ziehen.26 Auch Sinndeutungen, die sich einem theologischen Gebrauch der Metapher der Hand Gottes annähern, müssen medizinische Konnotationen nicht ausschließen.27
25 26
27
lich übernommen, es begegnen jedoch einige Abweichungen und differente Akzentuierungen: Mt 8,15: Jesus berührt die Hand der Schwiegermutter des Petrus (diff. Mk); 9,29; 20,34: vom Berühren der Augen der beiden Blinden (diff. Mk 10,52). Bei Lukas ist die Heilung durch Berührung im Vergleich zu Markus abschattiert; vgl. Lk 7,14: Jesus berührt die Bahre, auf der der Tote liegt; Lk 22,51: Jesus berührt das abgeschlagene rechte Ohr; in der Apg fehlen Heilungen in Verbindung mit Berührungen. Vgl. vom κρατεῖν der Hand in Verbindung mit dem „Aufrichten“: Mk 1,31; 9,27; vgl. entsprechend bei der Erweckung von Jairi Töchterlein in Mk 5,41 par Lk 8,54 (anders das Aufrichten der bereits reanimierten Person in Apg 9,41); vom Ergreifen/Anpacken des Wassersüchtigen (ἐπιλαμβάνεσθαι): Lk 14,4. Siehe zu Formen des manuellen Kontaktes BÖCHER, Christus, 80–84. Zum ἐπιτίθεσθαι der Hände vgl. Mk 5,23 par (in der Erwartung des Synagogenvorstehers); 6,5; 8,23.25; 10,16; im Matthäusevangelium spielt die Heilung durch Handauflegung (außer 9,18) keine Rolle; vgl. dagegen bei Lukas im Summar 4,40; 13,13 (die „verkrümmte“ Frau); Apg 28,8 (nur hier in Kombination mit Gebet). Vgl. zur (nicht primär medikal konnotierten) ἐπίθεσις τῶν χειρῶν Apg 8,18; 1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6; Hebr 6,2; vgl. verbal formuliert in Apg 6,6; 8,17.19; 9,12.17; 19,6 u. a. Im Alten Testament sind keine Heilungen durch Handauflegung zu verzeichnen; vgl. aber 1QGenAp 20,21f.28f. zur Heilung Pharaos durch Handauflegung und Gebet. Zu Übergängen medizinischer und religiöser Handauflegung: MICHLER, Hand, 7–12 (zur ägyptischen Heilkunde). Vgl. zum Sinnspektrum ritueller Handauflegungen VOGEL, Art. Handauflegung I, 482–493. Zu medizinischen Konnotationen von Handauflegungen in der Ikonographie: KOROL, Art. Handauflegung II, 503–505. Vgl. von der mächtigen Hand Gottes Ex 9,3; Dtn 2,15; vom starken Arm: Jes 40,10; 51,5; 52,10 u. a.; vgl. Hiob 12,9; 26,13; Ps 8,7; Jes 45,12; strafend: Ps 32,4; 39,11 u. a.; helfend: Jes 51,16; heilsgeschichtlich: Ex 13,9; Dtn 4,34; 6,21 u. a.; heilend, rettend: Ps 138,7. Vgl. 1QM 1,14f. von der eschatologischen Überwindung Belials samt seiner Engel durch die
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin Auffällig bleibt, dass Jesus nach dem Bild der Evangelien Dämonische resp. von „unreinen Geistern“ Affizierte grundsätzlich nicht berührt (s. u. Pkt. 3.)
g) Die sogenannte Dreckapotheke. In medizinischen Texten kann gelegentlich zwischen der ländlichen und städtischen Praxis des Arztes differenziert werden (vgl. CH Art. 72; CH Fract. 13); nach CH Decent. 8,7f. soll der Arzt grundsätzlich für die Reise „einfachere Hilfsmittel“ zur Hand haben.28 In diesem Zusammenhang können medizinische Texte auch auf die von kulturellen Axiomen über das „Ekelhafte“ dependente sogenannte „Dreckapotheke“ zu sprechen kommen, welche Substanzen wie Erde und Körperausscheidungen therapeutisch nutzt.29 Aus einem entsprechenden Spektrum selektieren wenige frühchristliche Erzählungen die Nutzung von Speichel (vgl. auch das „Augenpflaster“ in Joh 9,6).30 In Mk 8,23 spuckt Jesus dem Blinden am Beginn eines zweistufigen Heilverfahrens zunächst in die Augen; feuchtigkeitsspendender saliva wird auch sonst in antiken Texten eine therapeutische Funktion im Fall von Augenleiden zugeschrieben.31 Schwieriger ist die Funktion des Speichels in Mk 7,33 zu beurteilen. Anders als in Mk 8,23 ist nicht ausdrücklich gesagt, dass Jesus auf ein erkranktes Organ des surdus/mutus spuckt (vgl. tSanh 12,10; bSanh 101a; ARN A 36); möglich ist, dass die Leserschaft an ein Benetzen der Finger Jesu mit Speichel denken wird. Das Ausspucken ist hier in Interaktion mit den weiteren Praktiken in Mk 7,33f. zu interpretieren (s. o. und Punkt 4.2).32 h) Weitere literarische Motive und Topoi. Ausführlich wäre der Frage nachzugehen, inwieweit einzelne Episoden und Logien in den synoptischen Evange-
28
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„große Hand Gottes“; vgl. Lk 11,20 par. Metaphorisch gelten bei Plut. symp. 4,1,3 [mor. 663 c] nach Erasistratos von Kea Medikamente als „Hände der Götter“ (θεῶν χεῖρες). Ἔστω δέ σοι ἑτέρη παρέξοδος ἡ λιτοτέρη πρὸς τὰς ἀποδημίας ἡ διὰ χειρέων. Zur Unterscheidung von ländlicher und städtischer Praxis des Arztes: KÜNZL, Medizin, 65. Siehe hierzu mit Literatur STAMATU, Art. Dreckapotheke, 235f. Nach Galen (Simpl. Med. Temp. 10,1) soll die Dreckapotheke, soweit sie Xenokrates von Aphrodisias empfiehlt, nur im Notfall zur Anwendung kommen. Galen spricht sich gegen die Anwendung von Harn und Kot aus: 10,15.18–30. Fehlen Harn und Kot in der ältesten Jesusüberlieferung als Therapeutika, so ist eine entsprechende Sinnnuance für ArabK 11f. nicht auszuschließen: Den Windeln Jesu wird hier eine heilende Funktion zugeschrieben. Entgegen der späteren christlichen Rezeptionsgeschichte ist nicht gesagt, dass die Windeln „rein“ seien. Vgl. MUTH, Träger, 17, zum Speichel als „Lebenssaft“; vgl. a. a. O., 82–85. Siehe zu einer entsprechenden medizinischen Lektüre von Mk 8,22–26 mit Belegen zur therapeutischen Funktion von Speichel V. BENDEMANN, Sehen, 344–346. Vgl. COLLINS, Mark, 370–372. Zu medizinischen Konnotationen des Spuckens: WOHLERS, Krankheit, 134–136 (Schutz vor Ansteckung); zu apotropäischen Aspekten: MUTH, Träger, 15f., 26–64, 109, 116. Vgl. Plin. nat. VII 15; XXVIII 35–39; vgl. TestSal 7,3. Weitere Deutungen: KOLLMANN, Christen, 231–234; siehe zum Text Mk 7,31–37 insgesamt V. BENDEMANN, Auditus, 55–69 (siehe in diesem Band 217–235).
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lien weitere Motive und Topoi aktivieren, die medizinal konnotiert sind. Mk 5,25f. lässt z. B. in Verbindung mit dem häufigen Arztwechsel (vgl. CH Praec. 5) das Echo einer topischen Arztkritik in hellenistisch-römischer Zeit erkennen. Eine metaphorische Konzeptualisierung der Aufgabe des Arztes liegt Mk 2,17 zugrunde; „Schuld“ wird hier mit „Krankheit“ korreliert. Besonders der lukanische Erzählentwurf ist insgesamt auf entsprechende literarische Motive und Topoi zu befragen. 33 So liegt z. B. der polemischen Aufforderung an Jesus in Lk 4,23 der Spezialfall des Arztes als Patient zugrunde.34 Die Krankheit des Arztes erscheint als besonderer Testfall seiner Kunst; an seiner Person selbst soll das Ideal der Gesundung abzulesen sein (vgl. Galen San. tu. 5,4). Der Arzt, der sich nicht selbst zu therapieren vermag, gilt demgegenüber als κακός (vgl. Aischyl. Prom. Vinct. 473). i)
Motivationen der Heilung. Zuletzt ist die Frage der Motivationen für die Heiltätigkeit anzusprechen, soweit sie in Texten reflektiert wird. In den erzählerischen Entwürfen der Evangelien können Leserinnen und Leser diese aus narrativ ,übergeordneten‘ resp. das heilvolle Handeln Jesu insgesamt interpretierenden Texten wie z. B. Mk 1,14f., Lk 7,22 par (vgl. 11,20 par) entnehmen; hierbei wird die heilende Praxis Jesu vielfach im Sinne der Einlösung alttestamentlicher Verheißungen interpretiert (vgl. Jes 29,18f.; 35,5f.; 42,18; 26,19; vgl. 61,1; vgl. auch Jub 23,26–31; äthHen 25,5f.; 4 Esr 8,53f.; syrBar 73,2f. u. a.). Damit sind im Vergleich zu Motivationen der Praxis griechisch-römischer Ärzte bis hin zur Zielsetzung des Broterwerbs gänzlich differente Voraussetzungen gegeben. Allerdings sind im Einzelfall auch mögliche Berührungspunkte namhaft zu machen. So deutet Mk 7,37 die Heilung des surdus/mutus mit einer schöpfungstheologischen Reminiszenz. In der Gesundung des Tauben/Stummen artikuliert sich der Wille des Schöpfers selbst, der „alles gut gemacht hat“ (im Perfekt/Gen 1,31LXX im Aorist; vgl. auch 1 Tim 4,4). Strukturell kann man dem die teleologische Physiologie Galens vergleichen, der u. a. an Aristoteles anschließt (vgl. Aristot. Cael. I,4 [271 a 33] u. a.). Die Natur wird hier in ihrer durch und durch auf das optimum ausgerichteten Intentionalität quasi in göttlicher Funktion aufgefasst. Insbesondere in seiner Schrift „De usu partium“ möchte Galen zeigen, dass sämtliche Teile und Organe des menschlichen Körpers in bester Weise im Hinblick auf ihre Zwecke geschaffen und eingerichtet erscheinen.35 Subjekt dieser Einrichtung ist allerdings auch hier nicht ein personal vorgestellter
33
Siehe WEISSENRIEDER, Images. Siehe hierzu mit Stellenbelegen LEVEN, Art. Arzt, 102f.; NOLLAND, Parallels, 193–209. Vgl. Galen Us. Part. I 23,83 u. a. Hierzu BROCKMANN, Gesundheitsforschung, 141–154. Zur Natur als „Künstlerin“, die nichts Sinnloses schafft, vgl. Chrysipp Frg. 1138 [v. ARNIM II 329,36] (τεχνικῶς ἃπαντα διαπλάττει), Chrysipp Frg. 1140 [v. ARNIM II 330] (μηδὲν ὑπὸ φύσεως γίνεσθαι μάτην).
34 35
110
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin Schöpfergott, sondern vielmehr die in jeder Hinsicht „vernünftig“ agierende φύσις.
3.
Die Heilpraxis Jesu im Kontext medikaler Kultur(en)
Wie ist mit dem spannungsvollen Ergebnis eines kategorialen Hiatus zwischen der erzählten Heilpraxis Jesu und der griechisch-römischen Medizin auf der einen Seite und den Ansatzpunkten von Konvergenzen und Resonanzen in Hinsicht auf „Medizinisches“ in frühchristlichen Erzähltexten auf der anderen Seite umzugehen? Wir sahen eingangs, dass in der besonderen Konzeption der „Taten des Petrus und der zwölf Apostel“ Bezüge zur Medizin hergestellt sind, freilich nicht zur „weltlichen“ griechisch-römischen Medizin, sondern gewissermaßen zu einem tertium genus medicinae, welches aber gleichwohl die Zielsetzung somatischer Heilung keineswegs suspendiert. Von hier richtet sich die Frage auf einen Medizinbegriff, der sich nicht exklusiv über die griechisch-römische ars medicinae definiert. Zu fragen ist nach einem methodischen Ansatz, der damit auch den „westlichen Standpunkt“ im Gefolge der abendländischen Medizingeschichte als solchen kritisch zu reflektieren vermag, der durch die jahrhundertelange Rezeption insbesondere des Galenischen Systems bestimmt wurde.
3.1.
Historische und methodische Einwände gegen monolineare Definitionen des Medizin-Begriffs
Gegen das essentialistisch-normative Missverständnis „der“ griechisch-römisch konzeptualisierten ars medicinae stehen medizinhistorische Relativierungen. Ein klar umrissenes und feststehendes Feld rational-wissenschaftlicher Bemühungen ist nämlich zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften nicht gegeben. „Profession“ und „Paraprofession“ erweisen sich vielmehr (gemessen an den oben unter Punkt 1. dargestellten Eckparametern) als keineswegs klar unterscheidbar. Instanzen, die für Typisierungen und Standardisierungen zuständig gewesen wären, gab es nicht. Der niedergelassene Arzt wird in der frühen Prinzipatszeit nicht nach festen Standards „approbiert“; eine institutionell verbürgte Professionalität ist in aller Regel nicht gegeben, die Grenzen zwischen „gelehrt“ und „ungelehrt“ bzw. „Autodidakt“ erweisen sich bei verschiedenen Gestalten, die in den Quellen greifbar werden, als fließend. Darüber hinaus dominieren in dieser Zeit Wanderärzte unterschiedlichster Provenienz, die ihre „Klienten“ erst gewinnen müssen, nur begrenzt und lediglich temporär Einfluss
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111
nehmen können, und dies häufig vor Publikum, das sie zu gewinnen trachten. Da der Arzt das „Sozialprestige“, welches ihm in neuzeitlichen Gesellschaften zugeschrieben werden kann, in der Regel nicht besitzt, ist er in seiner Praxis immer zugleich darauf ausgerichtet zu „imponieren“. Das Bild einer uranfänglich „reinen“ und „wissenschaftlichen“ Medizin, welches sich in der Geschichte der hellenistisch-römischen Ärzteschulen und weiterer Gestalten mehr und mehr bricht, ist ein literarisches Konstrukt bestimmter antiker Quellen; es kann in der Forschung nicht unhinterfragt übernommen werden.36
3.2.
Zum inter- und transkulturellen Vergleich medikaler Kulturen
Medizinsoziologische Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte haben den Weg dafür geebnet, den Medizinbegriff, der teils auch mit einer elitären Selbststilisierung der westlichen Medizin einherging, in einen weiteren Rahmen der Frage nach „medikalen Kulturen“ einzubetten.37 Die Jahrhunderte währende Geschichte fachlicher Bemühungen im Gefolge der hippokratischen Tradition kann innerhalb dieses Rahmens als eine mögliche Ausdrucksform medizinischer Semantik und Pragmatik dargestellt werden, erscheint jedoch nicht exklusiv und normativ als die einzige Aktualisierungsmöglichkeit. Jüngere medizinhistorische und medizinsoziologische Beiträge haben Modelle entwickelt, die ihren Ausgangspunkt nicht in der Beschreibung und Prolongierung eines kulturellen Stranges suchen und lediglich die Binnenperspektive einer medikalen Kultur fokussieren, sondern sich darauf hin orientieren, trans- und interkulturelle Verknüpfungen und Vergleichsschritte durchzuführen. Entsprechende wissenschaftliche Bemühungen sind in der neutestamentlichen Wissenschaft noch recht wenig fruchtbar gemacht worden, können jedoch dort als besonders aussichtsträchtig erscheinen, wo frühchristliche Texte aus verschiedenen Traditionsbereichen schöpfen. Die jüngere Medizinsoziologie löst dabei Vorstellungen von „Gesundheit“ von ihrer stofflichen Grundlage. Damit wird der φύσις-Begriff, auf den die griechische Medizin seit ihren Anfängen in der jonischen Naturphilosophie vor allem rekurriert hat, als normativer Ausgangspunkt zurückgestellt. Jüngere medizinsoziologische Ansätze erforschen Erscheinungen von „Krankheit“ resp. „Ge36
37
Eine römische Variante dieses Wahrnehmungsschemas der Medizinhistorie findet sich z. B. bei Sen. epist. 95,15–29. Siehe zum Begriff der „medikalen Kultur“ ROELCKE, Kultur, 45–68; JÜTTE, Ärzte; STEGER, Ort, 137–158; DERS., Asklepiosmedizin. Zur jüngeren Diskussion des Kulturbegriffes: BACHMANNMEDICK, Turns; GEERTZ, Beschreibung; KLIEBER/STOWASSER, Inkulturation; LOTMAN, Universe; DERS., Culture; POSNER, Kultur, 37–74; a. a. O., 1–65.
112
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
sundheit“ und „Heilung“ zunächst als soziale Phänomene in einem extensionalen Spannungsverhältnis von gesellschaftlichen Entwicklungen, Ausbildung von Ansätzen der Professionalisierung und weiterer sozialer Sektoren medikaler Kultur(en). Die Ansätze der neueren Forschungen lassen sich an dem für die weitere medizinsoziologische und -anthropologische Diskussion einflussreichen Grundlagenwerk von ARTHUR KLEINMAN „Patients and Healers in the Context of Culture“ verdeutlichen.38 Dieser untersucht die sozialen Beziehungen zwischen „Patienten“ und „Heilern“ als ein kulturelles System.39 Ein „Gesundheitssystem“ hat nach KLEINMAN die Funktionen, „Krankheit“ als „psychosoziale Erfahrung“ zu konstruieren“, sie zu definieren/benennen und sie zu erklären, weiterhin diejenige, eine Kriteriologie zur Bewertung von therapeutischen Ansätzen zu generieren und therapeutische Aktivitäten und ihre Resultate zu managen. Dieses System differenziert KLEINMAN in unterschiedliche Sektoren, die funktional zu unterscheiden sind, sich in der Praxis jedoch durchlässig zueinander verhalten.40 Dem „professionellen Sektor“ wird dabei nicht ausschließlich die unter neuzeitlichen Voraussetzungen als „wissenschaftlich“ anzusprechende Medizin zugeordnet, vielmehr rechnet KLEINMAN innerhalb verschiedener „Gesellschaften“ mit unterschiedlichen „indigenous medical systems“ und ihnen zuzuschreibenden Kulturen.41 Zugleich bezieht er sich auch auf „Gesellschaften“, innerhalb derer eine konsequente Professionalisierung der Medizin fehlt und
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KLEINMAN, Patients. KLEINMAN bezieht sich dabei auf Untersuchungen des medizinischen Systems Taiwans. Vgl. auch HELMAN, Culture. Zur Rezeption medizinsoziologischer und kulturanthropologischer Fragen in der Erforschung neutestamentlicher Texte ist aus der Arbeit der sogenannten „context group“ vor allem zu nennen: PILCH, Healing (im Anschluss an F. KLUCKHOHN, F. STRODTBECK und B. MALINA u. a.); vgl. a. a. O., 94–103 zum „healthcare system“. Das Konstrukt einer „mediterranen“ (medikalen) Kultur bleibt dabei mehrdeutig und umstritten. KLEINMAN, Patients, 26 (im Anschluss an GEERTZ, Beschreibung): „it is both a map ,for‘ and ,of ‘ a special area of human behaviour“. KLEINMAN unterscheidet einen „popluar“, einen „professional“ sowie einen „folk sector“; „folk medicine“ wird als „a mixture of many different components […]“ bestimmt (DERS., Patients, 59); zum „popular sector“ gehören der Kreis der Familie, der Verwandten und Bekannten, innerhalb dessen die primäre Definition von Krankheitsbildern erfolge und „health care acitivities“ initiiert werden. „The popular sector is the nexus of the boundaries between the different sectors […]” (a. a. O., 51). Der „folk sector“ wird im Rahmen des kulturanthropologischen Zugangs anders gefasst, als dies häufig in Forschungsarbeiten geschieht, die den Begriff quasi als Negation zur „wissenschaftlichen“ griechisch-römischen Medizin auffassen. Vgl. demgegenüber auch LEVEN, Art. Volksmedizin, 908f., hier 908: Der Begriff der Volksmedizin „[…] suggeriert […] eine scharfe Trennlinie, wo es in der Realität eine fließende Übergangszone u. ein weites Heilerspektrum gab.“ „[…] in certain societies, e. g., Chinese and Indian societies, there are also professionalized indigenous medical systems: traditional Chinese medicine and Ayurvedic medicine, respectively […]“ (KLEINMAN, Patients, 54).
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113
„folk sector“ bzw. „popular sector“ das gesamte „Gesundheitssystem“ übergreifen. In „Gesellschaften“ mit uneinheitlichen Graden der Professionalisierung ist nach KLEINMAN eine Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Anteilen und Aspekten praktisch undurchführbar. 42 Grundsätzlich erfüllen alle, d. h. auch die religiösen, Sektoren innerhalb des „Gesundheitssystems“ einer „Gesellschaft“ „core clinical functions” bzw. sie genügen den Bedingungen von „universal clinical activities“; „klinisch“ verweist dabei in der Terminologie von KLEINMAN nicht auf besondere Aufgaben einer professionalisierten Medizin, es geht vielmehr um „general health care functions“. 43 Dies bedeutet insgesamt, dass die Frage, wer in einem konkreten kulturellen „Gesundheitssystem“ als „krank“ und umgekehrt als „gesund“, resp. wer als „Therapeut“ gelten kann, keineswegs von vornherein klar zu beantworten ist; die Antwort basiert vielmehr in jedem Fall auf einer Konstruktionsleistung unter den gegebenen soziokulturellen und auch religiösen Bedingungen und bedarf der Aushandlung.44 Es handelt sich um soziale Prozesse der Konstruktion resp. Generierung von Realität und der auf solche erzeugten Realitäten bezogenen Handlungen. Von hier aus steht medizinhistorische Forschung vor der Aufgabe, die frühe Kaiserzeit als einen Kosmos unterschiedlicher medikaler Kulturen zu untersuchen, die koexistieren und zugleich aufeinander bezogen sind. Für die frühe Prinzipatszeit stellt sich dabei vor allem die Frage nach einer agonalen Anordnung konkurrierender „Gesundheitssysteme“, wird hier insgesamt die Medizin in eine „epideictic culture“ einbezogen, innerhalb derer unterschiedlichste Akteure und medikale Kulturen wie z. B. auch die Tempelmedizin 45 in Wettstreit zueinander treten können.46
3.3.
Salutogenese. Implikationen und Konsequenzen für die Interpretation der Heiltätigkeit Jesu
Es stellt sich nun die Frage, inwieweit mit entsprechenden jüngeren medizinsoziologischen und -historischen Forschungsansätzen ein veränderter Wahrnehmungsrahmen für die Beschreibung und Bewertung von Eigentümlichkeiten der
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45 46
KLEINMAN, Patients, 59. KLEINMAN, Patients, 71. In der chinesischen und taiwanesischen Kultur erkennt KLEINMAN z. B. im Grundansatz eine Somatisierung von Krankheit, wohingegen in westlichen Kulturen Krankheiten eher „psychologisiert“ werden. Siehe hierzu pars pro toto STEGER, Asklepiosmedizin. Vgl. hierzu V. STADEN, Galen, 33–54.
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
heilenden Aktivität zu gewinnen ist, wie sie in frühchristlichen Texten berichtet ist. a) Das Verhältnis von Dämonenbannungen und Therapien in der ältesten Jesusüberlieferung kann anders aufgefasst werden. So sicher die einschlägigen Erzählungen formgeschichtlich differieren und entsprechende Handlungen Jesu auch sonst in den Quellen (vgl. in summarischen Formulierungen wie Mk 1,32–34) klar unterschieden werden können, so sind sie, medizinsoziologisch betrachtet, als gemeinsamer und in sich kohärierender Ausdruck eines medizinischen („klinischen“) Programmes zu betrachten. Die in der neutestamentlichen Jesusforschung nach wie vor betonte Bias (s. u. Pkt. 4.) bleibt nämlich an diesem Punkt unbefriedigend. Medizinsoziologisch betrachtet gilt demgegenüber: Wenn eine „Gesellschaft“ davon überzeugt ist, dass Abweichungen vom Zustand des „Gesunden“ religiös zu erklären sind, z. B. als Abweichung von „Reinheit“, bzw. wenn sie Krankheiten dämonologisch deutet und sie auf „widergöttliche“, schädliche Kräfte und „Geister“ zurückführt und ihre Überwindung nur als Distanzierung von solchen Kräften konzeptualisieren kann, dann ist ihr Gesundheitssystem in dieser Hinsicht nicht minder als „medizinisch“ zu qualifizieren; das dämonologische Deutungssystem erscheint so als eine besondere Ausdrucksform des „making medicine“. In einem entsprechenden methodischen Rahmen lassen sich Übergangs- und Verschränkungsphänomene in den frühchristlichen Texten besser verstehen und beschreiben. Einige Beispiele: Im Markusevangelium sind der Exorzismus in Mk 1,21–28 und die folgende Therapie der Schwiegermutter des Petrus (1,29–31) im Rahmen des programmatischen ersten Kapitels eng aufeinander bezogen; trotz der terminologischen Unterscheidung beider Aktivitätsbereiche (1,32–34) bleiben Heilungen und Exorzismen auch sonst im zweiten Evangelium eng korreliert; Mk 9,14–29 aktiviert z. B. Elemente einer medizinischen Krankheitsätiologie, die Heilung erfolgt dann durch einen Exorzismus. Weitere Texte vollziehen enge Korrelationen. In Mt 4,24 wird z. B. die dämonische Besessenheit den κακῶς ἔχοντες subsumiert; parallel steht beides auch in Lk 8,2, und auffällig ist die diesbezügliche Korrespondenz von Lk 10,9 (Auftrag zur Krankenheilung an die ausgesandten Jünger) und 10,17 (Bericht der Zurückgekehrten über die Subordination der Dämonen). Der synoptische Vergleich narrativer Stoffe bestätigt, dass therapeutische und exorzistische Sinnpotentiale ineinander übergehen können. So wird z. B. in Mk 1,31 die Heilung der kranken Schwiegermutter des Petrus in die Notiz gefasst, dass sie das Fieber „verlässt“ (Mk 1,31: ἀφῆκεν αὐτὴν ὁ πυρετός par; auch Joh 4,52). Sprachlich steht diese Notiz durchaus in Einklang mit einer bildlichen Redeweise, wie sie sich in griechischen medizinischen Texten jenseits einer dämonologischen Krankheitsdeutung findet
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115
(vgl. CH Epid. V 1.20: πυρετὸς […] οὐκ ἀφῆκε; VII 1.51: καὶ ἡ Πολεμάρχου θέρεος ἤρξατο πυρεταίνειν: ἀφῆκε δὲ αὐτὴν ἑκταίην; CH Progn. 17.2: πρῶτον μὲν ὁ πυρετὸς οὐκ ἀφίησιν; CH VC 20.10: ὃ τε πυρετὸς ἀφίησι; CH Judic. 11.4: ἀφίῃ ὁ πυρετός); die personale Konzeptualisierung der fiebrigen Erkrankung ermöglicht jedoch auch eine dämonologische Auffassung, wie sie möglicherweise bereits in der lukanischen Version der Geschichte anklingt (vgl. Lk 4,39). Schließlich können auch Texte der Logientradition ein entsprechendes „blending“ voraussetzen. Q 11,24–26 reflektiert z. B. in Fortführung von Q 11,20ff. Erscheinungen eines „Rückfalls“ in einer dämonologisch-personalen Inszenierung; diese Inszenierung aktiviert zugleich „medizinische“ Konnotationen; im Hintergrund stehen möglicherweise konkrete Erfahrungen mit tollwütigen Hunden. Das Merkmal der Hydrophobie ist nicht allein in medizinisch-fachwissenschaftlichen Texten mit dem Krankheitsbild „Tollwut“ assoziiert.47 Medizinsoziologische Analysen der Phänomene eines Dämonismus führen hier über die formgeschichtliche Textanalyse hinaus, welche entsprechende Konvergenzen und Überblendungsmöglichkeiten kaum darzustellen vermag. b) Oben war festgestellt worden (Pkt. 1.), dass die in hippokratischer Tradition stehende und vor allem über das Galenische System jahrhundertelang bis ins frühe 19. Jahrhundert einflussreiche griechisch-römische Medizin mit ihrem physiologischen Ausgangspunkt im Ansatz pathogenetisch orientiert ist. Krankheit wird verstanden als Folge und Ausdruck pathologischer Differenzen in der körperlichen Struktur und Funktion. Demgegenüber lassen sich die frühchristlichen Texte als Ausdruck eines salutogenetischen medizinalen Konzeptes verstehen.48 Die Texte richten sich nicht an der Frage aus, welche schädigenden Stoffe (s. o. zum Konzept der materia peccans) oder (metaphorisch) „Erreger“ Menschen krank machen; sondern sie konzeptualisieren kranke Menschen unter der Zielperspektive dessen, was sie „ganz“, „heil“ und „gesund“ zu machen vermag und orientieren sich auf die Annäherung der entsprechenden göttlichen Heilaktivität. Innerhalb des Horizontes medizinsoziologischer Fragestellungen sind entsprechende Ansätze einer theurgisch-salutogenetischen Heilkunst im Vergleich zu hippokratischen oder neuzeitlichprofessionellen Anstößen nicht minder als „medizinisch“ zu qualifizieren. 47
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„Tollwut“ wird in griechisch-römischen (medizinischen) wie auch in frühjüdischen Texten mit Hydrophobie konnotiert; vgl. ONUKI, Tollwut, 358–374; vgl. WINKLE, Geisseln, 902–941, 1435–1445. Siehe zur Verwendung dieses von A. ANTONOWSKY in die medizinsoziologische Diskussion eingebrachten terminus V. BENDEMANN, Christus, 127f. (siehe in diesem Band 64). Zum folgenden Abschnitt vgl. auch die kulturanthropologisch-hermeneutischen Erwägungen zum „symbolic healing“ bei PILCH, Healing, 32–35.
116
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin Bietet die Frage nach physiologischen Prämissen und Implikationen nicht den primären Ausgangspunkt frühchristlicher Heilungserzählungen, so wird mit dem salutogenetischen Ansatz der Weg frei für eine stärkere Realisierung sozialer und religiöser Faktoren, soweit sie „Krankheiten“ und „Heilung“ determinieren. An diesem Punkt sind nicht allein, wie dies häufig die Forschungsperspektive bestimmt hat, Vermessungen der frühchristlichen Texte von einer (als überlegen begriffenen) „rationalen“ Medizin her vorzunehmen, sondern umgekehrt kann von frühjüdischen und frühchristlichen Dokumenten her auch nach Grenzen einer in einseitiger Weise exklusiv der hippokratisch-galenischen Tradition verpflichteten Medizinhistorie gefragt werden, wie sie westliche Kulturen über Jahrhunderte bestimmt und geprägt hat. Die Abschattierung religiös-mythologischer Sprachformen und entsprechender ritueller Praktiken auch in Gestalten der modern-neuzeitlichen Medizin wäre dann nicht nur als Gewinn (dieser ist dabei unbestritten), sondern gegebenenfalls auch als möglicher Beschreibungs, Deutungs- und Behandlungsverlust im Umgang mit vieldimensional kodierten Leiden anzusprechen. Ohne dass in Quellen der griechisch-römischen Medizin soziale und emotiv-psychische Faktoren einfach ausgeblendet wären, erfolgt der Zugang zu entsprechenden Erscheinungen im Grundansatz auch hier physiologisch. Die „Seele“ des Menschen gilt, bei allen Differenzen der Konzeptualisierung im Einzelnen, als stofflich konstituiert und wird in „Organen“ resp. partes des menschlichen Körpers lokalisiert (vgl. CH De diaeta 1,25 [ἡ δὲ ψυχὴ τοῦ ἀνθρώπου, ὥσπερ μοι καὶ προείρηται, σύγκρησιν ἔχουσα πυρὸς καὶ ὕδατος]. 35f.; 4,86f. u. a.). „Psychische“ Faktoren gelten damit als stofflich dirigierbar. Demgegenüber können narrative Inszenierungen, wie sie in den frühchristlichen Erzählungen der Therapien Jesu vorliegen, gegebenenfalls stärker die Frage fokussieren, inwiefern sozioreligiöse Bedingungen zur Krankheit von Menschen führen. Frühchristliche Erzählungen wie etwa die Berichte von der (bestrittenen) Heiltätigkeit am Sabbat evozieren die Frage, wie sich Grade der „Legitimität“ von Krankheit bilden und definieren, welche Verpflichtungen aus Leiden für Menschen folgen und wie Krankheiten im sozialen und religiösen „feedback“ Bilder des Selbst prägen und bestimmen. Setzen auch medizinische Texte eine Korrespondenz von Krankem und kosmischer Welt voraus, dies eben vermittelt über den physiologischen Grundansatz, so ist in frühchristlichen Erzählungen stärker die Bewertungsebene akzentuiert, die nicht allein das „Gesundheitssystem“ betrifft, sondern Kranke und Geheilte in ein übergeordnetes religiöses Welt- und Zeitverständnis einschreibt. Aus dem Radius der Heilpraxis Jesu wären hier z. B. diejenigen Texte zu diskutieren, in denen das Label der Unreinheit bzw. des „Aussatzes“ (vgl. Mk 1,40–45 par; Lk 7,18–23 par; 17,11–19) zum Tragen kommt. Diese Texte
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
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setzen sich mit der Generierung von sozialen und religiösen Rollen auseinander, durch die Krankheit definiert wird, thematisieren entsprechendes Leiden und seine offensive Überwindung. Die Haut erscheint in diesen Texten nicht allein als „Organ“, sondern als Projektionsschirm sozialer und religiöser Spannungsverhältnisse, die den Menschen grundlegend in seinen Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten bestimmen. Heilung der Haut bedeutet nicht lediglich, partielle Abweichungen und Schädigungen eines Körperteils zu korrigieren, sondern den Menschen insgesamt in einer Welt und vor Gott zu reintegrieren.49 Anhand der Erzählungen verschiedener Leiden und ihrer Heilung in der Evangelienliteratur wäre ein entsprechendes „mehr“ der salutogenetischen Konzeptualisierung im Einzelnen herauszuarbeiten. Leserinnen und Leser werden z. B. in der Begegnung mit Texten wie Mk 8,22–26 oder 10,46–52 par in einen Erzählprozess hineingezogen, in welchem deutlich werden kann: „Sehen“ und Wiederherstellung von „Sehfähigkeit“ transzendiert Vorgänge optischer Visualisierung. Vielmehr geht es zugleich um ein „Wahrnehmen“, „Durchdringen“, „Erkennen“ und „Begreifen“, welches in der Begegnung mit dem Heiltäter Einsicht in die eigene Situation erschließt und in einem stufenhaften Prozess auch Leidenserfahrungen zu integrieren vermag.50 Erzählungen wie Mk 2,1–12 par, 3,1–6 oder Lk 13,10–17 (vgl. den χολός in Joh 5,2–9b) spiegeln, dass Erscheinungen körperlicher Bewegungsunfähigkeit nicht allein mit physiologischen Störungen, mit der Anordnung von Skelettelementen, Sehnen und Bändern oder auch extraordinären physiologischen Dysfunktionen wie der Apoplexie51 zusammenhängen, sondern vielmehr zugleich sozioreligiös kodiert sein können. Heilung kann so als Befreiung von einer „Fessel“ interpretiert werden, die nicht in der Natur gründet oder nicht contra naturam definiert ist, sondern metaphorisch als „satanisch“ anzusprechen ist.52 Wassersucht erscheint in Lk 14,1–6 nicht nur als ein physiologisches „Bild“, sondern zugleich als ein körperliches Integral sozialer und religiöser Diskriminierungserfahrungen; Krankheit wird zum Ausdruck ethisch-reli-
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Vgl. zum medizinischen Verständnis, zur Begriffsproblematik und zur Abgrenzung von λέπρα und Hansenscher Krankheit („Lepra“) HELM, Art. Hautkrankheiten, 382f.; WOHLERS, Aussätzige, 294–304. Zum Verständnis der Aussatzheilungen Jesu: HOLMÉN, Purity, 199–229. Vgl. V. BENDEMANN, Sehen, 341–349. Vgl. aus dem Bereich der Logientradition Q 6,41f.; 10,23; 11,34f. Siehe hierzu KARENBERG, Art. Apoplexie, 72. Der Begriff παράλυσις kann in medizinischen Texten sowohl die vollständige als auch die teilweise Lähmung meinen (vgl. Cels. med. III 27). Siehe die medizinische (CH Art. 45, Galen u. a.), sozialgeschichtliche und theologische Aspekte gelungen vereinende Auslegung von Lk 13,10–17 durch HUEBENTHAL, Hexenschuss, 615–626. Vgl. NEUMANN, Art. Missbildung, 926–963; zur religiösen Wertigkeit von Lahmheitsphänomenen: MICHLER, Krüppelleiden, 308–311.
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin giöser Fehlorientierung, ihre Überwindung erscheint als grundlegende Wiederherstellung von Gemeinschaftsfähigkeit.53 Insgesamt gilt: Zu lange sind medizinische Bezüge im Gefolge der formgeschichtlichen Erforschung der Exorzismus- und Therapieerzählungen sowie einer essentialistischen Fixierung auf die griechisch-römische Medizin negiert worden. Indem die hippokratische Medizin aus der Perspektive der westlichen Medizinhistorie als normativer und weithin unhinterfragter Ausgangspunkt der Beschreibung genommen wurde, mussten „Wundertaten“ und „medizinische Praxis“, wie sie in den frühchristlichen Texten erinnert sind, als strikte und einander exkludierende Alternativen begriffen werden.54 Demgegenüber zeigt sich, dass Traditionen der Heilpraxis Jesu insgesamt ein medizinischer Sinn zuzuschreiben ist, der das Feld physiologischer Konstruktionen von Heilung und Krankheit transzendiert. Am Ende stellt sich die Frage, inwieweit sich ein solcher geänderter Betrachtungsmodus nicht allein auf Texte und ggf. „hinter ihnen“ stehende Trägerkreise und ihre „Kulturen“ beziehen lässt, sondern vielmehr auch einen historischen Beschreibungsgewinn erbringt, fragt man prosopographisch nach dem „historischen Jesus“ und seiner besonderen Heilpraxis. Abschließend sollen hierzu nur einige Problemanzeigen formuliert und Forschungsdesiderate als solche benannt werden.
4.
Jesus medicus? Zu Grundproblemen der historischen Konstruktion der heilenden Praxis Jesu
Bei allen deutlichen Fortschritten, die in der Erforschung historischer Horizonte der Verkündigung und Praxis Jesu in den letzten Jahrzehnten erzielt worden sind,55 müssen nach wie vor viele Probleme als nicht konsensfähig gelöst gelten. Dies betrifft nicht nur Detailfragen, sondern insgesamt die Logiken und Proportionen einer möglichen Gesamtdarstellung, und dies insbesondere im Blick auf die Abbildung der therapeutischen Aktivität Jesu.
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Siehe zu Lk 14,1–6 V. BENDEMANN, Krankheit, 168–182 (siehe in diesem Band 67–90). Vgl. mit Recht DORMEYER, Weltbild, 71, zur bisherigen Forschung (insbesondere in Auseinandersetzung mit G. THEIßEN): „[…] zu sehr an den rationalistischen Vorbehalten der bisherigen Medizinhistorie orientiert. Die ärztliche Kunst mit Institution und Charisma fehlt völlig […]“. Anstelle einer umfänglichen Bibliographie sei hier verwiesen auf: HOLMÉN/PORTER (Hg.), Handbook.
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
4.1.
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Ratlos vor der Heiltätigkeit Jesu?
In jüngsten Forschungsbeiträgen zum „historischen Jesus“ ist immer noch eine beträchtliche Unsicherheit in der Systematisierung der Relationen von wundertätiger Performativität, Lehre und Reflexionen auf diese zu beobachten. Insgesamt werden nach wie vor große Vorbehalte erkennbar, der Heilpraxis Jesu einen grundlegenden Stellenwert zuzuschreiben. Dabei kann die Annahme einer überlieferungsgeschichtlich größeren Stabilität der Logienüberlieferung im Vergleich zu narrativen Rahmennotizen und weiteren Erzählstoffen heute, insbesondere auf der Basis der Forschungen zur Erinnerungskultur, kaum mehr aufrechterhalten werden.56 Als brüchig erweist sich auch das Postulat, dass das Spruchevangelium Q mit seiner dominanten Akzentuierung der Logientradition eo ipso näher an den „historischen Jesus“ heranführen würde als z. B. die erzählerischen Traditionen des zweiten Evangeliums.57 Und insbesondere in Hinsicht auf den Umgang mit den Erzähltraditionen des heilenden Jesus könnten falsche Alternativen zwischen dem „Lehrer“ Jesus und seinen δυνάμεις als überwunden gelten.58 Umso mehr überrascht, dass mit der in sich so vielfältigen und im Blick auf die Einzelepisoden variantenreichen und nicht „ausrechenbaren“ Erzählüberlieferung der therapeutischen Aktivität in Gesamtentwürfen zum „historischen Jesus“ nach wie vor äußerst summarisch umgegangen wird. Die religionshistorische Fragestellung nach einer besonderen Gestalt der „Medizin“ Jesu kann so aber kaum eröffnet werden.59 Auf der Grundlage nicht nur der breiten Erzählüberlieferung, sondern auch einiger generell als „alt“ resp. „authentisch“ evaluierter Logien ist demgegenüber festzuhalten: Dass der Gott Israels seine königliche Macht in der Gegenwart mächtig durchsetzt, erscheint nicht ablösbar von den in den Texten reflektierten Heilungserfahrungen und damit vom medizinischen (s. o. Pkt. 3.) Handeln 56
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Mit guten Gründen SCHRÖTER, Jesus, 52f. Die ältere Auffassung wird dagegen vielfach noch wiederholt (vgl. SCHENKE, Jesus, 148, 151f., 155). Zum Problemkreis (auswahlweise): TUCKETT, Jesus, 213–241 (mit weiterer Literatur). Q setzt die therapeutische Praxis Jesu voraus (auf der Ebene der Endredaktion hat Q 7,1–10 Prologfunktion; vgl. Q 7,22; 11,14ff.). Hierzu ist vor allem auf die einschlägigen Arbeiten G. THEIßENS zu verweisen. Lediglich einige wenige Beispiele: Vgl. DUNN, Jesus: In einer weit über 800seitigen Gesamtdarstellung wird in § 15,7 der „Doer of Extraordinary Deeds“ auf noch nicht einmal 30 Seiten thematisiert (wobei weitere Referenzen zur Heiltätigkeit natürlich auch sonst gelegentlich zu finden sind); der gut 350 Seiten umfassende Band von SCHENKE u. a. (Hg.), Jesus, bietet (von L. SCHENKE verfasst) knapp 20 Seiten zu „Jesus als Wundertäter“ (u. a. mit der irritierenden Auskunft, Markus habe den „Taten Jesu als Fakten keine große Wirkung“ zugeschrieben; a. a. O., 153); im mehr als 400 Seiten umfassenden, sozialgeschichtlich orientierten Überblickswerk „Jesus und seine Zeit“ von W. STEGEMANN ist sub voce βασιλεία ein lediglich sechs Seiten umfassender Passus zu den „Wundertaten als ,Inkarnation‘ der Königsherrschaft Gottes“ zu verifizieren (a. a. O., 348–353).
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
Jesu. Dämonenbannungen und Heilungen Jesu begründen, dokumentieren und erhellen zusammen und im Verbund, was mit der Ansage der Nähe der Königsherrschaft Gottes impliziert ist. Ihnen kommt nicht lediglich eine illuminierende, sondern eine sachlogisch grundlegende Funktion zu. In Lk 11,20 par (Q) thematisiert und reflektiert Jesus seine eigene Praxis in einer instrumentalen Funktion im Blick auf die Nähe der Königsherrschaft Gottes; sachlogisch reflektiert hier der Verkündigungsinhalt die vorausgehende Bedingung (εἰ – ἄρα): nämlich das Zurückweichen der Dämonen durch die vollmächtige Praxis Jesu. Der dämonenbannenden Praxis kommt damit ein Primat im Verhältnis zur Ansage der Nähe der βασιλεία zu. Entsprechend ist in der Bevollmächtigung der Jünger durch Jesus in Lk (Q) 10,9 (wahrscheinlich primär gegenüber der umgekehrten Abfolge in Mt 10,7f.) der Auftrag zur Krankenheilung (bei Mt ergeht zusätzlich der Impuls zum Hinauswerfen der Dämonen; Mt 10,8 gleicht mit dem Element der Aussätzigenreinigung zudem an Mt 11,5 par an) dem Verkündigungsauftrag des Nahegekommenseins der Königsherrschaft Gottes vorgeordnet. Auch Lk 10,13 par setzt nicht von den ergangenen Worten, sondern vielmehr von den δυνάμεις αἱ γενόμεναι ἐν ὑμῖν her an.60 Generell verdienten die individuellen Therapieerzählungen in „historischer“ Hinsicht eine viel größere Aufmerksamkeit und Wertschätzung; sie sind eben nicht auf ein einheitliches „Schema“ zu reduzieren, vielmehr in sich äußerst vielfältig; sie verhalten sich z. T. auch als lectiones difficiliores deutlich sperrig gegenüber allen einfachen Analogisierungs- und Herleitungsversuchen sowohl in Hinsicht auf Gestalten des antiken Judentums als auch im Blick auf die spätere christliche Mission und „Propaganda“.
4.2.
Zur Problematik von „Ableitbarkeit“ und „Einbettung“
Am Ende stellt sich vor allem die Frage nach medikalen Kulturen innerhalb des zeitgenössischen antiken Judentums. Nur wenn diese beantwortet werden kann, ergeben die klassischen Kriterienfragen der Jesusforschung in dieser Richtung 60
Ein entsprechender Begründungszusammenhang, der nicht von den inhaltlichen Gehalten der Verkündigung Jesu, sondern vielmehr von der Heilaktivität her seine Perspektive gewinnt, findet sich auch in frühen paganen – kritischen – Reaktionen auf den, an den die Christen glauben. Nach Kelsos sind die Christen solche, die leichtfertig glaubten, Jesus sei ein Sohn Gottes, „weil er Lahme und Blinde geheilt […] und Tote auferweckt“ habe (Orig. c. Cels. II 48). Vgl. auch Julian in Gal. Frg. 41 (136, 8–11). Vgl. zu diesen Texten und Traditionen des Magievorwurfes gegen die Christen GEMEINHARDT, Magier, 467–492. Die Frage, warum in einigen apokryphen Jesusgeschichten im Blick auf Heilungswunder eine weitgehende Fehlanzeige zu verzeichnen ist (vgl. u. a. das Thomasevangelium, das Mariaevangelium, die Sophia Jesu Christi und das Apokryphon des Johannes), kann hier nicht diskutiert werden; Gründe sind zunächst in der jeweiligen Konzeption der Texte selbst zu suchen.
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
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(„Kohärenzen“/„Konvergenzen“/„Differenzen“ / „historische Plausibilitäten“) überhaupt Sinn und haben einen methodisch stabilen Boden unter den Füßen. Zu fragen ist nach dem oben (s. Pkt. 3.) skizzierten Ansatz, ob sich frühjüdische Texte derart befragen lassen, dass sie Aufschluss über Gruppen/Milieus geben können, die an medikalen Kulturen partizipieren bzw. solche eigenständig repräsentieren. Man stößt mit entsprechenden Fragen auf etliche Grundschwierigkeiten. Es ist nämlich insgesamt durchaus fraglich, ob sich „das“ antike Judentum in der Weise und in einer solchen medizinhistorischen Betrachtungsweise als ein eigenes Feld konstruieren lässt und wie hierbei ethnische, soziokulturelle und religiöse Grenzen zu ziehen sind. Ein vergleichbar kohärentes Bild, wie es sich für die griechisch-römische Medizin mindestens in Ansätzen zeichnen lässt (s. o. Pkt. 1.), ist nicht zu gewinnen. Zunächst kann man sich das Feld nicht allein von der in der Forschung so oft beanspruchten These eines „Heilungsmonopols“ des Gottes Israels her öffnen. Methodisch wäre vielmehr von einer Vielfalt von Feldern auszugehen, auf denen nach medikalen Kulturen und Entwicklungen des Medizinischen zu fragen wäre. Zu fragen wäre dann in einem zweiten Schritt, inwiefern, in welcher Weise und mit welchen Intentionen Texte wie Ex 15,26, Philo Leg. All. III 178 u. a. bewusst theologische Demarkationslinien zu bestimmen suchen. Sodann wäre im Einzelnen zu beschreiben, wie und in welchem Umfang es in Kreisen des hellenistischen Judentums auch zu einer Berührung und Infiltration mit griechischen medizinalen Vorstellungen kommen konnte. Niederschläge entsprechender Berührungen61 finden sich möglicherweise schon in einzelnen Termini und Vorstellungen der Septuaginta; sie begegnen im Tobitbuch und im Sirachbuch, darüber hinaus wahrscheinlich auch in Einzelaussagen der Testamente der zwölf Patriarchen. Philo und Josephus kennen griechisch geschulte Ärzte und sind mit Begriffen und Anschauungen der griechisch-römischen Medizin, nicht zuletzt vermittelt durch philosophische Traditionen, vertraut. In den halachischen Diskussionen der rabbinischen Literatur begegnen Anweisungen, die auf Kontakte mit griechisch-römischer Pharmakologie und Diätetik schließen lassen, z. T. auch Lehnwörter, die ausdrücklich in den Bereich der hippokratischen Medizin verweisen können. Umgekehrt können jüdische Gestalten und medikale Anweisungen auch von griechischen und römischen Autoren im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. erwähnt werden.62 Darüber hinaus stellt sich die Frage nach eigenständigen Ansätzen von „Gesundheitssystemen“ und Medizinischem in frühjüdischen Kreisen (die ihrerseits
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Vgl. zu den folgenden Punkten V. BENDEMANN, Körperkonzeptionen, 157–191 (siehe in diesem Band 323–352). Die Gesamtdarstellung von PREUSS, Medizin, brauchte dringend einen Nachfolger auf dem neuesten Forschungsstand; vgl. ROSNER, Encyclopedia; DERS., Medicine.
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
durch weitere kulturelle Einflüsse, etwa orientalische Impulse, bestimmt sein können). Hier steht grundlegend der Komplex des Dämonismus als Ausdruck eines medizinischen Deutungssystems zur Disposition (s. o. Pkt 3.).63 Es stellt sich die Frage, inwieweit er verschiedenen medikalen Kulturen auch innerhalb des frühen Judentums zuzuordnen ist und welche Funktionen dämonologischen Deutungen von Leiden und Konzeptualisierungen von Heilung als Bannung von Dämonen hier zukommen. Die Zielstellung muss lauten, dämonologische Krankheitsdeutungen nicht nur in ihrer traditionsgeschichtlichen Provenienz und Reichweite, sondern vielmehr auch in ihrer sozio-religiösen Funktionalität präziser zu bestimmen und auf den Horizont des Medizinischen zu beziehen. Die Rückführung entsprechender Traditionen auf ein mehr oder minder allgemein orientalisches oder frühjüdisches „Denken“ bleibt unbefriedigend. Ziel der historischen Rekonstruktion der Praxis Jesu in einem antik-jüdisch medikalen Horizont muss damit sein, Dämonenbannungen und „Heilung“ als Ausdruck medizinischer Konzepte abzubilden, die gegebenenfalls in unterschiedlichen „Sektoren“ eines Gesundheitssystems (vgl. Pkt. 3.) divergente Funktionen gewinnen. In enger Korrelation hierzu ist der Phänomenkomplex der Unterscheidung von „Reinem“ und „Unreinem“ in seiner medizinischen Bedeutung innerhalb einzelner Gruppen und Trägerkreise resp. „Kulturen“ des frühen Judentums zu beleuchten. In diesem Zusammenhang sind auch Konzeptionen des Priestertums zu untersuchen; gilt der Priester im zeitgenössischen Judentum zwar nicht als „Arzt“, so übernimmt er aber doch innerhalb eines besonderen „Gesundheitssystems“ Wächter-Funktionen, die als medizinisch anzusprechen sind (vgl. Lev 12–15). Die älteste Jesustradition ist hiervon nicht gänzlich unaffiziert (vgl. Mk 1,44 par; Lk 17,11–19), auch wenn deutlich kritische Impulse in Hinsicht auf zeitgenössische Reinheitskonzepte in Rechnung zu bringen sind (vgl. Mk 7,15; Lk 11,39f. par). Ein eigenes Feld der Erforschung einer antikjüdisch-medikalen Kultur bieten die Qumran-Essener; Texte aus dem Jachad zeigen, dass hier über dämonologische Deutungen hinaus insbesondere pharmakologische Konzepte eine zentrale Rolle spielen; dass die Medizin der „Essener“ intentional-soziale Dimensionen besitzt, weiß auch Philo, der vom eigenen Krankenversorgungssystem der Gruppe schreibt (vgl. Philo Prob. 87).64 Von hier aus eröffnen sich weitere Themenfelder wie das der medizinischen Bedeutung von Gebets- oder Fastenriten in frühjüdischen Kreisen, dies wiederum bezogen auf eine Unterscheidung medikaler Kulturbereiche.
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Siehe hierzu pars pro toto BECKER, Wunder, 76–84, 141–183; POPLUTZ, Dämonen, 94–107. Vgl. als Ausgangspunkt für die Frage nach Magie und Medizin bei den Essenern KOLLMANN, Christen, 127–137, der von einer „ausgeprägte[n] Volksmedizin“ spricht (a. a. O., 137).
Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
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Eine eigenständige methodische Frage bietet die der Bindung medikaler Kulturen an geopolitische „Räume“.65 In der Jesusforschung richtet sich die Fragestellung auf Galiläa als „Raum“. Dabei bleibt weiterhin sehr unsicher, inwiefern Jesus in seiner Praxis in irgendeiner Hinsicht als ein repräsentativer Galiläer aufzufassen ist, was nicht zuletzt durch die kulturelle Vielfalt des angesprochenen Raumes bedingt ist.66 Insbesondere die These eines breiteren galiläischen Wundercharismatikertums, welches vor allem von der Figur des Chanina ben Dosa her postuliert wurde, ist problematisch; ausweislich der älteren Traditionen sind zudem die Schnittmengen in der Jesus und Chanina zugeschriebenen medizinischen Aktivität vergleichsweise gering. Krankenheilungen beschreiben nach der Überlieferung nicht die Domäne der Aktivität Chaninas; von den von Chanina in verschiedenen Fassungen berichteten Wundern ist in erster Linie die Geschichte von der Heilung des kranken Sohnes des Gamaliel der Jesusüberlieferung zu vergleichen (bBer 34b; yBer 5:5 [9d]; vgl. Lk 7,1–10 par; vgl. Joh 4,46b–53).67 Im Blick auf weitere religiöse Praktiker resp. „Charismatiker“ im frühen Judentum sowie die Frage nach der besonderen Praxis Jesu und damit auf Texte wie z. B. Mk 7,31–37 (s. o. Pkt. 3.), die in ihrer speziellen Syntagmatik des medizinischen Handelns kaum „ableitbar“ erscheinen, ist der von Kleinman angesprochene „folk sector“ in die Analyse einzubeziehen. In jüngeren Forschungsarbeiten ist auf diesem Feld das Interesse an der antikjüdischen „Magie“ neu erwacht.68 Vor diesem Hintergrund stellt sich bei zahlreichen Einzeltexten die Frage, inwieweit die Heiltätigkeit Jesu insgesamt einer medicina magica zuzuweisen ist.69 Die stärkere Zusammenführung der Forschungen zur antik-jüdischen Magie mit denen zur Lehre resp. βασιλεία-Verkündigung Jesu beschreibt ein gegenwärtiges Forschungsdesiderat. Allerdings bleibt der Magie-Begriff quellsprachlich uneindeutig bzw. belastet (im Sinn der Disqualifikation der „Religion der anderen“), und auch for-
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Siehe hierzu ESCHENBRUCH u. a. (Hg.), Räume. Vgl. kritisch zu galiläischen Alleinstellungspostulaten ZANGENBERG, Jesus, 7–38. Vgl. VERMES, Jesus, 55–64. Zur Auseinandersetzung hiermit: BECKER, Wunder, 337–378 (a. a. O., 343f. die Übersicht der Chanina-Traditionen); dieser begreift Chanina neben Honi als „Solitär“ und zeigt insgesamt, dass Wundertäter und die Thematik der Heilung in frührabbinischen Texten im Unterschied zu späteren Texten des Yerushalmi und des Bavli selten zu finden sind (a. a. O., 45, 385). Vgl. zur jüngsten Konjunktur der Erforschung jüdischer Magie BOHAK, Magic; VELTRI, Magie; vgl. SCHMITT, Magie; zu Phänomenen des „Magischen“ im ältesten Christentum: AUNE, Magic, 385–401; zu Jesus; BUSCH, Magie; HOLTMANN, Magier. Grundlegend: HORSTMANSHOFF/ STOL (Hg.), Magic. In dieser Richtung KOLLMANN, Magic, 3057–3085; DERS., Wunder, 124–139; AUNE, Magic, hält es dagegen in soziologischer Hinsicht für problematisch, Jesus als Magier zu klassifizieren (a. a. O., 401).
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Die Heilungen Jesu und die antike Medizin
schungsgeschichtlich unterliegt er beträchtlichen Anfragen und Mehrdeutigkeiten.70 Unter diesen Vorzeichen einer Pluralität medikaler Kulturen im antiken Judentum wären insgesamt die oben (s. Pkt. 2.) dargestellten möglichen Konvergenzen zwischen frühchristlichen und medizinischen Zeugnissen gegebenenfalls noch einmal neu und anders zu bewerten; an Stellen wie Mk 5,26 kommen z. B. auch jüdische Ärzte in Betracht, oder Praktiken wie die der Handauflegung wären im Sinne einer jüdischen medicina magica auszulegen. Insgesamt sind Konzepte von „Abstand“ und „Identität“ in Hinsicht auf Medizinisches grundlegend zu überdenken. Von hier aus wäre auch das tertium genus medicinae, wie es in den eingangs zitierten „Taten des Petrus und der zwölf Apostel“ avisiert ist, noch einmal anders zu interpretieren und zu werten; man begegnet dem Heiler Jesus in den Quellen immer schon in den rezeptiven Gestalten und Brechungen verschiedener medikaler Kulturen.
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Zum „Magie“-Begriff vgl. pars pro toto mit Forschungsgeschichtlichem und weiterer Literatur FRENSCHKOWSKI, Art. Magie, 858–876. Der Begriff bleibt aufgrund seiner forschungsgeschichtlichen Verwendung aber auch in Folge seiner sehr differenten Zuordnung in den Quellen schwierig. Nach Plin. nat. XXX 1f. ist die „Magie“ durch die Synthese dreier artes entstanden, nämlich der Medizin, der Religion und der Astrologie („[…] natam primum e medicina nemo dubitabit ac specie salutari inrepsisse velut altiorem sanctioremque medicinam […]“).
Heilige Krankheit? Epilepsie im Spannungsfeld physiologischsozialer und religiöser Deutungen im Neuen Testament und im rabbinischen Judentum 1.
„Das ist eine alte Krankheit […]“
Seit ältester Zeit hat die Krankheit, die im Griechischen mit dem Begriff ἐπιληψία als „Ergriffenwerden“/„Anfall“ bezeichnet wird, die Menschen beunruhigt, dabei zugleich auch eine erhebliche Faszination auf sie ausgeübt. Epilepsie wird seit Heraklit (frgm. 46) die „heilige Krankheit“ genannt (vgl. Corpus Hippocraticum [= CH] De morbo sacro I 1.9.11.55 u. a.; Hdt. III 33,4.6. [zugleich: νοῦσος μεγάλη] von Kambyses; Plat. Tim. 85A–B; Aret. III 4,4 u. v. a. m.), man bezeichnet sie weiter als „großes Leiden“/„grand mal“ (Cels. med. III 23: „comitialis vel maior“ u. a.), „Mondsucht“ (Vettius Valens II 41,31: σεληνιασμός), „Komitialkrankheit“ (in antik-römischen Quellen; vgl. Cels. med. III 23,1; Tac. Ann. 13,16; Suet. Caes. XLV 1.5; Cal. 2; Nero XXX 3.6.; Apul. mag. 50,2.9.18.23; Scribonius Largus ind. 13; comp. 6,4 u. a.), „Fallsucht“ („caducus“: Apul. mag. 45,2.5; „passio caduca“: Isid. Etym. IV 7,5 u. a.), „morbus detestabilis“ (Apul. met. IX 39) und „St. Johannes-Krankheit“.1 Schon frühe Quellen bringen sie in enge Verbindung mit Genialität und prophetischer Begabung, weshalb sie später auch als „divinatio“ angesprochen wurde. Epilepsie gilt in der antiken Medizin als ein besonders schweres Leiden. Schon im Corpus Hippocraticum ist ihr Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein eigener Traktat gewidmet: „Über die heilige Krankheit“ („De morbo sacro“). Über die Medizin hinaus spielt Epilepsie vielfach eine wichtige Rolle in antiker erzählender Literatur und vor allem auch in der Philosophie. Glaubt man Aristoteles, so sollen schon Herakles, Sokrates und Platon von epileptiformem Leiden befallen gewesen sein. Plutarch hat in seinen Parallelviten den „morbus comitialis“ zu einem festen Bestandteil seines Caesar-Bildes gemacht. Das Ringen mit der Krank* 1
Ursprünglich erschienen in: M. ROTH/J. SCHMIDT (Hg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte (Theologie – Kultur – Hermeneutik 10), Leipzig 2008, 11–44. Vgl. die Auflistung der antiken Termini für „Epilepsie“ bei TEMKIN, Sickness, 3–80; WOHLERS, Krankheit, 19f.; zum Syntagma „heilige Krankheit“: a. a. O., 122–126.
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Heilige Krankheit?
heit wird hier als tragendes Element der Charakterkonstruktion (sowie der Synkrisis mit dem an Fieber gestorbenen Alexander) ausgestaltet.2 In die Reihe berühmter epilepsiekranker Menschen werden in der Literatur unter anderem Kassandra, Bileam, König Saul, Alexander der Große, Caligula, der Apostel Paulus, Petrarca, Molière, Kardinal Richelieu, Kaiser Karl V., Gustave Flaubert, Georg-Friedrich Händel, Jonathan Swift, Peter der Große, Lord Byron, Vincent van Gogh und Fjodor Michailowitsch Dostojewskij gestellt.3 2
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Vgl. Plut. Caes. XVII 1–3: ἔπτειτα τῷ πάντα μὲν κίνδυνον ἑκὼν ὑφίστασθαι, πρὸς μηδένα δὲ τῶν πόνων ἀπαγορεύειν. τὸ μὲν οὖν φιλοκίνδυνον οὐκ ἐθαύμαζον αὐτοῦ διὰ τήν φιλοτιμίαν· ἡ δὲ τῶν πόνων ὑπομονή παρὰ τὴν τοῦ σώματος δύναμιν ἐγκαρτερεῖν δοκοῦντος ἐξέπληττεν, ὅτι καὶ τὴν ἕξιν ὢν ἰσχνός, καὶ τὴν σάρκα λευκὸς καὶ ἁπαλὸς, καὶ τὴν κεφαλὴν νοσώδης, καὶ τοῖς ἐπὶ τοῖς ἐπιληπτικοῖς ἔνοχος, ἐν Κορδύβῃ πρῶτον αὐτῷ τοῦ πάθους, ὡς λέγεται, τούτου προσπεσόντος, οὐ μαλακίας ἐποιήσατο τὴν ἀρρωστίαν πρόφασιν, ἀλλὰ θεραπείαν τῆς ἀρρωστίας τὴν στρατείαν […]/„Er spornte aber seine Leute auch dadurch an, dass er vor keiner Gefahr zurückscheute und keiner Anstrengung aus dem Wege ging. Ob seiner Verwegenheit wunderte sich freilich niemand, der seinen Ehrgeiz kannte. Seine Ausdauer hingegen setzte alle in Erstaunen, schien er doch Strapazen auszuhalten, die über seine Kräfte gingen. Er war von hagerer Gestalt und hatte eine zarte weiße Haut, auch litt er unter Kopfschmerzen und wurde von epileptischen Anfällen heimgesucht. Dieses Leiden soll ihn in Corduba zum ersten Mal befallen haben. Hätte er ein ruhiges Leben führen wollen, so wäre seine schwache Konstitution hierfür Grund genug gewesen, doch trachtete er im Gegenteil danach, seine Kränklichkeit im Felde zu überwinden […]“ [Übers. ZIEGLER/WUHRMANN, Plutarchus, 233]. Im Zusammenhang der Schlacht bei Thapsos (46 v. Chr.) gegen den nach Afrika geflohenen Scipio weiß Plutarch von Berichten, nach denen Cäsar selbst am Kampfgeschehen nicht teilgenommen habe (Plut. Caes. LIII 3): συντάττοντος δὲ τὴν στρατιὰν καὶ διακοσμοῦντος ἅψασθαι τὸ σύνηθες νόσημα· τὸν δὲ ἐυθὺς αἰσθόμενον ἀρχομένου, πρὶν ἐκταράττεσθαι καὶ καταλαμβάνεσθαι παντάπασιν ὑπὸ τοῦ πάθους τὴν αἴσθησιν ἤδη σειομένην, εἴς τινα τῶν πλησίον πύργων κομισθῆναι καὶ διαγαγεῖν ἐν ἡσυχίᾳ./„Denn während er seine Anordnungen traf und das Heer zur Schlacht bereitstellte, habe ihn seine gewöhnliche Krankheit überrascht. Er habe aber sogleich gespürt, dass ein Anfall kommen werde, und sich schon beim ersten Schütteln, noch ehe das Leiden sein Bewusstsein völlig trübte, auf einen nahegelegenen Turm tragen lassen, wo er ruhig wartete, bis alles vorüber war“ [Übers. a. a. O., 311.]. Plutarch weiß – in skeptischer Distanz – zu berichten, dass Caesar seine Krankheit als Begründung für politisches Fehlverhalten angeführt habe (Plut. Caes. LX 4): ὔστερον δὲ προφασίζεσθαι τὴν νόσον· οὐ γὰρ ἐθέλειν τὴν αἴσθησιν ἀτρεμεῖν τῶν οὕτως ἐχόντων, ὅταν ἱστάμενοι διαλέγωνται πρὸς ὄχλον, ἀλλὰ σειομένην ταχὺ καὶ περιφερομένην ἰλίγγους ἐπισπᾶσθαι καὶ καταλαμβάνεσθαι./„Später allerdings schützte er zur Entschuldigung seine Krankheit vor. Wer von ihr befallen sei, könne sich auf seine Nerven und Sinne nicht verlassen, wenn er vor einer Volksmenge stehend sprechen müsse, er verliere in kurzer Zeit die Herrschaft über sie, werde vom Schwindel ergriffen und sei schließlich dem Anfall wehrlos ausgeliefert […]“ [Übers. a. a. O., 327.]. Zum „Epilepsie“-Leiden Caesars bei Plutarch: LUCHNER, Philiatroi, 205–210; auch Suet. Iul. 45,1; Appian II 110, 459. Aufgenommen und weitergeführt u. a. in WILLIAM SHAKESPEARS Drama „Julius Caesar“ (1599) und in THORNTON WILDERS „The Ides of March“ (1948). Zur Epilepsie Caligulas vgl. Suet. Cal. 50,2. Vielfach handelt es sich hierbei nicht um medizinisch begründete Einschätzungen, sondern um literarische Fiktion. Das Krankheitsbild der „Epilepsie“ ist fester Topos der Literatur über Jahrhunderte. Unter den berühmten
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Epilepsie ist darüber hinaus von früher Zeit an ein Thema der Theologie. Von der Antike an hat man die Krankheit als Herausforderung und Prüfstein einer religiösen Wirklichkeitsdeutung begriffen. Im Krankheitsbild sah man eine Manifestation der Anwesenheit Gottes im Menschen. Zur Geschichte der Epilepsiedeutung haben dabei sowohl das Christentum als auch das Judentum einen wesentlichen Beitrag geleistet. Damit ist das Thema der folgenden Ausführungen benannt, die Frage: Wie hat man die – in griechisch-römischer Sicht: „heilige“ – Krankheit im frühen Christentum und im älEpileptikern der Weltliteratur sind DOSTOJEWSKIJS Fürst Myschkin in seinem Roman „Idiot“ (1868/69), Menuchim in JOSEPH ROTHS Roman „Hiob“ (1930), der Junge Useppe in ELSA MORNATES „La storia“ (1974) und AMOS OZ’ Roman „Eine Frau erkennen“ (Lada’at ishah; 1989) zu nennen, in dem Joel ein Notizbuch über die Fallsucht Nettas führt. Eine Fülle von Texten bis in die Gegenwart erzählt uns die Geschichten von Epileptikerinnen und Epileptikern. Eine Auswahl: J. AIKEN, The Weeping Ash, New York 1980; I. ALLENDE, De amor y de sombre, Barcelona 2004; S. ANDRES, Der Knabe im Brunnen, München 2006; M. ATWOOD, Cat’s Eye, New York 1998; S. BECKETT, Molloy, Paris 1982; T. BERNHARD, Amras, Frankfurt a. M. 1990; R. CHANDLER, The Big Sleep, New York 1988; A. CHRISTIE, The Murder on the Links, New York 2001; DIES., Nemesis, New York 2004; P. CORNWELL, From Potter’s Field, New York 2005; M. CRICHTON, The Andromeda Strain, New York 1992; L. DE CRESCENZO, Elena, Elena, amore mio, Milano 1991; C. DICKENS, Oliver Twist, London 2003; K. DOERMER, Vergehendes Blau, Göttingen 1996; J. D’ORMESSON, Histoire du Juif errant, Paris 1993; I. DREWITZ, Eingeschlossen, Düsseldorf 1986; G. ELIOT, Silas Marner, London 2003; W. FÄHRMANN, Jakob und seine Freunde, Würzburg 1999; P. FARMER, Snakes and Ladders, London 1993; T. FINDLEY, The piano man’s daughter, New York 2002; B. GUR, Lo Kach Tearti Li, Israel 1994; S. HAWTHORNE, The Falling Woman, North Melbourne ²2003; B. HONIGMANN, Soharas Reise, Hamburg 1998; K. IMMERMANN, Die Epigonen. Familienmemoiren in neun Büchern 1823–1835, München 1981; J. P. JACOBSEN, Niels Lyhne, København Valby ²1995; K. KESEY, One Flew over the Cuckoo’s Nest, New York 1992; B. KRONAUER, Das Taschentuch, München 2001; S. LENZ, Deutschstunde, München 2006; T. MANN, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt a. M. ⁵⁴1989; DERS., Der Zauberberg, Frankfurt a. M. ⁶2003; DERS., Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt a. M. ⁴⁸2000; M. MARON, Animal triste, Paris 1998; G. MEYRINK, Der Golem, Köln 2006; R. MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1: Erstes und zweites Buch, Hamburg ¹⁹1994; P. NICHOLS, A Day in the Death of Joe Egg, London 2001; E. A. POE, The Fall of the House of Usher, New York 2006; T. PYNCHON, The Crying of Lot 49, London 2002; R. QUADFLIEG, Wer war Christoph Lau?, Hamburg 1999; C. RANSMAYR, Die letzte Welt, München ¹³1991; S. RUSHDIE, The Ground beneath her feet, London 1999; H. SCHNEBLE, Das Eigentor oder die Geschichte vom Peter Guck-in-die-Luft, Tübingen 2000; R. SCHNEIDER, Schlafes Bruder, Leipzig ²⁶1994; W. SCHNURRE, Als Vaters Bart noch rot war, München ²1998; H. SPIEL, Der Mann mit der Pelerine, Bergisch Gladbach 1998; W. M. THACKERAY, Vanity Fair, Harmondsworth 2003; J. WASSERMANN, Der Fall Maurizius, Frankfurt a. M. 2004; F. WERFEL, Höret die Stimme, Frankfurt a. M. 2001; C. WOLF, Kassandra, München 1993; DIES., Medea. Stimmen, München 1998; E. ZOLA, La faute de l’Abbé Mouret, Paris 2006; S. ZWEIG, Heroischer Augenblick, in: DERS., Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen, Frankfurt a. M. 2003, 145–152. Nach THOMAS MANN hat die Menschheit im epileptischen Leiden „abwechselnd eine heilige, ja prophetische Heimsuchung und eine Teufelsbesessenheit gesehen“ (DERS., Zauberberg, 417f.). Siehe insgesamt V. ENGELHARDT u. a. (Hg.), Krankheit (vgl. a. a. O., 288f. die Liste von Filmen, in denen Epilepsie als handlungsleitendes Motiv begegnet). Vgl. PALADIN, Epilepsy, 1058–1060.
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testen Judentum gedeutet? Und was folgt aus solchen Deutungen sowohl für ein theologisches Verständnis von Heilung und Heil als auch für den Umgang mit den Kranken und eine heilende Praxis? An den Anfang sei eine in ihren Implikaten und Konsequenzen weiter reichende, gleichwohl unser Thema unmittelbar betreffende hermeneutische Problemanzeige gestellt. In der Erforschung der Geschichte von Krankheit und Heilung in der frühchristlichen Literatur wirkt sich nach wie vor teilweise folgendes hermeneutisches Schema aus: In Israel und auch im frühen Judentum habe es zu einer entwickelten Heilkunst nicht kommen können. Jüdische Heilkunst und damit auch der Umgang mit kranken Menschen seien vielmehr – aus verschiedenen Gründen – defizitär gewesen und auch geblieben. Zu einem eigenständigen heilkundlichen Ansatz waren die Juden demnach nicht in der Lage. Ihre Kranken gerieten so in eine isolierte und verlorene Situation. Zusätzlich habe seit dem 2. Jh. v. Chr. in immer stärkerem Maß ein Dämonenglaube Einzug in die jüdische Frömmigkeit genommen. Krankheiten wurden bösen Geistern und schädlichen Mächten zugeschrieben. Die Kranken wurden dämonisiert, ihre Heilbarkeit stand damit erst recht in Frage, denn wo man schädliche Geister am Werk sah, waren Ärzte fehl am Platz. In diese gleichsam heillose jüdische Welt – so lässt sich das hermeneutische Schema zuspitzen – sei dann das Christentum eingetreten, das in seinem diakonischen, an der ‚Nächstenliebe‘ orientierten Handeln einen therapeutischen Aufschwung (aus dem Judentum heraus) erst ermöglicht habe. Dieses Bild erweist sich als in mehrfacher Hinsicht simplifizierend und verzerrend. Ausführliche Auseinandersetzung mit ihm ist hier nicht zu führen. In Kürze ist jedoch festzuhalten: Bereits im alten Israel und in der Zeit des zweiten Tempels hat es Ansätze einer in höherem Maß entwickelten eigenen „Heilkunst“ gegeben, als dies vielfach vorausgesetzt wird.4 Die Frage, ob sich das älteste Christentum medizinischer Kunst rascher und selbstverständlicher angenähert hat als das – dann rabbinische – Judentum, ist keineswegs leicht und eindeutig zu beantworten. Unter den Kirchenvätern war es lange umstritten, inwieweit man die rationalen Ansätze griechisch-römischer Heilkunde rezipieren könne und dürfe. In der Diakonie und insbesondere im Krankenhauswesen hat es lange gedauert, bis es zu einer therapeutisch reflektierten Praxis als solcher kam; und dieser Vorgang ist nicht unabhängig von Vorgaben und Entwicklungen insbesondere auch der griechisch-römischen Kultur darstellbar. Vor allem aber ist auch eine einseitige Zuweisung und Herleitung der Rückführung von Krankheitsphänomenen auf dämonischen Einfluss an und aus jüdischen Voraussetzungen problematisch. Auf den besonderen Fall beschränkt, um den es im Folgenden geht, zeigt sich vielmehr, dass eine dämonologische Krankheitsdeutung auf breiter Basis erst auf dem Boden des frühen Christentumsv greifbar wird, während die zeitgenös4
Zur Zeit des zweiten Tempels: HOGAN, Healing.
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sischen jüdischen Zeugnisse zu solcher Deutung von „Epilepsie“ als Besessenheit erkennbar Abstand wahren und verschiedene eigene Wege der Krankheitsinterpretation beschreiten. Um in dem diffizilen Terrain der „Epilepsie“-Deutungen eine adäquate Ordnung zu ermöglichen, legt es sich nahe, im Folgenden zunächst einen Blick auf Ansätze der Krankheitsdeutung in ausgewählten altkirchlichen Texten zu werfen. Damit ist zugleich derjenige Zeitraum avisiert, aus dem auch die jüdischen Zeugnisse datieren, die vergleichend heranzuziehen sind. 5 In einem weiteren Schritt sollen die in etwa zeitgenössischen Texte aus dem rabbinischen Judentum vorgestellt werden, wobei auch hier eine begründete Auswahl zu treffen ist. Erst am Ende wird es um die ältesten christlichen Zeugnisse der Krankheitskonstruktion gehen, genauer um denjenigen Textzusammenhang, der den Beginn der Deutungsgeschichte der Epilepsie im Frühchristentum markiert: Die Geschichte von der Heilung des epileptischen Kindes in Mk 9,14–29 (par Mt 17,14–21 par Lk 9,37–43). Vor diesen Arbeitsschritten ist jedoch noch ein Zwischenschritt erforderlich, in dem immerhin kurz auf methodische Voraussetzungen einzugehen ist. Hierbei werden Fragestellungen aus der konstruktivistischen Krankheitsdeutung aufgenommen.
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Im Alten Testament sind „epileptische“ Krankheitsphänomene nicht sicher nachweisbar. Als ein simulierter Epilepsieanfall Davids wurde 1 Sam 21,11–16 interpretiert. David stellt hier in einem retardierenden Passus der Aufstiegsgeschichte vor dem König von Achisch seine Klugheit und seinen Trickreichtum unter Beweis. Er gebärdet sich so, dass Achisch ihn für „meschugge“ hält. Ob הללim Hitpo’el in 1 Sam 21,14 (vgl. Jer 25,16; 51,7) im Sinne von mondsüchtigem Taumel interpretiert werden darf (CAZELLES, Art. הלל, 442–444; vgl. auch SCHNEBELE, Kind, 94), ist sehr unsicher. Das Symptomgefüge differiert im Übrigen erheblich von frühen konvergierenden Beschreibungen des Krankheitsbildes. 1 Sam 19,24 dient der Demonstration der Potenz des Gottesgeistes; das „Fallen“ Sauls in Verbindung mit der Vorstellung ekstatischer Praxis ist auch hier kaum sicher als „epileptisches“ Verhalten zu begreifen. Vergleichbares gilt für das „Fallen“ Bileams in Num 24,16, welches kaum sicher auf die Fallkrankheit bezogen werden darf (so PREUSS, Medizin, 341f.; so auch ROSNER, Encyclopedia, 115, mit Bezug auf Maimonides). Siehe die Diskussion bei FEININGER, Wort, 101–122. Ähnlich unergiebig im Blick auf die Frage nach „epileptischen“ Erscheinungen zeigt sich die antik-jüdische Literatur. Sicher belastbare Aussagen fehlen (ein vacat bei Josephus und Philo). Auch hier gilt, dass nicht jedes „Geschütteltwerden“ (so z. B. 3 Makk 2,22 mit der Folge von Lähmung und Sprechunfähigkeit des Philopator: ἔνθεν καὶ ἔνθεν κραδάνας αὐτὸν ὡς κάλαμον ὑπὸ ἀνέμου ὥστε κατ’ ἐδάφους ἄπρακτον ἔτι καὶ τοῖς μέλεσιν παραλελυμένον μηδὲ φωνῆσαι δύνασθαι δικαίᾳ περιπεπληγμένον κρίσει; von PREUSS, Medizin, 351, als „epileptisches“ Phänomen in Betracht gezogen) auf das Krankheitsbild zu beziehen ist. Weitere Erscheinungen des „Wahnsinns“ oder der „Besessenheit“ sind nicht eo ipso mit epileptischen Symptomen zu verbinden. Sichere frühe Belege sind nicht zu verifizieren.
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2.
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„Die Krankheit im Kopf“ – „Epilepsie“ als sozial vermitteltes Wirklichkeitskonstrukt
Krankheiten sind keine „ontologischen“ Gegebenheiten, sondern Konstruktionen von Wirklichkeit, an denen die erkrankten Menschen mit ihren Selbstwahrnehmungen, zugleich aber auch die Gesellschaft, die Kultur, der sie zugehören, beteiligt sind. „Krankheiten“ werden „Krankheiten“ erst, indem bestimmten körperlichen Phänomenen Bedeutung zugeschrieben wird, die mit anderen Bedeutungseinheiten korreliert. Interpretationsgemeinschaften tendieren dessen ungeachtet dazu, von „festen“ Krankheitsbildern auszugehen und damit Krankheiten als „objektive“ Körperzustände zu betrachten. Sie folgen der Tendenz, „Axiome“ auszubilden, d. h. normierte und normierende Annahmen über die Kranken. Antike „Axiome“ im Blick auf die Epilepsie sind z. B., dass die Krankheit ansteckend oder erblich sein könnte (vgl. schon CH morb. sacr. II 4ff.; Theophr. char. 16,14; Apul. mag. 44,1; Plin. nat. XXVIII 35). Krankheitskonstruktionen basieren auf und stehen im Zusammenhang von Evidenzquellen. Im Folgenden werden sechs solcher Evidenzquellen heuristisch unterschieden, die weder im Sinn einer zeitlichen noch einer logischen Reihenfolge zu verstehen sind: a) Die sinnliche Wahrnehmung: Ein bestimmtes Körperverhalten wird wahrgenommen und als abweichend beurteilt. Im Fall der Epilepsie sind hier z. B. die Verkrampfung der Muskeln, das Aufschlagen der Kranken auf dem Boden oder der schäumende Mund zu nennen. b) Als zweite Evidenzquelle ist die Konstruktion des Verstandes, die kognitive Konstruktion anzusprechen. Ein wahrgenommener Verbund von „Phänomenen“ resp. „Symptomen“ wird als eine „Krankheit“, als eine von individuellen Kranken abstrahierbare Größe begriffen. Die „Krankheit“ wird versprachlicht und mit dem kulturspezifischen medizinischen Wissen in Verbindung gebracht. Auf der Basis kognitiv-konstruierender Operationen erklären sich u. a. die zahlreichen Namen für „epileptisches“ Leiden, die sich seit der Antike in verschiedenen Kulturkreisen entwickeln konnten (s. o. Pkt. 1.). c) Soziales „Feedback“ und soziale Inszenierung sind als dritte Evidenzquelle heuristisch unterscheidbar. Gemeint ist: Im sozialen Umgang von „Gesunden“ und „Kranken“ wird das Krankheitskonstrukt immer neu inszeniert und damit in Geltung gesetzt. In der sozialen Interaktion, zuerst im engeren Kreis der Familie, in der Spiegelung des Verhaltens der Mutter oder des Vaters, darüber hinaus auf den Foren der Öffentlichkeit wird kranken Men-
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schen über die Klassifikation ihrer Krankheit ein Platz in der Gesellschaft und ein Komplex von Verhaltensweisen zugewiesen.6 Im Fall der Epilepsie war es z. B. üblich, vor den Kranken auszuspucken (vgl. Plin. nat. XXVIII 35: „despuimus comitiales morbos, hoc est contagia regerimus“; Apul. mag. 44,2; Theophr. char. 16,14). Das Ausspucken vor Epileptikern kann verschieden gedeutet werden, sei es als apotropäischer Ritus, sei es um eine Ansteckung zu verhindern. Der Gestus impliziert im sozialen Umgang de facto Ausgrenzung und Geringschätzung. Epileptiker führten nach dem Arzt Aretaios in der Antike ihr Leben in Ehrlosigkeit (ἄδοξος; Aret. III 4). In lateinischen Quellen wird die „Epilepsie“ auch als „morbus comitialis“ bezeichnet (s. o.), d. h. die die Komitien, die Volksversammlung, betreffende Krankheit. Im Hintergrund dieser Begrifflichkeit steht: Epilepsie führt zu einer Beeinträchtigung des Menschen als ζῷον πολιτικόν, seiner Rechtsfähigkeit, damit aber zu einer Störung des Gemeinwesens.7 Ein epileptischer Anfall konnte z. B. die Unterbrechung oder Aussetzung von politischen Versammlungen zur Folge haben. d) Im sozialen Umgang kommt es zu einer Interferenz mit anderen kulturellen Konstrukten, z. B. den Konstrukten von „Generation“ und „Gender“. Die Epilepsie gilt schon früh in der Antike als eine puerilis passio/νόσος παιδική, ein Kindesleiden (vgl. CH morb. sacr. I 10; Aret. III 4,1; Cels. med. III 23; Cael. Aur. chron. I 60; Galen in Hipp. Epid. VI comm. 5,25; vgl. insgesamt Galens Schrift „Puero epileptico consilium“ u. a.). Ihre Konstruktion tritt damit aber in Verbindung mit Vorstellungen von Kindheit, vor allem der infirmitas als einem entscheidenden Merkmal antiker Interpretation des Kindseins. Mit „Epilepsie“ verbinden sich weiter feminine Konnotationen. Man brachte sie mit der weiblichen Mondgöttin Artemis bzw. Selene/Luna in Verbindung.8 Diese Verbindung kann später im Sinne einer Periodik bestimmt werden, die sich auf den weiblichen Zyklus bezieht, der vom Mond abhängig interpretiert wurde. So kann es rezeptionsgeschichtlich zu einer Verbindung von 6
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Ein Beispiel aus der zeitgenössischen Literatur: Ein epileptischer Anfall führt bei G. ELIOT zu Silas Marners sozialer Isolation und Vereinsamung und geistigem Sterben. Mit einem epileptischen Anfall verbindet sich in diesem Roman jedoch auch seine Erlösung als Rückkehr in das soziale Leben (vgl. HAAS, Epilepsie, 45–47). Iav. dig. XXI 1,53; Ulp. XXIII 8,1,1; Cod. Iustin VI 23,28 zeigen, dass die Präsenz eines Komitialkranken die Rechtsgültigkeit von Entscheidungen fraglich macht. Die Bezeichnung als „morbus sonticus“ (Plin. nat. XXXVI 19) verweist auf die Entschuldigung, die stets mit der Krankheit gegeben war. Vgl. LESKY/WASZINK, Art. Epilepsie, 820. Vgl. WENSKUS, Art. Mond, 626; LEVEN, Art. Mondsucht, 626f. Eine direkte Abhängigkeit des weiblichen Zyklus von den Mondphasen auf gynäkologische Prozesse wird in den ältesten medizinischen Texten nicht postuliert. CH morb. sacr. setzt sich jedoch bereits kritisch mit Riten auseinander, die eine Abhängigkeit der Krankheit vom Mond voraussetzen (morb. sacr. I). Vgl. Galen IX 903; Lukian Philops. 16; Kyraniden I 24,42. Aretaios kritisiert die Vorstellung, Epilepsie resultiere aus einem Vergehen gegenüber dem Mond (III 4,2).
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Heilige Krankheit? Epilepsie und „Hysterie“ kommen, womit eine eigene Linie der Krankheitsinterpretation eröffnet ist: Die Gleichsetzung epileptischer Frauen mit hysterischen Frauen.
e) Als fünfte Evidenzquelle ist die affektive Dimension anzuführen. Emotionen spielen bei der Krankheitskonstruktion der Epilepsie eine erhebliche Rolle. Der als Kontrollverlust gedeutete Krampfanfall mit dem schäumenden Mund, mit verdrehten Augen und das Zu-Boden- und Hin-und-Hergerissenwerden der Kranken werden als „hässliche“, „entstellende“ Phänomene interpretiert und lösen Angst aus. Diese Angst bricht sich in zahlreichen Metaphern, die für epileptische Anfälle von früher Zeit an bis in neuzeitliche Krankheitskonstruktionen hinein begegnen: Man fasst sie in das Bild eines wilden Tiers, einer Bestie, die die Kranken anfällt, oder vergleicht sie mit einem Erdbeben.9 Gerade solche Metaphern sind es, die die religiöse Dimension der Interpretation öffnen können. Im Fall der Epilepsie haben sie für die Interpretation als „heilige Krankheit“ eine wichtige Rolle gespielt. f)
Zuletzt beschreibt die religiöse Evidenz ein wesentliches Moment, insofern in antiken und spätantiken Texten der Körper und auch Störungen des Körpers immer in irgendeiner Weise religiös bestimmt sind, Krankheitserfahrung und Krankheitsintegration von konventionalisierten religiösen Deutungsmustern, Erwartungen und rituellen Handlungsmöglichkeiten her reguliert werden. Im Fall der Epilepsie steht hier das früh begegnende Attribut der „Heiligkeit“ zur Disposition. Epileptiker können in griechischen und römischen Zeugnissen – jenseits medizinischer Einschätzung – als religiös besonders begabte Menschen gelten. Der „Anfall“ kann als Koinzidenzpunkt des Eingriffs supranaturaler Mächte gedeutet werden. Epileptikern werden teils und besonders auch in der Deutungsgeschichte späterer Jahrhunderte herausragende soziale Fähigkeiten bzw. Zukunftseinsicht und Divination zugeschrieben.10 Wird in dämonologischen Deutungen die Krankheit im Sinne
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Ida Manusco sieht in MORANTES „La storia“ ihr epilepsiekrankes Kind „wie von einem mörderischen Raubtier“ zu Boden geworfen (vgl. a. a. O., 478); ähnlich spricht schon Aretaios von einem sich nahenden Tier (Aret. caus. acut. morb. I 5, s. Anm. 45). Auch diese Linie der Krankheitskonstruktion wird rezeptionsgeschichtlich weiter ausgestaltet bis in die neuzeitliche Literatur hinein: Fürst Myschkin, der Epileptiker, besitzt außergewöhnliche Menschenkenntnis; er wird bei DOSTOJEWSKIJ zu einem Modellfall der Kardiognosis und menschlich-sozialer Anteilnahme (vgl. DERS., Idiot, 355: „Das Mitleid ist ja doch das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz des Seins der ganzen Menschheit“; vgl. die Reaktionen a. a. O., 477, 479, 480). Bei ELIOT besitzt Silas Marner Heilkräfte und medizinische Menschenkenntnisse. Patrick Seton steigert in SPARKS Roman „Junggesellen“ (1960) seine hellseherischen Fähigkeiten durch Medikamente, die Epilepsie auslösen. In MORANTES „La storia“ werden der Epileptikerin Ida Mancuso außergewöhnliche Fähigkeiten wie Prophetie zugeschrieben. Ihr kleiner Sohn Useppe erkennt mit weit aufgerissenen Augen nicht nur die Bestimmung eines Schafes, das ins Schlachthaus gebracht wird,
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eines Subjektverlustes interpretiert, so erfolgt die Konstruktion unter der Zielsetzung ihrer Überwindung, zumeist unter der Prämisse der Anerkenntnis und des Vorhandenseins exorzistischer oder magischer Reaktionsmittel bzw. entsprechender Fachleute.11 Es zeigt sich, dass die Krankheitskonstruktion der neutestamentlichen Erzählung von der Heilung des epileptischen Kindes genau auf der Schnittstelle dieser Konzeptionen zu stehen kommt. Wirkungsgeschichtlich kann an diesem Initialtext zudem verdeutlicht werden, dass religiöse Interpretamente die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten explizieren, sie – konstruktivistisch betrachtet – aber auch erst auslösen bzw. befördern können.
3.
„Wir aber, die wir dem Evangelium glauben, sagen […]“ – Zur Deutungsgeschichte der Epilepsie in der Alten Kirche
Auf Grundlage der gegebenen literarischen Zeugnisse, die sich mit epileptischen Krankheitsphänomenen in Verbindung bringen lassen, ergibt sich ein überraschender Befund, der sich zu dem oben genannten forschungsgeschichtlichen Wahrnehmungsschema kritisch verhält: Einen sicheren und über jeden Zweifel erhabenen literarischen Beleg für eine Deutung der Epilepsie als Besessenheit durch Dämonen gibt es in vorchristlicher Zeit nicht. Die Quellenbasis, die man für eine gegenteilige Auffassung zu diskutieren hat, ist jedenfalls alles andere als stabil, und zwar sowohl was jüdische als auch was griechische und römische Zeugnisse anbelangt.12 Wenn dem so ist, steht man mit dem in der Alten Kirche
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sondern gleichermaßen das Ziel eines Abtransportes von Juden nach Deutschland (a. a. O., 239). Vgl. ADLER, Poetik, 39–53; BRIZIARELLI, Daughters, 189–193; V. ENGELHARDT, Epilepsie, 36–39; zum Konzept der Epilepsie als „Erkenntnisgewinn“: SAUDER, Sinn, 4–6. Apuleius von Madaura muss sich in seiner Rede „Über die Magie“ („Apologie“) gegen den kapitalen Vorwurf zur Wehr setzen, er habe Pudentilla durch Magie bezwingen wollen. In diesem Zusammenhang verteidigt er seinen Umgang mit zwei Epileptikern (Apul. mag. 42–52). Er beruft sich dabei auf Platon und Aristoteles sowie auf medizinisches Wissen zur Epilepsie (vgl. besonders Apul. mag. 50f.). Zum Hintergrund: SCHENK, Einführung. Vgl. den Magievorwurf an Apuleius bei Aug. civ. VIII 14–22. Die immer wieder vorgetragene Auffassung, dass die Vorstellung dämonischer Besessenheit der Epileptiker sich durch die gesamte Antike ziehe (so mit vielen anderen: HAMMERSTAEDT, Anmerkungen, 264 Anm. 387), ist in dieser Undifferenziertheit nicht zu halten. Vgl. zur Frage eines möglichen christlichen Ursprungs der Interpretation von Epilepsie als dämonischer Besessenheit WOHLERS, Krankheit, hier besonders: 121–150. a) Was die „hippokratische“ Medizin anbelangt, so setzt sich der Traktat CH „De morbo sacro“ in einer sehr speziellen Weise mit der Position solcher auseinander, die Epilepsie
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auf μίασμα, Rachegeister (ἀλάστοραι) und schädlichen Zauber zurückführen und sie mit Sühneriten und Besprechungen zu heilen versuchen (morb. sacr. I 39f.). Die genauen Vorstellungen dieser Praktiker sind aus dem Text allerdings kaum zu rekonstruieren. Eine explizite Feststellung der Krankheitsdeutung als Besessenheit durch die konkurrierenden Positionen gelingt nicht. In medizinischen Texten findet sich die dämonologische Ätiologie explizit erst bei Aret. III 4,2 (Ist hier bereits ein Echo frühchristlicher Krankheitsdeutung zu erkennen? So erwogen von WOHLERS, Krankheit, 129f.). b) Für eine (vorchristlich selbstverständlich etablierte) dämonologische Krankheitsdeutung ist ferner Lukian Philops. 16 nicht zu strapazieren. Der Text, der einen Dämonen bannenden und Mondsüchtige heilenden Syrer in einen weiteren Kontext entsprechender Fachleute rückt, ist im Zusammenhang einer satirischen Auseinandersetzung mit Repräsentanten philosophischer Schulrichtungen (Peripatetiker, Stoiker, Platoniker und Pythagoreer) zu begreifen. Philops. 16 steht in einem weiteren Kontext, in dem es um den Nutzen von Zaubersprüchen geht (Philops. 11–16; vgl. die Ausgangsfrage in 8). Lukian greift hier auf Vorstellungen antiker Magie und Zauberkunst zurück, um einschlägige Praktiken ad absurdum zu führen. Neben der Neutralisierung tödlichen Giftes (Philops. 11) und der Vernichtung von Schlangen durch den Hauch des Magiers (Philops. 12) ist von einem dämonisch unterstützten Liebeszauber berichtet (Philops. 14f.). Eine literarische Vorlage für den Zusammenhang ist nicht sicher auszumachen. Lukian geht mit Topoi um, die zu seiner Zeit geläufig sind (vgl. EBNER, Einleitung, 43–56). Zur Vertrautheit des Lukian mit Lehren und Praktiken antiker Magie: NESSELRATH, Lukian. Zur Philosophen-Kritik Lukians siehe a. a. O., 135–152. Zur Datierung der „Lügenfreunde“ vgl. DERS., Art. Lukianos, 493. Die Verbindung von Philops. 16 und 17 ist nicht in der Weise zu vollziehen, dass der in Paragraph 17 genannte eiserne Ring auf die zuvor genannte Krankheit zu beziehen und damit eine (Ios. ant. Iud. VIII 47 vergleichbare) exorzistische Praxis zu postulieren ist (vgl. anders HERZOG, Wunderheilungen, 110). c) Im Zusammenhang der griechischen Heilkulte bietet auch die Heilinschrift W 62 (HERZOG) ein schwieriges Problem. Das ἰάμμα ist zunächst textkritisch brüchig. Ob man die Heilung eines ἐπίλαμπτος aus Argos im Schlaf mit Hilfe eines Ringes im Vergleich zu Kyraniden I 13,16–22; 17,15–17; 19,9–17; Ios. ant. Iud. VIII 47 (zum Salomonsring: HERZOG, Wunderheilungen, 110); PGM XII 271f. im Sinne einer dämonologischen Krankheitsdeutung interpretieren und auf exorzistische Praktiken in Epidauros deuten darf (HERZOG, Wunderheilungen, 109–111, der selbst die isolierte Stellung dieses Wunders in Epidauros notiert; so viele: OEPKE, Art. ἰάομαι κτλ., 198; KOLLMANN, Christen, 77), ist nicht sicher zu erweisen. Mit Recht notiert WOHLERS, Krankheit, 132: „Welchem Zweck der Ring des Asklepios dient, kann […] nur aus dem Heilungsbericht selbst erhoben werden. Verzichtet man auf Herzogs Ergänzungen, läßt sich nur erkennen, daß Asklepios mit seinem Fingerring, also mit der Hand, den Kranken berührt; auf welche Ursachen ‚Epilepsie‘ hier zurückgeführt wird, kann man nicht mehr feststellen“. Hinzu kommt das Datierungsproblem der hierfür angeführten weiteren Vergleichstexte. Die Kyraniden stammen frühestens aus dem 2. Jh. n. Chr., wahrscheinlich aus dem hellenistisch-orientalisierenden Milieu Alexandrias. d) Für das Alte Testament sind die oben bereits notierten erheblichen Unsicherheiten anzuführen, die die Frage nach epileptiformem Leiden einzelner Gestalten betreffen. Für die literarischen Zeugnisse des frühen Judentums stehen vor allem die rabbinischen Texte zur Diskussion (hierzu ausführlich u. Pkt. 4.). Wenn im späteren Judentum Amulette (vgl. schon t Shab IV 9; zu Epilepsie-Amuletten vgl. WOHLERS, Krankheit, 216–222) und „bowls“/„Zauberschüsseln“ gegen Epilepsie zur Anwendung gekommen sind, so ist solche abwehrende und therapeutische Praxis als solche von explizit dämonologischen
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einflussreichen Erzähltext von Mt 17,14–21 (par Mk 9,14–29 par Lk 9,37–43) vielmehr an der Schwelle eines innovativen Krankheitskonstruktes, welches sich in der Folge als überaus wirkmächtig erwiesen hat. Der für die spätere christliche Rezeptionsgeschichte einflussreichste Text findet sich im Matthäuskommentar des Origenes im 13. Buch, im 6. Abschnitt. Origenes setzt sich in der Auslegung der Geschichte von dem epileptischen Kind in Mt 17 mit wissenschaftlichen Erklärungsmodellen der Epilepsie als einer ‚natürlichen‘ und heilbaren Krankheit auseinander. Hiermit ist innerhalb des Spektrums antik-medizinischer Deutungen die hippokratische Medizin angesprochen, genauer der Traktat „De morbo sacro“, insofern hier – in einer auch innerhalb der in das Corpus Hippocraticum eingegangenen Texte besonderen Sichtweise – die Auffassung zurückgewiesen wird, dass die Krankheit supranatural verursacht, damit göttlicher als andere Krankheiten sei. Der Traktat über die heilige Krankheit führt das Leiden dagegen auf humoralpathologische Verhältnisse zurück und rechnet – in Entsprechung zu anderen Krankheiten – mit medizinischen Therapiemöglichkeiten.13 Origenes lässt nun eine entsprechende
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Krankheitsdeutungen zu unterscheiden. Bei Amuletten und „bowls“ stellt sich zudem zugespitzt die „ontologische“ Frage: Inwieweit dürfen hier oft nur angedeutete Krankheitserscheinungen als „Epilepsie“ dechiffriert werden (vgl. u. Anm. 33)? e) Als sehr unsicher in seiner Auswertbarkeit für ältere jüdische Vorstellungen muss TestSal 18 gelten, wo Salomo von den krankheitsverursachenden „Dekangeistern“ (δεκανοί) bzw. weltbeherrschenden Elementen (στοιχεῖα) erfährt. In TestSal 18,21 stellt sich der Dekangeist Ἰεροπά so vor, dass er seine Wohnung „auf dem Bauch des Menschen“ nimmt (ἐπὶ τοῦ στομάχου τοῦ ἀνθρώπου) und Menschen auf der Straße zu Fall bringt (πτωματίζω). Die Deutung von TestSal 18,21 auf „epileptische“ Phänomene findet Anhalt im Motiv des „Fallens“; weitere einschlägige „Symptome“ fehlen jedoch (der Geist ist nur nach dem dreimaligen Ins-Ohr-Sprechen der Worte ἰοῦδα ζιζαβοῦ zum Rückzug zu veranlassen; bei den anderen Dekangeistern genügt dagegen das einmalige Rezitieren eines Widersachers). TestSal ist jedenfalls in seiner Endgestalt christlich bearbeitet und auf der Stufe seiner Endredaktion möglicherweise schon nachtalmudisch. TORIJANO (vgl. DERS., Solomon) datiert TestSal ins 4. Jahrhundert, auch wenn Einzeltraditionen bis ins 1. Jahrhundert zurückreichen können (vgl. a. a. O., 53–55); vgl. CHARLESWORTH, Testament, der TestSal 18 als einer medizinische Enzyklopädie ähnlich versteht (a. a. O., 954, 979 zu TestSal 18,21); zur älteren These einer jüdischen Grundschrift: MCCOWN, Testament, der die Dekangeisterlehre im Zusammenhang der Auseinandersetzungen des ägyptischen Judentums mit astrologischen Vorstellungen begreift; a. a. O., 56–59; vgl. GUNDEL, Art. Dekane, 116–124. Zur zodiakalen und dämonologischen Ordnung in TestSal 18 siehe BUSCH, Testament. BUSCH schließt aus der Rezeptionsgeschichte, dass TestSal 18 als separate ältere Tradition zu betrachten ist (a. a. O., 232; P. Vind G 330); im Blick auf nosologische Identifikationen ergibt sich kein neuer Ansatzpunkt. Vgl. CH morb. sacr. I 1–4: Περὶ τῆς ἱερῆς νούσου καλεομένης ὧδε ἔχει· οὐδέν τί μοι δοκεῖ τῶν ἄλλων θειοτέρη εἶναι νούσων οὐδὲ ἱερωτέρη, ἀλλὰ φύσιν μὲν ἔχει καὶ τἆλλα νοσήματα, ὅθεν γίνεται, φύσιν δὲ καὶ αὕτη καὶ πρόφασιν· οἱ δ᾿ ἄνθρωποι ἐνόμισαν θεῖόν τι πρῆγμα εἶναι ὑπὸ ἀπειρίης καὶ θαυμασιότητος, ὅτι οὐδὲν ἔοικεν ἑτέροισι, καὶ κατὰ μὲν τὴν ἀπορίην αὐτοῖσι τοῦ μὴ γινώσκειν τὸ θεῖον διασῴζεται, κατὰ δὲ τὴν εὐπορίην τοῦ τρόπου τῆς ἰήσιος, ᾧ ἰῶνται, ἀπόλλυται, ὅτι καθαρμοῖσί τε ἰῶνται καὶ ἐπαοιδῇσιν./„Mit
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Auffassung nicht gelten. Vielmehr hält er auf der Grundlage des matthäischen Textes die dämonologische Ätiologie dagegen und definiert sie als christlichen Standpunkt: „Die Ärzte mögen sich also an die Physiologie halten, da sie ja meinen, es handle sich hier nicht um einen unreinen Geist, sondern um ein rein körperliches Krankheitsbild, und in ihrer Physiologie erklären, daß die Flüssigkeiten im Kopf sich in einer gewissen Übereinstimmung mit dem Mondlicht bewegen, welches eine feuchte Natur hat. Wir aber glauben dem Evangelium auch, daß diese Krankheit als von einem unreinen, stummen und tauben Geist in den daran Leidenden bewirkt betrachtet wird.“14
In der Position des Origenes hat sich eine bestimmte Krankheitsinterpretation verfestigt. Sie gewinnt axiomatische Qualität, wie die weitere Rezeptionsgeschichte zeigt.15 Wenige altkirchliche Schriftsteller, die teils auch mit medizinischen Konzepten vertraut waren, hielten in der Folgezeit immerhin auch eine physiologisch-rationale Erklärung der Epilepsie für möglich. Unter anderem hat
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der sogenannten heiligen Krankheit verhält es sich so: Sie scheint mir nicht im geringsten göttlicher und heiliger zu sein als die andern Krankheiten, sondern so wie die übrigen Krankheiten ihren natürlichen Ursprung haben, hat auch diese ihre natürliche Ursache. Die Menschen aber hielten sie für etwas Göttliches aus Unerfahrenheit und aus ihrem Hang zum Wunder, weil sie andern ganz und gar nicht gleicht. Und weil sie unfähig sind zur Erkenntnis, bleibt in ihren Augen das Göttliche gewahrt; es wird aber aufgehoben durch die Leichtigkeit der Methode, mit der sie behandeln, weil sie mit Sühnungen und Besprechungen zu heilen suchen“ [Übers. MÜRI, Arzt, 235.]. Nach CH morb. sacr. handelt es sich bei der Epilepsie um eine Phlegmaerkrankung, verursacht durch ein zu hohes Maß an Feuchtigkeit im Gehirn (V 1–6). Die Krankheit ist darum nicht durch „Besprechungen“ und Sühnemittel zu bekämpfen, sondern durch Zufuhr von Wärme und durch diätetische Praxis (nach dem Prinzip contraria contrariis). Vgl. CH morb. sacr. VII 1–15; XIII 13; XVIII 1–6. Zu sophistischen Einflüssen auf die τέχνη-Konzeption von „De morbo sacro“: LASKARIS, Art. Der Position des Origenes ist besonders Galens Auffassung zu vergleichen (vgl. WOHLERS, Krankheit, 94: „möglicherweise eine vergröbernde, nicht in die physiologischen Einzelheiten gehende Darstellung galenischer Lehren […]“). Aretaios unterscheidet zwischen akuten epileptischen Anfällen und zwei Arten von chronischer Epilepsie, deren eine aus dem Kopf resultiert und deren andere in entfernteren Nerven ihren Ursprung hat (WELLMANN, Schule, 54f.). Siehe im Überblick LEVEN, Art. Epilepsie, 260–262. Orig. comm. in Mt. XIII 6,193 [Übers. VOGT, Origenes, 248]: ἰατροὶ μὲν οὖν φυσιολογείτωσαν, ἅτε μηδὲ ἀκάθαρτον πνεῦμα εἶναι νομίζοντες κατὰ τὸν τόπον ἀλλὰ σωματικόν σύμπτωμα, καὶ φυσιολογοῦντες τὰ ὑγρὰ λεγέτωσαν κινεῖσθαι τὰ ἐν τῇ κεφαλῇ κατά τινα συμπάθειαν τὴν πρὸς τὸ σεληνιακὸν φῶς, ὑγρὰν ἔχον φύσιν. ἡμεῖς δὲ οἱ καὶ τῷ εὐαγγελίῳ πιστεύοντες ὅτι τὸ νόσημα τοῦτο ἀπὸ πνεύματος ἀκαθάρτου, ἀλάλου καὶ κωφοῦ ἐν τοῖς πάσχουσιν αὐτὸ θεωρεῖται ἐνεργούμενον./Lat.: „medici ergo loquantur sibi quae volunt, qui nec inmundum spiritum arbitrantur sed corporalem aliquam passionem, et dicant humida moveri in capite secundum aliquam conpassionem ad lumen lunare, quod humidam habet naturam. nos autem, qui evangelio sumus credentes, dicimus hanc passionem inmundum spiritum in hominibus operari […]“. Konstruktivistisch betrachtet: Wenn ein Wissenselement im Blick auf eine Krankheit sich in einer Gruppe verfestigt hat, wenn es in ihr relevant geworden ist, so beschäftigt sich die Gruppe eingehender, auch organisatorisch mit diesem neuen Wissenselement. Das Handeln der Gruppe richtet sich nach dieser neuen Wissenseinheit aus.
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der Arzt Poseidonios im 4. Jh. diese Auffassung bestritten (Philostor. HE VIII 10).16 Doch insgesamt hat sich die durch Origenes repräsentierte Position auf breiter Linie durchgesetzt. Als Vertreter einer dämonologischen Interpretation kann man u. a. Hieronymus, Johannes Chrysostomos, Athanasius, Gregor von Tours und Isidor von Sevilla nennen.17 In der Folge wurden „Epileptiker“ in der Alten Kirche religiös stigmatisiert, sie wurden „verachtet und scheu gemieden“.18 Auf der Synode von Elvira (Canon 29) wurden Epilepsiekranke zusammen mit anderen Besessenen von der oblatio und communio des Abendmahls ausgeschlossen. Hierbei haben Theorien über die Ansteckungsgefahr der Epilepsie eine wesentliche Rolle gespielt.19 Die Linie der Dämonisierung von epileptischen Menschen lässt sich in der Geschichte des Abendlandes weiterverfolgen. Sie schließt eine Jahrhunderte währende Geschichte der Fehltherapien an den Kranken mit ein.20 Das dämonologische Krankheitskonstrukt der Epilepsie unterliegt Vorgängen des Kulturtransfers und der religiös bedingten Aneignung. Aus der Alten Kirche sind hier insbesondere Zeugnisse zu nennen, in denen die Krankheitsin-
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Clem. Al. strom. VII 6,33,4f.: Hiernach trägt der Genuss von Ziegenbockfleisch zur Epilepsie bei; Tert. apol. IX 10. Zur Position des Poseidonios (vgl. Philostor. HE VIII 10): DÖLGER, Einfluß, 106. Origenes war nicht der erste, der die Position vertrat; er hat auch die weitere Entwicklung nicht allein hervorgerufen, sie jedoch wesentlich beeinflusst. Vgl. zur Vermittlung zwischen der „Mondsucht“ und der Besessenheit (als der primären causa) auf der Basis von Mt 17 par: Hier. comm. in evang. Matth. I 1 (MIGNE PL 26,33 C): „Non vere lunaticos, sed qui putabantur lunatici, ob daemonum fallaciam, qui observantes lunaria tempora, creaturam infamare cupiebant, ut in Creatorem blasphemiae redundarent“; vgl. I 3 (MIGNE PL 26,125 A); Chrys. Λόγος παραινετικὸς πρὸς Σταγείριον ἀσκητὴν δαιμονῶντα I 1 (MIGNE PG 47,425): δοκεῖ μὲν οὖν μία σοι τῆς ἀθυμίας ὑπόθεσις εἶναι τοῦ πονηροῦ τούτου δαίμονος ἡ μανία; Ath. Fragmentum in Matth. (MIGNE PG 27,1389 B C); Chrysologus Sermo 52 (MIGNE PL 52,546); Greg. T. De virtutibus s. Martini II 18; Isid. Etym. IV 7,5–7. Vgl. DÖLGER, Einfluß, 95– 109, der zum Hintergrund unter Hinweis auf Sophronios von Jerusalem feststellt, dass in der späteren Medizin Epilepsie ebenfalls als Besessenheit begriffen wurde (a. a. O., 106f.). DÖLGER, Ausschluß, 130. DÖLGER, Ausschluß, 130–137, zeigt, dass in der Vorenthaltung der Eucharistie an Epileptiker drei Motivationsbündel zusammenwirkten: „Profan die vermeintliche Ansteckungsgefahr der Epilepsie, religiös die aus der Antike übernommene Anschauung von der kultischen Unreinheit des Epileptikers sowie die aus der christlichen Wertung der Eucharistie entspringende Scheu, das Allerheiligste mit dem Unheiligsten, mit den Dämonen in Berührung zu bringen“ (a. a. O., 137); vgl. DERS., Krankheit, 133–146. Sie findet ihr Echo noch bis in die zeitgenössische Literatur. Die Epilepsie von Useppe in MORANTES „La storia“ z. B. wird auf böse Geister zurückgeführt, man kann die Krankheit darum nicht von Ärzten behandeln lassen, sondern nur durch rituelle Besprechungen in der Kirche bannen (a. a. O., 31). Zur Epileptologie im europäischen Mittelalter: SCHNEBELE, Krankheit, 101–127. Für die Epilepsie als „schedelnde Gottesstraf“ galten im Mittelalter mehr als vierzig Heilige als zuständig (a. a. O., 103). Unter ihnen war Valentin der bedeutendste, als hervorragendster Epilepsie-Wallfahrtsort galt Kiedrich im Rheingau.
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terpretation auf ein bestimmtes „gender“-Konstrukt trifft.21 Beispielhaft hierfür kann ein Text aus der siebten Tat der syrischen Thomasakten stehen (ActThom 63). Der Apostel Thomas befreit auf Anfrage eines indischen Militärobersten hin zwei besessene Frauen, eine Mutter und ihre Tochter, die von einem Mann und einem Knaben belästigt werden. Die begleitenden Sklaven können die Frauen nicht schützen. Vielmehr werden die Frauen überwältigt, und sie zeigen Phänomene, die in diesem Zusammenhang auffällig sind: Die Sklaven kamen mit zerrissenen Kleidern zu mir und meldeten, was geschehen war. „Wir sahen“, sprachen sie, „einen Mann und einen Knaben bei ihnen. Und der Mann legte seine Hand an deine Frau und der Knabe an deine Tochter. Sie aber flohen vor ihnen. Wir aber verwundeten sie mit den Schwerten, doch unsere Schwerter fielen zu Boden, und gleichzeitig fielen sie (die Frauen) nieder, wobei sie mit den Zähnen knirschten und ihre Köpfe auf die Erde schlugen. Und als wir dies sahen, kamen wir, es dir zu melden.“22
Im Text finden sich Symptome, die sich einem „epileptischen“ Leiden zuordnen lassen. Erzählt wird von Frauen, die auf den Boden stürzen, mit den Zähnen knirschen und mit ihren Köpfen auf den Boden schlagen. Anschließend fallen sie in einen Zustand der Amnesie, ein typisches Symptombündel in den antiken Texten. Das Leiden wird in der Geschichte der Thomasakten auf Dämonen zurückgeführt.23 Diese Dämonen sind männlich. Der Anfall erinnert an weitere ähnliche Vorgänge in den Thomasakten, er trägt Züge einer Vergewaltigung von Frauen (vgl. auch die Schilderung des Mannes der Frau in ActThom 64). Beide Frauen werden schließlich von den Dämonen getötet (ActThom 75; vgl. 77 zum todesähnlichen Zustand mit Aphasie) und dann nach der Rede eines Wildesels in der achten Tat vom Apostel Thomas wieder zum Leben erweckt (ActThom 81).
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Auch in antik-medizinischen Texten sind „gender“-Parameter der „Epilepsie“ zu beachten. Nach Celsus befällt die Krankheit häufiger Männer als Frauen. Sie könne bei Männern mit Eintritt der Geschlechtsreife weichen, bei Frauen mit dem Eintritt der Regel (Cels. med. III 23,2: „Et saepe eum, si remedia non sustulerunt, in pueris veneris, in puellis menstruorum initium tollit“). Vgl. Galen in Hipp. Epid. VI comment. I 5 zum Ausheilen der Epilepsie mit der Pubertät. Oἱ δὲ δοῦλοι τὴν ἐσθῆτα ἔχοντες περιερρηγμένην ἤρχοντο πρός με ἀναγγέλλοντες τὰ γενόμενα. Εἴδομέν φησιν ἄνθρωπόν τινα καὶ παῖδα σὺν αὐτῷ· καὶ ὁ μὲν ἄνθρωπος ἐπέβαλεν αὐτοῦ τὴν χεῖρα ἐπὶ τὴν γυναῖκά σου καὶ ὁ παῖς ἐπὶ τὴν θυγατέρα σου. αἳ δὲ ἔφυγον ἀπ᾿ αὐτῶν· ἡμεῖς δὲ τοῖς ξίφεσιν ἐτρώσαμεν αὐτούς· τὰ δὲ ξίφη ἡμῶν εἰς γῆν ἔπεσον. καὶ αὐτῇ τῇ ὥρᾳ κατέπεσον αὐταὶ ταῖς ὀδοῦσι τρίζουσαι καὶ τὰς κεφαλὰς εἰς γῆν κρούουσαι· καὶ ταῦτα εἰδότες ἤλθομεν ἀναγγεῖλαί σοι. Phänomene des morbus comitialis brechen sich auch in ActJoh 56 (zum Überlieferungsproblem: KLAUCK, Apostelakten, 38), wo von den zwei Zwillingssöhnen des Antipatros in Smyrna berichtet wird, die beständig gleichzeitig niederstürzen, insbesondere auch in der Bürgerversammlung. Das Leiden besteht von Kind an, zieht den Spott auf die Söhne, so dass der Vater, einer der Honoratioren der Polis, schon an einen Giftmord gedacht hat. Johannes führt die Krankheit auf unreine Geister zurück und vollzieht einen Exorzismus.
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Die Krankheitsinterpretation wird insgesamt in ActThom erweitert und rückt unter die Vorzeichen eines asketischen und enkratischen Körperkonzepts.24
4.
„Schutzsuche des Lebendigen“ – „Epileptische“ Krankheitsphänomene im rabbinischen Judentum
Mit der Frage der Krankheitskonstruktion in rabbinischen Texten eröffnet sich eine eigene Welt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Für viele Fragen sind schon angesichts der philologischen Probleme einfache Antworten verwehrt. Dies liegt auch daran, dass nicht nur das Gebiet der biblischen, sondern auch das der rabbinischen Medizin in der Forschung chronisch vernachlässigt worden ist. 25 In den in einem Zeitraum von wenigstens sechshundert Jahren entstandenen rabbinischen Schriften – die anders als in der Regel frühchristliche Texte nicht als Leistungen individueller Verfasser darzustellen sind – begegnen Probleme von Krankheit und Gesundheit eingebunden in komplexe Fragestellungen der Lebensordnung, der Reinheits- und Kulthalacha, der Frage der Zeugnisfähigkeit von Frauen oder Männern oder der Legitimität von Tätigkeiten am Sabbat. Aussagen zur Epilepsie werden durch übergeordnete Fragen der Halacha ausgelöst. So wird z. B. die Hinfall-Krankheit im Bavli innerhalb einer intensiven Diskussion der Frage verhandelt, wie lange Frauen ihre Säuglinge stillen sollen und was daraus für ihre Gemeinschaftsfähigkeit und ihre Verbindung mit ihren Männern folgt. Einschlägige Ratschläge die Hinfälligkeit betreffend können eingebunden sein in kohärente Sugiot. Daneben begegnen Abschnitte, in denen Meinungen einzelner Rabbinen weniger dialogisch als additiv wiedergegeben sind. Häufiger gibt es den Fall, dass Rabbinen einer Zeit auch im Gespräch miteinander 24
25
Siehe GUTTENBERGER, Frauen, 113–116. Möglicherweise darf auch der Wildesel in diesem Sinn gedeutet werden (so KLAUCK, Apostelakten, 173f., u. a. mit Hinweis auf Plin. nat. VIII 108, wonach das männliche Leittier einer Herde männlichen Nachwuchs sogleich durch Beißen kastriert). Nach DRIJVERS gilt für die ActThom: „Jeder Mensch kann seine eigene Erlösung frei vollziehen, sofern er sich die Erkenntnis der Wahrheit aneignet und der Geschlechtlichkeit absagt“ (DERS., Thomasakten, 295). Dagegen ist zur siebten und achten Tat festzuhalten, dass den Frauen die Freiheit zur Erlösung nicht gegeben ist. Die Hamartiologie der ActThom ist insbesondere in ihrer Verschränkung mit der Dämonologie gravierender und komplexer, als DRIJVERS voraussetzt. In der neutestamentlichen Wissenschaft wird nach wie vor das (veraltete) Werk des Mediziners PREUSS zitiert. Die Arbeiten von ROSNER sind im Umgang mit den Texten nicht immer zuverlässig (DERS., Encyclopedia; DERS., Medicine). In den medizinhistorischen Zugängen zur rabbinischen Medizin fehlen teils die philologischen Voraussetzungen. Vgl. KOTTEK, Athens; DERS., Hygiene, 2843–2865. Zur Epilepsie im rabbinischen Schrifttum: DERS., History, 3–11.
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dargestellt sind. Dies betrifft im Umfeld der Fallkrankheit das wichtige Gespann der 4. amoräischen Generation Raba und Abaje. Häufig treffen aber auch Meinungen über die Zeitgrenzen hinweg unmittelbar aufeinander. Es gibt einen großen Variationsreichtum von Spruchformen und Assoziationsprinzipien. Ein Verfahren, welches die hypothetisch frühesten Sprüche (die der ersten und zweiten tannaitischen Generation) gewissermaßen lupenrein herauszufiltern und zu isolieren sucht, ist in vielen Fällen gar nicht durchführbar und wird den Texten nicht gerecht. Wie man in der Auslegungs- und Forschungsgeschichte seit langem erkennt, ergibt sich auf der Basis der Wurzel כפהim Niph’al („gebeugt werden“/„umgestürzt werden“) ein semantisches Netz, das auf epileptische bzw. epileptiforme Krankheitsphänomene verweist.26 Zur Vereinfachung wird in den folgenden Ausführungen die Substantivbildung נִכְ פָּהvon כפהim Niph’al verwendet, um das „Hinfallleiden“ zu bezeichnen; hinzuweisen ist jedoch vorab darauf, dass ein entsprechendes Substantiv nirgends explizit in den Quellen begegnet. Das heißt, es finden sich Aussagen über die hinfällig Kranken, ihre sozialen Bezüge, ihr Handeln, nicht aber solche über die Krankheit per se. Im Folgenden kann nur eine Auswahl derjenigen Texte besprochen werden, die in der Forschung eine Rolle gespielt haben.27 1.
Beginnen wir mit dem siebenten Abschnitt des Traktats Gittin. Der Traktat setzt ein mit der Frage der Rechtsmündigkeit einer Person. Für deren Rechts- und Zeugnisfähigkeit spielt auch das sexuelle Verhalten eine wichtige Rolle. Hieraus ergibt sich in Git 70a ein exkusartiger Abschnitt über den Beischlaf im Anschluss an bestimmte Praktiken (Beischlaf nach dem Aderlass. [vgl. Midrasch Wajjikra Rabba 16,1: die Folge sind „gekrümmte“ Kinder], im Anschluss an eine Reise). Durchgängig steht die Frage im Blick, wel-
26
Vgl. LEVY, Wörterbuch, 377: „bezwungen, bewältigt werden“/„Epilepticus“; JASTROW, Dictionary, 658: „to be overtaken by a demon, esp. to be epileptic“. Ob man so weit gehen darf zu postulieren, dass „ נִכְ פָּהexactly the same meaning“ habe wie die griechische ἐπιληψία (so KOTTEK, History, 4), ist allerdings angesichts der Differenzen der mit den Begriffen je verbundenen Konzepte (siehe im Folgenden) fraglich. Nach KOTTEK könnte die Verwendung der Wurzel כפהim Niph’al in den Talmudim auf ältere jüdische Vorstellungen zurückgehen (ebd.: „still vivid in popular medicine“). Ein Sonderproblem stellt der קוּרדְּ ייָקוֹס ְ dar. Der Bavli-Traktat Gittin setzt ein mit der Frage der Rechtsmündigkeit eines Menschen, der vom sogenannten קוּרדְּ ייָקוֹס ְ befallen ist. Anders als bei stummen Menschen, deren Rechtsauskünfte dreimal überprüft werden müssen und dann gegebenenfalls gültig sind, kann der, der vom קוּרדְּ ייָקוֹס ְ befallen ist, keine Urkunden, z. B. Scheidungsbriefe, ausstellen. Die jüdische Auslegung, vor allem Maimonides, hat den קוּרדְּ ייָקוֹס ְ auf Epilepsie gedeutet. Doch bleibt dies sehr unsicher. Die Frage der Deutung beschäftigt beide Talmudim und die spätere jüdische Auslegung. Etymologisch liegt wohl nicht griechisch καρδιακός zugrunde (was auf ein Herz- oder Gemütsleiden verweisen würde), sondern κορδᾶκος, d. h. „kordax“, der Taumler. Zur Übersetzungs- und Interpretationsproblematik: ROSNER, Medicine, 60–63. KOTTEK, History, 7, erwägt „delirium tremens“. Siehe JASTROW, Dictionary, 1341.
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che Folgen sich für die Kinder ergeben. Namentlich beteiligt sind R. Papa (5. amoräische Generation) sowie Rabba b. R. Huna (3. amoräische Generation). Am Ende ihrer Äußerungen steht ein anonymer amoräischer Ausspruch: הַ בָּ א ִמּבֵּ ית הַ כִּ סֵּ א אַ ל יְ שַׁ מֵּ שׁ ִמטָּ תוֹ עַד שֶׁ יִּ ְשׁהֶ א ִשׁיעוּר חֲצִ י ִמיל ִמפְּ נֵי שֶׁ שֵּׁ ד בֵּ ית הַ כִּ סֵּ א ְמ ַלוֶּה עִ מּוֹ וְ ִאם ִשׁימֵּ שׁ הָ ַווַיִ ין לוֹ בָּ נִ ים נִ כְ פִּ ין Wer vom Haus des Thrones [d. h. vom Abort] kommt, soll nicht beischlafen [sein Bett], bis er die Zeit eines halben Mil abgewartet hat, denn der Dämon des Hauses des Thrones [d. h. des Abortes] begleitet ihn; aber wenn er beigeschlafen hat [sein Bett], so sind ihm „epileptische“ Kinder.
Der Gedankengang des Abschnitts setzt voraus, dass Epilepsie ein Kinderleiden ist, und verfolgt die Frage, wie man die Krankheit verhindern kann. Es geht also nicht um eine Problematisierung von Sexualität als solcher, 28 sondern um Fragen der Prävention in einem bestimmten Zusammenhang. Medizinische Konnotationen stellen sich ein, wenn im Kontext vom Aderlass die Rede ist. Plausibilität gewinnt der paränetische Spruch auf dem Hintergrund eines Denkens, das einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Tun der Eltern und dem Ergehen der Kinder konstruiert. Danach zeugt derjenige epileptische Kinder, der nach dem Gang zum Haus des Thrones, d. h. zur Toilette, vor dem Geschlechtsverkehr nicht so lange wartet, wie man zum Zurücklegen eines halben Mil29 benötigt. Begründet wird dieses zeitliche Warteintervall mit der Vorstellung eines שֵׁ ד. שֵׁ דbietet innerhalb der jüdischen Dämonologie die gängigste Bezeichnung für ein bösartiges numinoses Zwischenwesen. Bei dem „Sched des Haus des Thrones“ handelt es sich dabei um ein Wesen, das sein Opfer von der Toilette eine Zeit lang begleitet, es dann aber wieder verlässt, um zu seinem Ort zurückzukehren. Als wahrscheinlich kann gelten: Bedrohungen der Gesundheit durch mangelnde Hygiene werden personal interpretiert.30 Mit der Frage der Provenienz dieses besonderen שֵׁ דwird man im Bavli auf Vorstellungen der babylonischen Umwelt verwiesen. Der Bavli-Traktat Gittin ist insgesamt in seiner Dämonologie unter den rabbinischen Schriften ein besonderer Text. Er führt in das Feld der weit verzweigten und entwickelten babylonisch-jüdischen Dämonologie.31 Festzuhalten ist die Ausnahmestellung der Aussage in Git 70a. Für die 28
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Epileptische Krankheitsphänomene gelten noch in der zeitgenössischen Literatur vielfach als interdependent mit sexueller Erregung. Vgl. in MORANTES „La storia“, wo die Jüdin Ida Manusco von einem deutschen Soldaten vergewaltigt wird und währenddessen einen epileptischen Anfall erleidet (a. a. O., 68f.). Nach b Pes 93b und 94a ist ein halbes Mil ein Zwanzigstel der Strecke, die man bei mittelmäßigem Schritt an einem Tag zurücklegt. Ein שֵׁ ד בֵ ית הַ כִּ סֵּ אist sonst nur im Traktat b Shab erwähnt, wo eine Beschwörung gegen sein Wirken überliefert ist (Shab 67a). Daneben weiß b Qid 72a von „Seirim der Toilette“. Hier begegnet auch die Legende, nach der Salomo von Dämoninnen erfährt, dass Aschmedai, der König der Dämonen, über den für den Tempelbau benötigten Schamirstein Bescheid weiß. Es folgt dann die Geschichte von der Überlistug des Teufels, in der ein Ring
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Heilige Krankheit? weiteren rabbinischen Texte ist eine solche Verbindung von נִכְ פָּהmit einem Dämon nicht charakteristisch.32 Nicht übersehen werden darf auch, dass auch in Git 70a die Krankheit keineswegs dämonologisch interpretiert wird, insofern die Vorstellung einer Gefährdung durch einen Dämon auf dem Abort von der Annahme zu unterscheiden ist, dass ein kranker Mensch besessen sei. Git 70a setzt voraus: Ein Dämon kann bei der Zeugung eines Kindes eine Störung verursachen. Die Folge dieser Störung aber ist eine Krankheit, nicht Besessenheit.
2.
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Die überwiegende Anzahl rabbinischer Äußerungen zur ִנכְ פָּהgibt dagegen keine Verbindung der Krankheit mit Dämonen zu erkennen. Die Leitlinie der Deutung ist nicht dämonologisch, sondern physiologisch-sozial am Schutz des Lebendigen orientiert. Eine ganze Reihe von Texten gibt Einblick in Voraussetzungen und Implikate der physiologischen Krankheitskonstruktion, wobei eine übergeordnete Systematik kaum zu gewinnen, vielmehr die Individualität und Distinktheit einzelner Interpretamente zu wahren ist. und Wein eine wichtige Rolle spielen (vgl. TestSal; vgl. CHARLESWORTH, Testament, 935–937, 948f.). Zur frührabbinischen Dämonologie: BECKER, Wunder, 141–183; dieser findet in den frühen rabbinischen Zeugnissen – in gewisser Spannung zu anderen antik-jüdischen und frühchristlichen Texten – einen „weitgehend ritualisierten Umgang mit dem Dämonismus auf der individuell-präventiven Ebene […]“ angedeutet (a. a. O., 182). Midrasch Shocher Tov 91 berichtet, dass, als jemand den Dämon קטב מריריsah, dieser auf sein Gesicht stürzte. In Verbindung mit dem Objekt על פניןist hier wohl nicht an „Epilepsie“ zu denken. Wajjikra Rabba 26,5 differenziert in einer Episode auf dem Friedhof die Heilung eines Israeliten und die eines Priesters durch einen erfahrenen Arzt. Über die literarischen Zeugnisse hinaus bedürften Funde und Relikte der „Alltagsreligiosität“ einer eigenen Würdigung. Amulette ( )קמיעexistierten in zwei Formen: Als Schriftamulette und als Wurzel- oder Kräuteramulette. Darüber hinaus gab es „Zauberschüsseln“ (englisch: „bowls“), von denen einige erst in den letzten Jahren in Mesopotamien bzw. Babylonien und im Iran gefunden wurden. Diese Zauberschüsseln bestehen aus Ton und sind auf der Innenseite in verschiedenen aramäischen Dialekten (jüdisch-aramäisch, syrisch und mandäisch) beschriftet. Die Schrift ist kreisförmig angeordnet. Oft sind zusätzlich dämonische Figuren abgebildet. Sinn und praktische Verwendungsformen dieser „bowls“ sind bislang umstritten. Eine These lautet, dass man die Schüsseln wie Mausefallen verwendet hat, die umgestülpt wurden, um die Dämonen zu fangen. Zu (späteren) jüdischen Amuletten und „bowls“, die möglicherweise gegen epileptische Krankheitsphänomene schützen sollten: KWASMAN, Dämon, 35–43. S. SHAKED hat die Inschrift einer Zauberschüssel publiziert, die für eine Patientin mit Namen Māhdukh, Tochter von Nēwāndukh, fabriziert wurde (DERS., Peace; Text und Übersetzung a. a. O., 207–211). Nach KWASMAN könnten sich die in Abschnitt 11 und 12 der Wiedergabe von SHAKED genannten Symptome auf einen babylonischen Epilepsie-Dämon beziehen (DERS., Peace, 41). Zu den in Frage kommenden Dämonenarten (besonders Dachgeister werden im Zusammenhang epileptischer Krankheitsphänomene diskutiert; vgl. STOL, Epilepsy, 16–19, zu „Lugalurra“) siehe insgesamt das Material NAVEH/SHAKED, Amulets; DIES., Spells; SCHÄFER/SHAKED, Texte (vgl. a. a. O., Bd. 1, 42, zu den ‚Dachgeistern‘). Zu astrologischen Konzepten jüdischer Epilepsiedeutung: WOHLERS, Krankheit, 49–64, 105–121, 181–200.
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b Pes 112b wird im langen Abschnitt 10 (der Folium 99, Kolumne b beginnt) davor gewarnt, nackt vor einer Lampe zu stehen, da man andernfalls „epileptisch“ werde ()הָ וֵי נִכְ פֶּה. Ebenso gelte, dass der, der vor dem Licht einer Lampe Geschlechtsverkehr habe ()וְ הַ ְמּשַׁ מֵּ שׁ ִמטָּ תוֹ לְ אוֹר הַ נֵּר, „epileptische“ Kinder haben werde ()לוֹ בָּ נִים נִכְ פּ ִין. Im weiteren Sinn liegen hier medizinische Ratschläge vor, die auf Erfahrung und gedeuteter Beobachtung basieren (vgl. die hygienischen und diätetischen Ratschläge, die im Blick auf den Aussatz vorausgehen). Dass Licht, insbesondere flackerndes, oszillierendes Licht einen epileptischen Anfall auslösen kann, wird anders auch in der frühen griechischen und römischen Medizin erkannt. 33 Vieldeutig bzw. dunkel bleibt die ätiologische Aussage b Ket 60b. Sie steht im Rahmen eines längeren thematischen Diskurses über die Dienstanweisungen für Frauen und Ammen. Im Kontext begegnen haustafelähnliche Bestimmungen für das Stillen der Säuglinge und Ernährungsratschläge von Rabbinen der 5. und 6. Amoräergeneration: Es folgt dann eine Reihe formal gleichförmiger Sprüche. In der Protasis ist jeweils vom Essen einer bestimmten Speise die Rede, in der Apodosis von den Folgen für die – nicht gesäugten, sondern gezeugten – Kinder. An der Spitze dieser Sprüche steht der anonyme Satz: ִדּ ְמשַׁ ְמּשָׁ א בֵּ י ִריחְ יָא הֲווֹ לַהּ ְבּנֵי נִ כְ פֵּי Die den Beischlaf in einer Mühle vollzieht, bekommt epileptische Kinder.
Das zugrunde liegende Kausalitätskonzept bleibt wiederum undeutlich. Auffällig ist, dass anders als im Traktat Gittin nicht der Mann, sondern die Frau als Akteurin bzw. aktive Verursacherin gedacht ist (vgl. den folgenden Spruch von der sexuellen Verbindung auf dem Boden). Zum Thema des Stillens, das sich als Einschub in das Ammenthema interpretieren lässt, kehrt die Diskussion im Anschluss zurück. Insgesamt ist die Frage des Wohles des Kindes in die nach dem Wohlergehen der Stillenden integriert. So heißt es im Folgenden auch, dass auf die Frau, die Schmerzen hat, gehört werden muss. Immer wieder stoßen wir in den rabbinischen Aussagen auf Beobachtungen, die sich in weiterem Sinn als (laien-)medizinisch einordnen lassen 33
Sehr schwer zu interpretieren ist im gleichen Zusammenhang b Pes 112b die Vorstellung der Amoräer, dass ein Kind „epilepsiekrank“ wird, wenn es im Bett seiner Eltern schläft, die sexuellen Kontakt haben. Der Vorgang ist avisiert aus der Perspektive des aktiven Mannes: – הַ ְמּשַׁ מֵּ שׁ ִמטָּ תוֹ עַל ִמטָּ ה שֶׁ ִתּינוֹק יָשֵׁ ן ָעלֶיהָ אוֹתוֹ ִתינוֹק נִכְ פֶּהDies jedoch nur, wenn das Kind noch jünger als ein Jahr ist. Und dies nur, wenn es auf der Fußseite, nicht wenn es auf der Kopfseite der Eltern schläft. Zudem können die Eltern die Erkrankung verhindern, wenn sie dem Kind die Hand auf den Kopf legen. Der Abschnitt beschäftigt sich nicht mit der Frage von Einflüssen auf den Zeugungsvorgang, wie das vom Kontext her zu erwarten wäre. Vielmehr begegnet die Vorstellung, dass ein Säugling in den ersten Monaten durch Fehlverhalten der Eltern erstmals erkranken kann, wobei ein sympathetischer Zusammenhang zum sexuellen Verhalten der Eltern vorausgesetzt ist. Von dämonischer Mitwirkung verlautet ebenso wenig etwas wie von Erblichkeit des Fall-Leidens.
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Heilige Krankheit? und die in Mahnungen oder Warnungen münden, die dem Schutz der Gesundheit dienen sollen.
3.
Rabbinische Aussagen über נִכְ פָּהsetzen von der Frage nach den sozialen Implikationen des Leidens her an. Beim Kindesschutz kann dabei je nach Kontext sowohl die Rolle der Väter als auch die Rolle der Ehefrauen und Mütter hervorgehoben werden, die ihre Säuglinge nach festen Regeln stillen oder in der Mühle arbeiten. Schon im Corpus Hippocraticum, im Traktat „Über die Heilige Krankheit“, findet sich die Vorstellung, dass Epilepsie erblich ist. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen können auch rabbinische Texte kommen. In b Jev 64b wird in einem längeren Diskussionsabschnitt, in dem es um verschiedene Probleme der Unfruchtbarkeit von Frauen und auch von Männern (bzw. auch um Kindersterblichkeit) geht, der Fall der Schwester einer unfruchtbaren Frau angesprochen (von Rabbi Chijja ben Abba; ein Schüler Rabbis der 5. tannaitischen Generation). Es folgt ein Ausspruch Rabas, eines wichtigen babylonischen Amoräers der 4. Generation (gestorben 352 n. Chr.; häufig Gesprächspartner des Abaje), der das Problem auf die Familie insgesamt ausweitet und den speziellen Krankheitsfall akzentuiert: אָמַ ר ַרבָּ א הַ ְשׁתָּ א ְדּאָ מַ ְרתָּ אֲחָ יוֹת ְמחַ זְּקוֹת ל ֺא יִ שָּׂ א אָ דָ ם ִאשָּׁ ה ל ֺא ִמ ִמּ ְשׁפַּחַ ת נִ כְ פִּ ין וְ ל ֺא ִמ ִמּ ְשׁפַּחַ ת ִימנֵי ְ צוֹרעִ ים וְ הוּא ְדּ ִא ְתחַ זֵּק ְתּלָתָ א ז ָ ְמ Rabba sagt: „Und jetzt, da du sagst, Schwestern beweisen es: Ein Mann soll nicht eine Frau aus einer Familie von ‚Epileptikern‘ noch aus einer Familie von Aussätzigen nehmen. Das gilt aber [sc. nur dann], wenn es durch drei Male festgelegt ist.“
Eine gefährdete Familie wird hier so definiert, dass in ihr drei Krankheitsfälle nachweisbar sein müssen. Die „Festlegung“ durch drei Male kann sich dabei sowohl auf einen Strang der Familie als auch auf eine Generation beziehen.34 נִכְ פָּהerscheint als ein intermittierendes Leiden, das das Binnensystem der Familie affiziert, von der die Geschwister der Frau betroffen sind und das generationenübergreifende Folgen hat. Die Annahme der Erblichkeit von נִכְ פָּהwird anders auch hinter Aussagen der Tosefta erkennbar, wonach in bestimmten Fällen die Verlobung mit einer epilepsiekranken Frau wieder zu lösen ist. In der Tosefta finden sich im Traktat Bava Batra IV 5 Anweisungen, wonach נִכְ פָּהim Zusammenhang der Annullierung des Verkaufs einer Sklavin erwähnt wird, nämlich für den Fall, dass der Verkäufer die Krankheit ( )נִכְ ֵפּיה היאin einem Bündel von vitia zu verbergen sucht.35 In t Ket VII 9a.10 gilt Entsprechendes für den Fall der 34
35
„In later rabbinic literature, there is a need for three cases only if the family relationship is remote, but if there are two cases in a fratry, this is enough to consider it as a ‚family of epileptics‘“ (KOTTEK, History, 6f. mit Fig. 1). Ob hier Kodex Hammurabi § 278 verglichen werden darf, ist sehr unsicher, insofern „bennu“ nicht eindeutig im Sinne epileptischer Phänomene interpretiert werden darf.
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Verlobung der Tochter durch den Vater. In b Ket 77a werden bei der zu verheiratenden Frau unterschiedliche Krankheitsverläufe distinguiert, nämlich solche, bei denen Anfälle regelmäßig, und solche, bei denen sie unregelmäßig auftreten. Im Fall regelmäßiger Anfälle gehört das Leiden unter die geheimen Fehler, d. h. der Mann muss sie nicht vorher erkennen. Hat die Frau dagegen in unregelmäßigen Abständen epileptische Anfälle, so gehört das Leiden in die Gruppe der offenbaren Fehler, die der Mann vorher eruieren muss (vgl. b Ket 75a). 4.
Zuletzt stellt sich die Frage der religiösen Krankheitskonstruktion. Auffällig ist, dass in den rabbinischen Schriften im Zusammenhang von Krankheiten dezidiert theologische Aussagen selten zu finden sind. Das heißt aber nicht, dass eine theologische Deutung einfach ausfällt. Zuerst ist festzuhalten, dass anders als in griechischen und römischen Texten den rabbinischen Schriften die Meinung gänzlich fernliegt, נִכְ פָּהkönne eine „heilige“ Krankheit beschreiben. Hier ist eine bleibende Diskrepanz zwischen rabbinischem Judentum und ‚paganer‘ Krankheitsdeutung zu verzeichnen. Dagegen spielen Konzepte der Reinheits- und Priesterhalacha eine wichtige Rolle und geben dem Leiden eine bestimmte religiöse Wertigkeit. Im eben schon angeführten Text b Jev 64b steht die Hinfälligkeit parallel zum „Aussatz“ (צוֹרעִ ים ָ מּשׁפַּחַ ת ְמ ְ )מ. ִ Damit ist נִכְ פָּהmit einer Krankheit korreliert, die nach Lev 13f. einen Komplex vorrangig religiös definierter Körperphänomene beschreibt. Allerdings ist festzuhalten: Der Vergleichspunkt zwischen Aussatz und Epilepsie ist auch hier nicht der der religiösen Diskriminierung, sondern zuerst die Vorstellung der Erblichkeit.36 Schreitet man den Weg zurück bis zur Mischna ab, so wird in Bekh VII 5 die Fallkrankheit נִכְ פָּהmit der Frage der Kultfähigkeit verknüpft. ְשׂפָתוֹ הָ עֶלְ יוֹנָה עוֹדֶ פֶת עַל הַ תַּ חְ תּוֹנָה וְ הַ תַּ חְ תּוֹנָה עוֹדֶ פֶת עַל הָ עֶלְ יוֹנָה ה ֲֵרי זֶה מוּם וְ שֶׁ נִּ יטְּ לוּ ִשׁנָּיו פָּסוּל ִמפְּ נֵי מַ ְר ִאית הָ עַיִן דַּ דָּ יו שׁוֹכְ ִבים כְ שֶׁ ל ִאשָׁ ה כְּ ֵרסוֹ צָ בָ ה טַ בּוּרוֹ יוֹצֵ א נִ כְ פֶּה אֲפִ ילוּ אַ חַ ת לְ י ִָמים אוּשׁכָּן וּבַ עַל גֶּבֶ ר ְ ר ַוּח קוֹצְ ִרית בָּ אָ ה ָעלָיו הַ ְמּ […] Ragt seine Oberlippe über die Unterlippe hinaus, oder die untere über die obere, so ist das ein Makel. Hat er seine Zähne verloren, ist er untauglich wegen Unansehnlichkeit. Hängen seine Brustdrüsen herunter wie die einer Frau, ist sein Bauch geschwollen, steht sein Nabel vor, ist er „epileptisch“, selbst nur einmal in [vielen] Ta-
36
Vgl. TEMKIN, Sickness, 47; grundlegend: STOL, Epilepsy, 5–7, 133–135. Weitere antike Texte zu „Epilepsie“ im Zusammenhang mit Sklavenverkauf: LESKY/WASZINK, Art. Epilepsie, 829. Zum häufigen Konnex von „Epilepsie“ und Aussatz in babylonischen Texten: STOL, Epilepsy, 146f.: „Both illnesses evoked uncanny feelings of disgust, a disgust mixed with awe […] one might say that epilepsy and leprosy […] can be considered as internal and external manifestations of the same affliction“ (unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass in beiden Krankheitsfällen dieselben Medikamente wie z. B. Helleborus zur Anwendung kamen).
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Heilige Krankheit? gen, kommen Depressionen über ihn, dessen Hoden oder Glied zu groß sind, [diese sind untauglich] […]. 37
Gilt hier ein Fallkranker für das Priesteramt als untauglich für alle Zeit, selbst wenn er nur einmal „in [vielen] Tagen“ ( )אַ חַ ת לְ י ִָמיםeinen Anfall gehabt hat, so ist zugleich festzuhalten, dass נִכְ פָּהauch hier nicht als religiöser Sonderfall herausgehoben wird. Es geht im Zusammenhang der Tempel- und Priesterhalacha nicht um eine besonders qualifizierte „heilige“ Krankheit. נִכְ פָּהist vielmehr in einer Reihe weiterer körperlicher Phänomene und Makel integriert. Ebenso wie die Fallkrankheit machen Zahnlosigkeit, Schwermut, ein vorstehender Bauchnabel oder eine verlängerte Ober- oder Unterlippe für den Priesterdienst untüchtig. Insgesamt ist damit ein einziges und durchgängiges Axiom, von dem her die Krankheit konstruiert ist, in den vielfältigen rabbinischen Äußerungen nicht aufweisbar. Das Ontologie-Problem stellt sich in ihnen zugespitzt.38 Die Texte greifen auf wechselnde Evidenzquellen und kulturelle Muster zurück, die teilweise schwer zu erhellen und einzuordnen sind. Es finden sich laienmedizinische Beobachtungen und Ansätze medizinischer Gelehrsamkeit. Hierbei ergeben sich teilweise Einsichten und thematische Fragestellungen, die Vergleichspunkte zur frühen hippokratischen Medizin wie auch zu späteren griechischen und römischen medizinischen Konzepten (insbesondere denen der pneumatischen Medizin) bieten.39 In der religiösen Krankheitskonstruktion sind die rabbini-
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Auch die Übersetzung von DANBY (DERS., Mishnah) sowie die von BLACKMAN (DERS., Mishnayoth, 277) deuten auf Epilepsie. Man vermisst ein kohärentes symptomatisches Bild, wie es die griechischen und römischen Texte geben können. Beispielsweise ist an keiner Stelle vom „Schäumen“ oder Zähneknirschen der Kranken die Rede. Konvergent sind das „Stürzen“ sowie die Beachtung des Kindesleidens. Auf Entsprechungen zur Epilepsiekonstruktion im Corpus Hippocraticum, bei Aretaios, Galen sowie in weiteren antik-medizinischen Zeugnissen und in rabbinischen Texten verweist auch KOTTEK, History; z. B. a. a. O., 5: „The relationsship between epilepsy and coition was common in ancient medical literature […]“ (vgl. zur „Aura“ a. a. O., 6). Doch wäre hier stärker zwischen analogen Beobachtungen und strukturanalogen Konzepten und Interdependenzen zu unterscheiden. Generell bietet die Frage einer direkten Beeinflussung rabbinischer Texte durch griechische oder römische medizinische Anschauungen ein notorisch problematisches Feld. Das talmudische Verdikt, die Griechen zu studieren (b BQ 82b), steht teilweise in Spannung zu Annäherung und engeren Vergleichspunkten. Jüdische medizinhistorische Untersuchungen bestreiten teils kategorisch jedweden fremden kulturellen Einfluss auf die talmudische Medizin (so z. B. klassisch KAZENELSON). Medizinische „Lehnwörter“ im Talmud machen dagegen wahrscheinlich, dass man die „pagane“ medizinische Kunst durchaus wahrgenommen hat. Umstritten ist allerdings seit KRAUSS, Lehnwörter, die Definition solcher Lehnwörter bzw. die Frage, ob man sie im rabbinischen Judentum auch als Lehnwörter verstanden hat. Darüber hinaus sind Talmudstellen zu berücksichtigen, die der hippokratischen Anschauung von der Balance der Körper-
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schen Meinungen sehr zurückhaltend. Gänzlich fern liegt den rabbinischen Äußerungen die Vorstellung, dass es sich – wie es die Griechen annahmen – um eine heilige Krankheit handeln könnte. Das Leitmotiv der Krankheitskonstruktion ist insgesamt auch dort, wo theologische Wertungen eine Rolle spielen, das der Prävention, die Orientierung am Schutz des Lebendigen. In alldem geben die rabbinischen Texte zu erkennen, eine wie schwerwiegende Belastung das נִכְ פָּהLeiden für die Erkrankten und für die Gemeinschaft darstellt. Im Talmud finden sich bei anderen Krankheiten ausführliche pharmakologische und diätetische Anweisungen zur Therapie. Solche Therapieanweisungen fehlen für נִכְ פָּה/„Epilepsie“. Dies hängt damit zusammen, dass man auch in der späteren Zeit kein Mittel gegen das Leiden kannte.40 Wir kehren nun zum Ausgangspunkt christlicher Epilepsiedeutung zurück, zur Geschichte von dem „epileptischen“ Kind in Mk 9,14–29 par, und damit zu einem der wenigen Texte der Spätantike, die von der tatsächlichen Heilung eines Falles von Epilepsie berichten.41
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flüssigkeiten nahe zu kommen scheinen. Vgl. NEWMYER, Medicine and Greek Sources, 34–57; DERS., Medicine; KOTTEK, Elements, 2912–2932. Zu mittelalterlichen jüdischen Heilformen: KOTTEK, History, 8f. Vgl. das Versprechen, das der Rabbi in Joseph Roths Roman Hiob der Mutter Deborah für ihr epileptisches Kind gibt, welches nicht auf Heilung zielt: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark“ (a. a. O., 190). Vgl. noch Orig. comm. in Mt. XIII 6: „Und diese Krankheit ist so schwer heilbar, daß sogar diejenigen, die die Gnadengabe der Heilung der Besessenen haben, es manchmal ablehnen […]“. In der hippokratischen Medizin schien Behandlung nach der Maxime contraria contrariis möglich (s. o.; vgl. CH morb. sacr. XVIII 5). In späteren antik-medizinischen Texten sind unter den Therapieansätzen u. a. Schröpfen, Purgieren (Cael. Aur. chron. I 81) und auch Arteriotomie sowie sogar Trepanation genannt (Aret. VII 4,2f.; vgl. WELLMANN, Schule, 55–60 mit Anm.). Vgl. den Überblick über die Behandlung der „Epilepsie“ in der Antike bei WOHLERS, Krankheit, 151–242. Zu den diätetischen und weiteren Anweisungen Galens: KEIL, consilium; Oreib. coll. med. XLV 30,10–14 berichtet von der Heilung des Epileptikers Teukras im Asklepieion von Pergamon durch Krankheitssubstitution; Epilepsie wird durch ein Quartanfieber ersetzt (καὶ αὐτῷ ἥκει τεταρταῖος πυρετός, καὶ τὸ ἀπὸ τοῦδε τῆς ἐπιληψίας ἐξάντης γίνεται). Vgl. zu medizinischen Epilepsie-Therapien den Überblick bei LESKY/WASZINK, Art. Epilepsie, 827–829. Zahlreiche als magisch eingestufte „Medikamente“ gegen die Komitialkrankheit finden sich bei Plinius d. Ä., beispielsweise das Einschlagen eines eisernen Nagels an der Stelle, an der der Kranke zum ersten Mal zu Boden geworfen wird (Plin. nat. XXVIII 63; zur apotropäisch-heilenden Funktion des Eisens: MCNUTT, Forging). Vgl. weitere magische Mittel in Plin. nat. XXVIII 7.34.92.99.226.259; XXX 34. Häufig genanntes Mittel gegen Epilepsie ist der Genuss von frischem Blut (Cels. med. III 23,7; Scribonius Largus compos. 17; Alex. Trall. I 15; Plin. nat. XXVIII 4,24; vgl. kritisch Min. Fel. XXX 5). Auch Tertullian (Tert. apol. IX 10) weiß von solchen, die in der Kampfarena „das Blut der getöteten Verbrecher, wenn es noch frisch ist und aus ihrer Kehle herabfließt, mit gierigen Zügen einschlürfen, um damit die Fallsucht zu heilen ([…] illi, qui munere in arena noxiorum iugulatorum sanguinem recentem, de iugulo decurrentem [exceptum], avida siti comitiali morbo medentes hauserunt […])“
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5.
Heilige Krankheit?
Der Sieg über die „heilige Krankheit“ in Mk 9,14–29 par
Mk 9,14–29, die älteste synoptische Fassung der Geschichte von der Heilung des epileptischen Kindes,42 ist in verschiedener Hinsicht eine ungewöhnliche Erzählung. Einige Besonderheiten seien zunächst hervorgehoben, wobei auch im Folgenden die Leitfrage die nach der Krankheitskonstruktion sein wird. 1.
Mk 9,14–29 bietet die letzte Exorzismuserzählung im Markusevangelium. Sie lässt sich in vier grobe Teile gliedern. Mk 9,14–16 beinhaltet den Erzählrahmen sowie die Einleitung, 9,17f. gibt die Exposition – das hinfällige Kind wird in direkter Rede von seinem Vater vorgestellt –, 9,19–27 lässt sich insgesamt als (weiter zu untergliederndes: 9,19–20a: Anrede an die Menge und die Jünger; 9,20b.c: Widerstand des Dämons; 9,21–24: Anamnetischer Dialog Jesu mit dem Vater; 9,25–27: Exorzismus und Reanimation) Zentrum darstellen; 9,28f. bildet eine eigene episodische Einheit, korrespondiert der Rahmenerzählung 9,14–16 und ist auch über die erneute Thematisierung der Jünger mit der Gesamterzählung verbunden. Bei solchem Aufbau fällt auf, dass die Exposition ungewöhnlich lang und vielschichtig ist. In keiner anderen Wunderepisode des zweiten Evangeliums bedarf es eines so langen und mehrstufigen Anlaufs, gibt es so viele retardierende Elemente. Im Kontrast dazu steht die Knappheit der berichteten Heilung (9,25–27). Man kann die Erzäh-
42
Hinter der folgenden Auslegung steht die Überzeugung, dass Mk 9,14–29 auf der Ebene der Jetztgestalt des Textes einer planvollen Konzeption folgt. Diachron betrachtet gehen wahrscheinlich Mk 9,14–16.28f. auf den zweiten Evangelisten zurück. Zur überlieferungsgeschichtlichen Analyse: GNILKA, Evangelium, Teilbd. 2, 44–46. Es sprechen einige ernst zu nehmende Gründe dafür, dass Mt 17,14–21 par Lk 9,37–43a (zahlreiche minor agreements) einer anderen Traditionsvariante verpflichtet gewesen sein könnten (vgl. mit anderen KOLLMANN, Christen, 210f.; LUZ, Evangelium, Teilbd. 2, 519f.), die freilich nicht mehr sicher rekonstruierbar ist. Auch auf der hypothetisch ältesten Stufe – wie immer man sie rekonstruiert – vollzieht sich die Heilung des epileptischen Kindes in einer Auseinandersetzung Jesu mit einem Geist/Dämon (bei Mt gilt allerdings, dass er die Aussage der Besessenheit des kranken Jungen zurückhält, „bis er es wirklich nicht mehr verschweigen konnte [V.18!]“; LUZ, a. a. O., 521). Die lukanische Version der Erzählung bringt das Motiv des ‚Einziggeborenen‘ ein wie in Lk 7,12 beim Jüngling zu Nain. WEISSENRIEDER, Images, 276–282, geht von direkter Markus-Abhängigkeit der lukanischen Fassung aus. Nach ihrer Sicht wären insbesondere die Kürzungen des markinischen Textes durch Lukas als eine Annäherung an ein medizinisches Verständnis von Epilepsie zu interpretieren (vgl. CH morb. sacr. I der mit der Gottheit Ares verbundene Krankheitsverlauf). Typisch lukanisch ist ἰάσατο in Lk 9,42. Ansonsten ist es im Unterschied zu Lukas jedoch gerade der markinische Text, dem weitreichende Nähe zu Schilderungen der Epilepsie eignet, wie wir sie auch sonst in antiker Literatur, insbesondere in antik-medizinischen Schilderungen finden.
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lung für die Interpretation öffnen, indem man zunächst auf die extravaganten Züge im Erzähleingang achtet. a) Ungewöhnlich ist zuerst, dass die Menge nicht nur Jesus begrüßt, sondern schon vor ihm „erschaudert“, bevor er irgendetwas getan hat (9,15: καὶ εὐθὺς πᾶς ὁ ὄχλος ἰδόντες αὐτὸν ἐξεθαμβήθησαν καὶ προστρέχοντες ἠσπάζοντο αὐτόν). Die besondere Hoheit Jesu wird so schon zu Beginn stark betont. b) Extravagant ist weiter die ausführliche und präzise Schilderung der Erkrankung des Kindes. Bereits in 9,17f. gibt der Vater einen genauen Bericht über die Symptome; dieser wird im anamnetischen Dialog in 9,21f. weiter expliziert. Die Ausführlichkeit der Krankheitsexplikation geht zugleich einher mit der Artikulation tiefgreifender Skepsis bezüglich der Heilbarkeit. Die Jünger konnten nicht helfen – so der Vater im Erzähleingang in 9,18 (καὶ εἶπα τοῖς μαθηταῖς σου ἵνα αὐτὸ ἐκβάλωσιν, καὶ οὐκ ἴσχυσαν). Ob Jesus Hilfe zu leisten vermag, kann der Vater aus eigener Kraft nicht glauben (9,22: ἀλλ᾿ εἴ τι δύνῃ, βοήθησον ἡμῖν σπλαγχνισθεὶς ἐφ᾿ ἡμᾶς). Diese Linie mündet in 9,26: der Exorzismus endet mit dem (scheinbaren) Tod des Kindes (καὶ ἐγένετο ὡσεὶ νεκρός, ὥστε τοὺς πολλοὺς λέγειν ὅτι ἀπέθανεν). c) Überraschend ist weiter, dass sich in 9,19 unvermittelt und unmotiviert eine Scheltrede an die Menge und (so ergibt sich aus dem Zusammenhang: auch) an die Jünger findet.43 Ihre narrative Funktion besteht darin, dass sie ein weiteres durchgehendes Thema der Erzählung eröffnet: Das Thema des Glaubens (Ὦ γενεὰ ἄπιστος, ἕως πότε πρὸς ὑμᾶς ἔσομαι; ἕως πότε ἀνέξομαι ὑμῶν;), das in 9,23f. weitergeführt wird (τὸ εἰ δύνῃ, πάντα δυνατὰ τῷ πιστεύοντι. εὐθὺς κράξας ὁ πατὴρ τοῦ παιδίου ἔλεγεν πιστεύω· βοήθει μου τῇ ἀπιστίᾳ). Auffällig ist diese thematische Verschränkung insofern, als das Glaubensmotiv im Markusevangelium sonst zwar in Heilungsgeschichten, nie jedoch in Exorzismuserzählungen (vgl. 9,25–27) begegnet. In Mk 9 steht der Glaube dabei nicht auf der Seite des Geheilten (vgl. 5,34.36; 10,52), sondern auf Seiten des Hilfe suchenden Vaters (vgl. 2,5 von der πίστις der Träger; 4,40; 11,22). In keiner anderen therapeutischen Episode tun sich die Hilfsbedürftigen oder ihre Stellvertreter dabei so schwer mit dem Glauben wie der Vater in 9,14–29. Dieser Sinnlinie der Erzählung ist schließlich auch die Unfähigkeit der Jünger zuzuordnen, in der Abwesenheit Jesu das Kind zu heilen; und diese Linie wird im Erzählschluss mit der Rede vom Gebet wieder aufgenommen (9,28f.). 43
Hierzu BORING, Mark, 274: „The one who here speaks is not merely an exasperated human being, but the Son of God, who does not ultimately belong to this world […]“ (mit Hinweis auf Num 14,11; Dtn 32,20).
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Heilige Krankheit?
2.
Damit stellt sich die Frage der Krankheitskonstruktion in Mk 9,14–29. Das Profil wird ungewöhnlich klar. In keiner anderen markinischen Wundergeschichte setzen sich die Symptome einer Krankheit im Lauf der Erzählung so detailliert zusammen. Diese Symptome – Auf-die-Erde-Stürzen (Mk 9,18. 20.26; vgl. Cels. med. III 23,1; Aret. I 5,2 u. a.), Schäumen (Mk 9,18.20; vgl. CH morb. sacr. VII 1; Cels. med. III 23,1; Aret. I 5,4.7; Lukian Philops. 16 u. a.), Zähneknirschen (Mk 9,18; CH morb. sacr. VII 1; Aret. I 5,4.7 u. a.) und der todesähnliche Zustand nach dem Anfall – finden Zug um Zug ihre Entsprechungen in Texten der griechisch-römischen Medizin.44 Die Lesenden werden damit auf das griechisch-römische Krankheitskonzept gewiesen, inszeniert wird hier die griechisch-römische Epilepsie, die „heilige Krankheit“. Auf diesem Hintergrund erfolgt nun jedoch im Markusevangelium eine entscheidende Umwertung: Zwar ist die Krankheit des Kindes übernatürlich
44
Vgl. im Überblick: HEINTEL, Quellen. Pars pro toto ist auf Aret. caus. acut. morb. I 5 zu verweisen [Übers. KUDLIEN, in: HEINTEL, Quellen, 22–24]: „[…] Manche fallen hin ohne Anlaß, aus einer bedrückten Stimmung heraus (κατέπεσον γοῦν τινες ὑπὸ προφάσιος ἐξ ἀθυμίης) […] Die großen Finger der Hände oder Füße kontrahieren sich, und Schmerz, Betäubung und Zittern folgen (δάκτυλοι γοῦν μεγάλοι χειρῶν ἢ ποδῶν ξυνέλκονται, καὶ πόνος καὶ νάρκη καὶ τρόμος ἕπεται). […] Viele aber haben Furcht wie vor einem nahenden Tier oder die Phantasie eines Schattens, und so fallen sie nieder (πολλοῖσι δὲ φόβος ἐστὶ ὡς ἐπίοντος θηρίου, ἢ σκιῆς φαντασίη, καὶ οὕτω κατέπεσον). Beim Anfall aber liegt der Mensch ohne Empfindung (ἐν δὲ τῇ σημασίῃ ἀναισθήτως μὲν κέεται ὥνθρωπος [sic]) […] Der unglückselige Anblick gleicht dem geschlachteter Stiere […] Sie sperren sehr den Mund auf. Der Mund ist trocken; die Zunge hängt lang heraus, so daß auch die Gefahr einer großen Wunde oder des Abbeißens besteht, falls einmal die Zähne aufeinanderstoßen (χάσκουσι μέγα· στόμα ξηρόν· γλῶσσα προμήκης, ὡς καὶ κίνδυνον τρώματος μεγάλου γίγνεσθαι, ἢ ἀποτομῆς, κοτε σπασμῷ ξυνερείσουσιν οἱ ὀδόντες) […] sie spucken aber Schaum, wie bei den großen Stürmen das Meer den Salzschaum (ἀφρὸν δὲ ἀποπτύουσι ὥσπερ ἐπὶ τοῖσι μεγάλοισι πνεύμασι ἡ θάλασσα τὴν ἄχνην). […] Nach dem Aufhören sind sie zuerst in den Gliedern taub, sie haben Kopfschmerzen, sind [wie] aufgelöst, kraftlos, blaß, mißmutig, niedergeschlagen durch Mattigkeit und Scham über das Schreckliche (αἰσχύνῃ τοῦ δεινοῦ)“. Zu dieser Pathemareihe und den Formen der Epilepsie nach Aretaios (III 4 die chronische Form): DEICHGRÄBER, Aretaeus. Vgl. CH morb. sacr.; CH Epid. VII 46. Vgl. die Schilderung des Zustands des Thallus bei Apul. mag. 43,9: „est enim miser morbo comitiali ita confectus, ut ter an quater die saepe numero sine ullis cantaminibus corruat omniaque membra conflictationibus debilitet, facie ulcerosus, fronte et occipitio conquassatus, oculis hebes, naribus hiulcus, pedibus caducus […] ita plerumque morbo ceu somno vergens inclinatur“. Vgl. ferner Lucr. de rerum natura III 487–490: „quin etiam subito vi morbi saepe coactus/ante oculos aliquis nostros, ut fulminis ictu,/concidit et spumas agit, ingemit et tremit artius,/desipit, extentat nervos, torquetur, anhelat […]“; [Übers. BÜCHNER, Literaturgeschichte, 250:] „Ja von der Krankheit Gewalt stürzt oftmals einer bezwungen/plötzlich vor unsern Augen, wie vom Schlage des Blitzes,/in sich zusammen, schäumt, stöhnt auf und bebt an den Gliedern,/ist von Sinnen, verkrampft die Sehnen, windet sich, keuchet […]“. Auch die (vorübergehende) Aphthasie des Kindes in Mk 9,17.25 ist „epileptischen“ Phänomenen zuzuordnen, wie sie in medizinischen Texten geschildert werden können (CH morb. sacr. VII 1; X 6; CH Epid. VII 46; Aret. I 5,5). So u. a. auch GNILKA, Evangelium, Teilbd. 2, 45, 49.
Heilige Krankheit?
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verursacht, diese Ursache ist jedoch nicht göttlich, sondern vielmehr dämonisch. Deutlich wird dies ab Mk 9,25. Hier setzt die Erzählung noch einmal neu an. Die Menge war eigentlich schon da, nun versammelt sie sich noch einmal (ἰδὼν δὲ ὁ Ἰησοῦς ὅτι ἐπισυντρέχει ὄχλος). Die Erzählung gewinnt an Tempo und wird nach der extravaganten Einleitung plötzlich sehr konventionell. Sie folgt in 9,25f. dem Schema einer Exorzismusgeschichte (1. Bedrohung des Dämons: ἐπετίμησεν τῷ πνεύματι τῷ ἀκαθάρτῳ λέγων αὐτῷ; 2. Apopompe: τὸ ἄλαλον καὶ κωφὸν πνεῦμα, ἐγὼ ἐπιτάσσω σοι [vgl. PGM I 254; VII 331; XII 171; IV 1038], ἔξελθε ἐξ αὐτοῦ; 3. Verbot der Rückkehr des Dämons in den Kranken: καὶ μηκέτι εἰσέλθῃς εἰς αὐτόν [vgl. Ios. ant. Iud. VIII 47; Philostr. vit. ap. IV 20; ActThom 77]; 4. demonstrative Ausfahrt: καὶ κράξας καὶ πολλὰ σπαράξας ἐξῆλθεν), ja dieser Exorzismus wird nun geradezu überstürzt vollzogen. Genau an dieser Stelle spiegelt sich der Umbruch einer sekundären Dämonisierung. An eben dem Punkt, an dem der Erzähler durch die ausführliche Symptomschilderung alles getan hat, um an die „heilige Krankheit“ denken zu lassen, wird genau diese Wertung abgewiesen: nicht um heilige Krankheit handelt es sich, sondern um ein dämonisches Leiden, verursacht von einem stummen Geist (Mk 9,17: πνεῦμα ἄλαλον). 45 3.
Entscheidend für das Verständnis der Heilung der Krankheit ist der Ort dieser Geschichte im Erzählgerüst des Markusevangeliums. Markus hat die vorausgehende Verklärung Jesu und die Heilung des epileptischen Kindes durch einen gemeinsamen Erzählrahmen zu einem Episodenzusammenhang verbunden. In dem verbindenden Erzählrahmen stehen in Mk 8,31; 9,12 und 9,31 jeweils Hinweise auf Leiden, Tod und Auferstehung Jesu.46 Die Leser-
45
Das Attribut der Stummheit des Geistes fügt sich dem erzeugten Krankheitsbild (s. Anm. 45). Zugleich kommt ihm im Erzählplan des Markus eine wichtige Funktion zu: Dem Epilepsie verursachenden Geist wird nicht das Wort erteilt (vgl. sein Verhalten in 9,20; V.26 weiß nur vom Schreien beim Ausfahren). Ansonsten sind die Dämonen im Markusevangelium zeugnisfähig. Sie erkennen in Jesus den „Heiligen Gottes“ (Mk 1,24 in direkter Rede), den „Sohn Gottes“ (im Summar Mk 3,11; 5,7 der Geist des Besessenen von Gerasa: „Sohn Gottes, des Höchsten“). Anders beim Kind der Syrophönizierin, da es sich um eine Fernheilung handelt (Mk 7,29f.). Den Erzählplan hat auf eigene Weise Raffael erfasst, in seinem letzten Gemälde, der „transfiguratio Christi“, über dem er 1520 im Alter von 37 Jahren gestorben ist. Was im Evangelium nacheinander erzählt wird, hat Raffael in einem Bild planvoll synchronisiert, hierbei eigenständig interpretiert und modifiziert. U. a. fügt Raffael die im mk Text fehlende Mutter des Kindes hinzu, die bittend für ihr krankes Kind eintritt. D. JANZ hat die Komposition Raffaels auf dem Hintergrund des Krankheitsbildes der Epilepsie untersucht und kommt zum Ergebnis einer Konzeption, die sich von der erzählenden des Markus deutlich unterscheidet (DERS., Epilepsy, 316–322): Christus und das epileptische Kind sind in enger Korrespondenz gezeigt, beide „schweben“ über dem Boden, das Gesicht beider ist in Frontale dargestellt. Die kreuzförmig verkehrten und zugleich nach oben gestreckten Gliedmaßen des Kindes korrespondieren der Kreuzförmigkeit des Auferstandenen. Der in der Wolke verborgenen Gottesstimme entspricht nach JANZ der initiale Schrei des
46
152
Heilige Krankheit? innen und Leser des Markusevangeliums lesen die Geschichte damit aber unter dem Vorzeichen von Ostern. Der Wundertäter in Mk 9,14–29 ist der vom Tod gezeichnete und vom Licht himmlischer Herrlichkeit vorgreifend umleuchtete Gottessohn (vgl. Mk 1,11/Ps 2,7; vgl. Mk 3,11; 5,7; 9,7; 13,32; 14,61; 15,39). Die dämonologische Erklärung verhält sich zu dieser christologischen Bestimmung komplementär: Der den Tod überwunden hat – und nur er, so ist gemäß der Gesamtintention des zweiten Evangeliums zu sagen –, überwindet auch den todbringenden Dämon der Epilepsie. Mk 9 bietet im zweiten Evangelium den Höhepunkt der sieghaften Auseinandersetzung Jesu mit den Dämonen. Es liegt damit das besondere Konzept einer salutogenetischen Krankheitskonstruktion vor. Krankheit wird nicht – wie im griechisch-römischen Paradigma – pathogenetisch interpretiert, von der Frage ihrer Verursachung her, sondern vielmehr von Heilung und Heil her, wie sie der frühchristliche Osterglaube in Jesus identifiziert. Die Heilung des Kindes vollzieht sich entsprechend am Ende wie eine Totenerweckung. In Mk 9,27 aktiviert der Evangelist die Terminologie, wie sie sich auch bei der Erweckung der toten Jairustochter findet (ὁ δὲ Ἰησοῦς κρατήσας τῆς χειρὸς αὐτοῦ ἤγειρεν αὐτόν, καὶ ἀνέστη; vgl. Mk 5,41f.: κρατήσας τῆς χειρὸς τοῦ παιδίου […] ἔγειρε, καὶ […] ἀνέστη).47
4.
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48
Markus nutzt auch in Mk 9 eine Erzähltechnik, die er durchgängig in seinem Evangelium anwendet: In der Gestalt der Jünger holt er seine Leserinnen und Leser in die Erzählung hinein. Anfangs scheitern die Jünger, während Jesus noch auf dem Berg der Verklärung weilt. Am Ende (9,28f.) werden sie unterwiesen, wie sie nun ohne das Eingreifen Jesu heilen können. Hier ist die Gegenwart der markinischen Erzählung anvisiert: Es geht darum, wie Heilung in der nachösterlichen Gegenwart möglich sein kann. Auch hier wirkt sich am Ende das salutogenetische Konzept aus: Es ist keineswegs „nur“ das Gebet, das den Jüngern bleibt. Der Hinweis auf das Gebet am Ende der Geschichte ist bei Markus nicht resignativ zu verstehen, 48 vielmehr eröffnet sich hier auf der Ebene der markinischen Erzählung eine wirkliche Heilperspektive. Dass Beten ein mächtiges Gegenmittel im Krankheitsfall Kindes vor einem großen Anfall, der als Gebet interpretiert werde (a. a. O., 319, 322). Raffael habe so die Aussage des Sterbens und der Auferweckung Christi symbolisch im Krankheitsbild der Epilepsie abgebildet. JANZ behauptet eine Konvergenz der Konzeption Raffaels zu der der Erzählung der Evangelien. Ist seine Analyse des Raffaelgemäldes richtig, so ist hier jedoch eine entscheidende Differenz zur Geschichte im zweiten Evangelium zu verzeichnen, welche in der dämonologischen Interpretation auf eine positive Symbolisierung der Epilepsie gerade verzichtet. Vgl. GNILKA, Evangelium, Teilbd. 2, 49, zur Vorstellung der Heilung als Befreiung aus der Macht des Todes, mit Hinweis auf Ps 30,4; 1QH 3,19f.; 5,18f.; 6,24. Vgl. die Bemerkung von LUZ zur matthäischen Fassung: „Der Glaube hat noch nie Berge versetzt! Normalerweise heilt er auch keine Epileptiker und sonstige Kranke […]“ ( DERS., Evangelium, Teilbd. 2, 525).
Heilige Krankheit?
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beschreibt, ist frühchristlich nicht neu, besitzt vielmehr Voraussetzungen insbesondere im frühen Judentum. Dass das Gebet für Markus tatsächlich eine entsprechende Macht besitzt, ist auch aus weiteren Texten des zweiten Evangeliums zu erschließen. Die besondere Vorstellung von der Macht des Gebets in Verbindung mit dem Glauben, die Mk 9 zugrunde liegt, findet sich an zentraler Stelle auch in Mk 11,22–24, im Wort vom Berge-versetzenden Glauben und von der Gebetserhörung.49
6.
Ergebnis und Ausblick
Blicken wir kurz zurück und fassen den Untersuchungsweg zusammen. 1.
Ausgehend von den verschiedenen Quellengruppen waren drei voneinander abweichende Konstruktionskonzepte für einen Krankheitskomplex zu unterscheiden, für den – bei erheblichen Differenzen der Terminologie (nicht überall begegnet ein ‚Krankheitsname‘; die griechische Bezeichnung fehlt auch als Lehnwort in den jüdischen Texten; erhebliche Variationsbreite der erzählenden oder reflexiven Beschreibung) – „epileptische“ Phänomene als konstitutiv gelten können: Einmal das salutogenetische – auf körperliche Gesundheit und Heilung hinzielende – Konzept des frühen Christentums. Als signifikant für dieses Konzept hat sich erwiesen, dass die Erkrankung, wie sie in Mk 9 zwar nicht terminologisch gefasst, jedoch symptomatisch im Vergleich zu griechisch-römischen Texten zur Epilepsie identifizierbar wird, als heilbar gelten kann. Diese optimistische Haltung gründet auf dem Osterglauben und ordnet das Gebet als die heilende menschliche Praxis zu. Die dämonologische Deutung der Epilepsie wird dem untergeordnet und integriert. Sie ist im Markusevangelium eine Ausdrucksform, ein Interpretament für die Überlegenheit des Auferstandenen. Weiter zeigte sich, wie ein entsprechendes dämonologisches Konzept in Texten der Alten Kirche rezipiert werden konnte. In den genannten altkirchlichen Zeugnissen wird „Epilepsie“ ausdrücklich aus dem Handlungsfeld ärztlicher Therapie herausgenommen und dem exorzistischen Handeln kirchlicher Praxis zugeordnet. Die dämonologische Deutung dient der Identitätsbestimmung der Gesunden, der Interpretationsgemeinschaft. Und schließlich: Das am Schutz des Lebendigen ausgerichtete Konzept des rabbinischen Judentums. Das Hauptinteresse liegt hier auf der Prävention. Die Fallkrankheit gilt als schwerwiegende, nicht therapierbare Störung des persönlichen und gemeinschaftli-
49
Vgl. die Erzählnotiz Mk 6,46 vor dem Seewandel. Vgl. OSTMEYER, Kommunikation, 212–235, 227.
154
Heilige Krankheit? chen Lebens, die es möglichst zu vermeiden gilt. Nirgends gelten epileptische Kranke als besessen.
2.
Dabei war zu beobachten, wie die Konstrukteure dieser verschiedenen Krankheitskonzepte mit den zeitgenössischen Alternativen umgehen. Im Markusevangelium wird das griechisch-römische Konstrukt der heiligen Krankheit durch eine dämonologische Deutung überlagert und neu definiert. Ausgesagt wird damit: Epilepsie ist eine schwerwiegende Bedrohung des Lebens, sein Feind, nicht etwa eine Steigerung des Lebens. Dem rabbinischen Judentum liegt eine religiöse Deutung als „heilige Krankheit“ vergleichbar fern. Im Vordergrund steht eine phänomenologisch-medizinische Interpretation im Kontext der Halacha. Auch hier gilt: Epilepsie ist eine Bedrohung des Lebendigen und nicht eine Steigerung. Zugleich wird aber mit dem Verzicht auf eine dämonologische Deutung auch auf eine „Bekämpfung“ der Krankheit verzichtet. Prävention, nicht Therapie, erscheint möglich. In den genannten Texten der Alten Kirche schließlich erfolgt die Abgrenzung ausdrücklich gegen die medizinische Interpretation und deren Therapieansätze. Diese Abgrenzung hatte die Ausgrenzung der Betroffenen zur Folge.
3.
Weiterhin stellte sich die Frage, wie das Verhältnis dieser Konstrukteure und Krankheitskonstruktionen auf forschungsgeschichtlicher Ebene wahrgenommen und interpretiert worden ist. Hier deutete sich eine Tendenz an – und dies bedürfte der weiteren Überprüfung in einzelnen neutestamentlichen Untersuchungen des 19. und 20. Jahrhunderts –, jüdische Aussagen projektiv mit eben der Krankheitskonzeption zu verbinden, die tatsächlich über Jahrhunderte Bestandteil der eigenen christlichen Geschichte, Praxis und Identität gewesen ist.50
4.
Was folgt daraus? Einige Konsequenzen seien am Ende angedeutet. Im Umgang mit der Krankheit Epilepsie – als einem Beispiel für den Umgang mit dem menschlichen Leben als einem von schwerwiegenden Störungen bis
50
Es bedürfte einer – hier nicht zu leistenden – Untersuchung, inwieweit die These der vom Judentum vorausgesetzten und geteilten dämonologischen Deutung der Epilepsie forschungsgeschichtlich in derjenigen Epoche besondere Konjunktur erfahren konnte, in der aufgrund des medizinischen Fortschritts erstmals erfolgreiche und zukunftsweisende Ansätze der (medikamentösen) Epilepsietherapie möglich wurden und zugleich innerhalb der kirchlichen Diakonie die soziale Ausgrenzung der Epilepsiekranken als ein – nun zu bewältigendes – Problem erkannt und die dämonologische Interpretation kirchlicher Tradition als belastend wahrgenommen wurde. „Epilepsie“-Zuschreibungen haben in der interreligiösen Auseinandersetzung schon früh eine Rolle gespielt. Polemisch wandte man den Vorwurf der Epilepsie später auch gegen den Propheten Muhammad (so in der Chronographia des Theophanes Confessor). Zur Epilepsiekonstruktion im Islam: VANZAN/PALADIN, Epilepsy, 1057–1064.
Heilige Krankheit?
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hin zum Tod bedrohten Leben – sind Religionen in der Tradition der hebräischen Bibel – das rabbinische Judentum und das Christentum – dem Leben und der körperlichen Gesundheit verpflichtet. Sie werden sich gegen religiöse Überhöhung von Krankheit und gegen jede Scheinakzeptanz solcher Störungen stellen. Gott will Leben, Gesundheit und Heilung für die Menschen. Eine christliche Position ist darüber hinaus an dem salutogenetischen Konzept orientiert, das Heilung für möglich hält, weil Gott Christus nicht im Tod gelassen hat. Die diesem Axiom dienstbar gemachte dämonologische Deutung ist heute durch eine medizinische zu ersetzen. Damit ist zugleich die Aufgabe benannt, mit modernen, nicht nur medizinischen Krankheitskonstrukten in einen kritischen und konstruktiven Dialog zu treten. Eine am Neuen Testament orientierte Position muss in einem solchen Dialog nicht als unterlegen, sondern – konstruktivistisch betrachtet – vielmehr als legitim und eigenständig gelten. Verweist „Krankheit“ immer auf beides, eine wahrnehmbare körperliche Veränderung und eine individuell bzw. kulturell und auch religiös bestimmte Wirklichkeitsinterpretation, so gilt, dass die in medizinischen Konzepten beschriebene Realität nicht weniger eine Interpretationsleistung darstellt, als sie andere kulturelle und auch religiöse „Entwürfe“ zu leisten vermögen. Ein an frühchristlichen Texten geschärfter Zugang kann einen eigenständigen Beitrag dazu leisten, monokausale Erklärungsmodelle von Krankheit aufzubrechen und sich in einen Diskurs einbringen, der Multifaktorialität in Rechnung setzt. Er kann dazu beitragen, die oft einseitig in den Vordergrund gerückte pathogenetische Frage, die Frage nach der causa efficiens einer Krankheit, zu überwinden, soziale, kulturelle, seelische und religiöse Hintergründe aufzudecken helfen und die Heilkraft derjenigen Texte ins Gespräch bringen, die die Anfänge christlicher Wirklichkeitsdeutung begründen. Vom Neuen Testament her ist dabei insbesondere geltend zu machen, dass „Krankheit“ mehr ist als Abwesenheit von Gesundheit, weil Heilung nicht weniger, sondern mehr ist als die Wiederherstellung von körperlichem Wohlsein. In einem solchen Dialog sind andere Krankheitskonzepte sorgfältig und frei von Abgrenzungs- und Überbietungsinteressen wahrzunehmen und sind zusammen mit anderen Konstrukteuren für die Kranken lebensförderliche und lebensschützende Krankheitskonzepte zu suchen. Wo Konstrukteure nicht (mehr) mit ihrer eigenen Identität und deren Bedrohungen als „Heiler“ beschäftigt sind, können sie sich den Kranken zuwenden. In einem solchen Dialog sind dabei auch Leerstellen und Grenzen der eigenen Traditionen und Konstruktionen klar zu benennen. Epilepsie ist noch heute, wo man sie medizinisch anders definiert als in der Antike und neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten besitzt,51 eine nicht in allen Fällen therapierbare Erkrankung, die für die 51
Vgl. zu jüngsten medizinischen Ätiologien HAAGE/WEGNER, Art. Epilepsie, 316f.; vgl. WOHLERS, Krankheit, 23.
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Heilige Krankheit? Kranken, ihre Familien und das weitere berufliche und soziale Umfeld häufig eine schwere Belastung darstellt, die immer auch noch tödlich enden kann.52 Epilepsie erweist sich damit – zusammen mit anderen Krankheiten und Leiden – als sperrig gegenüber einem salutogenetischen und optimistischen Krankheitskonzept. Hier bleibt eine Spannung, und wer sich vom Neuen Testament her für die Heilung und das Heil in Dienst genommen weiß, muss mit dieser Spannung umgehen.53 Insgesamt gilt: Den Optimismus und das salutogenetische Konzept des frühen Christentums kann sich nur leisten ohne Schaden an seiner Seele zu leiden und anderen Schaden zuzufügen, der Gott kennt als den, der „alles gut gemacht hat“ (Mk 7,37 in Aufnahme von Gen 1) und der – nach Ex 15,26 – allein „Arzt“ seines Volkes bleibt.
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Die Unheilbarkeit der Krankheit spiegelt sich bis in die jüngste zeitgenössische Literatur. Z. B. kann Fürst Myschkin weder in Russland noch in der Schweiz geheilt werden. Bemerkenswert ist allerdings, dass literarische Krankheitsschilderungen der Epilepsie nach P. WOLF vorhandene Therapiemöglichkeiten oft ignorieren bzw. veraltete Ansätze inszenieren (DERS., Epilepsie). Zum Leben mit der Krankheit vgl. H. BICHLERS Feststellung: „Wir sind nicht krank und doch nicht gesund“ am Anfang ihres Berichts (vgl. DIES., Blitz, 7–9). Vgl. DOERMER, Moritz, die von der Geschichte mit ihrem epilepsiekranken Jungen berichtet; vgl. DIES., Schreiben, 266: „Alles haben wir inzwischen ausprobiert: Schulmedizin, Homöopathie, Diäten und Handauflegen. Die Krankheit scheint nicht angreifbar zu sein […] Am Schluss kommt es zu einer lebensgefährlichen Erkrankung, die Moritz wie durch ein Wunder überlebt. Zu diesem Zeitpunkt hat er etwa 6.000 Anfälle erlitten und 40.000 Tabletten geschluckt. Der letzte Satz des Buches lautet: ‚Es wird weitergehen.‘ Ich wollte es nicht zu deprimierend enden lassen. In Wahrheit wusste ich nicht, wie es weitergehen würde“. Das Neue Testament selbst bietet Ansatzpunkte theologischer und christologischer Sprachformen und Deutungsmöglichkeiten für unheilbare Krankheiten. So entwickelt Paulus in 2 Kor 12 im Umfeld seiner Krankheit das Konzept der δύναμις, der Macht Gottes, die in den Schwachen mächtig ist. 2 Kor 12,7 und Gal 4,13f. wurden erstmals von W. C. L. ZIEGLER (1804) auf „Epilepsie“ gedeutet (vgl. dann KRENKEL, Dorn, 47–125). Rezeptionsgeschichtlich spielte dabei die weiter reichende – problematische– Identifikation von Besessenheit und „Epilepsie“ eine wesentliche Rolle (vgl. so auch WASZINK/STEMPLINGER, Art. Besessenheit, 184). Als Krankheitsbilder wurden ferner ein Augenleiden, Malaria, Aussatz und Hysterie u. a. diskutiert. Auch im Fall des Leidens des Apostels gilt, dass die „historische“ resp. „ontologische“ Frage ins Leere läuft. Vgl. HECKEL, Dorn, 80–92, der auf chronische Kopfschmerzen (so schon Tertullian) bzw. eine Trigeminusneuralgie deutet. Zum Problem der Krankheit des Paulus vgl. V. BENDEMANN, Körperkonzeptionen, 157–191 (siehe in diesem Band 323–352).
TEIL II TESTFÄLLE FRÜHCHRISTLICHER UND ANTIKMEDIZINISCHER KRANKHEITSKONSTRUKTIONEN
Elementar feurige Hitze Zur Krankheitshermeneutik frühjüdischer, hellenistisch-römischer und frühchristlicher Fieberheilungen 1.
Jenseits des Messbaren – Das hermeneutische Problem des „Fiebers“
Fieber zu „haben“ und Fieber zu messen gehört für den neuzeitlichen Mitteleuropäer im Fall einer Erkrankung zu den selbstverständlichsten und klar strukturierten Vorgängen. In den meisten Haushalten sind Fieberthermometer vorhanden; ihre Nutzung dient häufig der Selbstbeobachtung, die auch ohne ausdrücklichen ärztlichen Rat erfolgen kann. Auch der Laie hat hierbei in der Regel eine Grundauffassung davon, dass sein Körper auf bestimmte Störungen mit Fieber reagiert. In der Regel wird er geneigt sein, Fieber nicht als Alarmsignal, sondern gegebenenfalls als „Anzeichen“ dafür zu interpretieren, dass der Körper eine Krankheit bearbeitet und im günstigen Fall selbst zur Balance zurückfindet. Fieber wird in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts nicht mehr als etwas eo ipso zu Bekämpfendes angesehen. Zugrunde liegen dabei bestimmte Axiome einer Konstruktion von körperlichem Wohlsein und körperlicher Störung – etwa die Annahme einer gesunden Normaltemperatur um 37 Grad Celsius, von der Abweichungen in einer Kurve festzustellen sind. Solche Axiome sind Menschen anderer Kulturen bis heute fremd; sie sind generell für antike Menschen nicht vorauszusetzen. Fieber ist ein besonderer Fall des „making illness“, ein zeit- und kulturdependentes Krankheitskonstrukt. Fieber ist ein Paradigma dafür, dass menschliche Körperlichkeit keineswegs auf feststehende und kulturinvariante („ontologische“) Axiome bezogen werden kann. Die Quantifizierung der körperlichen Temperatur und die quantifizierende systematische Thermometrie sind neuzeitliche Phänomene, und auch in der Neuzeit haben sie sich nur gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt.1 Noch * 1
Ursprünglich erschienen in: B. KOLLMAN/R. ZIMMERMANN (Hg.), Hermeneutik frühchristlicher Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT 339), Tübingen 2014, 231–262. Als Pioniere gelten u. a. der Mediziner Ludwig Traube (1818–1876), der als erster systematisch Fieberkurven beobachtete, sowie Carl Reinhold August Wunderlich (1815–1877), der in
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neuzeitlich blieb dabei lange unklar und umstritten, was eigentlich gemessen wurde, wenn man „Fieber“ maß. Neben der Thermometrie behaupteten sich auf die Antike zurückgehende Konzepte von „Wärme“, die diese im Kern qualitativ, als etwas Nicht-Sensuelles, Nicht-Messbares, vielmehr Subjektives, „Eingepflanztes“ interpretieren. 2 Sodann konkurrieren quantifizierende Wärmevorstellungen neuzeitlich mit Konzeptionen, für die „Wärme“ nicht das entscheidende Merkmal von „Fieber“ ausmacht, etwa die hydromechanisch gedachte Vorstellung von erhöhten, Reibung erzeugenden Druckverhältnissen im menschlichen Körper, auf deren Grundlage „Fieber“ nicht an der Körpertemperatur, sondern vielmehr am Puls zu erkennen ist. Fieber wird hier nicht als „erhöhte Temperatur“, sondern als erhöhte Beschleunigung des Blutflusses interpretiert (sanguinis velocitas aucta).3 Es zeigt sich der Konstruktions-Charakter jeglicher Rede von einer „Temperatur“ des Menschen bzw. seiner „Wärme“, „Hitzigkeit“. Somatische Befunde begegnen immer nur als Teil solcher Konstruktionen, in denen Erfahrungen, Wissen, soziales Feedback und Praxis einzelner oder der Gruppe/Gemeinschaft/ Gesellschaft zusammenfließen. Dabei war es keineswegs selbstverständlich, dass die Frage nach der Wärme des Menschen überhaupt in diesem Ausmaß Gegenstand der Medizin und dann auch eines medizinischen Laienwissens wurde. Die Voraussetzungen dieser Entwicklung liegen in den antiken Quellen, um die es im Folgenden gehen wird. Die Grundproblematik ist in den frühen griechischen Traditionen angelegt und hält sich bis in die Neuzeit durch. An ihr partizipieren auch die frühchristlichen Texte. An Phänomenen der „Wärme“ zeigen sich Differenzen der Auffassung vom menschlichen Körper in seiner soziokulturellen und religiösen Einbindung wie in einem Brennglas; damit geht es zugleich um die Möglichkeitsbedingungen, über ein Heil- und Wohlsein des Menschen auf der einen und sein Gestört- und Kranksein auf der anderen Seite überhaupt sprechen zu können. Fieber ist ein Testfall auf Konzepte der Anthropologie, insbesondere auch der biblischen Anthropologie, wie sie im Zusammenhang von wunderbaren Heilungserzählungen wirksam wird.
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der Krankenbehandlung konsequent ein Fieberthermometer einsetzte. Zur Geschichte der Pyretologie (Auswahl): HIRSCH, Entwicklung; RABE, Fiebertheorien; KÜLKEN, Fieberkonzepte; HESS, Mensch (mit weiterer Lit.). So gilt bei Herman Boerhaave (1668–1738) die Fieberhitze als calor febris externus, welche von der inneren animalischen Wärme des menschlichen Körpers zu unterscheiden ist (vgl. HESS, Mensch, 42). Auch nach William Cullen (1710–1790) entziehen sich bestimmte Wärmequalitäten im Körper der Thermometrie. So lehnten im 18. und 19. Jahrhundert viele Ärzte eine instrumentelle Messung ab (vgl. HESS, a. a. O., 50). So bei Franciscus Sylvius (1614–1672). Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), der intensive Temperaturmessungen durchführte, hielt fest, dass ein Fieber begrifflich über die Schnelligkeit des Pulses zu definieren sei (vgl. HESS, Mensch, 47).
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2.
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Lebensbedrohliche Hitzigkeit – Zu Ansätzen antikjüdischer „Fieber“-Interpretationen und zum Problem der dämonologischen Pyretologie
Wenn die Darstellung mit einer Analyse der Befunde im antiken Judentum eröffnet wird, so geschieht dies, um denjenigen Kurzschluss zu vermeiden, der die Forschung häufig bestimmt hat: Man geht immer schon von einem präformierten Konzept des „Fiebers“ aus; insbesondere sind es die „Galenischen Fieber“ gewesen, die man – so oder so – in den frühjüdischen Texten wiederfinden wollte (s. u. Pkt. 3.2.). Das älteste Judentum erscheint weithin als eine terra sine febre. Setzt die Wahrnehmung von menschlicher „Krankheit“ in alttestamentlichen und frühjüdischen Texten grundsätzlich extern an, d. h. von dem her, was sich äußerer sinnlicher Wahrnehmung erschließt, und werden Bilder von Krankheit vielfach auf leitsymptomatische Veränderungen bezogen, die sich mit solcher externen Wahrnehmung verbinden, so ist ein entsprechender Ansatz in Hinsicht auf die Temperierung des menschlichen Körpers nicht in einer der griechischen und römischen Perspektive vergleichbaren Weise bestimmend geworden. 4 Die Vorstellung von einer warmen vis medicatrix naturae (einer heilenden Kraft der Natur), die in einer substantiellen Kontinuität zum Göttlichen resp. zum göttlichen Feuer gedacht wird, ist jüdischen Texten als solche fremd.5 Erst spätere Zeugnisse legen Austauschprozesse zwischen der griechisch-römischen Medizin und 4
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„Erstaunlich ist das Fehlen jeglicher eindeutigen Überlieferung bezüglich von Dauerschäden u. Todesfällen durch Infektion des membrum virile bei der Beschneidung [...]“ (HORN, Art. Fieber, 891). Wundfieber bei Beschneidung könnte allerdings in Gen 34,25 und Jos 5,8 gemeint sein, obwohl an der ersten Stelle ausdrücklich nur von Schmerzen die Rede ist und in Jos 5 darauf verwiesen wird, dass die beschnittenen Männer wieder „zum Leben kommen“ müssen. Nach bSchab 134b ist im Rahmen der Nachbehandlung eines Beschnittenen nach Gen 34,25 der dritte Tag ein besonderer, d. h. riskanter Tag. Vgl. bJeb 64b (hier geht es mehr um Tod bei Beschneidung und nicht um den dritten Tag). In jüdischen Texten ist – bei aller Schwierigkeit solchen Vergleichens – generell stärker als in griechischen Texten die zerstörerische Kraft des Feuers fokussiert, dies etwa in der Metaphorik des Gerichtszornes (vgl. Jer 4,4; 5,14; 21,12; Ez 21,36; 22,21.31; 38,19; Zef 1,18; 3,8 u. a.; vgl. LANG, Art. πῦρ κτλ., 937; zu Differenzen der Vorstellung in der frühjüdischen Apokalyptik; a. a. O., 938f. zu Qumran). In der weisheitlichen Literatur sind es dabei – weitgehend in Einklang mit hellenistisch-philosophischen Texten (siehe Belege bei HORN, Art. Fieber, 888f.) – die Begierden und „Laster“ bzw. „Leidenschaften“, die als feurige Erscheinungen konzeptualisiert werden können, durch die Menschen „entflammt“ sind, „brennen“ etc. (vgl. Spr 26,20f.; Sir 9,8; 23,17; 28,10f. u. a.). Auf der Grenze liegt die Vorstellung der reinigenden Potenz des Feuers, durch die etwas Altes vergeht, so dass Neues hervortreten bzw. entstehen kann (vgl. im Kult Lev 13,52; Num 31,23; Jes 6,6). Im frühen Judentum kann auch die Tora eng mit dem Feuer in Verbindung gebracht werden (vgl. pSot 8,4 u. a.).
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einzelnen antik-jüdischen Positionen nahe; hier scheinen Leerstellen, wie sie sich aus einer von der griechisch-römischen Heilkunst her gewonnenen Sicht eröffnen, geschlossen zu werden. Allerdings ist die ältere These des antiken Judentums als einer weithin arztlosen Gesellschaft fraglich. Es ist demgegenüber damit zu rechnen, dass über die erhaltenen Texte hinaus auch im frühen Judentum mehr und eigenständiger medizinisch gedacht und therapiert wurde. In Hinsicht auf die Wahrnehmung und Interpretation körperlicher Wärme und ihre Beziehung zur umgebenden Welt betritt man im antiken Judentum einen eigenen Raum, der zunächst aus sich heraus verstanden werden will. a) Generell ist – entgegen vielen medizinhistorischen Zugängen und Einzelurteilen im Umgang mit alttestamentlichen und frühjüdischen Texten – größte Zurückhaltung bei der Übersetzung von Begriffen mit „Fieber“ angezeigt. Besser scheint es, dort, wo es um körperliche Temperaturdifferenzen geht, Begriffe wie „Hitzigkeit“ o. ä. zu wählen. 6 Für den Fall, dass man die Übersetzung mit „Fieber“ gleichwohl favorisiert, sollte stets hervorgehoben werden, dass es sich um die je besondere Hitze-Vorstellung in einem konkreten Text handelt – und nicht um „hippokratisches“, „galenisches“ o. ä. Fieber im Sinn der griechisch-römischen Tradition. Die hebräische und aramäische Begrifflichkeit, die für „fiebrige“ Hitze in Betracht kommt, variiert. Vom primären Sinn des Wortstammes her erschließt sich שימשאals durch die Sonne verursachte Hitzigkeit. Vom „Feuer“ leitet sich direkt אשתא/ אישתאher;7 umgekehrt verweist אחילוauf Frösteln/ Schüttelfrost; unspezifische Wärme bezeichnet חמה. Für קדחתfinden sich zwei Belege, nämlich Lev 26,16, in einer Folge von Strafaufzählungen im Fall von Verletzungen der Gemeinschaftspflichten gegenüber JHWH, sowie Dtn 28,22 in den Fluchandrohungen, jeweils zusammen mit – שחפתbeide Male nur hier belegt;8 ferner finden sich die Begriffe חרחרund דלקתnur in Dtn 28,22. Von Preuss werden diese mit Bezug auf die spätere Ausdeutung Ibn Esras auf verschiedene Fieberarten gedeutet.9 Dies muss jedoch mehr als unsicher bleiben. Sowohl Lev 26,16 als auch Dtn 28,22 verwehren genaueren Aufschluss, „ontologische“ Bestimmungen der hier genannten körperlichen Leiden sind unmöglich.
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Ähnliches gilt für assyrische Texte. Vgl. BÖCK u. a. (Hg.), Texte, 78–84. Vgl. JASTROW, Dictionary, 126, u. a. mit Verweis auf bJoma 29a: Fieber im Winter; vgl. bJeb 71b und bSanh 108b. GERSTENBERGER, Buch, 377, geht von einem Paar „tödliche[r] Infektionen“ aus – ohne Belege; unsicher auch, ob das vorgeordnete „Schrecken“/„Entsetzen“ seinerseits für „eine besonders gefürchtete Pest“ steht (ebd.). Zu קדחתאvgl. JASTROW, Dictionary, 1315. PREUSS, Medizin, 182; חרחרund דלקת: JASTROW, Dictionary, 501 und 311; ROSNER, Encyclopedia, 131f.
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Weitere Stellen, die von feurigen bzw. hitzigen Phänomenen sprechen, müssen als noch viel unsicherer gelten. So ist die Rede von Hitze als Ausdruck des göttlichen Zorns in Num 11,1–3 nicht mit (griechisch oder römisch bestimmtem) „Fieber“ zu identifizieren (auch in LXX ist derlei Identifikation nicht vollzogen: ἐξεκαύθη ἐν αὐτοῖς πῦρ παρὰ κυρίου). Insgesamt kann man von einer dominant religiösen resp. theologischen Erschließung entsprechender körperlicher Veränderungen sprechen – im Einklang mit anderen Konstruktionen von Krankheitsbildern im antiken Judentum. b) Ist die Vorstellung eines kosmischen Feuers sowie eines „von Natur“ mit Wärme ausgestatteten animalischen Körpers, welcher dieser Wärme zur Lebens-Balance bedarf, den antik-jüdischen Schriften von Hause aus fremd und werden von hier aus andere und eigene Kategorien zur Beschreibung und Deutung qualitativer Wärme entwickelt, so begegnen sich die unterschiedlichen Zugänge auf dem Boden des hellenistischen Judentums, welches sich griechisch-römischer Bildung und entsprechendem medizinischem Fach- oder auch Alltagswissen öffnet. Dabei tritt zunächst die Abständigkeit der Welten hervor. Die Übersetzer der Septuaginta wählen den griechischen Terminus für „Fieber“ (πυρετός) nur an einer einzigen Stelle, nämlich in Dtn 28,22LXX (s. o.). Der in griechisch-medizinischen Texten häufig im Verbund mit „Fieber“ begegnende Begriff für Entzündung (φλεγμονή) findet sich erst – und als Hapaxlegomenon – in 4 Makk 3,17. Der Begriff ἴκτερος (Lev 26,16; insgesamt 5 mal in LXX) wird häufig mit „Gelbsucht“ übersetzt; die nosologischen Hintergründe bleiben auch hier unsicher. Anders liegen die Dinge bei Flavius Josephus, für den pyretologische termini, wie sie der griechisch-römischen Medizin zuzuweisen sind, bereits selbstverständlich sind; er verwendet sie im Fall bedeutender Persönlichkeiten, die Zugang zu geschulten Ärzten besitzen. Nach Josephus ignoriert Alexander Jannäus eine Quartana und unternimmt einen weiteren Feldzug, so dass er der Krankheit erliegt (Ios. bell. Iud. I 103–106: τεταρταίαις δὲ περιόδοις πυρετῶν ἐνοχλούμενος; vgl. Ios. ant. Iud. XIII 398). Das Fieber des Herodes (nach bell. Iud. I 656: πυρετὸς μὲν γὰρ ἦν οὐ λάβρος) ist Teil einer Krankheit, die sich in Erscheinungen wie Juckreiz (κνησμὸς δὲ ἀφόρητος τῆς ἐπιφανείας ὅλης) und anschwellenden Füßen wie bei einem Wassersüchtigen (ὥσπερ ὑδρωπιῶντος οἰδήματα) zeigt.10 Pyretologisches Wissen, wie es breiten Eingang in die griechisch-römische Philosophie gefunden hat und auf medizinischen Voraussetzungen gründet, setzt Philo von Alexandria voraus. In „De opificio mundi“ zeigt sich, dass er Kenntnisse medizinischer Vorstellungen der Genese von Fieber be10
Euseb greift den Bericht des Josephus auf (hist. eccl. I 8,9: πυρετός μὲν γὰρ ἦν χλιαρός) und interpretiert die Krankheit in I 8,5 als „Geißel zum Tod“ (μάστιξ εἰς θάνατον); vgl. hist. eccl. I 8,16 zu den vergeblichen ärztlichen Bemühungen.
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Elementar feurige Hitze sitzt.11 Ausdrücklich bezieht er sich im Zusammenhang der Erklärung der Siebenzahl auf Hippokrates als τῆς φύσεως ἐπιγνώμων (Opif. Mund. 124) und schließt die Vorstellung an, dass aus Dyskrasien resultierende Fieber am siebenten Tag die Krise erreichen (Opif. Mund. 125: [...] πυρετοί [...] ἑβδόμῃ [...] ἡμέρᾳ διακρίνονται). In einen Katalog von physischen Leiden stellt Philo das Fieber (πυρετοί) in der Auslegung von Dtn 28 in Praem. Poen. 143. In Sobr. 45 setzt Philo gemäß der Einsicht hellenistischer Medizin voraus, dass ein Fieberanfall den ganzen menschlichen Körper betrifft (καταβολὴ πυρετοῦ νόσος ἐστὶν οὐ μέρους ἀλλ᾽ ὅλου σώματος). Untermauert wird damit die anthropologisch-ethische These, dass die Seele je als ganze von der Schlechtigkeit (κακία) als Schwäche (ἀρρώστημα) gefährdet ist. Die anschließende Differenzierung von Ruhe und Bewegung ist im Zusammenhang zyklischen Fieberverständnisses zu interpretieren. Hier sind Analogien zur Anwendung des „Fiebers“ als Metapher für die Leidenschaften/Begierden in zeitgenössischen hellenistisch-römischen Texten festzustellen; auch Josephus spricht von der „Entzündung der Begierde“ (Ios. Bell. Iud. I 444: φλεγμονὴ τῆς ἐπιθυμίας; genetivus explicativus bzw. epexegeticus; vgl. Epikt. diss. II 5,27; 14,21; 22,12; III 10,11–15; 22,58; IV 1,89 u. a.; Plut. Pomp. 21; Per. 6 [‚entzündlicher Aberglaube‘]; coniug. praec. 141b; symp. 699E u. a.).
c) Notorisch schwer zu datieren und zu ordnen sind die rabbinischen Aussagen über Krankheiten. Allgemein lässt sich sagen: Aussagen über Wärme/Hitze sind dabei nie Gegenstand für sich, sondern in weitere thematische Diskussionen der Toraauslegung (Sugiot) eingebunden. „Hitzige“/„fiebrige“ Phänomene, wo sie „wahrgenommen“ werden können, verweisen hier auf lebensbedrohliche Erscheinungen. Zu ihrer Überwindung und Heilung tolerieren bzw. empfehlen die Rabbinen das, was „legitimerweise“ angewendet werden kann, was hilft und lebensförderlich ist. Hierunter gehören auch „magische“ Praktiken. Teilweise klingen dabei systematisierende Vorstellungen an, die an Konzepte der griechisch-römischen Medizin erinnern, die sich jedoch bei genauerer Analyse auch als eigenständig erweisen können. So begegnen diätetische und klimatologische Angaben, die eigene Beobachtungen und Erfahrungen voraussetzen.12 Nach bJoma 29a entkräftigt „Fieber“ im Winter stärker als im Sommer; pSchab 1,4b (29–35) kennt einen Zusammenhang zwischen dem Genuss von warmem Brot und körperlicher
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Vgl. auch Philo Leg. Gai. 125f. die physiologischen Beobachtungen bei der Beschreibung der Gefahr von Hitzetod. bNed 41a rät, einen kranken Patienten erst zu besuchen, wenn ihn das Fieber verlassen hat; mit Bezug auf Rabbi Alexandrai (um 270 n. Chr.), wonach das Feuer eines Kranken von Gott unlöschbar ist im Vergleich zum Feuerofen von Dan 3. Für Hinweise zu diesem Abschnitt danke ich Claudia Losekam.
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Hitzigkeit.13 In späteren Texten scheint eine Annäherung an Differenzierungen intermittierender Fieber vorzuliegen, wie sie die griechisch-römische Medizin entwickelt hat. Im Umfeld des Fiebers begegnen hier auch heilkundliche Lehnwörter wie der „Theriak“ – ein zunächst gegen tierische Gifte eingesetztes pharmakologisches Kompositum, welches schließlich zum Allheilmittel avancierte.14 Doch auch hier muss der „ontologische Kurzschluss“ vermieden werden.15 So ist z. B. unsicher, ob das „dreitägige Fieber“ in bSchab 67a das meint, was sich mit einer Tertiana in der griechisch-römischen Medizin verbindet: nämlich einen bestimmten Zyklus mit Paroxysmen; gemeint könnte auch ein drei Tage währendes Fieber sein. Ähnliche Vorbehalte betreffen die Interpretation einer Quotidiana.16 In bGit 67b wird zwischen täglichem, „kaltem“, „veraltetem“ „Fieber“ und mehrtägigen Erscheinungen unterschieden. Auch hier bleibt zweifelhaft, ob man ein zyklisches Denken wie in der griechisch-römischen Medizin heranziehen darf. Den rabbinischen Texten ist keine „Normalposition“ im Sinne einer homogenen medizinischen „Lehre“ zu unterstellen; vielmehr ist mit besonderen und abweichenden Meinungen einzelner Rabbinen zu rechnen. Hervorzuheben ist dabei vor allem die Gestalt des Abaje (gest. 338/339), dem mehrere „Fieber“-Aussagen zugeschrieben werden (vgl. noch bBer 32a – „Knochenfieber“?). Aufschlussreich sind die ihm zugewiesenen Überlieferungen besonders, da er an zwei Stellen auf die Mutter in ihrer Funktion als Heilerin zu sprechen kommt, auf die die Heilmittel im Fall von „Fieber“ zurückgeführt werden (bSchab 66b; bGit 67b). In der Therapeutik mischen sich medizinische Maßnahmen („Schröpfköpfe“; diätetische Anweisungen u. a.)17 mit schwer zu deutenden, „magisch“ zu bezeichnenden Handlungen: z. B. soll nach Abaje bei „veraltetem Fieber“ eine zerlegte schwarze Henne auf den 13
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Nach bSanh 108b „ernährt“ das „Fieber“; vgl. auch vom Kind während der Geburt: bJeb 71b; nach bSanh 108b kann man vom „Fieber“ nur dreizehn (nach GOLDSCHMIDT: 6–12 Tage) Tage leben. Nach bJoma 21b „isst“ Fieber nicht, sondern trinkt nur (in der Unterscheidung von sechs Arten des Feuers, darunter des Feuers JHWHs, das Elia in 1 Kön 18,38 auf das mit Wasser übergossene Opfer auf dem aus zwölf Steinen errichteten Altar herabruft). bNed 41a bietet einen Ausspruch Rabas (gest. 352 n. Chr.), der eine positive Funktion des Fiebers für den Fall voraussetzt, dass es nicht vom Boten des „Todesengels“ ist, und in diesem Zusammenhang auf „Theriak“ verweist, wobei es sich um ein Lehnwort aus dem Griechischen handeln muss ( )תריקי. – Siehe zu den rabbinischen Belegen LEVY, Wörterbuch, Bd. 4, 670. Zum „täglichen Fieber“ in bSchab 66b findet sich in der Talmudausgabe von A. STEINSALTZ die „ontologische“ Krankheitsinterpretation auf Malaria (DERS., Talmud, Bd. 1, 279). In Richtung einer Tertiana und Quotidiana interpretiert: JASTROW, Dictionary, 126. Liegt ein καῦσος/Brennfieber in bChul 51a vor? Vgl. die Übersicht bei PREUSS, Medizin, 182–187; ROSNER, Encyclopedia, 131f. Zum Zusammenhang von Aderlass und „Fieber“ in talmudischer Zeit: ROSNER, Medicine, 150f.
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Elementar feurige Hitze kahl geschorenen Kopf des Kranken aufgebracht werden, bis sie angeklebt ist; der „Fiebernde“ soll sich dann bis zum Hals in Wasser stellen.18
d) Vielfach wird das frühe Judentum in der Forschung eng mit einer dämonologischen Deutung von „Fieber“ assoziiert. In der jüngeren Forschung zeichnen sich zwei Pole der Interpretation ab: Nach der einen Richtung sind dämonologische Pyretologien in vielen östlichen Kulturen alt und weit verbreitet; das frühe Judentum partizipiert dann an einem „archaischen“ Konzept.19 Nach der anderen Richtung sind erst das frühe Judentum und dann das aus ihm hervorgehende älteste Christentum für das Anwachsen dämonologischer „Fieber“-Deutungen ursächlich.20 Bei Lage der Belege ist es demgegenüber kaum möglich, eine Rückführung von „Fieber“ auf dämonische Mächte als ein zu den griechischen medizinischen Deutungen gleichursprüngliches bzw. paralleles uraltes Deutungskonzept der Menschheit zu klassifizieren.21 Chronologische und kulturübergreifende Thesen der Ordnung von idealtypisch unterschiedenen Fieberkonzepten sind generell kaum durchführbar. Sodann muss von „pandämonologischen“ Fieberdeutungen im Blick sowohl auf antik-jüdische als auch in Hinsicht auf frühchristliche Texte Abstand genommen werden.22 U. a. ist das in der Forschung immer wieder begegnende Missverständnis, dass eine „magische“ Behandlung „fiebriger“ Leiden eo ipso auf eine dämonische Deutung schließen lasse, zu revidieren. 23
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Die Ratschläge des Abaje in bSchab 66b werden von PREUSS, Medizin, 184, als Zeugnisse von „Aberglauben“ bestimmt. In dieser Richtung WEIß, Art. πυρέσσω, πυρετός, 957f. mit Anm. 10. Historisch gesehen ist es kaum angemessen, eine Darstellung der Fiebervorstellungen mit dem Modell „Fieber als Geist und Geißel der Götter“ zu eröffnen (so KÜLKEN, Fieberkonzepte, 15: „in der Geschichte der Medizin am frühesten geübte Form eines Fieberkonzeptes“). In dieser Richtung COOK, Defence, 207, der das dämonologische Konzept erst für spätantik resp. christlich hält. So in der Sache bei KÜLKEN, Fieberkonzepte, 12, 15–18, 98–101. Über die oben genannten Stellen hinaus kommen für die Diskussion in Betracht: Nach Philostr. Ap. 4,10 wird ein Fieberdämon gesteinigt. Diskussionbedürftig ist die von WEIß, Art. πυρέσσω, πυρετός , 957 mit Anm. 12, unter Berufung auf R. REITZENSTEIN genannte Stelle aus der Apokalypse des Gregorios Thaumaturgos, die von einem Fieberengel weiß (Cod. Paris. 2316 fol. 433 r), weiter: PGM XIII 15–17; 4Q 560 I 4; TestSal 7,6f. (ein Dämon bezieht seine Macht von einem Fieberengel, der eineinhalbtägiges/halbdreitägiges Fieber auslösen kann; zur Frage einer älteren Vorlage: BUSCH, Testament, 140f.). Vgl. COOK, Defence, 197f., 203f., zur Kritik Plot. Enn. II 9.14, an dämonologischer Fieberinterpretation. Mit Recht verweist COOK, Defence, 196 mit Anm. 50, im Blick auf Plin. nat. darauf, dass aus einer Auflistung von „magischen“ Therapieformen des Fiebers nicht auf eine dämonologische Ätiologie zurückgeschlossen werden darf (gegen WEIß, Art. πυρέσσω, πυρετός, 957 mit Anm. 10; BÖCHER, Christus, 81–83 u. a.).
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Insgesamt sind dämonologische „Fieber“-Deutungen auch in späteren jüdischen Texten oft nicht so klar greifbar, wie man bisweilen in der Forschung gemeint hat. NAVEH/SHAKED betonen die Notwendigkeit der Entkoppelung von dämonischen Vorstellungen und Krankheitsbildern für die späteren jüdischen Beschwörungstexte, Amulette und „magic bowls“, in denen sich eine dämonologische Ätiologie fiebriger Leiden nur scheinbar weitgehend durchgesetzt hat.24 Diese „Texte“ sind zunächst deshalb so spannend und aufschlussreich, da hier das medizinische und das religiöse Interpretationsparadigma nicht alternativ zu verstehen sind. So scheinen an einigen Stellen termini der griechisch-römischen Krankheitskonstruktion fiebriger Leiden vorausgesetzt; der medizinische Zugang schließt jedoch keineswegs aus, dass zugleich „Geister“ und „Dämonen“ in die Krankheitsinterpretation eingeführt werden; es gibt nicht die ätiologische Alternative. „It is not always easy to distinguish between the spirits or agents that cause disease or a particular ailment, i. e. spirits whose presence in the body ‚explains‘ the presence of disease, and factors that embody the evil motive of other people to harm the client.“25 Im von SCHÄFER/SHAKED als Fragment T.-S. K 1.56 folium 2a 1–6 identifizierten Text ist von einem Dämon namens Gavri’el ( )גבריאלdie Rede. Damit klingt der Name desjenigen Erzengels an, der in der talmudischen Tradition als feuriger Fürst erscheint; im Text vermag der entsprechend benannte Dämon Drei-Tage-Fieber herbeizuführen, bzw. es sind „heilige Engel und mächtige Zeichen“ angesprochen, die solche Potenz besitzen. Aus dem Fieber folgt Bettlägerigkeit und Leiden „unter aller Bedrängnis“. Bemerkenswert ist, dass der Text neben der einfachen Rede von Fieber möglicherweise die Vorstellung einer Tertiana (τρίτη) bzw. Semitertiana voraussetzt.26 Ähnlich kann auch von „hektischen Fiebern“ die Rede sein. 27 Damit ist der oben schon bei den hellenistisch-jüdischen Zeugnissen angedeutete Übergang 24
25
26 27
Unter Schmerz-, Krankheits- und Schadensgeistern, die durch Schadenzauber andere plagen sollen, finden sich in den späteren Texten aus der Kairoer Geniza auf zahlreichen Schriftstücken und Amuletten auch solche, die „Fieber“ herbeischwören bzw. abwehrend bannen sollen. SCHÄFER/SHAKED, Texte, Bd. 1 u. 2; vgl. hier in Bd. 1 das Fragment T.-S. K 1.56 folium 2a 1–6 (a. a. O., 29–45); vgl. SCHÄFER/SHAKED, a. a. O., Bd. 2, das Fragment T.S. NS 322.29 folium 1 a 8 (a. a. O., 334–340; „Siechtum, Fieber und Fieberschauer“ – im Kontext von „Dämonen“, „Geistern“, „Schadegeistern“, „Plagegeistern“, „einwohnenden Geistern“, „Satanen“, „Schreckensgeistern des Tages und der Nacht“ u. a.). NAVEH/S HAKED, Magic, 35. Zum speziellen Problem des Fiebers („the most conspicuous illness“) bzw. Schüttelfrostes in jüdischen Amulett-Texten und auf „magic bowls“: a. a. O., 36f.; vgl. die Amulette 17 und 19 (a. a. O., 50–57, 60–66). SCHÄFER/SHAKED, Texte, Bd. 1, 43. NAVEH/SHAKED, Amulets; Amulett 2: Fieber begegnet hier neben Schüttelfrost bzw. „hektischem Fieber“ und dem „bösen Blick” bzw. „weiblichen Dämonen“ und „Geistern“, die in der Tochter von Marian aktiv sind (a. a. O., 45–49); vgl. Amulett 3,19–23 (a. a. O., 50–55); 9,1–4 (a. a. O., 83–85); Magic Bowl 9,7f. (a. a. O., 174–179).
168
Elementar feurige Hitze markiert, der sich auf die im abendländischen Denken bestimmend gewordene griechisch-römische Nosologie der „Fieber“ bezieht.
3.
Animalische Wärme und Hitze contra naturam – Zur medizinischen Konzeptualisierung der „Fieber“ in der griechischen und römischen Literatur
Wenn die Beobachtung von „Fieber“ in der abendländlichen Medizin in späterer Zeit eine so stark zentrierte Position gewann, wenn „Fieber“ zum „Urphänomen“ (C. G. Carus) bzw. zur „gewöhnlichsten Krankheit von allen“ (vulgare maxime morbus; Cels. med. III 3,1) avancieren konnte, so basiert dies auf Voraussetzungen in der antik-griechischen Heilkunde und Philosophie. Beide „Fächer“ waren dabei nicht trennscharf voneinander abgehoben, medizinische Beobachtungen und philosophisches Denken durchdrangen sich in verschiedener Weise. Von fundamentaler Bedeutung ist dabei vor allem die Theorie einer Analogie bzw. einer material gedachten Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos: Das, was im und am menschlichen Körper geschieht, bildet Weltenvorgänge ab und erschließt diese zugleich. Am Testfall des „Fiebers“ zeigt sich dies wie in einem Brennglas; „Fieber“ ist Gegenstand einer komplexen Zeit-, Welt- und Wirklichkeitsdeutung, die grundsätzlich davon ausgeht, dass alles Weltgeschehen von einer teleologischen Sinnhaftigkeit gekennzeichnet ist. „Wärme“-Konzepte werden seit der frühen ionischen Philosophie engstens mit philosophischreligiösen Vorstellungen vom Menschen und seiner Einbindung in den Kosmos verknüpft; hierdurch ergeben sich körperliche Wärmevorstellungen, die sich grundlegend sowohl von jüdischen Ansätzen als auch von neuzeitlichen Modellen der Thermometrie unterscheiden.
3.1.
Qualitative und elementare Wärme – Zu den Grundlagen und Anfängen griechischer Pyretologie
Feurige Wärme wird in der frühen griechischen Philosophie unter die physikalischen Prinzipien der Welt gerechnet. So gilt Heraklit Feuer als Ur- und Elementarstoff des Seins. Die Welt ist ihm im Kern ewiges, sich lebendig wandelndes Feuer (Frgm. 30, DIELS FVS I 157,11–158,3: „Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer [πῦρ ἀείζωον], erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen“; vgl. DIELS, FVS I 171,6f.). Das Feuer
Elementar feurige Hitze
169
gewinnt im Prozess der Umwandlung drei Gestalten (Tropen): Feuer, Wasser und Erde können je in einem aszendenten oder deszendenten Prozess ineinander übergehen. Als feurig wird dabei auch die menschliche Seele gedacht, die am Urelement partizipiert.28 Über die vorsokratische Philosophie lässt sich die Bedeutung des Feuers als Urstoff bis in die hellenistisch-römische Zeit verfolgen. Von einer feurigen Ursubstanz, zu der der Mensch durch seinen Verstand/seine Seele stofflich in Kontinuität steht, können auch die physikalischen Theorien der Stoiker ausgehen. a) Diese Hochwertung des Feuers als Element führt philosophie- und medizingeschichtlich erst dazu, dass dem „Fieber“ im Zusammenhang von Krankheitsbildern solche Aufmerksamkeit zuteil werden konnte, wie es in der griechischen Kultur bereits früh der Fall ist.29 Grundsätzlich wird hierbei das Feuer in zwei Grundfunktionen angesprochen, nämlich in seinem unbezähmbaren und Lebewesen bedrohenden ebenso wie in seinem lebensschaffenden und Kultur ermöglichenden Funktionsspektrum. Diese funktionale Spannung prägt auch die griechischen Fieberlehren. Die Medizin partizipiert an den teils divergenten Hitze- bzw. Wärme-Konzeptionen in der Physik und Kosmologie, bzw. umgekehrt liefert die medizinische Beobachtung solchen divergierenden Konzepten in der Philosophie Nahrung. Die Thematik des „Fiebers“ wird dort fokussiert, wo die Frage auftritt, wie die urstoffhafte Hitze in ihrer Präsenz im menschlichen Körper zu denken ist. Wie verhalten sich Mikro- und Makrokosmos im Blick auf das Urelement des Feuers? Ist hier eine ungebrochene Kontinuität vorstellbar? Schon die antike Biologie stieß etwa auf die Schwierigkeit, dass es auch „kaltblütige“ Lebewesen gibt; v. a. aber stellte sich das Problem, wie das destruktive kosmische Feuer im menschlichen Körper zu domestizieren sei bzw. ob das feurige Prinzip mit der den Menschen eingepflanzten Lebenswärme tatsächlich identisch zu denken sei. Zur Klärung solcher Fragen zogen die Philosophen die Erkenntnisse der zeitgenössischen Medizin heran und suchten sie zu systematisieren. Nicht nur Platon war ein Bewunderer des Hippokrates, dessen Erkenntnisse er mit dem ἀληθὴς λόγος / der „wahren Lehre“ parallel setzen kann (Phaedr. 270c). Aristoteles ordnet der prima materia die vier unterscheidbaren Qualitäten des kalten/nassen Wassers, der kalten/trockenen Erde, der feuchten/heißen Luft sowie des heißen/trockenen Feuers zu. Wärme ist nach Aristoteles die Prämisse dafür, dass überhaupt Leben sein kann, dass die beseelte Natur nicht verlöscht; demgegenüber koinzidieren Tod und Kälte (vgl. 28
29
Zur Kosmologie des Heraklit: MCKIRAHAN, Philosophy, 134–139. Zur Physik des Empedokles: a. a. O., 256–264. Man vgl. nur die große Bandbreite von πῦρ-Derivaten im klassischen und hellenistischen Griechisch (LIDDEL/SCOTT, Lexicon, 1555–1559).
170
Elementar feurige Hitze Aristot. parv. nat. 466ab; 469b). Der organologische Ort der Wärme ist nach Aristoteles das Herz, in dem die flüssigen und festen Substanzen, die mit der Nahrungsaufnahme in den Körper gelangen und von der Leber vorbereitet werden, in wärmendes und nährendes Blut transformiert werden.30 Die im Magen stattfindenden „Kochvorgänge“ haben in Verbindung mit der Atmung eine hitzeregulative Funktion (vgl. Aristot. parv. nat. 466b; 469b–470a; vgl. ähnlich „Über die Atmung“ 474b). „Fieber“ erscheint also als eine physikalische Dysfunktion, die keine zweite, „widernatürliche“ Wärmequelle voraussetzt. Aristoteles schließt damit – bei allen Abweichungen und eigenständigen Unterschieden – grundsätzlich an das iatrochemische „Fieber“Modell der hippokratischen Medizin an.
b) In den hippokratischen Texten werden „Fieber“ und „Entzündung“ grundsätzlich als Vorgänge einer „Kochung“ bestimmt, mit denen der Körper auf bestimmte Materien reagiert. Allerdings wurden die Konzepte der hippokratischen Medizin erst in späterer Zeit konsequent im Sinne einer systematischen humoralpathologischen Lehre aufgefasst – vor allem durch Galen (s. u. Pkt. 3.2.). Bereits die frühen hippokratischen Texte sind ein Zeugnis dafür, welche prominente Rolle die Griechen dem „Fieber“ bei nahezu allen Krankheitsbildern zumaßen (anders als im antiken Judentum; s. o. Pkt. 2.). Sie stellen dabei jedoch weniger „das Fieber“ als fest normierte „Krankheit“ in den Fokus, sondern konzentrieren sich vielmehr auf die Fälle der einzelnen Kranken bzw. erkrankter Gruppen. Exemplarisch ist dies an den hippokratischen „Epidemien“-Büchern zu zeigen. Diese bieten Berichte im Vergangenheitstempus, die je mit Beobachtungen zum Jahr bzw. der Jahreszeit, dem Klima und zur konkreten Ortslage der jeweiligen Krankheiten beginnen. Bei den Kranken werden Geschlecht, Alter und physische wie charakterliche Konstitution notiert. Bestimmte definierte Krankheitsbilder wie Phthisis oder Phrenitis werden zwar vorausgesetzt, doch im Vordergrund steht die Beobachtung von „Tagen“, „Zeiten“, Verläufen und Symptomen mit dem Ziel einer Prognose im Blick auf „Krise“, „Apostase“ (Schweiß, Erbrechen, Urin, Stuhl, Husten, Nasenbluten u. a. – und auch Fieber), „Umwandlung“ und Heilung. Im Hintergrund steht die Grundanschauung, dass sich der Körper gegebenenfalls von einem Zuviel bestimmter Säfte oder Substanzen befreien wird bzw. dass der Arzt einen solchen Befreiungsvorgang von schädigenden Substanzen – z. B. durch Aderlass – zu unterstützen hat. 30
Zu offenen Fragen im Blick auf die Herz-Konzeption des Aristoteles (in ihrem Verhältnis zum „Zentralorgan“): DÖNT, Aristoteles, 41f. Ein Hauptunterschied zu Galen besteht darin, dass dieser im Anschluss an hippokratische Texte (z. B. CH Morb. Sacr. 20.27–29) und Platon (vgl. Tim. 44d; 77c–e) im „Gehirn“ (wörtlich: im Kopfinhalt: ἐγκέφαλος) das zentrale Steuerungsorgan erkennt.
Elementar feurige Hitze
171
So kann insgesamt kein festes Muster der pyretologischen Interpretation zugrunde gelegt werden; die Entwicklungen, Zustände und Paroxysmen variieren sehr stark. Es gibt epidemische Fieber, die jahreszeitlich-klimatisch bedingt sind, hierunter solche, die von selbst weichen, sowie andere, die überwiegend zum Tod führen (v. a. die „Brennfieber“). c) Stark verallgemeinert sind mit den pyretologischen Positionen der Vorsokratiker, des Platon und Aristoteles sowie mit den später in das Corpus Hippocraticum eingegangenen medizinischen Texten zwei Wege vorskizziert, denen die Medizin der hellenistisch-römischen Zeit gefolgt ist. Lassen sich die hier gängigerweise unterschiedenen drei „Schulen“ (vgl. Cels. med. Prooem. 9–12; Galen [KÜHN I, 117]) auch nicht so klar voneinander abgrenzen (ihre Benennung basiert teils auf Fremdzuschreibungen), so kann man sagen: Das induktive Verfahren lebt in der Schule der Empiriker fort; dagegen erweist sich der kosmologisch-philosophische Ansatz – besonders dann auch unter den Voraussetzungen der Stoa – in den Schulen der „Dogmatiker“/„Theoretiker“ und „Methodiker“ als stärker bestimmend. Die entsprechenden Fieberlehren, die sich systematischer mit Klassifikationen der Stärke, des Zyklus, der Verortung in den körperlichen „Materien“ bzw. „Substanzen“, der Geschwindigkeit und der Transformationsprozesse beschäftigen, hat in neutestamentlicher Zeit Celsus im dritten Buch seines Werkes „De Medicina“ unter praktisch-diätetischer Zielsetzung aufgegriffen; vor allem aber hat Galen von Pergamon die antiken Fieberlehren synthetisiert und in eine finale Gestalt gebracht, die über Jahrhunderte die weitere Diskussion bis in die Neuzeit bestimmt hat.
3.2.
Die Rezeption griechischer und römischer FieberNosologien im Werk des Galen von Pergamon
Die Position Galens kann einerseits enzyklopädisch-konservativ benannt werden; zugleich ist Galen eigenständig. Er weiß sich vorrangig der hippokratischen Tradition verpflichtet, folgt aber in Hinsicht auf die medizinischen Schulmeinungen insgesamt einem eklektischen Verfahren. Vielfach schreibt er den hippokratischen Nosologien Lehrmeinungen und Kenntnisse zu, die sich oft erst hellenistischen Voraussetzungen verdanken. Bei Galen lebt auch die im Grundansatz der griechischen Fieber angelegte mikrokosmisch-makrokosmische Spannung fort: Einerseits schließt er in seinem Kommentar zu den „Aphorismen“ am Konzept der angeborenen animalischen Wärme an, welche im Fieber eine hitzige Transformation erfahre (vgl. KÜHN XVII B, 414, 426; vgl. XV, 456). Andererseits bestimmt er in seiner Schrift „Über die Differenzen“ das Fieber als widernatürliche Hitze (KÜHN VII, 275). Auszugehen ist von seiner
172
Elementar feurige Hitze
Monographie „De differentiis febrium“ (KÜHN VII, 271–405). Darüber hinaus sind weitere Texte wie „De typis“ (KÜHN VII, 463–474), „De crisibus“ (KÜHN IX, 550–768), der „Ad Glauconem de medendi methodo liber I“ (KÜHN XI, 1–70) sowie die Kommentare zu den hippokratischen „Epidemien“ und „Aphorismen“ einzubeziehen. Die Darstellung muss sich auf wenige Grundunterscheidungen beschränken.31 a) Galen unterscheidet symptomatisches Fieber von dem Fieber, welches als solches krankhaft sei. Damit ist zugleich deutlich, dass die Fieber eine Art Längsachse durch die gesamte Nosologie bilden: Sie berühren sowohl die akuten als auch die chronischen Erkrankungen im Kern. In der Schrift „Über die Differenzen von Fiebern“ kann Fieber damit unter die Primärerkrankungen gerechnet werden. Diese setzen nach Galen – auf der Basis seiner systematisierenden Fortschreibung des iatrochemischen Ansatzes der Hippocratica – eine gestörte Balance der vier körperlichen Grundqualitäten (Wärme/ Kälte/Trockenheit/Feuchte) voraus (KÜHN VII, 281). Mit den Hippokratikern und Aristoteles teilt Galen auch die Einschätzung, dass dem Herzen als Zentralorgan die Schlüsselfunktion bei der Feststellung von „Fieber“ zukommt (KÜHN VII, 283). In der binnennosologischen Ordnung der Fieber unterscheidet er drei Grundaspekte, nämlich erstens den der Quantität von Wärme, zweitens den der Substanz, aus der diese resultiert, und drittens den des Modus der Bewegung der Wärme. Der Aspekt der Substantialität bzw. der Veränderung von Substanzen im Prozess der Krankheit führt zu einer Unterscheidung dreier Klassen, nämlich erstens der das Pneuma betreffenden febres diariae, zweitens der sogenannten Faulfieber (febres putridae) und drittens der die festen Körperpartien befallenden Fieber (febres hecticae) (vgl. KÜHN VII, 281; 304; IX, 695). Die Faulfieber werden – im Anschluss an die hippokratische Tradition – in „intermittierende“ und „kontinuierende“ Fieber eingeteilt. b) An dieser Stelle wird das weit gespannte Raster auf die zweite Klasse der Fieber einzentriert. Es sind die intermittierenden, die in zyklischen Schüben verlaufenden „Faulfieber“, denen in den antiken Pyretologien generell die höchste Aufmerksamkeit zukommt. Fragt man nach den Gründen für diese besondere Akzentgebung, so ist auf die Differenz der Krankheitsbilder in antiker Zeit im Vergleich zu neuzeitlichen Erscheinungen zu verweisen. Die „Faulfieber“ betreffen Erkrankungen, die in der Forschung häufig mit Formen der Malaria tropica in Verbindung gebracht werden. Es ist allerdings weder in den hippokratischen Texten noch in Zeugnissen der hellenistisch-römischen Medizin, noch auch in frühjüdischen oder frühchristlichen Texten 31
Zum Folgenden insgesamt: WITTERN, Wechselfieber, 3–22. Vgl. auch KIND, Art. Malaria, 833–835.
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möglich, von den literarisch überformten Krankheitskonzepten her auf „reale“ Krankheitsbilder rückzuschließen. Die „ontologische“ Frage führt in den allermeisten Fällen in Aporien.32 Bei Galen stehen drei intermittierende Fieber im Fokus (KÜHN VII, 412): Die Quotitianfieber (ἀμφημερινοί) umschreiben einen Zyklus von 24 Stunden; die Tertianfieber lassen sich in das Schema von zwei Tagen und zwei Nächten einzeichnen (τριταῖοι πυρετοί) und werden auch als „Brennfieber“ bestimmt (καῦσος). Die Quartanfieber (τεταρταῖοι) bemessen sich nach einem Intervall von 72 Stunden. Als Mischform tritt das zweieinhalbtägige Fieber hinzu. 1.
Die Quotidiana (vgl. KÜHN VII, 341ff., 465f.; IX, 660ff.; XI, 22–26) folgt einem Zyklus von vierundzwanzig Stunden, innerhalb derer ein Fieberschub zur vergleichbaren Zeit – meist gegen Abend – eintritt und jeweils dazwischen zurückgeht. Der nach Galen zugrunde liegende Schleim bewirkt eine Affinität des Krankheitsbildes zum Feuchten, Kalten und Zähen; die Dauer des Fiebers selbst ist „zäh“ und langwierig („ac tarde movetur saepe in ipsis meatibus haerens“; KÜHN VII, 341). Jahreszeitlich ist die Quotidiana dem Winter zuzuordnen.
2.
Die Tertiana (das dreitägige Fieber; vgl. KÜHN VII, 334ff.; IX, 648ff.; XI, 19ff.) resultiert anders als die Quotidiana aus heißer und trockener gelber Galle. Die Zuordnung zu den Umweltqualitäten „trocken“ und „warm“ impliziert den brennenden Charakter dieses Fiebers. Stechender und beißender (anders bei der Quartana) Schüttelfrost und brennende Hitze bieten neben wieteren „Symptomen“ (Appetitlosigkeit; Schlaflosigkeit; gelber oder rötlicher
32
Nach SALLARES, Malaria, wären die Tertian- und Quartanfieber „[…] the clearest symptoms of malaria found in historical sources“ (a. a. O., 11). – Dies muss sehr unsicher bleiben. Nach Sallares sind heute vier species der den menschlichen Körper befallenden Malaria bekannt, die auf das genus Plasmodium zurückgeführt werden. Die Periodizität der Fieberschübe bietet in Verbindung mit bestimmten Umweltkonditionen die Voraussetzung für eine weitreichende Identifikation mit den antiken intermittierenden Fiebern. Plasmodium falciparum (von SALLARES mit bösartigem Tertianfieber bzw. mit der Quotidiana in Verbindung gebracht; a. a. O., 11; die gefährlichste Form menschlicher Malaria; a. a. O., 13), Plasmodium vivax (von SALLARES mit gutartigem Tertianfieber verbunden), Plasmodium malariae (von SALLARES mit Quartanfieber assoziiert) sowie Plasmodium ovale (nach SALLARES ein milder Typus, der in den Mittelmeerländern nicht endemisch gewesen sei). Das Plasmodium falciparum sei in allen Erscheinungsformen bereits zu Beginn der Prinzipatszeit nachweisbar und insgesamt ein sehr altes Pathogen (vgl. a. a. O., 23–42). Kritisch gegenüber einer Rückführung der in den antik-medizinischen Texten angeführten Fieber auf Moskito-Infektionen dagegen: PELLEGRIN, L’imaginaire, 109–120. Siehe insgesamt: KIND, Art. Malaria, 830–846. Die „ontologischen“ Probleme stellen sich auch im Fall medizinischer Quellen (WITTERN, Wechselfieber, 15; ähnlich HESS, Mensch, 25f.; optimistischer SCHULZE, Celsus, 45).
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Elementar feurige Hitze Urin u. a.) die Pole eines Krankheitsverlaufes. Die Krise wird in der Tertiana – je nach jahreszeitlichem Beginn – vergleichsweise schnell erreicht.
3.
Viertägiges Fieber (vgl. KÜHN VII, 335ff.; 465ff.; IX, 658ff.; XI, 37–40) entsteht nach Galen – wie im Corpus Hippocraticum – aus schwarzer Galle und ist unter den drei intermittierenden Grundarten die langwierigste Form, die bis zu zwei Jahren andauern kann. Anders als bei der Tertiana wirkt das Fieber gedämpfter. Jahreszeitlich ist die Quartana dem Herbst zugeordnet; sie befällt vor allem auch Menschen ‚im Herbst‘ ihres Lebens. Die Quartana gilt teils als „einfachere“ Fieberform (Cels. med. III 3,1f.). Nach Galen ist die Prognose in der Regel günstig; sie erlaubt dem Kranken, zwischen den einzelnen Fieberschüben den gewohnten Tätigkeiten nachzugehen. Nach den hippokratischen „Epidemien“ kann die Quartana sogar vor anderen schweren Erkrankungen bewahren (CH Epid. I 3,11: καί νουσημάτων μεγάλων ἄλλων ῥύεται).
4.
Als besonders gefährlich gilt in der antik-medizinischen Pyretologie die Mischform des zweieinhalbtägigen Fiebers (Semitertiana; πυρετὸς ἡμιτριταῖος; vgl. KÜHN VII, 350–367; 467–469), in welcher ein kontinuierendes schleimiges sowie ein intermittierendes galliges Fieber eine Symbiose eingehen. Bei dieser Fieberart treten keine echten Ruheintervalle zwischen den länger währenden bzw. unübersichtlicher angeordneten Anfällen (vgl. Cels. med. III 3,2), sondern lediglich temporäre Absenkungen (παρακμαί) auf; der Arzt kann das Fieber darum nur schwer beobachten. Nach Celsus kommt es bei den zweieinhalbtägigen Fiebern häufig zu ärztlichen Fehleinschätzungen, deren Folge der Tod des Patienten sein kann (med. III 8,2). Schon in den hippokratischen Epidemien gilt die Semitertiana als potentiell tödlichste Fieberform (vgl. CH Epid. I 24). Wenn man RENATE WITTERN folgt, ist dieses Fieber in neutestamentlicher Zeit in Rom besonders häufig aufgetreten. 33
c) Die einzelnen Prognosen bezüglich der Lebenserwartung (quoad vitam) divergieren je nach Art und Verlauf der intermittierenden Fieber beträchtlich, und auch die therapeutischen Anweisungen sind sehr unterschiedlich gelagert. Bei Galen folgen die therapeutischen consilia dem grundlegenden Ansatz des contraria contrariis; so sind z. B. durch trockene Substanzen verursachte Fieber (gelber Schleim) durch „gegenteilige“ Stoffe bzw. Qualitäten (Feuchtigkeit und Kälte) zu therapieren. Wie in der hippokratischen Medizin ist bei Galle-dependenten Fiebererkrankungen die „Apostase“ anzuzielen, d. h. die Lösung und Überwindung der Krankheit durch den Austritt der materia peccans. Erschwert werden Prognose und Therapie durch Grenzfälle der Fieberklassifikation, mit denen sich die gesamte antike Pyretologie auseinander33
Vgl. WITTERN, Wechselfieber, 20.
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setzt. In ihnen gerät das vordergründig so glänzend aufgehende System in Aporien hinein34 und meldet sich die im griechischen Denken angelegte Spannung von animalischer (kosmischer) Wärme und Hitze contra naturam. So sind nach Galen von den „echten“ Fiebertypen, die einen regelgerechten Verlauf nehmen (τύπος ἀκριβής bzw. γνήσιος), „falsche“ Typen zu unterscheiden (τύπος οὐκ ἀκριβής bzw. νόθος). Sodann gibt es über das zweieinhalbtägige Fieber (s. o.) hinaus weitere „synthetische“ Formen, die aus Kombination bzw. Überblendung unterschiedlicher Fieber entstehen. So können sich z. B. zwei Quotidianae überlagern, so dass täglich mit zwei Fieberspitzen und Ruheintervallen zu rechnen ist; auch Tertianae oder Quartanae können sich reduplizieren (vgl. KÜHN VII, 464f.), und ein täglicher Fieberanfall kann in solchen Synthesen entweder auf eine Quotidiana, auf zwei Tertianae oder drei Quartanae zurückgeführt werden. Durch solche Hybridformen, die keineswegs selten diagnostiziert werden, sind intermittierende und kontinuierende Fieber kaum mehr zu unterscheiden.
3.3.
Fieber als Gegenstand religiöser Deutungen und „magischer“ Behandlung
Neben dem Fieber als medizinischem Phänomen steht die Frage nach der religiösen Wertigkeit entsprechender Erkrankungen. Beide Perspektiven sind im griechisch-römischen literarischen Bereich deutlicher getrennt als in der jüdischen Literatur. Insbesondere die hippokratischen Texte werden vielfach als Vorläufer einer rein „rationalen“ Heilkunde begriffen. Insofern „Fieber“ im griechisch-römischen Denken jedoch immer mit der kosmischen Ordnung verknüpft bleibt und diese auch religionsphilosophisch durchdrungen ist, sind religiöse Deutungen nie gänzlich abzuschattieren (vgl. im mythischen Bereich z. B. den für das Feuer zuständigen Gott Hephaistos/Vulcanus; vgl. die Bedeutung des Herdfeuers in der griechischen und römischen religio domestica u. a.). Grundsätzlich ist „Krankheit“ in der Antike in der Regel nie allein ein somatisches bzw. soziokulturelles Phänomen, sondern betrifft immer auch die Frage religiöser Interpretation und Praxis. 34
WITTERN, Wechselfieber, 21 spricht bei Galen von einem „Systemzwang“. Auch Celsus beschäftigt sich im dritten Buch von „De Medicina“ mit den Grenzfällen; nicht alle „Fieber“ folgen der zu erwartenden Ordnung (III 3,5). Celsus notiert u. a. den Widerspruch, dass die von den Alten als „ungerade“ bestimmten „kritischen“ Tage (κρίσιμοι: der dritte, fünfte, siebte, neunte, elfte, vierzehnte und einundzwanzigste Tag; med. III 4,11) mit dem vierzehnten Tag eine gerade Zahl einschließen. Er erkennt hier eine Täuschung durch die Pythagoreischen Zahlen („celebres Pythagorici numeri“; med. III 4,15). Nach C. SCHULZE sind Celsus’ Klärungen ungehört geblieben: „[N]och die arabische Medizin wird 1000 Jahre nach der Abfassung der De medicina libri octo ein uns heute etwas bizarr anmutendes System der Tageszählung und -bedeutungen pflegen“ (SCHULZE, Celsus, 46).
176
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Während in den medizinischen Texten die Korrelation von Mikro- und Makrokosmos systematisch reflektiert wird, ist das weitere religiöse Feld der „Fieber“ jenseits wissenschaftlicher Betrachtung schwerer zu erschließen; dies gilt einmal angesichts des Grundproblems, dass aus dem Bereich der unteren Bevölkerungsschichten literarische Zeugnisse in der Regel nicht zu erwarten sind; sodann ist es generell schwierig, aus einer Inszenierung in Texten auf tatsächliche Praktiken rückzuschließen. a) Auf der Ebene der Akteure rücken neben den Ärzten stärker die Kranken selbst, ihre Angehörigen sowie weitere Heiler mit ihren Überzeugungen und Praktiken in den Fokus. Was sich z. B. aus der Sicht des Arztes als wahnhafte Begleiterscheinung fiebriger Erkrankungen erklärt – so z. B. häufig notiert in den hippokratischen „Epidemien“ –, kann aus Sicht der Patienten oder ihrer Angehörigen „religiös“ kodiert werden. So gibt es einzelne Zeugnisse, in denen der Fieberwahn in die Nähe einer visionären oder prophetischen Gabe ante mortem gerückt wird. Nach der von stoischen Ansichten beeinflussten Auffassung des Aretaios (II 4,4f.) durchlaufen die am Brennfieber (καῦσος) Erkrankten eine psychische Läuterung (ψυχῆς κατάστασις), die ihnen zu seherischen Fähigkeiten verhilft (γνώμη μαντική), mit denen sie nicht allein ihren eigenen Todestermin, sondern auch anderen die Zukunft vorherzusagen und sogar in Kontakt mit den Toten zu treten vermögen. Die fiebrige Krankheit entkleidet ihre Seele (γυμνῇ τῇ ψυχῇ), die Kranken sehen alles, was im Luftraum vor sich geht; sie werden zu „zuverlässigen Sehern“ (μάντιες ἀτρεκέες).35 b) Jenseits der Medizin, aber teilweise nicht völlig trennscharf von ihr unterschieden, begegnet ein etablierter Fundus von Überlieferungswissen, der in den Quellen vielfach als „magisch“ gekennzeichnet ist. Es handelt sich um Alltagspraktiken von Menschen ‚an den Grenzen‘, die eigenen Gesetzmäßigkeiten und Logiken folgen. Dies ist ein interessanter Befund, dass auch hier im Fall von Fieber bestimmte Wissens- und Handlungs-Systematiken gewahrt sind. Das, was im Krankheitsfall hilft und effektiv ist, wird auch genutzt und gegebenenfalls mindestens nicht verboten. Es ist nicht auszuschließen, sondern vielmehr – trotz der vielfach fehlenden Quellen – naheliegend, dass auch die frühen Christen sich derlei Praktiken bedient haben. Auch der christliche Arzt Alexander von Tralles kann z. B. Amulette empfehlen. In späterer Zeit finden sich weitere christianisierte Varianten entsprechender „magischer“ Praxis.36 35
36
Ähnliche Texte ordnet HORN, Art. Fieber, 884f., der – problematischen – Kategorie „Erkenntniszauber“ zu. Man soll die griechischen Buchstaben κ, ρ sowie α auf ein Ölblatt schreiben und dies dem Erkrankten vor Aufgang der Sonne umhängen oder man soll eine Spinne am linken Arm tragen (Alex. Trall. Febr. I 407). Zu möglichen Bezügen dieser Buchstabenmystik zu astro-
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Im Blick auf den „magischen“ Einsatz von Materien im Fall von Fieber37 bietet Plinius d. Ä. in seiner „Naturalis Historia“ die reichste Fundgrube. Plinius d. Ä. erweist sich hierbei als ein kritischer Enzyklopäde; die von ihm referierten „magischen“ remedia werden gesammelt und in kritischer Distanz vorgestellt; sie bedürften je einer gründlichen Einzelanalyse. Neben Pflanzen38 spielen tierische Substanzen eine ganz entscheidende Rolle. Vorausgesetzt ist dabei z. B., dass einzelne Tierarten als fieberimmun gelten, so z. B. der Hirsch (Plin. nat. 8,119). Nach Plin. nat. 28,90 heilt der Verzehr von Löwenherz von der Quartana; das Fett vom Löwen hilft in Verbindung mit Rosenöl gegen die Quotidiana (vgl. Flusspferdfett gegen „kalte Fieber“ in Plin. nat. 28,121). In Plin. nat. 30,103 referiert Plinius ein Heilmittel der Parther gegen die Quartana, welches zu gleichen Teilen aus der Haut der Brillenschlange und aus Pfeffer zusammengesetzt ist. Insbesondere Kleinstlebewesen wie Seepferdchen (Plin. nat. 32,113) und Mistkäfer (Plin. nat. 30,30.99) kommen gegen Fieber zum Einsatz. Im Einzelnen finden sich dabei eigenartige Kombinationen von Analogie-, Sympathie, Binde-, Zwing- bzw. Translozierungszauber mit laien- bzw. paramedizinischen Vorstellungen. Bei einer Tertiana soll z. B. die Anbindung der Spinne an ein Rohr bzw. der Einschluss einer grünen Eidechse in ein Gefäß helfen (Plin. nat. 30,104). Eigens hebt Plinius hervor, dass auch der Stoiker Chrysipp derlei überliefert hat: Die Bindung des phryganion, eines Tieres, welches freilich als unbekannt gelten müsse, sei ein Mittel gegen Viertagesfieber (Plin. nat. 30,103). Im Fall von kaum therapierbarem Viertagesfieber führt Plinius in Plin. nat. 30,98 mehrere remedia der Magier an, wobei u. a. nicht nur der eingewickelte Staub, in dem sich ein Habicht gewälzt hat, sowie der längste Zahn eines schwarzen Hundes Erwähnung finden, sondern auch die sogenannte „falsche Wespe“ (pseudospheces), die die Magier mit der linken Hand
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38
logischen Theorien vgl. HORN, Art. Fieber, 906. Zu Fieberamuletten in der Alten Kirche: HORN, a. a. O., 906f.; COOK, Defence, 198–203. Zum von Augustin hingenommenen Brauch, das Johannesevangelium auf den Kopf von Fieberkranken zu legen, vgl. HORN, Art. Fieber, 907. Schwer einzuordnen sind Texte, die von einer fieberdirektiven Potenz von Statuen wissen. Lukian berichtet in den „Lügenfreunden“ von der wandelnden Statue eines korinthischen Feldherrn namens Pellichos (vgl. Thuk. I 29,2), die nicht nur vom tödlichen Schüttelfrost zu heilen, sondern diesen auch als Strafwunder herbeizuführen vermag. Eukrates lässt die Statue auf Grund seiner Heilung vergolden (Lukian Philops. 19); vgl. die folgende Rede des Arztes Antigonos in Philops. 21, der ebenfalls einen „Hippokrates aus Bronzeerz“ zu besitzen vorgibt. Auch die Statue des Toxaris befreit von Fieber (Lukian Scyth. 2). Vgl. auch Paus. Descr. Graec. VI 11,2 (HORN, Art. Fieber, 885f.). In Plin. nat. 22,38 bezieht sich Plinius auf ein traditionelles incantamentum: Die angebundene Wurzel der Herbstnessel befreie vom Dreitagefieber („in tertianis“), wenn man beim Ausreißen ihrer Wurzel die Kranken namhaft mache, „für wen und für wessen Kind man sie herausziehe“ („cui et quorum filio eximatur“). Hilfe soll auch die erste Anemone vermitteln, die man in einem Jahr sieht (Plin. nat. 21,166).
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Elementar feurige Hitze fangen und sie anbinden (die erste im Jahr gesehene Wespe ist vorzuziehen). Ferner berichtet Plinius von der – in seinen Augen fragwürdigen – Praxis der Erstellung von Nagelschnitzamuletten, in denen die Schnitzel von menschlichen Fuß- und Fingernägeln mit Wachs vermischt werden und die gegen Drei-, Vier- und Eintagesfieber helfen sollen. Diese sollen an die Tür eines fremden Hauses geheftet werden und so der Krankheitsdemission bzw. Krankheitsübertragung dienen (Plin. nat. 28,86).39
c) Nicht auf Heilung und Nutzen, sondern auf Schädigung eines anderen ausgerichtet sind verschiedene Zeugnisse, in denen „Fieber“ als Gegenstand von Fluch- und Schadenzauber begegnen. In CIL VI 33899 steht das Fieber an der Spitze einer ganzen Reihe von Leiden, die den Praesetius, Sohn der Aselle, treffen und ihn dem Pluto übereigenen sollen („et si forte te comtempserit patiatur febris/frigus tortionis palloris sudores obbripi/ lationis meridianas interdianas seru/tinas nocturnas ab hac ora ab hac die ab hac [...]“). Auf der Fluchtafel von Rom wünscht ein Schauspieler einem Arbeitskollegen Fieber, um ihn außer Gefecht zu setzen (EGGER SbW 240,4,17). Wenn insgesamt Fieber als Teil von Strafwundern in der hellenistischrömischen Antike vergleichsweise selten begegnet, 40 so entspricht dieser Befund der komplementären Feststellung, dass auch vergleichsweise wenige Berichte über wunderbare Fieberheilungen erhalten sind (sie fehlen z. B. in den Heilinschriften von Epidauros). Angesichts der Mehrdeutigkeit und Unsicherheit fiebriger Phänomene – so kann man den Befund u. a. interpretieren – können andere Krankheiten und Schädigungen „sicherer“ und effektiver erscheinen. d) War soweit vom Fieber als einem medizinischen Konstrukt mit sozialen Implikationen die Rede, so begegnet im römischen Raum der besondere Fall einer religiösen Konstruktion der Krankheit als Gottheit. „Fieber“ wurde in Rom göttlich verehrt und bietet damit ein konkretes Anschauungsbeispiel dafür, dass das, was man fürchtete, potentiell auch göttliche veneratio erfahren konnte. In Senecas „Apocolocyntosis” begleitet die Göttin „Fieber“ als einzige Gottheit den toten Kaiser Claudius in die jenseitige Welt, unter dem Anspruch, seine Biographie bestens zu kennen, nachdem Febris so lange mit ihm zusammen gelebt habe (Sen. apocol. 6: „ceteros omnes deos Romae reliquerat […]“). Vorausgesetzt ist die notorisch kränkelnde Konstitution des Kaisers sowie die Ortslage des Tempels nahe beim Cäsarenpalast.41 Nach ver39
40 41
„Dahinter steht der Glaube, daß die Finger- und Zehennägel, auch wenn sie abgeschnitten sind, einen Teil der οὐσία des früheren Besitzers darstellen“ (HORN, Art. Fieber, 881). Vgl. HORN, a. a. O., 886f. Damit ist ein Übergang in die Welt des Satirischen markiert. Den Satirikern ist „Fieber“ auch sonst ein nahe liegendes Vehikel zur Beförderung von Menschen ins Jenseits resp.
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schiedenen literarischen Quellen befand sich hier eine von insgesamt drei Kultstätten der Dea Febris in Stadtrom (vgl. Valerius Maximus II 5,6; der Tempel hat keine archäologischen Spuren hinterlassen). Bestätigung erfährt dies u. a. durch Plinius d. Ä. sowie Cicero. Im dritten Buch von „De natura Deorum“ (Cic. nat. deor. III 24f; 63f.) warnt dieser die Stoiker vor dem Fehlschluss, aus der Regelmäßigkeit der Abläufe im Kosmos deren Göttlichkeit zu folgern. Denn dann müsse man schließlich auch in der Periodizität des drei- und viertägigen Wechselfiebers göttliche Kräfte am Werk sehen. Wahrscheinlich setzt Cicero sich hier mit der Zuschreibung göttlichen Charakters an das Fieber bei Poseidonios auseinander. Weitere Quellen und Inschriften verweisen auf das Alter, die Verbreitung und die lange Nachgeschichte des Kultus der Dea Febris.42
4.
Zur Fieberhermeneutik in frühchristlichen Therapieerzählungen
Im neutestamentlichen Schrifttum begegnet „fiebriges“ Leiden in drei Erzählungen (πῦρ-Derivate in Mk 1,30f. par Mt 8,14f. par Lk 4,38f.; Joh 4,52; Apg 28,8). Das ist kein überaus reicher Befund, jedoch auch nicht wenig. Auch sonst sind Fieberheilungen in der hellenistisch-römischen Literatur selten berichtet. 43 Der Grund hierfür wird eben darin zu suchen sein, dass „Fieber“ in der gesamten antiken Literatur so vieldeutig und volatil bzw. intermittierend-zyklisch konzeptualisiert ist und entsprechende Veränderungen am menschlichen Körper so schwer wahrnehmbar und interpretierbar bleiben. Die neutestamentlichen Fiebertherapien sind hervorgehoben. Innerhalb der Erzählwerke finden sie sich je entweder in einer „Pilotstellung“ – in Mk 1 handelt es sich um Jesu zweites Wunder; in Joh 4 ist es das „zweite Zeichen“ (in Kana) – oder in einer finalen Position – Apg 28 bietet die letzte Wunderheilung im lukanischen Doppelwerk. Durch diese Positionierung im Erzählaufriss erhalten die Episoden – und mit ihnen das zugrunde liegende Krankheitsbild – Gewicht. Anstelle einer ausführlichen Exegese der neutestamentlichen Texte44 sollen hier
42
43 44
den Hades; vgl. Lukian Philops. 25. Zu Fieber-Belegen in der römischen Satire: KIVISTÖ, Medical, 67–74. Plin. nat. 2,2.15f.; Epikt. diss. I 19,6; Ael. var. 12,11. Zu den späten Inschriften, die göttliche Verehrung des Fiebers voraussetzen und zeigen, dass der Kult nicht auf Stadtrom beschränkt war: HORN, Art. Fieber, 890. Vgl. Plin. nat. 7,166; Philostr. Heroic. XV 10–XVI 6; Script. Hist. Aug. Hadr. 25,3f.; 24,9. Vgl. dazu LAU, Weg, 214–220; MAHR, Macht, 536–542; VAN DER WATT, Glaube, 681–689; BORNMANN, Häftling, 288–298.
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auf der Grundlage des Durchgangs durch die antik-pyretologischen Konzeptionen einige ausgewählte Beobachtungen stehen. a) Zugrunde liegt den Erzählungen je die – durch die medizinischen und weiteren Texte zu bestätigende – Einsicht, dass „Fieber“ das „gewöhnlichste Leiden“ darstellt, dass die Krankheit den ganzen Menschen betrifft (vgl. Cels. med. III 1,3) und als „dritte Krankheitsgattung“ quer zur medizinischen Unterscheidung von chronischen und akuten Leiden steht (vgl. Cels. med. III 1,2). b) Die Erzählungen sind ganz auf den Wundertäter und seine erfolgreiche Praxis hin orientiert. Mit den weiteren frühchristlichen Therapieerzählungen teilen die Fieberheilungen den „salutogenetischen“ Ansatz: „Krankheit“ wird nicht pathogenetisch definiert, sondern vielmehr von ihrer Überwindung durch den souveränen Heiltäter her konzeptualisiert, dessen Vollmacht demonstriert werden soll.45 So erklärt sich, dass physiologische, ätiologische, prognostische, diätetische und weitere Beobachtungen und Anweisungen fehlen, wie man sie im Umfeld medizinisch geschulter Texte erwarten würde. c) Trotz der grundlegenden Unterschiedenheit von medizinischen Texten bzw. Quellen, die Ärzte voraussetzen, gilt für alle neutestamentlichen Geschichten: Die Krankheit erschließt sich nicht als unbestimmte „Hitzigkeit“; vielmehr handelt es sich beim πυρετός um „Fieber“ im qualifizierten Sinn. Die Texte setzen voraus: Es sind die Ärzte, die nach antikem common sense für „Fieber“ zuständig sind, es ist ihre Nosologie, durch die „Fieber“ überhaupt erst wahrnehmbar und benennbar wird. Nach Platon kann nur der Arzt als Fachmann feststellen, wo „Fieber“ im Unterschied zu bloßer „Wärme“ vorliegt (Plat. Tht. 178c). Dies impliziert zugleich, dass (nur) derjenige „Fieber haben“ wird, der – aufgrund seiner finanziellen, status- und bildungsmäßigen Voraussetzungen – auch Zugang zu Ärzten besitzt.46 Im frühchristlichen Schrifttum bestätigt sich dies insofern, als die „Fieber“-Kranken jeweils über ihre Zugehörigkeit zu einer prominenten Figur definiert sind, in deren Umfeld eine antike Leserschaft mit Ärzten rechnen kann: In Joh 4 ist dies im Fall des Sohnes eines „Königlichen“ ebenso evident wie in Apg 28, wo es sich um den Vater des „Ersten“ der Insel handelt. Undeutlicher sind die Sachverhalte in Mk 1,29–31. Hierzu nun lediglich einige ausgewählte Hinweise und Beobachtungen. 45
46
Siehe zum salutogenetischen Ansatz: V. BENDEMANN, Christus, 105–129 (siehe in diesem Band 37–66). Beispielhaft der Fiebertod des Alexander. Plut. Alex. 76 (von GEHRKE, Alexander, 95f., „ontologisch“ auf Malaria hin gedeutet). Vgl. Ios. ant. Iud. XIII 398.
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4.1.
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Das Fieber der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29–31par)
Die kurze Wundererzählung Mk 1,29–31 bietet im zweiten Evangelium die erste Szene in einem privaten Haus, dem des Simon und Andreas, – im Kontrast zur vorausgegangenen Öffentlichkeit der Synagoge; in ihr begegnet – komplementär zum männlichen Besessenen (Mk 1,21–28) – die erste Frau im zweiten Evangelium. Diese liegt dauerhaft (Imperfekt) „fiebernd“ darnieder (Mk 1,30: κατέκειτο πυρέσσουσα). Jesus hört davon, geht herzu, ergreift ihre Hand und „weckt“ sie (Mk 1,31). Daraufhin verlässt die Frau das Fieber (ἀφῆκεν αὐτὴν ὁ πυρετός). Die Heilung der Schwiegermutter vollzieht sich im vom Heiltäter initiierten Übergang vom passiven Liegen über das Aufgerichtet- und Beweglichwerden hin zum dauerhaft-aktiven Handeln. Die Episode schließt, indem der Erzähler den bleibenden (Imperfekt) „Dienst“ der Frau notiert. a) Es handelt sich in Mk 1 um die einzige Erwähnung eines „fiebrigen“ Leidens im zweiten Evangelium (zum Feuer vgl. Mk 9,22.42–48f.). Dieser Befund ist ernst zu nehmen, selektiert der Erzähler auch sonst sehr sorgfältig die einzelnen Krankheitsbilder und stimmt sie auf den Plot seines Evangeliums ab. Auf dem Hintergrund unserer traditionsgeschichtlichen Sichtung antiker Pyretologien ist bei der Deutung des Befundes zuerst in Betracht zu ziehen: „Fieber“/πυρετός meint hier nicht eine indefinite feurige Hitze, sondern erschließt sich in einem im weiteren Sinn medizinischen Kontext. Dieses „Fieber“ ist Sache der Ärzte: Nur wo „Ärzte“ sind und heilkundliche Lesart vorausgesetzt wird, „gibt“ es solches „Fieber“. Dies legt die Annahme nahe: Der zweite Evangelist rückt die Episode Mk 1,29–31 planvoll und bewusst in einen Horizont, der seine Leserschaft auf ein medizinisch definiertes Krankheitsbild verweist. Erzähltechnisch ist dieser Anordnung im zweiten Evangelium Mk 5 zu vergleichen.47 Beide Episoden zusammen zeigen, was sich auch sonst wahrscheinlich machen lässt: Die Erzählgegenwart des zweiten Evangeliums repräsentiert keine arztlose Gesellschaft; „Ärzte“ bzw. heilkundliche Konstruktionen von Krankheit und Leiden gehören in den Erfahrungsbereich der Leserschaft. Jesus erweist sich in diesen Erzählungen als der bessere Arzt. b) Das Setting von Privathaus, Heiltäter im Gefolge seiner Schüler – es handelt sich um die gerade berufenen Erstjünger – und bettlägerigem Kranken weckt in Mk 1,29–31 Konnotationen an den Hausbesuch des Arztes. Mit der Situation ist etwa das an den Arzt gerichtete Epigramm V 9 Martials zu verglei47
Die „Blutflüssige“ hat nach Mk 5,26 vergebens viele Ärzte konsultiert und ihr Vermögen dafür aufgebracht; „Heilung“ (ἰᾶσθαι; Mk 5,29), also das, was regulär ärztliche Kunst anzielt, erfährt die Frau hier durch Jesus. Siehe hierzu V. BENDEMANN, Christus, 112–117 (siehe in diesem Band 46–50).
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Elementar feurige Hitze chen (in dem freilich das Fieber erst Folge der therapeutischen Bemühungen ist): „Languebam: sed tu comitatus protinus ad me/venisti centum, Symmache, discipulis./Centum me tetigere manus aquilone gelatae/non habui febrem, Symmache, nunc habeo” (Ich ließ krank die Flügel hängen. Aber du kamst gleich zu mir,/begleitet, Symmachus, von hundert Schülern./ Hundert Hände, vom Nordwind eiskalt, berührten mich./Kein Fieber hatte ich, Symmachus, jetzt habe ich es.).
c) Die antik-medizinische Literatur ist reich an Schilderungen fiebernd darniederliegender Frauen. Nimmt man die Fallstudien aus dem ersten und dritten Buch der hippokratischen „Epidemien“ als exemplarischen Vergleichspunkt,48 so brechen sich in den Schilderungen Erfahrungen der Kranken, die ein Licht auf das weibliche „Fieber“ in Mk 1,29–31 werfen. Fieber (πῦρ bzw. πυρετός) kommt in 40 der 42 geschilderten Krankheitsfälle von CH Epid. I und III vor; in 34 Fällen wird das Fieber als akut (ὀξύς) qualifiziert. Unter diesen Fällen sind 17 Frauen, die – wie beim zweiten Evangelisten – vielfach namenlos bleiben und über ihre männlichen Verwandten bzw. den Ort ihres Krankseins identifiziert werden. Die Mehrzahl der Fälle endet mit der Notiz des Versterbens. Lediglich in zwei Fällen ist davon die Rede, dass die Frau vom Fieber frei wird bzw. dieses die Frau verlässt (CH Epid. I 27 N: die Frau, die an der Küste krank liegt; III 17 M: ein junges Mädchen aus Larissa: ἀπύρος). In vier Fällen endet der Bericht mit der Notiz der „Krise“ (Epid. I 27 E; I 27 O; III 17 G; III 17 L), wobei diese nach hippokratischem Verständnis nicht notwendig völlige Gesundung voraussetzt, sondern eine weitere Fieberremission nach sich ziehen kann. d) Ein ganz entscheidender Punkt ist im Licht medizinischer Texte: Die in der Forschung immer wieder anklingende Auffassung, die personalisierte Notiz, nach der das Fieber die Frau „verlässt“ (Mk 1,31 par: ἀφῆκεν αὐτήν ὁ πυρετός; ähnlich Joh 4,52), nähere sich der Auffassung von einem Fiebergeist resp. Fieberdämon an, ist klar in das Reich der Legenden zu verweisen. Die Heilnotiz steht vielmehr in gutem Einklang mit dem medizinischen Sprachgebrauch. Sie findet sich entsprechend auch in hippokratischen Texten (vgl. CH Epid. V 1.20: πυρετὸς [...] οὐκ ἀφῆκε; VII 1.51: καὶ ἡ Πολεμάρχου θέρεος ἤρξατο πυρεταίνειν· ἀφῆκε δὲ αὐτὴν ἑκταίην; Progn. 17.2: πρῶτον μὲν ὁ πυρετὸς οὐκ ἀφίησιν; Cap. Vuln. 20.10: ὅ τε πυρετὸς ἀφίησι; Iudic. 11.4: ἀφίῃ ὁ πυρετός).
48
Nach einem breiten Konsens der Forschung gehören CH Epid. I und III eng zusammen und gehen möglicherweise auf Hippokrates selbst zurück. Siehe SMITH, Fever, 1f. zu Epid. I-II im Unterschied zu Epid. V und VII. Zur Struktur der Fallbeschreibungen: POTTER, Epidemien, 15. Vgl. LICHTENTHAELER, Kommentar, Bd. 15.
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183
e) Vor dem Hintergrund eines grundsätzlich „medizinisch“ konstruierten Krankheitsbildes verdient die finale Erzählernotiz in Mk 1,31 besondere Aufmerksamkeit. Sie stellt nicht nur den „Dienst“ der geheilten Schwiegermutter des Petrus in einen Zusammenhang zur markinischen Konzeption von Nachfolge und Jüngerschaft – die Heilung ermöglicht eine bleibende Beziehung zum Wundertäter bzw. seiner Gruppe (vgl. Mk 10,46–52). Sie verdient auch in Hinsicht auf die antiken Pyretologien Aufmerksamkeit. Das durative Imperfekt kann für die Leserschaft nämlich sicherstellen, dass Heilung im Text nicht lediglich temporäre Remission eines intermittierenden Fiebers bedeutet, sondern anhaltende (d. h. gegebenenfalls auch kontinuierendes Fieber beendende) Gesundung und Dienstfähigkeit impliziert. 49 Zusammengefasst stellt der zweite Evangelist also neben einen exemplarischen Exorzismus (Mk 1,21–28) eine exemplarische Therapie (Mk 1,29–31) an den Beginn der Wirksamkeit seines Jesus (vgl. die entsprechende Differenzierung im Summar Mk 1,32–34). In Mk 1,29–31 operiert dieser nicht als Exorzist, sondern als der überlegene „Arzt“.50
4.2.
„Leben“ für den Sohn des „Königlichen“ (Joh 4,46–54)
Auch die Erzählung Joh 4,46–54 setzt zunächst voraus, dass „Fieber“ ein Krankheitsbild darstellt, welches regulär zuerst in Häusern von höherer sozialer Stellung und Bildung zu erwarten ist: Der „Königliche“ verweist allgemein auf eine Person in königlichem Dienst bzw. in einer Stellung der Zugehörigkeit zum Königshaus (vgl. Plut. Sol. 27,3; Polyk. 76,2; Ios. ant. Iud. 15,289; 17,266.275); am ehesten kann die Leserschaft an einen Zugehörigen oder Beamten des herodia49
50
Der Dienst der socrus Petri ist nicht auf temporäre Haushalts- bzw. Tischdienste zu reduzieren. So mit vielen anderen z. B. GNILKA, Evangelium, Teilbd. 2, 84 mit Anm. 9. Vgl. dagegen MÖRTL, Schwiegermutter. Der Zusammenhang von Fieber und „Arbeitsleistung“ begegnet in späteren juristischen Texten. Nach Iav. Dig. 21,1,53 galten an intermittierenden Fiebern Leidende auch an den Tagen als krank, an denen das Fieber pausiert. Nach Iul. Dig. 42,1,60, hat Fieber das Fehlen bei Gericht zur Folge. Die Digesten des Ulpian bestimmen dagegen, dass ein leichtes Fieber oder eine alte Quartana, um die man sich nicht mehr kümmern muss, keinen Rechtsgrund darstellen, um für auf dem Markt erworbene Sklaven eine Mängelerstattung zu erhalten (Dig. 21,1,1,8). Eine interessante Frage ist, inwieweit in dieser Anordnung indirekt Licht auf die soziale Stellung der kranken Frau und die ihres Schwiegersohnes fällt: Sie ist hervorgehoben, insofern sie „Fieber hat“; sie gehört damit in den Kreis prominenter Persönlichkeiten, von denen in der Antike „Fieber“ berichtet sind – da und insofern sie am privilegierten Gesundheitssystem Anteil haben. Zur socrus Petri vgl. 1 Kor 9,5; eigentümlich ist die Nennung der Schwiegermutter eines Mannes in Mk 1,29–31; zur Geschichte der „Entdeckung“, Entwicklung und Stereotypisierung in „Schwieger“-Verhältnissen: HOLFELDER, Schwiegermutter.
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nischen Klientelkönigshauses denken. 51 In der Erzählung von Joh 4,46–54 hat er ein eigenes Haus mit (medizinisch kompetenten?) Sklaven. Sodann setzt die Erzählung ein Krankheitswissen voraus, nach dem „Fieber“ potentiell tödlichen Ausgang nehmen kann. Der vierte Evangelist nutzt diesen Befund, um „zeichenhaft“ die Alternative von Tod und Leben auszuarbeiten. Betont ist im Schlussteil des Textes das dreimalige „Dein Sohn lebt!“ (Joh 4,50f.53; vgl. 1 Kön 17,23 aus dem Mund des Elia). Mit seiner besonderen Krankheitssemiotik wird das vierte Evangelium anschlussfähig für eine medizinische Krankheitskonstruktion, die fiebrige Leiden als „Zeichen“ auffasst. Das Weinwunder zu Kana (Joh 2,1–10) und die Heilung des Sohnes des „Königlichen“ (4,46–54) werden im vierten Evangelium als zwei (jeweils mit Kana verbundene) Semeia gezählt. Krankheiten gelten schon in den hippokratischen Texten als sichtbare „Zeichen“ und Ausdruck versteckter Ursachen und körperlicher Zustände; schon die hippokratische Medizin verrät ein solches an „Zeichen“ orientiertes Denken, und medizinale Deutungen beschreiben eine eigene semiotische Struktur (vgl. exemplarisch die zahlreichen einschlägigen Belege für σημεῖον und σημαίνειν in den „Epidemien“ des Corpus Hippocraticum). Die Semiotik von Joh 4,46–54 ist dabei ganz vom besonderen christologischen Ansatz des vierten Evangeliums durchdrungen. Es handelt sich um den am stärksten salutogenetisch bestimmten Text unter den neutestamentlichen Fiebertherapien. Joh 4,46b weiß zunächst nur vom Krank-Darniederliegen des Sohnes; in Joh 4,47 ist steigernd in der indirekten Rede das Im-Sterben-Liegen notiert (die Formulierung ist johanneisch: zu Joh 4,47 vgl. 11,51; 12,33; 18,32; vgl. Lk 7,2), was in der direkten Rede des „Königlichen“ in Joh 4,49 wieder aufgenommen ist. Es sind dann die Sklaven, die in direkter Rede die Gesundung des Sohnes (Joh 4,51) mit Hinweis auf das Weichen von Fieber bezeugen (Joh 4,52). – Eine antike Leserschaft kann hierbei an die Konstatierung der Heilung durch Ärzte resp. medizinisch geschulte Sklaven denken. Johanneisch spielt bei der Fernheilung52 die „Stunde“ eine besondere Rolle. Die Rede von der „Stunde“ ist dabei im vierten Evangelium ein mehrdeutiger Begriff. Die „Stunde Jesu“ weist auf etwas Futurisches (vgl. Joh 2,4; 7,30; 8,20), insbesondere auf die Vollendung Jesu (vgl. Joh 12,23; 13,1; 17,1). Zugleich kann sich die „Stunde“ bei Johannes auch in der Gegenwart als erfahrbar und präsent 51 52
Zur Diskussion und zum Gesamttext: NICKLAS, Zeichen, 96 mit Anm. 31. Zum „Weichen“ des Fiebers durch Fernheilung vgl. auch die Fieber-Heilung des Chanina ben Dosa in bBer 34b. In der Parallelstelle pBer V 5 (9d) fehlt die Aussage des Fiebers. Strukturell verwandt sind die direkt im Anschluss im Bavli erzählte Heilung des Sohnes von R. Jochanan ben Zakkai (bBer 34b; in diesem Fall keine Heilung über räumliche Distanz hinweg) sowie die Tradition von der Rettung der Tochter Nechunjas, des Brunnengräbers (als Baraita in bJeb 121b; bBQ 50a). Nach BECKER führt die Bavli-Tradition im Vergleich zum Yerushalmi möglicherweise näher an die ursprüngliche Auseinandersetzung um Chanina ben Dosa als „Beter“ und charismatischen Praktiker heran; die Interpretation als Fernheilung sei sekundär (DERS., Wunder, 355–364; vgl. KOLLMANN, Christen, 142–144, 258).
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erweisen (vgl. Joh 4,23; 5,25 u. a.). Heilkundlich sind dieser „Stunde“ die besonderen „kritischen“ Tage und Zeiten in der hippokratischen Fieberhermeneutik zu vergleichen: Der Arzt muss die „Tage“ und die „Stunde“ zu interpretieren wissen, um den Patienten am Leben zu erhalten und ihm Gesundheit und Heilung zu ermöglichen.
4.3.
Die Heilung des Vaters des „Ersten“ der Insel (Apg 28,7f.)
Apg 28,7f. beinhaltet den letzten Bericht von einer Heiltätigkeit der Zeugen in der Apostelgeschichte; die Episode ist Teil des Abschnitts Apg 28,1–10, welcher in die Schlussphase der in Apg 27 eröffneten Seereiseerzählung gehört. Alle Aufmerksamkeit ruht auf Paulus, der sich unter der Hand von einem Gefangenen in einen souverän agierenden Prominenten verwandelt, der gastfreundlich aufgenommen wird und Zugang zur politischen Elite der Insel erhält. Die Episode erinnert an die Heilung der Schwiegermutter des Petrus zu Beginn des lukanischen Doppelwerkes (Lk 4,38f.); sie ist damit unter die inklusiven Gestaltungselemente zu rechnen, ihr kommt grundlegendes und bleibendes Gewicht zu. Anstelle einer Einzelanalyse und der immer wieder verhandelten Frage, wie die Sequenz der Episoden in Apg 28,1–10 religionsgeschichtlich zu beurteilen ist53, sollen hier nur wenige Beobachtungen zur Deutung des „Fiebers“ des Vaters des Publius stehen. a) Immer schon aufgefallen ist die der Episode eigentümliche Kombination zweier „Heiltechniken“. Nur hier heilt eine Figur bei Lukas durch Gebet und Handauflegung (so auch in ActBarn 15 im Fall des Timon; zur Kombination: vgl. die Heilung Pharaos durch Abraham in 1QGenAp 20,29). Dagegen hat man der Tatsache wenig Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, dass auch das Krankheitsbild des Vaters des Publius eine eigentümliche Synthetik aufweist, nämlich die von Dysenterie (δυσεντέριον) und „Fieber“. „Durchfall“ bzw. „Ruhr“ bietet die hellenistische Form von δυσεντερία (vgl. Ios. ant. Iud. 6,3). Es handelt sich um einen medizinischen terminus.54 In den hippo53
54
WEISSENRIEDER, God, 127–156, interpretiert den episodischen Verbund von Apg 28,1–10 – vermittels ikonographischer Beispiele – über die Koordinaten der Schiffsreise nach Rom, die Apostrophierung des Paulus als „Gott”, die Schlange und die Heilung in Beziehung zum Asklepioskult; allerdings bleibt die Schwierigkeit, dass die Schlange im Text nicht auf der Seite des Heilvorganges steht, sondern Paulus den Biss des Tieres überlebt, um erst in der folgenden Episode selbst zu heilen; ferner leidet Asklepios bei der Überführung nach Rom keinen Schiffbruch. Schon HOBART, Language, 52f., weist die Begrifflichkeit in der medizinischen Literatur vom Corpus Hippocraticum bis Galen nach und deutet auf ‚fiebrige Ruhr‘. Dysenteria und Fieber begegnen vielfach zusammen in antik-medizinischen Quellen (vgl. CH Aer. 10,8; Epid. II 6,26; Judic. 56,3; vgl. auch Epikt. diss. III 22,40 u. a.).
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Elementar feurige Hitze kratischen Schriften wird „Dysenterie“ als Krankheit des Frühlings und Sommers von „Diarrhoe“ als „beißender“, potentiell blutig verlaufender und häufig tödlich endender Krankheit unterschieden. Insbesondere wird sie mit Geschwüren in den Eingeweiden in enger Verbindung gesehen. Hierbei können fiebrige und nichtfiebrige Verläufe unterschieden werden.55 Die ausdrückliche Nennung von Fieber in Apg 28 verdient von hier aus Beachtung.
b) Nun gibt es einen besonderen „Präzedenzfall“ für eine entsprechende Krankheitssynthese, der m. W. eigenartigerweise in der Interpretation von Apg 28 bislang keine Rolle gespielt hat. Nach Sueton stirbt nämlich der römische Kaiser Vespasian an fiebrigem Durchfall (Vesp. 24).56 Kann man damit rechnen, dass Lukas in der Episode von Apg 28,8f. bewusst an den Tod des Cäsar erinnern möchte? Dies scheint nicht unmöglich und nicht ganz unwahrscheinlich.57 In Apg 28 ist es der Vater des „Ersten“ (πρῶτος) der Insel, den Paulus heilt. Umstritten ist, ob dieser πρῶτος τοῦ νήσου eine präzise administrative Position beschreibt (vgl. IG XIV 601: πρῶτος Μελιταίων καὶ πάτρων; CIL X 7495: „municipi Melitensium primus omnium“) oder lediglich allgemein den „Patron“, den „Ersten“ der Insel meint.58 In jedem Fall handelt es sich, so vermittelt es Lukas seiner Leserschaft, um den princeps, dessen Vater von Paulus geheilt wird. Stimmt der zeitliche Rahmen, der nach kritischem Konsens der Forschung für die Entstehung der Apg des Lukas geltend gemacht wird, so liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass Lukas seine Leserschaft mit diesem in Apg 28 erzählten „Vater des princeps“ bewusst an den Vater ihres zeitgenössischen princeps erinnert: Als princeps imperii wäre dann 55
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58
Zum chronischen Verlauf vgl. Aret. I 13; 16; II 7.9f; Alex. Trall. IX 3. Zur „Ruhr“ als „Kriegsseuche“ vgl. WINKLE, Geisseln, 339–421, 1276–1292. Das Fieber wirkt sich nach Sueton schließlich auf die Gedärme des Kaisers aus („alvo repente usque ad defectionem soluta“). Die Tendenz des Sueton ist enkomiastisch: Trotz Fieber schont sich der Kaiser nicht, sondern scheut keine Anstrengung. Die Tendenz kulminiert in dem ultimum verbum, dass ein Kaiser im Stehen sterben müsse („imperatorem ait stantem mori oportere“). Es handelt sich um einen Topos, der auch in hellenistischjüdischen Texten begegnet (vgl. zu Alexander Jannäus: Ios. bell. Iud. 1,103–106; ant. Iud. 13,398). Vgl. HORN, Art. Fieber, 896f. Man müsste dann mit einer weiter verbreiteten mündlichen Tradition rechnen, die aber in Anbetracht des Todes eines Cäsaren nicht jeder Plausibilität entbehrt. Aus chronologischen Gründen kann natürlich nicht von einer Kenntnis der Kaiserviten des Sueton ausgegangen werden; Cass. Dio 66,17,1–4 weiß nur von Fieber und berichtet vom Verdacht der Vergiftung. Bemerkenswert ist das Fehlen entsprechender Notizen bei Tacitus und Josephus. Vgl. die weiteren Belege zum Tod des Vespasian bei LEVICK, Vespasian, 196f., 269f. mit Anm. 2f. Vgl. PERVO, Acts, 675, der auf Castricius Prudens als „Erster der Malteser“ hinweist, d. h. einen Adligen, einen Patron bzw. einen offiziellen Funktionär des Kaiserkultes (Flamen Divi Augusti).
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Domitian im Blick, dessen Vater – Vespasian – an Fieber und Durchfall gestorben ist.59 Ist die Erzählung in Apg 27f. insgesamt durch Philhellenismus gekennzeichnet und rückt das Bild des Paulus in Apg 28 in die Nähe eines göttlichen Arztes, der mit zunehmender Annäherung an Rom todbringendes Fieber zu besiegen vermag (s. o. zum Kult der Dea Febris in Rom) und schließlich zum Wohltäter für die Kranken der ganzen Insel wird (Apg 28,9; zur Formulierung vgl. Lk 5,15), so würde dieses Bild in den Augen der Leserschaft noch beträchtlich gesteigert: Die letzte Heiltat des Paulus gestaltete sich derart, dass er diejenige Krankheit zu überwinden vermag, welcher der Vater des amtierenden Cäsar erlegen ist.
5.
Die Zeit des Krankseins – Schluss und Ausblick
Der Durchgang durch antike Konzepte der Pyretologie führt insgesamt zu dem Ergebnis, dass „Fieber“ zuerst bei den Griechen ins Zentrum einer Konstruktion von „Krankheiten“ trat. Dies geschah auf der Basis der engen Verknüpfung der ionischen Naturphilosophie, die dem Feuer/der Hitze als Weltenelement und Lebenskraft fundamentale Bedeutung zuwies, mit den humoralpathologischen Erkenntnissen der frühen hippokratischen Medizin. Diese enge Osmose von elementarer Weltdeutung und Heilkunde auf der Basis einer Korrespondenz von mikro- und makrokosmischen Vorgängen hält sich sowohl in der klassischen und hellenistisch-römischen Philosophie als auch in der späteren hellenistischrömischen Medizin bei allem Reichtum der verschiedenen Ansätze grundsätzlich durch. Wo man in zeitgenössischen Texten von „Fieber“ liest, ist damit der medizinisch-philosophische Deutungsrahmen explizit oder implizit vorausgesetzt. Dass es sich bei einer solchen Fokussierung auf die animalische „Wärme“ des menschlichen Körpers um keinen selbstverständlichen Vorgang gehandelt hat, zeigen die anders gelagerten Körperkonzepte im antiken Judentum, die nicht in vergleichbarer Weise von einer angeborenen Lebenswärme ausgehen und denen aus einem grundsätzlich extern-funktional ansetzenden Blickwinkel die inneren Kenntnisse der Organalogie der griechischen Medizin (Funktion von Herz, Leber, Galle etc.) fremd sind bzw. die ihre eigene Organologie konstruieren 59
Bei Sueton geht dem Bericht vom Tod des Vespasian die Notiz voraus, dass dieser beim ersten Anfall einer Krankheit damit rechnete: „Wehe, ich glaube, ich werde ein Gott“ („‚vae‘, inquit, ‚puto deus fio‘“; Vesp. 23,4). – Diese Notiz reiht sich unter die Scherze, die der Kaiser in Angesicht von Lebensgefahr zu machen pflegt („ac ne in metu quidem ac periculo mortis extremo abstinuit iocis“). Vgl. hierzu die Apostrophierung des Paulus als Gott in Apg 28,6; allerdings geht es hier nicht um die Erwartung einer Apotheose, und die Äußerung der Inselbewohner ist Ausdruck des Staunens und keineswegs scherzhaft zu verstehen.
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Elementar feurige Hitze
(vgl. die Bedeutung der „Nieren“ oder der „Kehle“ in der antikjüdischen Anthropologie etc.). Zugleich zeigte sich durchgängig, dass sich Konzeptionen menschlicher Wärme/Hitze fundamental von neuzeitlichen Axiomen quantitativer Messbarkeit unterscheiden; der antike Mensch wie der antike Arzt hätten die Resultate, die sich mit einem Fieberthermometer erzielen lassen, im Kern als irrelevant betrachtet. „Wärme“ wird demgegenüber qualitativ gefasst; sie wird individuellsubjektiv, sozial und auch religiös konzeptualisiert. Im Besonderen folgen die frühchristlichen Fieberheilungen in ihrer Krankheitskonzeptualisierung nicht einer bereits in den frühen hippokratischen Texten angelegten Spur, nach der die animalische Wärme des Menschen als solche zum Heilungsprozess beitragen könnte. Es ist darum unangemessen, den neutestamentlichen Texten einen Beitrag zu neuzeitlichen Ansätzen des „Fiebers“ als „Auszeit“ oder heilsame „Pause“ des Körpers abgewinnen zu wollen. Vielmehr gilt „Fieber“ den frühchristlichen Texten als solches als krankhaft, und Heilung wird als Distanzierung des „Fiebers“ vom Körper konstruiert, sei es, dass diese durch Gebet, Handauflegung, Aufrichten oder durch eine wunderbare Fernheilung – stärkste Opposition zum medizinischen Konzept des Arztes, der seinen Patienten persönlich beobachtet und begleitet – erfolgt. Die frühchristlichen Texte ließen sich medizin- und forschungsgeschichtlich darum eher mit der sogenannten antipyretischen Welle in der Medizin des 19. Jahrhunderts verbinden, der Fieber per se als feindlich und schädlich galt bzw. nach deren Grundauffassung zur Auflösung von Krankheit zuerst die Beseitigung des Fiebers anzuzielen war (vgl. die Positionen von RUDOLF VIRCHOW [1821–1902] und CARL VON LIEBERMEISTER [1833–1901; DERS., Antipyretische Heilmethoden, 1880]). – Auf den antipyretischen Ansatz folgte bald die Dekonstruktion des traditionellen Fieberbegriffes, und schließlich verloren die Fieber im 20. Jahrhundert ihre zentrale Stellung in den medizinischen Nosologien und der entsprechenden Fachliteratur. Als wichtiges Ergebnis ist dabei festzuhalten: Die frühchristlichen Fiebertherapien gehören insgesamt nicht in den Zusammenhang einer dämonologischen Pyretologie, deren Bedeutung oftmals pauschalisiert und für das 1. Jahrhundert überschätzt worden ist. Insgesamt weisen die frühchristlichen Fiebertherapien auf Konzepte menschlicher Körperlichkeit, die durch instrumentell-quantifizierende Messungen nicht zu operationalisieren sind; es geht unter den aufgewiesenen salutogenetischen Vorzeichen um eine wärmehafte Bestimmheit, welche von einem Thermometer nicht zu erfassen ist und auch dem Arzt ein weites Spektrum von Interpretationsmöglichkeiten und Verantwortlichkeit zumisst. Fokussiert ist mehr eine „Zeit“ des grundlegenden „Krankseins“ als ein fest umrissenes Bild, welches sich neuzeitlich mit der Rede von „Fieber“ verbindet.
„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par) 1.
Zur Ausblendung von Rekadenz-Phänomenen in Zeugnissen der Wundertätigkeit, Magie und Medizin – Einleitende Erwägungen
Dämonenbannungen und Heilungen werden in der frühchristlichen Erzählliteratur in einer Weise konzeptualisiert, dass grundsätzlich ein Scheitern nicht in Betracht kommt. Die Heilbemühungen der Akteure, an vorderster Stelle die Jesus zugeschriebenen, laufen nicht ins Leere, bleiben nicht unvollständig und münden nicht in einen schlimmen Ausgang. Die Formen der Texte sind hier von der eschatologischen Zeichenhaftigkeit der Praxis Jesu bestimmt; im Blick steht durchgängig der zwingende und evidente Erfolg, nicht der Misserfolg.1 Außerhalb des Gesichtskreises der Texte liegt damit in aller Regel auch die Möglichkeit von „Rückschlägen“ im Gesundheitszustand der Geheilten. Die Erzählungen zielen im Ansatz auf ein „ein für allemal“. Insbesondere liegt ihnen die Vorstellung gänzlich fern, dass es gerade in Folge der Heilbemühungen Jesu oder der seiner Jünger und weiteren Nachfolger zur Verschlechterung der Konstitution der behandelten Menschen kommen könnte.2 Dort, wo in – wenigen – frühchristlichen Texten ein entsprechendes Scheitern oder auch Phänomene eines „Rückschlags“ anklingen, werden diese mit der Praxis von Schülern/Jüngern verknüpft, deren Wissen und Handeln sich noch unvollkommen gestaltet (vgl. Mk 9,14–29), in der Regel aber auf die Praxis der *
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Ursprünglich erschienen in: J. KAMLAH/R. SCHÄFER/M. WITTE (Hg.), Zauber und Magie im antiken Palästina und in seiner Umwelt. Kolloquium des Deutschen Vereins zur Erforschung Palästinas vom 14. bis 16. November 2014 in Mainz (ADPV 46), Wiesbaden 2017, 469–506. Vgl. zur salutogenetischen Ausrichtung frühchristlicher Heilungserzählungen V. BENDEMANN, Heilungen, 299–305 (siehe in diesem Band 110–118). Mk 8,22–26 thematisiert einen zweiphasigen Heilverlauf, nicht ein Scheitern oder einen „Rückfall“. In Mk 9,14–29 par scheitert der Exorzismusversuch der Jünger, ein „Rückfall“ ist nicht Gegenstand der Erzählung, vor allem aber bezwingt Jesus den Dämon. Auch Erzählungen von der Wundertätigkeit im nachösterlichen ältesten Christentum visieren verschiedentlich das drohende Scheitern von Exorzismen an, ohne „Rückfall“-Phänomene zu berichten. ActThom 46 setzt Lk 11,24–26 par (dazu u. Pkt. 2.) voraus; hier droht ein Dämon damit, die befreite Frau neuerlich zu besetzen, nachdem der Exorzist fortgegangen ist. Vgl. zu Eus. hist. eccl. V 19,3, wo davon berichtet wird, dass Sotas einen Dämon der Priskilla austreiben wollte, andere, die als „Heuchler“ bezeichnet werden, dies jedoch nicht zugelassen hätten, sowie zu weiteren altkirchlichen Beispielen LEUTZSCH, Prophetinnen, 67–69; zum Exorzismus in den apokryphen Apostelakten: BREMMER, Magic, 58–62.
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„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par)
anderen bezogen. Eben darin wird das „Wunderbare“ und das Proprium der eigenen Praxis erkannt, behauptet und entsprechend inszeniert, dass sie im Unterschied zum Wirken „der anderen“ effektiv und erfolgreich ist.3 Rückfälle werden „den anderen“ zugeschrieben und definieren somit Gruppengrenzen. Dieses programmatische Ausblenden von vergeblichen Praktiken, Verschlechterungen des Zustands von geheilten Menschen bzw. von „Rückschlägen“4 verbindet die frühchristlichen Texte – grob und schematisch betrachtet – im Ansatz nicht nur mit den Erzählungen der Praxis weiterer antiker Wundertäter5, sondern vielmehr auch mit den vielfältigen Zeugnissen, die in der Forschung der antiken und spätantiken „Magie“ zugeschrieben werden. Auch Zeugnisse „magischer“ Praxis sind, soweit sie sich eigenständig klassifizieren lassen, in der Fülle ihrer Formen grundsätzlich auf die Inszenierung der Effizienz und die Mächtigkeit des jeweiligen Praktikers ausgerichtet. „Magie“, wie immer man sie definiert, geht vom Postulat der Wirksamkeit und Mächtigkeit aus. Auch in „magischen“ Rezeptbüchern, Formularen bzw. entsprechend gefassten Praktiken werden ein drohendes Versagen oder die Möglichkeit von „rebound“-Effekten in der Regel abschattiert. Dort, wo sich in literarischen Zeugnissen „magisches“ Handeln grundlegend auf die Beseitigung körperlicher Störungen richtet, wo es also als heilendes Handeln aufgefasst werden kann, wird grundsätzlich die gewisse Wirksamkeit der Maßnahmen vorausgesetzt und mögliches Scheitern oder drohende Kontraeffekte sind nicht fokussiert. Gegebenenfalls sind Praktiken oder Materien von vornherein vorgesehen, die dem Kontraeffekt „einen Riegel vorschieben“, wie dies z. B. für die im Zusammenhang von Exorzismen bisweilen begegnende Epi3
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Apg 19,13–16 berichtet mit parodierenden Zügen vom scheiternden Exorzismus jüdischer Beschwörer, nämlich der sieben Skeuas-Söhne; der „böse Geist“ (Apg 19,16) wendet sich hier nicht gegen den besessenen Menschen, sondern gegen die Exorzisten, die „nackt“ und „verwundet“ fliehen müssen (Apg 19,16). Der Vorfall steht bei Lukas in enger Nachbarschaft zu Phänomenen magischer Praxis (vgl. Apg 19,18–19). Die Frage, inwieweit der Befund die „historischen“ Verhältnisse abbildet, ist hier nicht zu diskutieren; das Problem, ob z. B. Sehstörungen bei geheilten Blinden (vgl. unter anderem Mk 8,22–26) gegebenenfalls zurückgekehrt sind, nachdem der Heiltäter weiterzog, liegt eben gänzlich außerhalb des Fokus der Texte und man kann hier nur spekulieren. Sehr wahrscheinlich ist, dass mindestens für eine Mehrzahl der Insider, d. h. für die frühen Christen selbst, dieses Bild in den Evangelienerzählungen vertrauenswürdig gewesen sein muss. Dass es gleichwohl im ältesten Christentum Erfahrungen mit Leiden gab, die nicht ein für alle Mal auszuräumen waren, zeigen dagegen z. B. schon die Texte, die man der sogenannten „Krankheit“ des Paulus zuschreibt (hierzu mit weiterer Forschungsliteratur V. BENDEMANN, Körperkonzeptionen, 186–191 [siehe in diesem Band 348–352]). Dies ist hier im Einzelnen nicht vorzuführen (vgl. pars pro toto den Überblick bei KOLLMANN, Christen, 61–173). In der älteren Forschungshypothese, dass „wunderhafte“ Erzählungen grundsätzlich eine Affinität zu „Mission“ und „Propaganda“ besitzen, ist etwas Richtiges gesehen. Zugleich bietet auch die affirmative Ausrichtung entsprechender Einzelerzählungen und Werke „nach innen“ eine Motivation dafür, die unbestreitbare Mächtigkeit, Effektivität und Evidenz „wunderbarer“ Taten in den Vordergrund zu stellen.
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pompe gilt: Indem ein schädlicher Geist an anderem Ort gebannt wird, wird er von der zu schützenden Person ferngehalten. Böse Kräfte werden bezwungen oder an anderen Orten gebunden. Phylakterien, Amulette bzw. Gemmen erfüllen gegebenenfalls prophylaktische bzw. apotropäische Funktionen.6 Anders verhält es sich auch in literarischen Zeugnissen bezüglich „magischer“ Praxis an Stellen, wo es um die Überzeugungen und Handlungen der anderen geht. Dies gilt bekanntlich insbesondere dort, wo das „Magie“-Label bereits in früher Zeit zur Diskriminierung der heilenden Praxis der anderen als illegitim, insuffizient oder kontraeffektiv herangezogen wird. Dagegen stehen die Gewissheit und Überzeugung von der Legitimität und Erfolgsträchtigkeit der eigenen Praxis. Nicht nur in Hinblick auf antike Zeugnisse für „wunderbare“ Heilung und „magische“ Praktiken lassen sich vergleichbare Beobachtungen anstellen. Vielmehr gilt bei stark verallgemeinernder Betrachtung Vergleichbares auch für einen dritten Bereich, der es mit dem Grundwunsch von Menschen nach Gesundheit, Wohlergehen, Heilung und „Heil“ zu tun hat, nämlich für die Medizin.7 Geht man von der griechisch-römischen Medizin aus, die ihre Wurzeln in der frühen hippokratischen Medizin hat, so fällt auf: Auch hier sind „Fehlschläge“ der Therapie und „Rückfälle“ der Kranken zunächst kein Thema, das systematisch behandelt würde. In den frühen deontologischen Texten des Corpus Hippocraticum (im Folgenden mit CH abgekürzt) ist ein weitgehendes vacat im Blick auf
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Pars pro toto sei hier auf die iatromagischen Formulare bzw. Praktiken in den Papyri Graecae Magicae verwiesen: Vgl. die Übersicht bei BRASHEAR, Papyri, 3499–3500. Die Rede von „Bereichen“ ist hier idealtypisch gemeint. Faktisch überlappen die verschiedenen Felder, gehen ineinander über und lassen sich – je nach disziplinärem Zugang – ganz unterschiedlich beschreiben und bestimmen, wie es in den in der Forschung oft genannten Hilfssyntagmen („magisch-medizinisch“; „volkstümlich-medizinisch“; „religiösmedizinisch“; „religiös-magisch“ etc.) zum Ausdruck kommt. Von drei zunächst geschiedenen Bereichen geht an prominenter Stelle im Proömium zum 30. Buch seiner „Naturalis Historia“ Plinius der Ältere aus (XXX 1–2). Er versteht hier die „Magie“ als eine Synthese dreier artes, nämlich der Arzneikunde (medicina) – aus der die „Magie“ uranfänglich geboren sei –, der Kräfte der religio sowie der Astrologie (artes mathematicae). Damit ist jedoch nicht eine neutrale Beschreibung intendiert, sondern vielmehr eine Abwertung der „Magie“ als „betrügerischste aller Künste“ (fraudulentissima artium). Zu antik-römischen Magiekonzepten vgl. DICKIE, Magic, 124–141; 202–250 zum Bild der römischen Provinzen bis zur Zeit Konstantins. In der Rede von der Arzneikunst kann man bei Plinius dem Älteren die Leitperspektive einer geschulten und literarisch-wissenschaftlich gewordenen hellenistischen Medizin erkennen, die allerdings – so reflektiert es sein Werk an vielen Stellen – als griechische Importgröße in Rom zunächst keinen leichten und unverdächtigen Standort fand. Zur Medizin- und Arztkritik Plinius’ des Älteren vgl. KUDLIEN, Ethics, 98–100; KOELBING, Arzt, 178–184. Zur Frage nach religiösen oder auch „magischen“ Interpretamenten und Bezugspunkten in antik-medizinischen Texten vgl. klassisch EDELSTEIN, Medicine, 205–246.
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die Thematik insbesondere des „Rückfalls“ zu verzeichnen.8 Das Fehlen liegt im Kern darin begründet, dass die hippokratischen Texte die Reputation des Arztes und seines Standes im Blick behalten. Fälle, in denen der Arzt die Physis des Kranken nicht oder nur unter dem Risiko baldiger und augenfälliger „Rückschläge“ beeinflussen kann, sind darum aus dem Radius der Zuständigkeiten auszuschließen.9 Wo der Arzt in seiner Diagnose und Prognose den unabwendbar ungünstigen Verlauf erkennt, endet seine Zuständigkeit. 10 Er wird darum auch den als bereits „rückfällig“ eingestuften Kranken meiden. In der Orientierung an der Reputation des „Heilers“ und seiner Fähigkeit, Krankheiten bzw. die Effizienz der von ihm eingesetzten Maßnahmen und Mittel zu kontrollieren, kann damit zunächst ein verbindender Grundzug antiker „wunderhafter“, „magischer“ und auch „medizinischer“ Zeugnisse erkannt werden. Allerdings gilt dieser Befund, wie wir im Folgenden sehen werden, nur mit Einschränkungen und im Bereich der hippokratischen Medizin speziell für die deontologische Literatur. Gerade in der Frage des Umgangs mit „Rückfällen“ lässt sich eine deutliche Unterscheidungslinie der „wissenschaftlichen“ griechischen und römischen Medizin gegenüber „wunderhaften“ und „magischen“ Texten und ihrer religiösen Konzeptualisierung von Gesundheit, Heilung und Krankheit herausarbeiten. In antiken Zeugnissen, die sich den Feldern der „Wundertätigkeit“, „Magie“ und „Medizin“ zuschreiben lassen, müssen jedenfalls diejenigen Fälle als besonders spannend gelten, in denen nicht die erfolgreiche Kontrolle eines Leidens angesprochen, präskribiert oder erzählt ist, sondern tatsächlich in irgendeiner Weise die Fehlbemühung bzw. Erfahrungen von Rekadenzen thematisiert werden. Entsprechende Texte und Zeugnisse können als Prüfsteine gelten, insofern sich mit ihnen die Frage nach den tatsächlichen Erfahrungen der Heiltäter und der betroffenen „Patienten“ stellt, die in Spannung zu den Versprechungen der jeweiligen „wunderhaften“, „magischen“ wie auch „medizinischen“ Kunst tre8
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In LEVEN, Medizin, findet sich entsprechend kein Eintrag zum Thema „Rückfall“ oder einem vergleichbaren Stichwort. Zu vergleichen ist die Feststellung im hippokratischen Traktat „Prognostikon“, nach der derjenige als bester Arzt gilt, der die richtige Prognose über den Verlauf einer Krankheit zu geben vermag, hierbei aber für eine Behandlung nur die in Betracht ziehen wird, die zu retten sind (vgl. CH Progn. I; XXV; vgl. hierzu Plat. polit. 405d–406e). Dies betrifft in der frühen hippokratischen Medizin grundsätzlich die chronischen Erkrankungen, bei denen die erhöhte Gefahr ausbleibender „sanitas“ besteht und sich Fragen des Lebens mit einer Krankheit stellen. Nach Caelius Aurelianus (s. u. Pkt. 4.) haben sich den chronischen Krankheiten erstmals Themison und auch Thessalos zugewandt; Caelius Aurelianus ist der erste Mediziner, dem wir eine wirklich umfassende Darstellung der tardae passiones verdanken (Cael. Aur. chron. I 3: „[...] alii vero has omnino tacuerunt tamquam impossibiles iudicantes vel incurabilium passionum, alii aliptarum officio transmittendas crediderunt [...]“. Caelius Aurelianus verweist hier noch auf verstreute Hinweise bei Erasistratos und Asklepiades).
„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par)
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ten können. Wenn wir unten den Fall eines frühchristlichen Textes, nämlich Lk 11,24–26, analysieren, so zeigt sich zudem: Entsprechende Texte lassen sich gegebenenfalls nicht einfach dem „Versagen“ der anderen zuordnen; in der Rede von „den anderen“ bzw. in allgemeinen Erfahrungssätzen können sich vielmehr auch die Erfahrungen mit „Rückschlägen“ in der eigenen Praxis brechen. Mit der Frage der Konzeptualisierung von „Rückschlägen“ der eigenen, auf Wohlergehen gerichteten Praxis ist ein überaus vielschichtiges und komplexes Problemfeld angesprochen; die Probleme beginnen damit, was eigentlich innerhalb einer bestimmten Zeit und Kultur als „Krankheit“ zu verstehen ist (in der ein „Rückfall“ gegebenenfalls stattfindet). Im Folgenden ist darum eine Begrenzung erforderlich: Wir interessieren uns für die frühchristliche Praxis, soweit sie sich in der ältesten Jesustradition bricht. Wir gehen hierfür von einem einzigen Spruchkomplex aus, der einen Sonderfall in der synoptischen Tradition darstellt: dem Logion „von der Rückkehr des unreinen Geistes“ in Lk 11,24–26 par. Dieses soll in einem weiteren traditionsgeschichtlichen Rahmen profiliert werden. Das Hauptaugenmerk bei der Auswahl dieses Rahmens liegt dabei auf der Schnittstelle zwischen „wunderhafter“ respektive „magischer“ Praxis und „wissenschaftlicher“ Heilkunst. Die Frage lautet folglich: Wie gestaltet sich die Konzeptualisierung von Rekadenz-Phänomenen unter den Bedingungen einer dämonologisch konturierten Weltsicht? Und wie sind Veränderungen zu beschreiben, die sich aus dem „wissenschaftlichen“ Horizont der griechisch-römischen Heilkunst ergeben? Die These lautet: Erst der distanzierte „wissenschaftliche“ medizinische Ansatz erlaubt es, das Versagen nicht allein „der anderen“, sondern vielmehr auch der eigenen Praxis in ein Interpretationsmodell zu integrieren, welches nicht per se von einem Verlust der Kontrolle ausgeht. Erst damit wird schließlich auch eine sukzessive Optimierung von heilendem Handeln möglich, die nicht lediglich von fehlerhafter Praxis innerhalb eines grundsätzlich invarianten Handlungsrepertoires bzw. der verfehlten Wahl innerhalb determinierter Handlungsalternativen ausgeht. Der exemplarische Vergleich mit medizinischen Texten soll die unterschiedlichen Konzepte beleuchten. Zugleich werden in diesen verschiedenen Konzepten vergleichbare Erfahrungen und Wissenselemente identifizierbar, die am Ende nach einer möglichen „Mehrsprachigkeit“ auf Seiten der Rezipienten der frühchristlichen Texte fragen lassen.
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Die dämonologische Konstruktion eines „Rückfalls“ in Lk 11, 24–26 par
Lk 11,14ff. bietet einen der Textzusammenhänge innerhalb der synoptischen Tradition, die forschungsgeschichtlich für die religionsgeschichtliche Einordnung der Praxis Jesu immer schon besonders wichtig und umstritten gewesen sind. Nach allgemeiner Überzeugung legitimiert, expliziert und verteidigt Jesus hier seine eigene Praxis in fundamentaler Weise. An Lk 11,14ff. müssen sich darum seit langem Versuche messen lassen, die hier angesprochene dämonenbannende Praxis Jesu gegebenenfalls nicht nur als „wundertätig“, sondern auch als „magisch“ zu qualifizieren; und damit stellt sich hier das beschreibungssprachliche Problem in verdichtetem und potenziertem Ausmaß. Dieses Problem soll im Folgenden jedoch nicht im Zentrum stehen. Es hängt vom zugrunde liegenden „Magie“-Begriff, der gewählten disziplinären Perspektive und den herangezogenen traditions- bzw. religionsgeschichtlichen Vergleichsmaterialien und ihrer zeitlichen bzw. lokalen Einordnung ab, ob man die in Lk 11,14ff. diskursiv verhandelte Praxis als „magisch“ qualifizieren wird. Grundsätzlich sind ältere Ängste und Aversionen gegenüber dem „Magie“-Begriff in der neutestamentlichen Wissenschaft rückläufig. Man kann eine generelle Entessentialisierung („Entmythologisierung“) des Begriffes in der Forschung feststellen. Zugleich muss es jedoch immer um die konkret untersuchten Texte bzw. Zeugnisse gehen, denen vorgefasste Modelle nicht oktroyiert werden dürfen. Jede Fragestellung erlaubt dann auch noch einmal einen veränderten Blickwinkel auf Grenzziehungen im Begrifflichen wie im Materialen bzw. auf gegebenenfalls beschreibbare Korrelationen und Übergänge.11 11
Die entsprechenden Beschreibungsbegriffe sind immer schon Teil von Diskursen. „Religion“ und „Magie“ gibt es nur insofern, als bestimmte Erfahrungen, bestimmtes Denken oder Handeln in bestimmten historischen und sozialen Kontexten als „religiös“ bzw. „magisch“ qualifiziert werden. Man hat es also immer schon mit Begriffen und Konzeptualisierungen als Teil von Kommunikationsprozessen zu tun. Auch wenn innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen etwas als „magische Praxis“ bezeichnet wird, ist dies Teil von Kommunikationsvorgängen. Zum Verhältnis von „Religion” und „Magie“ vgl. PHILLIPS, Sociology, 2711–2732. Für den Bereich des antiken Judentums: HARARI, Text, 91–115. Die interdisziplinäre Erforschung des „Magie“-Begriffs sowie „magischer“ Zeugnisse und Konzepte ist weiterhin im Fluss; einen festen religionshistorischen Vermessungspunkt gibt es gegenwärtig nicht. Teils wird weiterhin dafür optiert, den belasteten (zum Hintergrund: LOTZ, Magiekonflikt) Magie-Begriff als Beschreibungsterminus aufzugeben (vgl. hierzu z. B. SEGAL, Magic, 351); teils finden sich neue Definitionen. Insgesamt kann man feststellen, dass das Verhältnis der Termini „Magie“ und „Religion“ heute positiver bzw. neutraler/funktionaler bestimmt wird. Die Positionen changieren dabei je nach fachlicher Perspektive und individuellem Forschungszugang weiterhin beträchtlich. Vgl. in Auswahl BREMMER/VEENSTRA (Hg.), Metamorphosis. Zum frühen Christentum: LABAHN/ PEERBOLTE (Hg.), Magic; FRENSCHKOWSKI, Art. Magie, 857–957. Zur antik-jüdischen Magie:
„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par)
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In der folgenden kurzen Analyse von Lk 11,24–26 par geht es zudem nicht um die Frage nach der religionshistorischen Einordnung der Praxis des „historischen Jesus“. Vielmehr liegt der Fokus auf dem Endtext der Evangelien und seiner Rezeption. Hierbei beschränken wir die ausgewählten Beobachtungen auf die Fassung des Textes im Lukasevangelium 12: Wenn der unreine Geist“ aus dem Menschen ausfährt, so zieht er durch wasserlose Orte, sucht nach einer Ruhestätte, findet (sie) jedoch nicht. [Dann] spricht er: „Ich will in mein Haus zurückkehren, aus dem ich ausgezogen bin“. Und er kommt und findet es gefegt und geschmückt. Dann geht er und holt sieben andere Geister herbei, die noch schädlicher sind als er selbst. Und sie gehen hinein und beziehen dort Wohnung. Und das Ende jenes Menschen wird schlimmer als sein Ausgangszustand.
a) Lk 11,24–26 will in der gegebenen erzählerischen Anordnung innerhalb der dramatischen Szene Lk 11,14ff. gelesen werden. Ausgangspunkt und Auslöser der hier berichteten Kontroverse ist eine kurze erzählerische Notiz über einen Exorzismus Jesu.13 An diesen schließt der Vorwurf an (Lk 11,15 par),
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BOHAK, Magic; VELTRI, Magie; SCHMITT, Magie; SCHÄFER, Magic, 19–43. Zu medizin-historischen Bezügen: FIEDERMUTZ-LAUN u. a. (Hg.), Akzeptanz; HORSTMANSHOFF/STOL (Hg.), Magic. Zu „magischen“ Implikationen der Praxis Jesu (in Auswahl): SMITH, Jesus; KOLLMANN, Magic, 3057–3085 (3057–3061 zur Forschungsgeschichte); DERS., Wunder, 124–139. Vgl. den Überblick möglicher Spuren von Magischem in frühchristlichen Texten bei BUSCH, Magie, 97–103. Der in Konzepten des „Magischen“ vielfach betonte „technische“ Charakter findet in der ältesten Jesustradition nur bedingt ein Widerlager, bzw. die reklamierten Techniken unterscheiden sich deutlich. Es begegnen hier weder ausführliche Inkantationen noch Amulette, Figuren, „Charaktere“, komplexe Rezepte, Anweisungen für ritualsymbolische Praktiken, Opfer und Körperhaltungen zu bestimmten Tageszeiten; Jesus rekurriert nicht auf den Zodiak; die älteste Jesustradition kennt keine Fesselung zu Liebeszwecken oder Praktiken zur Initiierung von Zwietracht, ferner keine Traum- oder Orakelsendemittel. Vgl. zu möglichen „Überlappungen“, die vom zugrunde liegenden Magie-Begriff abhängen AUNE, Magic, 385–401, der zwar von der Nutzung verschiedener „magical techniques“ durch Jesus ausgeht, diesen „[s]ociologically“ aber nicht als „Magier“ verstanden wissen möchte. Die jüngere Forschungsliteratur zum Problemkreis der Exorzismen – das zentrale Verbindungselement zu Zeugnissen, die der „Magie“ zugerechnet werden – findet sich erschlossen bei: TWELFTREE, Exorcism, 205–230; TWELFTREES Ansatz ist dabei pragmatisch orientiert, wenn er von „magical exorcisms“ spricht, insofern solche in den (freilich erst in der Forschung sekundär so bezeichneten) „magischen Papyri“ zu finden sind (a. a. O., 207). Vgl. DERS., Name; DERS., Jesus, 57–86. Der Text ist im Kernbestand als ein stabil überlieferter Q-Stoff zu qualifizieren. Vgl. ROBINSON u. a. (Hg.), Edition, 238–243; FLEDDERMANN, Reconstruction, 488–489. Zur im Folgenden vorrangig beachteten Lukas-Fassung: BOCK, Luke, Teilbd. 2, 1091–1092; GREEN, Gospel, 458–459; WOLTER, Lukasevangelium, 414–422 (zu Lk 11,14–28). In der Lukas-Fassung (Lk 11,14) handelt es sich um einen tauben/stummen Dämon (zum Problem des surdus/mutus: V. BENDEMANN, Auditus, 55–69 [siehe in diesem Band 219–237]). Seine Ausfahrt wird im Genitivus absolutus vermeldet: der Taube/Stumme vermag wieder zu sprechen. Dass hier Dämon und daemoniacus austauschbar erscheinen, gibt die zentrale Weichenstellung für die Konzeptualisierung des Leidens vor, die im Folgenden bestimmend bleibt. Der Bericht endet stilgerecht mit dem Staunen der Menschenmengen (καὶ ἐθαύμασαν οἱ ὂχλοι). In der Matthäusfassung (Mt 12,22) wird ein „blinder“ und „stum-
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„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par) dass Jesus den ἄρχων der Dämonen nutzt, um die Dämonen auszutreiben (ἐν Βεελζεβοὺλ τῷ ἄρχοντι τῶν δαιμονίων ἐκβάλλει τὰ δαιμόνια)14. Jesus werden illegitime Mittel und zusammen mit ihnen eine illegitime Zielsetzung seiner Praxis unterstellt; er rückt so zugleich in das Licht eines Verbündeten bzw. eines Instrumentes einer feindlichen Macht. Zusammen mit einer Reihe von Argumenten gehört die Erzählung Lk 11,24–26 par in die Widerlegung dieses religious offense hinein. In Lk 11,19–20 par wird aus dem vorausgehenden εἰ δέ, das den Gegnern in einem Schlussverfahren ihre verfehlten Prämissen vor Augen führt, ein zweimaliges εἰ δὲ (ἐγὼ) ἐν. D. h., hier kommt Jesus nach dem allgemeinen argumentum de homine auf seine eigene Praxis und ihre Legitimation zu sprechen. Im ersten Schritt werden dabei die von den Gegnern auf Jesus gerichteten rhetorischen Waffen gegen diese selbst umgelenkt (Lk 11,19 par): Vorausgesetzt ist, dass auch ihre Leute Exorzismen betreiben (vgl. Mk 9,38–41). D. h., die Erzählung Lk 11,24–26 par steht in einem Zusammenhang, in dem von anderen „Heilern“ die Rede ist. Es geht damit mindestens indirekt auch um Fragen der Demarkation. Allerdings liegt der Schwerpunkt zunächst (Lk 11,19) auf der verbindenden Grundlage. Lk 11,20 par etabliert dann die zentrale These, dass Jesus die Dämonen nicht „durch/mit Hilfe von Beelzebul“ (ἐν Βεελζεβούλ), sondern vielmehr mit dem „Finger Gottes“ (ἐν δακτύλῳ θεοῦ)15austreibt. In seiner Praxis, so lautet die These, kann sich folglich nicht die Herrschaft des Obersten der Dämonen manifestieren, sondern vielmehr allein die Gottes. Das Machtgefälle, das Jesus in seiner Praxis souverän zu nutzen vermag, wird durch das Bildwort in V. 21–22 weiter veranschaulicht und vertieft, wobei der Zielpunkt darin zu erkennen ist, dass die Unterwerfung des „Starken“ durch den „Stärkeren“ seine endgültige Depotenzierung bedeutet. Lk 11,23 par eröffnet dann eine grundlegende Alternative des Mitseins oder Gegen-JesusSeins, der Sammlung oder der Zerstreuung.
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mer“ Besessener zu Jesus gebracht; hier ist nicht vom Ausgang des Dämons die Rede, sondern davon, dass Jesus ihn „behandelt“/„heilt“, wobei der Heilerfolg der Kombination des Leidens entspricht (καὶ ἐθεράπευσεν αὐτόν, ὥστε τὸν κωφὸν λαλεῖν καὶ βλέπειν). Abschließend wird hervorgehoben, dass es „sämtliche“ Menschenmengen sind, die „sich entsetzen“ (Mt 12,23a: καὶ ἐξίσταντο πάντες οἱ ὄχλοι). Matthäus verknüpft dies – mit hoher Wahrscheinlichkeit redaktionell – mit der Frage nach der Davidsohnschaft Jesu und zentriert die folgende Auseinandersetzung auf die Pharisäer (Mt 12,23b). Bei Lukas überkreuzt sich – möglicherweise anders als in Q, dagegen Mk 8,11 folgend – der Beelzebul-Vorwurf mit der Zeichenforderung an Jesus. Die Antwort hierauf ergeht in der lukanischen Komposition erst am Schluss in Lk 11,29. Die Lukasfassung erinnert intertextuell an Ex 8,15; vgl. 31,18; Dtn 9,10; Ps 8,4. Zu dem für Nichtjuden kaum verständlichen Syntagma: VAN DER HORST, Finger, 89–103. Der erste Evangelist liest stattdessen „mit dem Geist Gottes“ (Mt 12,28), was wohl doch nicht ursprünglich sein dürfte (zur Diskussion: WOLTER, Lukasevangelium, 418–419).
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Auf die Frage, als wie bestimmend dieses bereits in der Spruchquelle Q vorausgehende Logion für das Folgende zu gelten hat, ist unten zurückzukommen. b) In Lk 11,24–26 par handelt es sich um eine kurze Erzählung.16 Diese lässt sich in Einleitung (V. 24a par), Exposition (V. 24b par), Zentrum (V. 24c–26a par) und Finale (V. 26c par) untergliedern. Die ätiologische Frage, warum der Geist überhaupt in den betroffenen Menschen eingefahren ist, bleibt wie auch sonst generell in frühchristlichexorzistischen Texten unbeantwortet. Die Geschichte beginnt vielmehr mit dem „Herausgehen“ des Geistes. Dieser Ausdruck kann auch sonst einen Exorzismus anzeigen (vgl. Lk 4,35; 8,2: auch hier die Siebenzahl, allerdings nicht „unreiner Geister“, sondern ausdrücklich „Dämonen“). Durch den Kontext von Lk 11,14ff. par ergibt sich, dass Leserinnen und Leser jedenfalls an den Auszug in Folge eines Exorzismus denken werden. Zahlreiche Verben der Bewegung inszenieren die Dynamik: Der Hauptcharakter, der unreine Geist, erscheint in gesteigerter Weise als mobil (V. 24ac: ἐξέρχεσθαι; V. 24b: διέρχεσθαι; V. 25: ἔρχεσθαι; V. 26a: πορεύεσθαι; V. 26b: εἰσέρχεσθαι). Die Bewegung des „unreinen Geistes“ wird durch die Spannung eines Suchens (V. 24b.25) und Nicht-Findens (V. 24b) motiviert. Das Nicht-Finden von ἀνάπαυσις („Ruhe“) markiert das Disäquilibrium. Die erzählerisch inszenierte Unruhe kommt in V. 26b mit der Wohnungnahme (κατοικεῖ) des Geistes in seinem ursprünglichen Zuhause zur Ruhe; hier findet der Spannungsbogen seinen vorläufigen Abschluss. Den Wendepunkt im narrativen Spannungsbogen markiert der Monolog des Dämons in V. 24c: Es ist der „unreine Geist“ selbst, der hier die „Lösung“ konzipiert und antizipiert: „Ich will/werde wieder in mein Haus zurückkehren, aus dem ich ausgezogen bin“ (ὑποστρέψω εἰς τὸν οἶκόν μου ὅθεν ἐξῆλθον). Die narratio versetzt hier die Hörerschaft, und mit ihr die Leserschaft, gewissermaßen in den Kopf des personal konzeptualisierten Krankheitsgeistes. 16
Vom ersten Evangelisten wird das aus Q stammende Stück im Anschluss an die Zeichenforderung Lk 11,29–32 par positioniert. Entsprechend Mt 12,39 („böses Geschlecht“); 12,42 („dieses Geschlecht“) wird die narrative Tradition ausdrücklich zum Gleichnis (Unterschrift/Epimythion in Mt 12,45c) für Israel, sofern es sich Jesus widersetzt. Vgl. so schon JÜLICHER, Gleichnisreden, Bd. 2, 237, 239. Bei Lukas trägt der „Fall“ zwar ebenso bildhafte Züge, ist aber, gemessen an der Erzähltechnik der sonstigen Gleichniserzählungen im dritten Evangelium, trotz einiger verbindender Aspekte (vgl. den inneren Monolog) kaum als „Gleichnis“ zu bestimmen. KOLLMANN (Christen, 199–200) stellt Lk 11,24–26 par als Exorzismusregel den Wunderinstruktionen Jesu an die Jünger (Aussendungsrede u. a.) an die Seite. Die Schwierigkeit dieser Kategorisierung besteht darin, dass sich das Stück weder bei Lukas noch bei Matthäus an die Jünger richtet.
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„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par) V. 26ab setzt den Plan des Dämons in Handlung um. Dabei kommt als überraschendes Moment hinzu, dass der „unreine Geist“ sieben „andere Geister, die schlimmer sind, als er selbst“, mit sich nimmt. Die Handlungsstruktur gewinnt komisch-tragische Züge, insofern die „gute Lösung“ für den Geist den katastrophalen Ausgang für den betroffenen Menschen zur Kehrseite hat. In V. 26c bilanziert der Erzähler, indem er den Endzustand mit dem Anfangszustand vergleicht – mit resignativem Resultat (καὶ γίνεται τὰ ἔσχατα τοῦ ἀνθρώπου ἐκείνου χείρονα τῶν πρώτων).
c) Der „Rückfall“ erscheint innerhalb des Erzählzusammenhanges Lk 11,14ff. par somit dämonologisch konzeptualisiert. Er ist in ein Narrativ gefasst, welches mit der realen Möglichkeit von schädlichen Geistern rechnet, die von einem Menschen Besitz ergreifen und diesen in einen „anormalen“ Zustand versetzen können. Heilung scheint nur dann möglich, wenn entsprechende Wesen vom menschlichen Körper separiert und nachhaltig ferngehalten werden können.17 Dem Narrativ sind im Einzelnen folgende Elemente zuzuschreiben: Der menschliche Körper wird metaphorisch als „Behausung“/„Behälter“ aufgefasst, d. h., es liegt eine ontologische Metapher vor.18 Im Kontext von Lk 11,14ff. interagiert diese Metaphorik mit dem vorausgehenden – ebenfalls räumlichen – Bild eines Palastes (Lk 11,21–22). Weiter wird vorausgesetzt, dass sich der den menschlichen Körper besetzende „Geist“ auch außerhalb seiner frei
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Die Frage nach den traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen und dem Alter eines entsprechenden Konzeptes kann und muss hier nicht diskutiert werden. Es ist jedoch einige Vorsicht im Blick auf die These angezeigt, dieses Modell sei im antiken Judentum zur Zeit Jesu „Allgemeingut“ gewesen. Die Belege für das Bannen von Dämonen im antiken Judentum vor und neben dem Neuen Testament sind nicht eben zahlreich. Vgl. 1QGen Apocr XIX 10 – XX 34; zum Dämonismus in Qumran: KOLLMANN, Christen, 131–137 (zu „Magischem“ in Qumran: MARTINEZ, Magic, 13–33); vgl. den berühmten Fall in Ios. ant. Iud. 8,46–48. Es ist angesichts der relativ begrenzten Evidenz nicht unproblematisch, in Lk 11,24–26 par von „Allgemeingut des jüdischen und des griechischen Volkes jener Zeit“ (BOVON, Evangelium, Teilbd. 2, 179) oder einfach von „common views“ (GREEN, Gospel, 459) zu sprechen, die sich als Extrakt aus einem „text book on demonology“ begreifen ließen (EVANS, Luke, 494). Zu den „ontologischen Metaphern“, zu denen auch Metonymien bzw. Personifikationen gehören: LAKOFF/JOHNSON, Leben, 35–39. Vgl. zur Metaphorik der „Behausung” Ios. ant. Iud 8,45.47; TestXII 8,6; 2 Kor 5,1f.; Philo somn. I 122; praem. 120; 1QH XV 4.9; Par Jer 6,3; Zur Metaphorik des Hauses in ihrer anthropologischen Bedeutung: EICKHOFF, Haus, 221–230; a. a. O., 230: „Wer im Sozialen über keine Räume verfügt, beschreitet den Weg ins Innen mit der Hoffnung, Orte einer sozialen Geographie in sich zu finden, die die Rätsel bewahren und Geborgenheit bieten [...]“.
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zu wählenden „Behausung“ aufhalten kann. Der Dämon ist nicht ortsgebunden, er ist mobil, und seine „Rückkehr“ ist folglich zu fürchten.19 Der „Geist“ wird sodann vom Erzähler in Lk 11,24 par zusätzlich als „unrein“ qualifiziert.20 Schließlich steht dieser „Geist“ nicht für sich allein, sondern repräsentiert ein Kollektiv, innerhalb dessen er weitere Kräfte mobilisieren kann. Die Rede von den sieben „anderen Geistern“ in Lk 11,26 verweist dabei nicht einfach auf die gesteigerte „Schwere“ des Leidens. Vielmehr geht es um eine transformierte und diversifizierte Potenz. 21 Unter den Vorzeichen von Lk 11,14ff. stellt dieser Narrativ einen Kontrapunkt insbesondere zu der These von Lk 11,20 dar, nach der das Austreiben der Dämonen „mit dem Finger Gottes“ gewiss mit Erfolg rechnen kann. Wie ist Lk 11,24–26 hier näherhin zu- und einzuordnen, und wie ist diese Spannung zu erklären? Zur Beantwortung der Frage verdient eine Notiz des Erzählers Aufmerksamkeit, die oben noch nicht angesprochen war: Der „unreine Geist“ kehrt im Text nicht einfach mit Verstärkung in sein unverändertes früheres Haus zurück. Vielmehr ist davon die Rede, dass er seine frühere Behausung nun „gefegt“ und „geschmückt“ vorfindet (Lk 11,25: σεσαρωμένον καὶ κεκοσμημένον). Die Deutung dieser Aussage ist höchst umstritten. Wahrscheinlich ist zunächst, dass damit nicht nur das vorfindliche „Vakuum“ als solches gemeint ist, das der „unreine Geist“ bei seiner Rückkehr vorfindet. Intendiert ist damit auch nicht, dass der betroffene Mensch die Katastrophe der Verschlimmerung bzw. des „Rückfalls“ verhindern könnte/ sollte, indem er die „Leerstelle“, die durch das Weichen des „unreinen Geistes“ entstanden ist, mit Glauben (an Jesus; vgl. Lk 11,20 par; bzw. an Gott) füllt.22 Der gesamte Kontext Lk 11,14ff. avisiert nicht die Besessenen oder
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Vgl. zur Sache Mk 9,25; vgl. Tob 6,8.17 (καὶ ὀσφρανθήσεται τὸ δαιμόνιον καὶ φεύξεται καὶ οὐκ ἐπανελεύσεται τὸν αἰῶνα τοῦ αἰῶνος; zur Dämonologie von Tob vgl. EGO, Rolle, 309– 317); Ios. ant. Iud. 8,46 –47; Philostr. Ap. IV 20. Vgl. die Epipompe in Mk 5,12–13 par. Vgl. unter anderem Sach 13,2; Test Ben 5,2; Test Sim 4,9; 6,6; Jub 10,1; 11,4; 12,20. Vgl. unter anderem zur Identifikation mit einem Dämon: Lk 9,37–43; vgl. Mk 6,7 mit Mt 10,1, Lk 8,33 (hier Dämonen). Zur Nontransformierbarkeit der Rede von einem „unreinen Geist“ in rituell-kultische oder auch moralische Kategorien vgl. THYEN, Art. καθαρός, 535–542. HULL, Magic, spricht von einem „multiform type of demon [...]”; möglicherweise im Unterschied zu Mt 12,45; „Luke’s idea is not that of a little assorted crowd of spirits but rather that the desperate spirit manages to fuse himself with or to get hold of a united group” (a. a. O., 103 [vgl. 102f. zu Fieber-Dämonen in Test Sal]). Vgl. zur Siebenzahl der Geister Offb 1,4; 3,1; 4,5; 5,6; vgl. zur Sache Offb 16,13 –14 (hier drei Geister „von Dämonen, die Zeichen tun [...]“); Test Rub 2f. (sieben Geister – und ein achter Geist); zur „bösen“ Siebenzahl: TRUNK, Heiler, 96; vgl. FITZMYER, Gospel, Teilbd. 1, 697. Vgl. in dieser Richtung mit anderen GREEN, Gospel, 459; BOVON, Evangelium, Teilbd. 2, 180f.; TANNEHILL, Luke, 194; zur Kritik an solchen Deutungen bereits MARSHALL, Gospel, 479; KILGALLEN, Return, 45–59.
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„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par) ihre Handlungsoptionen, sondern es geht um die Perspektive der „Praktiker“. Leserinnen und Leser müssen darum – im gegebenen literarischen Kontext – die Aussage des „Gefegt“- und „Geschmücktseins“ ebenfalls mit dieser Ebene der Praxis der „Heiler“ verbinden. 23 Dabei ist die referentielle Frage, um welche Handlungen es konkret geht, von nachgeordneter Bedeutung. Wenn mit Lk 11,23 eine Unterscheidung des Für und Wider im Blick auf Jesus eingeführt wird, so spricht doch im Gesamtzusammenhang von Lk 11,14ff. wenig dafür, dass Lk 11,24–26 (allein) auf die Praxis anderer Heiltäter zu beziehen oder eine grundsätzliche Differenzierung innerhalb der Gruppe Jesu in „Getreue“ und Abweichler im Blick wäre.24 Insbesondere Lk 11,19 markiert das Verbindende der Praxis und bietet die Basis der gesamten Argumentation. Es ist darum vielmehr wahrscheinlich, dass am Ende von Lk 11,14ff. eine grundlegende Erfahrung angesprochen ist; Exorzismen können „scheitern“, es kann zu entsprechenden Rekadenz-Erfahrungen kommen. Der Text lässt sich auch so lesen, dass hier am Ende eigene Negativerfahrungen der frühen Christen in ihrer Praxis und möglicherweise sogar entsprechende Rückschlag-Erfahrungen Jesu angesprochen sind.25 Diese Erfahrung steht hier für sich. Die Frage, wie sich entsprechende Rekadenzen vermeiden lassen, wird in dem Zusammenhang der konfliktträchtigen Auseinandersetzung von Lk 11,14ff. nicht angesprochen. Das exorzistische Handeln als solches wird als gegeben vorausgesetzt. Ebenso wenig beschäftigt den Text die Perspektive der betroffenen Besessenen/ „Kranken“. Leserinnen und Leser, die Erfahrungen mit Exorzismen gemacht haben, finden im Text die gewisse Auskunft (Lk 11,20; vgl. 8,1–3 u. ö.), dass Jesus sich in entsprechenden Situationen mächtig erweist und sie sich an ihn halten können. Sie können der Evangelienerzählung zudem entnehmen (s. o. Pkt. 1.), dass von Jesus dementsprechend keine Geschichten zu berichten sind, nach denen sich in seiner Praxis Vergleichbares ereignet.
Damit verbleibt das „magisch-exorzistische“ Modell der Konzeptualisierung eines „Rückfalls“ in Lk 11,24–26 in einem grundlegenden Entweder-Oder, das sich 23
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Es entsteht in der Erzählung der Eindruck, dass der „unreine Geist“ den Menschen „schmutzig“ und in Unordnung zurückgelassen hat; „magisch-exorzistisches“ Handeln wird in der Erzählung als Wiederherstellung von „Reinheit“ und Ordnung begriffen. In dieser Frage ist unter anderem noch einmal zwischen der Q-Ebene und der Lukas-Fassung zu unterscheiden; nach PIPER, Jesus, soll Q 11,24–26 „waverers“ respektive „potential Q drop-outs“ vor Apostasie warnen (a. a. O., 340). Vgl. den Überblick der Möglichkeiten bei ALLISON, Tradition, 122–127. Vgl. in dieser Richtung MARCUS, Controversy, 273–274; das Postulat eines „prebaptismal Jesus“ im Unterschied zu einem „later Jesus“ (a. a. O., 274 Anm. 86) bleibt hier freilich höchst spekulativ – und ist auch nicht frei von einem theologischen Apriori.
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aus der zugrundeliegenden Vorstellung eines Gegeneinanders von den Menschen bestimmenden Mächten ergibt. Die legitime, die göttliche Macht „bezwingt“ den Mächtigen/„Starken“; dort, wo sie fehlt oder versagt, kann die schädliche Kraft nicht vom Menschen separiert und effektiv von ihm ferngehalten werden; sie schlägt in gesteigerter Form zurück. „Heilung“ ist damit nur innerhalb der Alternative von völliger Befreiung/Besiegung durch die Abspaltung des schädlichen Dämons oder gänzlicher (bzw. neuerlicher) Besessenheit/Niederlage darzustellen. Rekadenz-Phänomene in der eigenen Praxis sind damit nicht zu integrieren, sondern sie offenbaren die Grenzen der eigenen Kontrollmöglichkeiten. An diesem Punkt setzen nun Zeugnisse der griechisch-römischen antiken Medizin ganz anders an. Sie gehen analytisch von der Physis des Menschen aus; sie konstruieren „Krankheitsbilder“ des Körpers und ermöglichen auf dieser Grundlage dem Heiler, auch „Rückfälle“ zu integrieren und sie gegebenenfalls einem in Anamnese und Prognose begründeten Heilungsprozess zu- und einzuordnen. „Wissenschaftliche“ Analytik eröffnet damit Möglichkeiten, Prozesse der Verschlimmerung und des „Verheerenden“, die gerade auch aus der eigenen Praxis resultieren können, als solche zu verstehen und entsprechende Erfahrungen für das Wohlergehen der Patienten nutzbar zu machen. Entsprechende Differenzen sollen in zwei exemplarischen Analyseschritten beleuchtet werden. Wir wählen hierfür ein frühes Zeugnis der hippokratischen Medizin, einen Krankheitsfall aus CH De Morb. popularibus, sowie einen Abschnitt aus dem deutlich jüngeren Werk eines lateinischen Mediziners, den „Celeres passiones“ des Caelius Aurelianus.
3.
Zur pyretologischen Konzeptualisierung des „Rückfalls“ in CH De morbis popularibus III A 2
War oben (Pkt. 1.) festgestellt worden, dass die deontologischen Texte der in das Corpus Hippocraticum eingegangenen Zeugnisse grundsätzlich das Thema von „Rückfällen“ bzw. das des „Rückfälligen“ meiden, so liegen die Dinge in den hippokratischen Schriften anders, die weniger vom Standesethos her ansetzen, sondern vielmehr den Mediziner bei seiner klinischen Praxis zeigen, bzw. die einzelne Felder von Krankheitsbildern behandeln. Für die Frage der Konzeptualisierung von Rekadenz-Phänomenen erweisen sich vor allem die Fieber-Leiden als ergiebig. Die hippokratisch geprägte Medizin stellt für den Fall pyretologisch bestimmter Leiden ein systematisches Ordnungswissen bereit, welches erlaubt,
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Demissionen, Intermissionen und „Rückschläge“ in eine umfassendere Nosologie, Zeichenlehre und Chronometrie einzuschreiben.26 Wir setzen im Folgenden bei einem exemplarischen Fall an, der im dritten Buch der hippokratischen Schrift „De morbis popularibus“ innerhalb einer kompakten Reihe weiterer Fallstudien berichtet ist.27 CH Morb. popularibus III A 2 schildert den Fall des Hermokrates, „der an der neuen Stadtmauer darniederlag“ (ὃς κατέκειτο παρὰ τὸ καινὸν τεῖχος). a) Die im Eingang katalogartig notierten Krankheitssymptome geben zu erkennen, worauf der hippokratische Arzt im weiteren Verlauf der Beobachtung vorrangig achtet: das subjektive Befinden des Kranken, sein Schlaf- und Nahrungsaufnahmeverhalten, Urin, Stuhl und andere. Die Zeichen der Erkrankung stehen dabei unter der Überschrift: „Fieber ergriff ihn“ (πῦρ ἔλαβεν). Die weitere Darstellung folgt in einer für die Krankengeschichten der „Epidemien“ typischen Weise nach einem gestaffelten Tagesschema. Die Ellipsen (das Überspringen von Tagen) erklären sich aufgrund der hippokratischen Lehre von den kritischen Tagen. Die kurzen Stichpunkte, die den Krankheitsverlauf am fünften, sechsten und siebten Tag zusammenfassen, bleiben in sich mehrdeutig. Die für den sechsten Tag notierte „allgemeine Verschlimmerung“/„Zuspitzung“ entspricht einer konventionalisierten Terminologie in der Beobachtung von Wechselfiebern (πάντα παρωξύνθη). Für die Zeit „um den elften Tag“ wird eine „scheinbare allgemeine Milderung“ verzeichnet (περὶ δὲ ἐνδεκάτην ἐόντι πάντα ἔδοξε κουφισθῆναι); der Patient ist „ruhig“ und bei „Besinnung“ (ἡσυχῇ κατενόει). Am 14. Tag ist das Fieber gewichen; der Arzt notiert jedoch, dass es nicht zu einem Schweißausbruch kommt (d. h. zur „Krise“). Damit ist innerhalb der hippokratischen Logik der „Rückfall“ (ὑπέστρεψεν) vorbereitet, der „um den siebzehnten Tag“ eintritt. Ansteigendes und dann an den Folgetagen „heftiges Fieber“ tritt in Verbindung mit „Verstörtheit“ auf (ἐθερμάνθη τὰς ἑπομένας πυρετὸς ὀξύς/παρέκρουσεν). Der 20. Tag bietet dann wiederum einen Entscheidungstag („Krise“); die vom Arzt erwartete Lösung bleibt jedoch aus, da die Krise unvollständig verläuft. So ist der Patient zwar fieberfrei (ἄπυρος), aber es unterbleibt eine Ausscheidung der materia peccans aus dem Körper des Kranken (οὐχ ἵδρω26
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Vgl. zum Folgenden (mit weiterer Forschungsliteratur) V. BENDEMANN, Hitze, 231–262 (siehe in diesem Band 159–188) zur Wechselfieberlehre in der griechischen und römischen Medizin. In CH Morb. popularibus I und III finden sich insgesamt 42 solche Fallstudien. Die Bücher I und III gehören wahrscheinlich zu den ältesten Stücken im Corpus Hippocraticum. Vgl. SMITH, Fever, 1–18; GRAUMANN, Krankengeschichten, 105f. Zur Struktur der Fallbeschreibungen: POTTER, Epidemien, 15. Zum Folgenden: LICHTENTHAELER, Kommentar, 39–60.
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σεν). Weiterhin werden Appetitlosigkeit während der gesamten Zeit (ἀπόσιτος παρὰ πάντα τὸν χρόνον), Unfähigkeit zur Unterhaltung (διαλέγεσθαι οὐκ ἠδύνατο), Trockenheit der Zungenoberfläche bei gleichzeitiger Durstlosigkeit (γλῶσσα ἐπίξηρος, οὐκ ἐδίψη) und Schläfrigkeit (κωματώδης) verzeichnet. Dabei ist der Kranke „völlig bei Verstand“ (κατενόει πάντα). Der nächste notierte Termin lautet „um den vierundzwanzigsten Tag“ (περὶ δὲ εἰκοστὴν καὶ τετάρτην). Er markiert den am zwanzigsten Tag bereits prognostizierbaren zweiten „Rückfall“. Eine erneute Körpererhitzung tritt auf (ἐπεθερμάνθη). Der Stuhl des Patienten ist feucht, reichlich und dünn (κοιλίη ὑγρὴ πολλοῖσι λεπτοῖσι ῥέουσα). Das heftige Fieber ist zurückgekehrt und bleibt in den folgenden Tagen bestehen. Die Zunge des Kranken ist „ausgebrannt“ (γλῶσσα συνεκαύθη). Was folgt, ist die kurze Notiz für den siebenundzwanzigsten Tag: Der Patient stirbt (ἑβδόμῃ καὶ εἰκοστῇ ἀπέθανεν).28 b) CH Morb. popularibus III A 2 ist für Insider verfasst. Klinische Erscheinungen, Pathogenese und weiterer Verlauf mit Zeichen können darum in wenigen Stichworten identifiziert werden. Der Text folgt einer stabilen Grundform und kann in vielem andeutungshaft und lückenhaft bleiben, da er mit kundigen Fachleuten als Lesern rechnet, die ihn zu implementieren und interpretieren vermögen.29 Ausdrücklich ist das Leiden pyretologisch identifiziert; dem Verlauf des Fiebers gilt die vorrangige Aufmerksamkeit des Arztes. Nach frühionischphysiologischem und hippokratischem Verständnis wird der menschliche Körper in einer Fiebererkrankung so konzeptualisiert, dass zwei Wärmequalitäten aufeinandertreffen: eine lebensnotwendige, animalische, angeborene Wärme sowie die widernatürliche Hitze, die den Kranken befällt. Diese wird durch eine materia peccans verursacht. Der Arzt versucht die Physis des Körpers in einer Weise zu unterstützen, dass diese sich in der „Krise“ von der schädigenden Substanz zu befreien vermag.30
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Der Bericht über die Krankengeschichte des Hermokrates von Thasos schließt mit kurzen epiloghaften Notizen: „Bei diesem Patienten hielt die Taubheit bis zum Ende an; Urin entweder dick und rot, ohne Bodensatz, oder dünn und farblos mit schwimmenden Wölkchen; Nahrung konnte er nicht genießen (τοῦτῳ κώφωσις διὰ τέλεος παρέμενεν, οὖρα ἢ παχέα καὶ ἐρυθρά, οὐ καθιστάμενα ἢ λεπτὰ καὶ ἄχροα καὶ ἐναιώρημα ἔχοντα· γεῦεσθαι οὐκ ἠδύνατο). Dass dabei schon für antike Fachleute Fragen offen bleiben, sieht man an den Kommentaren des Galen zu den „Epidemien“. Zum „Staccatostil“ von CH Morb. popularibus: LICHTENTHAELER, Kommentar, 17. Die Rede von einer materia peccans hat keinerlei theologische Konnotation; es geht um eine gestörte physiologische Balance.
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„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par) Der Theorierahmen ist allerdings als solcher im konkreten Fall kaum belichtet.31 Im Vordergrund steht der Körper des Kranken in seinen physiologischen Eigenvollzügen. Festgestellt werden die unvollständig bleibenden „Krisen“ am 14. und 20. Tag; bedingt durch diese Unvollständigkeit, bei der sich der Körper nicht von den irritierenden Stoffen frei zu machen vermag, erklären sich die beiden „Rückfälle“.32 Die vermeintliche Besserung am elften Tag erweist sich als trügerisch; der Verfasser von „De morbis popularibus“ notiert hier nicht zufällig ein „scheinbar“ (ἔδοξε). Ebenso ist die Fieberfreiheit am 20. Tag nur vordergründig ein günstiges „Zeichen“, das fehlinterpretiert werden kann. Dass aus der ersten und vordergründigen Besserung keine positive Prognose resultieren kann, hat schon Galen in seiner Kommentierung gesehen. 33 Der zweite „Rückfall“ führt dann auf die finale Katastrophe des Todes hin.
Zusammengefasst ist für die Konzeptualisierung des „Rückfalls“ in dem hippokratischen Text festzuhalten: Zwar vermag der Arzt in diesem Fall nicht den Tod des Patienten abzuwenden – durch welche Maßnahmen und Ratschläge er es versucht hat, interessiert den vom Arzt für den Arzt verfassten Text nicht –, aber es ergibt sich innerhalb eines kohärenten semantischen Interpretationsrahmens eine Kette von Evidenzen und Argumenten dafür, wie es in diesem besonderen Fall nur scheinbar zur Besserung kommen konnte34 und warum ein doppelter „Rückfall“ mit letalem Ausgang als wahrscheinlich gelten musste. Der protokollhafte Arztbericht bildet an diesem Punkt ein eigenes Narrativ. Dieses entspricht einer Ordnung der physiologischen Vorgänge, die als solche nachvollzogen werden kann. Was in der Konstruktion von Rekadenz-Phänomenen in CH Morb. popularibus gelingt, ist somit zwar nicht die Mächtigkeit über den Krankheitsverlauf, wohl aber die Stiftung einer Ordnung, innerhalb derer Beobachtungen ein Stück weit von der Zielsetzung der Gesundung distanziert werden können. Symptomatiken/Zeichen erscheinen so von der Krankheit abgehoben und können so be31
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CH Morb. popularibus I und III zeigen die hippokratischen Ärzte zunächst als sorgfältige Beobachter – unter Zurückstellung theoretischer Interpretamente; vgl. LANGHOLF, Theories, 256. Nach LICHTENTHAELER (Kommentar, 44f.) würde sich beim Patienten am 24. Tag die Fieberqualität grundlegend ändern: Wärme als natürliche Abwehrreaktion schlüge hier in ein tödliches Fieber um. Vgl. den anders gelagerten Fall des Pythion a. a. O., 23, 25; ferner den fiebrigen Rückfall in CH Morb. popularibus III A 3 (der Mann, der im Garten des Dealkes krank lag): LICHTENTHAELER, Kommentar, 73f., 80f.; sowie die zwei unvollständigen Krisen mit anschließenden „Rückfällen“ in CH Morb. popularibus III A 5 (LICHTENTHAELER, Kommentar, 98–101) – hier mit gutem Ausgang. Vgl. KÜHN, Galenus, XVII A 539ff. Siehe hierzu LICHTENTHAELER, Kommentar, 47. Die Überzeugung, dass „Scheinbesserungen und unvollständige Krisen […] zwangsläufig zu Rückfällen“ führen, teilt der Verfasser von CH Morb. popularibus III mit dem hippokratischen Prognosticon; LICHTENTHAELER, Kommentar, 55.
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stimmt werden, dass ausbleibende „Rückfälle“, die als „Krisen“ zu begreifen sind, dem Ziel der Genesung gerade abträglich sein können. Damit stellt sich „Kontrolle“ auf einer anderen Ebene ein, nämlich der eines Wissens, welches die Optimierung der eigenen Praxis erlaubt. Insgesamt werden damit Erfahrungen und Beobachtungen, die im dämonologisch-„magischen“ Konstrukt von Lk 11,24–26 par unbegreiflich bleiben und sich nur vom Endzustand einer potenzierten Verschlimmerung her darstellen, systematisierbar und auf Fortschritte in der Prognose und Therapie hin reflektierbar.
4.
Therapeutik in Anbetracht des drohenden „passionis recursus“ – das Krankheitsbild der Phrenitis bei Caelius Aurelianus
Dem frühen Zeugnis eines hippokratischen Textes aus CH Morb. popularibus soll im Folgenden ein jüngerer Text eines lateinisch schreibenden Mediziners der Spätantike gegenübergestellt werden. Das Werk des Caelius Aurelianus zeigt, wie die Thematik von Rekadenz-Phänomenen zunehmend in die „wissenschaftliche“ Medizin einbezogen wird; dabei werden „Rückfälle“, die durch Fehltherapien evoziert sind, zu einem eigenen Gegenstand. Caelius Aurelianus, den man der Schule der sogenannten „Methodiker“ zurechnet35, blickt in seinem Werk auf eine mehrere Jahrhunderte währende Rezeptionsgeschichte der hellenistischen Medizin ebenso wie auf den Einzug der Medizin in die römische Kultur zurück. In vielerlei Hinsicht haben sich die Bedingungen und Koordinaten medizinischen Denkens verändert. Erkennbar wird dies unter anderem daran, dass Caelius Aurelianus nicht nur die celeres passiones, die akuten Erkrankungen, sondern auch die tardae passiones, die chronischen Leiden, zum systematischen Gegenstand der Medizin erhebt. Die „Celeres passiones“ repräsentieren eine andere Gattung als die Fallstudien der frühen hippokratischen „Epidemien“; Caelius Aurelianus schreibt eine ambitionierte Fachmonographie. Entsprechend seiner in der praefatio an Bellicus dargelegten Zielsetzung geht es dabei zunächst darum, die Lehren seiner griechischen medizinischen Vorgänger „aufzuhellen“.36
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Zur Medizin der „Methodiker“: NUTTON, Medicine, 191–206; vgl. FISCHER, Art. Caelius, 182– 183 (mit weiterführender Literatur). „Revelare“; „si qua forte a Graecis obscure dicta sunt“ – Cael. Aur. acut. Liber I 2.
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Auch hier wählen wir den Fall eines fiebrigen Leidens, und zwar die in den „Celeres Passiones“ an erster Stelle thematisierte Phrenitis (acut. Liber I 4 –183).37 Caelius Aurelianus unterteilt im Vorwort der „Celeres Passiones“ die Gesamtheit der akuten Krankheiten in solche, die mit Fieber einhergehen, und solche, die ohne begleitende Fieber auftreten. Innerhalb der ersten Klasse steht die Phrenitis an vorderster Stelle – vor Leiden wie Lethargie, Rippenfell- und Lungenentzündung sowie der „Herzkrankheit“ (acut. Liber I 4 – II 234). Die Darstellung geht vom Begriff der Erkrankung aus (acut. Liber I 4–58), beleuchtet dann die Zeichen / Symptome, fragt nach Unterscheidungsmerkmalen gegenüber vergleichbaren Erkrankungen (im Fall der Phrenitis: „Wahnsinn“; „Lethargie“) und sucht schließlich Verbindungen des Leidens mit bestimmten Körperteilen zu identifizieren. Eigentlicher Zielpunkt ist die Besprechung der Therapieformen (zum Fall der Phrenitis: acut. Liber I 58–183). Dieser systematische Aufbau wird durch die Auseinandersetzung mit einer Fülle verschiedenster medizinischer Schul-Positionen durchsetzt. Methodisch geht Caelius Aurelianus so vor, dass er Widersprüchlichkeiten und Spannungen sowohl innerhalb der Werke einzelner Schulvertreter als auch zwischen den Meinungen der Ärzteschulen herausarbeitet, um seine eigene Sichtweise zu etablieren und zu begründen.38 Durchgängiger Konterpart in der Diskussion der Phrenitis ist Asklepiades. a) Der Krankheitsname „Phrenitis“ basiert nach Caelius Aurelianus auf der Beobachtung einer Beeinträchtigung der geistigen Kräfte des Menschen (phrenes). Angeführt wird zunächst die von Demetrios übernommene Definition des Herophilus; demnach beschreibt die Phrenitis eine „deliratio vehemens cum alienatione“ (hochgradiger/schneller Wahnsinn mit Wirklichkeitsentfremdung/Geistesverwirrung), welche mehrheitlich mit Fieber einhergeht und rasch zum Tode führt (Cael. Aur. acut. Liber I 4). Nach den Definitionen des Asklepiades stellt die Phrenitis ein akutes Leiden des Sinnesapparates dar: „Alienatio est passio in sensibus, ex qua aliquando maiores intellectus efficiuntur capacitate sensuali[ar]um viarum, aliquando vero viae capaciores 37
38
Zum antiken Krankheitsbild der Phrenitis siehe LEVEN/STAMATU, Art. Phrenitis, 700f.; STAMATU, Art. Geisteskrankheit, 334f.; zu den sogenannten „Geisteskrankheiten“: NUTTON, Art. Geisteskrankheiten, 867–870; SIMON, Mind; STOK, Art. Follia, 2282–2410. Vgl. CH Morb. popularibus I 12, 18 ; vgl. zum Fall der Phrenitis acutissima in CH Morb. popularibus III A 4 LICHTENTHAELER, Kommentar, 83–94; Celsus behandelt die Phrenitis ebenfalls an erster Stelle nach einer generellen Darlegung zur Pyretologie: In Buch III 18,1–16 beginnt er die Darstellung der „insania“ mit ihrer ersten Unterform, „quae et acuta et in febre est: φρένησιν“. Wie auch sonst bei Celsus festzustellen, liegt der Fokus auf den Therapeutica, weniger auf der Ätiologie und Systematik. Vgl. z. B. Cael. Aur. acut. Liber I 139: „cum sibi quadam comparatione fuerint opposita“; I 154: gegen Asklepiades; I 155–165: gegen Themison; I 166–183: gegen Herakleides von Tarent.
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motibus“.39 Wird diese „alienatio mentis“ chronisch und tritt sie ohne fiebrige Begleiterscheinungen auf, so avanciert sie nach Asklepiades zum „furor“ bzw. – umgangssprachlich – zur „insania“ (Cael. Aur. acut. Liber I 15; vgl. I 42–48). b) Die Semiotik des Krankheitsbildes der Phrenitis setzt sich in komplexer Weise zusammen. Neben der Beobachtung der Temperierung, des Pulses, der Feuchtigkeitsqualitäten des Körpers und des allgemeinen Geisteszustandes führt Caelius Aurelianus Zeichen wie „schallendes Lachen“, Singen, Traurigkeit, Schweigen, Flüstern, Klagen, leise Selbstgespräche, wütendes Aufspringen des Kranken („in furore exsiliens“), grundlose Wut („omnibus iracundus“), Selbstkasteiung und das Zerreißen von Kleidung an (Cael. Aur. acut. Liber I 35–36). In die Beschreibung spielt die hippokratische Lehre von den kritischen Tagen hinein (Cael. Aur. acut. Liber I 38–39). Zugleich werden, ebenfalls in hippokratischer Tradition, gender- und altersdependente Differenzen im Krankheitsbild besprochen.40 c) Die „phreniticae passionis signa“, d. h. die Zeichen, die im Vorfeld vor einem Ausbruch der Krankheit vom Arzt zu beobachten sind, verbleiben mehrdeutig; sie verweisen nach Caelius Aurelianus nicht auf die Unausweichlichkeit der Erkrankung (Cael. Aur. acut. Liber I 26). Doch gibt es Zeichen einer Anfälligkeit bzw. Krankheitsbereitschaft; es gibt ἐπίνοσοι: Menschen, die habituell für einen Ausbruch des Leidens disponiert sind (Cael. Aur. acut. Liber I 30). Sowohl die „furentes“ bzw. „insani“, die „cum febribus furore delirantes“, als auch die „phrenitici“ können in eine „Steigerungsphase“ (ἐπίθεσις) geraten (Cael. Aur. acut. Liber I 45). Das Leiden ist auf „augmentatio“, auf Vergrößerung und Steigerung hin ausgelegt. „Furor“/Wahnsinn, „Phrenitis“ und „Lethargie“ gehen dann wie die Aggregatzustände einer Substanz ineinander über.41 Zwischen den Steigerungs- bzw. Anfallsphasen kann es zu
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„Die Geistesverwirrung ist ein Leiden der Sinneskanäle, bei dem bisweilen die geistigen Aktivitäten für das Fassungsvermögen der Sinneskanäle zu stark werden, bisweilen aber auch die Kanäle für die in ihnen stattfindenden Bewegungsvorgänge zu weit sind“. Caelius Aurelianus grenzt sich hier von Schulmeinungen ab, nach denen Jugendliche schwerer erkranken als ältere Menschen und Männer heftiger leiden als Frauen (Cael. Aur. acut. Liber I 40f.). Vgl. Cael. Aur. acut. Liber I 48: „quae denique si furiosis advenerint in febribus constitutis, in phreniticam passionem ex insania venisse pronuntiamus, tamquam rursum ex phrenitica passione cedentibus propriis signis, hoc est supradictis, in furorem transeant, non aliter quam si etiam aliis attestantibus signis in lethargiam veniant vel certe relevati ex lethargia in phreniticam redeant.“ – „Wenn diese [Symptome] schließlich bei von Fieber befallenen Wahnsinnigen hinzukommen, so können wir urteilen, dass sich bei ihnen ein Übergang vom Wahnsinn zur Phrenitis vollzogen hat, wie sie umgekehrt aus der Phrenitis in den Wahnsinn zurückverfallen können, wenn die charakteristischen Symptome aufhö-
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„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par) einer „declinatio“ oder einer „dimissio“ des Leidens kommen (Cael. Aur. acut. Liber I 51.84 u. ö.).
d) Für die Fragestellung nach der Konzeptualisierung eines „Rückfalls“ („recursus passionis“) ist vor allem der umfängliche Abschnitt über die Therapien im Fall von Phrenitis interessant (Cael. Aur. acut. Liber I 58ff.). Die Diskussion der Therapieformen richtet sich strikt an der Zielprämisse der Verhinderung von Verschlimmerung und „Rückfällen“ aus. Besonders im Blick steht dabei, dass solche Verschlechterungsvorgänge und „Rückfälle“ gerade auch durch die Therapie selbst begünstigt werden können. Der ärztliche Irrtum (das „errare“) kann im Fall der Phrenitis schlimme Folgen für die Patienten haben, die medizinische Erörterung hat darum das Ziel, dieses unbedingt zu unterbinden. 42 „Denn diese Art Krankheit kann leicht einen Rückfall haben und einen noch schlimmeren Verlauf nehmen, auch wenn nur eine geringe Ursache den Anstoß dazu gibt. Darum sollen selbst dann wegen der Kompliziertheit des Leidens alle Maßnahmen mit recht großer Vorsicht getroffen werden [...]“ „etenim facilis in recursum peiorem atque in augmentum hoc passionis est genus, etiamsi parva occasio impulerit causae. quapropter etiam tunc propter difficultatem passionis cautius erunt omnia agenda [...]“ (Cael. Aur. acut. Liber I 9).
Konkret benennt Caelius Aurelianus folgende Felder der ärztlichen Praxis („agenda“), auf denen „Rückfälle“ im Fall von Phrenitis drohen: Zunächst spielen die Umweltfaktoren eine zentrale Rolle: Der Raum für den Patienten soll nach Caelius Aurelianus ohne jeden Schmuck eines Bildnisses sein („sine ullo picturae figmento“), auch leuchtende Farben an den Wänden oder den Bettunterlagen und Decken sind zu meiden. Die Kranken nehmen sonst „ex picturis“ Phantasievorstellungen im Geist („mente“) auf, welche die Griechen φαντάσματα genannt haben; hierdurch können sie noch kränker werden oder in Lachsucht verfallen (Cael. Aur. acut. Liber I 59: „plus asperentur aut in risum solvantur“). Die hippokratischen Fiebertheoreme werden von Caelius Aurelianus bereits in ihren Brechungen durch die hellenistische Medizin rezipiert; mit einem breiten common sense der Rezeption bleibt jedoch die sorgfältige Fieberinterpretation als solche vorrangige ärztliche Aufgabe: Fehlberechnungen der Intervalle bei den Wechselfiebern bzw. die verfehlte Prognose der kritischen Tage kann – vergleichbar der pyretologischen Ordnung in CH Morb. popularibus (s. o. Pkt. 2.) – zu einer Verwechslung zwischen nur schein-
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ren, ebenso wie sie auch bei andersartigen typischen Anzeichen in Lethargie verfallen oder, davon befreit, aus der Lethargie zur Phrenitits zurückkommen können“. Vgl. die Orientierung an der Vermeidung des „passionis recursus“ auch im Fall der Starrsucht: Cael. Aur. acut. Liber II 81.
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barer Besserung der „alienatio mentis“ und tatsächlicher Genesung von ihr führen (Cael. Aur. acut. Liber I 125–127). Besonders drohen im Bereich der Diätetik schwere und verhängnisvolle Fehler, die eine Verschlimmerung bzw. einen „Rückfall“ evozieren können: So ist bei der diätetischen Verabreichung nicht nur von Wasser (Cael. Aur. acut. Liber I 140), sondern auch von Wein unbedingt darauf zu achten, dass diese nicht zur Unzeit geschieht. Andernfalls kann es zur Auslösung von „insuperabiles mentis alienationes“ kommen, d. h. zu Formen der geistigen Entfremdung, die nicht mehr zu beseitigen sind (Cael. Aur. acut. Liber I 86; vgl. I 144–145). Übermäßige Gabe von unverdünntem Wein stiftet wie ein Feuer Schaden, „so dass es wirklich so scheint, als habe er die Wirkung eines Brenneisens, welche[s] die Nerven angreift und, verbunden mit einem schon lange bestehenden schädlichen Fieber, selbst jenen Teil durchdringt, auf Grund dessen wir verständig sind, und so die Geistesverwirrung verdoppelt oder bei dem Kranken Krämpfe hervorruft [...]“ „[...] ut vere ipsum videatur cauteris esse virtute, quae nervos incurrens atque penetrans infestae iamdudum febriculae coniuncta etiam illud, quo sapimus, et alienationem geminet mentis aut spasmum faciat aegrotanti [...]“ (Cael. Aur. acut. Liber I 147).
Die Verabreichung von Substanzen wie Essig, Saufenchel, Raute und Bibergeil führt ebenso zu therapeutischen Kontraeffekten. In der Konsequenz droht auch hier eine „geminatio alienationis“, eine Verdoppelung des Entfremdungsleidens (Cael. Aur. acut. Liber I 135–136).43 e) Der Therapie- und Gesundungsprozess der „phrenitici“ gestaltet sich äußerst fragil und labil, da bis zu einer vollständigen Genesung stets „Rückfälle“ und Umschläge der Krankheit möglich bleiben. Die gewissenhafte Begleitung der Kranken ist unerlässlich. Nicht zuletzt spielen dabei Ansätze, die man neuzeitlich der Gesprächstherapie zuweisen würde, eine zentrale Rolle. Das medizinische Prinzip „contraria contrariis“ schlägt hier auch auf den Sprechakt mit dem Kranken durch (Cael. Aur. acut. Liber I 98): Um der Albernheit (hilaritas) zu wehren, bedarf es eines „corrigere“ durch strenge und ernste Rede („severa verborum atque tristi oratione“). Dagegen soll man die von Traurigkeit und Zorn Befallenen „mit freundlichem Trost und in diesem Fall mit recht heiteren und angenehmen Sprüchen wiederaufrichten“ – „levi consolatione atque nunc dictis hilarioribus et iucunditate relevare“. 43
Auch die von Diokles in seinem Werk „De febribus“ angeratenen Bäder können zu einer entsprechenden Verstärkung des Leidens führen (Cael. Aur. acut. Liber I 100–102): „Im Hinblick darauf wäre es für die armen Kranken besser gewesen, an Schwäche zu leiden als an unbrauchbarer Körperkraft, um nicht von einem in Irrtümern befangenen Arzt derart geschädigt und geplagt zu werden!“ – „Quantum ad haec miseris erat melius debilitate potius quam vana corporis fortitudine laborare, ne tantis cladibus errantis medici vexarentur!“
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„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par) „Denn Überdruss oder Traurigkeit können nicht nur bei ihnen, sondern auch bei anderen Krankheiten die Krankheit oft wieder erneuern. Denn wenn schon von den gesunden Menschen sehr viele durch Trübsal körperlich krank geworden sind, so ist es nicht zu verwundern, daß solche, die von der Krankheit noch nicht völlig befreit sind, wieder in sie zurückfallen können, indem die Verfassung des Gemüts sozusagen seinem eigenen Krankenlager eine neue Wunde versetzt“ „etenim taedium vel maestitudo non solum in his, sed etiam in aliis passionibus valuit saepe passionem refricare. nam si sani homines plerique anxietate in passiones corporis devenerunt, nimirum etiam, qui nondum sunt passione purgati, in eadem redeant, cum animae qualitas sua, ut ita dixerim, cubilia quadam vulneratione affecerit“ (Cael. Aur. acut. Liber I 99).
Zusammengefasst handelt es bei der Darstellung der Phrenitis um das Kapitel einer stark forschungsgeschichtlich orientierten Fachmonographie, die eine klare medizinische Klassifikation der Krankheitsbilder und einen eigenen schulmedizinischen Standort des Verfassers voraussetzt.44 Die Behandlung der Phrenitis gibt modellhaft die Systematik für die Darstellung der weiteren „celeres passiones“ vor. Die Konzeptualisierung des Krankheitsbildes der „deliratio vehemens cum alienatione“ ist dabei konsequent unter dem Aspekt einer Vermeidung des „Rückfalls“, des „passionis recursus“, entworfen, wie er gerade durch eine verfehlte Praxis professioneller „Heiler“ hervorgerufen werden kann. Was im Text des Caelius Aurelianus deutlich nachwirkt, ist das Eintreten für die Reputation des Heilers (s. o. Pkt. 1.). Hinzu kommen dabei die Abgrenzungen zwischen den Schulrichtungen. Verfehlte alternative Deutungen und Praxisansätze, innerhalb derer mit Rekadenz-Phänomenen zu rechnen ist bzw. mit dieser nicht adäquat umgegangen werden kann, werden von der eigenen Schule ferngehalten. Die anderen Schulvertreter werden dagegen in ihrem Wissen und ihrer Praxis in Selbstwidersprüche verstrickt. „Demarkation“ vollzieht sich hier jedoch ganz anders als in Lk 11,14ff., insofern ein Übergang von einer Schulgruppe zur anderen grundsätzlich möglich scheint, abhängig von der medizinischen Bildung. Wie auch in den hippokratischen „Epidemien“ liegt dabei eine exorzistische Praxis als besondere Ausdrucksform religiösen Heilens, wie sie Lk 11,14ff. be44
Über weite Strecken bestimmen den Text zeitgenössische Fachdiskussionen, bis hin zu der Grundsatzfrage, ob es neue Krankheiten geben könne. Die Frage beschäftigt die zeitgenössische Literatur immer wieder, z. B. auch Plutarch in seinen „Tischgesprächen“ (731 B–734 D). Ein Arzt namens Athenodorus postuliert bei Plutarch, dass Rabies und Elephantiasis neue Krankheiten seien, die vor der Zeit des Asklepiades unbekannt gewesen seien. Gegen die vorgebrachten Einwände sind nach Plutarch Luxus und modernes Leben in der Tat für neue Krankheiten verantwortlich. Dagegen wird die Frage von Caelius Aurelianus verneint, auch im komplementären Abschnitt über die Tollwut. Grundsätzlich lautet seine Position: „particulares vel speciales passiones“ könnten „novae“ sein, nicht jedoch die „generales [...] vel principales [...]“ (Cael. Aur. acut. Liber III 118). Zum Problem: NUTTON, Medicine, 36.
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stimmt, gänzlich außerhalb des Radius dessen, was der Arzt als realistische und erfolgreiche Maßnahmen in Betracht ziehen wird. Wie oben zu dem Fall aus den hippokratischen „Epidemien“ bereits festgestellt wurde, bedeutet die Beseitigung der „materia peccans“ in der „Krise“ nicht die Trennung einer feindlichen Macht vom menschlichen Körper, sondern vielmehr die Wiederherstellung eines physiologischen Gleichgewichts in den natürlichen Abläufen. Die zentrale Unterscheidungslinie gegenüber der „magisch-exorzistischen“ Konzeptualisierung eines „Rückfalls“ und Lk 11,24–26 verläuft im Bereich der Anthropologie: Im Fall der Phrenitis ist der menschliche „Geist“ in sich bzw. in seinem Wechselspiel mit anderen Teilen/Organen des Körpers gestört.45 In der frühchristlichen Krankheitskonzeptualisierung von Lk 11,24–26 par ist es dagegen ein fremder und zudem „unreiner“ Geist, der die „alienatio mentis“ bewirkt; dieser ist allein durch göttliche Kraft zu bezwingen und zu bannen.
5.
Medikale Multilingualität – Abschließende und ausblickende Erwägungen
Wir haben festgestellt: „Wundertätigkeit“, „magische“ Praktiken sowie auch „medizinische“ Therapeutik verbindet dort, wo sie auf die Beseitigung körperlicher Störungen ausgerichtet sind, bei allen Differenzen ein nachhaltiges Interesse an Kontrolle über Leiden und Erkrankungen bzw. über die betroffenen Körper. Rekadenz-Phänomene bedeuten demgegenüber den Verlust solcher Kontrolle. In Zeugnissen der „Wundertätigkeit“ wie auch solchen, die als Ausdruck „magischer“ Praktiken aufgefasst werden, wird ein entsprechender Kontrollverlust per definitionem ausgeschlossen bzw. er wird jedenfalls dort, wo entgegen der eigenen Überzeugung doch mit ihm zu rechnen ist, in der Regel nicht problematisiert oder in Erzählungen umgesetzt. Dies geschieht primär nur dort, wo es um die Praxis anderer geht. Die Postulate der Mächtigkeit und Effizienz führen zur weitgehenden Ausblendung und Negation von Rekadenz-Phänomenen. Wir haben festgestellt: Nur sehr wenige frühchristliche Texte thematisieren überhaupt das Problem von „Rückfällen“ im Zusammenhang der dämonenbannenden und therapeutischen Praxis. Der Eigenart der Evangelienerzählungen entspricht es, dass die Geheilten als durch die Appräsentation des Heils in Jesus bzw. durch die Nähe und den Anbruch der Königsherrschaft Gottes in ein neues und von Wohlergehen bestimmtes Leben zeichenhaft eingetreten gelten. Ein therapeutischer 45
Vgl. zur Pneumatologie des Caelius Aurelianus: Cael. Aur. acut. Liber I 87 zum Zusammenhang von Herzbewegung und Verteilung der Pneumasubstanz im Körper. Entsprechend liegen die Therapieformen, die Caelius Aurelianus diskutiert, überwiegend außerhalb des Gesichtskreises der ältesten Christen, z. B. Aderlass (Cael. Aur. acut. Liber I 70–75,180); Schröpfen und verschiedenste diätetische Anweisungen (Cael. Aur. acut. Liber I 76–99).
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„Rückfall“ ist damit als Infragestellung des Anbruchs dieser neuen Zeit zu verstehen. Lk 11,24–26 par beschreibt eben darum, sofern sich im Text auch eigene Erfahrungen der frühen Christen brechen könnten, einen bemerkenswerten Ausnahmefall innerhalb der synoptischen Tradition. Demgegenüber zeigte sich, dass die griechisch-römische Medizin in ihren hippokratischen Anfängen zwar ebenfalls von der unbedingten auctoritas des Arztes und der Effizienz und Evidenz seiner Maßnahmen ausgeht, jedoch zugleich früh damit beginnt, den Kontrollverlust, wie er sich in „Rückfall“-Phänomenen dokumentiert, in ihre eigene Theoriebildung und Praxis einzubeziehen. Der „wissenschaftliche“ Zugang steht intentional unter dem Vorzeichen einer sukzessiven Optimierung der Praxis des Arztes und seiner Maßnahmen, den Patienten zugute. Sorgfältige Beobachtungen, wie sie in den frühen Fallstudien der „Epidemien“-Bücher greifbar werden, ermöglichen eine Integration von Rekadenz-Phänomenen in den Bereich des Wissens und Verstehens und lassen sich dann auch in ein verändertes medizinisches Handeln übertragen. Der geschulte Arzt vermag trotz und gerade auch in Anbetracht von „Rückfällen“ Kontrolle zu gewinnen, indem er die Strukturen seines Wissens und Handelns verfeinert, entsprechend nachjustiert und gegebenenfalls auch grundlegend modifiziert. Der Arzt des dritten „Epidemien“-Buches, der den Fieberkranken besucht, kann diesen zwar am Ende nicht retten; seine Beobachtungen machen jedoch verstehbar und nachvollziehbar, warum es zu einem zweifachen „Rückfall“ und schließlich zum Tod des Patienten kommen musste. Auf entsprechenden Berichten baut die weitere antike Medizingeschichte auf und vermag aus ihnen Schlussfolgerungen sowohl im Bereich der Theoriebildung als auch der Praxis zu ziehen. Ohne dass sich auf diesem Feld gerade Entwicklungslinien nachzeichnen ließen, konnten wir anhand der „Celeres Passiones“ des Caelius Aurelianus feststellen, wie in der fachwissenschaftlichen Literatur mit einer Zunahme des Wissens bezüglich einzelner Krankheitsbilder die Erörterung der therapeutischen Maßnahmen sukzessive unter das Vorzeichen des zu vermeidenden „recursus passionis“ rückt. Damit wird in der longue durée eine Verbesserung der Theoriebildung wie der therapeutischen Maßnahmen angezielt, wie sie in Zeugnissen „wunderhafter“ oder „magischer“ Praxis per definitionem nicht vorgesehen ist, geht es in ihnen doch grundsätzlich um die richtige Wahl und Anwendung von Mitteln und Praktiken, die in irgendeiner Weise als Ausdruck und Vollzug übernatürlicher, göttlicher Ordnungen gelten bzw. von Akteuren vollzogen werden, die diese repräsentieren. Am Untersuchungsgegenstand des Umgangs mit Rekadenz-Phänomenen in der therapeutischen Praxis hat sich damit eine Grundeinsicht bestätigt, nämlich die einer grundlegenden konzeptionellen Verschiedenheit zwischen einem dämonologisch-theurgisch konzeptionalisierten Verständnis von „Heilung“, „Heil“ und „Krankheit“ und den physiologisch und mindestens teilweise induktiv ansetzenden Konzepten der griechisch-römischen Medizin.
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Auch die frühen Christen konnten sich dann in den ersten Jahrhunderten sukzessive Vorstellungen und Heilkonzepten der antiken griechisch-römischen Medizin annähern. Die Wege, auf denen sich dieser Annäherungsvorgang vollzog, sind vielfältig und liegen in den Quellen oft nicht klar zutage. Grundsätzlich ist auch bei den ältesten Christen von dem menschlichen Grundwunsch nach Freiheit von körperlichen Störungen auszugehen; man nutzte oder versuchte, was „half“.46 Eine wichtige Voraussetzung bot auch die Tatsache, dass es bereits auf dem Boden des hellenistischen Judentums zu einer Begegnung mit den Konzepten der griechisch-römischen Medizin kam, die teilweise durch die spätantike Philosophie vermittelt wurde. Weiter bedeutete der rasch nach Ostern erfolgende Übergang des neuen Glaubens in die Städte des römischen Imperiums, dass man sich hier mit einer großen Vielfalt medikaler Kulturen konfrontiert sah. Innerhalb der großen Vielfalt städtischer Gesundheitsangebote, von der Tempelmedizin bis hin zu niedergelassenen Ärzten, haben die frühen Christen auch Bekanntschaft mit geschulten Vertretern der griechisch-römischen Medizin gemacht. Man musste sich damit intensiver mit Verstehensmodellen von Heilung, Krankheit und Leiden auseinandersetzen, denen die Vorstellung einer von Dämonen bewohnten Welt grundsätzlich fremd war und die dementsprechend keine Exorzismen kannten. Bereits Paulus reagiert in ersten Ansätzen auf die verschiedenen medikalen Kulturen seiner Zeit; das „magisch-medizinische“ Modell der ältesten Jesustradition erscheint in seinen Briefen nicht mehr als das allein bestimmende.47 In dem Maß aber, in dem die ältesten Christen mit unterschiedlichen Feldern und Praktiken der medikalen Kulturen ihrer Zeit in Berührung kamen, musste sich auch das Lesen der biblischen und frühchristlichen Texte verändern, die mit der Gesundung und dem Heil von Menschen befasst sind. Es muss Christinnen und Christen gegeben haben, die eine konzeptionelle Mehrsprachigkeit in Fragen der medikalen Kulturen besaßen. Die Situation „kranker“ Menschen konnte nun aus verschiedenen Blickwinkeln konzeptualisiert werden. Für Leserinnen und Leser konnte sich damit zugleich die Aufgabe einer „Übersetzung“, eines Brückenschlages zwischen verschiedenen medikalen Kulturen und Sprachen stellen. Festzustellen ist, dass bestimmte Begriffe und Metaphern in dieser Zeit sowohl in medizinischen als auch in „wunderhaften“ und „magischen“ Texten Verwendung finden. Solche Begriffe und metaphorische Konzepte konnten als Schaltstellen für ein wechselseitiges konzeptionelles Übersetzen fungieren. So wird z. B. bei der Beschreibung der „Rückkehr“ des 46
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„Ist doch das menschliche Streben nach Wohlergehen, nach Verhinderung oder Behandlung von Krankheit, nach Heilung und Heil, universell und von einer elementaren Bedeutung, die der Ernährung und Fortpflanzung zur Seite zu stellen ist“ (FIEDERMUTZ-LAUN, Akzeptanz, 22). In diesem Sinn ist zu verstehen, wenn Plinius der Ältere „medicina“ als Wurzel von Magie und Religion ansieht (s. o. zu Plin. nat. XXX 1f.). Siehe hierzu V. BENDEMANN, Körperkonzeptionen, 157–191 (siehe in diesem Band 323–352); zu möglichen „magischen“ Bezugspunkten in den Paulusbriefen: BUSCH, Magie, 101f.
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„unreinen Geistes“ in Lk 11,24 dasselbe Verb verwendet, welches sich auch in CH Morb. popularibus III A 2 für den pyretologisch definierten doppelten „Rückfall“ findet: ὑποστρέφειν: „zurückkehren“/„wieder vorkommen“/„erneut auftreten“.48 Leserinnen und Leser der frühchristlichen Evangelien konnten damit in Lk 11,24–26 par Krankheitserfahrungen und Krankheitswissen gedeutet finden, die anders auch in der zeitgenössischen Medizin behandelt wurden. Die Geschichte von dem „unreinen Geist“, der aus einem Menschen ausfährt, dann „wasserlose Orte“ durchstreift, um vergebens einen Ruheort zu suchen, und schließlich unter Begleitung sieben weiterer, noch böserer Geister in seinen Ausgangswirt wieder einzieht – mit verheerenden Folgen für den Menschen (Lk 11,24–26 par) – kann so zu einer metaphorisch-erzählerischen Verschlüsselung dessen werden, was in der Medizin als ein „recursus passionis“ bezeichnet wird. „Krankheitsbilder“, die in besonderer Weise durch „Schübe“ gekennzeichnet sind, wie insbesondere die verschiedenen in der antiken Medizin thematisierten fiebrigen Leiden, oder solche, die von einer besonderen „Mobilität“ einzelner Organe oder Feuchtigkeits- und Wärmequalitäten ausgehen, lassen sich mit der erzählten Welt vermitteln und können „Übersetzungsversuche“ evozieren.49 Leserinnen und Leser mit einer gewissen medizinischen Bildung und entsprechenden Erfahrungen könnten an einen status epilepticus denken.50 Sie könnten bei den „wasserlosen Orten“, die der unreine Geist in Lk 11,24 par durchstreift, möglicherweise Hydrophobie assoziieren, wie sie in der antiken Medizin und weit über sie hinaus als Kennzeichen der Tollwut gilt; das Agieren des Geistes mit seinen noch schlimmeren Artgenossen würde dann möglicherweise an das Verhalten tollwütiger Hunde erinnern.
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Zur medizinischen Bedeutung des Verbes vgl. LIDDELL/SCOTT, Lexicon, 1896. Innerhalb der hippokratischen Schriften handelt es sich bei der Bezeichnung des „Rückfalls“ mit ὑπέστρεψεν um eine Eigentümlichkeit der „Epidemien“ (vgl. CH Morb. popularibus I 2,9 [zwei Belege]; 3,13 [vier Belege]; III 1,2; 1,3; 2,5; 3,17 [fünf Belege]; VII 1,2 [zwei Belege]; 1,42; 1,107). Vgl. ὑποστροφή, im Fall CH Morb. popularibus III A 5 (Charion, der bei Demainetos krank lag). – Das Nomen ist ungleich häufiger: Vgl. CH Progn. 22,9; 23,18; 24,3; CH Art. 50,10.44; CH Aph. II 12,2 u. ö. Aus dem Feld der antiken Gynäkologie wäre hier auch an die verschiedenen Hystera-Leiden zu denken. Im Hintergrund ihrer Definition steht die Vorstellung, dass die Gebärmutter ein lebendiges Organ darstellt, welches sich wie ein Tier im weiblichen Körper bewegt und damit verschiedene körperliche Störungen auslöst. Vgl. zum Umgang mit entsprechenden Gebärmuttervorfällen die berühmte Beschwörung in PGM VII 260–271, wo die Gebärmutter personifiziert und als ein umherwanderndes und gefräßiges Körperorgan aufgefasst ist (vgl. Plat. Tim. 91c); es handelt sich um eine dämonologische Konzeptualisierung des weiblichen uterus. Zur möglichen Nachwirkung in jüdisch-magischen Texten aus der Kairoer Geniza vgl. SCHÄFER/SHAKED, Texte, Bd. 1, 115–118. Vgl. zu antiken Konstruktionen des Krankheitsbildes „Epilepsie“ V. BENDEMANN, Heilige Krankheit, 11–44 (siehe in diesem Band 125–156).
„Vom Rückfall“ (Lk 11,24–26 par) Diese originelle Lesart bei ONUKI, Tollwut, 358–374. Zur „Tollwut“ als Hydrophobie vgl. bereits Aristot. hist. an. VIII 22, 604a; Plin. nat. XXIX 98 –102; Cels. med. V 27; Colum. De re rustica VII 12. Vgl. STAMATU, Art. Tollwut, 870f.; WINKLE, Geisseln, 902–941, 1435–1445. Aus einer langen Kette entsprechender Bestimmungen in der antiken Medizinhistorie sei hier noch einmal Caelius Aurelianus angeführt: „Est agnitio hydrophobiae appetentia vehemens atque timor potus sine ulla ratione [...]“ (Cael. Aur. acut. Liber III 101); Caelius Aurelianus führt verschiedene Beispiele aus der Tradition an. So sei nach einem Bericht des Artorius ein Soldat, der an Hydrophobie erkrankt war, erbost darüber gewesen, dass er, obwohl er sich im Krieg in keiner Situation gefürchtet hatte, nun durch den Anblick von Wasser „von einer unaussprechlichen Furcht in Schrecken versetzt wurde“ – „metu inenarrabili terreretur“ (Cael. Aur. acut. Liber III 104). Nach einem Bericht des Eudemos, eines Anhängers des Themison, wurde ein an Hydrophobie erkrankter Arzt durch seine eigenen Tränen zum Zerreißen seiner Kleider veranlasst, und nach einer Notiz des Soran fürchtete sich ein an Tollwut erkranktes Kleinkind sogar vor der Flüssigkeit aus den Brüsten seiner Mutter (Cael. Aur. acut. Liber III 105). Mit der Möglichkeit, dass zeitgenössische Leserinnen und Leser Lk 11,24 „medizinisch“ auch als auf „Tollwut“/Hydrophobie bezogen lesen konnten, ist umso mehr zu rechnen, da entsprechende Vorstellungen auch im antiken Judentum begegnen und hier – wie in Lk 11,24–26 – auch mit dämonologischen Erscheinungen und Fragen der Reinheitstora verbunden sein können. Vgl. die Diskussion der Texte mJom VIII 6; bJom 83b –84b; jJom VIII 45b; jTer I,40b; jGit VII 48c sowie bHag 3b bei ONUKI, Tollwut, 360– 365. Die Begriffe und Vorstellungen changieren. In bJom 84b ist die Hydrophobie in der Aussage des Abaje angedeutet, der nicht nur auf die in antiken „Tollwut“-Texten immer wieder erwähnte Haut einer Hyäne als Therapeuticum verweist, sondern im Zusammenhang der Aufnahme von Wasser das Sehen des Schattens des Dämons verhindern will. Die Vorstellung vom „Hundemensch” bzw. der Lykanthropia, die jTer I 40b sowie jGit VII 48c (vgl. bHag 3b) voraussetzen, ist anders gelagert. Lykanthropia in jGit VII 48c ist mit Unreinheitsphänomenen korreliert. Die zentralen Elemente von Lk 11,24 – 26 par finden sich auch in Hippol. haer. 9,15,4–16,1 (ONUKI, Tollwut, 365 –366). „Tollwut“ / Hydrophobie kann auch in nichtjüdischen und nichtchristlichen antiken literarischen Zeugnissen dämonologisch aufgefasst werden. Für die Vorstellung von Schadensgeistern in der Gestalt „schneller Hunde“ (vgl. die κυνώπιδες θεαί, bei Eur. El. 1252) ist zunächst an das sogenannte „dämonische Proömium“ des vierten Buches des Apollonius von Rhodos zu denken (Apoll. Rhod. IV 1665–1669a; hierzu: SCHAAF, Magie, 318f.). Ausdrücklich spricht Lukian im Zusammenhang der „Tollwut“ von Dämonen. In Lukians „Nigrinos“ wird der von der Philosophie des Nigrinos Affizierte in den Kontext von „Tollwut“ gestellt. Diese übertrage sich auf andere, so dass auch sie „wahnsinnig werden“; in Folge der Übertragung der Krankheit komme es zu einer „großen Nachfolge der Raserei“ (Lukian Nigr. 38). D. h., die (metaphorische) Rede von „Tollwut“ hat einen festen Ort in der rhetorischen Demarkation (vgl. Lk 11,14ff.). An einer korrespondierenden Stelle vergleicht Philokles in Lukians „Lügenfreunden“ die Übertragung von Lügen mit dem Biss durch einen Tollwütigen. In diesem Zusammenhang ist vom Angefülltsein seines Sinnes mit Dämonen die Rede (οὕτω δαιμόνων μοι τὴν ψυχὴν ἐνέπλησας ; Lukian Philops. 40). Zu den betreffenden Stellen im „Nigrinos“, in den „Lügenfreunden“ wie auch in Hermotimos 86 und Dipsades 9 siehe WÄLCHLI, Studien, 150–152. Zu magischen Rezepten gegen Tollwut siehe Plin. nat. XXVIII 8; XXIX 32.98 – 102. Zur iatromagischen Bedeutung des Hundes: MACHOLD, Scribonius, 54f.; zur Tollwut in den Rezepten des Scribonius Largus: MACHOLD, Scribonius, 43–44,47,52,55,88. Allerdings gelingt eine Vermittlung nicht glatt, und entsprechende „Übersetzungsversuche“ stoßen an die Grenzen konzeptioneller Differenzen. So ist in Lk 11,24–26 nicht von Hunden, einem Biss durch sie o. ä. die Rede, und auch der in den griechischen „Tollwut“-Texten zumeist begegnende griechische Wortstamm λύττ-/λύσσ- fehlt. In den medizinischen Texten stehen zwar „Tollwut“ und „insania“ nahe beieinander; allerdings gilt „Tollwut“/Hydrophobie nicht als ein fiebriges Leiden. Und darum gehören Rekadenzen nicht konstitutiv zum Krankheitsbild.
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Mit anderen Worten: Bei Leserinnen und Lesern, die Kontakte zu anderen medikalen Kulturen ihrer Zeit besitzen, fängt hier bereits im ältesten Christentum eine allegorische Lektüre der Wundererzählungen an, wie sie im Fall der Deutung der „Rückfall“-Geschichte Lk 11,24–26 par teilweise auch in der neuzeitlichen Forschungsliteratur weiter fortgeschrieben wird. 51
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In Lk 11,24–26 ist, wie wir sahen, innerhalb des dämonologischen Konzeptes von einer (bestimmten) „Krankheit“ nicht die Rede. So wird der Text dann aber häufig gelesen: Vgl. exemplarisch LUZ, Evangelium, Teilbd. 2, 282: „Rückfall in eine Krankheit“.
Auditus et Testamentum Die Heilung des Tauben/Stummen in der Dekapolis (Mk 7,31–37) Die Sondergut-Erzählung von der Heilung des Tauben/Stummen in der Dekapolis (Mk 7,31–37) ist unter den neutestamentlichen Therapiegeschichten von der Forschung vergleichsweise stiefmütterlich behandelt worden.1 Der Text steht bis heute zumeist im Schatten der umfänglicher traktierten Gesetzesproblematik in Mk 7,1–23.(24–30), vor allem aber der jede Markusexegese intensiv beschäftigenden, grundlegenden christologischen Texte des 8. Kapitels. In Hinsicht auf das konkrete Leiden aber besteht ein deutliches Missverhältnis zwischen den häufiger und umfassender analysierten Phänomenen der Blindheit und der nach ihren antiken Voraussetzungen wie ihrer textuellen Wertigkeit wenig untersuchten Taubheit/Stummheit. Berichtet der Evangelist zwei Blindenheilungen an entscheidenden Gelenkstellen seines Erzählgerüsts (Mk 8,22–26; 10,46–52) und sind dem zahlreiche weitere Blindentherapien in frühchristlichen Texten bzw. einschlägige Notizen zur Seite zu stellen, so kann man – angesichts einer einzigen ausgeführten Tauben/Stummenheilung im Neuen Testament (zum Problem von Mk 9,14–27 s. u.; vgl. die summarischen Texte Mt 9,32f.; 11,5 par Lk 7,22; Mt 12,22 par Lk 11,14; Mt 15,30f.) – hierin zugleich das Muster einer bereits in der Antike vollzogenen Wertung unter den Hauptsinnesorganen finden.
1.
Vom Sinn des Gehörs
,,Alle Menschen streben von Natur nach Wissen; dies beweist die Liebe zu den Sinnen. Denn abgesehen von ihrem Gebrauch/Nutzen werden sie um ihrer selbst willen geliebt [...]“. So kann Aristoteles den hohen Stellenwert der Sinnesorgane hervorheben, wie er als Indikator eines natürlichen Wissenstriebes gilt (metaph. I 1 980 a 21). Allgemein griechischer Einschätzung entspricht es, * 1
Ursprünglich erschienen in: Systematisch Praktisch. FS Reiner Preul (MThSt 80), Marburg 2005, 55–69. Siehe Literatur bei GNILKA, Evangelium, Teilbd. 1, 295; MARCUS, Mark, 471–481; DONAHUE/ HARRINGTON, Gospel, 243; FRANCE, Gospel, 299–304 (mit Anm.).
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Auditus et Testamentum
wenn Aristoteles dabei im Vergleich zu den übrigen Sinnen den Augen höchste Prävalenz zumisst ([…] καὶ μάλιστα τῶν ἄλλων ἡ διὰ τῶν ὀμμάτων […]). ,,Denn nicht nur um zu handeln, sondern auch wenn wir nichts tun wollen, ziehen wir das Sehen allem anderen (resp. allen anderen Sinnesbetätigungen) ganz und gar vor ([…] τὸ ὁρᾶν αἱρούμεθα ἀντὶ πάντων ὡς εἰπεῖν τῶν ἄλλων) […]“ (vgl. auch Plat. Tim. 47 a–b zum Sehvermögen als göttliche Gabe). Vor dem Hintergrund solcher Hochschätzung des Schauens bedeutet Blindheit „[…] doppeltes Unglück, des Leibes und der Seele […]“2. „Denn besser, du lebtest nicht mehr als lebend blind“ (κρείσσων γὰρ ἦσθα μηκὲ ὢ ἢ ζῶν τυφλός), so deutet der Chor das Geschick des Oedipus bei Sophokles (Oid. T. 1368).3 1.
Zugleich bedenkt die Antike in verschiedener Weise den physiologischen Zusammenhang der Hauptsinne.4 Bereits Heraklit sieht eine besondere Interdependenz von Augen und Ohren zur ψυχή (Frgm. 107: „Schlechte Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, wenn die Seele deren Sprache nicht versteht“ [SNELL]). Unter der genannten Perspektive gelten dabei die Augen als zuverlässigere Zeugen im Vergleich mit den Ohren (Frgm. 101 a [SNELL]: Ὀφθαλμοὶ γὰρ τῶν ὤτων ἀκριβέστεροι μάρτυρες; vgl. Plat. Phaidr. 250 d; vgl. auch Philo sacr. 34; Spec. leg. IV 60 u. a.).5 Solch höhere Wertigkeit spiegelt sich auch im sozial-politischen und rechtlichen Umgang mit den verschiedenen Leiden. „Blinde“ gelten unter Einschränkungen als die gewissermaßen „anerkannteren“ Kranken im Vergleich mit tauben und stummen Menschen. Eine recht deutliche traditionsgeschichtliche Spur verbindet dagegen die Tauben/Stummen mit Attributen wie Uneinsichtigkeit, Egozentrik, Unbeherrschtheit, Misstrauen, Dummheit, Schwachsinn oder Wahnsinn.6 Schon bei Aristoteles heißt es: „Deshalb sind
2
ESSER, Antlitz, 116. Zugespitzt: Die Griechen sind das ,Augenvolk der Antike‘ (MICHAELIS, Art. ὁράω κτλ., 319). Vgl. neben vielen anderen Stellen Suet. Aug. 53,3: Der erblindete Senator Gallus Cerinnius spielt mit dem Gedanken des Selbstmordes, von dem ihn kaiserlicher Zuspruch abbringt. Zu den Masken der Blinden im antiken Theater: ESSER, Antlitz, 145. Auf der Basis der Vorstellungen der Mischung von Körpersäften (vgl. CH Insan. 19, zur Funktion des Gehirns in diesem Zusammenhang; WEISSENRIEDER, Images, 117 Anm. 204) kann die Interdependenz beider Krankheitsphänome erklärt werden (vgl. CH Carn. 18,7f.; anders: Morb. II 21). Der Verlust der Sehfähigkeit steigert die Fähigkeit des Gehöres als des komplementären Rezeptionssinns (vgl. Cic. Tusc. 5,40 [117]; vgl. Plat. symp. 219 a). Im Blick auf die Berührung mit Göttlichem können sowohl der Sehsinn als auch der Hörsinn in vergleichbarer Weise sanktioniert werden. Propertius kann sagen: „Qui videt, is peccat“ (elegiae II 32); zu den Augenvergehen vgl. weiter Plut. Alex. 3 (665 e); Ov. epist. ex Ponto I 1,53–58; Plut. Parallela Graeca et Romana 17 (mor. 309 F-310 A); Kall. h. 5 (101f.) u. a. Vgl. auch Cic. de orat. 40f.: „[...] am meisten den Augen, deren Sinn der schärfste ist [...]“. Weitere Belege bei: HORST, Art. οὖς κτλ., 549 mit Anm. 57. Vgl. exemplarisch die Liste von Negativattributen in der Schilderung des schlechten Seelenrosses Plat. Phaidr. 253 e. Zur Differenz von Blinden und Tauben/Stummen in der
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von denjenigen, die von Geburt an eines der beiden Sinne [sc. Augenlicht bzw. Gehör] beraubt sind, die Blinden verständiger als die Tauben und Stummen“ (Aristot. parv. nat. 437 a). Zugrunde liegt in Verbindung mit der Anschauung des Ohres als „Pforte des Geistes“ die Vorstellung des „nihil est in intellectu, quin prius fuerit in sensu“. 2.
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Andere und besondere Wertigkeit gewinnt das „Hören“, mit ihm aber auch das entsprechende Leiden, in alttestamentlichem bzw. frühjüdischem Kontext. Eine physiologische Erklärung des Höraktes ist solcher Sichtweise grundsätzlich fremd. Im Alten Testament bezeichnet das von Gott geschaffene (vgl. Ps 93,9; Spr 20,12LXX) Ohr zugleich die Funktion der Hör- und Einsichtsfähigkeit.7 Derart qualifiziertes Hören hat eine Prävalenz vor dem Sehen besonders da, wo es um den Empfang göttlicher Offenbarungen geht. Allerdings sind keine schiefen Alternativen gegenüber dem Sinn des Sehens zu errichten (vgl. Mt 13,16; vgl. die Rezeption von Jes 6,9f. im Frühjudentum und frühen Christentum), und umgekehrt kann auch in ,paganen‘ Texten den Ohren eine vergleichbare Funktion zukommen.8 Die folgende Analyse von Mk 7,31–37 zielt zunächst auf den Nachweis, dass der Sinn dieser Geschichte nur auf der Basis einer präzisen Beachtung des konkreten Leidens des surdus/mutus zu bestimmen ist (Pkt. 2.). Von hier aus ist in einem weiteren Schritt die gegliederte Therapie zu beleuchten, von der Mk 7,31–37 erzählt (Pkt. 3.). Schließlich gilt es, den engeren Kontext der sozialen Wertigkeit: KÜSTER, Blinde, 5f.; 31: „Der Taubstumme wurde von den meisten Rechtshandlungen ausgeschlossen, der Blinde dagegen weitgehend einem Gesunden gleichgestellt“; a. a. O., 18 mit Anm. 75; a. a. O., 25, zum Gebrauch von ἐνεός bei Aristoteles. Vgl. Ov. trist. V 6,31: „Blinden auch weicht man aus wie denen, die die praetexta/ehrwürdig macht, der gebietende Stab zugleich mit dem Zuruf“; zu Ansätzen sozialer Fürsorge für Blinde in der Polis vgl. ESSER, Antlitz, 114f. Der Blinde verfügt in der Regel über ein besonderes Gedächtnis. Diodotus erteilt erblindet Geometrieunterricht (Cic. Tusc. V 39,113); vgl. Philostr. Ap. VIII 7: trotz Verlustes der Sehkraft wird das Ziel nicht verfehlt. Zu vergleichen sind vor allem die Seher-Gestalten, unter denen der blinde thebanische Seher Teiresias hervorragt, der nach Apollod. III 69ff.,84f.,94 mit Blindheit gestraft wurde, da er göttliche Mysterien preisgab (anders die Erklärung der Blindheit des Teiresias in Ov. met. III 316ff.). Noch in der Unterwelt vermag er Odysseus zu beraten (Hom. Od. X 11). Zu Teiresias als Orakelgottheit vgl. Plut. mor. 434 c; Diod. IV 67. Vgl. V. GEISAU, Art. Teiresias, 558. Weiter weiß man in der Antike von einer namhaften Zahl erblindeter Philosophen (Heraklit; Demetrios von Phaleron; Antipatros von Kyrene; Asklepiades u. a.). Zum Mythos von der Selbstblendung des Demokrit vgl. Cic. fin. V 29,87; Cic. Tusc. V 29,113f. (hier zu weiteren blinden Philosophen). HORST, Art. οὖς κτλ., 546; a. a. O., 545–549; zugleich erstreckt sich damit das Hören auch auf geistige Vollzüge; zu Philo und Josephus a. a. O., 549f. Vgl. HORST, Art. οὖς κτλ., 545, zu den figürlichen Exvoto-Darstellungen von Ohren im Zusammenhang des Asklepioskultes und zu PGM VII 329f. (vgl. KITTEL, Art. ἀκούω, 222f.). Vgl. das Weihrelief von Woburn Abbey, das dem Dank für die Heilung eines Ohrenleidens Ausdruck gibt. Vgl. die attischen „aures religiosae“ bei Cic. de orat. 9,28.
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Auditus et Testamentum Erzählung im zweiten Evangelium zu beachten, innerhalb dessen Markus die Heilung der Erkrankung codiert (Pkt. 4.). Am Ende stehen Folgerungen und Ausblicke im Blick auf die Integration der Krankheit als Teil der literarischtheologischen Gesamtkonzeption (Pkt. 5.).
2.
Surdus mutus – surdus aut mutus – surdus sive mutus? Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Krankheitsbildes in Mk 7,31–37
Der Begriff des „Taubstummen“, wie er zumeist auch in den Überschriften der Bibelübersetzungen von Mk 7,31–37 gebraucht wird, ist ein Modernismus, basierend auf neuzeitlich kultureller Konstruktion. Die Antike kennt diesen summarischen Begriff so nicht.9 Zielsprachlich ist er zudem seit der Mitte des 20. Jahrhunderts strittig geworden.10 Eine nach Zeiten, Kultur- und Literaturkreisen erheblich zu differenzierende Darstellung des Krankheitsbildes der surdi muti in der Antike vermag auf wenige Vorarbeiten in der Forschung zurückzugreifen. Diese Lücke ist hier in keiner Weise zu schließen. Einige wenige Fingerzeige auf vergleichbare Bezugspunkte sollen das Problem schärfen. In Hinsicht auf Mk 7 erweist sich insbesondere eine Beachtung der rechtlichen Stellung von surdi muti in hellenistisch-römischer Zeit als weiterführend. 1.
Taubheit und Lähmung der Zunge – teils einhergehend mit Fieber (vgl. CH Epid. VII 25) – können in hippokratisch medizinischen Texten als Ausdruck schweren, potentiell tödlichen Leidens evaluiert werden.11 Wer nicht hören und sich nicht konventionell verständigen kann, ist in seinen sozialpolitischen Bezügen isoliert und auffällig,12 er gilt als potentiell verlassen und auf Seiten der Elenden und Armen. 13 Lev 19,14LXX mahnt in
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Allerdings weiß bereits Aristoteles, dass taub Geborene nur ungeordnet zu sprechen vermögen; vgl. Plin. nat. X 59,192: „Auditus cui hominum primo negatus est, huic et sermonis usus ablatus: Nec sunt naturaliter surdi, ut non iidem sint et muti”. Siehe SCHMELING, Art. Taubstumme, 1279; KÜSTER, Blinde, 23. Vgl. WALTHER, Geschichte; WERNER, Geschichte; KRÖHNERT, Bildung; BENDER, Conquest; vgl. KRUSCHE, „Taubstummheit“, 136–142; KUIPER, Überlegungen, 118–135; PÖHLE, Situation, 143–149. Zur etymologischen Verbindung von „taub“ und „doof“ vgl. KLUGE, Wörterbuch, 908. WEISSENRIEDER, Images, 116 mit Anm. 200 (zu CH Coac. 193f.); a. a. O., 114–121, zur Krankheitsrekonstruktion von Taubheit/Stummheit im Corpus Hippocraticum. Vgl. das „Winken“ des Zacharias nach seinem Verstummen in Lk 1,22, das den Aspekt einer Verständigung inkludiert (vgl. Vita Aesopi 4; Diod. XVII 37,5; Plut. mor. 63 b u. a.). Vgl. die Worte an Lemuel in Spr 31,8f.; anders LXX. Zu אלםNiph. vgl. ferner Jes 53,7 vom stummen Leiden des Gottesknechtes; Ez 3,26; 24,27; 33,22: der von Gott ad temporem zum Verstummen gebrachte Prophet; vgl. anders Ps 31,19; 39,3.10.
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einer Reihe von Basisforderungen an die nachexilische ‚Gemeinde‘: οὐ κακῶς ἐρεῖς κωφόν. Im Hintergrund steht, dass der Taube/Stumme sich nicht gegen üble Nachrede zu verteidigen vermag. Soziale Implikationen und Folgen der Taubheit/Stummheit sind dabei nicht auf ein gemeinsames kulturelles Muster zu reduzieren. Eine Entscheidung darüber, ob Taubheit/Stummheit bereits in der Antike ein häufiger das männliche Geschlecht zumal unterschichtiger Gruppen betreffendes Phänomen darstellt14, lassen die Quellen nicht zu. Surdi muti wurden als schwer erziehbar, minderwertig, unheilbar und schwachsinnig eingestuft15. Der Taube/Stumme ist für Ausbildung und anspruchsvollere Arbeiten indisponiert. Ein – freilich hyperbolisches – Beispiel bietet die Vita Aesopi. Dem phrygischen Sklaven Aesop sind gleich zu Beginn der Erzählung Taubheit und Redeunfähigkeit innerhalb eines breiten Spektrums von körperlichen Gebrechen zugeschrieben, die ihn für die Arbeit in der Stadt ungeeignet machen.16 2.
Diffiziler zu bestimmen sind die Nuancierungen religiöser Wertigkeit des Leidens. Da die Sprache in antikem Verständnis als Gabe der Götter gelten kann, ist ihr Entzug göttlicher Strafe zuzuschreiben bzw. auf den Einfluss widergöttlicher Potenzen zurückzuführen. Solche Vorstellungen stehen im Ansatz der Möglichkeit einer (menschlich vermittelten) Therapierbarkeit entgegen.17 Sie führten zugleich auf das Problem dämonologischer Krankheitsdeutung (vgl. Schurpu VII 33; Plut. mor. 438 b; PGM XIII 242–244). Wer nichts erwidern kann oder unartikuliert in abgehackten Fetzen redet, zudem einhergehend mit auffälliger Mimik, kann als Objekt dunkler Mächte und Kräfte gelten. Ist eine pandämonologische Deutung der Krankheiten in den frühchristlichen Therapieerzählungen unbedingt zurückzuweisen und differenziert keineswegs erst Lukas, sondern vielmehr schon Markus deutlich zwischen Exorzismen und Therapien (vgl. Mk 1,34),18 so können frühchristliche Texte gleichwohl an solcher Dämonologisierung partizipieren. Entsprechendem Changieren sind auch die Phänomene von Taubheit/Stummheit ausgesetzt (besonders Mt 9,32f.; Lk 11,14)19. Unsicher
14
KÜSTER, Blinde, 6f. KÜSTER, Blinde, 13f.; FERRERI, Sordimuti, 41, 46f.; DERS., Letteratura, 369–373. Vita Aesopi 1f.; vgl. die Arbeitsunfähigkeit in Baba qamma 85 b (PREUSS, Medizin, 335). Vgl. WERNER, Geschichte, 2–8. Siehe hierzu GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 249–269. In Mt 12,22 ist der κωφός zusätzlich blind und damit in jeder Hinsicht rezeptionsunfähig. Die primäre Definition bietet jedoch das κωφός-Sein (vgl. 12,22c). Matthäus nennt statt der unbestimmten Gruppe die Pharisäer (Mt 12,24a), damit aber dasjenige Kollektiv, welches sich innerhalb seiner Erzählung vorrangig durch Verschlossenheit der Sinne gegenüber dem Heilsangebot auszeichnet (vgl. Mt 23,26; die blinden Wegführer in Mt 15,14; 23,24; vgl. Röm 2,19). Vgl. anders die Variante in Mt 9,32f., wo der κωφός ein dämonisch Besessener ist. Zu Mk 9,14–29 siehe V. BENDEMANN, Heilige Krankheit, 11–44 (siehe in diesem Band 125–156).
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Auditus et Testamentum bleibt dabei die Deutung des Leidens in Mk 9,24–27. Wahrscheinlich ist, dass Mk 9,25 nicht vorrangig Stummheit dämonologisch reinterpretiert. Vielmehr ist κωφός in Verbindung mit ἄλαλος (Mk 9,17.25) in den Verbund epileptischer Symptome einzureihen.20
3.
Ein Schwerpunkt der Thematisierung der Tauben und Stummen in den antiken Quellen liegt in juristischen Texten. Die rechtliche Stellung der surdi muti musste mit Notwendigkeit dort umstritten sein, wo mündliches Zeugnis zu leisten und zu rezipieren bzw. attestieren war.21 Hierbei wird regulär zwischen Tauben und Stummen erkennbar differenziert (vgl. das „sin autem infortunium discretum est, quod ita raro contigit“ bei Inst. Iust. II 12 § 3/C. 6,22,10), so dass dort, wo beide Leiden gemeinsam avisiert sind, dies ausdrücklich notiert sein kann (surdus mutusque; surdus idemque mutus etc.), häufig aber in voriustinianischer Zeit auch beide Krankheiten summarisch verhandelt werden. „Surdi“ sind nach Gaius (dig. 44,7,1 § 15; vgl. auch noch Inst. Iust. 11 12 § 3) die, denen überhaupt kein Hören möglich ist. Rechtliche Differenzierungen zwischen taub Geborenen und erst später Verstummten etc. finden sich erst spät. Wohl begegnen auch Bestimmungen zugunsten Tauber/Stummer (surdi/muti)22 und gibt es eine Entwicklung in der rechtlichen Einschätzung, doch war ihnen in klassischer und spätklassischer Zeit die Partizipation am Rechtsverkehr im Unterschied zu den Blinden in den meisten Fällen versagt. „Surdus mutus testamentum facere non possunt”, so heißt es dig. 28,1,6 § 1
20
Anders hat BORNKAMM, Πνεῦμα, 21–36 (vgl. bereits BULTMANN, Geschichte, 225; vgl. anders SCHENK, Tradition, 76–94) eine Vorform der Erzählung rekonstruiert, in der zusätzlich oder alternativ zur Epilepsie von einem Taubstummen erzählt worden sei. Aphasie kann jedoch auch in antik-medizinischen Texten unter die Symptome der Epilepsie gerechnet werden. Zur (vorübergehenden) Stummheit (Mk 9,17.25): CH Morb. sacr. VII 1; Epid. VII 46; X 6; zur Hörunfähigkeit vgl. Aret I 5,5. Im römischen Recht hängt dies mit dessen vorrangig privatrechtlichem Charakter zusammen. Römische Rechtstexte traktieren das Problem der surdi/muti häufiger als das der Blinden (vgl. KÜSTER, Blinde, 2). Auf die Einzelprobleme der Rechtshistorie ist im Folgenden nicht einzugehen (zur Frage der Verankerung von surdi/muti im Zwölftafelgesetz: a. a. O., 158–164). Vgl. zur (späteren) frühjüdischen Einschätzung PREUSS, Medizin, 337: „Schon der Schwerhörige gilt geistig als nicht ganz einwandfrei, der cheresch [...] aber ist sicher nicht im Besitz seines vollen Verstandes (law bar de ‘ah), sein Verstand ist schwach (q‘ lischtha), so dass er zwar körperlich arbeiten, aber nicht überlegen kann [...]“ (unter Verweis auf Chag. 2 b; Jeb. 113 a; Maksch. VI 1). Taubheit/Stummheit können in bNed. 20 a als Folge illegitimer sexueller Praktik gewertet werden. In 1Q28a II 5ff. sind die Tauben und Stummen neben den Blinden von den „Männern des Namens“ ausgeschlossen (vgl. CD XV 15; anders 1QM VII 3b–6). KÜSTER, Blinde, 66f., zur venia debilium für taube und stumme Sklaven; a. a. O., 90f., zum Soldatentestament; a. a. O., 92–95, zur kaiserlichen venia; a. a. O., 113f, zur Möglichkeit, als Erbe eingesetzt zu werden; a. a. O., 147, zur Entlastung von honores civiles; a. a. O., 154–156, zur eingeschränkten Postulationsfähigkeit.
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(Gaius libro septimo decimo ad edictum provinciale). Auch Ulpian begründet die Unmöglichkeit für Stumme und Taube, ein Testament zu machen: Dem einen ist es untersagt, weil er (die Worte der Nunkupation) nicht sprechen kann, dem anderen, weil er (die Worte des familiae emptor) nicht hören kann (Ulp. Epit. 20,13).23 Der allein Stumme durfte aber selbst dann kein Testament ablegen, wenn er erst während der Testamentserrichtung verstummte. „Si quis, qui testamentum faceret, heredibus primis nuncupatis, priusquam secundos exprimeret heredes, obmutuisset, magis coepisse eum testamentum facere quam fecisse Varus digestorum libro primo Servium respondisse scripsit [...]” (dig. 28,1,25 [Iavolenus libro quinto posteriorum Labeonis]). Surdi muti waren von Formalgeschäften wie der Stipulation ausgeschlossen (z. B. dig. 44,7,1 §14f./Gaius libro secundo aureorum; dig. 45,1,1 pr./Ulpianus libro quadragesimo octavo ad Sabinum). Sie galten als nicht zeugnisfähig, die manumissio vindicta war ihnen untersagt. Die Möglichkeit, Ämter zu übernehmen, war erheblich eingeschränkt. Die Frage, inwieweit ihnen die Ehe gestattet war, ist strittig. Wie einem „furiosus“ konnte man ihnen einen „tutor“ oder „curator“ zuordnen (vgl. dig. 26,5,8 § 3/Ulpianus libro octavo de omnibus tribunalibus24). 4.
Nähert man sich von solchen Beobachtungen aus Mk 7,31–37, so ist zunächst festzuhalten: An einer Erhellung der Ätiologie der Krankheit hat der Text kein primäres Interesse. Leitsymptomatisch sind allein das mangelnde Hörund Sprechvermögen fixiert (vgl. 7,37). Eine Profilierung der sozialen Parameter ergibt sich erst aus einer Analyse des erzählerischen Kontextes (s. u. Pkt. 4.). In Hinsicht auf die religiös-theologische Deutung des Leidens ist eine dämonologische Interpretation nicht a limine zurückzuweisen. Sie findet partiellen Anhalt in der Rede von der ,Fessel der Zunge‘ (Mk 7,35; vgl. im Kontext auch 7,25f.29f.; vgl. Lk 13,16; vgl. die Rede von der ,Bindung‘ der Zunge in SIG3 1175)25. Möglich ist jedoch auch, dass hier metaphorische Redeweise jenseits eines fest umrissenen Konzepts von Besessenheit vorliegt.26
23
Dies gilt für Manzipations- und praetorische Testamente. Weitere Belege bei KÜSTER, Blinde, 83–90. Zur Frage einer Interpolation: KÜSTER, Blinde, 54f. Siehe die Belege a. a. O., 58–62. Siehe KOLLMANN, Christen, 231 mit Anm. 43; 232 Anm. 48 zu PGM IV 3039f. In der hippokratischen Medizin gilt die Luft des Atems als Vehikel der Sprache; Stummheit resultiert aus einer Fehlfunktion der Zunge (vgl. KÜSTER, Blinde, 18f. Anm. 79). Vgl. Cael. Aur. chron. II 41 zur Therapie im Fall des Versagens der Zunge. Zur Erkrankung der Gehörgänge („quos Graeci acusticos poros appellant [...]“): Cael. Aur. chron. II 65–70. Zu den chirurgischen Behandlungsmöglichkeiten von Ohrenleiden: Cels. med. VII 8f.; hierzu: SCHULZE, Celsus, 65f. Zur Spezialisierung antiker Ärzte auf Gehörleiden: KÜNZL, Medizin, 51f., 71. Zur vielfach unheilvollen Geschichte medizinischer Therapieversuche der Tauben/Stummen: WERNER, Geschichte, 26ff., 44ff.
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Auditus et Testamentum Jedenfalls vollzieht sich die Heilung insgesamt nicht als Exorzismus. Von einem Dämon oder (unreinen) Geist ist nicht die Rede, entsprechende Auseinandersetzung des Wundertäters mit einem solchen fehlt folglich ebenso wie das Motiv der Gegenwehr oder eine stilgerechte Apopompe. Aufschlussreich ist nun aber, dass der markinische Text in weit reichendem Einklang mit der erkennbaren Grundunterscheidung von surdus und mutus zwischen dem Phänomen der Taubheit und dem des Stummseins bzw. der Unfähigkeit zu artikulierter Rede differenziert. Beachtet man die Erzählsukzession, so fällt auf: Die Geschichte hebt auf der Basis des per se doppeldeutigen κωφός zunächst die Taubheit hervor. Dies kongruiert insbesondere auch mit dem Sprachgebrauch der Septuaginta (vgl. Ex 4,11 [syntagmatisch mit Blindheit]; Jes 29,18; 35,5; 42,19; 43,8; Ps 37,14; 57,5f. – LXX; vgl. im NT: Mt 11,5 par; anders Mt 9,32f.; 12,22 par Lk 11,14; Mt 15,30f.; Lk 1,22). Auch eine Auflösung des – für sich genommen mehrdeutigen – μογιλάλος („stumm“ oder „mit Mühe redend“)27 durch das καὶ ἐλάλει ὀρθῶς („und er redete richtig/verständlich“; Mk 7,35) greift mit solcher Lesart zusammen und lässt an jemanden denken, der (von früh an) das Sprechen nicht im gleichzeitigen Hören üben konnte. Zugleich aber verweist solche Auflösung auf einen differenzierten Doppelaspekt des Leidens von Gehörmangel und Sprachmangel. Solche konzeptionelle Differenzierung des surdus mutus eröffnet genauer die Möglichkeit eines Perspektivwechsels innerhalb der Erzählung. So verlagert das Finale im Unterschied zum Beginn der Geschichte den Aspekt der Rezeptionsunfähigkeit in den Hintergrund, um vielmehr das Problem der Kommunikationspotenz des Kranken fokalisieren zu können (vgl. zu ἄλαλος: Aischyl. Frgm. X A 75,4; Ctesias Frgm. III c 688 F 45; OrSib III 31; IV 7; VII 14 [von den stummen Götzenbildern]; Dion. Hal. comp. Verb. XIV 85; Doroth. Astrol. Frgm. Graec. 375,24; Plut. de def. or. 438 b – vgl. Mk 9,17.25; Artem. Oniroc. I 76,18; Ps 30,18; 37,14 – LXX u. a.).
27
Auf die Bedeutung „stumm“ verweist insbesondere die Parallelisierung in Jes 35,6. Anders dagegen: Aetius Amidenus VIII 38; Schol. zu Lucian p. 68,5; Anecd. Graec. I p. 100,22; siehe BAUER/ALAND, Wörterbuch, 1063f. Bei Ostanes Magus Alchem. II 261,14 wird μογιλάλος von Stummheit unterschieden; ansonsten bis zum 2. Jh. n. Chr.: Ael. Herod. de pros. cath. III 1,233; Iust. Mart. apol. 48,2,2; dial. 69,5,11; Vett. Val. Anth. IX 73,12.
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3.
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„Die Ohren der Tauben/Stummen werden hören […], und deutlich wird die Sprache des schwer Redenden sein“ (Jes 35,5f.LXX) – Zur Syntagmatik der Therapie des surdus mutus
Mk 7,32 wechselt nach der Erzähleinleitung ins erzählende Präsens und präsentiert so den Lesern den konkreten Fall. Bei der Gruppe derer, die den Kranken bringen (vgl. Mk 1,32; 2,3; zu παρακαλεῖν vgl. 1,40; 5,23; 8,22), handelt es sich um einen tertiären Erzählcharakter.28 1.
Die Bitte um Handauflegung (ἴνα ἐπιθῇ αὐτῷ τὴν χεῖρα) entspricht der Perspektive der Leser, die eben solchen Vorgang erwarten (so bereits Mk 5,23; 6,5; vgl. 8,23.25; 10,16; vgl. 6,2). Um so überraschender fällt nun freilich die demgegenüber ausbuchtende Heilungsschilderung im Erzählcorpus aus. Mk 7,33–35 berichtet einen siebenfach gestuften therapeutischen Vorgang über (1.) die Distanzierung von der Menge, (2.) das Legen der Finger in die Ohren des Kranken, (3.) das Ausspucken, (4.) das Berühren der Zunge, (5.) das Emporschauen Jesu zum Himmel, (6.) das Seufzen bis hin zu (7.) der im Griechischen bis ins 2. Jh. n. Chr. ansonsten nicht belegbaren Anrede des Kranken mit ἐφφαθά, die Markus wie in 5,41 und 10,46 übersetzt. Für den zweiten Evangelisten kennzeichnend ist die syndetische Verknüpfung. Diese erfährt weitere Struktur durch gestaffelte participia coniuncta und beschreibt auch in den Tempora eine gegliederte Sukzession von den Aoristen bis hin zum durativen Imperfekt in der Vermeldung des Heilerfolges (Mk 7,35fin.).
2.
Es handelt sich näherhin in Mk 7,33–35 um ein corpus mixtum von Praktiken, das in der besonderen Koordination singulär ist und (nicht allein auf der diachronen Ebene) zahlreiche Fragen aufgibt. Ad (1.): Ob die Distanzierung des Kranken von der Menge auf die Geheimhaltung der therapeutischen (resp. „magischen“) Praktiken hin entworfen ist, muss sehr unsicher bleiben. 29 Erzählimmanent ist derart der intime, ungestörte Kontakt von Heiltäter und Krankem sichergestellt.
28
Siehe hierzu EBNER, Schatten, 56–76. So KOLLMANN, Christen, 232, 234, u. a. im Anschluss an THEIßEN, Wundergeschichten, 70f.; GNILKA, Evangelium, Teilbd. 1, 297. Als ebenso fraglich muss gelten, ob der Text auf der Ebene des Markusevangeliums der ,Gemeinde‘ therapeutische Ratschläge kommunizieren möchte. Jedenfalls fehlt eine explizite Jüngeranweisung wie in Mk 9,28f. Auf der mk Ebene greift der Erzählzug – bei gewissen Spannungen (vgl. den Plural αὐτοῖς und die weite Resonanz in 7,36f.) – mit dem sog. „Messiasgeheimnis“ zusammen (vgl. auch die Absonderung in Mk 8,23).
29
226
Auditus et Testamentum Ad (2.): Es liegt eine besondere manuelle Praktik vor, die die Vorstellung bloßer heilkräftiger Berührung (vgl. ad [4.]) transzendiert. 30 Eine Verbindung zu Jesu Rede von dem „Finger Gottes“, mit dem er die Dämonen austreibt (Lk 11,20), ist nicht herzustellen, auch wenn ein exorzistischer Aspekt der Geschichte nicht gänzlich fremd ist (s. o. und ad [3.] u. [7.]). Ad (3.): Die Funktion des Ausspuckens ist im Text nicht so deutlich, wie dies in der Forschung und auch in Bibelübersetzungen zumeist suggeriert wird. Dass Jesus direkt auf/in das erkrankte Organ spuckt, ist anders als in Mk 8,23 (vgl. auch TSanh 12,10; bSanh 101a; ARN A 36) nicht gesagt – beide Texte sind hier nicht einfach zusammenzublenden. Zudem macht ein solcher Vorgang in Hinsicht auf die physischen Verhältnisse weniger Sinn. Näher liegt die Annahme, Jesus spucke hier auf dasjenige Organ, mit dem er die Berührung vollzieht (d. h. die Finger). Solche Lesart hat einen relativen Grad von Wahrscheinlichkeit aufgrund der syntaktischen Sequenz. Zunächst ist jedoch festzuhalten: Von einer Berührung mit dem Speichel (so auch im Luthertext interpretiert) ist im Text so oder so nicht explizit gesprochen.31 Sondiert man die Möglichkeiten, die für die Funktion des Speichels in Betracht gezogen werden, so ergibt zunächst eine hygienische Deutungsvariante vom Text Mk 7,31ff. her wenig Sinn.32 Nicht auszuschließen ist dagegen eine apotropäische Nuance des Aktes, wenn man in Mk 7,35 dämonologische Krankheitsdeutung nicht ganz ausschließen kann (s. o.). 33 Nutzt schließlich Jesus anders als in Mk 8,23; Joh 9,6 saliva nicht augenfällig als Medikament, so ist doch auf die generelle Bedeutung von Speichel in antiken Formen der Heilpraktik zu verweisen.34
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Vgl. pKet 12,35a, 43 (BILLERBECK II, 15): Die Berührung eines kranken Zahnes durch Rabbi Chijja. Anders viele: GNILKA, Evangelium, Teilbd. 1, 297: „Mit seinem Speichel netzt Jesus die gelähmte Zunge“; GUNDRY, Mark, 383; KOLLMANN, Christen, 232; DONAHUE/HARRINGTON, Gospel, 240; FRANCE, Gospel, 303. Bereits die handschriftliche Überlieferung sucht die einschlägige „Leerstelle“ zu füllen: vgl. v. l. in P45, W 0131; nach φ, sys spuckt Jesus dem Kranken direkt in die Ohren; nach dem D-Text (vgl. it) allerdings dient der Speichel nicht als direktes Therapeuticum. Vgl. WOHLERS, Krankheit, 134–136, zur Epilepsie: Schutz vor Ansteckung. Anders als bei Theophrast spuckt Jesus aber hier nicht in sein Gewand. Siehe die unterschiedlichen Funktionen des Ausspuckens bei MUTH, Träger, 10–18, der die Heilfunktion des Speichels der Vorstellung eines Partizipationsglaubens bzw. der der Lebenskraft weit reichend integriert. Vgl. auch BÖCHER, Dämonenfurcht, 218–220. Siehe hierzu MUTH, Träger, 15f., 26–64, 109, 116. Vgl. Plin. nat. VII 15; XXVIII 35-39; TestSal 7,3. Nach Plinius maior ist das Ausspucken („despuere“) Sitte in aller Art von Medizin („in omni medicina mos [...]“; Plin. nat. XVI 93; zum Speichel als „Medikament“: Plin. nat. XXVIII 4.7.25.37.76; hiervon möglicher Weise beeinflusst: Diosk. mat. med. I 67,2; Galen XII 288–290; Paul. Aig. VII 2). Vgl. CH Epid. V 80 (par VII 85), die Anfeuchtung der Zunge bei einem stummen Epileptiker; Cael. Aur. chron. II 6.22 (hier allerdings nicht Speichel, sondern eine Mixtur aus Öl und Wasser). Vgl. den berühmten Bericht von der Heilung
Auditus et Testamentum
227
Ad (4.): ἅπτεσθαι begegnet wiederholt in den markinischen Heilberichten. Vom Heiltäter geht die Handlung ebenfalls in Mk 1,41; 8,22 aus (vgl. 10,13; vgl. anders die Rede vom Ergreifen/Festhalten der Hand des Kranken: 1,31; 5,41; 9,27). Das Verb kann sonst markinisch auch auf die Heilung Suchenden angewandt sein, wobei der kranke Körperteil nicht spezifiziert ist (Mk 3,10; 5,27f.30f.; 6,56).35 Ad (5.): Die Erzähleraussage über das Aufschauen Jesu zum Himmel in Mk 7,34 lässt an ein Gebet denken (vgl. Mk 6,41, im Zusammenhang der Distribution von Brot und Fisch an die Jünger; vgl. Ps 123,1; Lk 18,13; Joh 17,1; vgl. Apg 7,55). Hier deutet sich grundsätzlicher Einklang mit jüdischer Praxis an (vgl. 1 Kön 17,21; Chag 3a [Heilung von zwei Stummen]; B Ber 34b; vgl. bTaan 19a). Festzustellen ist allerdings sogleich, dass solches Beten in den neutestamentlichen Heilungsgeschichten die Ausnahme und nicht die Regel darstellt (vgl. Mk 9,29 an die Jünger gerichtet; Joh 11,41f.; nachösterlich: Apg 9,40 von Petrus; 28,8 von Paulus; vgl. Jak 5,13–18; Apg 16,25). Ad (6.): Unsicher bleibt der Sinn des „Seufzens“, welches bei Markus und in den neutestamentlichen Geschichtsbüchern nur hier begegnet (diff. Mk 8,12: ἀναστενάζειν; vgl. anders Röm 8,23; 2 Kor 5,2.4; Hebr 13,17; Jak 5,9). Die in der Forschung viel zitierte Parallele aus der Mithrasliturgie differiert darin, dass hier von dreimaligem Luftholen die Rede ist. „Magische“ Konnotationen sind in Erwägung zu ziehen. 36 Doch handelt es sich in der gegebenen Syntagmatik um einen weiteren extravaganten Zug dieser Therapieerzählung, der sich einfacher funktionaler Zuweisung widersetzt. Ad (7.): Die Anrede ἐφφαθά verbalisiert den Vorgang als Befehl.37 Funktional entspricht das Wort einer ῥῆσις βαρβαρική.38 Daraus, dass Markus den
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durch Vespasian in Alexandria „oris excremento“: Tac. hist. VI 18; Suet. Vesp. VII; Cass. Dio. LXVI 8. Zu den jüdischen Parallelen (v. a. TSanh 12,10 parr.; bBB 126b): KOLLMANN, Christen, 232 Anm. 46; 235; spätere Therapiemöglichkeiten im Judentum: PREUSS, Medizin, 336. Vgl. MUTH, Träger, 17, zum Speichel als „Lebenssaft“; a. a. O., 82–85. Zur Behandlung von Ohrenleiden mit Kotheilmitteln: Plin. nat. XXVIII 174.177; XXIX 143; Diosk. mat. med. II 80,2; Galen XII 298.669 u. a. (hierzu MUTH, Träger, 136). Eine umfassende Aufarbeitung der differenten Arten manuellen Kontaktes in den frühchristlichen Therapieerzählungen ist ein Forschungsdesiderat (siehe hierzu BÖCHER, Christus, 80–84). In religionsgeschichtlichen Vergleichen wird häufig zu wenig zwischen verschiedenen Formen der Berührung, Anwendung und qualifizierter Handauflegung unterschieden. DIETRICH, Mithrasliturgie, 6, 64. Vgl. KOLLMANN, Christen, 233: „magische Technik zum Krafteinholen“, unter Verweis auf PGM IV 2492f.: ἀναστενάξας; XIII 945: στενάξας (a. a. O., Anm. 233); vgl. darüber hinaus IV 1406; VII 766-779. Auf die Bedeutung der Luft beim Hörvorgang reflektiert Theophr. sens. 40 (DIELS II 55,13ff.). Zur bis heute unklaren und umstrittenen Etymologie vgl. pars pro toto Literatur und Diskussion bei GUNDRY, Mark, 390. Vgl. Lukian Philops. 9; 31. Siehe Belege bei KOLLMANN, Christen, 233: Analog zu Mk 7,34 sind semitische Wunderwendungen (vgl. auch Act. Phil. 132) ebenfalls übersetzt im 8. Buch Mose XIII 150–152.458f.
228
Auditus et Testamentum Befehl für seine griechischsprachigen Leser übersetzt (wie in Mk 5,41; 15,22.34), ist dabei nicht eo ipso zu folgern, dass das Wort im Verständnis des zweiten Evangelisten seiner mächtigen („magischen“) Potenz entkleidet würde. Der Übersetzung kommt zunächst eine intradiegetische Funktion zu. Sichergestellt wird, dass die Erzählerrede in 7,35 den umgehenden Vollzug des Befehls mit demselben Verbalstamm fixieren kann: καὶ [εὐθέως] ἠνοίγησαν αὐτοῦ αἱ ἀκοαί. Es kommt so augenfällig die ἐξουσία Jesu zum Ausdruck. Die Rede vom sogenannten „wunderwirkenden Wort“ darf dabei nicht verdecken, dass es der in Mk 7,33ff. geschilderte Vorgang insgesamt ist, der die Heilung erwirkt.
4.
Jenseits des eigenen Sprachverbandes – Zum narrativen Ort des surdus mutus im Markusevangelium
Markus hat die Geschichte von der Heilung des Tauben/Stummen seinem Erzählkonzept planvoll integriert. Eine Orientierung über den narrativen Kontext liefert Aufschluss über die Reinterpretation von Krankheit und Heilung. 1.
Mk 7,31–37 gehört zu den narrativen Prämissen für 8,1–9, die Speisung der Viertausend, die der zweite Evangelist als Heiden-/Völkerspeisung inszeniert (vgl. die Frage in 8,4). Der Text ist damit insgesamt inkludiert von der Leitthematik des „Brotes“, ohne sie selbst zu berühren.39 Besonderes Augenmerk verdient aber die narrative Anbahnung im Gefälle der vorausgehenden episodischen Zusammenhänge.
2.
Nachdem das Summar Mk 6,53–56 die soweit erzählte Heiltätigkeit Jesu gebündelt und für den Fortgang der Erzählung fixiert hat, berichtet Mk 7,1–23 von einem Wertediskurs, der unter Nutzung der drei wichtigsten Auditorien im zweiten Evangelium inszeniert ist. Der (per se nicht weiter verfolgte) Konfliktpunkt des Händewaschens vor dem Essen wird zum Impuls einer Klärung der kardinalen Unterscheidung von „rein“ und „unrein“ – „heilig“ und „profan“ (vgl. die κοιν-Derivate in 7,2.5.15.18.20.23; vgl. 4 Makk 5,19ff.). Die Hauptopposition bietet in einem ersten Gang der Auseinandersetzung mit den Pharisäern und einigen Jerusalemer Schriftgelehrten (7,1-13) die Rede von der (heuchlerischen; vgl. Mk 7,6f./Jes 29,13LXX) „Überlieferung der Alten“ (vgl. Mk 7,3.5) resp. „Überlieferung der Menschen“/„eure[r] Überlieferung“ (7,8f.13) und der ἐντολὴ τοῦ θεοῦ (7,8f.13: λόγος τοῦ θεοῦ). In Mk 7,14 erwei-
39
Siehe zur leitthematischen Abschnittsbildung KLINGHARDT, Boot, 191–200.
Auditus et Testamentum
229
tert sich das Auditorium um die Menschenmenge. An sie ist das den Wertediskurs entscheidende Wort Mk 7,15 adressiert, bevor in 7,17ff. ein dritter Gang der Privatbelehrung an die Jünger einsetzt.40 Über die traditionelle Basis hinausgehend begreift der zweite Evangelist in der applicatio an die Adresse der Jünger die Position Jesu in der dominant heidenchristlichen Optik seiner Erzählgegenwart (7,19; diff Mt 15,17 und Lk [hier die sog. „große Auslassung“]). Indem er Jesus jede Art von Speise für rein deklarieren lässt (vgl. Röm 14,14), wird das im Folgenden berichtete Ausgreifen der Wirksamkeit Jesu in die weitere Völkerwelt legitimativ vorbereitet, welches nach den Parametern der erzählten Opponenten eine illegitime Profanisierung des Heiligen (κοινοῦν) darstellt. Die Konfliktdaten haben sich dabei gegenüber dem Zyklus von Kontroversszenen Mk 2,1–3,6 gemäß dem Stand der Erzählung deutlich weiterentwickelt. Die markinische Erzählung ist an einem unmittelbar identitätsrelevanten Konfliktpunkt angelangt. Auf die grundsätzliche Bedeutung des Passus Mk 7,1–23 verweist auch der Vorgriff auf die Eskalation des Konflikts in Jerusalem, der mit 7,1 markiert ist (τινες τῶν γραμματέων ἐλθόντες ἀπὸ Ἱεροσολύμων; vgl. Mk 3,22 – der Beelzelbulvorwurf aus dem Mund der Schriftgelehrten aus Jerusalem). 3.
Vor dem Hintergrund dieses Grundsatzdiskurses operiert Jesus in Mk 7,24–30 zunächst in der Region von Tyros, damit aber in einem nach traditionsgeschichtlichem Grundwissen gerichtsverfallenen Gebiet. Thema bleibt dabei unter veränderten Vorzeichen die Frage der Reinheit. So heißt es zum einen prononciert zu Beginn, das Töchterlein der sich bittend an Jesus wendenden Frau habe einen „unreinen Geist“ (7,25: πνεῦμα ἀκάθαρτον). Dies liefert die Lesart für die dann folgende Rede vom δαιμόνιον (vgl. 7,26.29f.). Zum anderen aber klappt die im Kontext entscheidende Information im Erzählerkommentar von 7,26 nach – sie ist eine ,hellenisierte‘ Syrophönizierin und kommt damit aus demselben Gebiet wie die femme fatale Isebel. Wie in der folgenden Therapieerzählung Mk 7,31–37 liegt damit ein doppeltes Heilungshindernis vor. Der Umbruch der kulturell-religiösen Parameter im Spannungsfeld jüdischer und heidnischer Codes kommt in der Sequenz von Jesusrede und Rede der Frau besonders an einem Punkt zum Ausdruck: Aus den Hunden, die in der Rede Jesu ganz jüdisch begriffen und mit Unreinheit konnotiert und insofern dem (heidnischen) Kind vergleich-
40
Die überlieferungsgeschichtlichen Verhältnisse sind hier nicht zu diskutieren. Mk 7,15 bewahrt mit einem hohen Maß von Wahrscheinlichkeit eine Stellungnahme Jesu zur Reinheitstora. Inwieweit Jesus hier nur auf die pharisäische Halacha (vgl. Mt 15,3–11) zielt oder vielmehr fundamentalere Kritik an der Tora übt, ist umstritten. Es handelt sich jedoch in Mk 7,15 nicht einfach um ethische Reinterpretation eines Reinheitskonzeptes. Vgl. Jub 1,23.28; PsSal 17,26.30; TestLev 17,11; Lib Ant 3,10; siehe pars pro toto THEIßEN, Reinheitslogion, 235–251. Vgl. zum jüdischen Hintergrund PsPhok 228; Philo Spec. leg. III 208f.; Ios. ant. Iud. XVIII 117 (vgl. THEIßEN, Reinheitslogion, 246ff.).
230
Auditus et Testamentum bar sind (7,27: κυνάρια; vgl. 1 Kön 21,23; 2 Kön 9,36; äthHen 50,2; Spr 26,11; Ex 22,30; Mekh Ex 22,30; anders Tob 11,4; vgl. Mt 7,6; Lk 16,19–22; 2 Petr 2,22; Phil 3,2; Offb 22,15), werden in der spitzfindigen Antwort der syrophönizischen Frau die aus der hellenistisch-römischen Welt bekannten Haushunde, die unter dem Tisch ihren angestammten Platz bei Mahlzeiten finden können (7,28).41 Kontinuum der Sättigung von am Tisch sitzenden Kindern und Hunden unter dem Tisch (i. e. Juden und Heiden) ist das eine Brot (vgl. 1 Kor 10,17 u. a.), das verzehrt wird.
4.
Die (mit hoher Wahrscheinlichkeit redaktionell durchsetzte) Einleitung der Episode Mk 7,31 führt Jesus im Zuge der sogenannten „Nordreise“ aus der Gegend von Tyros zunächst über Sidon, dann aber nach Süden an den „See von Galiläa“ (vgl. 1,16). Diese viel umstrittene Volte erklärt sich am zwanglosesten so: Markus lässt seinen Jesus weiträumig heidnisch konnotiertes Gebiet durchstreifen42. Hinzu kommt wahrscheinlich, dass die Erzählgegenwart hier bereits entstandene christliche Gemeinden zu identifizieren vermag (vgl. Apg 21,3–6; 27,3; vgl. Plin. nat. V 16.74, zur Lokalisierung von Damaskus in der Dekapolis – wobei vom Weg über Damaskus nichts im Text steht). Die geographische Sequenz von Tyros und Sidon ist konventionell (vgl. Sach 9,2f.; Philostr. her. 1,1; Ios. ant. Iud. VIII 320; XV 95 u. a.; vgl. Apg 12,20). Als einschlägiger geographischer Indikator fungiert vor allem die Dekapolis (vgl. Mk 5,1–20).43
Festzuhalten ist damit: Mk 7,1 markiert einen relativen Neueinsatz im Erzählgerüst. In einer wohl kalkulierten Sequenz von Redezusammenhängen und narrativen Szenen leitet der zweite Evangelist eine Exkursion seines Jesus in nach jüdischen Anschauungen ambivalentes, quasi ,fremdsprachliches‘ Gebiet ein. Für eine (dominant) heidenchristliche Leserschaft ist damit aber in der Erzählung ein besonderer Identifikationsraum geschaffen. Die narrative Sequenz spiegelt diejenige kulturell-sprachliche Distanz und vollzieht zugleich denjenigen Übergang nach, von dem die Leserwelt herkommt und in der sie sich vorfindet. In diachroner Hinsicht reflektiert die Erzählung in ihrem Inneren die bereits zurückliegende Entkräftung der Reinheitstora in ihrer separativen Funktion. Damit ist gegenüber Mk 5,1–20, dem ersten Besuch in der Dekapolis, ein Fortschritt im Erzählprogress markiert. In solchen literarischen und kulturell-religiösen 41
42
43
Vgl. DONAHUE/HARRINGTON, Gospel, 234; RICHTER, Art. Hund, 1245–1249; siehe aber: STRUBE, Wegen dieses Wortes, 100–118, besonders zur Diminutivform. Dies gilt unabhängig davon, dass die erwähnten Gebiete auch jüdisch besiedelt waren (vor allem betont von GUNDRY, Gospel, 376ff., 382ff., 386ff.). Vgl. den graphischen Vorschlag einer Reiseroute bei FENEBERG, Jude, 159. Zur kritischen Auseinandersetzung mit LANG, Sidon, 145–160: LÜHRMANN, Markusevangelium, 132. Siehe Literatur und Diskussion LICHTENBERGER, Kulte (vgl. a. a. O., 7: „Der Gebrauch des Begriffs Dekapolis im Neuen Testament bleibt vage“).
Auditus et Testamentum
231
Kontext ist nun die Deutung der Erzählung 7,31–37 unter den besonderen Bedingungen des Leidens des surdus mutus einzuzeichen.
5.
Die schöpfungsgemäße Restitution des Testierunfähigen
Heilungen konkreter Leiden ist in der markinischen Jesusgeschichte eine ähnliche strukturgebende und metadiegetische Funktion zuzumessen, wie es im Matthäusevangelium für die Gleichnisse Jesu zu zeigen ist. In den Therapien konkreter Krankheiten kann sich bei Markus der Stand der Erzählung bündeln und brechen. Zugleich stimmt der zweite Evangelist die einzelnen Therapien sorgsam auf die Kommunikation mit seiner Leserschaft ab. Dies gilt von den prologhaft im Eingangsteil des Evangeliums platzierten Erkrankungen, denen programmatische Funktion zuzumessen ist (der daemoniacus in Mk 1,21–28; das Fieber in 1,29–31; der Aussatz in 1,40–45) über die der Auseinandersetzung mit jüdischen Opponenten integrierten Leiden der Bewegungsunfähigkeit (vgl. 2,1–12; 3,1–6) bis hin zur wohl kalkuliert der Verklärung gegenübergestellten Heilung des epileptischen Kindes (9,14–27) sowie den oben bereits genannten zwei Blindenheilungen, die den auf das Leiden orientierten Weg nach Jerusalem flankieren (8,22–26; 10,46–52). 1.
Auch in Mk 7,31–37 ist christologische Aussageintention erkennbar. Wie im Fall der Blindenheilungen stellen bei der Heilung des surdus mutus intertextuelle Bezüge vorrangig zum Jesajabuch sicher, dass es sich um messianisches Erfüllungsgeschehen handelt. Die Krankheit ist von ihrer vollmächtigen Heilung her konzeptionalisiert. Die Referenz auf Jes 35,5f. legt sich dabei schon darum nahe, da hier in der LXX die engste Parallele zu der besonderen Syntagmatik von κωφός und μογιλάλος zu finden ist (einziger Beleg für μογιλάλος; vgl. Aq., Symm., Theod. auch in Ex 4,11; Aq. in Jes 56,10; vgl. weiter: Jes 29,18; 42,18f.; 43,8; 44,11; vgl. Mi 7,15LXX; OrSib VIII 206 u. a.). Dem Text nicht ausdrücklich zu entnehmen, aber eine den Lesern nicht unmögliche Schlussfolgerung ist: Wenn nach der Verheißung von Jes 29,18LXX „an jenem Tag“ „die Tauben Worte der Schrift (λόγους βιβλίου)“ hören werden, so wird mit dem Bezug auf Gen 1,31 am Ende der Geschichte tatsächlich ein solcher λόγος βιβλίου vernehmlich. Über solche biblischen Bezüge hinausgehend gewinnt Jesus in Mk 7,31– 37 unverwechselbare Züge eines Wohltäters und nähert sich dem Bild des göttlichen Arztes.
232
Auditus et Testamentum
2.
Beachtet man vor allem den rechtshistorischen Hintergrund der Stellung von surdi muti in hellenistisch-römischer Zeit (s. o. Pkt. 2.3.), so ist das Resultat der Heilung die Wiederherstellung der Gemeinschafts- und Rechtsfähigkeit des Kranken. Der Taube/Stumme wird aus seiner Isolation und Außenseiterrolle freigesetzt, in der Wiederherstellung seiner Hörfähigkeit wie in artikulierter Rede in die Sprachgemeinschaft reintegriert und gewinnt so Testierfähigkeit. In der späteren Begrifflichkeit Iustinians wird er „frei“, insofern im Fall der „vox articulata“ bzw. der „aures apertae“ ihn nichts mehr hindert, alles zu tun, was er tun will („nihil prohibet […] eum omnia […] [quae voluit] facere“; Inst. Iust. II 12 § 3; C. 6,22,10). Dieses Tun-Können, was man will, entspricht klassisch-griechischer Freiheitsdefinition.
3.
Geschildert wird im Text freilich keine weitere Reaktion des Geheilten. Auch liegt keine Bekenntnisaussage aus dem Mund des surdus mutus vor.44 In Mk 7,36 handelt es sich um einen Geheimhaltungsbefehl. Solche Geheimhaltungsbefehle sind bei Markus funktional von den im Horizont des Kreuzesvorbehaltes aktivierten sogenannten Schweigegeboten (1,34; 3,11; 8,30 u. a.) zu unterscheiden. Sie werden regulär gebrochen und dokumentieren gerade so die Grenzen transzendierende Potenz von Wundern (vgl. 1,44; 5,43). Mk 7,36 stellt heraus, dass die berichtete Heilung ,sogar‘ eines Tauben/Stummen (vgl. das doppelte καί in 7,37) zur deutlich vernehmlichen und gesteigerten (μᾶλλον) Veröffentlichung in der qualifizierten Verkündigung drängen muss, wie sie durch alliteratives Doppelsigma auch lautlich hervorgehoben ist (περισσότρον/ἐκήρυσσον/ὑπερπερισσῶς/ἐξεπλήσσοντο). Das Durchbrechen der Barrieren des ,Gehörs‘ wie die Lösung der gefesselten Zunge setzen sich quasi nach außen fort. Der auf die Verkündigung hin orientierte Akklamations-Schluss ist entsprechend im Corpus der Erzählung präpariert. In Mk 7,35 spricht der Erzähler mit Bedacht nicht von der Öffnung der Ohren (ὦτα), wie man es von 7,33 her erwarten würde, sondern von der Wiederherstellung der Hörfähigkeit der ἀκοαί. Der Terminus ist im Plural zunächst für das physische Gehörorgan durchaus möglich (vgl. Dion Chrys. or. 15 [32], 11; Ael. VH 3,1 p. 39,21; Ios. ant. Iud. VIII 172 u. v. a.), kann jedoch gerade frühchristlich auch den Akt des Hörens meinen (vgl. Mt 13,14; Apg 28,26; auch Plat. Tht. 142 D u. a.) und schließlich qualifiziert das bezeichnen, was gehört wird (vgl. Mk 1,28; 13,7; 1 Thess 2,13; Röm 10,16f.; Gal 3,2.5; Hebr 4,2 u. a.). Der physische Sinn des Hörvorgangs wird transzendiert. Vom Gefälle des Textes her geht darum insgesamt spätere Kombinatorik fehl, die in Verbindung besonders mit Röm 10,14–17 den Tauben/Stummen die Disposition
44
Der Text spricht nicht vom qualifizierten „Glauben“ des surdus mutus. Zur sachgemäßen Zuordnung von Wunder und Glaube bei Markus siehe KLUMBIES, Mythos, 114–123.
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233
für das Hören des Evangeliums und damit für qualifizierte ,Rettung ‘ bestritten hat.45 4.
Der Schlussvers Mk 7,37 bietet ein Deutewort von grundsätzlicher Relevanz.46 Auf die Generalisierung weist schon der Plural der Tauben/Stummen und Sprachunfähigen. Der Fall steht exemplarisch. In der besonderen Heilung, die die Öffnung der Hörfähigkeit und Lösung der Zunge zur Verkündigung (7,36: κηρήσσειν; vgl. die Linie der qualifizierten Begrifflichkeit im zweiten Evangelium vom Täufer bis hin zur plerophoren Verkündigung: 1,4.7.14.38f.45; 3,14; 5,20; 6,12; 13,10; 14,9) an die Heiden/Völker zur Konsequenz hat, bildet sich exemplarisch der Wille des Schöpfers selbst ab, der „alles gut gemacht hat“ (7,37 im Perfekt / Gen 1,31LXX im Aorist, vgl. auch 1 Tim 4,4). Die Heilung des surdus mutus beschreibt das handgreifliche Vorzeichen einer Welt in Freiheit, wie sie der Schöpfer eschatologisch avisiert. Markus stellt hier einen eschatologischen bzw. theologisch-anthropologischen Ansatzpunkt zur Dechiffrierung dessen bereit, was sich in der Heilaktivität Jesu unter der These von Mk 1,15 insgesamt vollzieht.
5.
Als Integral des Erzählverbundes eignet Mk 7,31–37 so eine unverwechselbare Funktion, die insbesondere über die konkrete Krankheit des surdus mutus realisiert ist. Die Systemgeschlossenheit der Rezeptions- und Kommunikationsunfähigkeit bricht auf. Damit ist in der Erzählung zugleich die Nuance eines Impulses an die Leser zu vernehmen, die ihrerseits mit aureas apertae und soluta vincula linguae die Botschaft (des Markusevangeliums) vernehmen und sie publizieren sollen (vgl. den Weckruf in Mk 4,9.23; vgl. 8,18; vgl. den Aufruf zum Hören in Mk 4,3.24; 7,14; 9,7; 12,29; „Hören“ ist ideales Jüngerverhalten, dem Platzhalter- und Fensterfunktion für die Leserschaft eignet). Solche symbolische Lesart und Leserpragmatik wird durch zwei Beobachtungen gestützt. Einmal sind zwar die Jünger als reguläre Platzhalter der Leser in Mk 7,31–37 nicht anwesend. Doch bildet der Tadel der Verste-
45
Es ist das Verdienst von GEWALT, Fides, 45–64, die lange und bis heute in der Erforschung der Taubheit/Gehörlosigkeit u. a. kolportierte Auffassung widerlegt zu haben, nach der Augustin (vgl. Contra lulianum III 4) und die auf ihm fußende (z. T. auf Aristoteles sich beziehende) spätere theologiegeschichtliche Diskussion die Gehörlosen von Röm 10,14–17 (vgl. Gal 3,2) her in dem Sinn diskreditiert haben, dass nur derjenige glaubensfähig sei, der auch zum physischen Hörakt in der Lage ist. Luther hat das Problem durchaus sachgemäß derart gelöst, dass Gott die Taubstummen über das innere Ohr resp. durch den Geistempfang erreicht (vgl. WA 2,508f.). Zum – hier übergroßen – Erstaunen vgl. Mk 1,22; 6,2; 10,26; 11,18; vgl. 6,51. Manche Forscher erkennen im akklamativen Abschluss das gemeinsame Finale eines überlieferungsgeschichtlichen Zwillings von Mk 7,31–37 und 8,22–26. So u. a. SCHENKE, Wundererzählungen, 274f.; GNILKA, Evangelium, Teilbd. 1, 296, 312. Damit ist indirekt der Tatsache Rechnung getragen, dass solches Finale in Mk 8,26 fehlt (vgl. unten Anm. 49).
46
234
Auditus et Testamentum hensdispositionen der Jünger eine Klammer um die im Völker-Gebiet Land vollzogene Heilung (vgl. Mk 7,18; 8,17–21; 8,18 rekurriert auf 8,23–25 und 7,33). Zum anderen ist auf die keineswegs nur in biblischer Literatur häufige metaphorische Symbolisierung der Taubheit/Stummheit – oft in paarweiser Korrelation mit der Blindheit – zu verweisen.47
6.
Fragt man zuletzt, wie das „testamentum“ inhaltlich zu konkretisieren ist, auf das die markinische Jesusgeschichte am Ende des Jüdischen Krieges reflektiert, so besteht innerhalb des Spektrums (späterer) frühchristlicher Geschichtsliteratur das Aufregende darin, dass materiale Festlegungen erst ansatzweise greifbar sind. Eine gewisse Konsolidierung einer ethischen Identität des markinischen Christentums ist bereits erkennbar (vgl. Mk 10,1–27). Doch ist das „Hören“ noch weit davon entfernt, Maß an einem „orthodox“ definierten ἐλάλει ὀρθῶς zu nehmen.48 Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Heilung in Mk 7,31–37 ohne Beteiligung der Jünger allein durch Jesus realisiert wird. Auch an anderen Stellen seines Evangeliums gibt Markus zu erkennen, dass er keine kontinuierliche Traditionskette hin zur Gegenwart entwirft. Jünger wird man, indem man hört, nicht durch ein – aus der Perspektive der heidenchristlichen Erzählgegenwart – nicht mehr mögliches geschichtliches Mit-Jesus-Sein (vgl. Mk 3,31–35 im Gegenüber zu 3,13–19). Markus kann so aber zugleich sicherstellen, dass die frühchristlich längst etablierte Rede vom (glaubensrelevanten) „Hören“ und (qualifizierten) „Verkündigen“ (7,36f.) ihren spezifischen Sinn nur auf der Grundlage einer heilenden Transformation des Menschen gewinnt. Auf der Basis der frühchristlichen These, dass sich die Christen in ihrer neu gewonnenen Identität als „die Glaubenden“ (1 Thess 1,7; 2,10.13; 1 Kor 1,21; 14,22; Röm 3,22; 4,11; Apg 2,44 u. a.) vorrangig dem gehörten Wort (1 Kor 15,2.11; Röm 10,14.16; Apg 4,4; 15,7 u. a) verdanken – wobei qualifizierte Mahlfeier dem sachlich in nichts nachsteht (vgl. Mk 8,1–9) und hier keine Widersprüche zu konstruieren sind – fixiert die Erzählung in Mk 7,31–37: Christliche Sprachfähigkeit
47
Zur metaphorischen Korrelation von Stummheit/Taubheit und Blindheit Parmenides, Frgm. 7 (HEITSCH): Das unachtsame Auge (ἄσκοπον ὄμμα) und das ‚dröhnende Gehör‘ im Blick auf die Frage der Unterscheidung von Sein und Nichtsein; vgl. Plat. Phaidr. 270 e; Tim. 88 b zum Konnex von Taubheit und Unwissenheit; leg. 932 a zur Taubheit gegen die einleitenden Worte; vgl. entsprechenden Konnex von Blindheit und Taubheit bei Plut. de fort. Rom. 98 c; de san. praec. 136 f; de Alex. fort. 336 b; de def. or. 420 b; 432 b u. a.; in ethisierender Weise spricht Epiktet von der Willenskraft des Menschen, die Ohren zu schließen oder zu öffnen und damit Einsicht in seine Situation zu gewinnen (diss. II 23,10f.22; vgl. I 18,8; II 20,37; 24,19; IV 8,21); zum biblischen Sprachgebrauch: HERRMANN, Wunder, 10–20. Zur symbolischen Interpretation von Mk 7,31–37 in der Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte vgl. MUTH, Träger, 102; GNILKA, Evangelium, Teilbd. 1, 299. Das ἐλάλει ὀρθῶς in Mk 7,35fin. ist nicht auf die rechte (kirchliche) Lehre zu beziehen. So ERNST, Evangelium, 216.
48
Auditus et Testamentum
235
und -gemeinschaft, die aus dem Hören erwächst, bleibt, von Krankheit bedroht, immer kontingentes Anfangsgeschehen und ist in der Zielsetzung auf das Lob des Schöpfers hin angelegt, „der alles (gut) gemacht hat“. Entsprechendes gilt im zweiten Evangelium aber mehr noch für das „Sehen“/ „Schauen“. Markus verleiht der engen Korrelation der Hauptsinne am entscheidenden Punkt nochmals Ausdruck 49, wenn das Ende des zweiten Evangeliums in Mk 16,8 jeder anschaulich-medialen Visualisierung und Verhaftung der Osterwirklichkeit den Grund entzieht, die Leserschaft vielmehr zurück verweist auf das Lesen/Hören der ganzen Jesusgeschichte und eine entsprechende Praxis in der Nachfolge des Gekreuzigten.
49
Die Berührungspunkte von Mk 7,31–37 (surdus mutus) und 8,22–26 (caecus) sind auffällig und oft notiert worden: Lokalisierung außerhalb jüdischen Kerngebietes; verbale Berührungspunkte zwischen Mk 7,32–33a und 8,22–23a; Spucken/saliva (Mk 7,33; 8,23); manuelle Praktik; Fehlen von εὐθύς/εὐθέως beim Heilvorgang (sofern in Mk 7,35 nicht textkritisch ursprünglich); mögliche funktionale Analogie von Mk 7,36 (Verbot, ins Dorf zurückzukehren) und 8,26 (Geheimhaltungsbefehl); intertextueller Bezug auf Jes 35,5f.; beide Erzählungen sind nicht von den Seitenreferenten übernommen (vgl. aber zu Mk 7,31–37: Mt 15,29–31). Überlieferungsgeschichtliche Verbindungen sind darum möglich bis wahrscheinlich. Jedoch werden die Differenzen häufig zu wenig beachtet (so z. B. bei FRANCE, Gospel, 301). In Mk 8,22–26 differiert die therapeutische Praxis; eine an Gebet erinnernde Handlung ist nicht zu verzeichnen (das Aufsehen in Mk 8,24 ist vom Blinden ausgesagt, nicht vom Heiltäter); der Speichel wird explizit auf das erkrankte Organ gebracht; es findet sich kein Akklamationsschluss; umgekehrt fehlt in Mk 7,31–37 die Zweiphasigkeit der Heilung (vgl. als bedingten Vergleichspunkt zu Mk 8,23–25 die Epidaurosinschrift W 18), die in Mk 8 auf einen gegliederten Vorgang des (wieder) Sehens, Erkennens und Begreifens zielt, der im Kontext dem Unverständnis der Jünger kontrastiert (vgl. Mk 8,17f./Jer 5,21; Ez 12,2; vgl. Mk 4,12/Jes 6,9f.) und markiert, dass man erst von Leiden und Kreuz her ‚gänzlich scharf‘ sieht.
Zur Metaphorik göttlicher Medizin bei Plutarch und im frühen Christentum 1.
Metapher und Sinnlichkeit
Unsere Aufmerksamkeit gilt im Folgenden 1 der Sprachform der Metapher, und zwar genauer: der Metaphorik des Medizinischen in Hinsicht auf das Handeln Gottes resp. der Gottheit (en) an Menschen. Die metaphorische Rede von Gott als Arzt, seiner Heilkunst und seinem heilenden Umgang mit Menschen soll komparatistisch in der Analyse von Texten eines prominenten spätantiken griechischen Philosophen sowie ausgewählter frühchristlicher Texte beleuchtet werden – und zwar in Hinsicht auf die Bedeutung ihrer sinnlichen Gründung und Funktionalität. Wir gehen dabei von Ansätzen der kognitivistischen Metaphernforschung aus, welche Metaphern nicht nur in ihrem illustrativ-rhetorischen Wert innerhalb von Kommunikationsvorgängen beschreiben und interpretieren, sondern in ihnen ein Basisphänomen menschlicher Kognition und Weltaneignung erkennen und metaphorische Prozesse als körperlich empirisch grundiert betrachten. Nach GEORGE LAKOFF und MARK JOHNSON als Pionieren der jüngeren kognitivistischen Metaphernforschung2 sind menschliches Denken und menschliche Weltkonzeptualisierung originär metaphorisch organisiert. Metaphern beschreiben nicht ein secundum additum im Bereich des Sprachlichen, sondern führen zurück auf die basalen Möglichkeitsbedingungen menschlicher Wirklichkeitsaneignung. Nicht nur menschliches Denken und Sprechen, sondern auch Handeln und Fühlen sind immer schon metaphorisch konzeptualisiert. In den neuen Zugängen zum Phänomen des Metaphorischen 3 wird etwas in der Meta* 1
2
3
Ursprünglich erschienen in: Ph. REICHLING/M. STROTHMANN (Hg.), Religion für die Sinne – Religion for the Senses (Artificium 58), Oberhausen 2016, 181–213. Der Vortragsstil wurde im Wesentlichen beibehalten. In den materialen Abschnitten zu Plutarch und zu den frühchristlichen Texten wurde die Zahl der Anmerkungen eng begrenzt und auf umfängliches Bibliographieren verzichtet. LAKOFF/JOHNSON, Metaphors. Vgl. ferner LAKOFF/TURNER, Reason; TURNER, Design, 91–107. Zu Berührungspunkten mit der Konzeption E. Cassirers: SCHRÖTER, Christologie, 58–61. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, einzelne Vertreter der kognitivistischen Metapherntheorie und ihre Modelle vorzustellen. Auch ist hier nicht der Ort, in eine Methodendiskussion einzutreten. Es stellt sich u. a. die Frage, ob die fundamentale These von LAKOFF/ JOHNSON, nach der metaphorische Rede in empirischer Evidenz auf eine metaphorische Gesamtstrukturierung von Prozessen der Wirklichkeitsaneignung und -repräsentation in der menschlichen Kognition verweise (zu ihren Voraussetzungen in der holistischen kog-
238
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
phernforschung bislang Uneingelöstes herausgearbeitet: der Primat der Sinne im Zusammenspiel mit empirischer Evidenz, des Physischen, Emotionalen und Mentalen. Die Basis metaphorischer Übertragungen konstituiert sich aus vertrauten Erfahrungen der Sinneswahrnehmung wie räumlicher Orientierung, Sehen, Hören, Fühlen, Tasten, Riechen, Schmecken u. a. Metaphern ermöglichen in ihrer Körperbezogenheit Abstraktionen und erzeugen Kohärenzen. Auf unser Thema bezogen, ergibt sich damit eine besondere Relevanz metaphorischer Sprachformen mit Blick auf das religiöse Feld. Dieses wird nicht allein durch die Wissensdimension, sondern auch durch die Dimensionen von Erfahrung und Handeln, schließlich aber auch durch eine „materiale“ Dimension bestimmt, in der Dinge, natürliche Gegebenheiten und materiale Grundlagen die Vorstellungen, sozialen Entwicklungen und Praktiken prägen können. Fragt man, wie Evidenzen im religiösen Erfahrungsbereich hergestellt werden können, so ermöglichen Metaphern, die in basalen Strukturen menschlicher Weltaneignung und -erschließung gründen und auf das Sinnliche rückbezüglich sind, die Koordination und Formung von Wissen, Traditionen, Gefühlen und Handlungen.
nitiven Semantik, der kognitiven Grammatik Langackers, der Gestaltpsychologie und der Prototypentheorie Roschs siehe BALDAUF, Evidenz, 120–125), zu beweisen ist bzw. als bewiesen gelten kann. So fragt sich, wieweit sich im Ansatz von LAKOFF/JOHNSON beim entscheidenden Schritt der Rückverankerung sprachlich vorfindlicher Metaphernkonzepte in prototypischen Kognitionsschemata eine Zirkularität der Begründung vollzieht, insofern einerseits situiert wird, dass Menschen ihre Realität stets von Metaphern her definieren und auf ihrer Grundlage handeln, dies andererseits aber mit der anderen (nicht als bewiesen vorauszusetzenden) These fundiert wird, dass Menschen Erfahrungen immer schon metaphorisch strukturieren (vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 182. Zur Kritik: BALDAUF, Evidenz, 125–132). Damit ist zugleich die Frage impliziert, wie die Resultate von LAKOFF/JOHNSON sich zu sprachlichen Äußerungen von Kulturen verhalten, die zeitlich erheblich von neuzeitlichen (nordamerikanischen) Evidenzen differieren. Die Autoren bringen die Frage nach Faktoren der kulturellen Dependenz metaphorischer Konzeptualisierungen zwar in Rechnung (LAKOFF/JOHNSON, Leben, 28, zur Rede von „kulturelle[r] Kohärenz), zielen zugleich jedoch auf eine globale, nicht epochal, ethnisch, politisch o. ä. limitierte Theorie der Mentalitätsvorgänge. In der Selbstverortung der Theorie in der Historie der Bemühungen um die Metapher sind zudem deutliche Simplifikationen zu verzeichnen. Es muss als erhebliche Verkürzung gelten, wenn beim abendländisch-philosophischen Umgang mit der Metapher unterstellt wird, dieser reduziere das Problem in einem Röhrenmodell rhetorischer Kommunikation (vgl. a. a. O., 236–240). LAKOFF/JOHNSON arbeiten hier auch mit einem a priori belasteten negativen Begriff von „Abstraktion“ (vgl. a. a. O., 127–129). Besonders kritisch erscheint die Leistungsfähigkeit des kognitivistischen Zugangs im Fall nicht-lexikalisierter Metaphern (vgl. TAURECK, Metaphern, 71). Es gilt jedoch: „Metaphorische Texte sowie Kontextverbindungen sind niemals ausnahmslos innovativ, sondern stellen immer ein ‚corpus permixtum‘ aus traditionellen und innovativen Momenten dar“ (BUNTFUß, Tradition, 51).
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
239
Nimmt man die von LAKOFF/JOHNSON in ihrer Pionierarbeit vorgeschlagenen Klassifikationen als heuristischen Ausgangspunkt4, so ist festzuhalten: Sogenannte „Orientierungsmetaphern“ entstehen aus menschlicher Raumorientierung, die unmittelbar mit körperlichen Erfahrungen zusammenhängt.5 Weitreichende Bedeutung beansprucht dabei die metaphorisch-konzeptionelle Differenzierung von „oben“ und „unten“. „Die meisten unserer basalen Konzepte werden nach einer oder mehreren Metaphern der räumlichen Orientierung organisiert“. Ferner gilt: „Zwischen den verschiedenen Raummetaphern besteht eine äußere Gesamtsystematik, die deren Kohärenz definiert.“6 Die orientierende Feststellung eines „oben“ ist mit physischer Präsenz, Aktivität, Überlegenheit, Macht, gehobenem Status, Einfluss, Tugendhaftigkeit, Intelligenz und Kontrolle, zugleich aber auch mit dem Unbekannten konnotiert. Das metaphorische Konzept des „unten“ kann mit den je antonymen Begriffen umschrieben werden.7 Ähnlich ist die Orientierung in den Unterscheidungen von „Nähe“ und „Ferne“ im Sinn von vorhandenem oder fehlendem Einfluss zu begreifen. Hiervon abzuheben ist die strukturelle „vorne“/„hinten“-Organisation metaphorischer Wirklichkeitsaneignung. Orientierungsmetaphern weisen in das Feld des Sozialen. Sie verbinden sich mit prototypischen Empfindungen und 4
5
6 7
Die Metapher ist nach LAKOFF/JOHNSON eine „auf der Imagination beruhende Rationalität“ (LAKOFF/JOHNSON, Leben, 220), sie ist ein kardinales Instrument der Erfahrungs- und Wirklichkeitsverarbeitung. Die Frage, was zuerst da war, ein sachhaltig-begriffliches und regelgeleitetes Sprachsystem oder die Metapher (siehe hierzu ECO, Semiotik, 134f.; MAYER, Sprache, 93), ist also im Sinn von LAKOFF/JOHNSON gar nicht alternativ entscheidbar. „Metapher“ steht nicht (nur) für einzelne Begriffe oder Syntagmen in einer konkret vorfindlichen Sprache oder konkreten Texten, sondern kongruiert mit einem kontinuierlichen „Konzeptsystem“ (LAKOFF/JOHNSON, Leben, 14). Dieses „Konzeptsystem“ ist nach LAKOFF/ JOHNSON infolge kondensierter Erfahrung per se systematisch ausgelegt, wobei „solitäre metaphorische Ausdrücke“ eine gewisse Ausnahme darstellen (a. a. O., 68f.). Basiert alles Verstehen auf metaphorischen Grundvollzügen, so ist auch jede „Theorie“-Bildung als ein erweitertes metaphorisches Konzeptsystem darstellbar. Nicht allein Gegenstandsbereiche, sondern vor allem auch Handlungsfelder werden metaphorisch konzeptualisiert. In der Aktivierung eines metaphorischen Zusammenhangs rücken jeweils nur bestimmte Aspekte in den Vordergrund, während andere Ableitungen und Aspekte in den Hintergrund treten. Ein metaphorisches System arbeitet stets so, dass kontext- und kulturgebundene Aspekte fokalisiert („benutzter“ Teil), andere dagegen „verborgen“ werden („unbenutzter“ Teil). Vgl. a. a. O., 66; vgl. 128 zu „Asymmetrien“. Ausschlaggebend für konkrete Nutzung oder Nichtnutzung der metaphorischen Dimensionen kann ein „Modifikator“ (hedge) sein (a. a. O., 142–146). Nach LAKOFF/JOHNSON emergieren die „Orientierungsmetaphern“ nicht metaphorisch, sondern vielmehr direkt (vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 84). D. h., bei ihnen wird ein Konzept „[…] nicht von einem anderen her strukturiert“. Vielmehr wird durch Orientierungsmetaphern „[…] ein ganzes System von Konzepten in ihrer wechselseitigen Bezogenheit organisiert [...]“ (a. a. O., 22). LAKOFF/JOHNSON, Leben, 26. Vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 22–30.
240
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
Wahrnehmungen von Nähe und Ferne, von entsprechender aktiver Einflussmöglichkeit mit Blick auf das Nahe oder der Unmöglichkeit des Einflusses im Bezug auf das Ferne. Nach dem Unterscheidungsmuster „vorne“/„hinten“ – „nah“/„fern“ wird auch Zeit konzeptualisiert; sei es, dass die Zeit als ein bewegliches Objekt mit einer linearen Bewegungsrichtung imaginiert ist (wir erfahren die Zeit als voranschreitend), oder sei es, dass die Zeit als solche statisch gedacht, dagegen der Mensch in linearer Bewegung („vorne“/„hinten“) durch sie hindurch vorgestellt ist (wir bewegen uns im Strom der Zeit). Prototypisch tendieren Menschen nach den kognitivistischen Metapherntheorien zu Konzepten wie „eher HIER als DORT“, „eher VORNE als HINTEN“, „eher AKTIV als PASSIV“. 8 Prototypisch begründet in körperlichen und sinnlichen Primärerfahrungen sind ferner die sogenannten „ontologischen Metaphern“. Ontologische Metaphern konzeptualisieren sinnliche Wahrnehmung und Wirklichkeit in Gestalt des Dinglichen und Substanzhaften. 9 Abstrakte Erfahrungen werden in „Gefäßmetaphern“ erschlossen. Menschen projizieren ihre „Innen-Außen-Orientierung auf andere physische Objekte, die durch Oberflächen begrenzt sind“. 10 Derart werden auch Ereignisse, Handlungen und Zustände wie Liebe oder auch Formen von Erkrankung metaphorisch als Objekte konzeptualisiert.11 Unter die „ontologischen Metaphern“ rechnen LAKOFF/JOHNSON Personifikationen, die Gegenstandsbereiche im Sinne ontologischer Konzepte unter der Frage von Eigenschaften, Motivationen und Zielsetzungen erschließen.12 Die „Metonymie“ fungiert dagegen als Strukturkonzept, das Beziehung generiert, „so daß wir eine Entität benutzen können, damit diese für eine andere Entität steht“.13 Distinktionen wie die der „ontologischen Metaphern“, „Orientierungsmetaphern“ und auch „Strukturmetaphern“14 verweisen nicht auf eine übergeord8 9 10 11 12 13 14
LAKOFF/JOHNSON, Leben, 154. Vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 35–39. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 39. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 41f. Vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 44f. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 47. Nach LAKOFF/JOHNSON wird in „Strukturmetaphern“ „[…] ein Konzept von einem anderen Konzept her metaphorisch strukturiert […]“ (LAKOFF/JOHNSON, Leben, 22). Genauer gründen die Strukturmetaphern „[…] in systematischen Korrelationen innerhalb unserer Erfahrung“ (a. a. O., 75). Strukturmetaphern sind damit – im Anschluss an Eleanor Rosch – „prototypisch“ beeinflusst (vgl. a. a. O., 86f., 203). Ihnen kommt „metaphorische Emergenz“ zu, und sie sind auf metaphorische Amplifikation angelegt. Diese Klassifikation der „Strukturmetapher“ ist in der Konstruktion von LAKOFF/JOHNSON in ihrer Distinktheit problematisch. BALDAUF, Metapher, 82, beurteilt die Bezeichnung als missverständlich, insofern es die generelle Eigenart von Metaphern sei, Strukturen zu übertragen. Sie favorisiert demgegenüber eine linguistische Gruppierung von Metaphern auf der Grundlage der Konzeptstruktur des jeweiligen Herkunftsbereiches und möchte Attributmetaphern, ontologische Metaphern, bildschematische Metaphern und Konstellationsmetaphern unterscheiden (ebd.); vgl. BALDAUF, Evidenz, 117–132. Zu Weiterentwicklung und Kritik des Ansatzes von LAKOFF/JOHNSON vgl. auch RANTZOW, Christus, 59–72; GERBER, Paulus, 81–111.
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
241
nete konsistente Logik. Wohl aber sind sie auf „relative“ Kohärenzen und Vernetzung hin zu befragen.15 In der Untersuchung von Quellen der antik-philosophischen und der frühchristlichen Literatur sind kognitivistische Metapherntheorien nicht einfach „anwendbar“. – Es besteht das Risiko, die kulturelle und zeitliche Dependenz von metaphorischen Aussagen zu nivellieren. Doch ist der Grundansatz attraktiv, da er zunächst nicht von der Metaphorik des Extravaganten und Irregulären ausgeht (sog. „kühne Metapher“), sondern vom Regulären, von Grundorganisationsformen menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns. Jede Kommunikation stellt sich vor dem Hintergrund von Alltagserleben als metaphorisch dar. Auch religiöse Kommunikation ist nicht einem Sonderreservat zuzuweisen. Dasjenige metaphorische Konzept, das wir nun im Folgenden genauer untersuchen wollen, ist das der Gottheit resp. Gottes als Arzt (und Apotheker), der Menschen physisch erfahrbar behandelt. Es geht – je nach zugrunde gelegter kognitivistischer Kategorienbildung – um ein „ontologisches“ Metaphernkonzept, in enger Verbindung mit orientierenden Elementen.
2.
„Schneiden und Brennen schmerzt“ – Zur Metaphorik göttlicher Medizin bei Plutarch von Chaironeia
Die Schriften Plutarchs von Chaironeia spiegeln, angefangen bei der Berücksichtigung medizinischer Gesichtspunkte in seinen biographischen Texten über das psychologische Ausleuchten von Krankheiten und Leiden in seinen philosophi15
Vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 57. Mit der Rede von „Kohärenz“ beziehen sich LAKOFF/ JOHNSON auf die Beobachtung, dass Metaphern, die differente Erfahrungsbereiche und einschlägige Bildsequenzen eröffnen, eine neue systematische Logik generieren können. Mögliche gemeinsame Ableitungen müssen dabei auf der Basis der Theorie wiederum auf Kongruenzen im Metaphorischen bzw. im kognitiven Konzeptsystem selbst zurückverweisen (a. a. O., 114). LAKOFF/JOHNSON verwenden an dieser Stelle auch den Begriff vieldimensionaler „Gestalten“ (a. a. O., 102; vgl. 103–124, 193). Im Schritt der Übertragung auf die textuelle Analyse stellt sich mit dem kognitivistischen Modell die Frage, inwieweit konkrete Texte „körperlich“-metaphorisch zu betrachten sind. Nach LAKOFF/JOHNSON bestimmen die verschiedenen Klassen und Konzepte von Metaphern Texte als auskristallisierte Zeugnisse der Kognition grundsätzlich in sämtlichen Formen der sprachlich-syntaktischen und semantischen Verknüpfung. In Hinsicht auf die Raumorientierung betrifft dies z. B. die Sequenz der Syntax. „Unser Sprechen ist linear angeordnet, das heißt, daß wir immer entscheiden müssen, in welcher Reihenfolge wir unsere Wörter sagen […]. Die Schriftsprache erlaubt uns, die formulierten Sätze viel leichter und plastischer als räumliche Objekte mit einer linear angeordneten Abfolge von Wörtern zu konzeptualisieren“ (a. a. O., 147).
242
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
schen Traktaten bis hin zu den moralischen Therapeutika16, in einem hohen Maß medizinische Bildung. Plutarch bringt in seine verschiedenen Schriftgattungen immer wieder Vorstellungen ein, wie sie bereits in der hippokratischen Medizin entwickelt wurden. Zugleich ist er in den medizinischen Schulrichtungen seiner Zeit wohl orientiert. Dabei beschäftigt Plutarch die Medizin grundsätzlich nicht unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten um ihrer selbst willen. Vielmehr macht er sich die enge Verwandtschaft von philosophischem und medizinischem Schuldiskurs zunutze, indem er medizinale Beobachtungen und Einsichten in der Deskription und Analyse menschlichen Handelns aktiviert. Über die Medizin können die verschiedensten Felder der Philosophie und Lebens- und Handlungsorientierung miteinander verschränkt werden. 17 Plutarch knüpft hiermit an griechische und auch römische Ansätze der Philosophie an, die im Philosophen funktional den Arzt erkennen, dessen Handeln nicht allein körperliche Gesundheit, sondern vor allem die Integrität der Seele und damit des Lebens insgesamt intendiert. Im Rahmen der mittelplatonischen Philosophie zeichnet sich Plutarchs Werk durch den hohen Umfang aus, in dem medizinale Metaphern und Bilder auch theologisch gebraucht sind.18 Die folgende Analyse nimmt ihren Ausgang von ausgewählten Textzusammenhängen aus der dem Avidius Quietus gewidmeten Schrift „De sera numinis vindicta“ (Plut. mor. 548 A–568 A; ΠΕΡΙ ΤΩΝ ΥΠΟ ΤΟΥ ΘΕΙΟΥ ΒΡΑΔΕΩΣ ΤΙΜΩΡΟΥΜΕΝΩΝ). Diese Schrift erscheint nicht nur deshalb besonders geeignet, da sie unter die ausgereiftesten Texte aus dem umfassenden Œuvre Plutarchs zu rechnen ist – es ist eine Schrift, die in die delphische Spätphase gehört und am Ort des delphischen Orakels spielt –, sondern auch darum, weil in ihrem Zentrum eine dezidiert theologische Fragestellung steht. Medizinal-metaphorische Rede kann somit in ihrer besonderen religiösen Verwendungsweise untersucht werden. Aufbau, Einzelargumentation und traditionsgeschichtliche Hintergründe von „De sera numinis vindicta“ sollen uns dabei nur insoweit beschäftigen, als sie die Einordnung der einzelnen ausgewählten medizinalen Bezugspunkte ermöglichen.19 Die Schrift lehnt sich in ihrem Rahmen an die Form des sokratischen Dialo16
17
18
19
Vgl. zu den Schriften der „psychotherapeutischen“ Behandlung einzelner Laster und Begierden ZIEGLER, Plutarchos, 136–168 (vgl. DERS., Art. Plutarchos, 636–963), im Unterschied zu den philosophischen Abhandlungen im engeren Sinn; ferner: INGENKAMP, Schriften; VAN HOOF, Ethics; zu Plutarchs moralischer Psychologie: OPSOMER, Eros, 208–235. Zu Medizinischem bei Plutarch: DURLING, Medicine, 311–314; BOULOGNE, Plutarque, 2762– 2792. Eine entsprechende theologische Applikation konnte sich für Plutarch insbesondere mit seiner Funktion als Priester des Gottes Apollon in Delphi nahelegen, der (vor seinem Sohn Asklepios) als der Heilgott der Antike zu gelten hat. Für eine ausführliche Analyse (mit Literatur) vgl. V. BENDEMANN, Konzeptionen, 231–270; vgl. GÖRGEMANNS, Plutarch, 318–339. Zu medizinischen Bildern in „De sera numinis vindicta“: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 225–281; weitere Literatur zur Medizin bei Plutarch:
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
243
ges an. Konstitutiv ist die grobe Zweiteilung in einen argumentativen Part (λόγος), der sich in drei Gesprächsgänge untergliedern lässt, sowie ein mythisches Finale (μυ̃θος). Der „Mythos“ erlaubt abschließend die Beleuchtung der im „Logos“ angesprochenen Argumente und Erwägungen unter einer veränderten Gattungsund Wahrnehmungsperspektive. Das Thema der Schrift ist das Problem der von Gott / der Gottheit zurückgehaltenen bzw. verzögerten Strafe für Fehlverhalten.20 Es geht im Kern um die Relation der Vorstellung einer göttlichen Vorsehung zum Schicksalsglauben bzw. zu menschlichen Schicksalserfahrungen – seien diese individuell oder kollektiv. Wie lässt sich ein planvolles Handeln Gottes / der Gottheit von kontingenten menschlichen Erfahrungen bzw. Zufälligem unterscheiden, bzw. lassen sich Widerfahrnisse und Ereignisse so aufeinander beziehen, dass sie auch dann als Folge von Tat und göttlicher Strafe zu interpretieren sind, wenn sie zeitlich weit auseinanderliegen bzw. Straffolgen scheinbar ausbleiben? Mit der Frage der Sinnhaftigkeit von Selbstwirksamkeitszusammenhängen und der Erklärung von Kontingenzen im menschlichen Leben ist zugleich die Frage der Gerechtigkeit der Gottheit in ihrem Geschichtshandeln aufgeworfen. 21 Wir betrachten nun thematische Schnittstellen der Schrift und analysieren, welche Bedeutung medizinische Metaphern und Bilder im Blick auf die Klärung des Problems gewinnen.
2.1.
Zum akademisch-methodischen Ausgangspunkt der Metaphorik göttlicher Medizin
Es ist nicht zuletzt dem fiktionalen Ort des Dialoges – Delphi – geschuldet, wenn sich die von Plutarch aufgeworfenen Fragen sowie die in verschiedenen Lösungsanläufen gesuchten Antworten in einem moderaten Rahmen bewegen, innerhalb dessen allzu kritische Zuspitzungen im religiösen Diskurs abgefangen werden. Der Plutarch des Dialogs bringt diesen Rahmen in der Einleitung auf den Begriff der „Behutsamkeit“ bzw. des zurückhaltenden Maßes in Hinsicht auf das Göttliche (πρὸς τὸ θει̃ον εὐλάβεια; 549 E). Hierbei handelt es sich zunächst um ein Axiom der akademischen Skepsis, die Zurückhaltung übt, da der menschli-
20
21
A. a. O., 228f. Anm. 7; vgl. VAN HOOF, Ethics, 211–254, besonders zur Schrift Περὶ διαίτης ὑγιεινη̃ς/„De tuenda sanitate praecepta“. Zum Problemkreis der Theologie und Dämonologie Plutarchs, der im Folgenden nicht weiter diskutiert werden kann, vgl. HIRSCH-LUIPOLD, Der eine Gott, 141–168. Wie komplex das ist, was Plutarch in dieser Schrift in Angriff nimmt, zeigt sich auch daran, dass schon die Vorstellung einer „strafenden“ oder „richtenden“ Gottheit metaphorische Rede impliziert – die in der Schrift durch medizinale Metaphorik expliziert wird. Die Fragestellung von „De sera numinis vindicta“ ist von der späteren Leibniz’schen „Theodizeeproblematik“ zu unterscheiden. Vgl. hierzu FELDMEIER, Theodizee, 24–39; DERS., Vorsehung, 147–170.
244
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
chen Wahrnehmung enge Grenzen gesetzt sind. Zugleich bedeutet dieser Zugang bei Plutarch jedoch nicht allein ästhetische Zurückhaltung, sondern impliziert auch einen Respekt vor dem Göttlichen in positiver Hinsicht („Scheu“/ „Ehrfurcht“). Dieser doppelte Aspekt der εὐλάβεια verbindet sich nun gleich im Einleitungsteil mit der Metaphorik der Gottheit als Arzt und wird durch diese vertieft. Kapitel 4 eröffnet das medizinale Metaphernfeld, welches „De sera numinis vindicta“ an entscheidenden Stellen der Argumentation immer wieder strukturiert: Aktiviert wird das Modell des Arztes als Spezialist im Unterschied zum unkundigen Patienten (549 F).22 Empfindet der Patient Schmerzen und stellen sich Schmerzen gerade auch durch die Anwendung von Medikamenten und ärztlichen Therapieformen ein, so steht hinter solcher Erfahrung doch die Intention des Arztes, Heilung zu erwirken. Impliziert ist, dass der Patient auf diese heilvolle Wirkabsicht des Arztes zu vertrauen hat, auch wenn ihm die gegebenenfalls unangenehmen therapeutischen Maßnahmen als solche uneinsichtig bleiben mögen. Plutarch fasst hier (550 A) die medizinische Behandlung der Seele als „Recht und Gerechtigkeit“ (δίκη δὲ καὶ δικαιοσύνη). Damit ist die entscheidende Gleichung benannt, die im Hintergrund der bildhaften Verbindung von Heilkunst und göttlichem Strafrecht steht, wie sie im weiteren Verlauf der Schrift gegebenenfalls reaktiviert werden kann: Was der Heilung und Gesundheit dient, kann per definitionem nicht ungerecht sein (auch wenn es schmerzt). In der Heilkunst ist das Nützliche (τὸ χρήσιμον) auch „gerecht“ (δίκαιον ἐστίν). Darum wird – so argumentiert Plutarch innerhalb der Verteidigung generationenübergreifender Strafe – niemand therapeutische Praktiken kritisieren, die bei anderen Organen ansetzen als bei den vordergründig von Krankheit affizierten Körperteilen.23 Die Arztmetaphorik hat damit zunächst die Funktion, etwas Unanschauliches und Unverständliches im Bereich der Erfahrungen zu thematisieren und zu strukturieren. Das „Gesundheitssystem“, das Plutarch metaphorisch aufruft, artikuliert sich näherhin in Orientierungsmetaphern, die auf eine „oben“/„unten“-Differenzierung zurückzuführen sind: Das hierarchische Gefälle von Arzt und Patient bzw. Fachmann und Laien – eine Struktur, auf die in „De sera numinis vindicta“ immer wieder zurückgegriffen wird. Die struktur- und orientierungsmetaphorischen Differenzierungen ermöglichen Kontingenzbewältigung. Auf der Grundlage eines Grundvertrauens in den Beruf des Arztes und dessen heilvoller Intention eignet ihnen ein affirmativer Aspekt. Der Preis dieses Metaphernkonzepts zeigt sich darin, dass die Gottheit, die straft und die Strafe gegebenenfalls verzögert, im Sinne der εὐλάβεια von 22 23
Zur Anknüpfung der Metaphorik Plutarchs an Platon: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 241f. Im 16. Kapitel (559 F) bezieht er sich auf die Praxis, Hüftkranken den Daumen zu kauterisieren, bei Leberabszess die Bauchdecke aufzuritzen und Rindern im Fall von Huferweichung die Hörnerspitzen einzuölen (zum medizinhistorischen Hintergrund: GÖRGEMANNS, Plutarch, 376 Anm. 3).
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
245
kritischen Rückfragen und Klagen der „Patienten“ resp. Dritter weitgehend ausgenommen wird. Die Metaphorik der göttlichen Medizin kann einer Immunisierung der Gottheit gegenüber menschlicher Rückfrage und Kritik Vorschub leisten.
2.2.
Handlungsspielräume im Bereich der Metaphorik göttlicher Therapie
Die derart bereits im Einleitungsteil methodisch verankerte medizinische Metaphorik durchzieht den ersten, argumentierenden und am „Wahrscheinlichen“ (558 D; vgl. 561 B: τὸ εἰκός) orientierten Teil von „De sera numinis vindicta“. Stellt sich der „Logos“ als eine Folge unterschiedlicher Lösungsanläufe dar, die auch in Spannung zueinander treten, so ergibt sich durch die medizinale Metaphorik eine hintergründige Kohärenz. Dabei werden im medizinischen Metaphernfeld unterschiedliche Funktionen in den Vordergrund gespielt. Auch hier fragen wir anhand von ausgewählten Beispielen nach der sinnlichen Gründung der einzelnen Metaphernbereiche und ihrer Bedeutung für die Argumentation. Im 6. Kapitel wird ein erster Komplex der Argumentation geprüft. Inwieweit eröffnet die Verzögerung von Strafe Möglichkeiten zur Korrektur üblen Verhaltens? Im Hinblick auf den Einzelnen und seine Verhaltensänderungsmöglichkeiten scheint hier die plutarchische Psychologie durch: Der Mensch qua „Seele“ hat die Möglichkeit, einerseits krank zu werden, das heißt: triebhaftem Verhalten zu erliegen; andererseits gibt es jedoch – in begrenztem Umfang – die Möglichkeit eines grundlegenden Richtungswechsels, der einer Heilung zuträglich sein kann. Plutarchs psychologische Position gewinnt dabei ihr Profil insbesondere im Unterschied zu stoischen Vorstellungen. Anders als die Stoiker geht Plutarch grundsätzlich nicht davon aus, dass der Mensch seine Triebe völlig besiegen und ausmerzen könne. Je nachdem, wie dieser Ansatz akzentuiert wird, bedeutet er, dass Menschen in einem begrenzten Maß mit Krankheiten leben müssen bzw. dass sie sich eben nie ganz selbst zu heilen vermögen, sondern in jedem Fall der ärztlichen Kunst bedürfen. Im Einzelnen fächert Plutarch hier solche Erwägungen nicht auf; er begnügt sich mit Hinweisen zur Wandelbarkeit des Charakters von Menschen (551 E/F). Akzentuiert sind die diagnostischen Fähigkeiten der Gottheit, die Einblick in den Seelenzustand nehmen kann und gegebenenfalls hinreichend „körpereigene Abwehrkräfte“ in Hinblick auf das Üble/Schädliche/Krankmachende erkennt und deren Mobilisierung abwartet: „Wenn die Gottheit über eine kranke Seele richtet, so darf man voraussetzen, dass sie ihre leidenschaftlichen Triebe durch und durch erkennt (διορᾶν), ob sie vielleicht nachgiebig werden und Ansätze zur Reue zeigen […]“ (551 C). Nur Unheilbares wird von der Gottheit so-
246
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
gleich ausgelöscht (551 D). Die Differenzierung ergibt sich dabei – sokratisch – anhand des Kriteriums des Wissens um das Böse bzw. des intentionalen Wollens. Vorausgesetzt ist, dass der Patient des Arztes bedarf und diesen im Fall der Krankheit früher oder später wieder aufsuchen wird. Wer zur Reue nicht fähig ist, der wird an der Therapie Gottes nicht vorbeikommen. Im Einzelnen gewinnt die medizinische Metaphorik im Zusammenhang der verschiedenen Beispiele und Erwägungen im Argumentationszusammenhang damit zugleich eine bedrohliche Komponente. Im Vordergrund steht hier nämlich weniger die Zuständigkeit des Arztes für die Gesundheit und Abwendung von Schaden als vielmehr der Aspekt, dass dem Arzt – früher oder später – niemand entkommen wird. Ärztliche Kunst und göttliches Strafhandeln, dem keiner entrinnen (vgl. Sir. 38,15), das vielmehr punktgenau eintreffen wird, werden einander stark angenähert.
2.3.
Sinnstiftung von bitteren Therapieerfahrungen durch Orientierungsmetaphorik und ontologische Bildersprache
Im 7. Kapitel (552 D–553 D) spielt Plutarch ein weiteres Argument für die Sinnhaftigkeit des Aufschubs von Strafe durch die Gottheit durch. Böse Menschen könne die Gottheit gezielt am Leben erhalten und ihnen einen Aufschub gewähren, um durch sie Übel zu verhindern bzw. Gutes zu vollbringen, so wie nach ägyptischem Brauch eine zum Tod verurteilte schwangere Frau nicht getötet wird, bis sie ihr Kind geboren hat (552 D). In politischer Hinsicht gehört hierher auch die Vorstellung, dass sogar Tyrannen zeitweise positive Funktionen im Plan der Gottheit übernehmen können. Plutarch vertieft auch dieses Argument unter Nutzung medizinischer Metaphern, genauer führt er aus der Pharmazeutik bittere und unliebsame Medikamente vergleichend an. Wie die Verabreichung von Hyänengalle medizinischen Nutzen haben könne24, oder auch das Lab des Seehundes, welches man gegen Epilepsie verschreibt25, so könne auch ein grausamer Herrscher in der göttlichen Pädagogik für Einzelne und ganze Staaten eine positive Funktion übernehmen (552 F; 553 A). Auch hier ermöglicht die metaphorische Rede eine unmittelbare Erfahrungs- und Sinnesgründung des Arguments: Wer einmal Galle geschmeckt hat und auf ärztlichen Rat hin bittere Medizin einnehmen musste, dem erschließt sich unmittelbar, was gemeint ist. Im Hintergrund steht auch hier das autorita-
24
25
Zur Galle als Ursache von Krankheiten und Therapeuticum in der antiken Medizin vgl. LEVEN, Art. Galle, 322f. Zur Verbindung von Hyäne und Seehund: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 248f. Zur Epilepsie und ihrer Therapie in der Antike vgl. V. BENDEMANN, Heilige Krankheit, 11–44 (siehe in diesem Band 125–156).
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
247
tive Gefälle: Zur Aufgabe des Arztes gehört es, zur Erreichung von Gesundheit der Patienten gegebenenfalls auch Bitteres zu verordnen. Damit wird zugleich eine Sinnstiftung des Bitteren, Ekelhaften und Schmerzlichen erreicht. Die Arztmetaphorik hilft nicht allein dabei, die Gerechtigkeitsproblematik zu klären, sie beantwortet auch die Frage, wofür es Ekliges und Bitteres überhaupt gibt. Die Erfahrung wird durch die Verschiebung im Metaphernfeld sinnvoll. In der Aktivierung der Metaphern ist wiederum ein Primat der Sinne festzustellen: Das Argument wird von Plutarch nicht allein aus der Perspektive des behandelnden Arztes entworfen; es wird vielmehr umgekehrt erst plausibel durch die Sinneserfahrung von Patienten, denen unangenehme Therapien auferlegt werden.
2.4.
Grenzbereiche der Metaphorik göttlicher Medizin
Die Kapitel 9–11 (553 F–556 E) beschreiben einen neuen Ansatzpunkt innerhalb der verschiedenen Argumentationskreise, die Plutarch im ersten Teil des „Logos“ von „De sera numinis vindicta“ durchläuft. Göttliche Strafe wird hier nicht unter dem Aspekt ihres Ausstehens, sondern vielmehr unter dem ihres bereits in der Gegenwart Eingetroffen- und Greifbarseins angesprochen. Die Bosheit bereitet dem Täter selbst Beschwerden, ähnlich einem Verbrecher, der körperlich die Last des Kreuzes spürt, das er zu seiner eigenen Hinrichtung tragen muss (554 A) oder wie bei einem Fisch, der bereits den Angelhaken im Maul stecken hat (554 E). Die Schlechtigkeit führt aus sich heraus (ἐξ αὐτῆς) zu einer Minimierung des Lebens des Täters der bösen Tat (554 B). Plutarch argumentiert hier anthropologisch-phänomenologisch, indem er auf eintretende Schamgefühle, Ängste und unaufhörliche Beunruhigungen verweist. Impliziert ist der Gedanke, dass die Gottheit den Täter des Üblen einem erbarmungswürdigen Zustand anheimstellt und überlässt. Das Argument, dass die vermeintliche Hinauszögerung der Strafe für Übles tatsächlich nur Dehnung des Leidens bedeute, wird wiederum mit der Metaphorik göttlicher Medizin gestützt und erweitert, wenn Plutarch auf die – nach Platon durch den an Schwindsucht (φθίσις) erkrankten Herodikos von Selymbria in die Medizin „eingemischte“ und von Platon gering geachtete (vgl. Plat. polit. 406a–408b) – Gymnastik verweist, die auf den Tod zulaufendes Leiden nicht heile, sondern lediglich verlängere (554 D). Wer die Strafe Gottes verdient, den behandelt Gott im Modus der Gymnastik: Strafe wird nicht für ein späteres Alter aufgehoben, sondern üble Menschen werden in einer schmerzhaften Therapie
248
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
unter andauernder Strafe alt (οὐδὲ γηράσαντες ἐκολάσθησαν, ἀλλʼ ἐγήρασαν κολαζόμενοι).26 Dieser Schritt ist in „De sera numinis vindicta“ überaus bemerkenswert: Das metaphorische Grundkonzept changiert hier unvermittelt und wird bis an seine Spannungsgrenzen ausgereizt. In diesem Zusammenhang erscheint die Gottheit als Leiden verlängernder, ja geradezu als quälender Arzt, der etwas im Sinne der Heilkunst Widersinniges tut, indem er Schmerzendes und dabei Unwirksames verordnet.27 Auch hier zeigt sich im medizinisch-metaphorischen Konzept von „De sera numinis vindicta“ deutlich der Primat der Sinne. Die metaphorische Kohärenz, die Plutarch erreicht, erschließt sich in vielen Abschnitten der Schrift nicht allein aus der Perspektive des Arztes, sondern aus der umgekehrten Richtung, aus der Perspektive des Patienten: Vom Patienten her betrachtet, haben die verschiedenen Metaphernfelder einen hohen Kohärenzgrad. Ausgangspunkt der Konzeptualisierung der Metaphern ist bei Plutarch zwar grundsätzlich der gute, auf das Erwirken von Gesundheit und Wohlsein hin orientierte Arzt;28 aus der Sicht des Patienten – seinen Sinnesempfindungen, sofern sie ärztlichen Maßnahmen ausgesetzt sind – kann sich diese gute Intention jedoch verdunkeln. Mit diesem von den Sinnen her entworfenen Perspektivwechsel arbeitet „De sera numinis vindicta“ immer wieder.29
26
27
28
29
Vgl. zur Bewertung der Gymnastik in Plutarchs diätetischem Werk: VAN HOOF, Ethics, 231– 235. Zum „langen Tod“, den die Gymnastik bedeutet: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 255f. HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 250f., bindet diesen Aspekt grundsätzlich an die pädagogische Zielsetzung der Philosophie Plutarchs zurück. Zu „Schmerzen“ in der Medizin siehe in diesem Band V. BENDEMANN, Schmerz, 275–322. Vgl. klassisch zum „Gutsein“ und auch zur „Gerechtigkeit“ des Arztes CH Medic. I 9: „Im Charakter gut und tüchtig, als solcher gegen alle gemessen und freundlich“ (τὸ δὲ ἦθος εἶναι καλὸν καὶ ἀγαθὸν, τοιοῦτον δὲ ὄντα πᾶσι καὶ σεμνὸν καὶ φιλάνθρωπον). I 16: „In allem Verkehr mit den Menschen muss der Arzt gerecht sein; denn oft muss Gerechtigkeit ihm aushelfen. Auch stehen die Kranken in einem bedeutsamen Verhältnis zum Arzt, geben sie sich doch den Ärzten in die Hand; und zu jeder Stunde kommen sie mit Frauen, Mädchen und wertvollsten Besitztümern zusammen. All dem gegenüber muss er an sich halten“ (Δίκαιον δὲ πρὸς πα̃σαν ὁμιλίην ει̃ναι· χρὴ γὰρ πολλὰ ἐπικουρέειν δικαιοσύνην, πρὸς δὲ ἰητρὸν οὐ μικρὰ συναλλάγματα τοῖσι νοσου̃σιν ἐστιν· καὶ γὰρ αὐτοὺς ὑποχειρίους ποιέουσι τοι̃ς ἰητροι̃ς, καὶ πα̃σαν ὥρην ἐντυγχάνουσι γυναιξίν, παρθένοις, καὶ τοῖς ἀξίοις πλείστου κτήμασιν· ἐγκρατέως οὖν δει̃ πρὸς ἅπαντα ἔχειν ταυ̃τα). Zum antiken Ärztebild (mit Literatur): V. BENDEMANN, Christus (2010), 52f., 162–164 (siehe in diesem Band 51–54). Die Auffassung von HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 279, wonach die medizinische Metaphorik in „De sera numinis vindicta“ Gott in seinem Umgang mit dem Menschen „als heilenden, helfenden Arzt […]“ charakterisiere bzw. „das Bild eines auch in seinem Strafhandeln guten, helfenden Gottes, der die Menschen zu ihrem Heil führen“ wolle, wird diesem Befund nur zum Teil gerecht.
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
2.5.
249
Metaphorische Koordination der Zusammenhänge von Zeiten und Generationen – Ärztliche Prognostik und Prophylaxe
Die Kapitel 12–21 beschreiben einen eigenen und in sich höchst komplexen Argumentationsverbund innerhalb von „De sera numinis vindicta“. 30 Im zweiten Teil des argumentierenden „Logos“ geht es um eine Frage, die im Eingang der Schrift bereits aus dem Mund des Timon anklang und nun durch diesen eröffnet wird (556 D/E): wie verhalten sich die Vorstellung der Gerechtigkeit der Gottheit und die eines generationenübergreifenden Strafhandelns zueinander? Die Vorstellung, dass nicht die Täter selbst, sondern gegebenenfalls erst ihre Kinder und weiteren Nachfahren Strafe erfahren, löst die Strafe von den Verursachern des Bösen und verlagert sie in eine Zukunft, in der gegebenenfalls selbst Unschuldige von den Taten ihrer Vorfahren eingeholt werden. Im Eingang der Schrift klang an diesem Punkt bereits das Problem an, dass Strafe, die nicht sogleich erfolgt und den Täter trifft, ihren pädagogischen Effekt zu verlieren droht (549 C). Dieser lange und hermeneutisch sehr schwierige Abschnitt von „De sera numinis vindicta“, in dem insbesondere Beispielen aus der antiken Mythologie eine zentrale Funktion zukommt, zerfällt in verschiedene argumentative Einzelfiguren. In ihnen spielen medizinale Metaphern in vielfältiger Weise eine stützende Rolle. a) Der Plutarch des Dialoges rekurriert auf das eingangs etablierte Prinzip der respektvollen Behutsamkeit in religiösen Fragen. Im 14. Kapitel (558 D/E) nimmt er „den Faden wieder auf“ und erinnert an die Gefahr von Verdunkelung und Irrwegen in der Rede vom Göttlichen, die einen eindeutigen Zugriff auf die Wahrheit verwehrt. Beispiele für in einem weiteren Sinn laienmedizinische bzw. magische Praktiken belegen, dass mit „Wirkungen“ auch dort gerechnet wird, wo sich Handlungen in ihrer Sinnhaftigkeit kaum entschlüsseln lassen. Dies gilt für den Brauch, nach einem Todesfall durch Schwindsucht oder Wassersucht die Kinder des Toten so lange mit ihren Füßen in ein Wasserbad zu setzen, bis die Leiche des Verstorbenen verbrannt ist. Derart soll ein magisch vorgestelltes „Überspringen“ der Krankheit des Verstorbenen gehemmt werden. Es klingt die Furcht an, die hinter entsprechenden Praktiken steckt. Vor allem ist ein erster Ansatzpunkt für die Erwägung gewonnen, dass es „Kräfte“ (δυνάμεις) gibt, die Fernwirkungen entfalten und über Distanzen, seien diese zeitlich oder räumlich, auf andere einwirken können
30
Zu traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen der Vorstellung kollektiver Haftung: GÖRGEMANNS, Plutarch, 333f.
250
Zur Metaphorik göttlicher Medizin (558 E).31 Die Pest von Athen fungiert als ein Beispiel für eine raum- und zeitübergreifende Krankheitsausbreitung.
b) In einem weiteren Schritt betrachtet Plutarch den Stadtstaat sowie das „Geschlecht“ unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Einheitlichkeit und Verbundenheit als „Lebewesen“ (ζῷον). Leben wird in ihnen von den Vorfahren her wesenhaft geprägt (559 E). Es gibt in ihnen eine Sympathie zwischen den einzelnen Körpern und Gliedern, und zwar in diachroner wie in synchroner Hinsicht. In einer Reihe unterschiedlich gelagerter und untereinander nicht spannungsfreier Beispiele und Erwägungen aus den Bereichen von Medizin und Pädagogik arbeitet Plutarch im 16. Kapitel (559 E–560 A) die verborgene Sympathie von Körpern bzw. Körperteilen bei Mensch und Tier heraus, die im Fall von Erkrankungen virulent wird und folglich „übergreifende“ Maßnahmen der Heilkunst zur Erzielung von Gesundheit/Gerechtigkeit erfordert. Zugleich bereitet Plutarch hier den für „De sera numinis vindicta“ am Ende entscheidenden Übergang von der Rede von Körpern (vgl. 560 A: σώματι διὰ σώματος) zu der von der Seele (ebd.: ψυχῇ διὰ ψυχῆς) vor. Damit ist die Grundlage für den „Mythos“ vom postmortalen Geschick eines Übeltäters geschaffen. c) Bevor der Plutarch des Dialogs in die mythische Erzählung wechselt, führt er jedoch noch ein weiteres diskursives Argument ein (561 B/C). Dieses wird wiederum aus dem Feld der Heilkunst gewonnen. In der Frage, ob sich Verfehlungen von Eltern auf die Kinder übertragen können, nimmt Plutarch im 19. Kapitel seinen Ausgang von einem Wort des Bion von Borysthenes, nach dem die Vorstellung einer göttlichen Strafe an den Kindern der Bösen noch lächerlicher sei als die eines Arztes, der den Enkel oder den Sohn des kranken Großvaters oder Vaters behandele (561 C). Plutarch analysiert dieses dictum in Hinsicht auf seine „Ähnlichkeit“ und seine „Unähnlichkeit“. Im Fall von akuten Leiden wie Fieber oder Augenentzündungen ist eine Wirkübertragung der Therapie auf andere nicht möglich. Dagegen übersieht Bion – so der Plutarch des Dialogs –, dass es Krankheitsfälle gibt, in denen „Anlage“ oder Gewohnheit von Kranken sich auf die Folgegeneration(en) auswirken. Der Arzt hat in diesem Fall die Aufgabe, dies diagnostisch zu erkennen und prophylaktisch den „kleinen Keim eines großen Leidens“ zu bekämpfen (μεγάλου πάθους σπέρμα μικρόν; 561 D). Als Beispiele für generationenübergreifende Krankheitsprophylaxe, die gegebenenfalls auch die Kinder und Enkel einbeziehen wird, verweist Plutarch auf
31
Zur Kombination der Bilder in „De sera numinis vindicta“ 558 D/E: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 261.
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
251
Medikamentation und diätetische Anweisungen im Fall von Epilepsie, Melancholie und Podagra.32 Fragt man nach der Funktionalität und Leistungsfähigkeit der Metaphorik göttlicher Medizin, so verhilft sie in diesem überaus schwierigen Teil der Schrift zunächst zu phänomenologischen Unterscheidungen. Mit ihrer Hilfe kann nicht nur festgestellt werden, dass es Bitteres und Schmerzen gibt, die durch Verordnung sinnvoll werden. Vielmehr zeigt die metaphorische Klärung, dass sich zuweilen destruktive Dynamiken feststellen lassen. Nicht alle Krankheiten sind Erbkrankheiten, aber der Arzt hat damit zu rechnen, dass es sie gibt. In diesem Abschnitt der Schrift, innerhalb dessen sich die Vorstellung sinnlosen und unschuldigen – durch die Gottheit hervorgerufenen oder vermehrten – Leidens so nahelegt, changiert das zugrunde liegende Arztbild/Gottesbild beträchtlich. Einerseits wird auch hier an der These festgehalten, dass die Heilkunst gegebenenfalls als „Strafe“ zu interpretieren ist – so bei der ärztlichen Prophylaxe im Fall von Menschen, die zum Ehebruch oder zur Gewalttätigkeit o. ä. neigen.33 Andererseits sucht Plutarch zugleich, der Vorstellung des guten und qualifizierten Arztes, der das Richtige erkennt, das Hauptgewicht zu geben. Ausdrücklich wird vermerkt, dass im Fall eines von einem schlechten/kranken Körper gezeugten Körpers nicht von Strafe (τιμωρία) zu sprechen sei – sondern von Heilkunst und ärztlicher Aufmerksamkeit (561 E). Mit Notwendigkeit wird der Plutarch des Dialoges in diese Differenzierung zwischen göttlichem Strafhandeln an Schuldigen einerseits und der heilvollen Zuwendung zu den Nachkommen andererseits gedrängt. Zudem wird sichergestellt, dass sich keine festen Gesetzmäßigkeiten des Übergreifens von Krankheiten/Übeln über die Generationenschranken hinweg ausrechnen lassen. Damit liegen aber auch die entsprechenden therapeutischen Maßnahmen nicht einfach fest (562 E). Das Prinzip der generationenübergreifenden Schuld- und Strafsolidarität kann zudem durchbrochen werden. Ein übler Vater kann einen rechtschaffenen Sohn haben, wie – medizinisch betrachtet – ein robuster Mensch von einem Kränklichen abstammen kann (562 F). Plutarch modifiziert hier das medizinale Modell: Die gute Tat kann krankhafte Zusammenhänge und Dynamiken suspendieren. In einer Zwischenbilanz ist festzuhalten: Wir haben bei Plutarch gesehen, dass die Metaphorik des göttlichen Arztes und seiner Heilkunst die Bedingungen einer ontologischen Metapher erfüllt, die zugleich Orientierungsfunktionen über32
33
Zur überaus komplexen Argumentation in diesem Teil von „De sera numinis vindicta“: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 266–275, der mit Recht fragt, inwieweit es Plutarch gelingt, die Anfrage Bions überzeugend zu entkräften (a. a. O., 269). In 562 D verwendet Plutarch einige Mühe darauf, Grenzziehungen im Bild des Göttlichen vorzunehmen, die dieses von Rachsucht und affektivem Handeln absetzen.
252
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
nimmt. Gott als Arzt ist – in den kognitivistischen Kategorien beschrieben – als ein Gefäß konzeptualisiert, verbunden mit der orientierenden Wertung von richtig und falsch. Die Metapher fungiert dabei in zwei Richtungen. Einmal wird ausgehend von der Sinneserfahrung des Schmerzes gefragt, wie dessen Vorhandensein zu erklären ist. Im Verbund der Schrift steht damit das Gerechtigkeitsproblem zur Disposition. Unter der besonderen Fragestellung der Verzögerung – diese soll ja plausibel gemacht werden – wird Schuld als medizinische Dysfunktion erklärt. Kontingenz kann so bewältigt werden. Zum anderen strukturiert die Metapher das ätiologische Feld möglicher Schmerzursachen und -folgen. Unterscheidbar werden z. B. akute von chronischen Krankheiten bzw. der besondere Fall von generationenübergreifender Krankheitsveranlagung. Fragt man vom argumentierenden „Logos“ her, warum die Arztmetaphorik überhaupt solche Funktionen übernehmen kann, so ist festzuhalten: Möglich wird dies zum einen dadurch, dass der Arzt auf der nichtmetaphorischen Ebene per definitionem ein Helfer in Krisen und Kontingenzsituationen ist. Plutarch baut hier auf dem etablierten Ärztebild seit der hippokratischen Medizin auf. Zum anderen aber ist ein ganz wesentlicher Aspekt in der Aktivierung medizinaler Metaphern bei Plutarch, dass das Aufsuchen des Arztes mit zusätzlichen sinnlichen Schmerzen verbunden sein kann. Menschen haben Schmerzen, und auch der Arzt verursacht Schmerzen – aber sein Ziel ist die Heilung.
2.6.
Metaphorik und mythische Erzählung von postmortalem Leiden und Scham
Der „Mythos“, mit dem die Schrift „De sera numinis vindicta“ schließt, eröffnet zuletzt die Möglichkeit, den fraglichen Zusammenhang von menschlichem Tun und göttlicher Strafe noch aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Der darstellerische Modus wechselt am Ende der Schrift von der argumentativen Rede zur eschatologischen resp. mythischen Erzählung. Eine solche Erzählung vermag eine Zeit und einen Raum zu antizipieren, die dem diskursiven „Logos“ verschlossen bleiben. Setzt der plutarchische „Mythos“ als Gattung am Ende der Schrift das platonische Schrifttum voraus, so gilt dies auch für die ihm zugrunde liegende Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele. Diese wird in einer wichtigen Gelenkstelle bereits im „Logos“ in Kapitel 17f. verankert. 34 Insbesondere kann Plutarch im Modus der mythischen Erzählung das schwierige Postulat eines generationenübergreifenden Strafhandelns der Gottheit nochmals aufgreifen. Einzelne dramatische Episoden des „Mythos“ führen 34
Zu Platon als Ausgangspunkt der Plutarchischen Mythen sowie zur Traditionsgeschichte und Funktion des Mythos in „De sera numinis vindicta“: ALT, Weltflucht, 91–94; V. BENDEMANN, Konzeptionen, 260–263 mit Anm. 81f.; zum Schlussmythos in „De facie in orbe lunae“: WÄLCHLI, Studien, 199–216.
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
253
aus, wie der generationenübergreifende Verbund und die kollektive Dimension göttlicher Strafe vorzustellen sind. Plutarch stellt diese Verbindung schon im „Logos“ (in 561 A/B) sicher, mit der ausdrücklichen Zielbestimmung einer Pädagogik der Abschreckung bzw. Ermunterung von schlechten Menschen. Der „Mythos“ illuminiert die Schmerzen und Krankheitsfolgen, die sich durch Missachtung der Regeln göttlicher Heilkunst ergeben. Als ein Modellfall wird der Übeltäter Thespesios aus Soloi eingeführt, der von einer grundlegenden Wandlung seines verkehrten Lebens in Folge von Widerfahrnissen in einem todesähnlichen Zustand zu berichten weiß. 35 In der dritten Person wird erzählt, wie Thespesios in diesem Zustand schon bald die Bewegung der Seelen verfolgt, unter denen er auch Bekannte erkennt, die sich bald in beklagenswerter Gesellschaft befinden (564 B). Sodann wird er Zeuge der Instanzen jenseitigen Strafvollzuges an den Seelen. Die Seelen derer, die im Diesseits ungestraft davon kamen, werden von der Δίκη den Vorfahren vorgeführt. Eine erste, gegebenenfalls schmerzvolle Begegnung der Generationen findet statt (565 B). Unter Qualen und Schmerzen (565 B: ἀλγηδόσι καὶ πόνοις) werden die Leidenschaften/Begierden der Seelen entfernt.36 Am Strafort sieht Thespesios im 30. Kapitel (566 E–567 D) nicht allein Freunde, Angehörige und Bekannte furchtbare Leiden, Schmerzen und Strafen erdulden, sondern vielmehr auch seinen eigenen Vater aus einer Kluft aufsteigen, der von Brandmalen und Narben bedeckt ist (566 E). Der Vater wird von den Strafvollstreckern beschämt, indem er gezwungen ist, seinem Sohn gegenüber eine schwere Verfehlung zu bekennen. Er habe aus Habgier Gäste vergiftet und somit die Gastfreundschaft auf schlimmste Weise verletzt. Erst im Jenseits wurde diese Freveltat aufgedeckt. Unheilvolle Strafe vollzieht sich damit nicht nur in somatischem Schmerz, sondern in einer sich über die Generationengrenzen hinaus erstreckenden Scham und Beschämung. In einer weiteren Jenseitsepisode wird im 31. Kapitel von einer dramatischen Begegnung über die Generationengrenzen hinweg berichtet. Seelen, die ihre Höllenstrafen bereits abgeleistet zu haben meinen, treffen auf ihre Nachfahren, denen sie durch ihre Untaten schlimmes Geschick erwirkt haben. Die Vorfahren werden aufs Neue von den Strafvollstreckern gequält. Die Nachfahren, die sich wie zornige Bienen- oder Fledermausschwärme an ihre Vorfahren hängen, können hieran zugleich ablesen, auf welches Geschick sie selbst zusteuern (567 D). Fassen wir zusammen: Wir haben ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige ausgewählte Stellen der plutarchischen Schrift „De sera numinis vindicta“ auf die Nutzung medizinaler Metaphernsprache hin befragt. Unser leitendes Inter-
35
36
Zum philosophiegeschichtlichen bzw. psychologischen Hintergrund des Sturzes auf den Hals (563 D) vgl. GÖRGEMANNS, Plutarch, 377f. Anm. 4. Siehe zu den Vorstellungen im Einzelnen: ALT, Weltflucht, 92–94.
254
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
esse war dabei die Untersuchung der Gründung der metaphorischen Rede von Gott als Arzt in sinnlichen Körpererfahrungen. Insgesamt zeigte sich, dass medizinale Metaphern für die Thematik von Schicksal, Vorsehung und göttlicher Strafe geeignet sind, da sie an Krankheitserfahrungen anschließen, für die Spezialisten mit ihrem Repertoire besonderer Behandlungsmaßnahmen zuständig sind: die Ärzte. In Hinsicht auf das Verständnis des Handelns der Gottheit entspricht das Axiom des grundsätzlich guten Arztes, der das Wohlsein seiner Patienten anzielt und der unbedingte Autorität beansprucht, dem gewählten methodischen Vorgehen, welches unter der Prämisse der εὐλάβεια in bonam partem fragt und argumentiert. Aus der Sicht der Patienten kann sich die gute Intention des Arztes freilich verdunkeln und können entsprechende Axiome an Grenzen stoßen. Vor allem in dieser Hinsicht wird die Gründung in der Sinneswahrnehmung aktiviert: Nicht nur Krankheitswiderfahrnisse, sondern auch Erfahrungen mit Ärzten können schmerzhaft und leidvoll sein, Therapien uneinsichtig, uneffektiv und am Ende leidvermehrend. Der „Mythos“ zeigt – in Aufnahme und Fortführung platonischer Mythen – die Grenzen der metaphorischen Rede von Gott als Arzt. Diese versagt im Fall nicht erkennbarer Schuld, sie wird dunkel im Fall der erblichen Erkrankung. Dies ist ein grundsätzlich interessanter Vorgang: Um die Grenzen der Metapher als einer sinnbasierten Konzeption von Leben und Welt zu beschreiben, bedarf es am Ende der Erzählung des „Mythos“, die Konsistenz schafft. Auch im „Mythos“ spielen dabei die Sinne eine wichtige Rolle, sie sind angesprochen in der Gestalt von Narben (οὐλαί), Striemen (μώλωπες), Schmerzen (πάσχειν), Betrübnis (λυπεῖν), schlimmem Schicksal (ἀτύχημα), Schande (αἰσχύνη) resp. Aufhebung von Ehre (τιμή) und Scham (vgl. 561 A/B; 565 B). Solche Jenseitsqualen werden mythisch nicht mehr ausdrücklich über die Arztmetaphorik eingeholt. Doch sind die entsprechenden Bezüge in der verstärkenden Verklammerung von „Mythos“ und „Logos“ sichergestellt (vgl. die wichtige Gelenkstelle in Kapitel 18f.). Krankheit heißt: In der Hölle, am Peinigungsort, nicht zur Ruhe kommen, vielmehr immer wieder aufs Neue Schmerzen leiden müssen.37
3.
Christus, der Arzt des Leibes und der Seelen – Zur Metaphorik göttlicher Heilkunst in altchristlichen Texten
Wenden wir den Blick vom griechischen Apollon-Priester und philosophischen Schriftsteller Plutarch – einem großen Einzelnen – zum Feld der Literatur der 37
Zur Kohärenz von „Logos“ und „Mythos“: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 278f.
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
255
frühen Christen, so geschieht dies unter der Voraussetzung, dass nach einem weitreichenden common sense der Forschung das plutarchische Schrifttum nicht allein eine wichtige Brücke zwischen griechischem Mittelplatonismus und römischer Kaiserzeit schlägt, sondern sich in ihm – unter den Vorzeichen zunehmender Hellenisierung – zugleich auch ein Brückenschlag zur frühchristlichen Literatur erkennen lässt. Es überrascht insgesamt nicht, dass sich zu nahezu jeder Aktualisierungsform der Metaphorik göttlicher Medizin enge Parallelen im frühchristlichen Schrifttum benennen lassen. Einschränkend ist dabei festzuhalten, dass es in den ersten zwei Jahrhunderten keinen christlichen Text gibt, der in ähnlich umfassender und enzyklopädischer Weise auf die Metaphorik des Medizinischen zurückgreift.38 Der Betrachtungsmodus ändert sich darum in diesem Schritt. Wir gehen im Folgenden nicht von einem konkreten frühchristlichen Text aus, sondern benennen verschiedene metaphorische Aspekte und Konzepte und greifen hierfür auf unterschiedliche Beispiele zurück. Besonders lohnend ist es dabei, diachrone Entwicklungen metaphorischer Konzepte mit im Blick zu halten. Das frühe Christentum ist zunächst unterwegs zu einem metaphorischen Differenzierungsgrad, wie wir ihn im Schrifttum Plutarchs feststellen können; es geht unter veränderten Rahmenparametern zugleich in der Verwendung ganz ähnlicher ontologischer und orientierender Metaphern strukturell über ihn hinaus. Hierbei muss ich im Folgenden zahlreiche Forschungsprobleme, die sich im Detail einzelner Schriften stellen, abschattieren.
3.1.
Differenzen der Sinnstrukturierung, Orientierung und Ontologisierung der Metaphorik göttlichen Heilens
Zunächst ist festzuhalten: Sowohl Plutarch als auch die frühchristlichen Schriftsteller rechnen mit der Möglichkeit sinnlicher Erfahrung, dass Gott resp. die Gottheit kranke Menschen tatsächlich in medizinischem Sinn gesund zu machen vermag.39 Im frühchristlichen Schrifttum wird solche Überzeugung allerdings unter 38
39
Der Topos des „Christus medicus“ / Χριστὸς ἰατρός findet sich explizit noch nicht in den neutestamentlichen Schriften. In den synoptischen Evangelien begegnet das Nomen „Arzt“ nur an drei Stellen: In der metaphorischen Aussage Jesu im Zusammenhang der Sündenvergebung (Mk 2,17 par), im Erzähleingang der Heilung der „Blutflüssigen“, die umsonst Ärzte konsultiert und ihr Vermögen an sie verwendet hat (Mk 5,26 par) sowie in der ironisch-sprichwörtlichen Aufforderung, die Jesus nach Lk 4,23 entgegen gehalten wird: „Arzt, heile dich selbst!“ (siehe antike Vergleichsstellen bei NOLLAND, Parallels, 193– 209). Mit Recht HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 233: „Eine Dichotomie zwischen der Behandlung des Leibes und der Seele, die bei einem metaphorischen Gebrauch vorausgesetzt sein müßte, besteht bei Plutarch gerade nicht. Die beiden Bereiche rücken so nahe aneinander und werden ineinander verschränkt, daß sie zum Teil kaum unterschieden werden können.“
256
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
differenten Vorzeichen zum Ausdruck gebracht. Zwei entscheidende Differenzpunkte seien herausgehoben: 1.
Im Hintergrund steht im frühen Christentum die Überzeugung, dass Krankheit und Leiden Zeichen einer vergehenden und verlorenen Welt sind, die Gott zu überwinden im Begriff ist. Im weiteren Sinn wäre hier über den frühjüdisch-apokalyptischen Rahmen frühchristlicher Interpretation von Krankheit und Leid zu sprechen: Ein Überzeugungsrahmen, der dem griechischrömischen Denken Plutarchs im Grundansatz fremd ist. Metaphorologisch betrachtet, ändern sich die Vorzeichen – vergleicht man sie mit hellenistisch-römischen Zeugnissen – vor allem im Bereich der Orientierungsmetaphorik, d. h. der Strukturen von „nah“/„fern“, „vorne“/ „hinten“ und auch „oben“/„unten“. Eine veränderte Sinnstrukturierung, die ihre Voraussetzungen traditionsgeschichtlich dem Judentum verdankt, macht im ältesten Christentum ganz andere Wahrnehmungen möglich und führt zu differenten Ontologisierungen von Krankheit und Heilung. Plutarchs Zeitvorstellung ist eine andere als die der frühjüdischen und frühchristlichen Eschatologie(n).
2.
Einschränkend ist dabei nochmals festzuhalten, dass sich eine summarische Position des ältesten Christentums (und auch des frühen Judentums) nicht bestimmen lässt, sondern Entwicklungen im Metaphorischen in Rechnung zu bringen sind. Die Nutzung medizinischer Vorstellungen erfolgt im Christentum bis zum Ende des 2. Jahrhunderts deutlich zurückhaltender und undifferenzierter, als es in der zeitgenössischen hellenistischen Philosophie festzustellen ist. Eine dem plutarchischen Schrifttum vergleichbare Aneignung medizinischer Paideia stößt im frühen Christentum unter frühjüdischen Denkvoraussetzungen, wie wir sie beispielsweise im Sirach-Buch im 2. Jahrhundert v. Chr. (Sir. 38,1–15LXX) greifen können, auf beträchtliche Widerstände. Erst ab der Mitte des 2. Jahrhunderts kommt es – allmählich und nicht gleichmäßig – zu einer positiven Annäherung an die Einsichten der wissenschaftlichen Schulmedizin der Zeit und werden theologische bzw. christologische Reserven zurückgestellt. Der niedrigere Differenzierungsgrad hängt dabei u. a. auch mit den differenten Bildungsvoraussetzungen der frühen Christen zusammen. Er ist in Hinsicht auf die sinnliche Basierung zugleich darin begründet, dass Christinnen und Christen in der Frühzeit überwiegend als Unterschichtsangehörige aufgrund ihrer begrenzten materiellen Ressourcen weniger Erfahrungen mit der heilenden Fähigkeit von Ärzten hatten.
3.
Im Zentrum der Sinn- und Überzeugungswelt der frühen Christen steht eine Rettergestalt, der Heilungspotenzen in singulärer Weise zuzuschreiben sind. Der sinnliche Bezug ist dabei in nicht-metaphorischer Weise vorgegeben:
Zur Metaphorik göttlicher Medizin
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Christus ist nach Überzeugung der ältesten Christen Arzt. Eine solche singuläre Gestalt mit Heilfähigkeiten, die an der räumlichen und zeitlichen Schaltstelle einer Weltenwende zu verorten wäre, ist dem religionsphilosophischen Denken Plutarchs inkommensurabel. 40 Zusammengefasst finden wir im Schrifttum Plutarchs einen hohen Differenzierungs- und Elaborationsgrad der Metaphorik göttlicher Medizin. Entsprechende traditionsgeschichtliche Konzepte des zeitgenössischen Christentums sind dagegen noch in statu nascendi. Es ergeben sich aus dem Alten Testament und frühjüdischen Traditionen erste Ansatzpunkte für die Vorstellung Gottes als Arzt; von hier aus ist dann eine längere Entwicklung in den ersten Jahrhunderten nachzuzeichnen. D. h., es ergibt sich auf dem religiösen Feld des frühen Christentums die spannende Möglichkeit, die Entstehung der ontologischen Metaphorik göttlicher Medizin in einem neuen Rahmen beobachten und sie in ihrer Entwicklung weiter verfolgen zu können. Vergleicht man schematisch, so ließe sich feststellen: Bei Plutarch ergänzt der „Mythos“ den „Logos“; das eigentliche Gewicht aber trägt in „De sera numinis vindicta“ der „Logos“, nicht der „Mythos“. Den „Mythos“ stellt Plutarch nur auf Nachfrage, zögerlich und mit einigen distanzierenden Bemerkungen ans Ende (vgl. Plut. de sera 561 B; 563 B). Im frühen Christentum dominiert dagegen zunächst der „Mythos“ den „Logos“: der „Mythos“ von Christus als sinnlich erfahrbarem Retter. Solche fundamentale Differenz schließt nun allerdings nicht aus, dass im Darstellerischen gleichwohl zahlreiche Parallelen zwischen frühchristlichen Erzählungen des Heiltäters Jesus bzw. zwischen der diskursiven Soteriologie der frühchristlichen Briefliteratur und der plutarchischen Rede von der Gottheit als Arzt und seinen therapeutischen Bemühungen zu verzeichnen sind.
3.2.
Ansatzpunkte und Entwicklungsstadien der Metaphorik göttlicher Medizin im ältesten Christentum
Medizinische Metaphorik, die der Explikation der heilvollen Intention Gottes und der Möglichkeitsbedingungen realer Transformation des Lebens dient, findet sich bereits im christlichen Schrifttum des 1. Jahrhunderts. Aus dem Neuen
40
Wenn Plutarch das frühe Christentum gekannt hätte, hätte er es wahrscheinlich ähnlich verstehend-missverstehend mit religionsgeschichtlichem Interesse wie das Judentum wahrgenommen; es wäre ihm im Übrigen als Gestalt der δεισιδαιμονία resp. superstitio erschienen (vgl. Plut. symp. IV [669 E–672 C] zu Plutarchs Sicht des Judentums). Vgl. STERN, Authors, Bd. 1; FELDMANN, Jews, 529–552. Zum Problem des superstitio-Vorwurfs: GUTTENBERGER, Superstitio, 183–227.
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Testament seien zwei Beispiele herausgegriffen. Diese Beispiele sollen dann noch genauer auf Ansatzpunkte einer Entwicklung hin befragt werden. 1.
Im Epheserbrief spielt das Bild des „Leibes Christi“ eine zentrale Rolle. Es wird gegenüber der Leib Christi-Metaphorik des Paulus entscheidend weiterentwickelt. Schon Paulus setzt im 12. Kapitel seines ersten Briefes nach Korinth ein Körpermodell voraus, das sich auch mit antik-medizinischen Vorstellungen vergleichen lässt und in dem bestimmte Körperzonen und Körperfunktionen besonders hervorgehoben erscheinen.41 Der Verfasser des Epheserbriefes hat dieses auf die Vorstellung kirchlicher Einheit hin konzeptualisierte Körpermodell des Paulus weiterentwickelt. Besonders betont sind dabei im Epheserbrief im 4. Kapitel die Sehnen und Bänder, die die Kirche als Einheit umgreifen. Eph 4,16 ist dabei nicht, wie in der früheren Forschung vielfach postuliert wurde, vom Modell des Skelettbaus des Körpers her zu verstehen. Vielmehr steht die Vorstellung der Steuerung und Versorgung des Körpers vom Kopf her im Hintergrund, wie sie sich verschieden im Corpus Hippocraticum und auch bei Erasistratos findet. Zugleich wird die Einheit des vom Kopf her bestimmten Körpers betont. In kephalozentrischer Sicht erscheint der Leib von Christus als Kopf her organisiert, versorgt, aufgebaut und organologisch geeint. In der Konzeption des Epheserbriefes wird dabei den kirchlichen Funktionsträgern eine besondere verbindungsstiftende und nährend-steuernde Funktion zugeschrieben.42 Die entscheidende Differenzierungsmöglichkeit eröffnet sich über die κεφαλή-Metaphorik, die sich wiederum durch antik-medizinische Konzepte erschließt: Im einen Fall wird die Funktionalität eines menschlichen Körpers von der κεφαλή her erschlossen; nach anderen Konzepten ist eher ein Gegenüber von Kopf und Seele bzw. Geist und Leib zu konstatieren.
2.
Ein zweites Beispiel: Die Bezeichnung „gesund machende Lehre“ (1 Tim 1,10: ὑγιαίνουσα διδασκαλία; 2 Tim 4,3; Tit 2,1) bzw. „gesund machende Worte“ (vgl. 1 Tim 6,3: ὑγιαίνουσιν λόγοις τοῖς τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ; 2 Tim 1,13; vgl. Tit 2,8) bzw. die Rede vom Gesundsein resp. -werden „im Glauben“ (Tit 1,13: ἵνα ὑγιαίνωσιν ἐν τῇ πίστει; 2,2: ὑγιαίνοντας τῇ πίστει)
41
Vgl. zur Nutzung der Leib-Metaphorik in 1 Kor 12 ZELLER, Brief, 394–404. „Paulus hat absichtlich gleichgestaltete (die Extremitäten) bzw. funktionsverwandte (zwei Sinnesorgane) Glieder gewählt, um zu zeigen, dass dennoch keines von ihnen überflüssig ist, sondern jedes seine eigene Aufgabe im Leib hat“ (a. a. O., 399). Diskutiert wird auch, ob es einen konkreten Bezug zu den Organdarstellungen als Votivgaben im Asklepieion von Korinth gibt (hierzu: FITZMYER, Corinthians, 475f.). Zu Differenzen zwischen dem Bild in 1 Kor 12; Röm 12 und medizinischen Körpermodellen vgl. V. BENDEMANN, Körperkonzeptionen, 157-191 (siehe in diesem Band 323–352). Siehe zum Hintergrund der medizinischen Metaphern und ihrer Auslegung im Epheserbrief LINCOLN, Ephesians, 262f.; SELLIN, Brief, 349–351.
42
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markiert eine Besonderheit der in der dritten frühchristlichen Generation entstandenen Pastoralbriefe. Die Pastoralbriefe führen dabei eine Linie fort, die wir anders auch bei Plutarch feststellen konnten: Die wahre Philosophie ist eine Medizin, die richtige δόξα, die richtige Lehrmeinung, heilt von Trugschluss und Irrtum. Der Philosoph ist nicht allein der Doktor des Körpers, sondern auch zugleich der der Seelen. Das von Plutarch vorausgesetzte autoritative Gefälle zwischen Arzt und Klienten findet in den Pastoralbriefen eine enge funktionale Entsprechung im hierarchischen Gefälle zwischen dem idealen kirchlichen Amtsträger – in Gestalt von Episkopen und Ältesten – und kirchlichen Laien bzw. einfachen Gläubigen. Es handelt sich um ein metaphorisches Konzept, das nicht auf einen zeitgenössischen Ist-Zustand kirchlicher Ordnung zu befragen ist, sondern für einen begrenzten Raum ein ideales, anzustrebendes Modell („oben“/„unten“; „vorne“/„hinten“; s. u. Pkt. 1.) konzeptualisiert. Im Hinblick auf die Verwendung medizinischer Ausdrücke und Metaphern ist dabei die Applikation auf den Bereich christliche Lehre, des Lehrens und Lernens, besonders auffällig und signifikant. Antonym zu den Ältesten-Bischöfen als Garanten des Heils und der „gesunden Lehre“ ist das Verhalten der Gegner bzw. der von ihnen hervorgerufene Abfall vom rechten Glauben als „krankhaft“ einzustufen.43 Der bildhafte Sprachgebrauch, der hier in den Pastoralbriefen aktiviert wird, ist sowohl in der griechisch-hellenistischen, der römischen als auch in der hellenistisch-jüdischen Antike gut vorbereitet. Insbesondere in der hellenistischrömischen Philosophie kann das Vernünftige, Richtige, Ausgewogene, Maßvolle und der Ordnung Entsprechende als „gesund“ qualifiziert werden. Ähnlich den Distinktionen der Pastoralbriefe können in der kynisch-stoischen Popularphilosophie „gesunde“ von „kranken“ Lehrmeinungen unterschieden werden. Vorausgesetzt ist, dass die „Seele“ des Menschen durch die richtige Philosophie kräftig und gesund sein kann, durch verfehlte Meinungen dagegen physischen Schaden nimmt. Der Philosoph hat dementsprechend wie ein heilender Arzt zu agieren, der menschenfreundlich und empathisch die richtigen Lehren vertritt und so Gesundung der Seelen erwirkt. Hier stoßen wir auf dasjenige Selbstverständnis antiker Philosophie, das grundsätzlich den Schriften Plutarchs zugrunde liegt, darüber hinaus bei römischen Popularphilosophen wie Seneca oder auch bei Griechen wie Lukian und Dio Chrysostomus weit verbreitet war. Der besondere Akzent der Pastoralbriefe ist dabei in der grenzziehenden und teilweise polemischen Akzentgebung der Metaphorik gegen die Irrlehrer zu 43
Zu den Irrlehrern in den Pastoralbriefen vgl. ROLOFF, Brief, 230–239. Vgl. a. a. O., 331, zu 1 Tim 1,10: „Die beiden beigelegten Prädikate ‚gesund‘ und ‚der Frömmigkeit entsprechend‘ umschreiben die Auswirkungen beider Traditionskomplexe und sind nahezu synonym gebraucht: ‚gesund‘ ist das, was sich im Lebensvollzug der Kirche bewährt […] und zu einem sinnvollen Miteinander gestalteten Lebens, d. h. zur ‚Frömmigkeit‘ (εὐσέβεια) führt“. Dagegen gelten die Irrlehrer in 1 Tim 6,4 als „krank“ (νοσεῖν).
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greifen. Diese betrifft einerseits die Lehre als solche und andererseits die unmittelbar mit ihr verknüpfte Praxis, d. h. das ethische Verhalten. Ihnen steht der ideale Gemeindeleiter gegenüber, dessen Bild die Briefe ausarbeiten. In seiner Lehre wird das apostolische Erbe gewahrt; auf seine „gesunde Lehre“ sollen die Christen achten und sich nach ihr ausrichten und sich von krankmachenden Lehren fernhalten.44 Fassen wir diese Textbeobachtungen noch einmal im Hinblick auf die metaphorischen Prozesse zusammen: 1.
Überaus aufschlussreich ist nicht nur die Bedeutung, die die Leib-Metaphorik im frühen Christentum gewinnt, sondern vielmehr ihre besondere Verbindung mit der Frage nach der Funktion der κεφαλή – des Kopfes. Es handelt sich um ein weiteres Beispiel für eine ontologische metaphorische „oben“/„unten“-Strukturierung von Wirklichkeit, für die in den kognitivistischen Metaphernmodellen primäre Sinngrundierung beansprucht wird (s. u. Pkt. 1.). Im Vergleich mit Plutarch muss dabei als besonders auffällig gelten, dass mit der gewählten Metaphorik im frühchristlichen Schrifttum die kollektive Identität thematisiert wird, kaum dagegen die individuelle Identität. Im Fall von „De sera numinis vindicta“ verhält sich dies anders, wie wir sahen: Mit Ausnahme des längeren Abschnittes in Kapitel 12–21, der um die Frage generationenübergreifender Schuld kreist und in dem auch soziale Vorstellungen der Mikrokosmos-Makrokosmos-Entsprechung genutzt werden, ist bei Plutarch die Frage der Bestrafung individueller Schuld bzw. der Ansatz beim individuellen Leiden konstitutiv. Dort, wo sich im ältesten christlichen Schrifttum ähnliche metaphorische Figuren wie bei Plutarch finden, changiert ihre Anwendung. Übergänge lassen sich besonders gut im Verhältnis der anerkannt echten Paulusbriefe und derjenigen Briefe studieren, die im weiteren Sinn von Schülern des Paulus stammen.
2.
Bei Paulus selbst, in Texten wie 1 Kor 12 und Röm 12, geht es dabei in der metaphorischen Konzeptualisierung nicht um die Arztsorge für den kranken Leib, sondern vielmehr um die Selbstsorge des Leibes. Das metaphorische Konzept von Krankheit und Heilung bzw. das zugrunde liegende Gesundheitssystem konzeptualisiert hier die Lebenssituation einer Gruppe, die sich noch überwiegend – im engen Verbund zum antiken Judentum – als arztlose Gesellschaft weiß. Die Frage, die Paulus beschäftigt, ist darum, auch wenn er in 1 Kor 12 mit charismatischen Wunderheilungen rechnet (vgl.
44
Siehe zu den „gesunden Worten“ bzw. der „gesunden Lehre“ in den Pastoralbriefen und ihrem traditionsgeschichtlichen Hintergrund ROLOFF, Brief, 76–79; WEISER, Brief, Teilbd. 1, 130–132.
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1 Kor 12,9.30: ἰάματα), nicht die, wer kommen wird, um den gestörten Organismus zu heilen, bzw. die, was der Arzt tun wird. Die den Text bewegende Fragestellung ist die, wie der Körper selbst so zu leben vermag, dass er als organische Einheit Erkrankung vermeidet oder überwindet. Strukturell kann man die Überordnung der Liebe über das Heilungswunder in 1 Kor 13 oder auch die Metaphorik vom Fortschaffen des alten Sauerteiges in 1 Kor 5,6 vergleichen. 3.
Im Epheserbrief finden wir eine gegenüber Paulus veränderte Konzeption vor. Nicht mehr nur die Selbstorganisation des Leibes wird metaphorisch ausgearbeitet. Vielmehr wird mit der stärker betonten Orientierungsmetaphorik von „oben“ und „unten“ – Christus als Haupt in den Himmeln und sein Leib auf der Erde (vgl. Eph 1,22f.; 2,19; 4,10–13.15f.; 5,23f.; vgl. Kol 1,18) – Raum geschaffen für die Möglichkeit, dass Gott resp. Christus an seinem Leib auch als Arzt handelt. Im Epheserbrief selbst ist dies allerdings nicht konsequent mit der Metaphorik göttlicher Medizin durchgeführt.
4.
In gewisser Weise kann man die Pastoralbriefe als eine konsequente Fortführung der Metaphorik in der deuteropaulinischen Literatur begreifen, wobei im Hintergrund Paulus selbst steht. Die Gemeindeleiter fungieren als „Ärzte“, indem sie mit „gesunder Lehre“ bzw. „gesunden Worten“ behandeln, die sich bis hinein in konkrete diätetische Vorschriften ausdifferenzieren (vgl. 1 Tim 5,23). Allerdings tritt in den Pastoralbriefen im Vergleich zum Kolosser- und Epheserbrief die Leibmetaphorik zurück. Und auch der oben angesprochene apokalyptische Orientierungsrahmen wird konzeptionell stark zurückgenommen. Zu fragen wäre auch, wie sich die Vorstellung der „gesunden Worte“ und der „gesunden Lehre“ zum etwa zeitgleichen nichtmetaphorischen Zugriff auf Jesus als konkreten Wundertäter in der Evangelienliteratur verhalten. Die Pastoralbriefe spiegeln so eine Konzeption, die sich nur bedingt in eine übergreifende Entwicklung medizinischer Metaphorik im frühen Christentum integrieren lässt. Ihr besonderer Beitrag lässt sich so beschreiben: Das frühe Christentum betritt mit seinen besonderen heilkundlichen Metaphern die philosophische Arena. Der ideale Amtsträger übernimmt dabei Funktionen des den Leib und die Seele therapierenden Philosophen. Dabei spielt das Konkurrenzmotiv gegenüber den Irrlehrern eine herausragende Rolle. Zugleich bleibt – anders als bei Plutarch – die Dominanz des „Mythos“ über den „Logos“ gewahrt. Die Wahrheit der „gesunden Lehre“ wird über den „Mythos“, die apostolische Tradition, begründet; sie wird demgegenüber – anders als bei Plutarch – weniger argumentativ-metaphorisch erschlossen. Hiermit hängt auch zusammen, dass die Basis eigener Erfahrungen der Leserschaft mit konkreter körperlicher Dysfunktionalität und leib-
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Zur Metaphorik göttlicher Medizin licher Heilung nicht so deutlich angesprochen ist wie im Fall der untersuchten Plutarchstellen.
4.
Das Christologumenon des Arztes – Zur weiteren Entwicklung der Metaphorik göttlicher Heilkunst im frühchristlichen Schrifttum
Die religiöse Verwertung medizinischer Metaphern ist im ältesten christlichen Schrifttum nur ansatzweise und zurückhaltend durchgeführt. Dies entspricht insgesamt den Befunden für das alttestamentliche und frühjüdische Schrifttum. Die Gründe, die sich hierfür anführen lassen, sind mehrgestaltig; die immer wieder bemühte These vom sogenannten Heilungsmonopol des Gottes Israels ist für sich genommen nicht suffizient. Unter anderem sind auch die oben bereits angesprochenen Bildungsvoraussetzungen der frühen Christen mit in Rechnung zu bringen. Jedenfalls ist auffällig, dass erst im Laufe des 2. Jahrhunderts eine Entwicklung einsetzt, die dann durch die Alte Kirche hindurch weiter zu verfolgen ist: In immer stärkerem und differenzierterem Ausmaß gewinnt die Metaphorik der göttlichen Medizin zur Explikation des Heils an Konjunktur. 45 1.
Die Entwicklung zentriert sich dabei weniger in der Vorstellung vom deus medicus, die sich in der folgenden Väterliteratur auch immer wieder findet, als vielmehr in dem Christologumenon: Christus als Arzt. Die metaphorische Rede von Christus als Arzt begegnet erstmals in einem frühchristlichen Brieftext, nämlich bei Ignatius von Antiochien in seinem Brief an die Gemeinde von Ephesos. Im Epheserbrief des Ignatius (Ign. Eph. 7,2) ist eine im Judentum theologisch gefasste Vorstellung christologisiert worden46, wenn es heißt: „einer ist Arzt, fleischlich und zugleich geistlich, gezeugt und ungezeugt, in Fleisch gewordener/erschienener Gott, im Tod wahrhaftiges Leben […]“ / ει̃ς ἰατρός ἐστιν, σαρκικός τε καὶ πνευματικός, γεννητὸς καὶ ἀγέννητος, ἐν σαρκὶ γενόμενος θεὸς, ἐν θανάτῳ ζωὴ ἀληθινή. Funktional ist das Arzt-Attribut hier mit der Rede von der „gesunden Lehre“ in den Pastoralbriefen vergleichbar: Es hat eine antihaeresiologische Spitze. Der Kontext von Ign. Eph. 7,1f. gibt zu erkennen, dass sich das Be-
45
Vgl. den allgemeinen Überblick über die Entwicklung von Heilungskonzepten in der Alten Kirche NIELSEN, Heilung, 216–252. Vgl. schon die christologische Deutung von Jes 53,5.7LXX in Barn. 5,2; vgl. Philo sacr. 70 von Gott: ἐπὶ τὸν μόνον ἰατρὸν ψυχῆς; vgl. Theoph. Autol. 1,7; dagegen ActThom 10,6 (im Kontext): ὁ ἰατρός τω̃ ν ἐν νόσῳ κατακειμένων ψυχῶν καὶ σωτήρ πάσης κτίσεως; 143,3: πιστεύσατε τῷ πάντων ἰατρῷ ὁρατω̃ ν τε καὶ ἀοράτων σωτηρίαν τω̃ ν ψυχω̃ ν.
46
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kenntnis – metaphorisch – gegen „tollwütige“ und bissige Hunde richtet: οὓς δεῖ ὑμᾶς φυλάσσεσθαι ὄντας δυσθεραπεύτους. Tollwut gilt in der antiken Medizin als „elendste Form der Krankheit“ (Cels. med. V 27,2: „miserrimum genus morbi“).47 Der Arzt ist somit eher ein „bodyguard“, ein „Wächter“, als ein medizinischer Fachmann. Die Intention des Ignatius ist dabei darin zu erkennen, die Gleichgewichtigkeit und -bedeutsamkeit von fleischlicher und pneumatischer Realität Christi unter soteriologischem Vorzeichen festzuhalten.48
47 48
Vgl. STAMATU, Art. Tollwut, 870f. Dabei kann hier das Problem offen gehalten werden, inwieweit die „kranke Lehre“, gegen die Ignatius den Arzt Christus bemüht, als „Doketismus“ bezeichnet werden darf. Überhaupt müssen hier weitere Vergleichsschritte zurückgestellt werden, die die religiösen „Kontakttypen“ betreffen. In religionsgeschichtlicher Hinsicht wäre sonst das Konkurrenzproblem zwischen Asklepios und Christus zu thematisieren – eine Frage, die angefangen beim vierten Evangelium über die apokryphen Johannesakten bis hin zu Justin sehr umstritten ist (zur Entwicklung der gegenseitigen Wahrnehmung und des Verhältnisses von Asklepioskult und werdendem Christentum in der Zeit des Prinzipats: STEGER, Asklepiosmedizin, 95–104, mit weiterer Literatur). Anders als RENGSTORF, Anfänge, meinte, ist für die Quellen des 1. Jahrhunderts noch kein vitaler Streit um den Vorrang Christi oder des Asklepios als „Heiland“ vorauszusetzen (vgl. zum vierten Evangelium und hier besonders zu Joh 4 a. a. O., 7, 11–13, 16, 20–25, 30–32). Die These einer kritischen Grenzziehung im Johannesevangelium gegenüber Asklepiosvorstellungen begegnet seitdem immer wieder (vgl. z. B. WOHLERS, Krankheit, 81, zu Joh 5,2-9b), bleibt aber mit vielen Unsicherheiten verbunden und beschreibt entsprechend bis heute keinen Konsens (kritisch im Blick auf Joh 5: THEOBALD, Evangelium, Teilbd. 1, 372–375; zur Kritik auch DÖRNEMANN, Krankheit, 283f., der den jüdischen Hintergrund stark gewichtet und z. B. die 38 Jahre Krankheit in Joh 5,5 von Dtn 2,14 her erklären möchte). ARBESMANN, Concept, 1–28, vertrat die These, dass das Christologumenon vom Arzt im 2. und 3. Jahrhundert aus dem Kampf mit dem Asklepioskult resultierte (besondere Bedeutung haben Origenes, Arnobius und Lactantius), nach dieser Auseinandersetzung jedoch an Bedeutung verloren habe. Augustin habe die Vorstellung dann im Sinn des medicus humilis revitalisiert. Zur produktiven Funktion des Konkurrenzverhältnisses zum Asklepioskult sowie des Hintergrundes der kynischstoischen Philosophie bei der Entstehung des Christus medicus-Motivs vgl. klassisch FICHTNER, Christus, 1–18; KNIPP‚ Christus, 3f. Als eine „pagane“ Reaktion auf christliche Vorstellungen interpretiert Justin Aussagen über Asklepios (Iust. Mart. apol. I 22,6; 30 f.; 54,10; dial. 69,3 u. a.; siehe DÖRNEMANN, Krankheit, 89–91). Origenes integriert in „Contra Celsum“ seine Stellungnahme zu Asklepios in die weitere Kontroverse mit der paganen Götterwelt, in der er die Überlegenheit Christi aufzuzeigen versucht (Herakles, Dionysos, Apollon u. a.; vgl. Orig. c. Cels. III 22–26, 42; DÖRNEMANN, Krankheit, 122–124). Insgesamt zeigt ein Durchgang durch die Belege für Gott resp. Christus als Arzt bei den christlichen Kirchenvätern, dass das Syntagma „Christus als Arzt“ seinen Ort nicht primär in der Auseinandersetzung mit „paganen“ Kulten hat. DÖRNEMANN erwägt, ob diese nicht gerade zu einer Verminderung des Topos geführt haben könnte: „denn es sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass Jesus und die anderen Heilgötter qualitativ vergleichbar seien“ (a. a. O., 287).
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2.
Als zweites sei ein Beispiel aus der altchristlichen erzählenden Literatur 49 herausgegriffen, in dem das Christologumenon des Arztes im Zusammenhang der Praxis der Apostel. zentrale Bedeutung hat. Obwohl es sich um einen in den weiteren Umkreis der werdenden Gnosis führenden Text handelt, eignet sich dieser, Merkmale, die wir so weit festgestellt haben, noch einmal zusammenfassend zu benennen. In den (auf einer nicht erhaltenen griechischen Vorlage basierenden und möglicher Weise schon im 2., wahrscheinlicher erst im 3. Jahrhundert entstandenen) koptischen (erst später so benannten) „Taten des Petrus und der zwölf Apostel“ (Nag Hammadi Codex VI)50 machen sich die Apostel am Ende auf den Weg zur Stadt des Lithargoël (eingeführt in 5,16–18 als Perlenhändler).51 Dieser kommt – von den Aposteln unerkannt – aus der Stadt in der Gestalt eines Arztes, mit einer Salbbüchse unter dem Arm sowie einem Schüler im Gefolge, der einen Arzneimittelbehälter. trägt. In einem folgenden Zwiegespräch mit Petrus entpuppt sich Lithargoël als der auferstandene Christus (9,14–21). Die elf Jünger werfen sich vor ihrem Herrn nieder und
49
Wiederholt wird die Vorstellung von Christus als Arzt in den apokryphen Apostelakten aktiviert (vgl. DÖRNEMANN, Krankheit, 69–79). In den ans Ende des 2. Jahrhunderts oder in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts zu datierenden Johannesakten gilt Christus als von Gott gesandter Arzt (ActJoh 56). Hierbei wird die Exklusivität stark betont (vgl. das μόνος in ActJoh 108). Ein weiterer zentraler Gesichtspunkt ist die Auskunft, dass Christus und seine Apostel – anders als in anderen Heilkulten üblich – ohne Zahlungsforderungen heilen (ActJoh 108: δωρεάν; so auch im Gebet ActJoh 22 im Zusammenhang einer Totenerweckung). In ActJoh 56 bietet Antipatros dem Johannes in Smyrna zehntausend Goldstücke für die Heilung seiner beiden Söhne, wogegen dieser kontert, dass sein Arzt keinen Geldlohn nimmt, vielmehr als Ernte die Seelen der Geheilten empfängt. Beide Aspekte lassen sich im Sinne einer Profilierung der eigenen Heiltätigkeit im Vergleich mit antiken Konkurrenten, allen voran Asklepios (zu seiner Geldgier: Clem. Al. protr. II 30,1f.: ἔχεις καὶ ̃ , Ἀσκληπιὸς ὄνομα αὐτῷ), ἰατρόν, οὐχὶ χαλκέα μόνον ἐν θεοι̃ς. ὁ δὲ ἰατρὸς φιλάργυρος ην interpretieren. Die Aussage der unentgeltlichen Heilung findet sich in Verbindung mit der doppelten Arztfunktion für Körper und Seelen auch in einem Gebet des Judas in den wahrscheinlich zu Beginn des dritten Jahrhunderts in Ostsyrien entstandenen Thomasakten (ActThom 156; zu weiteren Belegen: DÖRNEMANN, Krankheit, 73–75). Das Christologumenon des Arztes steht hier in semantischer Nachbarschaft zu Christus als „Herberge“ und „Hafen“ sowie zur Vorstellung der Katabasis und ist eng mit der Soteriologie der Thomasakten verwoben (hierzu DRIJVERS, Thomasakten, 294f.). Vgl. Einleitung und Übersetzung in PARROTT, NHCod, 197–229; SCHENKE, Taten, 368–380; deutsche Übersetzung auch: DERS., NHCod, 443–453. Vgl. zu den einleitungswissenschaftlichen Fragen RÖWEKAMP, Art. Petrus-Literatur, 496f.; KLAUCK, Apostelakten, 191–201. Vgl. SELL, Simon, 344–356. Die Frage der Zuordnung des Textes zur werdenden Gnosis ist umstritten. Vgl. auch LÜDEMANN, Bibel, 318 (möglicherweise „Produkt asketisch-enkratitischer Kreise“). Zu den Spannungen zu den beiden vorausgegangenen Teilen und zum Namen Lithargoël siehe SCHENKE, Taten, 373. Zur Nähe zum Heilungsauftrag des Erzengels Raphael im Tobitbuch: DÖRNEMANN, Krankheit, 78. Vgl. hierzu auch V. BENDEMANN, Heilungen, 273–312 (siehe in diesem Band 91–124).
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befragen ihn nach seinem Auftrag. Lithargoël übergibt ihnen daraufhin die Salbbüchse sowie den Arzneikasten und sendet sie in die „Inselstadt“, womit die Welt gemeint ist, u. a. mit dem Auftrag, sich der Armen anzunehmen. Sodann sollen die Jünger den Arzneimittelkasten dafür gebrauchen, die an den Namen Jesu Glaubenden zu heilen (10,31–34). Es erfolgt dann ein Einwand mit Blick auf die mangelnde medizinische Ausbildung der Jünger.52 Hieran schließt eine Differenzierung zwischen leiblicher Heilung und Heilung der Herzen als Aufgabe der Seelenärzte an (11,14–26). Die relevanten Passagen lauten in der Übersetzung von H.-M. Schenke: „Siehe, da kam Lithargoël heraus, in einer anderen Gestalt als der, die wir kannten, (nämlich) in der Gestalt eines Arztes, der ein Arzneikästchen unter der Achsel trug und dem ein Schüler mit einem Koffer voller Arznei folgte […]“ (8,14–16). „Er überreichte ihnen das Medizikästchen und den Koffer, den der Schüler hatte […]“ (9,30–32). „Da antwortete Johannes und sprach: ‚Herr, wir scheuen uns vor dir zu sehr, um viele Worte zu machen. Aber du verlangst von uns, daß wir diese Kunst ausüben. Wir sind nicht in ihr ausgebildet worden, um als Arzt wirken zu können. Wie also sollen wir die Fertigkeit haben, an Körpern Heilungen zu vollziehen, wie du es uns aufgetragen hast?‘ Er antwortete ihnen: ‚Vortrefflich hast du, Johannes, (einmal) gesagt: Ich weiß, daß die Ärzte der Welt (nur) die weltlichen (Krankheiten) heilen, die Ärzte der Seelen aber das Herz heilen. Heilt also zuerst die Körper, damit auf Grund dieser aufweisbaren Wunder der Heilung ihres Leibes, (die) ohne Arznei. aus diesem Äon (erfolgt), sie euch glauben, daß ihr die Vollmacht habt, auch die Krankheiten der Herzen zu heilen‘“ (11,6–26).
In diesem Text sind drei Aspekte ineinander geflossen, die wir soweit bereits beobachten konnten: Erstens begegnet hier die für christliche Texte als typisch erachtete epochale metaphorische „jetzt“/„dann“ bzw. „hier“/„dort“ und „vorne“/„hinten“-Unterscheidung: Die Weltgeschichte zerfällt in zwei Epochen: Eine vor der christlichen Mission und eine unter ihrem Einfluss in Folge der Auferstehung Jesu. Der eigentliche Akzent liegt in der christlichen Sicht auf der neuen Epoche. Zweitens kann man bestätigt finden, dass Erfahrungen von Heilung mit dem Wundertäter Jesus den Ausgangspunkt der frühchristlichen Überzeugungen beschreiben: Lithargoël-Christus ist der Arzt, der physisch Kranke physisch gesund macht. Das Christentum geht also nicht nur metaphorisch mit Heilung um, sie „bedeutet“ nicht nur etwas, sie ist – auch in der Heiltätigkeit der Apostel nach Ostern – körperlich konkret erfahrbar. Drittens aber ist hier die Linie der metaphorischen Konzeptualisierung des christlichen Aposteldienstes in der Gestalt der Heilung der Herzen zu grei52
Ob man aus dieser Stelle schließen darf, dass es in der „Gemeinde“ der „Taten“ einen eigenen Ärzte- (und Apotheker-)Stand gegeben hat (so WOHLERS, Krankheit, 85; vgl. a. a. O., 235), muss unsicher bleiben.
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Zur Metaphorik göttlicher Medizin fen, die auf die Ebene der christlichen Lehre, des christlichen Glaubens verweist, der auch die Seele gesund zu machen vermag.
3.
Im Hinblick auf die weitere altchristliche Entwicklung müsste nach Zeiten, Orten, individuellen Autoren sowie v. a. auch nach Textgattungen dezidiert differenziert werden. Die Annahme kontinuierlicher und übergreifender traditionsgeschichtlicher Entwicklungen ist in vielen Fällen nicht zu erhärten. Um wenigstens einige wenige Stichworte zu geben: Neben vielen anderen53 hat vor allem Origenes von dem Christologumenon des Arztes Gebrauch gemacht. Christus wird bei ihm zum Engel und Propheten überragenden „Oberarzt“ (ἀρχιατρός), der allein auch von der ἐπιθυμία zu heilen vermag, da er selbst ohne Krankheit/Sünde war.54 Bei Euseb von Caesarea erschließt sich die Weltgeschichte als eine therapeutische Geschichte Gottes mit den Menschen. Der beste und alle überragende Arzt aber war Christus (Eus. Pr. Ev. I 5,5: καὶ ὁ μὲν τω̃ ν ἰατρω̃ ν ἄριστος εἰς μέσον παρελθὼν ἅ τε χρὴ προφυλάττεσθαι καὶ ἅ προσήκει δρᾶν ὥσπερ τις ἄρχων καὶ κύριος μετʼ ἐπιστήμης προστάττει […]; vgl. Eus. hist. eccl. X 4,11: ἰατρω̃ ν ἄριστος). Erst allmählich wird so auch in der Wahrnehmung medizinaler Phänomene und in ihrem metaphorisch-deutenden Gebrauch ein ähnlicher Differenzierungsgrad erreicht, wie er für das Schrifttum Plutarchs festzustellen
53
Wie viele christliche Väter kennt auch Clemens Alexandrinus die Rede vom deus medicus vor und neben dem Christus medicus. Vgl. vom väterlichen λόγος: Paid. I 2,6; vgl. I 9,88 u. a. Bei Justin heißt Christus in der Verteidigung gegen Anschuldigungen der „paganen“ Welt zwar nie ἰατρός, aber vergleichbar θεραπευτής (Iust. Mart. Apol. I 33). Siehe DÖRNEMANN, Krankheit, 89–91. Vgl. Orig. Hom. zu Samuel V 6, von der „Katabasis“ des „Oberarztes“ zu den Kranken; vgl. Hom. zu Jeremia 18,5. Zur Sündlosigkeit/Krankheitslosigkeit Christi: c. Cels. IV 15: „Freilich entgeht der Arzt, wenn er die schrecklichen Dinge sieht und sich mit den widrigen Sachen befassen muß, keineswegs der Gefahr, in dieselben (Krankheiten) verfallen zu können. Derjenige aber, der ‚die Wunden‘ unserer Seelen durch den in ihm wohnenden Logos Gottes heilt, war selbst unempfänglich für jede Sünde“. Origenes verbindet Jes 53,3f. mit der christologischen Arztmetapher (Hom. zu Leviticus VII 2; siehe DÖRNEMANN, Krankheit, 154). Vgl. bei Origenes die Aufnahme von Mk 2,17 in c. Cels. II 67: ὡς ἰατρὸς ἀγαθός (vgl. Iren. adv. haer. III 5,2). Nach Orig. c. Cels. III 54 u. a. m. heilen die Christen mit der Arznei der Glaubenslehre. Origenes akzentuiert so vor allem die göttliche Medizin. Hierbei spielt der Gedanke der göttlichen Pädagogik eine wesentliche Rolle (siehe DÖRNEMANN, Krankheit, 131–141; DERS., Inhalte, 9–39). Im Vergleich mit dem menschlichen Arzt ist Gott kein Leiden unüberwindlich – was Origenes von Mk 2,17 her vorrangig auf die Sünde bezieht (c. Cels. VIII 72). Christologisch ist die Arzttitulatur in die Epinoiai-Lehre des Origenes einzuzeichnen. Siehe den Überblick bei DUMEIGE, Christ, 115–141; DÖRNEMANN, Krankheit, 141–157; nach FERNÁNDEZ, Cristo, 280, überwiege bei theologischer Anwendung im Werk des Origenes der Vergleich, bei christologischer Applikation dagegen die Metapher. Im Licht der jüngeren kognitivistischen Metapherntheorien ist derart kaum mehr zu differenzieren (s. u. Pkt. 1.; vgl. GERBER, Paulus, 103–105).
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267
war.55 Sehr nahe kommt Plutarch mit seiner metaphorischen Entgegensetzung von medizinischem Spezialisten und Laien, von schmerzhaften Therapieformen und der Sehnsucht der Klienten nach Wohlsein und Heilung auch Irenaeus in „Adversus haereses“ III 5,2: „Welcher Arzt, der einen Kranken heilen will, richtet sich aber nach dem, was der Kranke sich wünscht, und nicht nach dem, was die Heilkunde verlangt?“.56 Insgesamt gewinnt der Christus medicus im christlichen Schrifttum bald den Charakter eines fundamentalen metaphorischen Netzwerkes, das sich in verschiedene Subkonzepte ausdifferenzieren lässt. Dieses Netzwerk eröffnet Wege für eine immer differenziertere Entfaltung, die sich auf alle Aspekte der christlichen Lehre in ihrer Applikabilität richtet. Medizinische Metaphern finden sukzessive Eingang in die Beschreibung verschiedenster theologischer, anthropologischer, ethischer, besonders aber soteriologischer Lehranschauungen. Breite Bedeutung erhält das metaphorische Konzept des Χριστὸς ἰατρός z. B. in der altchristlichen Sakramentologie. Taufe und Herrenmahl werden zu ontologischen Meta55
56
Es geht zu weit, wenn MATOUŠEK meint, das Christentum habe grundsätzlich die gesamte wissenschaftliche Medizin abgelehnt (DERS., Frage, 76). Doch ist festzustellen, dass erst allmählich einzelne Kirchenväter die positive Funktion der Medizin hervorheben und sich selbst auch auf medizinische Fachtexte berufen. Gegenüber dem Gros der neutestamentlichen Schriften beschreibt es einen innovativen Schritt, wenn Clemens Alexandrinus ohne jede Kritik die Heilkunst auf einen Ureinwohner Ägyptens zurückführen (strom. I 75,2) und ausführen kann: „So kommt z. B. die Gesundheit durch die Heilkunst und das körperliche Wohlbefinden durch Übung in den Ringschulen und der Reichtum durch die Kunst, sich ein Vermögen zu erwerben, zustande und tritt so in Erscheinung zwar entsprechend der göttlichen Vorsehung, aber doch unter Mitwirkung von Menschen […]“ (strom. VI 157,2). Tertullian beruft sich nicht allein auf die frühe hippokratische Medizin, sondern auch auf den großen alexandrinischen Arzt Herophilos, ferner auf Galen, Soran u. a. Nach SCHIPPERGES bezog er eine Mittlerrolle zwischen der dogmatischen und empirischen Schulrichtung der Medizin (DERS., Art. Krankheit, 688). Auch Origenes kann in der „scientia sanitatis“ eine „sapientia a Deo“ erkennen (Orig. Hom. zu Numeri XVIII 3; „Omnis sapientia a Deo est. Iam vero de medicinae scientia nec dubitari puto. Si enim est ulla scientia a Deo, quae magis ab eo erit quam scientia sanitatis, in qua etiam herbarum vires, et succorum qualitates, ac differentiae dignoscuntur?“, vgl. DÖRNEMANN, Krankheit, 124 mit Anm. 113; vgl. Sir 1,1: „Alle σοφία ist vom Herrn […]“. Das Argument, dass die Medizin von Gott geschaffen ist, wird von den Vätern häufiger genutzt [auch Clemens]). Solches „intellektuelle“ Urteil über Beruf und Wissenschaft ist dabei natürlich nicht eo ipso für literarisch ungebildete Zeitgenossen vorauszusetzen. Es wurde in Fällen begünstigt, wo einzelne Väter selbst in Berührung mit medizinischer Fachausbildung kamen. Insgesamt hat jedenfalls der Vorbehalt, den das frühe Christentum mit dem Judentum teilte, noch längere Zeit nachgewirkt, nach dem für Heilung allein der eine Gott Israels zuständig sein könne, auf den allein auch die Frage nach den Ursachen von Erkrankungen zu beziehen sei. Der Vorwurf des Celsus, die Christen würden die Menschen von „kundigen Ärzten“ fernhalten, bezieht sich zwar metaphorisch auf die Philosophie (Orig. c. Cels. III 75), inkludiert aber den generellen Vorwurf der Wissenschaftsfeindlichkeit. Siehe zur Stelle DÖRNEMANN, Krankheit, 96f.
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Zur Metaphorik göttlicher Medizin
phern. Die Taufe kann so als „aqua medicinalis“ gelten (Tertullian)57 oder das Herrenmahl als „Arznei der Unsterblichkeit“ (φάρμακον ἀθανασίας; Ign. Eph. 20,2). Als Hintergrund für solche Aussagen stellt sich dabei auch die Frage, inwieweit sich ein eigener christlicher Arztstand und ein christliches Arztethos auszuentwickeln beginnen.58
5.
Schluss und Ausblick
Wir waren ausgegangen von jüngsten Ansätzen kognitivistischer Interpretationen der Sprachform der Metapher. Diese erkennen in der Metapher nicht allein ein rhetorisches Mittel der Illumination und Überzeugung, sondern ein unmittelbar in sinnlicher Erfahrung gegründetes Instrument der Wirklichkeitserschließung, das als solches nicht suspendierbar, nicht vermeidbar ist – besonders auch dort, wo es um religiöse Erfahrungen geht. Unsere Untersuchung setzte an bei der Metaphorik der göttlichen Heilkunst, also bei der religiösen bzw. theologischen (d. h. auf Gott resp. die Gottheit bezogenen) Nutzung medizinalen Wissens in der Gestalt metaphorischer Konzepte. Wir begannen unsere Analyse bei Plutarch von Chaironeia als einem philosophisch gebildeten griechischen Schriftsteller, in dessen Schrifttum wir wesentliche literarische Voraussetzungen für die Konzeptualisierung von Heil durch die ältesten Christen finden können. Plutarch nutzt in breitem Umfang ontologische Metaphern göttlicher Medizin, die mit Orientierungsmetaphern einhergehen und insgesamt eine metaphorische Substruktur erzeugen. Diese ist dabei nicht nur aus der Sicht des Arztes entworfen, sondern gerade auch aus der Sicht der Schmerz leidenden Patienten mit ihren Sinneserfahrungen im Umgang mit Krankheiten und ärztlicher Kunst. Die metaphorisch-medizinale Sprache, wie Plutarch sie im Zusammenhang der Thematik von Geschick, Vorsehung und Strafe in seiner Schrift „De sera numinis vindicta“ einsetzt, bezieht sich dabei immer wieder nicht so sehr auf positiv heilvolles Ergehen als vielmehr auf Erfahrungen von Schmerz und Bit57
58
Siehe zu Tertullians Entwicklung im Blick auf Taufe und zweite Buße DÖRNEMANN, Krankheit, 169f. SCHULZE untersucht die Rolle des Christentums beim Transfer medizinischen Wissens von der hellenistisch-römischen Antike ins frühe Mittelalter. Nach ihm ist eine Verbindung von Medizin und christlicher Theologie in der Zeit vom 2./3. Jahrhundert „erstmalig historisch sicher […] greifbar“ (DERS., Medizin, 19). Seine Untersuchung der Prosopographie medizinisch tätiger Christen bis zum 7. Jahrhundert führt zum Ergebnis, dass der Arztberuf auf christlicher Seite regional weit gestreut und nicht unterdurchschnittlich häufig ausgeübt gewesen sei. Die Medizinrezeption der Alten Kirche erklärt sich Schulze mit dem Hintergrund eines bereits etablierten positiven Arztbildes in der Antike sowie einer christlichen Öffnung gegenüber den artes liberales.
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terkeit. Heil, Heilung hat mit „Medikamenten“ wie Hyänengalle und Seehundlab zu tun. Die Menschen haben Schmerzen; der Arzt heilt, indem er schneidet, brennt, schröpft und bittere Substanzen verschreibt und indem er damit seinerseits den Menschen ekelerregende und schmerzende Erfahrungen nicht ersparen kann. Hier gibt es über die untersuchten traditionsgeschichtlichen Berührungsflächen und Schnittpunkte der medizinischen Metaphorik hinaus einen letzten möglichen Vergleichspunkt mit der christlichen Sichtweise – der allerdings den Abstand der Konzeptionen nicht nivellieren kann und darf 59: „Religion für die Sinne“ erschließt sich nicht in „Wellness-Erfahrungen“; solche wären nach Plutarch illusionär, nach alttestamentlichem und frühjüdischem Verständnis auch in religiöser Hinsicht problematisch. Anders ist und bleibt auf die medizinische Metaphorik gesehen der auferstandene und erhöhte Arzt Christus für die frühen Christen der Gekreuzigte. Hier hat „Religion für die Sinne“ in frühchristlicher Sicht ihren ureigenen Ort. Origenes formuliert es in Hinsicht auf die Aufgabe des medizinischen Personals so: „Ärzte müssen zu den Orten gehen, wo die Soldaten leiden, und sie müssen dort eintreten, wo der schlimme Geruch von ihren Wunden herrscht. Das verlangt die menschenfreundliche Heilkunde […]“ (Orig. Hom. zu Samuel V 8).60
59
60
Für den Griechen und delphischen Priester Plutarch hat Religion keineswegs nur oder auch vorrangig mit bitterem und quälendem Erleben zu tun. Die Annäherung unter dem Aspekt der Sinnesbasierung kann die gravierenden Differenzen nicht übersehen. Mit der ersten Aussage ist CH Progn. 25 zu vergleichen – als Basis für die richtige ärztliche Prognose; DÖRNEMANN, Krankheit, 141 Anm. 184.
TEIL III ANTHROPOLOGISCHE HORIZONTE UND TRADITIONSGESCHICHTLICHE GRENZZIEHUNGEN
Dem „Schmerz“ begegnen Ansätze und Konzepte der hippokratischen und der hellenistisch-römischen Medizin 1.
„Schmerzen“ als Prüfstein für Körper-Konzepte
„Schmerzen“, „schmerzhafte“ Körpererfahrungen können als ein Prüfstein für jede Anthropologie fungieren. Insofern ist eine Beschäftigung mit der Konzeptualisierung von „Schmerzen“ auch für die frühchristliche Anthropologie von Interesse. Im Folgenden fokussieren wir dabei auf ein literarisches und traditionsgeschichtliches Feld, das sich in vielem komplementär zu antik-jüdischen und frühchristlichen Bildern vom Menschen verhält. Mit der antiken griechischrömischen Medizin begeben wir uns in Texte hinein, deren Voraussetzungen zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments bereits mehrere Jahrhunderte zurückreichen und in denen zugleich ganz andere Modelle vom menschlichen Körper entwickelt wurden, als sie im Gefolge der ganzheitlich biblischen Anthropologie vorstellbar und kommunikabel waren. Erst im Übergang in die Zeit der Alten Kirche haben christliche Theologen erkannt, dass diese so andersartigen Konzepte in das christliche Weltbild einzubeziehen waren, in keinem Widerspruch zu ihm standen, sondern vielmehr auch eine gewisse „Blutleere“ der kommunikativ-ganzheitlichen Sicht auf den Menschen zu überwinden und damit auch das Christologumenon des „Arztes“ entscheidend zu bereichern vermochten.
1.1.
Die hermeneutische Herausforderung
Mit der „Schmerz“-Thematik betritt man in hermeneutischer Hinsicht ein höchst diffiziles Terrain. Die Analyse von „Schmerzen“ stößt in Texten auf das Phänomen der „Widerständigkeit“ des menschlichen Körpers. Dabei hat es der Komplex „Schmerzen“ immer schon mit Deutung, mit Interpretation, zu tun. Manche „Schmerzen“ mögen mittels der Sinneswahrnehmung klar lokalisiert werden; auch die ätiologische Frage kann möglicherweise leicht beantwortet werden, wie z. B. im Fall eines Beins, das unter einem schweren Gegenstand gequetscht wird. Andere „Schmerz“-Phänomene dagegen diffundieren und erfassen das psychophysische Sein eines Menschen als ganzes, ohne dass Kausalzu-
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Dem „Schmerz“ begegnen
sammenhänge klar beschrieben werden können. SANER umschreibt diesen Zusammenhang aus einer neuzeitlichen Perspektive so: „Das Schmerzerlebnis ist diese psychophysische Einheit einer körpergebundenen Empfindung mit einer seelischen Stimmung, die ihrerseits auf den Körper zurückwirkt. Es ist ineins ein subjektives und objektives Geschehen, und das selbst dann noch, wenn der somatische Befund, etwa in halluzinogenen Körperschmerzen, wegfällt. Denn hier fällt weder das Schmerzerlebnis noch der Reiz weg, sondern bloss die Materialität der Reizursache. Der Körper ist offenbar so beschaffen, dass auch Immaterielles die gleichsam materiellen Schmerzempfindungen hervorrufen kann. Auch er hat schon eine psychophysische Doppelnatur: er ist der beseelte Leib.“1 Im „Schmerz“ wirkt sich in hohem Maße die individuelle Subjekthaftigkeit des/der einzelnen Erkrankten aus. In der „Schmerz“-Erfahrung steht das Verhältnis zum je eigenen Körper und zur je eigen wahrgenommenen Welt zur Disposition.2
1.2.
Die Frage der Konstruktionsanteile
Neurophysiologisch wird gegenwärtig die Frage nach „Schmerzen“ in das Problemfeld einer Differenzierung zwischen „Gefühlen“ und „Emotionen“ eingezeichnet.3 Hiermit korreliert die Frage der „Konstruktion“ des „Schmerzes“ im eigenen resp. im fremden/betrachtenden „Selbst“. Indem man sich entsprechenden Forschungsfragen stellt, kommt man ggf. zu der Auffassung, dass „Schmerz“ gar keine einheitliche Vorstellung repräsentiert. Im Folgenden können wir Fragen, wie sie in einer hoch entwickelten Gefühls- und Schmerzforschung aktuell gestellt werden, nicht intensiver nachgehen. Ausgegangen wird davon, dass in „Schmerz“-Erfahrungen etwas sinnlich Wahrnehmbares geschieht, ohne dass man hierauf quasi ontologisch zugreifen könnte. Wenn wir im folgenden Beitrag auch von Phänomenen des „Schmerzes“ sprechen, ist dies folglich nicht im Sinne objektivierbarer Zustände und Befindlichkeiten gemeint, sondern vom griechischen Wortsinn her so verstanden, dass es um etwas geht, was sich den kranken Menschen und denen, die sie wahrnehmen resp. behandeln, „zeigt“. 1
2
3
SANER, Sinnfrage, 37. Die Rede von einer „Doppelnatur“ trifft dabei, auf antike, auch biblische Texte gesehen, nur einen engen Ausschnitt anthropologischer Konzeptualisierungen. Nach HERMANN wäre das „Schmerz“-Empfinden „eine anthropologische Konstante“ (DIES., Schmerzarten, 9); „[…] aber was man unter ihm versteht, ist vom einzelnen Individuum abhängig. Körperlich empfundener Schmerz ist immer auch ein psychisches Phänomen […] er hat keine objektiv angebbare Qualität oder messbare Quantität“ (ebd.). Vgl. pars pro toto mit weiterer Forschungsliteratur KLEIN, Phänomenalität, 19–47; DIES., Gefühl, 102–114.
Dem „Schmerz“ begegnen
1.3.
275
Mit der Sprache fängt alles an
„Schmerz“-Begriffe sind quellsprachlich oft vieldimensional; sie bieten ggf. auch Metaphern, wenn sie auf innere/seelische/geistige Zustände angewendet werden. Sie sind jedenfalls nie neutral und können nie einfach in beschreibende Wissenschaftssprachen überführt werden.4 Die Probleme potenzieren sich im Folgenden, da wir mit Texten umgehen, die teils mehr als zweitausend Jahre alt sind und sich differenten soziohistorischen, kulturellen und religiösen Voraussetzungen verdanken. Die Probleme fangen mit der jeweils gewählten konkreten Sprache an. Termini, die die antiken Verfasser im Umfeld der „Schmerz“-Thematik verwenden, transportieren keinen feststehenden Sinn. Im Griechischen gleich lautende Begriffe können in den frühen hippokratischen Texten und dann in der römischen Zeit sehr unterschiedlich gefüllt sein. Der Übergang von der Graecitas zur Latinitas mit ihren ganz eigenen römisch-kulturellen Voraussetzungen markiert einen beträchtlichen Sprung. Noch gravierender sind die Differenzen, fragt man vom Septuaginta-Griechischen und von frühchristlich-griechischen Zeugnissen zurück ins Hebräische oder auch ins Aramäische.5
4
5
Entsprechende Vorbehalte sind auch für diejenigen Beschreibungsbegriffe anzuzeigen, die in der Interpretation antik-medizinischer Quellen verwendet werden. So ist z. B. der Begriff des „Patienten“, den wir auch in diesem Beitrag aus pragmatischen Gründen benutzen, kein quellsprachlicher Terminus. Nach SCHULZE, Art. Patient, 673–678, gilt vielmehr: „Die Substantivierung des lat. Adjektivs patiens („ertragend, geduldig“ ) bezeichnet im Deutschen seit dem 16. Jh. den unter ärztlicher Betreuung stehenden Kranken; in antiken Texten wird patiens kaum in fachwissenschaftlich-med. Zusammenhang benutzt“ (a. a. O., 673). Stattdessen sind im Lateinischen verschiedene Partizipialbildungen von Verben, Adjektive oder relativische Beschreibungen möglich, die ggf. die Schwere oder Heftigkeit des Leidens in bestimmter Weise deuten (aeger; aegrotus u. a.; Cels. med. II 6,7: „qui vexatur“). Im Griechischen sind Derivate der Wurzeln πάσχ- (Galen De Loc. aff. IV 8) oder νοσ- (vgl. z. B. CH Aph. 1,5; L 4,462) möglich. Siehe zum terminologischen Problem in der Erfassung von „Schmerzen“ die einzelnen Abschnitte dieses Beitrages. Sprache und Denken korrelieren, so dass sich „Schmerz“-Konzepte in unterschiedlichen Sprachen, die je unterschiedliche (Denk-)Kulturen repräsentieren, notwendig unterscheiden. Das biblische Hebräisch findet, auch dependent von den unterschiedlichen Gattungen, einen anderen Zugang zum Erfahrungs- und Problemfeld des „Schmerzes“ als das Koiné-Griechische und ist, jedenfalls bezogen auf diejenigen Textgattungen, die im ältesten Christentum vorherrschen, wesentlich bild-reicher in Hinsicht auf „Schmerz“-Erfahrungen. Diesem Befund sahen sich schon die Übersetzer, die hinter den SeptuagintaSchriften stehen und eine vergleichsweise begrenzte Anzahl griechischer Wortstämme dafür nutzten, eine Vielzahl hebräischer Wurzeln abzubilden, konfrontiert. Insgesamt stellt sich die Grundfrage, inwieweit der Komplex „Schmerz(en)“ sich der Sprache auch entziehen kann. Siehe zur Fülle hebräischer Grundbegriffe und ihren Sinnpotentialen SCHARBERT, Schmerz (a. a. O., 16: „Jede Literatursprache muß fähig sein, die Empfindungen, obwohl sie rein subjektive Wahrnehmungen sind, irgendwie wiederzugeben. Das ge-
276
Dem „Schmerz“ begegnen
Ein Beispiel hierfür ist die umfangreiche antike Literatur, die sich mit Affekten und Affekt-Kontrolle resp. -Bewältigung befasst.6 Einen eigenen Bereich markiert auch der „geistige“ resp. „seelische“ „Schmerz“. – Z. B. bezeichnet der dolor im Lateinischen vielfach den dolor animi als „Betrübnis“, „Wehmut“, „Unmut“, „Ärger“, „Kränkung“, „Groll“, „Erbitterung“, „Liebeswahn“ u. a.; er kann auch metonymisch für einen Gegenstand stehen, der solche affektiven Regungen auslöst. Mit der Sprache korrelieren die Formen und Gattungen. Eigens zu untersuchen wären aus dem griechisch-römischen Bereich „Schmerz“-Narrative im antiken Epos, im antiken Drama, in der Historiographie, im Bios sowie in der Dich-
6
schieht durch mehr oder weniger eindeutige Termini, durch Umschreibungen und bildliche Ausdrucksweise.“). Unter den Prämissen antiker Tugend- und Affekt-Kontroll-Lehren ist das „Schmerz“-Ertragen resp. Nicht-Spüren ggf. Ausdruck von fortitudo/ἀνδρεία. Vgl. die berühmte Legende des Gaius Mucius Scaevola, der vor Porsenna seine Hand verbrennt, da ihm sein honor wichtiger ist, als das leibliche Wohlergehen (Liv. ab urbe condita II 12,1–13,5). Aus dem Bereich des Frühjudentums kommt das 4. Makkabäerbuch in seinen „Schmerz“-Aussagen der kaiserzeitlich-stoischen Position nahe. Bei dieser könnte man von einer antiken Vorform moderner gate control-Schmerztheorien sprechen (vgl. hierzu MOAYEDI/DAVIS, Theories, 9), die in keiner Weise auf ein Durchdringen der physiologischen Abläufe des „Schmerzes“ ausgerichtet ist, sondern vielmehr die Souveränität des Subjekts im Blick auf das „Empfangen“ und „Erleiden“ von „Schmerzen“ zu behaupten sucht. Epiktet unterscheidet das „Eigene“, das wir beeinflussen können, und das „Fremde“, das kontingent ist und damit ein Adiaphoron. Störende, auch quälende Affekte vermögen im Vorfeld, bevor sie die „Seele“ beunruhigen und aus der Balance bringen, alieniert und blockiert zu werden. Die Stoa denkt hier im Ansatz sokratisch und optimistisch, indem sie davon ausgeht, dass dies tatsächlich möglich sei. Epiktet fasst den Vorgang in medizinale Metaphern: Der stoische Philosophieschüler hat zunächst seinen Lehrer – metaphorisch – als Arzt, der ihn, metaphorisch für die Affekte, im Fall von verrenkten Schultern, Geschwüren, Fisteln oder Kopfschmerzen behandelt (Epikt. diss. III 23,30). Der zum „Weisen“ fortschreitende Philosoph aber kann dann – metaphorisch – zu seinem eigenen „Arzt“ werden, zum „Arzt“, der sich selbst heilt (vgl. Lk 4,23). Der Stoiker verlagert hier also quasi die ArztPatientenrelation in den Menschen selbst und vermag sich so z. B. gegenüber Kopfschmerzen oder Ohrenschmerzen (vgl. Epikt. diss. I 18,16–20) abzuschotten. Der von ἀταραξία bestimmte stoische Weise kann demnach rufen: „Kommt her ihr alle, die ihr Gicht oder Migräne oder Fieber habt, ihr Lahmen und ihr Blinden kommt und seht, wie ich so gesund bin […]“ (Epikt. diss. IV 8,27f.). – Allerdings spricht Epiktet an diesem Punkt sogleich korrigierend von drohender Eitelkeit und „Ungeschliffenheit“; „es sei denn man könnte wie der Heilgott Asklepios den Leuten gleich zeigen, durch welche Kur sie ihrer Krankheiten sofort ledig werden und man könnte ihnen die eigene Gesundheit dafür als Beispiel bringen.“ Vgl. zum Problemkreis V. GEMÜNDEN, Affekt.
Dem „Schmerz“ begegnen
277
tung.7 Begriffe, die lexematisch gleich lauten, können hier jeweils gänzlich unterschiedliche Semantiken implizieren.8 Der folgende Beitrag zielt eine Übersicht über die Konzeptualisierung von „Schmerzen“ in der antiken Medizin an. Er ist strukturell chronologisch angeordnet. Er muss mit einem stark vergröberten Maßstab arbeiten, viele Quellenbereiche können nicht angesprochen werden. So muss aus arbeitsökonomischen Gründen z. B. der Bereich der pharmakologischen Fachliteratur, d. h. der der Darstellung und Diskussion einfacher oder zusammengesetzter Medikamente im Fall von „Schmerzen“, weitgehend ausgeblendet werden. 9 7
8
9
Einen spannenden Testfall bietet die literarische Gestalt des Philoktet. Von Aischylos über die Tragödie des Sophokles, über Euripides bis hin in verschiedenste literarische Rezeptionen der Kaiserzeit hinein wurde der auf Lemnos zurückgelassene und in Folge seiner Bisswunde lahm, leidend und zunehmend verwahrlosend darniederliegende Philoktet zum paradigmatischen „Schmerzensmann“, d. h. zu einer Figur, deren wichtigstes Erzählmerkmal der „Schmerz“ darstellt. „Schmerz“ wird dabei nicht allein somatisch konstruiert, sondern korreliert mit der Isolationssituation des Philoktet. Vgl. Dion Chrys. or. 52 und 59; die 17. Ekphrasis des jüngeren Philostrat u. a. m. Cicero wählt die Figur des Philoktet (nach Accius), um die epikureische These zu entkräften, der Schmerz sei, „wenn schwer, dann kurz; wenn lang, dann leicht“ (Cic. fin. II 95: „Si gravis, brevis; si longus, levis“): „Denn ich erlebe Schmerzen, die schwer sind und zugleich recht lange dauern […]“ (video enim et magnos et eosdem bene longinquos dolores […]“); „Schmerz zu empfinden“ sei bisweilen trotz der Gesetze der Tapferkeit „unvermeidlich“ („interdum necesse“). Epikur möge dem von grauenvollem Schmerz gequälten Philoktet zurufen: „Wenn der Schmerz schwer ist, Philoktet, währt er nur kurz.“ – Doch: „er liegt schon zehn Jahre in der Höhle“. Gegen die These, langer Schmerz werde durch Unterbrechungen erleichtert, führt Cicero an, dass „die Erinnerung an den vergangenen Schmerz noch frisch ist und die Angst vor dem zukünftigen und drohenden das Opfer quält“ (et praeteriti doloris memoria recens est et futuri atque inpendentis torquet timor“). Auf Philoktet rekurriert auch noch Marc Aurel, Εἰς ἑαυτόν V 8,1.7–10 (7: „Die Allnatur verordnete diesem Menschen Krankheit oder Verstümmelung oder Verlust oder etwas von der Art […]). Siehe hierzu HERMANN, Schmerzarten, 64–79; LUCHNER, Philiatroi, 337–352. „Schmerzen-Haben“, „Schmerzen-Empfinden“, „Schmerzen-Zulassen“ sind kulturdependent und basieren zu einem großen Teil auf Sozialisation, sozialem Feedback, Bildung und vor allem einem Lernen und Einüben. Was die Menschen der Antike, was Griechen, Römer oder frühjüdische Menschen in der Zeit des zweiten Tempels in konkreten Fällen tatsächlich „fühlten“, wie „weh“ es ihnen tat, können wir nur näherungsweise beschreiben bzw. wir müssen sagen: Scimus nos nescire, wir wissen es nicht. Medizin und Pharmakologie bilden in der Antike grundsätzlich nicht getrennte Disziplinen. „Schmerz“-therapeutische Drogen in der pharmakologischen Fachliteratur stellen ein eigenes Forschungsfeld dar. So bieten z. B. die „Compositiones“ des Scribonius Largus (ca. 43–48 n. Chr.) eine Fundgrube für zusammengesetzte Medikamente, die im Fall von „Schmerzen“ Anwendung finden. Im Fall von Zahnschmerzen (dolor dentium) rät Scribonius z. B. in Kap. 53–58 vom voreiligen Ziehen eines schmerzhaften Zahnes ab. Stattdessen soll ein ausgehöhlter Zahn auf seinen noch brauchbaren Bestand gemeißelt werden; sodann werden schmerzberuhigende Mittel zum Ausspülen, zum Zerkauen, zum Ausräuchern und zum Einlegen angeführt (Wein, Fingerkraut, Glaskraut, Zypressenbeeren, Bilsenkraut, Portulak, Nachtschatten, Bitumen, Oleanderblätter u. a.). Vgl. die einfachen Medikamente bei PsSerenus im Fall folgender „Schmerz“-Erscheinungen: „Wenn man Bal-
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Dem „Schmerz“ begegnen
Wir fragen näherhin: Wie werden „Schmerz“-Erfahrungen begrifflich fixiert? Welcher Stellenwert kommt ihnen im Zusammenhang der Schilderung von Krankheitsbildern zu? Wie wird die Entstehung von „Schmerz(en)“ erklärt (ätiologische Frage)? Wie wird ihre Überwindung als möglich vorgestellt? Wird in den Texten reflektiert, dass therapeutische Bemühungen ihrerseits „Schmerzen“ beim Kranken verursachen, vermehren resp. verstetigen können? Gibt es besondere Ansätze, die auf die Minimierung von „Schmerzen“ zielen, welche die Therapie selbst generiert? Intendiert ist die Transparentmachung von anthropologischen Konzepten vor allem, die in der Wahrnehmung und praktischen Bewältigung von „Schmerz“-Erfahrungen von den Verfassern adaptiert, aktiviert und ggf. weiterentwickelt werden, bezogen jeweils auf den Wissens- und Erkenntnisstand ihrer Zeit.10
10
sam beiden Ohren tropfend hinzufügt, dann wird man die muntere Lebenskraft des Kopfes (alacrem capitis) wiederstellen können (I); wenn ein „saevus dolor“ (wilder Schmerz) die „zarten Ohren heftig zerreißt (sauciat aures)“ (XII); „wenn […] ein Schmerz das Augenlicht reizt (dolor lumen lacessit)“ (XIII; zu den Augen: „Das höchste Gut ist es, dass dem Menschen scharfsichtige Augen zuteil sind, welche die vorausschauende Natur gleichsam als Hüter und Verteidiger vor Gefahr am höchsten Punkt der Burg platziert hat, und zwar so, dass sie von oben keine Angriffe erleiden und von der dichten Augenbraue abgedeckt sind“ („summa boni est alacres homini contingere visus, quos quasi custodes defensoresque periculi prospiciens summa natura locavit in arce […]“); „nicht leicht ist es, den heftigen Zahnschmerz zu ertragen“ (haud facile est acrem dentis tolerare laborem) (XIV); „es gibt eine Gewalt von Krankheit, die man als telum (Schuss) bezeichnet, wenn plötzlich ein wahnsinniger Schmerz wütet, durch einen Schlag verursacht“ („est et vis morbi, quod ‚telum‘ commemoratur, cum subito dolor insanus furit incitus ictu“) (XXI); „wenn aber die Übelkeit nach schlecht verdauten Speisen wütet […]“ (at male digestis si crapula saeviet escis) (XVII); „wenn ein wahnsinniger Schmerz im ganzen Bauch wütet […]“ („si dolor insanus tota desaevit in alvo“) (XXV); „wenn der hitzige Skorpion eine heftige Wunde geschlagen hat (quod si vulnus atrox incussit scorpius ardens) […] Bei allen Bissen und Schlägen kleinerer Tiere […] (ad cunctos autem morsus ictusque minorum)“ (XLVI). Und: „Manchmal gibt es einen neuen Grund für einen plötzlichen Schmerz, dessen Ursache verborgen […] ist“ („nonnunquam existit subiti nova causa doloris“) (XLVII). PsSerenus steht nicht in einer fachwissenschaftlich-medizinischen Linie; die Schrift benennt die simplen Heilmittel im Unterschied zu den aufwändig komponierten Therapeutica; vielfach wird auf die sog. „Dreckapotheke“ zurückgegriffen. Das Werk hat man nicht ganz zu Unrecht auch als „Receptbuch für Arme“ bezeichnet (BRODERSEN, Rat, 15). Die neutestamentliche Wissenschaft stand/steht zudem vor der Schwierigkeit, dass übergreifende und philologisch substantiierte medizinhistorische Untersuchungen zum speziellen Themenkreis der „Schmerzen“ vielfach fehlen. Auch die einschlägigen Handbücher und Gesamtdarstellungen der antiken Medizingeschichte lassen einen eigenartiger Weise sub voce „Schmerz“/„pain“/„dolor“ etc. vielfach im Stich (fehlend z. B. ein entsprechender Artikel in LEVEN, Medizin).
Dem „Schmerz“ begegnen
2.
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Zu Konzeptualisierungen von „Schmerz“ in Texten des Corpus Hippocraticum
An erster Stelle sollen ausgewählte Beobachtungen zu Zugängen stehen, wie sie die altgriechische Heilkunst als „Kunst“/„Wissenschaft“ (τέχνη) im Rekurs auf den großen Arzt Hippokrates in Hinsicht auf „Schmerz“-Phänomene erkennen lässt.
2.1.
Annäherung an die iatrozentrische Sicht auf „Schmerzen“
Die in ihrer Thematik, historischen Verortung, Gattung, Stillage und vor allem ihren konzeptionellen Ausgangspunkten in sich höchst verschiedenen antikmedizinischen Schriften, die unter dem Namen des Hippokrates tradiert wurden, zeigen uns differente Konzeptualisierungen körperlichen „Schmerzes“, der auch in Beziehung zum innerlichen Schmerz gesehen wird. „Schmerz“-Problematiken werden bestimmten Krankheiten zugeordnet (nosologischer Zugang), sie werden innerhalb bestimmter Modelle von den Zonen/„Orten“ (zum Problem des „Organs“ s. u. Pkt. 3.4. bei Galen von Pergamon) im menschlichen Körper verhandelt; sie werden als Begleiterscheinungen mit registriert und notiert. Doch ist die antik-griechische Medizin keine „Schmerz-Medizin“; „Schmerzen“ sind nicht eigener Untersuchungsgegenstand per se. Die Vertreter der τέχνη beobachten oder erfragen „schmerzhafte“ Erfahrungen, angefangen bei der Prognose. Dies geschieht auf der Basis der hippokratischen Theoreme bezüglich der Funktionsweise des menschlichen Körpers und der nosologischen Ordnung. Gedeutet wird zudem auf der Grundlage von Annahmen bezüglich des ganzen Körpers, der als physischer Mikrokosmos in einer Korrespondenz zum Makrokosmos zu sehen ist.11 Auf dieser Grundlage sind Analogieurteile bezüglich der Erklärung von „Schmerzen“ möglich, die von der Vor-
11
Vgl. CH Loc. hom. 3: „Der Körper ist an und für sich selbst gleich und aus den gleichen (Bestandteilen) zusammengesetzt […]. Wollte jemand den kleinsten Teil des Körpers (allein) hernehmen und ihn schädigen, so würde der gesamte Körper das Leid […] wahrnehmen, und zwar aus dem Grund, weil der kleinste Teil des Körpers all das enthält, was auch der größte enthält. Der (einzelne) Teil überträgt (alles), was ihm auch zustoßen mag, auch das Geringfügigste, Schlimmes wie Gutes, in jedem einzelnen Fall stets auf die ihm verwandten Teile. Deshalb wird der (ganze) Körper auf Grund seiner Verwandtschaft mit dem kleinsten Teil in Schmerz wie in Freude versetzt (καὶ διὰ ταῦτα καὶ ἀλγέει καὶ ἥδεται), weil eben in dem kleinsten Teil alle Teile enthalten sind und diese alles auf ihresgleichen übertragen und alles weiterverkünden (ἐξαγγέλλουσι πάντα).“
280
Dem „Schmerz“ begegnen
aussetzung kausaler Verknüpfung in natürlichen Prozessen ausgehen.12 Zugrunde liegen Leitfragen wie: Wie verhalten sich Flüssigkeiten unter Druck oder „Behälter“, die mit Flüssigkeiten gefüllt sind? Was geschieht beim Reiben oder Quetschen von Substanzen? Wie wirken sich Trockenheit und Feuchtigkeit oder Wärme und Kälte auf Materien und Strukturen aus? Was geschieht, wenn Hebel im Körper am falschen Punkt ansetzen? Entsprechende Fragen führen in die jonische Naturphilosophie zurück. „Schmerz“-Phänomene bieten damit gewissermaßen ein Puzzle-Stück in einem weiteren Interpretationsrahmen. Entsprechend wird den Patienten und der Frage, wie sich ihre leidvolle Situation konkret gestaltet resp. was ihnen in welcher Intensität „weh tut“, immer nur in der Klammer einer weiteren Betrachtungsperspektive der Welt / der natürlichen Abläufe Aufmerksamkeit zuteil. Von dieser weiteren Klammer her definiert sich die allopathische Therapie (contraria contrariis) . So kann der Verfasser von CH Loc. hom. schreiben (42): „Was in jedem einzelnen Fall den natürlichen Zustand umstellt und zerstört, dadurch entstehen die Schmerzen. Geheilt andererseits werden die Schmerzen durch (Anwendung der) entgegengesetzten Mittel (ὑγιαίνονταί τοῖσιν ὑπεναντίοισιν).“ Das physiologische Betrachtungsmodell impliziert auch, dass man die Natur dazu bringen kann, etwa durch Druck/Unterdruck (beim Schröpfen), durch Temperaturveränderung, durch den richtigen Hebel etwas „Zeichenhaftes“ im Blick auf eine „schmerzhafte“ Erkrankung preiszugeben und damit einen Weg für den Heilungsprozess zu weisen. In aller Unterschiedlichkeit der Zugänge ist damit immer schon die bereits deutende Sicht des Arztes die bestimmende; der Zugang zu „Schmerz“-Erfahrungen gestaltet sich iatrozentrisch. Etwas Verbindendes der „Schmerz“-Aussagen in den hippokratischen Schriften ist die Intentionalität eines rationalen Durchdringen- und Verstehenwollens, das dem Patienten/Laien so nicht zugetraut werden kann. Im Traktat CH VM wird dies z. B. am Fall des Käse-Essens deutlich. Der Arzt soll „[…] nicht einfach meinen, dass der Genuss von Käse nachteilig sei, weil er bei demjenigen, der sich den Leib damit fülle, Beschwerden verursache, sondern er soll auch wissen, was das für Beschwerden sind, warum sie entstehen und welchem Teile des menschlichen Innern der Käse unzuträglich ist […].“13 Der Logismos der Hippokratiker verzichtet im Ansatz auf religiöse, magische resp. „abergläubische“ Zugänge bzw. er kann ihnen gegenüber ganz dezidiert Distanz nehmen (vgl. CH Morb. sacr.). Er ist auf die sukzessive Optimierung im
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13
Nach CH VM 22 ist die Form der Organe in Analogie zu Dingen der Außenwelt zu verdeutlichen. Hier wird quasi das „Unsichtbare“ aus dem „Sichtbaren“ erschlossen (zu diesem Vorgehen: Xenophanes; Alkmaion von Kroton; Anaxagoras 59 B; Heraklit 22 B 123 u. a.). Siehe hierzu JOUANNA, Entstehung, 57f.
Dem „Schmerz“ begegnen
281
Sinn der „Kunst“ hin ausgelegt. Dies schließt Ansätze einer begrifflichen Architektur resp. Nomenklatur ein.14
2.2.
Zur Frage nach „Schmerz“-Begriffen
Mit der Frage nach „Schmerz“-Begriffen in den in das Corpus Hippocraticum eingegangen Schriften ist ein riesiger Forschungsbereich markiert. Angefangen bei den deontologischen Schriften wären sämtliche Schriftenkreise der großen Bibliothek des Corpus Hippocraticum je für sich gründlich auf vielfältige Ansätze der Konzeptualisierung und entsprechenden Versprachlichung von „Schmerz“-Erfahrungen zu befragen.15 Probleme der Datierung, Gattung, Adressaten, Konzepte und traditionsgeschichtlichen Verflechtungen wären für jede Einzelschrift zu beachten, um Wortstämme, die mit der „Schmerz“-Thematik korrelieren, adäquat bewerten zu können. Da entsprechende übergreifende Forschungsbeiträge sowohl von medizinhistorischer Seite als auch von altphilologischer Seite vielfach fehlen, kann es an dieser Stelle aus pragmatischen Gründen in einem ersten Schritt nur um eine sehr grobe Orientierung darüber gehen, wie „Schmerz“-Phänomene versprachlicht werden. In einem zweiten Schritt prüfen wir am Beispiel von CH Epid. („Epidemien“), welche Richtung die genauere Analyse von Einzelschriften des Corpus Hippocraticum nehmen und zu welchen Ergebnissen ein genaueres Hinsehen führen kann. In den in das Corpus Hippocraticum eingegangen Texten findet sich eine große Fülle von „Schmerz“-Termini, die z. T. schon auf eine längere Vorgeschichte in der antiken Graecitas zurückblicken.16 14
15
16
Vgl. CH VM 12, wonach die Medizin durch den λογισμός das Richtige herausgefunden habe, nicht durch Zufall; vgl. CH De arte 11. In den Radius von Texten, die intensivere Studien erforderten, gehören neben den deontologischen Texten insbesondere die koische Schrift „Über die Lüfte, die Wasser und die Örtlichkeiten“, welche die Situation eines wandernden Arztes voraussetzt, die orthopädischen bzw. chirurgischen Bücher (neben „De articulis“: „Über die Kopfverletzungen“; „Über die Knochenbrüche“; weitere Schriften abgeleitet hiervon: „Über die Werkstatt des Arztes“; das „Mochlikon“), das auf die Deutung akuter Krankheitssymptome ausgerichtete „Prognostikon“, die Schriften „Über die inneren Erkrankungen“, „De morbis I und II“, die verschiedenen gynäkologischen Abhandlungen, die aphoristischen Schriften und diejenigen Texte, die eher apologetisch für ein weiteres Lesepublikum verfasst sind. Bei Homer bezeichnet ἄλγος weniger den akut evozierten Schmerz als einen durativen Schmerzzustand (vgl. Hom. Il. 12,206; Od. 9,121). Sofern man entsprechende Grenzen überhaupt ziehen kann, geht ὀδύνη demgegenüber stärker auf den akuten physischen Schmerz (Od. 9,440; Il. 11,268, 398 u. v. a.); häufig findet sich der sogenannte intensive Gefühlsplural: Hom. Il. 5,397, 399; 4,117; physischer Schmerz führt zum Anfüllen der Seele: Il. 15,60; schon bei Homer ist auch der geistige Schmerz mit im Blick: Hom. Od. 1,242; 2,79 (auch ἄχος bei Homer meint eher den inneren/psychischen Schmerz und hängt eng mit weiteren Begriffen des Innerlich-Aufgewühltseins und des In-Affektzustände-Geratens
282
Dem „Schmerz“ begegnen
An vorderster Stelle stehen in ihrer Bedeutung die Derivate des Worstammes ὀδυν-; weiter sind Ableitungen der Stämme ἀλγ- sowie, unspezifischer, πασχ-17 in die Analyse einzubeziehen. In Betracht kommen sodann auch Bildungen von der Wurzel πον-, die allerdings im Grundsinn nicht notwendig schmerzhafte Beschwerden bezeichnet – so sicher diese inkludiert sein können (vgl. z. B. die Kopfschmerzen in CH Epid. 3.2) –, sondern allgemeiner auf Deskription der gestörten Physis eines Kranken verweist (vgl. z. B. CH Epid. 1.3 von „Beschwerden“ in beiden Waden/Unterschenkeln). Eine Mehrzahl der Texte des Corpus Hippocraticum enthält entsprechende explizite „Schmerz“-Belege. Diese sind insgesamt je strikt auf die den Einzelschriften und ihrer literarisch-„technischen“ Anlage zugrunde liegende ätiologische, diagnostische, prognostische und therapeutische Konzeptualität und Intentionalität rückbezüglich. Festzuhalten ist: Es gibt in den hippokratischen Schriften trotz verbindender Axiome, die im Kern mit der Konzeptualisierung der menschlichen Physis zusammenhängen, nicht „den Schmerz“ im Singular, sondern nur „Schmerz“-Phänomene resp. -Konzepte im Plural.
2.3.
Zu „Schmerz“-Erscheinungen in den hippokratischen „Epidemien“
Im Folgenden fokussieren wir ein etwas genaueres Hinsehen auf ausgewählte Frageschritte und Beobachtungen zu den hippokratischen „Epidemien“-Büchern. Die Eigenart der frühen Texte dieser Sammlung besteht darin, dass sie zunächst den beobachtenden Arzt zeigen, der allerdings nicht einfach neutral feststellt, sondern im Blick auf „Zeichen“, Verläufe, Lebensbedingungen der Kranken, Krankheitsgründe und Krankheitsbilder bestimmte Wirklichkeitsannahmen und Wahrnehmungsschemata zugrunde legt. Die Texte sind für Insider geschrieben, die bestimmte Syntagmatiken von „Schmerz“-Erscheinungen mit anderen physiologischen Auffälligkeiten adäquat interpretieren können. Neuzeitliche/retrospektive Diagnosen sind nicht möglich bzw. bleiben riskant. Ohne hier differenzierter auf die Altersstratigraphie und die Eigentümlichkeiten der Einzelbücher eingehen zu können: In der Beschreibung von „Schmerz“Phänomenen fällt zunächst auf, dass der griechische Stamm ἀλγ- noch nicht in den ältesten Teilen der „Epidemien“ (erstes und drittes Buch), sondern erst in
17
zusammen: Il. 12,392ff.; 16,581ff.; hier wären noch weitere termini wie πένθος [Traurigkeit/Klage: Od. 11,195] anzuschließen). Das Verb ὀδυνάω meint im Aktiv „Schmerz/Leid herbeiführen“ (vgl. Eur. Hipp. 247; Aristoph. Eccl. 928; Men. fab. inc. 113). Vgl. den Schmerz, den der Arzt beim Brennen und Schneiden verursacht (Plat. Prot. 354b). Im Passiv geht es um das Erleiden/Empfinden von Schmerzen (Soph. El. 804; Plat. Polit. 9,583; Dion Chrys. or. 38,46; 43,3; 66,16 u. v. a.). Vgl. HAUCK, Art. ὀδύνη, ὀδυνάομαι, 118f. Über zweihundert Belege im Corpus Hippocraticum.
Dem „Schmerz“ begegnen
283
den später zugewachsenen Büchern in der Beschreibung wichtiger wird.18 Hier wird mit dem Verb regelmäßig von Leidenden ein „er/sie litt an Schmerz“ bzw. ein Körperbereich verhielt sich „schmerzhaft“ (ἤλγει; ἤλγησεν) verzeichnet (vgl. CH Epid. 2.2.18; 2.3.11; 4.1.22 [δεξιά]; 4.1.35; 5.1.50; 6.4.4; 7.1.51f.; 7.1.109). Das Substantiv ἄλγος begegnet sowohl in der Verbindung, dass ein Kranker „Schmerzen“ „hat“ (ἔχειν; vgl. CH Epid. 5.1.43 u. a.), als auch in der metaphorischen Konstruktion, dass der „Schmerz“ wie ein agierendes Subjekt einen Leidenden in seinem Bann hat (vgl. CH Epid. 5.1.6). Den wichtigsten Wortstamm für die Erfassung von „Schmerz“-Erscheinungen bietet ὀδύν-. In der Nutzung dieser griechischen Wortstämme sucht das ärztliche Notieren die knappe Präzision. a) „Schmerzen“ korrelieren mit bestimmten, definierten Krankheitsbildern, wie sie den „Epidemien“ zugrunde liegen (vgl. z. B. CH Epid. 1.1.2 zur Phthisis; 1.2.11; 1.3.17 [4. Fall] zu phrenitischen Krankheitserscheinungen u. a.). b) „Schmerz“-Phänomene werden im Blick auf ihre Verursachung kategorisiert. Dabei sind einfache Fälle, bei denen eine äußere Verletzung resp. Einwirkung ein „schmerzhaftes“ Geschehen in Gang setzt, 19 von solchen zu unterscheiden, bei denen der Arzt in der Benennung von Ätiologien zurückhaltend und registrierend verbleibt. c) „Schmerzen“ werden bestimmten Körperzonen und -teilen zugewiesen. So z. B. dem Rippenkorb (CH Epid. 1.1.1), den entzündeten Hoden (1.2.5) oder den Augen mit Augenfluss.20 d) „Schmerzen“ werden zeitlichen „plots“ von Krankheitsprogressen integriert und können dann in einem definierten Spannungsbogen verfolgt und 18
19
20
Das einen weiten geographischen Radius umspannende, wahrscheinlich sehr junge siebte Buch widmet „Schmerz“-Erscheinungen quantitativ die höchste Aufmerksamkeit. Vgl. z. B. die schöne junge Frau des Nerios in CH Epid. 5.50, die im Alter von 20 Jahren beim Spielen mit einer Freundin einen Schlag auf den Kopf erhält und in Folge erblindet, Kopfweh und weitere Symptome bekommt und am 9. Tag stirbt. Vgl. CH Epid. 1.3.13 [5. Fall]: Schwere in der linken Rippengegend mit Schmerzen; Schmerzen und Röte im Rachen; 1.3.13 [9. Fall]: Fußweh; schmerzhaftes Kopfweh: 1.3.13 [11. Fall]; vgl. 5,50; 5,102 (einseitige Beschwerden); vgl. hierzu auch CH Aff. 18,12; CH Epid. 1.3.13 [13. Fall]: schmerzhafte Schlüsselbeingegend; 3.1.3: Knie und Schienbeine; 3.3.17 [2. Fall]: chronischer Schmerz in der rechten Hüfte der Frau, „die beim kalten Wasser darniederlag“; 3.3.17 [9. Fall]: heftiger Schmerz am rechten Hüftbein; 3.3.17 [12. Fall]: Augenschmerzen neben Kopfschwere; 3.3.17 [14. Fall]: schmerzhafte Schwere in Kopf und Nacken; die Bauchhöhle: 5,98; 7,29; die rechte Hüftpfanne: 6,4; die eine Körperseite: 7,1.26; Herzschmerzen: 7,20.62; Knie und Waden: 7,51; Knie und Hüfte: 7,54; ein „fressender“ Schmerz um den Nabel: 7,52; vom Brustschmerz: 7,109; vgl. auch sonst: CH Mul. 40,12: Vom Schamglied u. a. m.
284
Dem „Schmerz“ begegnen einer Verlaufslogik integriert werden, die in definierten „Tagen“ gerechnet ist. Als Beispiel sei der Fall des Silenos genannt, der infolge von Schlafmangel, Teilnahme an Trinkgelagen und Sport in eine Brennfiebererkrankung gerät. Im komplexen Krankheitsgeschehen wird am achten Tag Wasserlassen „unter Schmerzen“ verzeichnet (CH Epid. 1.3.13 [2. Fall]). Auch sonst werden Tage und Tageszeiten (vgl. die nächtlich zunehmenden Beschwerden in CH Epid. 7.1.11) unterschieden, wobei v. a. im Bereich der FieberLehre den kritischen Tagen besondere Achtsamkeit zuteil wird.21 „Schmerzen“ können im Zusammenhang der Krisis notiert werden (z. B. CH Epid. 1.3.15).
e) Der Arzt achtet auch auf den Faktor Generation sowie auf Gender-Spezifika, wenn er z. B. in CH Epid. 6.7.1 notiert, dass Frauen nicht gleichermaßen häufig vom Husten gequält wurden. f)
Verzeichnet wird ggf. auch, mit welchem Tempo „Schmerz“-Erscheinungen auftreten (vgl. die „Plötzlichkeit“ in CH Epid. 3.3) und von welcher Dauer sie sind (vgl. z. B. CH Epid. 3.3.17 [2. Fall]; 7.1.16: χρόνον πολύν).
g) Die Texte registieren in verschiedener Weise auch Graduierungen des „Schmerzes“. Der Arzt kann zunächst ausdrücklich notieren, wenn Bereiche des Körpers oder physiologische Verläufe sich „schmerzfrei“ verhalten (vgl. z. B. CH Epid. 7.51, wo das Nicht-Vorhandensein von Kopfschmerzen ausdrücklich Erwähnung findet). „Schmerz“-Erscheinungen können sodann als „klein“ resp. gering eingestuft werden; von „starken“/„kräftigen“ Beschwerden (vgl. z. B. CH Epid. 7.1.119: σπλῆνα ἐπόνει ἰσχυρῶς) reicht das Spektrum bis zur Feststellung „furchtbarer“/„schrecklicher“/„gewaltiger“ (δεινός) „Schmerzen“22. Auch der vermeintlich „neutral“ agierende und beobachtende Arzt findet bei „Schmerz“-Erscheinungen vielfach keinerlei Eindeutigkeiten. Schmerzen sind „Zeichen“, sie sind mehrdeutig. Die Beobachtung am „Objekt“, dem kranken Körper, ist nur auf einem theoretischen Hintergrund möglich. In diesen bezieht der Arzt ggf. interpretativ auch die subjektiven Auskünfte von Erkrankten ein.
21 22
Siehe hierzu V. BENDEMANN, Hitze, 231–262 (siehe in diesem Band 159–188). So häufiger; vgl. CH Epid. 5.61.83.98; zahlreiche Belege v. a. im siebenten Buch: 7.1.3.5.11. 29.33.57.62.88 u. v. a.
Dem „Schmerz“ begegnen
2.4.
285
Zur Kooperation von Arzt und „Schmerz“-leidenden Patienten
Einzelne in das Corpus Hippocraticum eingegangene Schriften können die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patienten ausdrücklich hervorheben.23 Der Arzt liest am Körper der Kranken „Schmerzen“ aus verschiedensten Regungen und Reaktionen ab und interpretiert sie gewissermaßen autonom, um zu seinem Urteil zu gelangen. Zugleich setzen die Texte voraus, dass er auf eine Mitarbeit der Patienten/innen und auch deren worthafte Auskunft angewiesen ist. Nach CH Epid. 1.11 wirken in der medizinischen „Kunst“ (τέχνη) drei Kräfte zusammen, nämlich die Krankheit, der Kranke und der Arzt; dieser sei der Diener/Handlanger der τέχνη, der Patient aber müsse sich unter dem Beistand des Arztes der Krankheit widersetzen. Wie sorgfältig der Arzt den Kranken beobachtet und wie sehr er dabei auf dessen Äußerungen und Auskünfte angewiesen ist, zeigt der Kriterienkatalog der Darstellung, den der Verfasser des ersten Buches der „Epidemien“ in CH Epid. 1.3.23 gibt: „Folgendes sind die Gesichtspunkte, aus denen wir die Erkrankungen voneinander gesondert haben: Wir gewannen sie von der Leibesnatur, soweit sie allen gemeinsam und soweit sie dem Einzelnen eigentümlich ist; von der Erkrankung, vom Kranken, von der Wirkung der Verordnungen, vom anordnenden Arzt. Diese Bedingungen bestimmten den leichteren oder schwereren Verlauf. Ferner von der allgemeinen Witterung und von der besonderen, wie sie unter den einzelnen Himmelsstrichen und Landstrichen wechselt; von der Lebensgewohnheit, von der Lebensordnung, von den Beschäftigungen, vom Lebensalter des einzelnen, von seinen Reden, seinem Betragen, seinem Schweigen, seinen Gedanken, von Schlaf und Wachen und Träumen nach Art und Zeit; von unwillkürlichen Bewegungen des Kranken wie Zupfen, Kratzen, Weinen; von den Krankheitssteigerungen; von den Abgängen, Harn, Auswurf, Erbrochenem und von allen Krankheitsbewegungen von und zu irgendeiner Stelle und von allen Krankheitsabscheidungen, mögen sie zum Verderben oder zur heilsamen Entscheidung führen, Schweiß, Starrfrost, Kaltwerden; Husten, Niesen, Schluchzen, Atmen; Aufstoßen, Winde, stille wie geräuschvolle; Blutaustritte, Blutflüsse. Was aus alledem und als Folge davon entsteht, muss berücksichtigt werden.“ [Übers. STICKER] Auch nach CH Aph. 1 müssen der Arzt, der Kranke, seine Umgebung und die äußeren Umstände zusammenwirken, um Heilung zu erreichen. Dabei können den Patienten z. T. gewisse medizinische Grundkenntnisse zugetraut werden, d. h. das Corpus Hippocraticum weiß auch – modern gesprochen – von einem mün23
Siehe den Überblick zu Anamnese, Untersuchung, Diagnose und Prognose bei GOLDER, Hippokrates, 170–173.
286
Dem „Schmerz“ begegnen
digen Patienten (vgl. CH VM 4; ähnlich CH Medic. 4).24 Im 11. Kapitel des Traktats CH De arte wird z. B. davon ausgegangen, dass sich im Fall der verborgenen Krankheiten Diagnose und Therapie komplex gestalten und über einen längeren Zeitraum auch das Gespräch zwischen Arzt und Krankem einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, „Erkenntnis“ zu erlangen, der Physis auf die Spur zu kommen und Ursachen und Konsequenzen der Erkrankung zu ergründen. Zu der Frage, wie der Arzt den Grad von „Schmerz“-Empfindungen seiner Patienten einschätzen kann, findet sich im (vergleichsweise jungen) zweiten Buch der „Epidemien“ folgende Auskunft: „Wie kann der Arzt die Heftigkeit von Schmerzen (ὀδύνας τάς ἰσχυροτάτας) bemessen? Er beachte die Furcht (fo,boj) des Kranken, das Wohlbehagen nachher (εὐφορίαι), die Schilderung des Erlittenen (ἐμπειρίαι), die Äußerungen der Feigheit (δειλίαι)“ (CH Epid. 2.2.10). Auch hier wird vorausgesetzt, dass die Äußerungen von „Schmerzen“ Leidenden für die Urteilsbildung und für die einzuschlagende Therapie hohe Bedeutung haben.
2.5.
Zwischenbilanz und weiterer Untersuchungsweg
Bei allen Unterschieden der zeitlichen Verortung, der Gattungen und auch der medizinischen Ausbildung und Spezialisierung der Verfasser der hippokratischen Texte wissen diese um eine Fülle von „Schmerz“-Phänomenen, die mit einzelnen Krankheiten einhergehen, im Körper auf verschiedenste Interdependenzen verweisen und innerhalb eines umfassenden physiologischen Wahrnehmungsrasters aufgefasst und interpretiert werden. „Schmerzhafte“ Leiden werden nicht als von kranken Menschen quasi separat zu betrachtende Entitäten aufgefasst. Sie werden nicht fatalistisch Gottheiten oder Dämonen zugeschrieben und somit menschlichen Einflussmöglichkeiten entzogen. Vielmehr erlaubt insbesondere das humoralpathologische Konzept, die Ursachen für „Schmerz“-Phänomene im und am kranken Menschen zu erkennen und sich diesem als körperlichem Individuum zuzuwenden. D. h., hier liegen die Möglichkeitsbedingungen dafür, dass eine tatsächliche Beschäftigung mit dem/der individuellen Kranken stattfindet. Was H. FLASHAR im Blick auf die hippokratische Schrift „Über die Natur des Menschen“ bilanziert, trifft im Kern auch die Realisierung von „Schmerz“-Problematiken: „Wenn die Krankheit – anders als noch in der vorhippokratischen Medizin – nicht mehr als isoliertes Phänomen meist unbekannter Herkunft angesehen wird, sondern als eine Störung im Säftehaushalt des Menschen, dann erweitert sich das ärztliche Interesse von der Krankheit zum Kranken als Person. Die Konzeption vom Patienten als selbst24
Dies gilt allerdings nicht durchgängig. Der Verfasser von CH De arte braucht für die Zielsetzung seiner Schrift den störenden Patienten, denn die Schrift spielt Arzt und Patient gegeneinander aus, um die Wissenschaftlichkeit der Medizin herauszuarbeiten. Siehe hierzu CORDES, Iatros, 101–137.
Dem „Schmerz“ begegnen
287
ständige Größe, die als Errungenschaft der hippokratischen Medizin gelten kann, hat darin ihre sachliche Grundlage.“25 So wenig der Reichtum und die Vielfalt von „Schmerz“-Konzepten ausgeleuchtet werden konnte, die sich in den einzelnen Schriftenkreisen des Corpus Hippocraticum finden, so wenig ist es nun erst recht möglich, von hier aus einfache Traditionslinien zu solchen Konzepten zu ziehen, wie sie sich in der weiteren Geschichte der Medizin in hellenistisch-römischer Zeit finden (Pkt. 3.). Eklektisch gehen wir im Folgenden zunächst auf den anatomischen Fortschritt ein, der sich mit der Medizin Alexandrias verbindet (Pkt. 3.1.). Von hier aus blicken wir – ebenfalls nur eklektisch – auf „Schmerz“-Konzeptionen, die unter den Bedinungen der konkurrierenden Ärzte-Schulen der frühen Kaiserzeit wirksam werden konnten. Als einen Testfall wählen wir die „Gynäkologie“ des Soran von Ephesos (Pkt. 3.2.). Dann soll ein Sonderfall der hellenistisch-römischen Medizinhistorie beleuchtet werden: Rufus von Ephesos erhebt die Fragen des Arztes an den Patienten erstmals in den Rang einer eigenen Fachmonographie. In seinen „Quaestiones medicinales“ thematisiert er dabei auch ausdrücklich „Schmerz“Erfahrungen als Gegenstand der Befragung durch den Arzt (Pkt. 3.3.). Am Ende der Analyse ausgewählter antik-medizinischer Zeugnisse soll dann ein Text stehen, der sich als beleuchtet wissenschaftlicher Hoch- und Schlusspunkt der rational-physiologischen Durchdringung von „Schmerz“-Phänomenen von der altgriechischen bis in die hellenistisch-römische Medizin darstellt: In seiner Schrift „De locis affectis“ hat Galen von Pergamon die Lehre vom „erkrankten Ort“ perfektioniert und in der Auseinandersetzung mit dem Werk des Archigenes von Apameia die Frage vorangetrieben, welche Bedeutung dem „Schmerz“ bei der Identifzierung erkrankter Organe zukommt (Pkt. 3.4.).
3.
Zugänge zum „Schmerz“ in der hellenistischrömischen Medizin
3.1.
Der anatomische Beitrag der alexandrinischen Medizin – Zur Entdeckung des menschlichen Nervensystems
Die hippokratischen Texte sind bei aller Verschiedenheit ihrer Ansätze im Rückblick dadurch gekennzeichnet, dass sie „Schmerzen“ noch nicht als ein nervöses Phänomen zu betrachten vermögen. Sie gehen bei allen Unterschieden von einer Konzeptualisierung des menschlichen Körpers als Flüssigkeitsbehälter bzw. in orthopädischer Hinsicht als einem durch Spannung in Balance gehaltenem 25
FLASHAR, Hippokrates, 99.
288
Dem „Schmerz“ begegnen
System von Hebeln und Stabilisatoren aus. Der feminine griechische Begriff νευρά bzw. das ebenfalls begegnende neutrische νεῦρον, von denen sich bis in die neuzeitliche Medizin hinein termini wie der der „Neurologie“ herleiten, bezeichnen quellsprachlich in den Texten des Corpus Hippocraticum die ziehende Sehne resp. das Muskelband (vgl. die aus Tiersehnen verfertigte Bogensehne), welches für Spannkraft im menschlichen Bewegungsapparat sorgt. Nach der Schrift „De locis in homine“ vermitteln sie die „Kraft“ zwischen dem „Knochen“ und dem „Fleisch“. Sie gelten als „trocken und ohne Hohlräume“ (ξηρά καὶ ἀκοίλια), „mit dem Knochen verwachsen“ und „zum größten Teil vom Knochen her ernährt“, zugleich aber auch vom „Fleisch“ her genährt (CH De Loc. hom. IV; 6,52–57). „Die Sehnen umklammern die Gelenke (τά δὲ νεῦρα πιέζουσι τὰ ἄρθρα), sie ziehen sich über den ganzen Körper hin, sie sind in jenen Körperteilen am kräftigsten und immer am dicksten, in denen die Fleischteile am wenigsten entwickelt sind. Der ganze Körper ist von Sehnen erfüllt, im Gesicht und am Kopf dagegen gibt es keine Sehnen, wohl aber den Sehnen ähnliche Fasern zwischen dem Knochen und dem Fleisch, sie sind dünner und derber, es sind tiefliegende (dünne) Sehnen“ (6,60–7,6). Im Einklang mit den Befunden in der altgriechischen Medizin meint der sprichwörtlich sogenannte nervus rerum die Zugachse, die straffende, zerrende und steuernde Sehne der Dinge, nicht: „den Nerv“ der Dinge. Erst mit der auf anatomischer Erforschung des tierischen und menschlichen Körpers durch Leichenzergliederung und auch Vivisektion basierenden und der Medizin einen beträchtlichen Wissenszuwachs vermittelnden alexandrinischen Medizin, namentlich mit Herophilos von Chalkedon (ca. 330–250 v. Chr.) und vor allem Erasistratos von Keos (ca. 320–245 v. Chr.), wurde das „Nervensystem“ entdeckt.26 Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist vor allem, dass Galen von Perga26
Zu Herophilos, seinem Kreis und zu Erasistratos vgl. die – mit Vorsicht zu genießenden – Aussagen bei Cels. med. I Prooem. 23f. Vgl. VEGETTI, Wissen, 93–113 (a. a. O., 94: „Herophilos verläßt […] das Modell, das den Körper im Sinne der alten Humoralpsychologie als Behälter von Flüssigkeiten beschrieb, und ersetzt es mit jenem der Montage fester Bestandteile, die einander gut angepaßt sind.“; a. a. O., 107: „Wenn die Wahrnehmungsweiterleitung an das Gehirn mittels des in den sensorischen Nerven vorhandenen Pneumas für Erasistratos kein nennenswertes Problem bildete, so lag die Sache anders bei der Dynamik der absichtlichen Bewegungen. Hier scheinen sich zwei verschiedene Vorstellungen überlagert zu haben: einerseits das elastisch-mechanische Modell, zum anderen das fließendpneumatische.“). Damit ist zugleich deutlich: Was die großen Alexandriner als „Nerven“ im menschlichen Körper fanden, ist in keiner Weise mit heutigem anatomisch-neurologischem Wissen zu verwechseln. Siehe zur alexandrinischen Medizin und den in sich unterschiedlichen Ausgangspunkten und Positionen des Herophilos und Erasistratos WEISSENRIEDER, Körper, 32f., 36f., 97f., 132f., 592, 925, 991f. (a. a. O., 807: „Die stärkere Berücksichtigung der erkenntnistheoretischen Richtung der Medizin geht einher mit einem neuen Wissenszweig, dem anatomischen Studium der Strukturen des tierischen und menschlichen Körpers – einschließlich Untersuchungen an lebenden Menschen – wofür die Alexandriner später auch kritisiert wurden […]. Die auf dieser Basis erworbenen Kennt-
Dem „Schmerz“ begegnen
289
mon, der die westliche Medizin mit seinen Schriften über Jahrhunderte geprägt hat, die hippokratischen Ansätze mit dem neuen wissenschaftlichen Ansatz der Alexandriner synthetisiert hat – unter eigenen und besonderen Voraussetzungen und mit mancher Weiterentwicklung (s. u. Pkt. 3.4.). Galens Position in Hinsicht auf die Funktionsweise des Nervensystems ist insbesondere seinen Schriften „De venarum arteriumque dissectione“, „De nervorum dissectione“, „De motu musculorum“, „De anatomicis administratibus“, „De usu partium“ und „De placitis Hippocratis et Platonis“ zu entnehmen.27 Galen vermochte auf der Grundlage seines anatomischen Wissens um die Arbeitsweise des Nervensystems im Ärzteagon durch das Ausschalten von Nerven demonstrativ animalische Organe und Bewegungsabläufe stillzulegen.28 Allerdings wurde dem in Alexandria erarbeiteten Wissensschub zunächst eine nur sehr limitierte Rezeption innerhalb der weiteren antiken Medizinhistorie zuteil. Das neue Spezialwissen wurde teils unter pragmatischen Gesichtspunkten bewusst abschattiert und zurückgestellt (s. u. zur methodischen Medizin des Soran von Ephesos Pkt. 3.2.), und es geriet sodann weitgehend wieder in Vergessenheit. Bediente sich die antike Philosophie in sehr vielfältiger Weise stets bei dem in der Medizin erarbeiteten Wissen und gab es hier seit vorsokratischer Zeit eine enge Wechselwirkung, so treten beide in der frühen Kaiserzeit an diesem Punkt weiter auseinander. Das höchst differenzierte anatomische Spezialwissen und die verbesserten Kenntnisse der inneren Abläufe im menschlichen Körper der hellenistischen Medizin haben die Philosophie der römischen Kaiserzeit kaum mehr erreicht; bzw. man hat das Fachwissen ignoriert. Im philosophischen Schulbetrieb orientierte man sich an dem, was die Schulhäupter einst postuliert hatten; und insbesondere die großen Autoritäten des Platon und Aristoteles wirkten sich bis in die Medizin der Kaiserzeit hinein auch forschungsund wissenshemmend aus. W. BURKERT hat diesen Befund als paradigmatisch für die Situation der Philosophie als Wissenschaft aufgefasst, die zwar die „Allge-
27
28
nisse von den makroskopischen Organen wie Gehirn, Herz, Blutgefäße und Nervenstränge führten zu einer Neuformulierung der Bedeutung der Körpersäfte.“). Vgl. WEISSENRIEDER, Körper, 44: „Bemerkenswert sind Galens Ausführungen zu den Nerven, die man seit der Schule von Alexandrien von den Sehnen unterscheidet. Er unterscheidet weiche Nerven (Empfindungsnerven, sensorische Nerven) von harten Nerven (Bewegungsnerven oder motorische Nerven). Sie enthalten einen Hohlraum, der gefüllt ist mit „Seelenhauch“ und verleihen den Organen dadurch ein Gemüts- oder Bewegungsprinzip.“ Vgl. a. a. O., 103–105, wo zusätzlich auf die Schrift „De instrumento odoratus“ verwiesen wird. Zur Bedeutung der Nerven in Galens „Über die Lehrmeinungen des Hippokrates und des Platon“ vgl. BURKERT, Entdeckung, 34f. (vgl. Galen plac. Hp. et Pl. II 4,31: „Die Muskeln bewegen bestimmte Organe, durch die Atmung und Stimme entstehen; sie brauchen aber ihrerseits, damit sie sich bewegen, die vom Gehirn kommenden Nerven.“).
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Dem „Schmerz“ begegnen
meinbildung“ verwalte, aber dem entscheidenden „Spezialwissen“ hinterherhinke.29 In Bindung an die jeweilige philosophische Schulrichtung wurde insbesondere die Frage des „Leitungsorganes“ im menschlichen Körper entschieden. Der große Alexandriner Erasistratos hatte im Gehirn das Steuerungszentrum des Körpers erkannt und sah es mit dem System der „Nerven“ verbunden. Dagegen stand jedoch die Position des Aristoteles, dessen Körpermodell (wie das des Empedokles und des Diokles) kardiozentrisch organisiert war. Entsprechend wurde auch die Verlinkung des leitenden Organs mit der Außenwelt und den weiteren Akteuren im menschlichen Körper je anders konzeptualisiert.30 Der gesamte Komplex betraf im Kern auch die Frage nach der Anzahl und dem Charakter resp. der Funktion der menschlichen Sinne.31 29
30
31
BURKERT, Entdeckung, 33. Man komme in der Frage der Rezeption des in Alexandria neu Entdeckten „von Fehlanzeige zu Fehlanzeige“ (a. a. O., 32). Eine Ausnahme bietet möglicherweise Apollonius von Rhodos, Argonautica III 761–765. Vgl. die grundlegenden Vorarbeiten bei SOLMSEN, Philosophie, 202–279. Zu den äußerst komplexen und zerklüfteten Diskussionen im Wechselspiel von antik-philosophischen Konzepten und medizinischer Einsicht und Theoriebildung im Blick auf eine leitend-steuernde Instanz im menschlichen Körper, die insbesondere im Spannungsfeld zwischen den alternativen Brennpunkten des „Verstandes“/„Gehirns“ und dem „Herzen“ geführt wurden, siehe das Material und die Diskussion bei WEISSENRIEDER, Körper, 253–257, 802–810, 825. Entwicklungen und Diskussionen sind hier nur ganz grob zu skizzieren: Nach Theophrasts (ca. 372–287 v. Chr.) Schrift „De sensibus“, die die Lehre des Alkmaion von Kroton (ca. 500 v. Chr.) referiert, unterscheidet sich der Mensch von den Tieren dadurch, dass er nicht nur empfindet, sondern auch begreift. Theophrast differenziert als Sinne das Vermögen zum Hören, Riechen, Schmecken und Sehen. Die fünf Sinne werden erstmals von Demokrit (460–370 v. Chr.) unterschieden (inklusive des Tastsinnes). Nach Platon sind die Sinne Organe der Seele (Tht. 184d: „Arg wäre es auch, Sohn, wenn diese mancherlei Wahrnehmungen wie im hölzernen Pferde in uns nebeneinanderlägen und nicht alle in irgendeinem, du magst es nun Seele oder wie sonst immer nennen, zusammenliefen, mit der wir dann vermittelst jener, dass ich so sage, Werkzeuge wahrnehmen, was nur wahrnehmbar ist.“). Damit ist nach JÜTTE erstmals eine Grundunterscheidung von Sinneswahrnehmung und Denkvorgang klar markiert (DERS., Geschichte, 44). Es gibt nicht einen übergeordneten Sinn (sensus communis), sondern der Verstand bzw. die Seele synthetisiert die sinnlichen Eindrücke (vgl. Tht. 185e). Im Timaios behandelt Platon die einzelnen Sinne, wobei das Tasten keinem spezifischen Körperorgan zugeordnet ist (vgl. Tim. 46a–67b). Aristoteles weist den Sinnen über Platon hinausgehend – unterschieden werden nun fünf und nicht lediglich vier Sinnespotenzen – auch psychische Vermögen zu. In der Psyche gibt es einen eigenen Bereich der sinnlichen Wahrnehmung: die αἴσθησις. Diese unterscheidet sich nach der Art der Psyche bzw. des Lebewesens. Jeder Sinn ist strikt objektbezogen. Das Riechorgan befindet sich im Gehirn. Das Organ des Tastsinns ist nach Aristoteles nicht die Haut, sondern vielmehr das Herz. Hier wird die kardiozentrische Orientierung der aristotelischen Sicht erkennbar (vgl. vor allem die aristotelische Schrift „Über die Seele“). Galen widersetzt sich im Anschluss an Erasistratos und die alexandrinische Medizin der Vorstellung, dass der Sitz des zentralen Wahrnehmungsorgans das Herz sei. Galen sieht den Körper vom Gehirn her gesteuert und geht von sieben Hirnnerven aus. Die Positionen werden
Dem „Schmerz“ begegnen
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Nach der Analyse von BURKERT hat sich schließlich überwiegend nicht die spätantike Philosophie, sondern vielmehr die christliche Theologie – in Aufnahme mittelplatonischer Gedanken – am Ende leichter damit getan, die Vorstellung eines Nervensystems zu akzeptieren, weil sie nicht durch die unverbrüchliche Autorität des Aristoteles gehindert und gebunden war. 32 Beispielhaft ist hier Nemesios von Emesa zu nennen, der syrischer Bischof war und um 400 n. Chr. ein anthropologisches Handbuch mit dem Titel Περὶ φύσεως ἀνθρώπου schrieb, in dem er u. a. auf Galen, Porphyrios, Philo von Alexandria und die zeitgenössische Bibelexegese rekurriert.33 Völlig problemlos kann Nemesios hier die drei galenischen Systeme der „Nerven“, „Venen“ und „Arterien“ als physiologische Gegebenheiten gelten lassen, da er sie schöpfungstheologisch begründet sieht. Die „Nerven“ nehmen als Bahnen für das Seelenpneuma vom „Gehirn“ ihren Ausgang und verzweigen sich in jeden Teil des Körpers. Zugleich spielt das menschliche Rückenmark eine Rolle. Ausführende Organe sind die Bänder und Muskeln (vgl. Περὶ φύσεως ἀνθρώπου; Nem. Emes. De nat. hom. 27, 88, 3–8). Nemesios kann ausführen: „Weil nun oft, wenn wir am Fuß von einem Dorn verletzt werden, sofort die Kopfhaare zu Berge stehen, haben einige gemeint, die Verletzung bzw. die Wahrnehmung der Verletzung werde ins Gehirn hinaufgeleitet, und so komme es zur Wahrnehmung. Wenn diese These wahr wäre, würde nicht der verwundete Körperteil weh tun, sondern das Gehirn […]. Vielleicht ist es nicht ungeschickt zu sagen, dass zum Ursprung der Nerven, dem Gehirn, nicht die Verletzung hinaufgeleitet wird, sondern ein Mitempfinden und eine Meldung der Verletzung“ (Nem. Emes. De nat. hom 8, 64, 1– 15). Eine Grundproblematik ist am Ende noch anzusprechen, die auch die Interpretation hellenistisch-jüdischer und frühchristlicher Zeugnisse betrifft (s. u. Pkt. 8.): Die alexandrinische Medizin hat zwar die „Nerven“ im menschlichen Körper entdeckt, sie hat für diese Neuentdeckung jedoch keinen neuen terminus geprägt, sondern vielmehr die eingangs diesen Abschnitts genannten Begriffe νευρά bzw. neutrisches νεῦρον quasi neu definiert. Diese Begriffe waren damit fortan sowohl für Sehnen-Material im menschlichen Körper als auch – in anatomischer Betrachtungsperspektive – für die „Nerven“ vergeben. Dies führte in
32 33
in der späteren Akademie und in der Schule der Peripatetiker weiterentwickelt. Plotin insistiert als christlicher Schriftsteller und Mittelplatoniker auf der Einheit der Sinne und grenzt sich vom Peripherie-Zentrum-Modell der αἴσθησις des Aristoteles und seiner Schüler ab. Nach ihm ist kein Medium zwischen Objekt und Sinnesorgan erforderlich; die Welt wird vielmehr unmittelbar erfasst; Zugleich setzt Plotin im Verhältnis von Körper und Seele auch das anatomische Wissen um die Nerven voraus (Plot. enn. IV 3,23). Augustin beschreibt die Sinnestätigkeit als notitia, die sich trinitarisch erschließt (De trinitate). Siehe im Überblick JÜTTE, Geschichte, 40–57; zur Philosophie des Sensorischen: SERRES, Sinne. Siehe BURKERT, Entdeckung, 41–43. Siehe MORANI (Hg.), Nemesii; hierzu: VAN DER EIJK, Nemesius.
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Dem „Schmerz“ begegnen
der Rezeption zu einer jahrhundertelangen Geschichte der Äquivokationen, die sich noch bis in jüngere und jüngste neutestamentliche Forschungsbeiträge hinein verfolgen lässt.34 34
Diese Geschichte der Äquivokationen betrifft auch die Interpretationen biblischer Texte, in die man vielfach das alexandrinische „Nerven“-System eingetragen hat. Entsprechende Versuche stehen auf tönernen Füßen. Die Erzählung vom Ringen Jakobs mit Gott am Jabbok (sog. „Gotteskampf“) wird gerne auf eine Schädigung des „Hüftnervs“ Jakobs gedeutet, in deren Folge die Israeliten „bis zum heutigen Tag“ den Nerv nicht mehr äßen (Gen 32,26.33; vgl. so schon GUNKEL, Genesis, Teilbd. 1, 363: „Der Hüftnerv ist heilig […]“; so in verfehlter Weise auch aufgefasst in der „Septuaginta Deutsch“, die V. 32[33] übersetzt: „Deswegen essen die Israeliten bis zum heutigen Tag keineswegs den Nerv, der steif wurde, der auf dem Hüftgelenk ist, weil er an das Hüftgelenk Jakobs, an den Nerv gefasst hatte, und er war steif geworden.“ – Das ist physiologischer Unfug.). Im Text ist jedoch nicht das nervliche Steuerungssystem vorausgesetzt; vielmehr geht es um die Hüftsehne. Weiter: Der frühchristliche Epheserbrief konzeptualisiert im 4. Kapitel den Zustand der Gemeinde/Kirche als den einer „Patientin“. Die Gemeinde erscheint im Blick auf ihr Sozialverhalten und ihre Kohärenz desintegriert, und der Epheserbrief erklärt dies – unter Aufnahme der Kopf-Leib-Metaphorik aus dem 1. Korintherbrief und dem Römerbrief des Apostels Paulus – im Sinne eines gestörten Verhältnisses der Versorgung des Körpers / der Gemeinde vom Kopf her. „Bänder“, „Sehnen“ und „Gelenke“ sind in Unordnung geraten, wobei der Epheserbrief hier metaphorisch in besonderer Weise auch Leitungsfunktionen der Gemeinde im Visier hat. Die Körperkonzeption in Eph 4,16, die literarisch auf Kol 2,19 zurückgreift, erinnert dabei angefangen bei der Aktivierung der Vorstellung einer für das Wachstum verantwortlichen ἐνεργεία an Konzepte der kephalozentrisch ansetzenden hellenistischen Medizin (im Eph bezeichnet der Begriff ἐνεργεία sonst die Kraft Gottes; vgl. 1,19; 3,7, hier ist er jedoch im Rückgriff auf Eph 4,7 als die Kraftenergie Christi aufzufassen). Das Syntagma διὰ πάσης ἁφῆς τῆς ἐπιχορηγίας in Eph 4,16 ist jedoch keineswegs auf das steuernde menschliche Nervensystem zu beziehen, von dem der Briefverfasser keine Anschauung hat. Zudem ist von νεῦρον resp. νευρά explizit nicht die Rede (Eph 4,16 wird dagegen z. B. von SELLIN, Brief, 350, mit der „nervlichen Steuerung“ und [Blut]Versorgung in Verbindung gebracht.). Ein ausdrückliches νευρ-Derivat begegnet dagegen in den Mandationes im Hirt des Hermas (49,2; vgl. auch Philo, Flacc. 190). Ein für die Umkehr/Buße zuständiger Engel mahnt im 49. Kapitel die wiederum in Sünde geratene Gemeinde – im Hintergrund steht das Problem der poenitentia secunda – zum Glauben und zum „Üben“ des Lebens in „Gerechtigkeit“. Der Engel verbindet seine Mahnungen mit der Verheißung von „Heilung“ von den „früheren Sünden“, mit der Verleihung von „Leben bei Gott“ und der Gabe der „Kraft“ über die „Werke des Teufels“; denn dessen „Drohen“ sei nicht zu fürchten, sondern vielmehr „kraftlos“, wie die νεῦρα eines toten Körpers, einer Leiche. Gemeint sind die schlaffen Sehnen, die erlahmte Agitationsfähigkeit des überwundenen und zur Leiche gewordenen Teufels, nicht die „Nerven“ im technischen Sinn der alexandrinischen Medizin (siehe zur Stelle BROX, Hirt, 280f.). Bemerkenswert ist die Verwechslung von „Sehnen“ und „Nerven“ in der Übersetzung hippokratischer Texte in WEISSENRIEDER, Körper (vgl. a. a. O., 630, zu „De victu“, Kapitel 27–29; ὀστέα καί νεῦρα ist hier nicht als „Knochen und Nerven“ aufzufassen, sondern als „Knochen und Sehnen“; vgl. ähnlich das Problem a. a. O., 895, zu „De natura ossium“ 11, wo übersetzt wird: „Die Knochen gewähren dem Körper Stand und Geradheit und Aussehen, die Nerven Biegung und Anspannung und Ausdehnung.“ Auch hier meinen die νεῦρα jedoch gewiss die „Sehnen“.
Dem „Schmerz“ begegnen
3.2.
293
Adaptionen, Transformationen und Korrekturen von „Schmerz“-Konzepten im medizinischen Schulbetrieb der frühen Kaiserzeit – Soran von Ephesos
Auf Grundlage der bisherigen Analyse lassen sich die eingangs formulierten Leitfragen insbesondere auf die Frage hin verdichten: Inwieweit wird die Entdeckung der „Patienten“ im Übergang von der hellenistischen Zeit in die frühe römische Kaiserzeit fortgeführt? Wird sie intensiviert? Rücken „Schmerzen“ als solche stärker in den Fokus medizinischen Forschens und therapeutischer Bemühungen? Was wird aus der altgriechischen Medizin aufgegriffen, was wird transformiert und weiterentwickelt, wo kommt es auch zu Korrekturen und Umbrüchen in der Beurteilung und Behandlung von „Schmerz“-Phänomenen? Wie wirkt das in Alexandria im Blick auf „Schmerz“-Wahrnehmungen erarbeitete Spezialwissen nach, wird es überhaupt rezipiert? Die Untersuchung kann auch hier nur eklektisch bzw. exemplarisch ansetzen. Beschreiben schon die Texte des Corpus Hippocraticum einen ganzen Kosmos unterschiedlicher Konzepte und Ansätze, der in die hellenistische Zeit hineinragt, so gilt dies auch für diejenigen Zeugnisse, die man in verschiedener Weise den sogenannten Ärzte-„Schulen“ zuschreiben kann. Wir wählen exemplarisch die „Gynäkologie“ des Soran von Ephesos (2. Hälfte 1./Anfang 2. Jahrhundert n. Chr.). Bei Soran wird eine Tendenz zur deutlichen Vereinfachung des medizinischen Fachwissens unter pragmatischen Gesichtspunkten greifbar; sein Werk bietet so etwas wie ein handlungsorientiertes Grundwissen. Der Gegenstand der „Gynäkologie“ bedingt zudem, dass soziale Aspekte im Zusammenhang der Konzeptualisierung von „Schmerzen“ stärker beachtet werden. Ein neuer Gesichtspunkt ist sodann v. a. darin zu erkennen, dass „Schmerzen“, die die Bemühungen des Arztes selbst hervorrufen können, zum Darstellungsgegenstand werden.
3.2.1.
Soran als „Methodiker“
Soran gilt als Repräsentant der sog. „methodischen Schule“. Er propagiert in seinem Werk Grundansätze der „methodischen“ Medizin. Zugleich repräsentiert er jedoch auch einen eigenständigen Zugang35 und lehnt z. B. die anatomischen Errungenschaften der alexandrinischen Medizin nicht gänzlich ab. 36 35
36
Wenn man auf die „Schul“-Richtungen der von der Skepsis geprägten „Empiriker“, der sogenannten „Dogmatiker“ und der „Methodiker“ blickt (vgl. Cels. med. Prooem.), so sind die Grenzen oft nicht klar zu ziehen; die Eigenständigkeit jedes einzelnen Mediziners ist in jedem Fall zu prüfen bzw. in Rechnung zu bringen. Deutlich wird das z. B. in der Frage der physiologischen Konsistenz des uterus, die Soran als Struktur von Nerven, Venen, Arterien und „Fleisch“ bestimmt (Gyn. liber I 11).
294
Dem „Schmerz“ begegnen
Die „methodische Schule“ ist die jüngste unter den hellenistischen Ärzteschulen und kann im ersten Jahrhundert auch als der römische Weg aufgefasst werden.37 Einen wesentlichen Anstoß für ihre Entstehung gab die atomistische Lehre des Asklepiades von Prusa, der sich seinerseits am epikureischen Atomismus orientierte. Grundsätzlich wirkte sich in der neuen Schulrichtung ebenfalls der Skeptizismus aus. Als eigentlicher Gründer der methodischen Schule in Rom gilt Themison von Laodicea.38 Viele Annahmen bezüglich der Entwicklung der methodischen Schule lassen sich erst aus dem späteren Werk des Caelianus Aurelianus begründen, der Soran ins Lateinische übertrug.39 PH. VAN DER EIJK bilanziert in seiner Untersuchung zu Caelianus Aurelianus: „The modern scholar is faced with many puzzles in Methodist doctrine and methodology, which constitutes a peculiar mixture of speculative physiology and pathology (partly of Asclepiadean provenance) with a strongly empirical, almost Sceptic insistence on ‚the manifest‘ as the only acceptable basis of judgement and (therapeutic) action.“40 Nach Caelius Aurelianus war es dabei Soran von Ephesos, der Ordnung und Strenge in die methodische Schule gebracht habe (Cael. Aur. chron. II 7.109; III 4.65). Im Blick auf die Frage nach der Prognose sowie der Therapie von „Schmerz“Phänomenen wollen wir darum im Folgenden die „Gynaeciorum libri“ des Soran als Modellfall der methodischen Medizin herausgreifen.41 Die „Gynäkologie“ des Soran ist grundsätzlich weniger theoretisch ausgelegt, sie zielt vielmehr auf die Praxis des Arztes. Aus diesem Ansatz resultiert eine Tendenz zur Vereinfachung. Der methodisch geprägte Arzt muss vom Patienten deutlich weniger wissen, als es in der hippokratisch geprägten Medizin oder bei den Alexandrinern der Fall war. Der Arzt wird dabei nicht als der rein selbständig beobachtende und agierende Fachmann angesprochen, so sicher sich die methodische Schule hierin auf die Skepsis zurückbezieht, dass Einsichten nicht wie bei den sog. „Dogmatikern“ einfach logisch aus bestimmten Annahmen über den Menschen deduziert werden können.
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Der Schüler Themisons, Thessalos von Tralleis, verstand sich in Rom selbst als Überwinder aller früheren Ärzte und widmete sein Werk dem Kaiser Nero (Plin. nat. XXIX 6). Zum Denken der methodischen Schule: MEIER-STEINEG, System. Die Frage der Schulgründung und -entstehung bleibt im Einzelnen umstritten. Es ist nicht ganz sicher, ob Themison nicht einer bereits etablierten Bewegung zuzurechnen ist (vgl. VAN DER EIJK, Antiquarianism, 399–401). Auch im Blick auf die Geschichte der Schule bleibt manches unsicher, z. B. auch, ob Soran hippokratische Schriften kommentiert hat (vgl. a. a. O., 403). Daneben wirkten die lateinische Paraphrasen des Muscio. Über Paulus von Aegina und auch die arabische Medizin hat Sorans „Gynäkologie“ eine breite medizinische Rezeptionsgeschichte bis in die Gynäkologie der Neuzeit. VAN DER EIJK, Antiquarianism, 401; DERS., Methodism, 47–86. Auch im Fall der „Methodiker“ verhält sich das, was der Arzt am und im Körper des Patienten wahrnimmt, reziprok zu seiner lehrhaften Orientierung und Ausbildung.
Dem „Schmerz“ begegnen
295
Doch bedarf der Mediziner durchaus eines „Wissens“ um die Kunst. Dieses „Wissen“ verdankt sich bei Soran weitgehend der eigenen – „methodischen“ – Schule. „Possibly under the influence of Pyrrhonean scepticism, they did not believe in the necessity of inquiring into the causes of disease, and disparaged anatomy and physiology, as well as humoral pathology. On the other hand, they thought that the physician needed a more secure knowledge than was offered by experience.“42 Von diesem Schulwissen aus tritt Soran seinerseits auch in den Streit der Schulen ein. In vielen Passagen der „Gynaeciorum libri“ werden die Vorgänger und Zeitgenossen der Zunft kritisiert. Die Kritik trifft dabei, in grundsätzlichem Einklang mit dem hippokratischen Erbe, zunächst superstitiöse Vorstellungen, die gerade im Bereich der Gynäkologie im Altertum stark verbreitet waren. Diese werden kontinuierlich revidiert.43 Doch werden in beträchtlichem Umfang vom methodischen Standpunkt her auch medizinische Positionen und ihre prominenten Vertreter ins Visier genommen. Wie eigenständig und konsequent Soran verfährt, wird daraus ersichtlich: Die Kritik, Abgrenzung und Revision schließen hippokratische Positionen ein, machen aber auch vor Vertretern der eigenen Schulrichtung nicht halt. Die teils rhetorisch stilisierte Absatzbewegung von den Älteren und Zeitgenossen geht bis hin zur reductio ad absurdum.44
3.2.2.
Kommunitäten und Konditionen
Vereinfacht gesagt gilt unter den Prämissen der Methodiker: „Schmerz“ kommt stets dem Gesamtkörper zu und ist kein isoliert zu betrachtendes Phänomen (communiter totum corpus patitur). Dabei vereinfacht sich die Perspektive im Ver42 43
44
TEMKIN, Gynecology, xxvii. Das Gebiet der Gynäkologie war traditionell ein Areal, auf dem abergläubische Vorstellungen en vogue waren (siehe VAN DER EIJK, Antiquarianism, 405). Die Abgrenzung darf man sich allerdings nicht neuzeitlich-aufgeklärt denken. Z. B. lässt Soran in der Therapie auch Amulette zu (um der Hoffnung der Patientinnen willen). Vgl. VAN DER EIJK, Antiquarianism, 398, zur Traditionskritik der Methodiker: Sie „adopt a highly critical attitude to the views of their medical precursors, even those of Hippocrates […]“; oft diskutieren sie nur Vorgängerwerke, um Fehler und Widersprüche in ihnen zu finden und die Vorzüge ihres eigenen methodischen Standpunkts klarzumachen. Das gilt auch gegenüber den eigenen methodischen Vorgängern, Themison, Thessalos und Manseas. Medizin wird somit aufgefasst als kontinuierliche Selbstkritik und Selbstrevision. Das Fazit VAN DER EIJKS im Blick auf Sorans Umgang mit seinen Vorgängern und zeitgenössischen Zunftgenossen lautet: „There does not seem to be any attempt, on Soranus‘ part, at giving a faithful, comprehensive historical account of earlier gynaecological thinking […]“; die Repräsentation der Meinungen anderer sei „predominantly, though by no means exclusively negative […]“ (a. a. O., 414). Soran bindet die Vorgänger und Zeitgenossen in eine durchaus rhetorisch stilisierte Darlegung seiner eigenen Position ein.
296
Dem „Schmerz“ begegnen
gleich zu den Vorgängern der altgriechischen Medizin ganz beträchtlich, wenn nur drei „gemeinschaftliche“ Grundformen der Erkrankung des Gesamtkörpers unterschieden werden, die sogenannten „Kommunitäten“. Verkrampft sich der Körper, zieht er sich zusammen, so gerät er potentiell auch in „schmerzhafte“ Situierung (der sog. status strictus). Fehlende Balance und Spannung markieren das Gegenteil (status laxus). Die Therapie muss hier jeweils gegensteuern, um das rechte Maß der Spannung wiederherzustellen. Wie relativ unscharf dieses Körperbild ausfällt, ersieht man dabei schon daraus, dass die Methodiker als dritten Körperzustand auch den status mixtus kennen.45 In der Gesamtkonzeption ist wiederum das im Vergleich zur altgriechischen Medizin veränderte Verhältnis von Theorie und Praxis mit Händen zu greifen. Unter dem Aspekt der Handlungsorientierung ist bei Soran bisweilen auch unklar, ob sich der „strikte“ Zustand tatsächlich auf den Körper insgesamt oder teils auch nur auf einzelne Bereiche in ihm bezieht. „In der Tat ändert sich die Behandlung in Abhängigkeit von den vier Phasen, die jedweder Krankheit zu eigen sind: Beginn, Durchbruch, Höhepunkt und Nachlassen.“46 Das methodische „Kommunitäten“-Konzept wird so weit getrieben, dass Soran der Position seiner Schule auch in der umstrittenen Frage, ob es genuine weibliche Erkrankungen im Unterschied zu genuin männlichen Leiden gebe, strikt verpflichtet bleibt. Dies geschieht auch im Unterschied zu den gynäkologischenSchriften, die in das Corpus Hippocraticum eingegangen sind. Bereits in der sehr alten Schrift CH De mulierum affectibus war festgestellt worden, dass die Behandlung der Krankheiten der Frauen, die z. B. wärmeres Blut und lockerere Adern als Männer haben, von der der Krankheiten bei Männern verschieden ist (VIII 62).47 Dies wird in der methodischen Medizin grundsätzlich anders beurteilt. Im dritten Buch (Gyn. liber III 1ff.) geht Soran demgegenüber von den „Konditionen“ aus. „Kondition“ versteht Soran in der Unterscheidung „gemäß der Natur“ (wie im Fall von Empfängnis, Geburt oder Stillen) und „gegen die Natur“ (im Fall von Erkrankungen; entsprechend dem status strictus). Er wendet sich dabei gegen die Empiriker, die zwischen männlichen und weiblichen Wesen eine Differenz behaupten und folglich davon ausgehen, dass es spezielle Frauenkrankheiten gebe. Soran verweist für diese Position auf Diokles, die Anhänger des Erasistratos Athenion und Miltiades sowie auf die Asklepiaden Lucius und Demetrius von Apamea. Er selbst stützt sich dagegen auf die großen Väter der alexandrinischen Medizin, Herophilos und Erasistratos, deren Erkenntnise bezüglich der Arterien, Venen und Nerven er sich in der Beschreibung zu eigen macht (vgl. Gyn. liber I 11). Herophilos war davon ausgegangen, dass der uterus stofflich von gleicher Konsistenz sei wie die anderen Körperteile, dieselben Stof45 46 47
Siehe zu den methodischen Kommunitäten GOUREVITCH, Wege, 123–127. GOUREVITCH, Wege, 125. Zur hippokratischen Gynäkologie, die in ihrer analytischen Sicht ebenso wie in ihren therapeutischen Bemühungen vielfach auf die Aufrechterhaltung und Gebärfähigkeit von Frauen zielt, vgl. zusammenfassend FLASHAR, Hippokrates, 120–140.
Dem „Schmerz“ begegnen
297
fe zur Verfügung habe und aus denselben Ursachen erkranke. Soran führt ferner Apollonius Mys, Asklepiades, Alexander Philalethes sowie vor allem die Häupter seiner eigenen Schule, nämlich Themison und Thessalos, an. Themison und Thessalos machten geltend, dass es eine spezifisch weibliche „Kondition“ nicht gebe. Dem schließt sich Soran grundsätzlich an, übt allein Kritik an der Argumentation (Gyn. liber III 4f.). Die Kommunitätenlehre sei trotz der physiologischen Unterschiede von Mann und Frau auf beide anzuwenden, insofern die Körper beider von denselben Phänomen der Konstriktion oder des „Fließens“, von akuten oder chronischen Zuständen, von denselben jahreszeitlichen Faktoren, denselben Graduierungen der Schwere von Krankheit, denselben Schwächungsphänomenen, denselben schädlichen Außeneinwirkungen und Verletzungen affiziert werden. Unterschiede resp. Variationen gebe es nur im Blick auf partikulare Bedingungen bzw. die Verortungen im Körper, die jedoch im Grundprinzip keine Differenzen in der Diagnose und auch in der Behandlung erfordern.48 Auch die Lehre von den „Kommunitäten“ impliziert kein anderes Grundprinzip, als es im Ansatz die altgriechische Medizin verfolgte: Zu behandeln ist allopathisch, d. h. zum jeweiligen Zustand ist das komplementäre Gegenteil zu suchen resp. herbeizuführen. Caelius Aurelianus, der das Werk Sorans ins Lateinische übertragen hat, beschreibt die sogenannte „zyklische Therapie“, der auch Soran immer wieder folgt, ausführlich in seinem Werk über die „chronischen Krankheiten (I 1,453ff.). Der cyclus resumptivus zielt eine Remobilisierung der Kräfte des/der Kranken an. Innerhalb des cyclus recorporativus geht es dann um diätetische Ratschläge bzw. pflegerische Behandlung bestimmter Körperbereiche und den Einsatz von materiae medicae.
48
Vgl. hierzu SCHUBERT-HUTTNER, Frauenmedizin, 453. Die paulinische These des „nicht mehr [ein Unterschied von] männlich und weiblich“ in Gal 3,28 (οὐκ ἔνι ἄρσεν καὶ θῆλυ) steht ganz gewiss in keinerlei direktem Zusammenhang mit Anschauungen, wie sie sich mit der etwa zeitgleich etablierten Kommunitätenlehre der „Methodiker“ verbinden. Paulus ist die Welt der griechisch-römischen Heilkunst verschlossen; in auffälliger Weise fehlen in seinen Briefen auch alle entsprechenden Metaphern, wie sie in breitem Umfang in der zeitgenössischen Popularphilosophie begegnen. Dagegen ist es durchaus möglich, dass spätere Leserinnen und Leser des zweiten und des dritten Evangeliums, die, möglicherweise bedingt durch eigene Erkrankungs- und Therapiegeschichten, Erfahrungen mit verschiedenen medikalen Kulturen ihrer Zeit hatten, Konvergenzen dort erkennen können, wo regelmäßig erzählerisch sorgfältig aufeinander abgestimmte männliche und weibliche Fälle durch Jesus geheilt werden; das Bild Jesu als eines Heilers von Frauen und Männern ist jedenfalls auf dem Hintergrund des (griechisch-römisch) medizinischen Diskussionsstandes der frühen Kaiserzeit kommunikabel.
298
Dem „Schmerz“ begegnen
3.2.3.
Annäherungen an „Schmerz“-Phänomene
Soran verwendet dieselben griechischen Wortstämme zur Erfassung von Schmerzphänomenen, wie sie in der altgriechischen Medizin zu finden sind. Durchgängig werden ἀλγήματα identifiziert (vgl. z. B. Gyn. liber I 4.48: Kopfschmerzen und Schmerzen des Thorax; II 1: in der Scham- und Hüftgegend/Weichengegend; III 10f.17: des Nackens u. a. m.; ansonsten das Substantiv: ἀλγηδών: II 11; III 19.21; IV 2.5 u. a.; das Verb: II 10; III 8.22; IV 36 u. a.). Diese werden v. a. verschiedensten entzündlichen Prozessen und im Kern den uterus-Problematiken, wie sie die antike griechische Gynäkologie auch sonst vorrangig beschäftigen, zugeordnet, z. B. der Verhärtung (III 36) oder dem prolapsus des uterus (IV 35f.). Eine klare Grenzziehung der Verwendung von ἀλγ-Derivaten gegenüber dem Gebrauch der Wurzel ὀδυν- ist schwer auszumachen, auch wenn letztere an einigen Stellen eher auf die subjektive „Schmerz“-Erfahrung zu zielen scheint (vgl. zum ersten Geschlechtsverkehr von Jungfrauen: I 17; vgl. aber III 10.17 im Zusammenhang der retentio-Problematik und im Fall von uterus-Entzündung). Eine dezidierte eigene Systematisierung von Ätiologien, physiologischen Voraussetzungen und Implikationen „schmerzhafter“ Phänomene ist im Einklang mit dem methodischen Schulansatz nicht intendiert. Das besondere Profil der „Gynäkologie“ des Soran kommt jedoch auch auf dem Feld der „Schmerzen“ im Umgang mit alternativen medizinischen Ansätzen zum Ausdruck. Grenzziehungen und Polemik gegenüber seinen Fachkollegen sind hierbei vielfach unter dem Aspekt der psychischen Situation der Patientinnen entworfen. Immer wieder kommt Soran auf durch die Ärzte zu vermeidende „Schmerzen“ bzw. beschwerliche oder sogar qualvolle Begleiterscheinungen zu sprechen, die ärztliche Kunst als solche herbeiführt. Diese Grundintentionalität, „Schmerzen“, wie sie aus den zugrunde liegenden Bildern vom menschlichen Körper bei den ärztlichen Vorgängern und ihren therapeutischen Ansätzen resultieren, zu minimieren49, ist bei Soran immer wieder mit Händen zu greifen, sie gibt der Unter49
Vgl. das topische „viel Leid von vielen Ärtzen“ in der Erzähleinleitung der Heilung der „Blutflüssigen“in Mk 5,26: Das Syntagma deckt hier ein weites Spektrum von möglichen Erfahrungen ab. Dies betrifft zunächst körperlichen „Schmerz“: Ursachen für flux sanguinis (hierzu schon Aristot. hist. an. III 19; 521a.25–27) wie Blutungen des uterus als Folge schwerer Arbeit, einer Fehlgeburt, einer uterus-Erosion durch ein Geschwür, einer „porösen Kondition“ oder des Platzens von Blutgefäßen werden von Soran (s. o.) in einem weiteren Kontext behandelt, innerhalb dessen Frauenkrankheiten stets in besonders engem Zusammenhang zu den sogenannten Hystera-Phänomenen gedeutet werden. Auch hier greift bei Soran die Tendenz der Reduktion von Lehrmeinungen der Vorgänger: Soran erklärt deren Differenzierungen für „müßig und gleichzeitig nutzlos“, denn bei jeder flux müsse man den gesamten Körper und zugleich lokal auch den uterus behandeln. Insbesondere lehnt Soran in Gyn. liber III 42–44 den Aderlass als Maßnahme bei sanguinöser flux ab, die auch vom Schulgründer Themison empfohlen wird. Die Idee, dass der Blutfluss mit einem Aderlass quasi um- und abgeleitet werde, erscheint ihm nämlich als gefährlich; der Blutfluss könne sich unkontrolliert quasi verdoppeln. Hinzu kommt, dass im Fall einer
Dem „Schmerz“ begegnen
299
scheidung von status strictus, laxus und mixtus im Körper immer wieder eine Zielperspektive. Soran bricht grundsätzlich mit der auch bei Platon begegnenden Auffassung,50 nach der der weibliche uterus eine Art Lebewesen sei, das durch den Körper der Frau wie ein Tier hindurch irrt, gegebenenfalls bis zur Leber oder sogar bis zum Herz und bis zum Kopf aufsteigen könne (vgl. Gyn. liber III 29). – Eine Vorstellung, die in verschiedenen Variationen lange die antik-medizinische Diskussion von uterus-Problematiken bestimmt hat und sich z. B. auch bei Aretaios von Kappadokien findet.51 – In der Therapie sollte der uterus gemäß dieser Vorstellung z. B. mit riechenden Substanzen oder auch mit Lärm dazu stimuliert werden, sich in die richtige Situierung zurückzubewegen, wovon, wie Soran schreibt, viele gesunde Menschen Kopfschmerzen bekamen (Gyn. liber III 29).52
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51
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Entzündung Aderlass immer noch notwendig werden könnte, und der Blutverlust könnte sich dann so potenzieren, dass der Arzt die Frau tötet. Doch ist in Mk 5,25–27 nicht nur das „Schmerzhafte“ und das Wiederholt-Vergebliche im Blick. Im Hintergrund steht auch das Problem weiblicher Patientinnen, die in der griechisch-römischen Antike von männlichen Ärzten behandelt werden. Vgl. hierzu schon CH Mul. (wahrscheinlich einer der ältesten Texte im Corpus Hippocraticum) I 62: „Sie [sc. die Frauen] schämen sich nämlich, darüber zu sprechen, auch wenn sie wissen, woran sie leiden. Infolge ihrer Unerfahrenheit und Unkenntnis meinen sie, dass so etwas zu sagen unanständig sei. Zugleich begehen auch die Ärzte Fehler, indem sie nicht genau nach der Ursache der Krankheit fragen, sondern [sc. die Frauen] so behandeln, als wären es Krankheiten der Männer. […] Die Behandlung der Krankheiten der Frauen ist nämlich von der der Krankheiten bei Männern verschieden.“ – Anders die Position der methodischen Mediziner (siehe zur Kommunitätenlehre des Soran von Ephesos Pkt. 3.2.2.). Vgl. FLASHAR, Hippokrates, 121: „In Anbetracht der Tatsachen, dass es nur männliche Ärzte gab, dass in der Antike die soziologische Stellung der Frau eine andere war als die des Mannes und dass im griechischen Haus die Frauen räumlich getrennt von den Männern lebten, stehen Diagnose und Therapie von Frauenkrankheiten vor einer besonderen Herausforderung.“ Juvenal lässt in Satire VI 235ff. einen Arzt dem Ehebrecher Einlass ins Schlafgemach der Frau verschaffen. In Satire VI 31 spricht Martial einen Charidem an, der nicht an Fieber sterben werde, sondern daran, dass er weiß, dass seine Frau mit dem Arzt ein Verhältnis hat („Uxorem, Charideme, tuam scis ipse, sinisque. A medico futui. Vis sine febre mori“ (Du wirst nicht am Fieber sterben […]), und Satire XI 71 handelt von der „beschwerlichen Medizin“, dass ein alter Mann seine Frau sexuell den „Ärzten“ überlässt („Et fieri, quod jam non facit ipse, sinit. Protinus accedunt medici, medicaeque recedunt. Tollunturque pedes: O medicina gravis!“). Plat. Tim. 90e–91d. Platon erklärt diese animalische, krankmachende Bewegung des uterus mit der Begierde nach „Begattung“/Geschlechtsverkehr. – Eine stark androzentrische Sicht, die nach den Ansätzen der hippokratischen Medizin vor allem „frisch verwitwete, erwachsene Frauen“ betrifft, „die geraume Zeit keinen Geschlechtsverkehr hatten, an den sie jedoch vorher gewöhnt waren“ (SCHUBERT-HUTTNER, Frauenmedizin, 477; a. a. O., 472–487, zur Pathologie des uterus). JOUANNA, Entstehung, 66, merkt mit Recht an: „das erstaunt im Gesamtbild einer medizinischen Kunst, die sich von der Magie losgelöst hat“. Zu Geruchstherapien nicht nur in den hippokratischen Texten, sondern auch in medizinischen Schriften der römischen Kaiserzeit: SCHUBERT-HUTTNER, Frauenmedizin, 474–476 / Cels. med. IV 27; Sor. Gyn. liber IV 38; Galen Comp. med. 9,10.
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Dem „Schmerz“ begegnen
3.2.4.
Sympathien
Die „Kommunitäten“ verweisen auch auf Wechselwirkungen eines Bereiches im menschlichen Körper zu einem anderen in ihm. Ohne dass Soran hier an den exakten physiologischen Abläufen im Körper interessiert wäre, spricht er dieses Phänomen unter dem Begriff der „Sympathien“ an. 53 Mit entsprechenden „Sympathien“ korreliert auch die „Schmerz“-Problematik im weiblichen Körper. In Gyn. liber III 22 formuliert Soran z. B. als Regel, dass der Kopf und der Nacken im Fall von Entzündungen des uterus schmerzhaft mitleiden (συμπάσχει); nach III 31 leiden auch die Psoas-Muskeln und die Hüften bei manchen Patientinnen im Fall von uterus-Phänomenen schmerzhaft mit (συναλγεῖ/). Auch sind bei entzündlichen Prozessen weitere sympathische Wechselwirkungen der rechten, linken, unteren und oberen Körperhälfte möglich (III 20). Auch hier setzt die Therapie jeweils e contrario an. Zusammengefasst: Die Theoriebildung der „Methodiker“, wie sie uns in der „Gynäkologie“ Sorans begegnet, kann als durchaus eigenwillig und spannungsreich gelten. Einerseits geht es um die Wahrnehmung des Gegebenen, andererseits geht es auch um ein geprägtes und tradiertes „Wissen“ einer Schule, das allerdings nicht den lehrhaft-normativen Charakter wie bei den „Dogmatikern“ gewinnen soll. Hierzu steht die „Kommunitäten“-Lehre in einer Spannung, die zunächst auf Praktikabilität und entsprechende Orientierung hin ausgerichtet ist, gleichzeitig aber den Charakter universeller Postulate bezüglich des menschlichen Körpers trägt. Diese Lehre führt zu einem wissenschaftlichen Differenzierungsverlust in der Diagnostik von Krankheiten. In der Darstellung Sorans bleibt dann oft auch unklar, wie der Arzt tatsächlich zur konkreten Therapie voranschreiten kann; die „zyklische Therapie“ scheint insofern a priori festzustehen, es ist undeutlich, ob und wie sie sich in Anbetracht divergenter körperlicher Phänomene verändert.54 Gleichzeitig ist im Blick auf „Schmerzen“ leidende Patientinnen festzuhalten: Die Zuwendung zu ihnen, die im Grundansatz mit der hippokratischen Me53
54
„The somewhat mysterious concept of a universal sympathy, favored by Stoics and Neoplatonists, seems to be foreign to him. When he assumes a ‚natural sympathy‘ between the uterus and the breasts he tries to account for phenomena which we now ascribe to both hormonal and nervous influences“ (TEMKIN, Gynecology, xxxi). Vgl. WEISSENRIEDER, Körper, 45, zum „Sympathie“-Konzept Galens: „Galens im Prinzip lokalistische Pathologie bekommt durch die Theorie der wechselseitigen Sympathie […] etwas Verwirrendes, indem er ausführt, dass ein Auge aus Sympathie mit dem anderen krank werden kann oder ein Schlaganfall als Antwort auf eine Magenkrankheit zu deuten ist. Weil ein Organ mit dem anderen aus Sympathie leiden kann, wird dies bei der Interpretation der Krankheitszeichen zum Problem. Galen untersucht die Eigenschaften der Schmerzen und kann zeigen, dass Membrane, Knochen und Venen unterschiedlich leiden.“ TEMKIN erkennt eine mechanistische Tendenz in Sorans Beschreibungen (DERS., Gynecology, xxxiv).
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dizin gesetzt und eingeleitet wurde, wird fortgeführt und in der Hinsicht weiterentwickelt, dass die sympathische und auch die psychische Kondition der Kranken noch stärker berücksichtigt werden kann. Dies gilt schon angefangen bei der Auswahl des medizinischen Personals. Soran rechnet z. B. unter die notwendigen Anforderungen für eine gute Hebamme, dass diese zum Mit-Leiden/MitSchmerzen-Empfinden in der Lage sein muss (συμπάσχουσαν; Gyn. liber I 4). Im Hintergrund kann man, bei aller Vorsicht, die hier vor Generalisierungen und Konstruktionen von Traditionssträngen geboten ist, auch eine noch stärkere Akzentuierung des Individuums, seiner je eigenen Situation, Gefühlsregungen und Empfindungen erkennen, wie sie der Hellenismus gefördert hat und wie sie sich in die römische Kaiserzeit hinein fortsetzt. Insgesamt ist jedenfalls bei Soran das Programm einer möglichst „beschwerdearmen“ Behandlung leitend, wie es sich am Beginn der Schule mit dem Namen des Asklepiades von Prusa verknüpft. Celsus führt im Zusammenhang seiner Fieber-Lehre in De Medicina III 4 auf Asklepiades, der der „methodischen“ Medizin die wesentlichen Anstöße gab, die Pflicht des Arztes zurück, dass er „sicher, schnell, angenehm“ heile („Asclepiades officium esse medici dicit, ut tuto, ut celeriter, ut iucunde curet“).55 Damit wird freilich nur etwas aufgegriffen und fortgeführt, was bereits in frühen Texten der hippokratischen Sammlung Beachtung findet. Als ein Beispiel dafür, wie aufmerksam schon frühe hippokratische Schriften für „Schmerz“Problematiken im Verlauf einer Behandlung sein können, sei die Schrift „De articulis“ angeführt.56 Sie setzt den seine Patienten über längere Zeiträume beobachtenden und begleitenden Arzt voraus (vgl. CH Art. 69) und soll ihn vor Fehlurteilen in der Einschätzung bestimmter orthopädischer Phänomene warnen (vgl. CH Art. 46). Ein besonderes Anliegen ist dem Verfasser, dass eine Behandlung der Patienten entsprechend der „Kunst“ zusätzliche Beschwernisse nach Möglichkeit vermeiden soll. Nach CH Art. 78 gilt das Postulat: „Den größten Wert muss man in der ganzen (ärztlichen) Kunst darauf legen, den Kranken gesund zu machen. Wenn es möglich ist, ihn auf vielerlei Art gesund zu machen, soll man die am wenigsten beschwerliche Art (τὸν ἀοχλότατον) wählen. Denn das ist anständiger und kunstgerechter (ἀνδραγαθικώτερον τοῦτο καὶ τεχνικώτερον), jedenfalls für den, der nicht auf gemeinen Betrug aus ist.“ Damit ist die Intention einer „Schmerz“-Minimierung in der Orthopädie im Blick, die z. B. darum weiß, dass eine Amputation derartige Schmerzen verursachen kann, dass
55
56
Allerdings schränkt Celsus diese Forderung sogleich ein, insofern zu viel Eile/Hast (festinatio) und zu viel Wohlbehagen (voluptas) in der Behandlung gefährlich seien und an erster Stelle die Sicherheit/Gesundheit (salus) des Patienten stehen müsse. Nach FLASHAR „[…] eine der bedeutendsten und auch umfangreichsten Schriften des Corpus Hippocraticum. Der Autor steht als erfahrener Arzt mit anderen, wiederholt erwähnten Ärzten in Verbindung. Man kann ihn sich gut unter den Ärzten auf Kos im Umkreis des Hippokrates vorstellen“ (DERS., Hippokrates, 163).
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Dem „Schmerz“ begegnen
der Kranke ohnmächtig wird oder auf der Stelle stirbt (CH Art. 69).57 Bemerkenswert für den wissenschaftlichen Ansatz der Schrift ist, dass ihr Verfasser in dieser Hinsicht auch eigene Fehler in der Praxis konzedieren kann (CH Art. 47).
3.3.
„Schmerzen“ als Gegenstand der Befragung im ArztPatienten-Gespräch bei Rufus von Ephesos
In vielfältiger Weise wirken Anstöße der hippokratischen Medizin und ihrer mehrere Jahrhunderte währenden Rezeption in der antiken Medizingeschichte bei Rufus von Ephesos nach, der in der Zeit Trajans und Hadrians wirkte.58 Rufus stand zwar in Ephesos in direkter Konkurrenz zu anderen Medizinern und hat sich wohl auch an entsprechenden Ärzteagonen aktiv beteiligt; er ist jedoch als medizinischer Schriftsteller „zu den wenigen unabhängigen Autoren des späteren Altertums“ zu rechnen.59 „Schmerz“-Erfahrungen beschäftigen Rufus in unterschiedlichsten Zusammenhängen, z. B. in seiner Schrift „Über die Nieren- und Blasenleiden“ , in der Rufus Formen, die sich durch Schmerzen ankündigen, von solchen unterscheidet, die keinerlei Schmerzen evozieren (3,14.34; 4,3 u. a.).60 Auch in der auf Lateinisch erhaltenen Schrift „Über die Gelenkkrankheiten“ spielt die Wahrnehmung von „Schmerz“-Prozessen im Zusammenhang arthritischer Leiden eine wichtige Rolle.61 Wir beschränken uns hier auswahlweise auf die „Ärztlichen Fragestellungen“ (Qu. med.; Ἰατρικά ἐρωτήματα) des Rufus, einen Traktat, dem eine „Sonderstellung […] auf dem gesamten Gebiet der antiken Medizin“ zugeschrieben wird.62 In ihm wird das Arzt-Patienten-Gespräch als solches erstmals ausführlicher Gegenstand einer fachgelehrten Darstellung. Rufus traktiert in dem Text Fragen, die der Arzt an den Patienten richtet, in einer auf praktische Anwendung zielenden Systematik.63 Die hermeneutische Bedeutung der ärztlichen Fragen an den Patienten oder auch an die bei der Behandlung Anwesenden, an Angehörige oder (besser noch) an Ärzte, die den Kranken bereits untersucht haben (vgl. Qu. med. 40), wird im Text immer wieder herausgestellt. In vorsichtiger Abgrenzung vom großen Hip57
58 59 60 61 62 63
Zur Intentionalität einer schmerzreduzierenden Orthopädie vgl. FLASHAR, Hippokrates, 163. In der Schrift „De articulis“ gehen Chirurgie und Orthopädie eine enge Synthese ein. Der Verfasser kennt auch entsprechende Untersuchungen an Leichen (vgl. CH Art. 46). Zur Vita: SIDERAS, Rufus, 1085–1088. So das Urteil von SIDERAS, Rufus, 1253. Siehe den Überblick über die direkt überlieferten Schriften bei SIDERAS, Rufus, 1102–1170. Siehe hierzu SIDERAS, Rufus, 1150–1163. SIDERAS, Rufus, 1142. Siehe zur Schrift, ihrem Aufbau, dem inhaltlichen Gefälle und zur handschriftlichen Bezeugung SIDERAS, Rufus, 1143–1149.
Dem „Schmerz“ begegnen
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pokrates – zu dem gleichzeitig unbedingte Verpflichtung besteht (Qu. med. 72f.; vgl. zum Beachten der Körperausscheidungen: 27 u. a.)64, vor allem aber in kritischer Auseinandersetzung mit Kallimachos (Qu. med. 21f.)65 – betont Rufus, dass eine Interpretation der Krankheits-„Zeichen“ für sich genommen insuffizient ist, um zu einer zuverlässigen Prognose und Therapie zu gelangen. Die besondere Natur (φύσιν ἐξαίρετον) eines jeden kann man ohne das gründliche Fragen nicht erkennen (Qu. med. 23). Nicht nur im Zusammenhang der Speisegewohnheiten des Patienten, die der Arzt von sich aus nicht erkennen kann (Qu. med. 21), sondern auch im Fall einfacher Kriegsverwundungen ist das Erfragen der Ursachen (αἰτίαι; vgl. Qu. med. 26) unerlässlich. So kann etwa bei der Verwundung durch ein Geschoss von Belang sein, wie durchschlagsstark die Waffe war, wie kräftig der Verursacher gewesen ist und ob z. B. ein Pfeil bereits ganz oder nur zum Teil herausgezogen werden konnte (vgl. Qu. med. 51, 60). Die Befragung des Patienten durch den Arzt muss zuallererst sicherstellen, dass der Patient im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, dass er nicht in einer Weise erkrankt ist, die eine Befragung unmöglich macht (Lethargie; Katalepsis oder Sprachlosigkeit), und ob es sich um eine „wirkliche“ und keine eingebildete Erkrankung handelt. Schon aus der Art des Antwortens des Kranken vermag der Arzt auf Krankheitsbilder rückzuschließen (vgl. Qu. med. 1–10).66 Ein besonderes Anliegen, das der Gesamtanlage der Schrift entspricht, ist es, Simulanten von „echten“ Kranken zu unterscheiden. D. h. hier findet sich eine andere Art der Konzeptualisierung des Problems, welche mit der Opposition von „Lüge“ und „Wahrheit“ arbeitet („eingebildeter Kranker“). Der Arzt muss auf Klarheit, Überzeugungskraft und Konsistenz der Patientenantworten achten. Sodann geht es in einer eklektischen Sequenz, deren Auswahl vor allem die prinzipielle Bedeutung des Fragens als solche herausstellen soll (Qu. med. 29, 71), um das Eruieren des zeitlichen Anfangspunktes und der Frequenz einer Erkankung. Hierbei kommen auch die in der Regel schwerer zu behandelnden angeborenen Leiden bzw. Erbkrankheiten in den Blick (Qu. med. 11–16; 34f.). 64
65
66
Rufus schließt sich, soweit wir das aus seinem erhaltenen Werk erkennen können, im Grundansatz und in eigener Adaption und Modifikation der hippokratischen Humoralpathologie an. Der Arzt beachtet zunächst die Balance der Temperamente (Krasis) und sucht die Erscheinungen und Ursachen einer „Dyskrasie“; diese tritt ggf. in Verbindung zu einer Krankheitsmaterie (materia peccans); die Therapie zielt dann auf Überwindung der Dyskrasie. Diese erfolgt in der Krise durch Ausscheiden krank machender Stoffe. Siehe zum Anschluss an die hippokratische Krasis-Lehre und zum besonderen Ansatz des Rufus in den „Krankenjournalen“ ULLMANN, Rufus, 26–29, nach dem es fraglich ist, ob die Medizin der Kaiserzeit bereits von einer festen Vorstellung der materia peccans ausgeht. Zu den Quellen und Vorgängern des Rufus in den „Ärztlichen Fragestellungen“: SIDERAS, Rufus, 1147–1149. GÄRTNER, Rufus, 84, verweist vergleichend auf die spätere sog. Simulantenschrift des Galen (CMG 5/10,2,4). „Rufus zieht in erster Linie den Charakter des Kranken in Betracht. Seine Methode dürfte allerdings dort auf Schwierigkeiten stoßen, wo der Arzt den Patienten zum ersten Male sieht und seinen Charakter überhaupt nicht kennt.“
304
Dem „Schmerz“ begegnen
Die Speisegewohnheiten des Kranken sowohl im gesunden als auch im erkrankten Zustand spielen eine erhebliche Rolle (Qu. med. 17–22; 37–39). Die ätiologische Frage muss zwischen innerlich und äußerlich bedingten Erkrankungen unterscheiden (Qu. med. 24). Bemerkenswert ist, dass Rufus innerhalb der Frage nach dem Schlafverhalten auch auf die Träume des Kranken zu sprechen kommt, die der Arzt ernst nehmen muss (Qu. med. 28–31). Eindrücklich ist das Beispiel des Ringkämpfers Myron aus Ephesos, der auf Anweisung seines Trainers einen ihn warnenden Traum ignoriert hat und in der Folge in Krämpfen gestorben ist (Qu. med. 29f.). Einen Einblick in die von Waffengewalt geprägte Zeit und Welt des Rufus gibt die fragende Behandlung von Geschoss-Verwundungen verschiedenster Art (Qu. med. 46–62). Gegen Ende richtet sich der Fokus auch auf verschiedene regional-besondere epidemische Erkrankungen (Qu. med. 64–70). So weiß Rufus von einer durch ein wurmartiges Lebewesen verursachten „Ophis“-Krankheit in Arabien (auf Griechisch als νεῦρον angegeben; Qu. med. 65f.). Auch die jeweiligen Trinkwasserbeschaffenheiten, die das Leben des Kranken mit beeinflussen, sind in diesem Zusammenhang zu eruieren (Qu. med. 63f.). Der Arzt nimmt den Patienten in seinem Fragen mehrdimensional wahr und bettet ihn in seiner unverwechselbaren eigenen Welt ein. Die Schrift zeigt insgesamt eine bemerkenswerte Sensibilität für die individuelle Situation der Patienten. Es geht nicht nur um „die Natur“ des Kranken als solche67 – unter deren Praerogative die frühen hippokratischen Texte im Gefolge der jonischen Naturphilosophie ansetzten –, sondern es geht um seine je eigene, individuelle Natur (vgl. das φύσιν ἐξαίρετον in Qu. med. 23), zu der auch seine Sorgen, seine psychischen Konditionierungen und auch seine Vorerfahrungen mit der Medizin gehören. Im Rahmen dieses Gesamtansatzes des den Einzelnen erforschenden und ihm unbedingt worthaft zugewandten Arztes kommt Rufus in Quaestiones medicinales § 41–43 ausdrücklich auch auf „Schmerz“-Erfahrungen zu sprechen.68 Der Arzt wird im Gespräch „Arten“/„Beschaffenheiten“ der „Schmerzen“ eruieren (ὅσα ἀλγήματά ἐστιν ἐπὶ ταῖς νόσοις). Zwar könne der Arzt auch aus dem „Stöhnen“ (στενάγματα), „Schreien“ (βοᾶν),69 dem unruhigen Sich-Werfen, aus der 67
68 69
Siehe zur Schrift „Über die Natur des Menschen“ und zu den unterschiedlichen Ausformungen von Zwei-, Drei- oder Vier-Säftelehren im Corpus Hippocraticum FLASHAR, Hippokrates, 93–99. Siehe zum Abschnitt den Kommentar bei GÄRTNER, Rufus, 84f. Auch in den Erzählanfängen, den Zentren und Schlussgebungen frühchristlicher Heilungs- und Exorzismusgeschichten sind Körperhaltungen, Gesten, Blickrichtungen und besonders auch Rufe oder Schreie zu beachten. Bei Markus kann z. B. mit κράζειν ein einfaches lautes Rufen bezeichnet sein (vgl. Mk 11,9; 15,39 v. l.), das Verb kann weiter die dämonische Artikulation beschreiben (vgl. 3,11; 5,5.7; 9,26), in Mk 9,24 steht es für das verzweifelte Verhalten des Vaters des epileptischen Kindes und in Mk 10,47f. für den Appell des blinden Bartimäus.
Dem „Schmerz“ begegnen
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„Beklemmung“ (ἀπορία; vgl. hierzu CH Epid. V 43), aus der „Lage des Körpers“ (κλίσις σώματος), seiner „Farbe“ und der Festigkeit des Händedrucks 70 Rückschlüsse auf ἀλγήματα vornehmen oder beobachten, wo sich der Kranke am Körper selbst reibt oder presst. Diese bereits in der älteren Medizingeschichte belegten Analyseschritte71 erlauben ein διαγιγνώσκειν τοὺς πόνους sogar bei stummen Menschen (τὰς ἀφώνων ὀδύνας).72 Gleichwohl ist ein gründliches Fragestellen unerlässlich (διαπυνθάνεσθαι), welches sich z. B. auf die Periodizität des Auftretens der πόνοι richtet. Wie man sich dieses Befragungsverfahren im Fall eines konkreten Krankheitsverlaufes vorstellen kann, illuminiert die 18. Geschichte der „Krankenjournale“ des Rufus, die einen von Gelenkschmerzen befallenen Mann präsentiert.73 Zunächst ist die kompetitive Situation erkennbar, in der der Arzt sich vorfindet und die möglicherweise auf den Hintergrund eines Ärzteagon verweist: Eine Selbstbehandlung bzw. die Konsultation anderer Ärzte haben keine Besserung erbracht (so auch in den Fällen, 2–4, 6–10, 16f. und 20). Der Text referiert dann einen Arzt-Patienten-Dialog. Der rufinische Arzt befragt den Kranken nach einer zeitlichen Unterschiedenheit des Auftretens von Hitze und Schmerz in einem erkrankten Gelenk; sodann erfragt er die Wahrnehmung des Kranken im Blick auf die Ausdehnung des Schmerzes und dann auch der Wärme. Daraufhin erfolgen die Diagnose und der Rat: „Es ist nötig, daß du dich vor den kühlenden Mitteln in acht nimmst, denn die Krankheit ist kalt, und die Entzündung und die Hitze bei ihr sind Folgeerscheinungen des Schmerzes, und die Geschwulst ist [nur deshalb] so klein, weil sie [so] tief liegt“ (18,8; Übers. ULLMANN). Die Therapie setzt unter allopathischen Vorzeichen wärmend bzw. „löschend“ an; eine „Leerung“ des Körpers wird mit einer aus Koloquinthenmark hergestellten Hiera angezielt, und periodisch angewandte Kompressen führen schließlich zum Abklingen des Schmerzes binnen eines Tages und einer Nacht (18,14). Insgesamt kann man feststellen, dass die in der hippokratischen Medizin eingeleitete Hinwendung zum „Schmerz“-leidenden Kranken bei Rufus von Ephesos in spezifischer Weise weiterentwickelt wird. Erstmals wird die worthafte Mit- und Zusammenarbeit zwischen Patient und Arzt expliziter Gegenstand der Reflexion. Hierbei wird vor allem die Selbstreflexivität des Arztes betont, dem gegenwärtig sein muss, dass er im Kranken ggf. etwas anderes sieht, als dieser es an sich selbst / seinem Körper wahrzunehmen vermag. War diese 70 71 72
73
Zum Problem der lacuna an dieser Stelle siehe GÄRTNER, Rufus, 83f. Siehe Belege bei GÄRTNER, Rufus, 83. Dies ist ein bemerkenswerter Befund. Vgl. zur Taubheit/Stumheit in Mk 7,31–37 V. BENDEMANN, Auditus, 55–69 (siehe in diesem Band 217–235). Gute Gründe sprechen dafür, dass Rufus hier an Podagra denkt (vgl. ULLMANN, Rufus, 127; vgl. Alex. Trall. II 501,20ff.; 503,12ff.). Es finden sich weitere „Schmerz“-Phänomene in den „Krankenjournalen“, z. B. im Zusammenhang der Melancholie (Fall 1: Stechen in der Milz; Fall 2: Schmerzen zwischen den Rippen). Zur Echtheitsfrage der Schrift: SIDERAS, Rufus, 1168–1170.
306
Dem „Schmerz“ begegnen
Differenz immer schon in der antiken Medizin realisiert worden, so wird sie bei Rufus jedoch ausdrücklich in den Rang einer zentralen hermeneutischen Aufgabe des Arztes erhoben.
3.3.1.
„Schmerz“-Deutung im Rahmen des Konzepts des „erkrankten Ortes“ bei Galen
Einen innovativen Zugang zum Problem der Erkrankung von Bereichen im menschlichen Körper und damit auch zur Genese von „Schmerzen“ hat Galen von Pergamon (129–ca. 210 n. Chr.) in seiner Schrift „De locis affectis“ entwickelt.74 Die Schrift bietet eine andere Gattung als der kurze Text des Rufus. Sie lässt sich als eine Art Hoch- und Zielpunkt wissenschaftlicher Durchdringung der Möglichkeitsbedingungen und -implikationen von „Schmerz“-Erfahrungen auffassen. Nach A. GELPKE fand Galen in seinem Werk „De locis affectis“ einen „neue[n] Ansatzpunkt“, insofern er die hippokratische Medizin, die das Konzept des „Organs“, seines situs und seiner Funktion so noch nicht kannte, mit dem anatomischen. Wissen der alexandrinischen Medizin auf einer neuen Ebene zusammengeführt hat.75 a) Als umfassend gebildeter Mediziner bezieht sich Galen auch auf die verschiedenen Traditionsstränge im Übergang in die frühe römische Kaiserzeit. So wirkt die skeptische Hinwendung zur Erfahrung, zur Empirie, auch bei Galen nach. Die sogenannte Schule der „Dogmatiker“ setzte von der Frage der Körperfunktionen her an und kam von hier aus zur Bestimmung von Erkrankungen bestimmter Körperbereiche. Die sogenannten „Pneumatiker“ blickten zwar auf die anatomisch aufgeklärte hellenistische Medizin zurück, standen in ihrer Lehre jedoch vor allem stoischen Konzepten der physiologischen Konstituierung des menschlichen Körpers als Teil des Kosmos nahe. Die „pneumatische“ Ärzteschule des 1. und 2. Jahrhunderts rechnet mit einem „seelischen Pneuma“, welches im Herzen die Lebendigkeit des Körpers
74
75
LESKY hat in seiner Geschichte der griechischen Literatur die wissenschaftliche Tätigkeit der Kaiserzeit weitgehend als „Zusammenfassung mit Verlust“ gekennzeichnet. Hiervon hat er Galen ausdrücklich ausgenommen (vgl. DERS, Geschichte, 992, 993f., 997). Nach GELPKE gilt diese Ausnahmestellung „in besonderem Maße“ für die Schrift „De locis affectis‘“ (DIES., Konzept, 102). GELPKE, Konzept, 102; vgl. a. a. O., 35: „Auf die Frage, was am erkrankten Ort passiert, gab es in der Antike prinzipiell keine Antwort.“ Vgl. die Interpretation von De locis affectis 1,7 bei WEISSENRIEDER, Körper, 239f. (a. a. O., 239: „Galen schreibt bewusste und unbewusste Bewegungen unterschiedlichen Reaktionen zu: ἐνεργείαι ψυχικαί werden vermittelt von Gehirnnerven und Nerven der Wirbelsäule; die ἐνεργείαι φυσικαί können als Reaktion auf lokale Stimuli wie etwa Druck gedeutet werden.“).
Dem „Schmerz“ begegnen
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bewirkt; dazukommend wird atmosphärisches „Pneuma“ durch Mund, Nase sowie Adern und Poren aufgenommen. Unter die „Pneumatiker“ wird teilweise auch Archigenes von Apameia gerechnet (2. Hälfte 1./1. Hälfte 2. Jahrhundert n. Chr.; d. h. in Trajanischer Zeit; vgl. Juv. Sat. VI 236; XIII 98; XIV 252), der wahrscheinlich die Schriften des Aretaios von Kappadokien kannte. Zugleich war er jedoch wie sein Lehrer Agathinos ein Eklektiker.76 Galens „De locis affectis“ ist nicht zuletzt deshalb ein so wertvoller Text, weil er in der kritischen Auseinandersetzung mit Archigenes‘ „De locis affectis“ (Περὶ τόπων πεπονθότων) indirekte Einblicke in dessen Lehrauffassungen, d. h. insbesondere in seine Theorie der jeweils in vier Phasen unterteilten Erkrankungen der menschlichen Körperteile, vermittelt. Archigenes‘ Buch stellt das entscheidende Referenzwerk dar, mit dem Galen sich durchgängig auseinandersetzt und das er als beste Untersuchung zur lokalen Pathologie lobt. Archigenes hat nach Galen tatsächlich erstmals das Problem des „erkrankten Ortes“ systematisch aufgearbeitet. Archigenes‘ Ansatz ist dabei für die „Schmerz“-Thematik im Rahmen der antiken Medizingeschichte von großer Bedeutung. b) Galen schließt darin an Archigenes an, dass er das Wissen um die erkrankten „Orte“ im menschlichen Körper als fundamental beurteilt. Nach dem, was man dem galenischen Text im zweiten Buch von „De locis affectis“ über die Position des Archigenes entnehmen kann, hat dieser die Erkrankung eines „Ortes“ – nicht wie die „dogmatisch“ ansetzenden Ärzte – von der defekten Funktionalität her aufgefasst. Vielmehr gewinnt der „Schmerz“ die entscheidende Schlüsselfunktion in der Definition. Die Unterschiedlichkeit von Arten des „Schmerzes“ wird zugleich zum Kriterium dafür, die loci des Körpers in ihrer jeweiligen Eigenart zu identifizieren. Galen kritisiert an diesem Zugang, dass mit ihm das Problem der sogenannten „Sympathien“, d. h. gewissermaßen kontingenter Krankheitserscheinungen, die nicht bleibend sind, nicht integriert werden kann.77 Archigenes fasst sie nach Galen als „Schatten einer Krankheit“ auf. 78 76 77
78
Siehe zur Forschungssituation OSER-GROTE, Art. Archigenes, 80 (mit weiterer Literatur). D. h., hier liegt ein anderes „Sympathie“-Konzept zugrunde, als dies bei Soran als Methodiker der Fall ist (s. o. Pkt. 3.2.). Galen unterscheidet die Erkrankung aus sich selbst heraus („Idiopathie“), die ggf. eigengesetzlich verläuft, von einem Mit-Erkranken bzw. einem Durch-äußere-Einflüsse-Erkranken („Sympathie“), welches ggf. nach Ausfall äußerer Ursachen aufhört. „Sympathien“ können dabei in Idiopathien übergehen (vgl. Loc. aff. III 7). „Einige Funktionen werden beeinträchtigt, ohne dass der Körperteil, in dem sie entstehen, geschädigt ist“ (zitiert bei Galen Loc. aff. III 1). GELPKE, Konzept, 42: „Damit entfiel der Funktionsausfall als Zeichen der erkrankten Körperstelle, und Archigenes scheint an dessen Stelle den Schmerz als allgemeingültiges Symptom des erkrankten Ortes gewählt zu haben. Er versuchte anhand der unterschiedlichen Schmerzarten die verschiedenen Körperteile zu lokalisieren.“
308
Dem „Schmerz“ begegnen Nach Galen sind die „Schmerzen“ jedoch nicht der Schlüssel, der die Schlösser zu allen erkrankten loci im Menschen öffnet; sie sind vielmehr in einen weiteren und komplexen Rahmen der Interpretation einzubeziehen. Zentrale Bedeutung gewinnt der Begriff der „Diathese“. Die sorgfältige Beobachtung des Körpers bzw. einzelner „Orte“ in ihm mit ihren „Energien“ über einen längeren Zeitraum macht es – anders als es Archigenes vermochte – möglich, kontingentes bzw. flüchtiges Leiden von Erkrankungen der Organe zu unterscheiden. Der Begriff der „Diathese“ zeigt dabei an, dass der Körper von selbst in eine Balance zurückfinden kann. Dies kann beispielsweise bei heftigen Bauchschmerzen der Fall sein, die durch das Ausscheiden eines schädlichen Saftes im Darm quasi von selbst vom Körper gelöst werden (vgl. Loc. aff. I 2).79 Deutlich wird an diesem Beispiel auch: Galen schließt in seiner Nosologie durchaus an die basalen hippokratischen Vorstellungen an; er beachtet „Zeichen“ wie z. B. Ausscheidungen des Körpers im Sinne der Absonderung der materia peccans. Da die „Zeichen“ sowohl auf einen „Ort“ im Körper hinweisen als auch mit einem bestimmten Krankheitsbild korrelieren können, bleibt jedoch eine Uneindeutigkeit gegeben (vgl. Loc. aff. I 5). Die ärztliche Analyse kann an diesem Punkt den „Ort“ identifizieren, indem sie nach „Substanzen“ fragt, die bestimmten „Orten“ korrelieren – oder auch nicht korrelieren, d. h. ihnen fremd sind. Den „Substanzen“ entsprechen und auf ihnen basieren bestimmte unverwechselbare „Energien“ der „Orte“ im Körper (vgl. Loc. aff. I 1). Die „Energien“ (ἐνεργείαι) bilden den Gegenbegriff zum „Erleiden“ eines Körperteils von außen; sie bestehen unabhängig von einem äußeren Affiziertwerden. Galen führt dabei zugleich eine basale Unterscheidung von „Orten“ im Körper ein, die stofflich der Physis korrelieren und ihre Wirkkraft (δύναμις) in sich selbst bergen, und solcher, die ihre Kräfte vom Gehirn als Leitungsorgan beziehen. Letztere werden als „seelische“ Organe aufgefasst; zu ihnen rechnet Galen auch die Muskeln und die Haut. Zugrunde liegt Galens – experimentell bestätigte – Einsicht in das menschliche Nervensystem.80 Die Auffassung der „Orte“ kann bei Galen erheblich präziser als unter hippokratisch-lehrhaften Voraussetzungen erfolgen, weil er in Hinsicht auf das Leitungsorgang im menschlichen Körper und dessen Steuerung und Versor-
79
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„So sagen wir ja z. B. auch, dass etwas ‚leide‘ (πάσχειν), weil ihm etwas von außen zustösst, sei es etwas Wärmendes wie das Feuer oder etwas Kühlendes wie der Schnee oder etwas Quetschendes wie der Stein. Wenn diese Ursachen entfernt werden, hört das Leiden (πάθος) sofort auf. Trotzdem wird niemand sagen, dass der Körperteil deswegen an nichts erkrankt sei […]“ (Loc. aff. I 2). Siehe SCHLANGE-SCHÖNINGEN, Gesellschaft, 148–167, zu Galens Aufstieg in Rom (a. a. O., 158– 161, zu den beiden anatomischen Demonstrationen, von denen Galen in „De praecognitione“ berichtet).
Dem „Schmerz“ begegnen
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gung auf die hellenistische Anatomie und auch auf eigenes experimentellanatomisches Forschen aufbauen kann. c) Im Anschluss an Ansätze, die bereits bei den hippokratischen Ärzten zu finden sind, gewinnt bei Galen die Beachtung des Verlaufs und der Vorgeschichte einer Veränderung/Erkrankung von „Orten“ im Körper besondere Bedeutung. Der Arzt muss die Gesamtkonstitution des Körpers in einer zeitlichen Erstreckung beachten und Protopathien (Ersterkrankungen) von Deutero- bzw. Hysteropathien unterscheiden.81 Der Überblick über einen entsprechenden Krankheitsverlauf erlaubt dann auch Urteile bezüglich der „Schwere“ eines Leidens. Um diese zu erfassen, wendet sich Galen gegen die Metapher der Sorites, die danach fragt, ab wann ein Weizenhaufen ein Weizenhaufen sei, d. h. wie viele Körner es braucht und welches das letzte Korn ist, welches dann die Rede von einem „Haufen“ rechtfertigt. Stattdessen wählt Galen die Metapher vom Tropfen, der den Stein „höhlt“. Hiermit wird zum Ausdruck gebracht, dass eine Krankheit schon in den ersten Ansätzen qualitativ vollgültig Krankheit ist, sie in ihrem Wesen als solche aber erst nach einer Zeit der „Aushöhlung“ als sichtbar erkannt werden kann. Galen konstatiert: „Für das von Gestalt Vielartige oder Heterogene ergibt es sich, dass sein Wesen später ist als seine Entstehung“ (Loc. aff. I 2). d) In keinem Fall ist die empirische Feststellung eines „Jetzt“-Zustandes des Körpers bzw. einzelner „Orte“ in ihm suffizient. Um Vorstufen und prozessuale Verläufe und Veränderungen festzustellen, ist der Arzt auf die laienhaften Auskünfte des Patienten angewiesen. Als Fachmann vermag er durch seine Kenntnis der inneren Kausalzusammenhänge im menschlichen Körper die Kette der Veränderungen am erkrankten „Ort“ dann richtig zu interpretieren. Galen reflektiert die Schwierigkeiten, die sich im Umgang mit Patientenauskünften auftun. Der Arzt muss umfassend die Lebensweise des Patienten erfragen, dann teilweise gemäß der „Kunst“ Vermutungen anstellen und bewegt sich auf unsicherem Terrain (so schon in „De locis affectis“ I 1). Der Arzt steht damit vor beträchtlichen Herausforderungen, wenn er die Situation des Patienten unter Berücksichtigung des Faktors Zeit adäquat beurteilen und die Äußerungen des Patienten mit dem physiologischen Fachwissen verknüpfen soll. Dies betrifft besonders auch diejenigen Orte im Körper, die Galen in ihrer Substanz als „psychisch“ beurteilt und als solche über das Gehirn dirigiert vorstellt (s. o.). Bei Muskel- oder Hautproblemen
81
Vgl. Loc. aff. I 3.
310
Dem „Schmerz“ begegnen kann die Diagnose nicht als reine Lokaldiagnose ansetzen82 und erfordert die Therapie ein komplexeres Arsenal an diätetischen und sonstigen Maßnahmen. Deutlich wird das gelingende diagnostische Vorgehen z. B. in der Analyse einer schmerzhaften Blasenentzündung im 6. Buch von „De locis affectis“ (VI 4). Der Arzt eruiert fragend und kann dann auf der Basis seiner Kenntnis der Abläufe im Körper interpretierend erschließen, dass ein Sturz des Patienten vorausgegangen ist; hierdurch ist es zu einer Verschiebung der unteren Wirbelkörper gekommen, welche Druck auf die Blase ausüben, die sich in der Folge entzündet hat.
Insgesamt ist festzuhalten: Galens Werk „De locis affectis“ ist ein medizinischer Fachtext höchster Qualität, der mit seiner besonderen Konzeption auch innerhalb des galenischen Gesamtwerkes zunächst einmal für sich zu betrachten ist. Die Lehre vom „erkrankten Ort“, wie Galen sie auf der Basis zahlreicher Vorgänger und Schulansätze eigenständig entwickelt, beschreibt einen beträchtlichen Fortschritt in der antiken Medizingeschichte, insofern ein Modell vom erkrankten Organ entworfen wird, das sowohl die hippokratische Sicht des Menschen als auch das anatomische Wissen um das Innere des menschlichen Körpers, wie es in Alexandria erarbeitet worden war, in sich aufzunehmen vermag. 83 Zugleich leistet die Schrift insgesamt einen bedeutsamen Beitrag zur hellenistischen Anthropologie, innerhalb derer „Schmerzen“ auch eine positive Funktion für den Körper zuerkannt wird.84
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Vgl. schon die hippokratische Forderung: „Man muss den ganzen Körper für die Untersuchung in Anspruch nehmen: das Gesicht, das Gehör, die Nase, das Gefühl, die Zunge: der Verstand aber begreift das […]“ (hierzu vgl. JÜTTE, Sinne, 116). Galen hat mit seiner Lehre von der „Diathese“ bis zu einem gewissen Grad das Dilemma der hippokratischen Mediziner überwunden, die in Ermangelung anatomischer Kenntnisse nicht wussten, was sich „am erkrankten Ort“ tatsächlich abspielt. Zugleich kann auch Galens Konzept nicht alle Erscheinungen erklären; indem er im Grundansatz an der hippokratischen Humoralpathologie festhält, ergeben sich auch bei ihm Systemspannungen (siehe GELPKE, Konzept, passim). Sie reflektiert zugleich, dass aus extern generiertem „Schmerz“ Selbsterkrankungen einzelner Organe bzw. ein Affiziertwerden des Körpers insgesamt von Dauer entstehen können (sog. Idiopathien). Der besondere Gegenstand der Schrift bedingt, dass auch die Therapie entsprechender Erscheinungen, anders als in anderen galenischen Texten, vor allem vom kranken „Ort“ her konzeptualisiert wird. Im Blick auf die Interaktion von Arzt und Patient ist die Schrift dabei hoch reflektiert (siehe GELPKE, Konzept, passim).
Dem „Schmerz“ begegnen
4.
311
Rückblick und Ausblick
Die Untersuchung exemplarischer Zeugnisse der antik-griechischen und der hellenistisch-römischen Medizin in Hinblick auf die Wahrnehmung von „Schmerz“-Phänomenen erstreckte sich über Quellen aus sieben Jahrhunderten. Obwohl eine bemerkenswerte Konsistenz in der Intentionalität und auch in der Methodik über einen so langen Zeitraum erkennbar ist – die hippokratischen Grundannahmen über den Menschen als physiologisches Ganzes, welches in eine „Welt“ eingebettet ist, bleiben bei allen Variationen, Transformationen und Umbrüchen stets erkenntnisleitend präsent –, lassen sich die Ergebnisse insgesamt nicht in griffigen Formeln zusammenfassen. Zu verschieden sind die jeweiligen zeit- und traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen oft schon innerhalb ein und desselben Corpus eines Trägerkreises bzw. einzelner Verfasser, zu verschieden sind auch die Gattungen und die Anthropologumena. Zu schwer zu fassen sind, trotz lexematischer Kongruenzen, die Konzeptualisierungen von „Schmerz“-Phänomenen im Spannungsfeld von professionellen Therapeuten und Leidenden.
4.1.
Der „Schmerz“ – Uranlass der Medizin?
So ist es folgerichtig, dass die oft allzu schematischen und in Hinsicht auf das Verbindende zu optimistischen Urteile über den Beitrag der antik-griechischen und hellenistischen Medizin und ihrer Nachfolger in Forschungsbeiträgen zur Kulturgeschichtes des „Schmerzes“ nicht befriedigen können. Das oft bemühte Zitat aus CH Nat. hom. 2 „wenn der Mensch eins wäre [sc. nur aus einem Grundmaterial bestünde], würde er niemals Schmerzen haben […]“ ist beispielsweise kaum geeignet, das Feld von „Schmerz“-Aussagen im Corpus Hippocraticum insgesamt zu öffnen.85 Und von den hippokratischen Texten insgesamt her lässt 85
„Wenn der Mensch eins wäre [sc. nur aus einem Grundstoff bestehen würde], würde er niemals Schmerzen haben (ἦλγεεν); denn es gäbe nichts, wodurch er Schmerz empfinden könnte (ἀλγήσειεν), wenn er eins wäre [sc. es nur einen Grundstoff gäbe]. Und wenn er wirklich Schmerzen hätte (ἀλγήσειεν), müsste doch auch das Heilmittel ein einziges sein. Nun gibt es aber viele. Denn es gibt viele Stoffe im Körper, die Krankheiten hervorbringen, wenn sie untereinander über das natürliche Maß hinaus sich erwärmen, abkühlen, austrocknen und feucht werden, so dass es viele Erscheinungsformen von Krankheiten (πολλαὶ μὲν ἰδέαι τῶν νουσημάτων) gibt. Entsprechend ist auch die Heilung vielfältig […]“ (CH Nat. hom. 2; die besondere Säftelehre der Schrift liegt keineswegs überall im Corpus Hippocraticum zugrunde; nach FLASHAR, Hippokrates, 94, verweist CH Nat. hom. 2 auf eine Weiterentwicklung einer älteren Zweisäftelehre; bei FLASHAR, ebd., wird allerdings ἀλγεῖν zu unspezifisch mit „krank sein/werden“ übersetzt). – Isoliert zitiert z. B. in: GORDIJN/TEN HAVE (Hg.), Medizinethik, 287, 398f.; SCHILTENWOLF/HERZOG (Hg.), Schmerzen, 145; GRALOW u. a. (Hg.), Schmerztherapie, 4. Auch die wenigen Bemerkungen bei D. B. MORRIS in seinem
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Dem „Schmerz“ begegnen
sich auch die These nicht halten, der „Schmerz“ sei der „Uranlaß der Medizin“ gewesen.86 Wenn man in dieser Weise überhaupt nach einem „Uranlaß“ der Entstehung der altgriechischen Heilkunst fragen kann, so liegt er vielmehr in dem Faktum begründet, dass Menschen vorzeitig resp. contra naturam sterben.87 Die Annahme, dass der „Schmerz“ das entscheidende Äquilibrium der Genese der Heilkunst biete, ist im Ansatz zu modern gedacht und geht zu sehr von der Hypothese aus, „Schmerz“ könne als Thema an sich isoliert betrachtet werden. Dies ist ein ganz wesentliches Ergebnis: Die so imponierenden Zeugnisse der altgriechischen und der hellenistisch-römischen Medizin intendieren im Kern nicht zuerst, „Schmerzen“ zu lindern, sondern vielmehr: Leben zu retten. Auch wenn sich in den von uns untersuchten Texten bis zu einem gewissen Grad eine immer stärkere Zuwendung zum Patienten aufweisen ließ, und auch wenn der – stets im Mittelpunkt der Texte stehende – Arzt in einem erhöhten Grad an Selbstreflexivität im Blick auf die „Schmerz“-Kranken adressiert werden kann, stehen „Schmerzen“ als solche dabei nicht im Fokus; vielmehr sind diese „Zeichen“, die auf der Basis einer theoretischen Grundlage, auf weiter reichende anthropologische Befunde, Krankheitsbilder u. a. verweisen. „Schmerzen“ sind per se kein Krankheitsbild, sie sind symptomatische Begleiterscheinung; bedrohlich ist der Tod, z. B. das zu frühe Sterben von Frauen im Kindbett, bedrohlich ist nicht ein ggf. langes Leben mit immer mehr „Schmerzen“, wie es in neuzeitlich-westlichen Gesellschaften heute gefürchtet wird. Grundsätzlich ist der ungefestige und unsichere Status zu beachten, den die Medizin als „Kunst“ zunächst hatte. Die medizinischen Texte sind oft zunächst an der Reputation des „Arztes“ und seines „Standes“ orientiert. Dies gilt über die eigentlich deontologischen Texte hinausgehend. Von hier aus erklärt sich auch das Problem, dass die hippokratischen Ärzte viele Kranke aus Sorge um den Renommé-Verlust gar nicht behandelt hätten, weil die Medizin nicht alles zu leisten vermag.88 Grundsätzlich agieren die Ärzte in der Zwickmühle, einerseits im Fall des Nicht-Behandeln-Könnens von („Schmerz“-)Kranken als unfähig zu gelten, andererseits jedoch – gravierender – im Fall des Behandelns mit dem
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Werk „The Culture of Pain“ (vgl. DERS., Geschichte, 52) zur hippokratischen Medizin bleiben unbefriedigend. So VON ENGELHARDT, Krankheit, 102: „Mit der kulturabhängigen Natur des Menschen ist auch der Schmerz wesentlich verbunden – der Schmerz als fundamentaler Maßstab für das menschliche Wohl- oder Mißbefinden, als entscheidendes Medium der individuellen Selbst- und Weltwahrnehmung, der Schmerz als Uranlaß der Medizin und zentrales Zeichen ihres Erfolges, der Schmerz als sozialer Appell an Familie, Freunde und Arbeitskollegen, der Schmerz als Mittel der Strafe und Buße, der Schmerz als Grundphänomen der Natur wie der Kultur.“ Vgl. die zahlreichen letalen Ausgänge der Fallgeschichten in den frühen „Epidemien“-Büchern (Buch I und III). In einem ganz anderen als einem modernen Sinn geht es zudem um den Funktions-, Existenz- und Statusverlust der Kranken. Zum Behandlungsverzicht Schwerkranker/Unheilbarer vgl. CH De arte 8; Cels. med. 5,26; 8,13; vgl. dagegen aber CH Morb. sacr. 1.
Dem „Schmerz“ begegnen
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schlimmeren Ausgang resp. Tod des/der Kranken konfrontiert zu werden. 89 „Schmerz“-Phänomene, sofern sie nicht mit einfach zu diagnostizierenden Wunden o. ä. in Zusammenhang stehen, verweisen in dieser Hinsicht auf ein risikoreiches Feld. Ehe der Arzt eine Diagnose erstellt hat und eine Therapie greifen kann, könnten die Patienten sterben. Damit begründet sich der hohe Stellenwert der Prognose des Arztes, die diese Möglichkeit möglichst zuverlässig im Vorfeld abzufangen sucht. „Schmerz“ per se beschreibt allerdings auch nirgends das zentrale Ausschluskriterium für die Bemühungen des Arztes. 90 Alle untersuchten Zeugnisse repräsentieren trotz ihres zeitgenössisch-wissenschaftlichen Ansatzes letztlich „Bilder“ der „schmerzenden“ Körper resp. der „Orte“ in ihnen. Die medizinischen Texte „wissen“ nur scheinbar, was im Körper krankhafter Menschen tatsächlich vonstatten geht und wie eine „schmerzende“ Krankheit sie verändert.91 Gerade dieser unablässige Versuch, das Nicht-Verstandene zu verstehen und zu durchdringen und von der „Oberfläche“ in die „Tiefen“ des menschlichen Körpers vorzudringen, bedingt, dass der anthropologische Ertrag der untersuchten Texte weit über ihre physiologischen Erklärungsmodelle und therapeutischen Ansätze hinaus reicht.
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Vgl. die Furcht der Ärzte, Heilmittel zu verordnen, aus Angst, sie könnten versagen, bei Diod. 17,31,4ff. und Plut. Alex. 19. Ein eigenes Problemfeld ist mit der Frage gegeben, wie und mit welchen Argumenten sich der Arzt einer Behandlung dem Patienten gegenüber entziehen kann (vgl. hierzu CH Fract. 36). Im Trakat CH De arte, der eine stark apologetische Tendenz hat, erscheint als schwerwiegendstes Argument der Kritik an der Medizin die Beobachtung, dass viele Patienten trotz ärztlicher Behandlung sterben (vgl. CH De arte 4 und 7). Der Verfasser von „De arte“ wälzt dabei das Problem des (vorzeitigen) Todes von der Medizin als „Kunst“ auf die Patienten ab. Das ist innerhalb des Corpus Hippocraticum eine sehr besondere Position. Die Schuld liegt nicht auf der Seite des ärztlichen Agierens, sondern wird den unvernünftigen Patienten zugewiesen, die akute Schmerzen, Angst vor der Zukunft etc. haben und die zudem die ärztlichen Anordnungen nicht befolgten (CH De arte 7) bzw. die den Arzt nicht oder zu spät konsultieren (CH De arte 11). Der unfähige bzw. ungehorsame Patient begegnet auch in CH Decent (vgl. auch Aristot. eth. Nic. 2,3 [1105 b]; 3,7 [1114 a 10ff.]): Nach CH Decent. 14 arbeiten die Leidenden ihrem eigenen Tod zu, wenn sie im Blick auf die Einnahme der Medikamente die Unwahrheit sagen. Die frühen hippokratischen Texte füllen den Bereich des Undurchdringlichen quasi mit dem Konzept der Humoralpathologie – womit die „Schmerz“-Problematik gewissermaßen überwölbt ist, aber nicht gelöst. Bei diesem Füllen von Lücken des Undurchdringlichen kann man auch von einer „Phantasie“ der Ärzte sprechen. So JOUANNA, Entstehung, 65: „[…] Vorstellung von dieser Innenwelt, die ihnen weitgehend verborgen blieb, unvollständig oder falsch war, wenn sie nicht überhaupt auf Phantasie beruhte. Wenn man die Schriften dieser Ärzte der Antike übersetzt, riskiert man häufig Fehler zu begehen, indem man Begriffe benutzt, die einen Wissensstand voraussetzen, den sie nicht besaßen. Man muß die Errungenschaften der modernen Medizin vergessen, wenn man jene der Alten richtig verstehen will! Selbst so einfache Wörter wie ‚Organe‘, ‚Nerven‘, ‚Venen‘ oder ‚Arterien‘ können nicht ‚zeitgemäß‘ verwendet werden […]“.
314
4.2.
Dem „Schmerz“ begegnen
Schlimmes Erleiden coram Deo – Ausblick auf frühchristliche Konzeptionalisierungen des „Schmerzes“
Die Intentionalität, von der „Oberfläche“ in die „Tiefen“ des Menschseins durchzudringen, ist grundsätzlich auch für frühchristliche Texte geltend zu machen. Um sich ein entsprechendes Bild von den Zeugnissen des Frühchristentums zu machen, bedarf es allerdings eines gänzlich anderen Zugangs und einer eigenen sensiblen Hermeneutik. Am Ende dieses Beitrages sollen wenigstens einige Grundkoordinaten frühchristlicher „Schmerz“-Hermeneutik als solche benannt werden. a) Zum terminologischen vacat: Die wortsemantische bzw. traditionsgeschichtliche Analyse einzelner termini, wie wir sie im Licht der physiologischen „Schmerz“-Beschreibungen in der antiken Medizin eigentlich erwarten würden, findet in den neutestamentlichen Schriften kaum Ansatzpunkte. Entsprechende Wortstämme sind mehrheitlich nicht vorhanden. Die wenigen Bildungen vom Stamm ὀδυν- dienen im Neuen Testament nicht der Deutung der therapeutischen Aktivität Jesu; insgesamt zielen sie in anderen Sinnkontexten auf den inneren/seelischen „Schmerz“ resp. „Kummer“. Dieser Befund entspricht grundsätzlich dem in der LXX. Hier finden sich sechsundsechzig Belege für ὀδύνη, die dabei mehr als dreißig verschiedene hebräische Begriffe abbilden; auch das Verb ὀδυνάομαι kann sehr verschiedene hebräische Wurzeln repräsentieren. Im Visier sind der innere „Schmerz“ resp. „Kummer“ (Gen 44,31; Ps 12,3LXX; 30,11LXX u. a.), die „Bedrängnis“ (neben θλῖψις Ps 106,39LXX; neben λύπη und στεναγμός: Jes 35,10; 51,11 u. a. m.). Das Substantiv ὀδύνη bezeichnet in Röm 9,2 den Herzensschmerz des Paulus neben „großer Traurigkeit“ (λύπη μοί ἐστιν μεγάλη καὶ ἀδιάλειπτος ὀδύνη τῇ καρδίᾳ μου); in 1 Tim 6,10 sind im Zusammenhang der schädlichen Folgen von Geldgier die Gewissensschmerzen angesprochen, die – metaphorisch – „durchbohren“ (ἑαυτοὺς περιέπειραν ὀδύναις πολλαῖς). Das Verb ὀδυνάομαι ist im Neuen Testament einzig an vier Stellen im lukanischen Doppelwerk belegt; hiervon an keiner Stelle in einer Dämonenbannungsoder Heilungserzählung (Lk 2,48; 16,24f.; Apg 20,38). Im Neuen Testament und hier insbesondere im Zusammenhang der Heilaktivität Jesu ist sodann eine Fehlanzeige im Blick auf das Substantiv ἄλγος zu notieren, das einige Male in der LXX belegt ist (Ps 68 [69],26; Sir 26,6; Klgl 1,12.18; 2 Makk 3,17). Es fehlen auch die weiteren ἀλγ-Derivate wie ἀλγηδών (Ps 37 [38],17; häufiger in 2 Makk und vor allem in 4 Makk), ἄλγημα (Ps 38 [39],2; Koh 1,18; 2,23), ἀλγηρός (Jer 10,19; 37 [30],12). Belege für das Verb ἀλγεῖν (z. B. 2 Kön 1,26; Ps 68 [69],29; Hiob 5,18; 14,22; 16,7 – LXX; vgl. Philo leg. all. III 200.211; Ios. ant. Iud. 15,58) finden sich erst in 1 Clem 56,6
Dem „Schmerz“ begegnen
315
(mit ποιεῖν: Schmerzen empfinden lassen) sowie in Barn 8,6 (mit dem accusativius limitationis von σάρξ für den leiblich Kranken). Im Umfeld der frühchristlichen Exorzismus- und Therapieerzählungen ergibt sich ein vergleichbares Bild auch bei den πον-Derivaten, mit denen in der antik-medizinischen Literatur und über sie hinaus in vielfältiger Weise unangenehme/„schmerz“hafte „Beschwerden“ in einem weiteren Sinn konzeptualisiert werden können. In der apokalyptischen Literatur kann πόνος die schmerzliche Strafe (vgl. Offb 16,10f.) ebenso wie jenen von Tränen, Tod, Trauer und Geschrei gekennzeichneten Weltzustand beschreiben, der durch Gottes finales Geschichtshandeln überwunden sein wird (Offb 21,4). Die schmerzhaft-quälende Bestrafung und „Folter“ von Erdbewohnern wird in der Johannesoffenbarung auch mit der Wurzel βασαν- angegeben (vgl. Offb 9,5; 14,11; 18,7.10.15; vgl. – individuell umgebrochen – die Situation des Reichen im Hades in Lk 16,19–31). In diesen Zusammenhang gehören auch die an die Plagen-Erzählungen anschließenden, von Gott verhängten πληγαί (vgl. Offb 9,18.20; 11,6; 13,3.12.14; 15,1.6.8; 16,9.21; 18,4.8; 21,9; 22,18; vgl. 2 Kor 6,5; 11,23 u. a.). Weiter sind die Ableitungen der Wurzel πασχ- im Zusammenhang der Konzeptualisierung krankhaften körperlichen Leidens nicht häufig. In Mk 5,26 ist Leid angesprochen, welches die „blutflüssige“ Frau von Seiten der Ärzte, die sie konsultiert hat, erlitten hat. Der Begriff interagiert an dieser Stelle mit dem in der Antike breit belegten Topos des Versagens von „Ärzten“ und ist in mehrfacher Hinsicht für ein Erfahrungswissen der Leserschaft offen. Da das Verb πάσχειν im Grundsinn nur auf ein Widerfahrnis als solches zielt, welches nicht per se negativ sein muss, wird in Mt 17,15 in Hinsicht auf die Situation des „epileptischen“ Kindes eine adverbiale Bestimmung erforderlich: κακῶς πάσχει. Die übrigen πασχ-Belege bei den Synoptikern stehen nicht im Zusammenhang von Krankheitsschilderungen, sie sind vielmehr für das Christus-Geschick reserviert (vgl. Mk 8,31; 9,12 u. a.) und zielen nicht ausdrücklich auf den physischen Schmerz, sondern avisieren das schändliche Ende am Kreuz und die mit ihm verbundenen Abläufe.92 b) Die Wahl von Krankheitsbildern: Von der antik-medizinischen Literatur her betrachtet fällt auf, wie wenig insbesondere die frühchristlichen Exorzismusund Therapieerzählungen etwas so scheinbar Elementares wie „Schmerz“Erfahrungen explizit in den Vordergrund rücken. Auffällig ist: Die konkreten Krankheiten/Leiden in den frühchristlichen Heilungserzählungen sind ganz überwiegend so gewählt, dass sie von Hause aus nicht (zuerst und notwendig) mit schlimmen „Schmerzen“ korrelieren (vgl. Blindheit; Taubheit/Stummheit; Lahmheitsphänomene; Wassersucht). Im Fall des epilepti92
Siehe hierzu V. BENDEMANN, Passio, 59–70.
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Dem „Schmerz“ begegnen schen Kindes sind die Verletzungsgefahren und das „Mitleiden“ des Vaters betont, nicht jedoch wird die Krankheit in Mk 9,14–29 als solche als „schmerzend“ konzeptualisiert; auch in Lk 13,10–17 steht nirgends ausdrücklich, dass die „Verkrümmung“ der Frau resp. ihre Bindung durch „Satan“ als „schmerzhaft“ aufzufassen ist; auch bei den Exorzismusgeschichten stehen nicht somatische „Schmerz“-Zustände im Fokus.
c) Christus sanans non dolens: Entsprechend dem Befund, dass die frühchristlichen Texte insgesamt Phänomene des physiologisch konturierten „Schmerzes“ im Zusammenhang der exorzistischen und therapeutischen Aktivität terminologisch kaum belichten, ist es konsequenterweise auch nicht die primäre Funktion des Heiltäters, diese auszuräumen. Im Blick auf Christus als „Schmerzens“-Mann, der in persona der „Schmerzens“-Heiler ist, steht das Neue Testament quer zu seiner späteren Wirkungs- und Auslegungsgeschichte. Exemplarisch deutlich wird dies an der Rezeption des vierten Gottesknechtsliedes (Jes 52,13–53,12; besonders 53,3f.) im 8. Kapitel des Matthäusevangeliums. Jes 52f. vollzieht den Rückblick einer „wir“-Gruppe auf das Wirken des „Knechts“ in Israel nach. In Jes 53,3 qualifiziert der Begriff ;מַ כְ אֺ ב den „Knecht“ in seiner verachteten und isolierten Situation als „Mensch der Schmerzen“. In V.4 wird dieser Begriff dann auch auf die „wir“-Gruppe bezogen (neben „unsere Krankheiten“: „ חָ ָל ֵינוּunsere Schmerzen“: );מַ כְ אֺ בֵ ינוּ. Der „Knecht“ verkörpert körperliche Leiden und Schmerzen gewissermaßen in seiner Person und nimmt sie paradigmatisch-erduldend auf sich. „Schmerz“Erfahrungen sind dabei im Text nicht medizinisch „diagnostizierbar“ im Sinn bestimmter somatischer Leiden.93 Sie sind vor allem sozial-emotiv bestimmt, und sie korrelieren im Text mit bestimmten Konzepten von Scham und Ehre. Schmerzerfahrungen sind weiterhin religiös konstruiert, indem sie in ein Denken eingespannt werden, welches menschliches Fehlverhalten mit göttlicher Strafe korreliert. Ob und in welchem Sinn Jes 52f. eine Aussage der Stellvertretung oder auch der Sühne anzielt, wenn der „wir“-Gruppe durch die Wunde des „Knechts“ Heil/Heilung zuteil wird, ist konzeptionell umstritten und muss
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Vgl. MOSIS, Art. כאבk’b, 12: zu מַ כְ אֺ ב: „eine meist schwere Schädigung des Lebens, die einen Menschen bzw. eine Stadt oder ein ganzes Volk der Sphäre des Todes zuweist oder doch nahebringt, bisweilen auch jene Schädigung, die von Haus aus und unausweichlich jedes menschliche Dasein kennzeichnet.“ Demgegenüber steht der hebräische Begriff für „schwach“/„krank“ („mit Krankheit vertraut“) eher für eine verobjektivierbare physische oder innere Schädigung. Zum Gebrauch der Wurzel כאבim Alten Testament: SCHARBERT, Schmerz, 41–47, der die Grundbedeutung annimmt: „sich in einer schlimmen Lage befinden“; a. a. O., 46. Zu einer alttestamentlichen Theologie des Schmerzes, a. a. O., 187– 225.
Dem „Schmerz“ begegnen
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hier nicht entschieden werden,94 denn hier interessiert an dieser Stelle nur die Frage der frühchristlichen Rezeption. Die Septuaginta gibt ;מַ כְ אֺ בmit ὀδυνάομαι wieder (οὗτος τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν φέρει καὶ περὶ ἡμῶν ὀδυνᾶται). Die Jes 53,4 aufnehmende Aussage in Mt 8,17 (vgl. auch 1 Petr 2,24) ist dagegen so zugeschnitten, dass die Wurzel ὀδυν- ausgespart bleibt. „Schmerz“-Erfahrungen sind also in demjenigen Text, der wirkungsgeschichtlich so oft für Christus als „Schmerzensmann“ angeführt worden ist, ausdrücklich nicht benannt und fokussiert. Gedeutet wird vielmehr, was der Erzähler in Mt 8,16 berichtet hat, nämlich dass Jesus „die Geister“ durch sein Wort resp. seine Tat austreibt und alle die, denen es schlecht geht, heilt. Im Erfüllungszitat von Mt 8,17 gilt die Aktivität Jesu nicht den „Schmerzen“, sondern vielmehr den ἀσθένειαι und νόσοι, d. h. ganz grundsätzlich: den verschiedenen Krankheiten, deren Heilung entsprechend dem Katalog der Taten des Messias (Mt 11,5f.) in Mt 8f. abgearbeitet wird. Die Rede vom λαμβάνειν und βαστάζειν (Mt 8,17/Jes 53,4LXX) aber meint im matthäischen Sinn kein stellvertretendes „Übernehmen“ und kein stellvertretendes „Schleppen“. Vielmehr geht es auf der Ebene der matthäischen Erzählung um ein Fortnehmen, Wegtragen, Beseitigen und Distanzieren von Erkrankungen durch den messianischen Heiler. Die messianische Heiltätigkeit ist in der Erzählung des Matthäusevangeliums in einem viel grundsätzlicheren und umfassenderen Sinn in eine bedrückende und auch die Emotionen der Leserschaft berührende Diagnose der Lebens- und Weltsituation der „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (vgl. Mt 10,6: τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραήλ) integriert, aus der Jesus als Abrahamssohn und Davidsohn (vgl. Mt 1,1) freisetzt. d) Passio sine doloribus: Die synoptischen Passionsgeschichten bewältigen in erster Linie das Problem der mors turpissima, der Schändlichkeit des Kreuzestodes, sie fokussieren dagegen nicht den physischen Schmerz.95 Es ist für die frühe Zeit und insbesondere für die synoptischen Passionsberichte falsch, wenn LE BRETON schreibt: „Die Auffassung des Schmerzes als Schreckensmotiv, wie es noch für Hiob galt, der nicht versteht, was Gott mit ihm vorhat, erfährt im Christentum eine Verschiebung und der Mensch nimmt gegen-
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Vgl. zur Deutung von Jes 52f. insgesamt BERGES, Jesaja 49–54, 208–278; vgl. a. a. O., 248: „Dass den ‚Wir‘ durch seine Wunde Heilung ward“ gehe „über alles bisher Gedachte hinaus“ und lasse „sich nur als ein Heilsgeschehen durch stellvertretendes Leiden angemessen verstehen“; MOSIS, Art. כאבk’b, 13: „Überwindung und Beseitigung der Sünde und des Todes“; die „tiefsittliche Wirkung“ des Handelns des „Knechtes“ betonte anders DUHM, Jesaja, 398. Siehe hierzu V. BENDEMANN, Passio, 59–70.
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Dem „Schmerz“ begegnen über dem Schmerz eine Position des Erleidens ein“. 96 – Dies gilt erst für eine deutlich spätere Zeit. Die neutestamentlichen Erzählungen stellen insgesamt auch keine enge Verbindung zwischen dem gewaltsamen Leidensgeschick Christi am Kreuz und den quälenden Leiden kranker Menschen her. Beide Bereiche bleiben vielmehr grundsätzlich voneinander unterschieden. „Schmerzhafte“ Krankheiten dürfen im Licht der Wirksamkeit Jesu, wie es in den Evangelien erzählt wird, darum auch nicht „christologisch“ aufgeladen“ werden.
e) Auch die Endzeit wird im Neuen Testament nicht eigentlich ausdrücklich als Befreiung von „Schmerz“-Erscheinungen konzeptualisiert. „Schmerz“-Termina, wie wir sie in der medizinischen und erzählenden Literatur der Antike finden, fehlen z. B. in Offb 21,4, auch wenn „Trauer“, „Geschrei“ und „Beschwernis“ in den weiteren semantischen Rahmen gehören: καὶ ἐξαλείψει πᾶν δάκρυον ἐκ τῶν ὀφθαλμῶν αὐτῶν, καὶ ὁ θάνατος οὐκ ἔσται ἔτι οὔτε πένθος οὔτε κραυγὴ οὔτε πόνος οὐκ ἔσται ἔτι, [ὅτι] τὰ πρῶτα ἀπῆλθαν. Umgekehrt visieren frühchristliche Gerichts-Texte physisch-„schmerzhafte“ Widerfahrnisse an (vgl. zum Schmerz für die Verworfenen Jes 66,24; Dan 12,2; Judit 16,17 u. a.). Im Matthäusevangelium z. B. verweist das Syntagma vom „Heulen und Zähneklappern“ (ἐκεῖ ἔσται ὁ κλαυθμὸς καὶ ὁ βρυγμὸς τῶν ὀδόντων) auf das ggf. „schmerzende“ endzeitliche Beurteilungs-Gericht nach den Taten der Menschen (Mt 8,12 par Lk 13,28 [Q-Stoff]; Mt 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30). Das Unterscheidungsgericht nach den menschlichen „Werken“ hat im Aufriss der Erzählung eine zunehmende Affinität zur Sprachform der Himmelreich-Gleichnisse. Diese enden vielfach in Form einer physischen Bestrafung derjenigen Figuren, mit denen sich die Hörerschaft/Leserschaft nicht identifizieren soll. Die Negativ-Figuren bzw. die sie repräsentierenden Charaktere/Dinge im Gleichnis werden im Feuer verbrannt (vgl. Mt 13,30: κατακαῦσαι; 13,42: καὶ βαλοῦσιν αὐτοὺς εἰς τὴν κάμινον τοῦ πυρός), den peinigenden Folterknechten übergeben (Mt 18,34: παρέδωκεν αὐτὸν τοῖς βασανισταῖς), zornig umgebracht und in Brand gesteckt (Mt 22,7: τὴν πόλιν αὐτῶν ἐνέπρησεν), zweigeteilt (Mt 24,51: διχοτομήσει αὐτόν), in die „äußerste Finsternis“ hinausgeworfen (Mt 25,30: ἐκβάλετε εἰς τὸ σκότος τὸ ἐξώτερον) u. a. m. Akzentuiert ist der physische Schmerz. Dieser wird hier textpragmatisch Teil dessen, was man neuzeitlich-retrospektiv als „schwarze Pädagogik“ ansprechen könnte. f)
Erklärungen: Die eigentlich spannende Frage muss darum lauten: Warum fokalisieren neutestamentliche Texte etwas so Elementares wie mensch-
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LE BRETON, Schmerz, 100; ebenso falsch im Blick auf die neutestamentlichen Befunde a. a. O., 101: „[…] Schmerz bedeutet Läuterung, er ist eine Möglichkeit zur Erlösung zu gelangen“.
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liche „Schmerz“-Erfahrungen in so geringem Maß? Die Annahme, hinter der expliziten „Schmerz“-Resistenz der frühchristlichen Texte stehe das antike Ideal der ἀπάθεια,97 kann bei Licht betrachtet die Befunde für die frühe Zeit des sich etablierenden und ausbreitenden Christentums nicht erklären. Im Kern ist vielmehr ein zentraler Grund in der differenten Anthropologie zu suchen, die eng mit der Christologie und Soteriologie resp. Eschatologie korreliert.98 Fokussiert ist in den altchristlichen Texten am Menschen vor allem seine Kommunikationsfähigkeit; er ist „Körper“, insofern er sich zur Anrede funktional verhalten kann. Der Blick auf den Menschen ist damit extern-leitmotivisch. „Schmerz“ ist von hier aus zunächst das, was die jeweils leitende Funktions- und Kommunikationsperspektive unterbricht, was den Menschen vom Gott Israels, von den Mitmenschen im von Gott erwählten Volk, von seiner Familie, seinen Nächsten und damit auch von sich selbst abschneidet. Dieser Ansatz spitzt sich dort zu, wo sich unter prophetischen und apokalyptischen Vorzeichen die Welt, in die Menschen gestellt sind, selbst entzweit und ein „Abbruch“ der Welt als solcher denkbar wird, der sich in „Schmerzen“ vollzieht (vgl. Röm 8; Lk 17; Mk 13 u. a.). Im Vordergrund steht also der sozial und religiös kodierte und induzierte „Schmerz“; „psychischer“ Schmerz verweist demgegenüber nicht auf bestimmte Zonen im Menschen, sondern erfasst und bestimmt den totus homo körperlich und mental. „Schmerz“ erscheint integriert in Zustände des Gequältseins und eine Unglücksdiagnose, die, vom soteriologischen Handeln Jesu her erzählerisch angeleuchtet, einen quasi objektiven Charakter gewinnen. Will man in biblischen Texten „schmerzenden“ Erfahrungen und ihren Konzeptualisierungen auf die Spur kommen, so ist über die wirklichkeitserschließende Funktion von Formen der bildhaften Rede zu sprechen. „Schmerzende“ Erfahrungen begegnen alttestamentlich z. B. in erfahrungsgesättigten Metaphern der Verletzung (vgl. Hiob 6,2; Ps 6,8; 10,14; 31,10; Koh 10,9), des Verfallens von Pflanzen, Land oder Bauwerken (vgl. Jes 3,26; 24,4.7; Klgl 1,4; 2,8 u. a.), der (väterlichen) Züchtigung (so häufig und in vielerlei Variation; vgl. Jes 37,3; Jer 2,19; 10,24; 30,11.14; 46,28; Klgl 3,33; Ps 6,2; 94,12f.; Weish 3,5 u. v. a. m.), der Schwangerschaft und Geburt (vgl. Jes 26,17f.; 66,9f.;
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Die Befunde werden von MARKSCHIES, Schmerz, 153–159, simplifiziert; die Evangelien und die weitere Literatur der antiken Christen sind nach ihm „in einer Umwelt geschrieben und gelesen“ worden, „in der das […] Apathie-Axiom galt und der Affekt des Schmerzes auf- und ausgehalten, nicht ausgebreitet werden sollte“ (a. a. O., 155). Erst das Christentum habe dann in späterer Zeit „allmählich über das Apathie-Axiom der paganen Philosophie und heidnischen Umwelt“ triumphiert (a. a. O., 156). Vgl. zu den hebräisch-anthropologischen Begriffen, die zur Lokalisierung der Schmerzempfindung herangezogen werden („Gebeine“, „Nieren“, „Leber“, „Galle“; „Eingeweide“, „Herz“ u. a.) und die nicht mit der griechisch-römischen Organologie zu verwechseln sind SCHARBERT, Schmerz, 91–97.
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Dem „Schmerz“ begegnen Jer 30,6f.; Mi 4,9f.; 2 Makk 7,36 u. a.),99 der Körperhaltung („zu Boden gehen“; „gebeugt sein“; „verkrümmt sein“ u. a.), in Flüssigkeitsmetaphorik („ausschütten“, „ausgießen“ – Ps 22,15 u. a.), in bildhaften Ausdrücken der Geschmackssinne („bitter“; „sauer“ u. a.; vgl. Jes 5,20; Spr 27,7; Ps 73,21; vgl. den „bitteren Tag“ in Zeph 1,14), in Raummetaphorik („beengend“ u. a.; vgl. 2 Sam 1,26; Ps 4,2; 22,12; 32,7 u. a.), Temperaturmetaphorik („glühend“, „brennend“, „heiß“, „siedend“ u. a.), Lichtmetaphorik (vgl. Jer 8,21; Mal 3,14; Ps 35,14; vgl. Joel 2,10; Ez 32,7f.) sowie in Bildern aus dem Bereich des Kriegs- und Söldnerdienstes (z. B. Hiob 7,1; 10,17; 14,14). Heftigkeit und Intensität von „Schmerzen“ sind vielfach nicht anders als bildlich zu artikulieren.100 Allerdings gilt: Frühchristliche Texte sind auch in Hinsicht auf solche bildhaften Konzeptualisierungen „schmerzender“ Phänomene insgesamt im Vergleich mit alttestamentlichen Zeugnissen deutlich unergiebiger.
In gewisser Weise kann man konstatieren: Sowohl antik-medizinische als auch frühchristliche Zeugnisse sind je auf ihre ganz verschiedene Weise um die Reputation des Arztes/Heilers bemüht. Dessen Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass er in „Schmerzen“ keinen Sinn finden kann, sondern teleologisch auf ihre Überwindung zielt. Die medizinischen Texte adressieren dabei bei aller Variationsbreite der Gattungen überwiegend Fachleute ihrer „Kunst“, bedienen völlig andere Gattungen und blicken durch die Augen des „Arztes“ auf die „Patienten“. In den frühchristlichen Texten wird schmerzhaftes Leiden vom point of view seiner Überwindung durch das Handeln Gottes resp. des Heiltäters Jesus illuminiert, und hierbei kommt – so ließe sich schematisch sagen – stärker die „Patienten“-Seite zur Geltung. Die frühchristlichen Exorzismus- und Therapieerzählungen inszenieren eine unbedingte Hinwendung des Heiltäters zu den Leidenden. Anders als in den medizinischen Texten stehen jedoch die Kranken pars pro toto für die erbarmungswürdige Situation eines Kollektivs, nämlich das in leidvollem Geschick bedrückte Volk resp. die Menschheit, soweit sie im Licht des Christusereignisses und im Licht einer „neuen“ kommenden Weltzeit erlösungsbedürftig erscheint. Innerhalb dieses interpretativen Wahrnehmungsschemas bedeutet die Zuwendung Jesu zum einzelnen Kranken auf der Ebene der literarisch-erzählerischen Gestaltung immer zugleich auch eine Wegwendung der Per-
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Vgl. die Wurzel ὠδιν- im Neuen Testament: das Substantiv: Mk 13,8 par Mt 24,8; Apg 2,24; 1 Thess 5,3; als Verbbildung: Gal 4,19.27 (Jes 54,1: Die Kinder der Mutter Zion kommen ohne Geburtswehen zur Welt); Offb 12,2 (Schreien vor Schmerzen bei der Geburt des Messias); als Kompositum mit συν-: Röm 8,22 – hapax legomenon; zur λύπη im Zusammenhang der Geburt: Joh 16,21f. Siehe zu den entsprechenden bildhaften Konzepten und weiteren Vergleichen und Metaphern: SCHARBERT, Schmerz, 98–102.
Dem „Schmerz“ begegnen
321
spektive vom „Schmerz“-leidenden Individuum, nämlich diejenige hin auf den Hauptakteur in seiner weltenwendend-rettenden universalen Bedeutung.101
101
Insgesamt gibt es in der Frage des „Schmerzens“-Schweigens bzw. der so andersartig konzeptualisierten Wahrnehmung entsprechender Befindlichkeiten und Zustände im ältesten Christentum weiteren Forschungsbedarf. Zunächst wäre hier in die historisch-anthropologische und -psychologische Erforschung von Begriffen wie σῶμα( σάρξ( καρδία und ψυχή einzutreten (zur historischen Psychologie des ältesten Christentums mit weiterer Literatur: THEIßEN, Erleben; V. GEMÜNDEN, Affekt; umfassend zur frühchristlichen Anthropologie im traditionsgeschichtlichen Vergleich mit medizinischen Konzepten das Material bei: WEISSENRIEDER, Körper). Können sich diese in manchen hellenistisch-jüdischen und frühchristlichen Texten wie z. B. dem Epheserbrief scheinbar physiologischen Vorstellungen annähern, wie wir sie in hellenistisch-römischen Zeugnissen der Medizin finden, so hält sich die grundsätzlich differente Betrachtungsperspektive gleichwohl in den meisten Fällen durch.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum im Licht der hellenistisch-römischen Medizin 1.
Doctrina medicinalis Pauli?
In seinem berühmten Werk „Die Mission und Ausbreitung des Christentums“ urteilte ADOLF VON HARNACK, Jesus sei „[a]ls Arzt […] in die Mitte seines Volkes getreten“, seine Jüngerschaft habe sich aus einem „Kreis von Geheilten“ rekrutiert und die nachösterliche Predigt habe sich dann „als die ‚Religion der Heilung’, als ‚die Medizin der Seele und des Leibes’ bewußt und bestimmt“ ausgestaltet.1 Dass V. HARNACK seine These des Christentums als Religion der Heilung neutestamentlich von der Sprache des Lukas her begründet hat, ist allgemein bekannt. 2 Doch V. HARNACK hat auch den Apostel Paulus in seine These der „Religion für die Kranken“ resp. für die Geheilten einbezogen. Paulus wird in die Anfänge einer kontinuierlichen Entwicklungslinie integriert, die schließlich in die theologia medicinalis der Väter gemündet sei.3 Paulus bereitet so eine Entwicklung mit vor, in deren Verlauf – um nur wenige Schlaglichter und Stationen zu nennen – Clemens Alexandrinus die wissenschaftliche Medizin auf die göttliche Vorsehung zurückführt,4 Tertullian sich nicht allein auf die frühe hippokratische Medizin, sondern auch auf Herophilos, Galen und Soran bezieht, Origenes in der scientia sanitatis eine sapientia a Deo erkennen kann,5 und innerhalb derer – wie Eusebios berichtet – in Rom bald Christen begegnen, die nicht nur Euklid, Aristoteles und Theophrast bewundern, sondern den Arzt Galen wie einen Gott verehren.6 * 1
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Ursprünglich erschienen in: C. BREYTENBACH (Hg.), Paul’s Graeco-Roman Context (BETL 227), Leuven 2015, 157–191. V. HARNACK, Mission, 129f., 136. Zur Würdigung aus neutestamentlicher Sicht jetzt: ROTHSCHILD/SCHRÖTER (Hg.), Rise; darin: SCHRÖTER, Harnack, 487–499. V. HARNACK, Lukas. Vgl. v. HARNACK, Mission, 136. Bei Paulus findet Harnack u. a. die Vorstellung, dass „alle Menschen ohne Christus als Sterbende“ erscheinen (ebd.); er verweist ferner auf die in 1 Kor 12 angesprochene Vorstellung der Sympathie der Glieder im Leib (a. a. O., 147). Clem. Al. strom. 6.157.2; er bezieht sich auf diätetische Anweisungen, wie sie sich in hippokratischen Texten finden (vgl. Belege bei DÖRNEMANN, Krankheit, 104); medizinale Metaphern dienen dem Erweis des Christentums als der vera philosophia (vgl. a. a. O., 120). Orig. Hom. zu Numeri XVIII 3 (vgl. DÖRNEMANN, Krankheit, 124 mit Anm. 113): Omnis sapientia a Deo est. Iam vero de medicinae scientia nec dubitari puto. Si enim est ulla scientia a Deo, quae magis ab eo erit quam scientia sanitatis, in qua etiam herbarum vires, et succorum qualitates, ac differentiae dignoscuntur? Eus. hist. eccl. 5.28.14 (προσκυνεῖται).
324
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
Im Zuge dieser Entwicklung fanden nach V. HARNACK medizinische Vorstellungen sukzessive Eingang in die Beschreibung verschiedenster theologischer, heilsgeschichtlicher, anthropologischer, ethischer, besonders aber auch soteriologischer Lehranschauungen.7 Damit ist die Frage gestellt: Wie kommt es ab dem 2. Jahrhundert zu einer solchen salus-orientierten Theologie, Christologie und Soteriologie? Und – bezogen auf unser Tagungsthema: Finden sich Ansätze für sie bereits bei Paulus, hat Paulus an dieser grundlegenden Entwicklung Anteil? V. HARNACKs Interpretation des „Kontextes“ eines auf sanitas orientierten Apostels, das, was er die „heilungssüchtige Welt“ nennt, leidet an alten Vorurteilen der Hellenismusforschung und ihrer Rezeption: Zum einen trübt hier die alte These vom ‚müden Hellenismus’ bzw. von einer ‚gealterten Welt’ der Spätantike den Blick. Nach V. HARNACK konnte allein das Christentum diese alte Welt befreien und „heilen“.8 Zum anderen wirken sich Vorurteile über das frühe Judentum hinderlich aus. Paulus habe – so V. HARNACK – „mit dem Kreuz Christi die Religion Israels“ „[…] zertrümmert“.9 Ist aber mit der These der „heilungssüchtigen Welt“ nicht vielleicht doch etwas Richtiges gesehen, fragt man nach „Paul’s Graeco-Roman context“? Im Folgenden wollen wir V. HARNACKs Impuls noch einmal aufgreifen. Hierbei soll es im Rahmen unserer Tagung zunächst um die Fragestellung gehen, inwieweit Medizinales in hellenistisch-römischer Zeit rezipiert wird, unter welchen kulturellen Bedingungen dies geschieht und wie die medica die zeitgenössische Literatur beeinflussen und prägen kann.10 In den Blick rückt ein Phäno7
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Für Euseb von Caesarea ist die Weltgeschichte eine therapeutische Geschichte Gottes mit den Menschen und Christus der beste und alle überragende Arzt (Eus. Pr. Ev. 1.5.: καὶ ὁ μὲν τῶν ἰατρῶν ἄριστος εἰς μέσον παρελϑὼν ἅ τε χρὴ προϕυλάττεσϑαι καὶ ἃ προσήκει δρᾶν ὥσπερ τις ἄρχων καὶ κύριος μετ᾿ ἐπιστήμης προστάττει […]; vgl. Eus. hist. eccl. 10.4.11: ἰατρῶν ἄριστος). Nach DÖRNEMANN akzentuiert Origenes demgegenüber vor allem die göttliche Medizin. Hierbei spielt der Gedanke der göttlichen Pädagogik eine wesentliche Rolle (DERS., Krankheit, 131–141; DERS., Inhalte, 9–39). Vgl. DUMEIGE, Christ, 115–141; FERNÁNDEZ, Cristo, 280. Erhebliche Bedeutung gewinnt die theologia medicinalis auch in der altchristlichen Sakramentologie; die Taufe wird zur aqua medicinalis (vgl. Tert. bapt. 4.5; 5.2.5), auch das Herrenmahl wird medizinal interpretiert (vgl. ϕάρμακον ἀϑανασίας; Ign. Eph. 20.2). Vgl. V. HARNACK, Mission, 136, von der christlichen Predigt: „Daß sie Heilung versprach und brachte, daß sie in dieser Eigenschaft alle anderen Religionen und Kulte überstrahlte, das hat ihren Sieg bereits begründet“. V. HARNACK, Mission, 63. Die durch Harnack angeschnittene Frage nach dem Verhältnis paulinischer Texte zu den medica hat in der Forschung nur eine marginale Bedeutung gehabt. Forscher, die den Kolosserbrief und/oder auch den Epheserbrief für einen „echten“ Paulusbrief erachten, konnten medizinische Konzepte zur Erklärung der „Haupt“- und „Körper“vorstellung dieser Schreiben heranziehen und sie auf Aussagen der anerkannt echten Paulusbriefe übertragen. Zu entsprechenden Forschungsbemühungen siehe – im Anschluss an Lightfoot, 1879 – BARTH, Ephesians, 190–192; ARNOLD, Jesus, 350–355. Sodann sind in der Diskus-
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325
men von bemerkenswerter Intensität und Breitenwirkung. Man kann von einer „medikalen Kultur“ der frühen Kaiserzeit sprechen, einem Netzwerk von Praktiken und Bedeutungen, welches sich nicht auf einen engeren Radius von Ärzten und medizinischer Fachschriftstellerei beschränkt, sondern welches vielmehr in alle Bereiche der Gesellschaft hineinwirkt und auch die frühen Christen in ihrer Alltagswirklichkeit erreicht.
2.
„Medikale Kultur(en)“ und die Rezeption medizinaler Vorstellungen in Texten der hellenistisch-römischen Zeit
Wir greifen im Folgenden den in jüngeren Beiträgen der medizinhistorischen Forschung vielfach verwendeten Begriff einer „medikalen Kultur“11 der hellenistisch-römischen Zeit auf – mit den bekannten Unschärfen, die der Kulturbegriff stets mit sich bringt12. Die kulturgeschichtliche Frage untersucht semantische Wechselwirkungen des Medizinischen mit weiteren Vorstellungen und Praktiken einer Gesellschaft. Sie analysiert ein weites Spektrum von Bedeutungen, die dem menschlichen Körper, seinen Lebensvollzügen als solchen, seiner Beobachtung durch Fachleute wie Laien sowie der Sorge und Fürsorge für ihn zugeschrieben werden. Sie rechnet dabei mit einer Vielzahl von Akteuren und Institutionen, die solche Bedeutungen hervorbringen. Bedeutungszusammenhänge können sich in Literatur wie z. B. den medizinischen und medizinisch-enzyklopädischen Texten niederschlagen, aber auch in rituell-kultischen oder alltagsmedizinischen Handlungen oder generellen Überzeugungen über Menschen und ihre Körper. Über die Fachmedizin hinaus kommen weitere polisgebundene Gesundheitssysteme und ihre Bedeutungen in den Blick, z. B. städtische Thermen und Quellen, Theater
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12
sion der sogenannten „Krankheit des Paulus“ seit längerer Zeit Querverbindungen zu medizinalen Texten postuliert worden (s. u. Pkt. 3.6.). Im Übrigen finden sich medizinische Belegstellen in der Kommentarliteratur und in Einzeluntersuchungen sehr verstreut zu einzelnen termini und Vorstellungen; vgl. z. B. zu medizinalen Konnotationen der Wurzel ἀσϑεν- in 1 Kor 8,1–11,1; Röm 14,1–15,3: GÄCKLE, Starken, 97–105, im Zusammenhang der stoischen Seelenheilungslehre. Siehe zum inzwischen viel gebrauchten Terminus ROELCKE, Kultur, 45–68; JÜTTE, Ärzte; STEGER, Ort, 137–158; DERS., Asklepiosmedizin. Zum kulturwissenschaftlichen Diskurs bzw. dem „cultural turn“ vgl. insbesondere BACHMANN-MEDICK, Turns; GEERTZ, Beschreibung; KLIEBER/STOWASSER (Hg.), Inkulturation; LOTMAN, Universe; DERS., Culture; POSNER, Kultur, 37–74; DIES., Explikation, 1–65.
326
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
(vgl. 1 Kor 9,24–27), gemeinsame Mahlzeiten im Zusammenhang der Tempelmedizin sowie auch familiäre Systeme wie die medicina domestica.13
2.1.
Zur These einer städtisch-„medikalen Kultur“ der frühen Kaiserzeit
Bereits ältere Arbeiten der Hellenismusforschung messen dem Kulturbegriff im Blick auf Eigenarten des griechischen bzw. hellenistischen Menschenbildes eine zentrale Funktion zu. Die medikale Kultur der hellenistisch-römischen Zeit basiert demnach auf grundlegenden Überzeugungen des griechischen Menschenbildes; sie hat sich mit innerer Konsequenz und Notwendigkeit aus den Anfängen griechischer Anthropologie entwickelt. WERNER JAEGER kann in seiner großen Arbeit über die „Paideia. Die Formung des griechischen Menschen“ „das griechische Ideal der menschlichen Bildung“ als das „Ideal des gesunden Menschen“ bezeichnen; dem „Ideal des gesunden Menschen“ komme im Griechentum konstitutive Bedeutung für „die Kultur in ihrer Gesamtheit“ zu.14 SIGERIST hat dieses Urteil in seiner Studie „Der Arzt in der griechischen Kultur“ aufgegriffen. „Die griechische Welt der klassischen Epoche“ sei „eine Welt des Normalen und der Gesunden“ gewesen, in der Gesundheit „nicht nur als kostbares Gut, sondern als Ideal“ gegolten habe. 15 ῾Υγιεία erscheint dabei zunächst weniger als eine Zielperspektive individuellen Lebens, sondern vielmehr als anzustrebendes Ideal der Polis. Sowohl die Anfänge der hippokratischen Medizin im 5. Jahrhundert v. Chr. 16 als auch die griechische Tempelmedizin, die sich dann vor allem in der Gestalt der Asklepiosmedizin in der Welt der griechischen Poleis und schließlich auch im Imperium Romanum immer stärker verbreitete, können einer solchen kulturellen Ausrichtung am Ideal der ὑγιεία zugeordnet werden. Diesem kulturellen Ideal ist es geschuldet, wenn in den Städten des Imperium eine kaum systematisierbare Vielzahl unterschiedlichster Gestalten begegnet:
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Im römischen Bereich oblagen therapeutische Aufgaben grundsätzlich dem pater familias (vgl. Plin. nat. 25.9f. / Cato); im jüdischen Bereich war hierfür eher die Mutter zuständig (vgl. die Mutter des Abbaje; hierzu PREUSS, Medizin, 22; man kann fragen, ob die Metapher des Paulus in 1 Thess 2,7 [τροϕός] auch in diese Richtung weisen kann; zu den Termini und Funktionen von Hebammen im frühen Judentum: a. a. O., 40–43; vgl. zur ärztlichen Funktion der Hebamme im griechischen Bereich [Sor. Gyn. 1.3f.; 3.3.1] STEGER, Asklepiosmedizin, 54; KRUG, Heilkunst, 195). JAEGER, Paideia, Bd. 2, 58. SIGERIST, Arzt, 70. Zum gewachsenen Corpus der hippokratischen Schriften und entsprechenden Datierungsfragen vgl. JOUANNA, Entstehung, 41–46. Zur zeitlichen Einordnung der hippokratischen Schriften: LEVEN, Art. Echtheitskritik, 238–241.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
327
vom Wanderarzt über den Gemeindearzt, den praktizierenden Heiler17, den ‚Wunderheiler‘, den Drogenhändler bis hin zum Gymnasten in den Gymnasien, zum Wundarzt in den Theatern oder zum Militärarzt. 18 Die Dichte des medizinischen Personals konnte dabei in den kaiserzeitlichen Städten teils ein Niveau erreichen, das neuzeitlich-mitteleuropäischem Durchschnitt nahekommt.19 In der hellenistisch-römischen Zeit übernahmen die Ärzte-Schulen nach dem philosophischen Bedeutungsverlust Athens an Orten wie Alexandria und Rom Funktionen, die klassisch die Akademie, der Peripatos und auch die Stoa innehatten.20 Die „Schulen“ partizipieren dabei an einer Entwicklung, die in der medizinhistorischen Forschung als Kennzeichen der zeitgenössischen medikalen Kultur der Kaiserzeit insgesamt benannt wird: Die Medizin wird zunehmend agonal, sie nimmt an dem teil, was VON STADEN in diesem Zusammenhang als „epideictic culture“ beschreibt.21 Kennzeichen der agonalen Kultur sind das öffentliche Werben, Abgrenzen und auch Polemisieren mit Mitteln, wie sie sich in der Rhetorik finden. Potentiell alles, was mit dem menschlichen Körper, seiner Wahrnehmung und Fragen seiner Gesundung/Heilung zusammenhängt, kann in den Bann des Agon geraten. Bereits in später in das Corpus Hippocraticum eingegangenen Texten ist erkennbar, wie die ärztliche Kunst um Reputation und öffentliche Akzeptanz wirbt. Medizinisches soll auch über den engeren Kreis des Fachpublikums hinaus plausibel und kommunikabel gemacht werden. Eine entsprechende Tendenz zu Eisagogik und Propaganda verstärkt sich in hellenistischer Zeit. In Städten wie Ephesos finden öffentliche Ärzteagone statt.22 In der agonalen Orientierung liegt einer der Hauptgründe für die kulturelle Durchdringung der städtischen hellenistisch-römischen Gesellschaft mit medizinalem Wissen. In enger Verbindung mit dem agonalen Charakter gilt die Tendenz zur Individualisierung als Kennzeichen der medikalen Kultur. Beginnend in hellenistischer Zeit und dann verstärkt im Übergang in die römische Kaiserzeit 23 löst sich die medikale Kultur – bei aller Vielfalt der Entwicklungen und allen Schattierun17
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Platon unterscheidet in den Nomoi (Plat. leg. 4.720; 9.857C–D) Praktiker aus dem Sklavenstand von geschulten Ärzten; vgl. die dreifache Unterscheidung bei Aristot. pol. 1282A (δημιουργός – ἀρχιτεκτονικός – πεπαιδευμένος); vgl. HERZOG, Art. Arzt, 721. Zur Beschreibung des gesamten Spektrums von Akteuren und Praktiken bildet die Unterscheidung „volkstümlicher“ Heilkunst bzw. „folk medicine“ oder „low medicine“ von sogenannter „high medicine“ kein geeignetes Instrument. Vgl. z. B. RIDDLE, Medicine, 102–120; NUTTON, Medicine, 248, 251. Siehe hierzu WILMANNS, Sanitätsdienst. Siehe zum Fall Pompejis KÜNZL, Medizin, 56–68; dieser berechnet die Einwohnerzahl pro „Arzt“ in Pompeji für 79 n. Chr. (bei angenommenen 40 Arzthäusern in der Stadt) auf 500 (im Vergleich z. B. Rheinland-Pfalz im Jahr 1970: 750 – Mainz im Jahr 1987: 400 [a. a. O., 68]). Zu den medizinischen Schulen im Verbund hellenistisch-römischer Medizin: KEE, Medicine, 27–64; KOLLMANN, Christen, 66–72; grundlegend: NUTTON, Medicine, 140–215. V. STADEN, Galen, 33–54. Zur öffentlichen Praxis der Medizin: NUTTON, Medicine, 263f. Vgl. hierzu NUTTON, Medicine, 171–201.
328
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
gen – immer stärker von der vorrangigen Sorge um das Gemeinwesen der Polis. Im Sinne einer stärkeren Zentrierung auf das gesunde Selbst verändern sich auch die Bilder der beteiligten Gottheiten. So wird z. B. geltend gemacht, dass sich das Bild der Göttin Υγιεία in die römische Salus in einer Weise wandelt, die die Frage nach „Heil“/„Gesundheit“ stärker auf den je eigenen Körper zentriert.24
2.2.
Zur philosophia medicinalis in hellenistisch-römischer Zeit
Wird der frühen Kaiserzeit ein ausgesprochener „taste for medicine“ zugeschrieben25, gilt sie als „a period of intense interest in medicine and prestige for doctors”26 und finden sich in Kreisen der Gebildeten sogenannte ϕιλίατροι, d. h. solche, die eine Haltung eifriger Freundschaft zur Medizin pflegen 27, so gilt dies in ganz besonderer Weise für die zeitgenössische Philosophie. Diese gestaltet sich zunehmend als eine philosophia medicinalis und fördert ihrerseits die Verbreitung und den Eingang von Medizinischem auch unter Laien und eine entsprechende Popularisierung von Begriffen und Vorstellungen. Ihr kommt eine entscheidende Funktion für den Wissenstransfer von im engeren Sinn heilkundlichen Vorstellungen in alle Bereiche der Gesellschaft zu. Die Voraussetzung hierfür ist darin zu erkennen, dass Philosophie und Medizin ihren Wurzeln nach nicht zwei klar distinkte Disziplinen darstellen. Vielmehr besteht eine überaus enge Verbindung und Wechselwirkung, die sich bis in die Anfänge der ionischen Naturphilosophie zurückverfolgen lässt.28 Zahlreiche philosophische Interpretationsmuster können als „interpretierte Medizin“ angesprochen werden. Platon bezieht Paradigmen in seinen Dialogen aus dem Umfeld der hippokratischen Ärzte. Bei Aristoteles werden seine philosophischen und seine naturkundlichen Schriften häufig wie zwei distinkte Corpora behandelt; doch ist auch hier nicht von Interdisziplinarität im Sinne einer Geschiedenheit zweier Fächer/Disziplinen zu sprechen.29 Elemente einer philosophia medicinalis finden sich in vielen Zeugnissen der kynisch-stoischen Philosophie, die Fehlverhalten als „krankhaft“ konzeptualisiert und den Philosophen als Arzt 24
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Dieser schwierige Punkt kann hier nur summarisch angesprochen werden; vgl. LANGENEGGER-BRÜCKL, Art. Heilgötter, 405–408 (mit weiterführender Literatur); zu entsprechenden Entwicklungen in der Portraitkunst: PFROMMER, Art. Portrait, 853–863. Siehe zur These einer Individualisierung und Verinnerlichung von Körperkonzepten seit der Zeit der römischen Republik und im Übergang der frühen Kaiserzeit PERKINS, Suffering, 142–172. Grundlegend: FOUCAULT, Sorge, Bd. 3. BOWERSOCK, Sophists, 66. GLEASON, Men, 85, visiert das 2. Jahrhundert als „askesis culture“ an. PERKINS, Suffering, 142. Zu den ϕιλίατροι vgl. LIDDELL/SCOTT u. a., Lexicon, 1934; LUCHNER, Philiatroi, 14–20. Zum engen Verhältnis von Medizin und Philosophie in der Antike grundsätzlich: VAN DER EIJK, Medicine; JOUANNA, Entstehung, 60; vgl. a. a. O., 77–80. Vgl. JAEGER, Use, 54–61; LLOYD, Role, 68–83; LENNOX, Philosophy; VAN DER EIJK/FRANCIS, Aristoteles, 213–234.
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329
darstellt.30 Vor allem auch in den Corpora philosophischer Lehrbriefe wird das Bildungsverlangen der Zeit bedient und werden verschiedenste Facetten des fascinosum medicinae aufgegriffen. Insbesondere Seneca erweist sich hier als ein ϕιλίατρος.31 Ihren literarischen Höhepunkt erreicht die philosophia medicinalis bei Plutarch von Chaironeia, der als wahrer ϕιλίατρος gelten kann.32 Bei Plutarch wird die Medizin – im engen Anschluss an Platon – zum Integral philosophischer Reflexion. Der Arzt avanciert zu einer Strukturmetapher für die Betätigung des
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Vgl. schon Plat. leg. 862C–D zu „Krankheiten der Seele“ u. a. Vgl. Dion Chrys. or. 3.100; 8.5, 7f.; 13.32; 17.2f., 6; 27.7; 32.17 u. v. a. m. Körperliche Gesundheit wird dabei zum einen grundsätzlich unter die Adiaphora gerechnet. Vgl. Sen. epist. 82.10: nec mala nec bona; im Anschluss an Poseidonios: Sen. epist. 87.35; vgl. Epikt. ench. 2; 9; 17; Sen. epist. 23.6: corpusculum […] magis neccesariam rem crede quam magnam […]; (vgl. Sen. epist. 41.4); die summa felicitatis nostrae ist nicht in carne ponenda (Sen. epist. 74.16); Krankheiten sind Prüfsteine für den „Weisen“ (vgl. Epikt. diss. 3.10.13f.); sie können den Körper in vielfältiger Weise beeinträchtigen, der Natur nach wird aber die virtus von ihnen nicht betroffen (Sen. epist. 74.23f.). Zum anderen wird dem Körper und seiner heilsamen Versorgung ein Eigenwert zugeschrieben. Vgl. Epikt. diss. 1.24.6–10; 29.39; 3.3.1ff.; 14.4–6; 4.8.31. Vgl. KUDLIEN, Art. Gesundheit, 913–915. So kommt z. B. Seneca in seinen Briefen immer wieder auf die Geschichte der griechischen und römischen Medizin, auf ihre prominenten Vertreter, ihre Schulgliederung und einzelne ihrer Anschauungen und Praktiken zu sprechen. Seneca bezieht sich z. B. auf die Hippokratiker, auf Asklepiades, die pneumatische Medizin der Kaiserzeit u. a. (vgl. z. B. epist. 78.8f.; 95.9f.). Sen. epist. 95 erinnert an die römische Position Catos d. Ä. von der anfänglich rein naturbasierten Heilkunst, die erst allmählich, in Reaktion auf Zivilisationsleiden, differenzierter wurde (vgl. Sen. epist. 95.15–29). Hippokrates ist ihm „der größte Arzt und beste Kenner der Natur“ (Sen. epist. 95.21: maximus medicorum ac naturae peritissimus). Vgl. Senecas Lob seines Arztes als Menschenfreund in benef. 6.16.4f. Der Briefautor schreibt für die Nachwelt salutares admonitiones (Sen. epist. 8.2). Insgesamt geht es um die Bewährung des eigenen Selbst, wobei die Philosophie eine „uneinnehmbare Schutzmauer“ (inexpugnabilis murus; epist. 82.2) bilden und das „Herz“ (pectus) festigen soll (Sen. epist. 82.7). Der Weise soll frei von der Furcht vor Krankheit sein (vgl. Sen. epist. 14.3); dies wird immer wieder im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit dem Tod eingeschärft (vgl. Sen. epist. 1.3–5; 4.3–9; 24.19–26 u. a.; vgl. von der Möglichkeit des „vernünftigen Ausgangs“: Sen. epist. 58.34; vom Tod eines Freundes im Briefeingang: Sen. epist. 63.1. Ethik gestaltet sich als Diätetik; vgl. von diätetischen Vorschriften und rechtem Umgang mit der Habe z. B. Sen. epist. 94.20–24; vgl. Medizinales in verschiedensten Zusammenhängen in Sen. epist. 14.3, 6; 40.4; 50.4–9; 52.9; 53.5–9; 71.5; 72.6f.; 74.33; 75.6–14; 85.12; 94.17 u. a. m.). Siehe en detail BOULOGNE, Plutarque, 2762–2792; DURLING, Medicine, 311–314. Zu medizinischen Bildern in Plutarchs Schriften, v. a. in De sera numinis vindicta HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 225–281. Weitere Literatur zur Medizin bei Plutarch: a. a. O., 228f. Anm. 7; vgl. DERS., Gott, 141–168; vgl. V. BENDEMANN, Metaphorik, 181-213 (siehe in diesem Band 237–269).
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Philosophen in allen ihren Facetten. Als „Medikament“ gilt der „Logos“ der Philosophie33, dem man sich nicht entziehen darf.34 Medizinische Bilder, Vergleiche und Konzepte werden in alle Felder der Anthropologie und Psychologie eingebracht. Auch soziale Gebilde wie die Familie, der Staat oder die Freundschaftsbeziehung werden medizinal interpretiert.35 Medizinische Diätetik begründet und veranschaulicht die vielfältige Paränese. Vitia werden als „Krankheiten“ beleuchtet; ihnen widmet Plutarch Traktate wie „De cohibenda ira“, „De garrulitate“, „De curiositate“, „De vitioso pudore“ und „De laude ipsius“.36 Vor allem bringt Plutarch Vorstellungen der medikalen Kultur auch in Problemfelder der Religionsphilosophie ein; theologische Fragen sowie Fragenkreise, die man als „soteriologisch“ sowie „eschatologisch“ bezeichnen kann, werden mit medizinalen Vorstellungen veranschaulicht und durchdrungen. Insbesondere in „De sera numinis vindicta“ liegt eine ausgesprochene theologia medicinalis zugrunde. Diese konzeptualisiert in verschiedenen Anläufen Schuld als medizinale Dysfunktion und führt bis hin zu Fragen wie der nach generationenübergreifender Schuld/Krankheit und einer entsprechenden generationenübergreifenden Therapie der Gottheit (vgl. Plut. de sera 561C). Plutarch geht dabei – in platonischer Tradition stehend – grundsätzlich vom guten Arzt aus. Ärztliches Handeln gilt als paradigmatisch „gerechtes“ Handeln, auch dort, wo es dem Patienten Schmerzen zufügt – denn in der Medizin wird niemand die Notwendigkeit von Brennen, Schneiden oder die Anwendung von Schröpfköpfen in Frage ziehen (Plut. de sera 559E–560A).37 33
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Vgl. Plut. cohib. Ira 453D–E. In dem möglicherweise fragmentarischen Text „De virtute et vitio“ (Περὶ ἀρετής) z. B. werden Äußerungen der Habgier mit verschiedenen Krankheiten (Fieber; Gallenleiden; Magenkolik; Durchfall) verglichen (Plut. mor. 101B–D). Die Kranken selbst weisen dabei in ihrem Verhalten ein Wissen darum aus, was für sie gut ist und was schädlich (sie befolgen von sich aus diätetisches Maß), und bieten damit eine Analogie für die Kraft der Vernunft (des νοῦς) in der Seele. In der Schrift „Animine an corporis affectiones sint peiores“ gelten die seelischen, von den Lastern verursachten Krankheiten, die dem Menschen nicht zufällig aus seiner Natur oder von außen zukommen, als die eigentlich gravierenden, insofern sie – obwohl (durch die Philosophie) heilbar – von den Betroffenen konsequent ignoriert oder negiert werden (Plut. mor. 500E–F). In der Schrift „Über die Bruderliebe“ wird z. B. die Eintracht von Brüdern mit der rechten Balance von Feuchtigkeit, Trockenheit, Kälte und Wärme im Körper verglichen (Plut. mor. 478F–479A). Vgl. zu den Schriften der „psychotherapeutischen“ Behandlung einzelner Laster und Begierden ZIEGLER, Plutarchos, 136–168 (im Unterschied zu den philosophischen Abhandlungen im engeren Sinn) (vgl. DERS., Art. Plutarchos, 636–962); INGENKAMP, Schriften; VAN HOOF, Ethics; OPSOMER, Eros, 208–235. „Die medizinische Metaphorik in De sera numinis vindicta charakterisiert den Gott in seinem Umgang mit dem Menschen als heilenden, helfenden Arzt […]. Theologisch vermittelt sie das Bild eines auch in seinem Strafhandeln guten, helfenden Gottes, der die Menschen zu ihrem Heil führen“ wolle (HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 279). Vgl. auch GÖRGEMANNS, Plutarch, 300, zu „De superstitione“: „Grundposition […] eine Frömmigkeit, die vom Glau-
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
2.3.
331
Das frühe Judentum und die medikale Kultur der hellenistisch-römischen Zeit
Bei allen methodischen Problemen, die sich hier stellen, und allen verbleibenden Unsicherheiten in der Einschätzung einzelner Phänomene und Texte, ist festzuhalten, dass auch das zeitgenössische antike Judentum vom „taste for medicine“ der Zeit keineswegs unberührt geblieben ist. Das frühe Judentum ist in seinen vielfältigen Erscheinungen dabei zunächst selbst auf eigene und besondere Aspekte einer medikalen Kultur zu befragen, die mit medizinalen Konzepten der hellenistisch-römischen Zeit in vieldimensionaler Weise in Kontakt treten können. Die häufig vorgetragene Annahme, dass es in Israel eine kontinuierliche Ablehnung gegenüber „der“ Medizin als eines fremdkulturellen Wissens und einer gegebenenfalls religiös bedenklichen Praxis gegeben habe, bedarf der Korrektur38. Es sprechen gute Gründe dafür, dass es nicht erst im rabbinischen Judentum, welches eigentümliche medizinale Konzepte entwickelt und zugleich Vorstellungen der hippokratischen Säftelehre, der pneumatischen Medizin sowie Lehnfachwörter aus der griechisch-römischen Medizin kennt39, ein viel weiteres Feld von heilenden Akteuren und Praktiken gegeben hat, die im weiteren Sinn als „medizinisch“ zu klassifizieren sind. 40 Die in diesem Zusammenhang viel bemühte These von einem „Heilungsmonopol“ des Gottes Israels (vgl. Ex 15,26LXX: ἐγὼ γάρ εἰμι κύριος ὁ ἰώμενός σε) hat bei der Wahrnehmung und Bewertung der Befunde teils in Sackgassen geführt. Hellenistisch-jüdische Texte spiegeln in verschiedener Weise Übergänge einer Annäherung an die medikale Kultur der hellenistisch-römischen Zeit.41
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ben eine Förderung von Lebensfreude und Zuversicht“ erwarte; vgl. a. a. O., 314; siehe zu Plutarch auch V. BENDEMANN, Metaphorik, 181–213 (siehe in diesem Band 237–269). Vgl. kritisch zu dieser älteren Sicht bereits PREUSS, Medizin, 26f., der z. B. auf bSanh 17b verweist und feststellt, dass bPes 113a keine generelle Arztpolemik beinhaltet. Vielmehr gehe jüdische Polemik gegenüber der Medizin nicht über das in der Antike generell Mögliche und Erwartbare hinaus. KUDLIEN, Art. Heilkunde, 242, führt jüdische Ärzte an, die z. T. auch bei paganen Medizinern bzw. Enzyklopäden Erwähnung finden (vgl. Cels. med. 19.11; 22.4 zu einem Iudaeus als Quelle). Vgl. FELDMAN, Health; KOTTEK, Hygiene, 2843–2865; ROSNER, Encyclopedia; DERS., Medicine, DERS., Jewish Medicine, 2866–2894. Vgl. KOTTEK, Elements, 2918–2922; insgesamt: NEWMYER, Medicine, 2895–2911 (siehe 2901, zu rabbinischen Parallelen zur hippokratischen Humoralpathologie). Vgl. zu Tobit, Sir 38,1–15, zu den Qumran-Essenern und zu weiteren Zeugnissen jüdischer Heilkunst in hellenistisch-römischer Zeit: KOLLMANN, Christen, 118–173; AVALOS, Health, 31–45, zu „The Israelite Health Care Systems“. CASTIGLIONI, Contributions, 193: „Jewish philosophers and physicians participated actively in the flourishing science of Alexandria and, at the time of the Ptolemies, enjoyed a great popularity. The Greeks were then inclined to admire these strange people and to accept them in the schools, in the public discussions, and in the professions […]“.
332
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
Josephus führt Ärzte schon in die Patriarchenerzählungen ein 42; er kennt verschiedenste Krankheitsbilder, wie sie in der griechisch-römischen Medizin definiert sind; anthropologisch rechnet er – im Einklang mit philosophischen und medizinischen Vorstellungen – mit dem temperierten Menschen. In den Schriften Philos finden sich viele Beispiele für eine bildhaft vergleichende Anwendung medizinaler Paradigmen, wie sie platonische oder stoische Texte kennzeichnen. Die Lenkung des Staates wird mit der ärztlichen Kunst verglichen (vgl. Philo de Josepho 33f.; 62f.; 76). Die Philosophie erscheint als Heilkunst der Seele, die von den πάϑη freisetzt.43 Philo kennt auch die Unterschiede zwischen „technischen“ Medizinern und Praktikern, doch gilt ihm – mit dem common sense der Philosophie – die Gesundheit der Seele der des Körpers vorgeordnet (Philo De virtutibus 3f.; 13).44 In Aufnahme des Sprachgebrauchs der Septuaginta45 gilt Gott als der Einzelne oder sein Volk Heilende. In „De sacrificiis Abelis et Caini“ 70 bezeichnet Philo den Gott Israels als den einen resp. einzigen Arzt der Seele (ἐπὶ τὸν μόνον ἰατρὸν ψυχῆς). Die Heilung der „Seele“ wird in Legum allegoriae 3.124.215f. auf den λόγος oder die ἔννοια ϑεοῦ zurückgeführt.46 In weiteren frühjüdischen Schriften lassen sich entsprechende Beobachtungen interkultureller Übergänge verzeichnen. In den Testamenten der zwölf Patriarchen z. B. gibt es Indizien für eine Annäherung dämonologisch-hamartiologischer Vorstellungen an Konzepte der hippokratischen Humoralpathologie.47 42
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Nach Ios. ant. Iud. 1.208 konsultiert Abraham Ärzte; in Ex 21,18f.20f. bringt Josephus in ant. Iud. 4.277 zusätzlich die Erstattung der Arztkosten ein; zu Ärzten im Umfeld der Herodianer: Ios. bell. Iud. 1.657; Ios. ant. Iud. 17.171f.; vgl. Ios. vita 404 (Galiläa). Vgl. zu den Befunden bei Josephus: NEUBURGER, Medizin; KOTTEK, Athens. Vgl. Philo praem. 21.3; Philo De decalogo 150; Philo Quod deterius potiori insidiari soleat 110f., 123; Philo De cherubim 2; Philo leg. all. 2.79; 3.36 u. a. Vgl. Philo über die Regelung von Therapiekosten bei den Essenern: Philo Prob. 87. Vgl. Jes 6,10; 7,4; 19,22; 30,26; 57,18f.; 61,1; Jer 3,22; 17,14; Sach 10,2; Ps 6,3; 29,3; 40,5; 102,3; Hiob 12,21 u. a. Einwirkungen der medikalen Kultur und medizinaler Interpretamente auf die Übersetzung einzelner Schriften der LXX wären genauer zu untersuchen; vgl. zu den Belegen für ἰᾶσϑαι sowie ϑεραπεύειν WELLS, Language, 103–112, 339–353; zu Jes 6,9f.: KARRER, Verstockungsmotiv, 255–271. Zum Theologumenon in Ex 15,26: LOHFINK, Jahwe, 13–73. Legum allegoriarum 3.215f.: εὐϑὺς εὐλογιστεῖ τε καὶ πάσας τὰς νόσους αὐτῆς ἰᾶται. Vgl. zu den Vorstellungen Philos HOGAN, Healing, 168–207. In TestRub 2.3–3.2 wird sub voce πορνεία eine stoisch geprägte Geisterliste integriert. Vgl. BECKER, Untersuchungen, 189f.; HOLLANDER/JONGE, Testaments, 75f.; 87–108, 150 mit Anm. 188–190 (a. a. O., 49f., zur Rede vom πνεῦμα in den TestXII). Die Untergliederung der anthropologischen Sinnesvermögen (Geister des Lebens, des Blickes, des Gehörs, des Geruchs, der Rede, des Geschmacks und des Zeugens und des Beiwohnens) wird dabei im dritten Kapitel mit Lastern verknüpft, wobei TestRub 3.4 den dritten Geist auf einen Streit in der „Leber“ und der „Galle“ bezieht. Hiermit ist möglicherweise ein Anschluss an die Vorstellung der den Menschen bestimmenden Körperflüssigkeiten hergestellt (vgl. TestNaph 2.8, wo die Leber mit dem ϑυμός und die Galle mit πικρία verbunden erscheint) und fließen indirekt hippokratische Interpretamente ein.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
3.
333
Paulus und die „medikale Kultur“ der frühen Kaiserzeit
Was folgt nun aus diesen Beobachtungen, wenn wir zum Apostel Paulus als unserem Ausgangspunkt zurückkehren? Zunächst sind deutliche Fehlanzeigen und grundsätzliche Abständigkeiten zu notieren. Überraschend und auffällig ist, dass bei Paulus der gesamte Facettenreichtum bildhaft-metaphorischer Konzeptualisierungen des Heilens nahezu völlig ausfällt, der in zeitgenössischen literarischen Quellen, insbesondere in den popularphilosophischen Texten, festzustellen ist. Im Bereich der Paränese erscheint das metaphorische Feld der ἰατρεία τῶν πάϑων abschattiert. Vor allem aber: Vergleicht man Paulus mit Schriftstellern wie Plutarch und Philo, so sticht hervor: In den Briefen des Apostels werden theologische und soteriologische Metaphern aus dem Bereich der medikalen Kultur gemieden. Für Paulus von einer theologia medicinalis bzw. einer „Christusmedizin“ zu sprechen, legt sich in keiner Weise nahe. Nahezu sämtliche hier zu erwartende termini fehlen in seinen Briefen.48 Nun kann man die Frage freilich noch einmal anders ansetzen und sie stärker auf die briefliche Kommunikationssituation richten. Paulus aktiviert das medizinale Sprachfeld, wie es sich insbesondere auch in der hellenistisch-jüdischen Literatur findet, fast nicht; zugleich werden wir im Folgenden sehen, dass die Kommunikationssituation ihn in dieser Richtung fordert. Paulus ist zwar nicht der Anfänger einer medizinalen Theologie; seine Briefe können jedoch bereits in die Richtung von Entwicklungen weisen, die dann deutlich erst im 2. Jahrhundert greifbar werden. Im folgenden Teil der Analyse soll die Fragestellung darum auf die Briefadressaten und ihre Lebenswirklichkeit (ihren „context“) bezogen werden. Es ergeben sich Indizien, dass die städtisch-medikale Kultur der frühen Kaiserzeit in die Lebenswelt der frühen Christen hineingewirkt und ihre Vorstellungen beeinflusst hat. Paulus ist sich dieses Horizontes bewusst. Seine Briefe sind damit auch daraufhin zu befragen, inwieweit sie – als Instrumente der Sozialisation von Gruppen aufgefasst – ihrerseits in diese Kultur hineinwirken und Spuren in ihr hinterlassen. Als Testfeld für entsprechende Beobachtungen wählen wir einige Texte aus der korinthischen Korrespondenz.
48
Bei Paulus fehlen u. a. Belege für νόσος, ἰᾶσϑαι, ἰατρός, ἴασις, ϑεραπεύεσϑαι, ὑγιής, ὑγιαίνειν (ἴαμα nur in 1 Kor 12,9.28.30). Zum – bei Paulus gänzlich fehlenden – theologischen und christologischen Gebrauch der Arzt-Metapher in frühchristlichen Texten vgl. Ign. Eph. 7.2; Diogn. 9.6; mit Bezug auf Jes 53,5.7: 1 Clem 16.5; Barn 5.2; vgl. weiter Iren. adv. haer. 3.5.2; Clem. Al. strom. 3.104.4; Acta Petri 11.15–25; Acta Joannis 22; 56; 108; Acta Thomae 156; Acta Philippi 4.1; siehe im Überblick DUMEIGE, Christ, 118–141; DÖRNEMANN, Krankheit, 69–87.
334
3.1.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
„Medikale Kultur(en)“ im römischen Korinth – Beobachtungen zum 1. Korintherbrief
Was häufig generalisierend in „der“ paulinischen Anthropologie sub voce σῶμα verbucht wird, basiert vor allem auf Aussagen des 1. Korintherbriefes resp. der korinthischen Korrespondenz.49 Nur im 1. Korintherbrief spricht Paulus zudem vom je eigenen Körper (ἴδιον σῶμα; 1 Kor 6,18; 7,4[bis]; 15,38).50 Wie wir sahen, sind mit Vorstellungen von Körperlichkeit, Körpersorge bzw. Selbstsorge Themen aufgerufen, die im Umfeld städtisch-medikaler Kultur auf Aufmerksamkeit rechnen können. Nur im 1. Korintherbrief kennt Paulus ein Charisma der Krankenheilung; dieses wird in 1 Kor 12,9.28.30 – anders als etwa die κυβερνήσεις (nur in 12,28) – in dreifacher Wiederholung genannt (fehlend dagegen an entsprechender Stelle in der Charismenliste von Röm 12 und sonst im Corpus Paulinum). Ist der von Paulus gewählte Begriff ἴαμα auch medizinisch imprägnant, so ist ihm im Horizont der Frage nach einer städtisch-medikalen Kultur eine Eigenbedeutung zuzuweisen.51 Die textexternen Befunde bezüglich einer solchen medikalen Kultur im römischen Korinth sind lückenhaft und lassen sich – wie zumeist bei entsprechenden Frageschritten – nur indirekt bzw. bei erheblichen Unsicherheiten mit dem Brief des Paulus verbinden. Im Sinne des oben bestimmten Kulturbegriffes kann man die städtischen Bäder und Quellen des römischen Korinth der medikalen Kultur zurechnen. Das Amphitheater (vgl. die Metaphorik in 1 Kor 9,24–27) besaß zeitgenössisch ein eigenes Gesundheitssystem mit speziell ausgebildeten Ärzten; darüber hinaus wird in der Forschung mit einer relativ hohen Dichte von heilenden Akteuren in der Stadt gerechnet. 52 Der Tempelmedizin im römischen 49
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Röm: 13x; 1 Kor: 47x; 2 Kor: 10x; ansonsten bei Paulus nur: Gal 6,17; Phil 1,20 von der eigenen Person des Apostels; 1 Thess 5,23; Phil 3,21. Das adjektivische ἴδιος findet sich in 1 Kor relativ häufig, was auch als Echo der von Paulus erkannten Egoismen in der korinthischen Gemeinde zu begreifen ist: 1 Thess: 4x; Röm: 5x; 1 Kor: 16x; 2 Kor: –; Gal: 3x; Phil: –; Phlm: –. Vgl. hierzu v. HARNACKs Bemerkung: „Was die therapeutischen Methoden anlangt, so war es wie heute; je weltflüchtiger und weltfeindlicher die Christen waren, um so skeptischer und erbitterter waren sie auch gegen die übliche Behandlungsweise […]“; es habe „[…] eine therapeutische ‚Christian Science‘ aus neuem und altem Aberglauben gemischt“ gegeben (DERS., Mission, 150). – Im Blick auf die korinthische Praxis wissen wir nichts. Nach ENGELS, Corinth, 47, wurde für einen Arzt der venatores namens Trophimos eine Bronzestatue in der Arena errichtet (CIG I Nr. 106). Engels rechnet zudem mit einer beträchtlichen Arztdichte in der Hauptstadt der Achaia, was generell in Anbetracht der Verhältnisse in anderen römischen Städten plausibel, für Korinth jedoch nicht näher abzusichern ist. Vgl. zurückhaltender (trotz weiterer Belege) WICKKISER, Asklepios, 53f. In späterer Zeit hielt sich Galen von Pergamon zum Studium der Medizin in Korinth auf. Vgl. Galen, Anat. admin. 1.1; siehe zum allerdings nur kurzen Aufenthalt SCHLANGE-SCHÖNINGEN, Gesellschaft, 86, 90.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
335
Korinth ist der im Norden zwischen Korinth und Lechaion gelegene Tempel für Asklepios und Hygieia zuzuweisen.53 Paulus setzt sich nicht ausdrücklich mit Asklepios auseinander; für die frühchristliche Gemeinde in der Stadt hat der Asklepioskult am Ort möglicherweise eine Rolle gespielt; in der Forschung mehren sich Stimmen, die für möglich halten, dass korinthische Christen Erfahrungen mit Mahlzeiten im Speiseraum des Asklepieion gemacht haben 54; dass es einzelne Gemeindeglieder gegeben hat, die im Fall von Krankheit das Asklepieion konsultierten, hat jedenfalls einige Wahrscheinlichkeit für sich.55 Auf dem Hintergrund solcher einführenden Beobachtungen sollen nun zunächst einige Stellen im 1. Korintherbrief näher betrachtet werden.
3.2.
Menenius Agrippa und die Körperkonzeptualisierung des Paulus in 1 Kor 12
Einsetzen wollen wir bei demjenigen Text, der in der Forschung die Statistik traditionsgeschichtlicher Vergleichstexte zu 1 Kor 12 (sowie auch Röm 12) anführen dürfte: Der berühmten Fabel des Menenius Agrippa. Die Fabel gilt als eine enge Parallele für die Anschauung, dass sowohl Einheit als auch Vielfalt in einem gesellschaftlichen Organismus notwendig sind und die angesprochene Funktionsdifferenz keine Werthierarchie begründet, insofern jedes „Glied“ zum Leben des Ganzen beiträgt.56 In der Regel wird dabei in der Forschung völlig abgeblendet, dass es sich nicht allein um ein sozial-strukturelles57, sondern zunächst um ein medizinales 53
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56 57
Zum Asklepiostempel von Korinth siehe Plut. quR. 94; Paus. Descr. Graec. 2.4.5. Siehe hierzu SCRANTON u. a., Corinth; ROEBUCK, Corinth; Abb. D; vgl. a. a. O., 1–4, 85–110; WISEMAN, Corinth, 510. In späterer Zeit konnte der Arzt Gaius Vibius Euelpistos (ca. 175–230) zugleich als Asklepiospriester fungieren (KENT, Corinth, Nr. 206). Vgl. KOCH, Christen, 164; FOTOPOULOS, Food (vgl. a. a. O., 253, zum möglichen Setting im Speisesaal des Asklepieion); GÄCKLE, Starken, 135. Kaum plausibel scheint es, die von Paulus in 1 Kor 12 entwickelte Leib-Metaphorik mit den beim Asklepieion gefundenen GliederExvotos (hierzu LANG, Cure; KASAS, Medizinisches, 3–17) zu verbinden (so MURPHY-O’CONNOR, Corinth, 190f.; dagegen mit Recht: FITZMYER, Corinthians, 475); diese können dagegen für sich genommen als ein Ausdruck der Leib- und Selbstsorge von Städtern der hellenistischrömischen Zeit interpretiert werden (zu solchen Gliedervotiven, die in der Regel nicht kranke, sondern gesunde Organe darstellen, vgl. KRUG, Heilkunst, 32–36). Zur (trotz der topographisch marginalen Lage) zentralen politischen und religiösen Bedeutung des Asklepieion im griechischen und römischen Korinth: WICKKISER, Aseklepios, 37–66. Vgl. den Überblick bei SCHRAGE, Brief, Teilbd. 3, 219f. Die politischen Bezüge der Fabel sind unbestritten; es geht um die concordia civium; der Widerstand der ausgewanderten plebs bzw. die Revolte der partes des Körpers wird als „Konspiration“ interpretiert (conspirasse). Hinzu kommt ein kulturoptimistisches – römisches – Geschichtsmodell: Der Aufstand der Organe erinnert nach Livius an eine Vorzeit
336
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
Bild handelt. Der medizinale Aspekt ist bei Livius (weniger ausgeprägt in der Fassung des Plutarch, Cor. VI 4f.) deutlich akzentuiert und liefert den eigentlichen Schlüssel zur Fabel. Livius bedient in der dem Menenius in „Ab urbe condita“ II 32 in den Mund gelegten Fabel den „taste for medicine“ der Zeit, der längst auch die Historiographie erreicht hat.58 Schon die Kriegsgeschichtsschreibung des Thukydides ist z. B. bestimmt von der Analogisierung menschlicher Physiologie und einer Physiologie des – kranken oder gesunden – Gemeinwesens. „Krieg“ erscheint als Krankheitsprozess einer Körperschaft, in der die Gesundheit des Ganzen der des Individuums vor- und übergeordnet ist. Organisch-physiologische Begriffe der Medizin werden auf das politisch-militärische Geschehen bzw. auf die Schwäche politischer Größen angewendet.59 Die Fabel des Livius nun fokussiert die Funktion des Magens („venter“), der – so die Sicht der übrigen Organe – in seiner ruhigen Position im Zentrum des Körpers („in medio quietum […]“) den Ertrag aller Sorge, Arbeit / Mühe und Dienstleistung auf sich ziehe („cura […] labore ac ministerio […]“), dabei jedoch rein passiv verbleibe und lediglich „genieße“ („datis voluptatibus frui“); innerhalb der erzählten Welt muss Menenius nun plausibilisieren, dass aus der Unterversorgung des nur vordergründig „genießenden“ Magens die äußerste Entkräftung des gesamten Körpers resultiert („ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem venisse“). Den entscheidenden Punkt des Menenius sichert hier eine medizinale Digression im Text ab: Ausgeführt wird, wie der Bauch seiner nährenden Funktion im Menschen nachkommt, nämlich „indem er das Blut, von dem wir leben [– ein anthropologischer Plural –] und stark sind, gleichmäßig auf die Adern verteilt, in alle Teile des Körpers zurückströmen lasse, nachdem es durch die Verdauung der Nahrung seine Kraft erhalten habe“ („reddentem in omnes corporis partes hunc, quo vivimus vigemusque, divisum pariter in venas, maturum confecto cibo sanguinem“). Dem Plot der Fabel nach verhält es sich also so: Die entscheidenden Abläufe vollziehen sich im Inneren des Körpers; nur auf diesem Bildungshintergrund wird die Fabel anschlussfähig: Sie sucht die nicht ohne Weiteres erkennbaren Zusammenhänge der sozialen Struktur als solche sichtbar zu machen – und zwar mit Hilfe der Medizin. Wendet man sich von der Menenius-Fabel nun der organologischen Fabel des Paulus in 1 Kor 12,14–26 zu, so sind – körpermetaphorisch – die Differenzen mit Händen zu greifen; am entscheidenden Punkt bietet die Menenius-Fabel eher einen Kontrasttext denn eine „Parallele“, insofern bei Paulus der Rekurs auf die natürlich-inneren Körpervorgänge in ihrer Selbstabläufigkeit völlig ausfällt. Es fehlt der medizinale Blick, der von den äußeren Organen ausgehend nach
58 59
der Unordnung, die inzwischen als überwunden gilt („tempore, quo in homine non, ut nunc, omnia in unum consentiant, sed singulis membris […]“, Liv. ab urbe condita II 32). Vgl. ENGELHARD, Medizinisches. Siehe hierzu RECHENAUER, Thukydides.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
337
den inneren Logiken und Abläufen fragt und hier die Ätiologien von Erkrankungen aufdeckt. In den Augen einer gebildeteren hellenistisch-römischen Leserschaft müsste man urteilen, dass Paulus die eigentliche Pointe der Fabel geradezu zerstört hat. Nun erscheint jedoch auch hier die Annahme unbefriedigend, dass die Differenzen zwischen einer Körperkonzeption, wie sie in der medikalen Kultur der Zeit äußerst nahe lag, und dem Bild, das Paulus entwirft, einfachhin mit mangelnder παιδεία des Paulus oder der korinthischen Christen zu erklären sind. 60 Gewiss wird man weder dem Apostel noch den Korinthern differenziertere Kenntnisse des menschlichen Blutkreislaufes zutrauen. Dafür, dass sie vom Zusammenhang von Magen und Verdauung wussten, spricht jedoch schon 1 Kor 6,13.61 Es sind vielmehr Indizien dafür geltend zu machen, dass Paulus in einer impliziten Auseinandersetzung mit medizinalen Körperkonzepten, die sich an dieser Stelle nahe legt, bewusst eine alternative Konzeptualisierung wählt. Paulus setzt hier im weitgehenden Einklang mit einer jüdischen Anthropologie nicht intern, sondern extern an, von dem her, was den Menschen leitmotivisch in seinen Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten auszeichnet.62 Eben darum 60
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Vgl. PREUSS, Medizin, 103, zu biblischen und jüdischen Bezeichnungen für das „Leibinnere“ (kein „prägnant […] anatomische[r] Sinn“); vgl. a. a. O., 122, zu den „Nieren“ (z. B. Jer 11,20; Spr 23,16; Hiob 19,27 u. a.), die in ihrer biblischen Bedeutung auffälliger Weise bei Paulus nicht begegnen. Im Blick auf die These „Die Speisen für die κοιλία und die κοιλία für die Speisen“ (1 Kor 6,13) halten manche für möglich (vgl. ZELLER, Brief, 224), dass Paulus hier eine „Parole“ der Korinther aufgreife, mit der diese ihr sexuelles Verhalten physiologisch legitimieren – in Analogie zur Notwendigkeit von Mahlzeiten für das leibliche Wohlergehen. Allerdings kommentiert Paulus diesen Satz: „Gott aber wird diesen und jene zunichte machen“; (vgl. zur κοιλία Röm 16,18; Phil 3,19). Es geht Paulus um die Herausstellung der ethischen und eschatologischen Irrelevanz bzw. Hinfälligkeit. Der ganz anders vom Menenius des Livius am entscheidenden Punkt aktivierte Konnex von Magen/Verdauung/ Blutgefäßen und weiteren Organen findet sich auch sonst in der hellenistisch-römischen Literatur häufig zur Illustration und Begründung verschiedenster Lebenszusammenhänge; es handelt sich um einen medizinalen Topos. Vgl. z. B. Sen. epist. 84.5f. Das Bildfeld von Magen und Verdauung angewandt auf Freundschaftsbeziehungen: epist. 2.3; von der Unausweichlichkeit körperlicher Beschwerden: epist. 24.16; die schlechte Verdauung als Grund plötzlichen Todes: epist. 30.16; von der Unersättlichkeit des Bauches: epist. 60.3; von der Erklärung der Brotproduktion in Nachahmung der „Natur“ durch Poseidonios: epist. 90.22f. Auf diesen Punkt wird die Fabel des Menenius in der Fassung Plutarchs (Cor. 6.4f.) reduziert (der „Magen“ darf hier seine Funktion in direkter Rede explizieren). A. WEISSENRIEDER erkennt eine Parallele zu Zahl und Anordnung der Organe in 1 Kor 12,14–26 im hippokratischen Traktat „De hebdomadibus“ (DIES., Kranke, hier bes. 248–252). Dagegen, dass Paulus in der Fabel von 1 Kor 12 das spezielle Konstrukt der Siebenzahl voraussetzt, spricht jedoch, dass für eine solche Annahme im Text die Füße doppelt, die Hand dagegen einfach gezählt werden muss. Vor allem aber wird ausgeblendet, dass der Hebdomaden-Traktat – anders als Paulus – gerade auch die inneren Organe dem Körper des Kosmos analogisiert. Das steinige Innere der Welt entspricht nach CH Hebd. 6 den menschlichen Knochen; das weichere Umgebende korrespondiert dem menschlichen Fleisch; die
338
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
spricht Paulus auch nicht von partes oder loci im Menschen, wie man es in medizinischen Texten erwarten würde, sondern von „Gliedern“.63 Der entscheidende Punkt ist: In 1 Kor 12,14–26 geht es überhaupt nicht um Gesundheit und Krankheit. Dies ist daran erkennbar: Paulus schafft für seine Version der Fabel einen Rahmen, der von den gering geachteten Körperteilen her ansetzt: Er setzt mit dem kulturanthropologisch als besonders „unehrenhaft“ geltenden Fuß ein und endet mit den scheinbar weniger „ehrbaren“ Gliedern (d. h. dem Urogenitalbereich). Die bestimmende Opposition im Text ist damit die von „Ehre“ und „Scham“.64 Die Attribute der „Wohlanständigkeit“ (das Substantiv bei Paulus nur in 1 Kor 12,23; das Adjektiv nur in 1 Kor 7,35; 12,24; das Adverb nur in 1 Kor 14,40 sowie 1 Thess 4,12) und des „Unanständig“-Seins (das Adjektiv nur in 1 Kor 12,23; das Verb in 7,36; 13,5; das zugehörige Substantiv nur Röm 1,27) sind dabei zunächst von jüdischem Empfinden her gewonnen, entsprechen jedoch zugleich auch einer Zurückhaltung, wie sie sich in römischen Texten findet. Ausgangspunkt gerade in römischen Texten ist, dass landläufige Begriffe für die Schamteile als vulgär empfunden werden; darum werden Umschreibungen gewählt; bzw. man greift mit Rücksicht auf den pudor ganz bewusst auf griechische termini zurück.65
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flüssigen Körperanteile finden ihre Entsprechung in den irdischen Gewässern. Die Luft koinzidiert mit dem körperlichen Atem; der Mond wird mit dem Leitungsorgan des menschlichen Körpers (vgl. zur Vorstellung Plat. Tim. 73B–D) koordiniert. Die Sonne ist in Übereinstimmung mit Ansätzen der frühionischen Philosophie der Widerpart der körperlichen Hitze. Das 7. Kapitel strukturiert dann den Menschen nach einer alternativen hebdomadischen Einteilung unter dem Aspekt seiner Interaktion mit der Welt (Kopf/ Hände/Eingeweide–Phrenes/Urogenitalbereich/Anus/Schenkel). Kap 8 und 9 prolongieren dies in der Logik einer immer weiteren Subgliederung von Siebenerschemata. Zunächst geht es um die siebenfältigen Funktionen der Körperorgane; im 10. Kapitel werden dann die sieben Teile der Seele behandelt. Zur Zahl der Sinne in der Antike vgl. JÜTTE, Geschichte, 40–57, zu Alkmaion von Kroton, Demokrit, Platon, Aristoteles, zur Stoa und zu Galen von Pergamon. Die Fünfzahl der Sinne findet sich demnach erstmals bei Demokrit; unterschiedlich bewertet und zugeordnet wird der Tastsinn. Verglichen mit den verschiedenen Begriffen und Listen fehlt bei Paulus v. a. der Geschmackssinn (vgl. z. B. Plat. Tim. 65C). Zur Frage von μέρη/partes und μέλη/membra des menschlichen Leibes vgl. Aristot. hist. an. 486a: Körperteile, die sich, wie Kopf, Hand, Schenkel und Thorax nicht mehr in gleichartige untergliedern lassen, werden nicht nur „Teile“, sondern auch „Glieder“ genannt (οὐ μόνον μέρη ἀλλὰ καὶ μέλη καλεῖται). Vgl. hierzu die medizinanthropologische Rezeption jüngerer kulturanthropologischer Arbeiten bei PILCH, Healing, im Anschluss an F. Kluckhohn, F. Strodtbeck und B. Malina u. a. Celsus gelten im 6. Buch von „De medicina“ (6.16) die menschlichen Geschlechtsteile als „obszöne“/„verborgene“ Teile (obscenae partes); die lateinischen Bezeichnungen erachtet er für anstößiger (foediora) und präferiert unter dem Aspeket des pudor die griechischen termini. Der Urogenitalbereich gilt als besonders ekelhaft (vgl. 6.18.7: „Anus quoque multa taediique plena mala recipit […]“). Zu den pudenda vgl. Aristot. hist. an. 3.1.509A–510A; Galen Sem. 1.16.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
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Zielsetzung dieser metaphorischen Körperkonzeption des Paulus ist es insgesamt, gemeinschaftsschädigende Absolutheitsansprüche und Egoismen („Warum sind nicht alle wie ich?“ / „Warum bin ich nicht das Ganze?“), die sich im einen „Leib Christi“ nicht schicken und ihn schädigen können, auszuräumen und zu vermeiden und zu einem Umgang mit der Vielfalt von Charismen anzuleiten, der die soziale Einheit abbildet (vgl. 1 Kor 12,25).66 Zusammengefasst: Paulus reagiert auf Körperkonzeptionen der medikalen Kultur; er setzt sie voraus – und strukturiert sie bewusst um. In inhaltlicher Hinsicht geht es ihm dabei um die These der Gleichheit in der Gemeinde – bei offenkundiger Ungleichheit der handelnden „Glieder“. Krankheits- und Gesundheitsmetaphern werden dabei von Paulus nicht gewählt.
3.3.
Die Physis als „Lehrerin“ (1 Kor 11,14)
Die Grundlage antik-medizinischer Körperdeutungen bietet die Vorstellung der Physis. Die „Natur“ wird als Trägerin und Lehrerin allen Lebens und Erklärungsmodell der Welt angesehen. Die Vorstellung gründet in Beobachtungen der belebten und unbelebten Natur in enger Verbindung zu Vorgängen des menschlichen Körpers. In der Medizin ist es die erste Aufgabe, der „Natur“ zu ihrem Recht zu verhelfen, die hippokratischen Ärzte verstehen sich als ὑπερέται τῆς ϕύσεως (vgl. CH Epid. VI: νούσων ϕύσιες ἰητροί; vgl. CH Loc. hom. 2,1: ϕύσις δὲ τοῦ σώματος ἀρχὴ τοῦ ἐν ἰητρικῇ λόγου). Es ist der Naturbegriff, in dem sich insbesondere die frühe jonische Philosophie sowie die Anfänge der griechischen Medizin verbinden, und in dieser engen Allianz von medizinischen und ontologisch-philosophischen Bezügen lässt sich der Naturbegriff von Platon über Aristoteles bis in die popularphilosophischen Strömungen der Kaiserzeit verfolgen.67 Nach Seneca strukturiert die Physis das All wie das menschliche Leben in seinen Abschnitten 66
67
Der Verbindung von „Kräften“ und „Geist“ in 1 Kor 12 wäre an diesem Punkt auch in medizinischen Texten nachzugehen. Zu den ἐνεργήματα δυνάμεων in 1 Kor 12,10 vgl. die Verbindung von ἐνέργεια und δύναμις bei Aristot. an. 424 a; Aristot. metaph. 1042a; 1049b; 1050b u. a. Galen schreibt einzelnen Körperteilen eine je bestimmte, eigene und an die Organsubstanz gebundene ἐνέργεια zu, z. B. dem Auge das Sehen, der Zunge die Sprache und den Beinen das Gehen (Galen meth. med. 1.6). Zusätzlich zur ἐνέργεια als funktionaler Betätigung ist eine δύναμις erforderlich, damit die je einzelnen Organe aktiv werden können (Galen loc. aff. 6.6). Vgl. zu Galens „De locis affectis“ SIEGEL, Galen. Zur Grundlage des philosophischen Physis-Begriffes in der Medizin siehe klassisch POHLENZ, Mensch, 175–177. Vgl. SCHLANGE-SCHÖNINGEN, Gesellschaft, 232, zu Galen Us. part. 17.1: „Aus der aristotelischen Unterscheidung von bewegender Kraft und Bewegtem folgt, daß die Physis jeder göttlichen Potenz gleichwertig gegenüber steht. Von diesem Grundsatz aus wird die Physis in der Philosophie der Stoa zu der eigentlich entscheidenden Instanz, die das Werden aus einer ihr innewohnenden Teleologie heraus bestimmt. Sie läßt aus der Materie einen geordneten Kosmos entstehen“.
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Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
(vgl. Sen. epist. 49.3; 93.9), die natura übt ihre Macht nicht nur in der menschlichen ratio (vgl. Sen. epist. 49.11), sondern in allen Lebensphänomenen aus (vgl. Sen. epist. 30.11: „quicquid composuit, resolvit, et quicquid resolvit, componit iterum“). Medizinische und philosophische Physiologie teilen dabei die teleologische Annahme, wonach die ϕύσις / natura planvoll agiert und nichts Unnützes bewirkt oder erschafft.68 Auch im hellenistischen Judentum begegnen wir entsprechenden Vorstellungen. So kann Philo der ϕύσις z. B. Attribute wie ἀγένητος oder ἀϑάνατος zuschreiben.69 Möglich ist nun, dass das von Paulus in 1 Kor 11,14 gebrauchte Argument der Natur als „Lehrerin“ in Hinsicht auf einen entsprechenden Hintergrund gewählt ist. 1 Kor 11,14 bildet in dieser Hinsicht eine singuläre Aussage in den paulinischen Briefen.70 Zudem handelt es sich lediglich um ein finales Hilfsargument im Zusammenhang der Kopfbedeckungsproblematik. Zusammen mit 1 Kor 11,16 wird die natura im Sinn des decorum und der consuetudo/συνήϑεια ausgelegt. 1 Kor 11,14 erinnert an die stoische Gleichung des κατὰ ϕύσιν ζῆν mit dem καλῶς ζῆν. Doch greift das Argument im Kontext der medikalen Kultur. So lassen sich auch im Fall der Haartracht enge Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen philosophischen und medizinischen Stellungnahmen feststellen. Sowohl in philosophischen als auch in medizinischen Texten gelten die Haare von Frauen und Männern als von der Natur planvoll geschaffen, geordnet und auch in ihrem Wuchsverhalten wohl bedacht. Alle ordnenden, korrigierenden oder kaschierenden Maßnahmen bedürfen demgegenüber einer Begründung. 71 Das 68
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Vgl. Sen. epist. 11.6. Zur Natur als „Künstlerin“, die zielgerichtet operiert und nichts Sinnloses bildet; vgl. Chrysipp. Frgm. 1138 (τεχνικῶς ἅπαντα διαπλάττει), Chrysipp. Frgm. 1140 (μηδὲν ὑπὸ ϕύσεως γίνεσϑαι μάτην). Vgl. Aristot. pol. 1252b: „Die ϕύσις eines jeden Dinges ist das, was ein jedes Ding als Endergebnis seines Werdens ist (τῆς γενέσεως τελεσϑείσης)“. Zur teleologischen Betrachtung des Menschen auch Epikt. diss. 3.1.3f.; 4.8.42; 11.9, 31 u. a. Siehe insgesamt Galens Schrift „De usu partium“. Vgl. Philo sacr. 98–100; vgl. auch Philo de fuga et inventione 170–172; Philo Quis rerum divinarum heres sit 121. Vgl. weitere Belege bei KÖSTER, Art. ϕύσις, 261f. Paulus ist in seinen Briefen ein solcher Zugang von der ϕύσις qua ϕύσις her nahezu gänzlich fremd; dieser Negativbefund deckt sich dabei mit dem in der Septuaginta, in der sich eine entsprechende Rede von der ϕύσις nur in wenigen späten Texten findet. Vgl. in LXX: 3 Makk 3,29; 4 Makk 1,20; 5,7f.25; 13,27; 15,13.25; 16,3; Weish 7,20; 13,1; 19,20. Vgl. den Überblick über die paulinischen Aussagen bei KÖSTER, Art. ϕύσις, 265–268; zum semantischen Spektrum des Naturbegriffs auch: ARZT-GRABNER u. a., 1. Korinther, 390f. Nach stoischer Auffassung ist der Haarwuchs vom Menschen nicht zu hemmen – wobei der „Weise“ andererseits nach stoischer Sichtweise die optische Vernachlässigung vermeiden soll (vgl. z. B. Sen. epist. 5.2). Zenon von Kition folgt dem κατὰ ϕύσιν, wenn er den natürlichen Haarwuchs als grundsätzlich gegeben ansieht; entfernt werden darf immerhin, was ‚lästig‘ ist; Musonius erkennt ganz ähnlich wie Galen im Bart des Mannes die Schutzfunktion und ein Identitätsmerkmal von Männlichkeit (HENSE 21; weitere Belege bei ZELLER, Brief, 362 Anm. 84). Nach Epikt. diss. 1.16.9–14 bieten die Haare zwar nur
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dahinterstehende Denken wird beispielhaft in Galens Werk „De usu partium“ erkennbar, welches den teleologischen Naturbegriff konsequent an allen Teilen des männlichen und weiblichen Körpers durchdekliniert.72 Nach Galen verfolgt die Physis dabei nicht nur eine funktionale, sondern auch eine ästhetische und eine soziale Intentionalität. So verleiht vor allem der Bart, weniger das Haupthaar, dem Mann ein zivilisiertes Äußeres und macht ihn gemeinschaftsfähig (Galen Us. part. 11,14). In Hinsicht auf die Haartracht der Frauen führt Galen dagegen aus, dass diesen aufgrund ihrer überwiegend häuslichen Existenz langes Haupthaar zur Zierde wie zum Schutz angemessen sei (ebd.). Zusammengefasst: Paulus argumentiert in 1 Kor 11 so, wie es in Einklang mit medizinisch-philosophischen Texten erwartet werden kann. Zugleich steht das Argument nicht im Vordergrund. 1 Kor 11,14 zeigt im Kontext: Paulus kann so argumentieren, aber er tut es in Rücksicht auf die Adressaten, und nicht an erster Stelle.
3.4.
Medikal-kulturelle Aspekte der Handlungsorientierung in 1 Kor 7
Fragen der Ehe von Männern und Frauen, ihrer Sexualität sowie die entsprechenden Fragen des Unverheiratetseins bzw. der „Jungfrauen“, d. h. der sexuellen Abstinenz., sind nicht allein dem juridischen Problemkreis oder dem Bereich der Ökonomie-Ethik zuzuordnen. Vielmehr haben sie auch besondere Konnotationen im Horizont der medikalen Kultur. Zwar orientiert Paulus seine Position zu Ehelosigkeit, Ehe, Unverheiratetsein und „Jungfräulichkeit“ in 1 Kor 7 erneut gewiss nicht am Gesichtspunkt der sanitas. Doch geht es hier im Horizont der städtisch-medikalen Kultur auch um ein Gesundheitsthema. Paulus bezieht unter ganz anderen Vorzeichen inhaltlich Stellung zu Themen, die es hier auch gibt. Es ergeben sich Berührungsflächen und mögliche Übergänge, die wiederum auch damit zusammenhängen, dass Fragen wie die der sexuellen Enthaltsamkeit in medizinischen und philosophischen Texten in teils enger Parallelität behandelt sind. 73 Dass Paulus im 7. Kapitel des
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πάρεργα der ϕύσις, zugleich können sie jedoch auch als σύμβολα ϑεοῦ angesprochen werden; nach 3.1.27–31 ist die Entfernung von Behaarung beim Mann contra naturam. Galens Hauptwerk zur Physiologie entstand zwischen 162 und 180. Zu Galens Zielsetzung des ἄριστον σῶμα vgl. BROCKMANN, Gesundheitsforschung, 141–154. Sogar Augenwimpern und Augenbrauen gelten dabei im 11. Buch als von der Physis planvoll und zielgerichtet gestaltet, behalten diese doch – im Unterschied zum übrigen Haarwuchs – stets dieselbe Länge und können in dieser Eigenart ihre natürliche Schutzfunktion am besten erfüllen (zu De usu partium 11.14 vgl. 10.7). Zu den philosophischen Ansätzen vgl. DODDS, Pagan; BROWN, Body; LEVEN, Art. Geschlechtsverkehr, 345f.; DEMING, Paul, 47–104. Zur antiken Wertung des Geschlechtstrie-
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1. Korintherbriefes die Alltagwirklichkeit nichtchristlicher Korinther mit im Blick hat, ist – vor allem im Zusammenhang der Mischehenproblematik – schon häufig festgestellt worden. Hierzu lediglich einige wenige Beobachtungen. a) In Fragen der Sexualität sind in medizinischen Texten74 „Natürliches“, „Notwendiges“ und „Nützliches“ bzw. „Gesundes“ angesprochen. Wenn ein Verhalten nützlich ist, muss es nicht eo ipso auch ebenso „gesund“ sein, so führt etwa Soran aus (Sor. Gyn. I 42: οὐ πάντως γε μὴν εἴ τι ὠϕέλιμόν ἐστιν, τοῦτο καὶ ὑγιεινόν). Die Zielsetzungen ärztlichen Handelns können kollidieren; eben darum bedarf es gerade im Bereich der Sexualität häufig der vorsichtigen Abwägung verschiedenster Argumente. Der Rat des Arztes muss verschiedene Fälle sorgfältig unterscheiden und ergeht häufig nur relativ und komparativ. Die wägend-komparative Sprache des Paulus in 1 Kor 7 kommt dem formal nahe. „Lehrmeinungen“, „Nützliches“ und „Gutes“ bzw. zu Präferierendes oder eher zu Vermeidendes werden in verschiedenen Anläufen bedacht und gewogen.75 b) Stellungnahmen hellenistisch-römischer medizinischer Texte zur Frage des Geschlechtsverkehrs – soll man ihn üben oder nicht bzw. wie häufig? – lassen sich in zwei Grundlinien differenzieren. Bereits in frühen hippokratischen Zeugnissen wird der Geschlechtsverkehr als für den Mann bedenklich
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bes: DELLING, Art. Geschlechtstrieb, 803–805. Vgl. die Belege bei a. a. O., 818–820, zum frühen Judentum. Von den frühen hippokratischen Texten an finden sich Aussagen über das Sexualverhalten differenziert nach Männern und Frauen; nach dem gender-Aspekt bemisst sich ihr Ort in der jeweiligen Literatur. – Sei es, dass es um die Zeugungs-Thematik geht, um die Vererbungslehre, um die Diätetik bzw. grundsätzlich um Männer- und Frauen-spezifische Leiden (vgl. CH Mulier. I und II; CH Virg.; CH Nat. Mul.; CH Steril.; CH Superf.; vgl. die Trias CH Genit.; Nat. Puer.; Morb. 4). Vorausgesetzt sind Annahmen über die differente Physis der Frau im Vergleich zu der des Mannes; humoralpathologisch betrachtet, besitzt der weibliche Körper eine Affinität zum Kalten und Feuchten; diese auch von Aristoteles vertretene Position wurzelt in frühen hippokratischen Ansätzen (siehe hierzu FÖLLINGER, Differenz, 18–55; zur antiken Gynäkologie: SCHUBERT/HUTTNER, Frauenmedizin). Vgl. zur Formulierung mit καλόν c. dat. u. inf. z. B. Alex. Trall. Ther. 2.57: καλόν ἐστι τοῦτῳ πρῶτον ἀποπλῦναι τὰ ὄμματα; καλόν c. dat. (vgl. 1 Kor 7,8) z. B. bei Galen San. tu. 6.54; vergleichendes κρεῖττόν ἐστιν (vgl. 1 Kor 7,9): Galen Ptis. 6.821; Meth. Med. 10.790; Orib. Coll. 1.15.3f.; zur ärztlichen Anweisung mit dem Verbum παραγγέλλειν (1 Kor 7,10): Alex. Trall. Ther. 2.83 u. a.; zum ärztlichen Urteilen als νομίζειν (vgl. 1 Kor 7,26): Galen Sect. 1.90; Us. Part. 3.85, 237, 351, 549 u. v. a.; zu κατὰ τὴν ἐμὴν γνώμην (1 Kor 7,40; vgl. 7,6: κατὰ συγγνώμην; 7,25: γνώμην δὲ δίδωμι) vgl. Galen comp. med. sec. loc. 12.433 (κατὰ τὴν ἐμὴν γνώμην); Galen anat. admin. 2.660 (κατὰ τὴν γνώμην); die Wendung κατὰ γνώμην schon CH Prisc. 1.15; CH Epid. 1.6; häufiger bei Galen; Ruf. Qu. med. 2,3.9. Zum ἐπαινεῖν und οὐκ ἐπαινεῖν des Paulus in 1 Kor 11,2.17.22 (außer Röm 15,11 nur hier in den anerkannt echten Paulusbriefen) vgl. Galen Temp. 1.587; Opt. corp. cons. 4.738 (οὐκ ἐπαινῶ); Anat. admin. 2.280.283; Orib. coll. med. 2.63.1; 5.1.19; Alex. Trall. Febr. 1.379 (ἐπαινῶ) u. v. a.
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eingestuft.76 Soran stellt fest, dass Männer, die keusch bleiben (μένειν), kräftiger als andere und größer seien und ihr Leben gesünder zu leben vermögen (Sor. Gyn. I 30: ῥωμαλεώτεροί τε τῶν ἄλλων εἰσὶ καὶ μείζονες καὶ ὑγιεινότερον διαβιοῦσιν). In der Regel wird dagegen in medizinischen Texten im Blick auf die Frauen anders herum geurteilt.77 Die Ausnahme bildet Soran, der auch den Frauen in jedem Fall die παρϑενία empfiehlt, da die Schwangere zwei Lebewesen ernähren muss, dies kaum vermag, und Schwangerschaften den weiblichen Körper ruinieren (Sor. Gyn. 1.30.42).78 In den Abschnitten seines Werkes über die „Jungfrauen“ verweist Soran auf die Frauen, die aufgrund des Dienstes gegenüber den Göttern Geschlechtsverkehr negiert hätten und aufgrund von Gesetzesbestimmungen bei der Jungfräulichkeit geblieben seien79; diese seien erkennbar weniger anfällig für Krankheiten. Nach Soran ist dauerhafte „Jungfräulichkeit“ folglich nicht nur den Frauen, sondern auch den Männern anzuraten (διόπερ ὑγιεινὴ μὲν ἡ διηνεκής ἐστιν παρϑενία καϑάπερ ἐπὶ τῶν ἀρρένων καὶ ἐπὶ τῶν ϑηλειῶν; Sor. Gyn. 1.32.3). Die andere Linie der medizinischen Bewertung von Enthaltsamkeit, ehelicher Verbindung bzw. Jungfräulichkeit lässt sich auf den Tugendbegriff der σωϕροσύνη bringen. Nach Celsus etwa ist Geschlechtsverkehr weder zu sehr zu begehren, noch zu sehr zu fürchten, er soll von Männern und Frauen in Maßen geübt werden (Cels. med. 1.1.4: „Concubitus vero neque nimis concupiscendus, neque nimis pertimescendus est“; vgl. Plin. nat. 28.58: „raritas eius utilior“; Plut. coniug. praec. 29).80 Im Hintergrund dieser Linie scheint dabei 76
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Nach dem Traktat CH De genitura 1.1 kommt der männliche Same „aus der gesamten im Körper befindlichen Flüssigkeit“ und setzt sich aus den besonders kräftigen Ingredienzien zusammen; durch Abgabe wird der Körper darum „schwach“ (vgl. ähnlich Galen Sem. [IV 512–592 KÜHN]). Die als gesund angenommene Mischung der Körpersäfte steht in Gefahr. Hinzu kommt, dass die dem Menschen eingepflanzte Körperwärme aus der der Balance geraten kann (vgl. im 3. Epidemienbuch [CH Epid. 3] die Fälle k und q [III 17]). In CH Nat. mul. 3; 8 u. a. wird Frauen im Fall verschiedenster Krankheiten zum Geschlechtsverkehr mit dem Mann geraten (vgl. CH Genit. 4.3). Auch nach Aristoteles ist Geschlechtsverkehr für Frauen grundsätzlich angeraten, da die Menstruation erleichtert werde (Aristot. GA 3.1.750b35–751a2). Ähnlich gilt Geschlechtsverkehr für Frauen bei Orib. Coll. 3.40–52; 6.37f. als gesund (6.37.4: „multa genera morborum primo coitu solvuntur […]“); Plin. nat. 28.44. Die Sichtweise in der hippokratischen Medizin ist dabei unverkennbar androzentrisch (vgl. hierzu PINAULT, Case, 129: Weibliche Gesundheit wird mit Geschlechtsverkehr und dem Austragen von Kindern begründet; dies rationalisiere „the deeply-rooted Greek perception of woman as ‚other‘, an alien creature apt to run wild if not ‘tamed’ and made subject to rational male society as a wife and mother“). Ob sich dieser Rat mit einer tatsächlichen Praxis verbunden hat, ist allerdings aus verschiedenen Gründen mindestens fraglich. Siehe hierzu PINAULT, Case, 130–132. Vgl. hierzu ARZT-GRABNER u. a., 1. Korinther, 287f. Vgl. die verschiedenen Regeln im Blick auf die „Gesundheit“ von Geschlechtsverkehr bei Cels. med. 1.1.4; vgl. 1.9.2; 10.1; 4.5.3. Auch Soran anerkennt das medizinische Argument, dass Geschlechtsverkehr in generellem Einklang mit der „Natur“ stehe, die auf Kontinu-
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Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum auch der Konflikt zwischen dem „Gesunden“ und dem „Notwendigen“ durch: Die Polis ist auf die Geburt von Kindern angewiesen.
Paulus begründet seine eigenen Ratschläge in 1 Kor 7 in Hinsicht auf sexuelle Enthaltsamkeit bzw. das Unverheiratetsein inhaltlich ganz anders (vgl. 1 Kor 7,7f.27f.). Viele seiner Argumente sind jeder griechischen und römischen heilkundlichen Perspektive völlig fremd, etwa der Aspekt einer πορνεία-limitierenden Funktion der Ehe (vgl. 1 Kor 7,9; vgl. 6,18f.) oder der der ungeteilten und „sorglosen“ Bindung an den Kyrios (vgl. 1 Kor 7,32–34 zu den unverheirateten Männern und Frauen).81 Zugleich gilt jedoch: Seine Haltung zu sexueller Enthaltsamkeit – die rezeptionsgeschichtlich oft als sperrig beurteilt wurde und neuzeitlich zahlreiche Verständnisschwierigkeiten aufgibt – ist im Horizont einer zeitgenössischen städtisch-medikalen Kultur kommunikabel und plausibel. Die wenigen Beobachtungen lassen sich so zusammenfassen: Von einem gebildeten Standpunkt aus betrachtet, sind die paulinischen Handlungsanweisungen in 1 Kor 7 anschlussfähig für diätetische Empfehlungen. Diese sind so gehalten, dass die mit ihnen aufgerufenen Vorstellungen und Rollenmerkmale die christliche Missionsgemeinde in einem städtisch-medikalen Umfeld nicht desintegrieren.82
3.5.
Diätetische Aspekte der διάκρισις τοῦ σώματος und das Problem der Ätiologie von Krankheit in 1 Kor 11,29f.
Beim ersten Schreiben an die korinthische Gemeinde handelt es sich um den einzigen Paulusbrief, der eine deutliche Anzahl von Kranken in einer Missionsgemeinde erwähnt. Die Verständnisprobleme von 1 Kor 11,29f. im Zusammenhang der Ausführungen über das Herrenmahl. sind zahlreich.83 Wir beschränken uns auch hier auf wenige Beobachtungen. 1 Kor 11,30 bietet eine dreigliedrige Aussage; die einzelnen Glieder bauen klimaktisch aufeinander auf. Der Begriff der ἀσϑενεῖς ist zunächst mehrdeutig;
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ierung des Lebens gerichtet sei (Sor. Gyn. 1.32). Im Blick auf die Männer wird der maßvolle Geschlechtsverkehr u. a. mit der Lehre vom „schädlichen Rest“ (περίττωμα; vgl. Aristot. GA 1.18.725b.8–12; 726a.11–13) begründet (vgl. zur Position des Rufus von Ephesos: PINAULT, Case, 127). Zu den religiösen Hintergründen und Implikationen von 1 Kor 7: MACDONALD, Women, 161–172. In eine ähnliche Richtung gehen die Erwägungen von LINDEMANN, der von einer „Art doppelter Loyalität“ der korinthischen Christen ausgeht, nämlich innerhalb ihrer Binnengruppe und zugleich gegenüber der „‚heidnische[n]‘ Alltagswelt, die für offenbar nicht wenige schon im engsten Familienkreis begann“ (DERS., Ekklesiologie, 81). Mit Recht schreibt FITZMYER, Corinthians, 447, zu 1 Kor 11,30: „In the history of the exegesis of 1 Corinthians, this verse has not had many interpreters“. Zu möglichen medizinalen Horizonten des Textes vgl. WEISSENRIEDER, Kranke, 239–268.
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er findet sich oft auch in medizinischen Texten, deckt aber – auch bei Paulus – ein beträchtlich weiteres Spektrum von „Schwäche“-Konnotationen ab.84 Dagegen stellt der an zweiter Stelle genannte Begriff ἄρρωστοι sicher, dass Paulus von Mangel an körperlicher Stärke (α-privativum) spricht.85 An dritter Stelle verweist Paulus auf die signifikante Zahl (so ist ἱκανοί hier aufzufassen) von Todesfällen. Akzentuiert ist insgesamt die Vielzahl von Fällen. 1 Kor 11,30 hat im syntaktischen Zusammenhang die Funktion, den vorausgehenden V.29 zu plausibilisieren (διὰ τοῦτο). Damit ergibt sich ein Zusammenhang zu der Aussage des Sich-zum-Gericht-Essens und -Trinkens; ein verkehrtes Essen und Trinken im Zusammenhang des Herrenmahls führt zum Gericht. Diese Aussage wird am Ende von V.29 konditional eingeschränkt: μὴ διακρίνων τὸ σῶμα. Der Begriff σῶμα in 1 Kor 11,29 ist polysem. Zunächst muss man die Frage, ob „Körper“ hier christologisch oder ekklesiologisch aufzufassen ist, nicht alternativ entscheiden.86 Vielmehr sind im Schnittfeld von 1 Kor 10,16f.; 11,23b–25 und dem 12. Kapitel beide Aspekte eng aufeinander zu beziehen. Es geht um die verfehlte Praxis der Korinther in Hinsicht ihrer Wahrnehmung und Beurteilung der leiblichen Gabe Christi im Mahl (vgl. 1 Kor 11,24), zu der im Sinn des Paulus der Aspekt der Gemeinschaft unmittelbar hinzugehört. Bezogen ist dieser doppelte Aspekt der „Leiblichkeit“ dabei zugleich auf das eigene körperliche Selbst. Das Ende von V.29 nimmt die unpersönliche Aufforderung der Selbstprüfung aus V.28 auf (δοκιμαζέτω δὲ ἄνϑρωπος ἑαυτόν) und leitet zu der – mit der gleichen Verbwurzel gebildeten – konditionalen Formulierung in der 1. Person Plural am Beginn von V.31 hin (εἰ δὲ ἑαυτοὺς διεκρίνομεν). D. h. die „Beurteilung des Leibes“ und die Selbst-Beurteilung stehen in einer engen Korrelation. Im Horizont medikaler Kultur führt eine solche Aussage in den Bereich der Diätetik. Fragen des rechten Verhaltens im Blick auf den „Körper“ im Zusammenhang der Thematisierung von „Essen“ und „Trinken“ bzw. von „Speise“ und πόμα (vgl. 1 Kor 10,3f.) werden in der antik-medizinischen Diätetik verhandelt. Diätetische Vorstellungen setzen dabei stets einen Zusammenhang von Tun – nämlich der lebensförderlichen Lebensweise – und individuellem oder sozialem Ergehen – nämlich Gesundheit oder Erkrankung – voraus. Damit kann im Text 84
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Vgl. die Derivate des Stammes ἀσϑεν- bei Paulus: Das Verb in Röm 4,19; 8,3; 14,1f.21 (v. l.); 1 Kor 8,11f.; 2 Kor 11,21.29 (bis); 12,10; 13,3f.9; Phil 2,26f.; ἀσϑένεια: Röm 6,19; 8,26; 1 Kor 2,3; 15,43; 2 Kor 11,30; 12,5.9 (bis).10; 13,4; Gal 4,13; ἀσϑένημα: Röm 15,1; das Adjektiv: Röm 5,6; 1 Kor 1,25.27; 4,10; 8,7.9f.; 9,22 (3x); 11,30; 12,22; 2 Kor 10,10; Gal 4,9; 1 Thess 5,14. Der Stamm ἀρρωστ- verweist auf Unwohlsein, Krankheit nicht nur in einem moralischen (vgl. so Xen. apol. 30.5; vgl. Xen. oec. 4.2), sondern in einem physischen Sinn. Vgl. zur Sinnnähe der Stämme ἀρρωστ- und νοσ- Diog. Laert. 7.115.3; Philo Opf. 150.2; Spec. leg. 1.167.4; Galen Plac. Hp. et Pl. 5.2.26, 28; Cris. 9.628.722 u. a. Zur Bezeichnung des Stammes für körperliche Krankheitsphänomene auch in den Papyri: ARZT-GRABNER u. a., 1. Korinther, 400f. Vgl. zum Möglichkeitsspektrum SCHRAGE, Brief, Teilbd. 3, 51; FITZMYER, Corinthians, 447.
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ein zunächst jüdisch gedachtes Erklärungsmuster (vgl. Hiob 22,1–11; 34,11; Spr 28,14.16f.; Sir 27,25–27; 38,9f.; 2 Makk 4,38; 9,5f.; 13,7f.; Jub 4,32; TestRub 1.7f.; TestSim 2.12f.; TestGad 5.9f.; Mk 2,9.11 par; Joh 9,2 u. a.) innerhalb der medikalen Kultur kommunikabel werden. Weiter: Medizinale Diätetik basiert auf dem seit den frühen hippokratischen Texten vorausgesetzten Mikrokosmos-Makrokosmos-Denken. Der menschliche Körper steht nach dieser Mikrokosmos-Makrokosmos-Relation in einer sympathischen Korrespondenz zur umgebenden Welt. „Beurteilungen“ von Körperzuständen richten sich damit nie lediglich auf ein isoliertes Selbst. 87 In 1 Kor 11,29f. kann vor einem solchen Hintergrund verständlich werden, dass Paulus tatsächlich keinen direkten ursächlichen Zusammenhang zwischen einer verfehlten Feier des Herrenmahls und der Erkrankung oder dem Tod einzelner Gemeindeglieder konstruieren möchte; vielmehr geht es um einen symptomatischen Zustand des Leibes in seiner Sympathie insgesamt. Die Annahme eines solchen medizinal-diätetischen Hintergrundes in 1 Kor 11 würde weiter an Plausibilität gewinnen, wenn die Korinther tatsächlich Erfahrungen mit Mahlzeiten im Zusammenhang der Asklepiosmedizin besaßen – wie in der Forschung von einigen geltend gemacht wird (s. o.). Allerdings unterscheidet sich das Körperkonzept von 1 Kor 11,29f. an einem entscheidenden Punkt von Vorstellungen medizinaler Diätetik, wenn Paulus es in einen direkten Zusammenhang zu Gerichtsvorstellungen bringt. Diese werden in V.31f. weiter differenziert und ausgeführt (die Wurzel κριν- findet sich sechsmal in 1 Kor 11,29–32). Mit der Vorstellung, dass die zahlreichen Krankheits- und Todesfälle auf ein göttliches Gerichtshandeln zurückzuführen sind, ist innerhalb der agonalen medikalen Kultur ein deutlich alternatives Konzept benannt.88 Von hier aus wären weitere Texte im 1. Korintherbrief zu befragen. Spielen medikal-physiologische Körperkonzepte auch in 1 Kor 15 eine Rolle – insbesondere bei der paulinischen Konzeptualisierung eines „geistlichen Körpers“ (1 Kor 15,44)? Die Frage berührt sich eng mit der, ob Paulus in 1 Kor 15 an stoi-
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Das in 1 Kor 11,30 avisierte Fehlverhalten interpretiert auch WEISSENRIEDER, Kranke, 260, auf dem Hintergrund medizinisch-diätetischer Anschauungen als „Handeln […] gegen alle ‚körperliche Vernunft‘“. Entsprechende Sympathievorstellungen begegnen in medizinischen und philosophischen Texten in sehr verschiedener Gestalt und mit unterschiedlicher Funktion; vgl. DIESTELRATH, Art. Körper, 509–512. Kreisförmig begriffen wird der menschliche Körper im Traktat CH Loc. hom.; die Schädigung eines Teils führt in diesem Kreislauf zur Schädigung des Ganzen (vgl. 3.20–4.4; vgl. CH Nat. hom. 7.37–43; CH Diae. 3.3–7 u. a.). Die medizinische Vorstellung, dass man den ganzen Körper therapieren muss, will man ein einzelnes Organ heilen, findet sich auch bei Plat. Charm. 156b.c: Nach ärztlicher Auffassung zeugt die Behandlung des Kopfes ohne die Einbeziehung des ganzen Leibes (ἄνευ ὅλου τοῦ σώματος) von großem Unverstand (156c). Zu den Gerichtsvorstellungen in 1 Kor 11,29–32 vgl. KONRADT, Gericht, 439–451.
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sche Vorstellungen anschließt.89 Insbesondere müsste man hier auf die pneumatische Medizin der Kaiserzeit eingehen, in der stoische Einflüsse besonders ausgeprägt sind.90 Manche der von Paulus in 1 Kor 15 gebrauchten Begriffe und Argumente begegnen auch im Zusammenhang medizinisch geprägter Texte. Dies betrifft zunächst die Vorstellung des πνεῦμα als Lebensquelle. Sodann findet die gleichnishafte Verbindung von menschlichen und pflanzlichen Körpern mit den Himmelskörpern in 1 Kor 15,36–4191 sowie die Differenzierung verschiedener „Fleisch“-Arten in 1 Kor 15,3992 Analogien in medizinischen Vorstellungen. Allerdings ist auch hier im paulinischen Text eine klare Grenze der Applikabilität markiert. Der „geistliche Leib“ von 1 Kor 15,44 ist medizinalen – sowie auch stoischen – Körperkonzepten inkommensurabel, insofern diese Natur und Leben engstens verknüpfen und von der Möglichkeit postmortaler bzw. eschatologischer Neuschöpfung durch Gott nichts wissen.
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Nach ENGBERG-PEDERSEN würde Paulus in 1 Kor 15 an ein stoisches Verständnis eines „bodily pneuma“ anschließen: DERS., Cosmology (a. a. O., 8–38; vgl. die Belege a. a. O., 213 Anm. 39; 217–219 Anm. 76). Der Begriff πνεῦμα spielt eine entscheidende Rolle schon in frühen hippokratischen Texten (vgl. z. B. CH Nat. hom. 5; 9; Flat. 3; 7; Aer. 3–6 u. a.); unterschieden wird dabei ein äußeres Lebenspneuma von einem „inneren“, „psychischen“ Pneuma (πνεῦμα ψυχικόν). In der pneumatischen Medizin der Kaiserzeit vollzieht sich ein Übergang von der hippokratischen Humoralpathologie zu einer Solidarpathologie, indem πνεῦμα körperlich-stofflich aufgefasst wird. Der Schulgründer der „Pneumatiker“, Athenaios von Attaleia, war Schüler des Poseidonios, von hier aus erklärt sich die Affinität insbesondere zur stoischen Sympatheia-Lehre. Auf die Analogiefähigkeit der menschlichen Körper und der Himmelskörper (οἱ ἄνω σώματα), Sonne, Mond und Gestirne, zueinander kommt Galen in De usu partium 4.358f. zu sprechen. CH Hebd. appliziert in einem ersten Teil eine Ordnung der Welt in Siebenerstrukturen auf den Menschen, setzt mit der Frage der Körperlichkeit von der vegetativen Physis her an und vollzieht dann den Übergang zu den Himmelskörpern. Diese werden in die Analogiekonstruktion einbezogen, welche menschliche Körperlichkeit und kosmische Körperlichkeit koordiniert. Der Zugang ist anthropozentrisch: Die Welt formt sich nach dem Menschen, nicht umgekehrt. Die den ersten 12 Kapiteln zugrunde liegende SiebenerSystematik wird dabei in sehr verschiedener Weise entwickelt. Das 5. Kapitel handelt von den menschlichen „Stunden“/Lebensaltern (vgl. Frgm. 19 DIELS von Solons Einteilung des menschlichen Lebens in 7-Jahres-Perioden; auch Philo kennt die Einteilung des Lebens in 7 Grundzäsuren (zur Frage der Philonischen Rezeption der Hebdomadenlehre in Opf. 40–42, die möglicherweise durch Poseidonios vermittelt ist: ROSCHER, Schrift, 104–111); siehe hierzu und weiteren Varianten WEST, Cosmology, 376f. Galen differenziert unterschiedliche „Fleisch“-Arten beim Löwen, beim Schaf und beim Menschen (Const. art. med. 9.1). Zugrunde liegt die Vorstellung vom unterschiedlich temperierten und flüssigkeitsgesättigten Körper. Siehe DEAN-JONES, Galen, 99f., 187f. Auf Empedokles (DIELS/KRANZ, Vorsokratiker, 31b98: ἐκ τῶν αἷμα τε γέντο καὶ ἄλλης εἴδεα σαρκός) verweist ZELLER, 1. Korinther, 509 mit Anm. 326.
348
3.6.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
Ausblick: „Krankheit“ des Paulus?
War Paulus selbst „krank“? Auf der Basis der bisherigen Ergebnisse soll am Ende diese alte Frage in einem Ausblick kurz angesprochen werden. In den unzähligen forschungsgeschichtlichen Versuchen einer „Diagnose“ der sogenannten „Krankheit“ des Paulus steckt zunächst das grundsätzliche methodische Problem: Literarische Konzeptualisierungen von Körperzuständen widersetzen sich per se Diagnosen, d.h. „ontologischen“ Dechiffrierungsversuchen.93 Das, was man in einer langen Forschungsgeschichte als ein physiologisches Phänomen diskutiert hat, ist vielmehr als ein literarisches Phänomen zu untersuchen: Unter den Bedingungen der medikalen Kultur der Kaiserzeit und ihrer Literatur geht es bei der Frage nach der „Krankheit“ des Paulus um die Frage des „kranken Autors“ bzw. richtiger: um die der Thematisierung von eigenen Körperzuständen im Brief. In der griechischen und römischen Briefliteratur der frühen Kaiserzeit – vor allem in den Briefcorpora – thematisieren Briefverfasser in vielfältiger Weise eigene Körperzustände. Beobachtungen zum eigenen körperlichen Ergehen werden als symptomatisch für grundsätzlichere Probleme und Themen konstruiert, sie können zum Ausgangspunkt der philosophia medicinalis werden. Verfasser nutzen die Paradigmatik des eigenen Körpers, um ihre tugendhafte Bewährung aufzuzeigen und sich als vorbildhaft zu präsentieren. Die Vorgeschichte, die Begleiterscheinungen und ggf. die ‚Heftigkeit‘ eines Leidens und auch die Begleitumstände der Therapie werden als Prüfungen dargestellt, welche der Verfasser aufgrund seiner Einsicht zu bewältigen vermag. Dabei ergibt sich eine ausgesprochene Affinität zur Philophronesis.94 Im Freundschaftsbrief erscheint die Sorge um den eigenen gefährdeten Körper und zugleich auch den des Freundes als Ausdruck der intimitas, welche der Bestimmung der eigenen Situation und entsprechenden Ratschlägen Tiefenschärfe verleiht. Vergleicht man entsprechende zeitgenössische Briefe mit denjenigen Schreiben des Paulus, die für die sogenannte „Krankheit“ des Apostels reklamiert werden, so ist festzustellen: Zum einen ist der Abstand auch hier ganz deutlich: Die Inkommensurabilität der Sprache des Paulus zu den Terminologien griechisch-römischer medizinaler Texte entzieht allen Versuchen den Grund, sein „Leiden“ in einer entsprechenden Systematik darzustellen. Es ist darum im methodischen Ansatz verfehlt, eine 93
94
Zu den älteren entsprechenden Dechiffrierungsversuchen vgl. den Überblick bei V. D. GOLTZ, Krankheit, 1–30 (Maltafieber, Epilepsie, Neurasthenie, Augenmigräne, Hysterie, Malaria u. a.); vgl. THRALL, Epistle, 814–818. In jüngerer Zeit erfreut sich die schon von H. Göbel, H. Isler und H.-P. Hasenfratz vertretene These einiger Beliebtheit, Paulus habe an einer Trigeminusneuralgie (so HECKEL, Dorn, 92) bzw. an Migräne-Anfällen (vgl. BECKER, Person, 132) gelitten. Mit ROSEN, Marc Aurel, 128; vgl. LUCHNER, Philiatroi, 254f.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
349
sogenannte „Krankheit“ des Paulus – von der er selbst auch terminologisch nicht spricht (νόσος bei Paulus auch hier fehlend; zur Wurzel ἀσϑέν- s. o. bei 1 Kor 11,30) – in eine Systematik zu bringen, wie sie sich der griechisch-römischen und dann der von Galen her kommenden neuzeitlichen Medizin verdankt. Schon die in der Forschungsliteratur immer wieder reklamierte Vorstellung eines chronischen körperlichen Leidens95 im Unterschied zu einer akuten Erkrankung ist den Texten des Paulus ganz fremd.96 Sodann ist deutlich, dass der Ort im Brief, an dem Paulus auf die Situation seiner selbst / seines Körpers zu sprechen kommt, von den vergleichbaren griechischen und römischen Brieftexten differiert. Weder der finale Briefzusammenhang des 2. Korintherbriefes (Kap. 10–13) noch der Galaterbrief sind vorrangig der Philophronesis zuzuweisen. Anders als in vielen griechisch-römischen Briefcorpora lässt sich in den Paulusbriefen weiterhin keine kohärente Geschichte eines eigenen körperlichen Leidens ermitteln. Es ist darum problematisch, wenn in den Forschungen zur „Krankheit“ des Paulus mit Regelmäßigkeit Texte wie Gal 4,13–15 und 2 Kor 12,7–9a im Sinne einer solchen Krankheitsgeschichte zusammengefasst werden.97 Solche Zusammenordnungen ergeben sich vielmehr zirkulär erst unter der apriorischen Annahme einer „Krankheit“ des Paulus. Ganz anders verhält sich dies z. B. in den Briefen Senecas, wo aufeinander folgende Schreiben in Hinsicht auf den Zustand des Verfassers oft deutlich aufeinander aufbauen und Bezug nehmen.98 Zum anderen gibt es aber auch hier bei Paulus Punkte, die für eine medikalkulturelle Perspektive anschlussfähig werden können. So wird im römischen Brief der Kaiserzeit die formula valetudinis im Briefpräskript vielfach zum Auslöser für die Thematisierung des eigenen Gesundheitszustandes.99 Diese leitet zu 95 96
97 98
99
So z. B. KLAUCK, 2. Korintherbrief, 93. Die „Leidenskonstruktion“ des Paulus folgt dabei keiner Vorlage, sondern bietet in 2 Kor 12 innerhalb der sog. Narrenrede eine ganz eigentümliche Mischung von jüdischen Interpretamenten – einer dämonologischen Deutung in Verbindung mit Gebetspraxis – und einem „Orakel“ (vgl. V. 9a), wie man es im Zusammenhang von Heilungswundern erwarten würde – in enger Abstimmung auf Leiden als Grundsignatur des Apostolates in der Sicht des Paulus (vgl. 1 Kor 2,2f.; 4,10–13; 2 Kor 4,8–12; 6,4–10; 11,21b–33; Gal 5,11; 6,17 u. a.). Siehe zur Verbindung des „Stachels im Fleisch“ mit dem folgenden Gebetsbericht innerhalb des Rahmens der „Narrenrede“ THRALL, Epistle, 806–825. So mit vielen anderen SEYBOLD/MÜLLER, Krankheit, 84. Vgl. z. B. Sen. epist. 54.1: „Longum mihi commeatum dederat mala valetudo; repente me invasit […]“. Seneca schildert in der Folge seine verschiedenen Leiden; an die Schilderung seiner Erstickungsanfälle (vgl. Sen. epist. 54.3, 6) schließt unmittelbar die in der Sammlung folgende epist. 55.1f. an (Verschleimung im Schlund, Atembeschwerden). Die Thematisierung des eigenen Körperzustandes kann dabei mit dem brieflichen ApousiaTopos zusammengreifen. So bei Fronto Ad M. Caesarem 3.20; 5.20.1, 25, 44f., 57–59, 61–64, 70. Zum Apousia-Topos: THRAEDE, Grundzüge, 117f.; LUCHNER, Philiatroi, 254. Weiter findet sich häufiger auch der Fall, dass ein Bericht über den Zustand des eigenen Körpers auf die parallele gesundheitliche Situation des Adressaten abgestimmt wird. Die Synchronisierung und Synkrisis von Körperzuständen ist Ausdruck der engen Verbundenheit und un-
350
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
entsprechenden Reflexionen im Proömium der Briefe hin, die dann wiederum verschiedenste philosophische Fragen im Briefcorpus nach sich ziehen können.100 In dieser Hinsicht lässt sich das Proömium des 2. Korintherbriefes vergleichen. Zwar gilt auch hier, dass die vom Apostel angesprochenen παϑήματα mehrdeutig bleiben und wiederum nicht „ontologisch“ auf eine „Krankheit“ festzulegen sind. Doch strukturell geschieht hier etwas zeitgenössischen römischen Freundschaftsbriefen Vergleichbares, wenn der Apostel in der Eingangseulogie des 2 Kor seine eigenen „Leiden“ aufs Engste mit denen der Gemeinde zusammenbindet und dies auf eine beinahe tödliche Gefährdung bezieht (vgl. 2 Kor 1,4–9).101
4.
Ergebnisse
Das Explicandum, von dem wir ausgingen, war A. VON HARNACKs Annahme, Paulus gehöre in die Anfänge der Entwicklung einer medizinalen Theologie, wie sie sich seit dem 2. Jahrhundert in immer beträchtlicherem Umfang bei den christlichen Vätern findet. Unser Ergebnis lautet negativ: Paulus gehört nicht zu diesen Ursprüngen. Das weitgehende „Schweigen“ des Paulus wird sprechend, vergleicht man es nicht nur mit hellenistisch-römischen Zeugnissen, sondern mit zeitgenössischen hellenistisch-jüdischen und auch rabbinischen Texten, in denen die
100
101
terstützt die Annahme, dass sich aus der Situation grundlegendere Einsichten ableiten lassen. Sen. epist. 27.1 beginnt z. B. mit der Situierung von Briefautor und Adressat in eodem valitudinario; vgl. Sen. epist. 78, in der Seneca mit der Thematisierung der Beschwerden des Freundes einsetzt (Schnupfen; Fieberanfälle; Nasenkatarrh), um sich im Folgenden als ein „Experte“ für dieses Krankheitsbild zu erweisen, welches er selbst erfahren hat. Vgl. auch Lib. epist. 13.1 (τῇ διὰ τὴν σὴν ἀρρωστίαν λύπῃ καὶ αὐτοὶ πεπτώκαμεν εἰς ἀρρωστίαν, τί γὰρ ἡμῖν ἡδὺ σοῦ γε ἀνιωμένου; [„Aus Betrübnis über Deine Erkrankung bin ich nun selbst Opfer einer Erkrankung geworden; denn was könnte mir angenehm sein, wenn es Dir gerade schlecht geht?“]). Seneca reflektiert diesen Zusammenhang paradigmatisch im Eingang von epist. 15.1f.: „Mos antiquis fuit usque ad meam servatus aetatem, primis epistulae verbis adicere: ‚si vales bene est, ego valeo‘. Recte nos dicimus: ‚si philosopharis, bene est‘. Valere enim hoc demum est; sine hoc aeger est animus: corpus quoque, etiam si magnas habet vires […]“. Vgl. KOSKENNIEMI, Studien, zur Konzentration auf Wohlbefinden und Gesundheit in den Papyrusbriefen (a. a. O., 128, 151–154); LUCHNER, Philiatroi, 247. Zur lateinischen formula vgl. BAUER, Paulus, 51 (zum Gesundheitswunsch: a. a. O., 45–48). Zur Verbindung von formula valetudinis und Thematisierung des eigenen Körperzustandes: Sen. epist. 12.1 („quocumque me verti, argumenta senectutis meae video […]“); vgl. 12.4; 26.1 („Modo dicebam tibi, in conspectu esse me senectutis; iam vereor, ne senectutem post me reliquerim […]“); vgl. weiter sehr verschieden: Sen. epist. 67.1f.; 84.1f.; 93.1f.; 96.1–3; 101.1–3; 104.1. Die Frage, ob man 2 Kor 1,8 auf eine „schwere, wahrscheinlich chronische Krankheit“ beziehen darf, entscheidet SCHMELLER, Brief, Teilbd. 1, 69f., im Sinne einer möglichen Lektüre – mit Hinweis auf 2 Kor 12,7. Vgl. BARRETT, Epistle, 64: „As good a suggestion as any is that Paul has been seriously ill”; KLAUCK, 2. Korintherbrief, 20.
Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
351
zeitgenössische medikale Kultur deutliche Wirkspuren hinterlassen hat und in denen gerade auch in bildhaft-theologischen Aussagen positiv an sie angeschlossen werden kann. Kann man an der von V. HARNACK postulierten These einer grundlegenden sanitas-Orientierung des Paulus selbst nicht anschließen, so ist gleichwohl festzustellen: Die medikale Kultur wirkt auf die paulinischen Gemeinden ein und bestimmt die briefliche Kommunikation mit. Die Briefe des Paulus führen also nicht – mit HARNACK – zur Wurzel der medizinalen Theologie seit dem 2. Jahrhundert, wohl aber gibt es in ihnen Resonanzen einer dominanten zeitgenössisch-städtischen Kultur. Die Textbeispiele aus dem 1. Korintherbrief zeigen ein eigenständiges Profil mit unterschiedlichen Sensibilitäten und Nuancen. Paulus rechnet, wie wir bei 1 Kor 12 sahen, mit Körperkonzepten, die der medikalen Kultur zuzuweisen sind; er kann Vorstellungen und Argumente dieser Kultur nutzen – tut dies freilich wie in 1 Kor 11,14 nur in additiver und nachgeordneter Hinsicht. Die Krankheitätiologie in 1 Kor 11,29f. wird für diätetische Sprache und diätetische Körperkonzepte anschlussfähig; dies ist zugleich die deutlichste Stelle, an der Paulus – auf dem Hintergrund der agonalen medikalen Kultur – ein alternatives Erklärungsmodell für „Krankheit“ benennt, wobei das Thema auch hier nicht im Vordergrund steht. Auch die „Fabel“ von 1 Kor 12 sowie auch die eschatologische Anthropologie von 1 Kor 15 zeigen klare Grenzen der Applikabilität physiologischer Körperkonzepte auf. In 1 Kor 7 kann Paulus sich dagegen zu den Geschlechterrollen so äußern, dass seine Verhaltensanweisungen innerhalb der städtischmedikalen Kultur plausibel werden und die korinthischen Christen in ihrer städtischen Alltagswirklichkeit nicht desintegriert werden. Dieses facettenreiche Bild lässt sich als Ausdruck der Vielbezüglichkeit der Lebenswirklichkeit der frühen Christen im städtischen Korinth interpretieren. Die Frage nach Resonanzen auf das medikale Umfeld zeigt Paulus dabei weniger auf der Suche nach einer einheitlichen theologischen „Lehr“-Position als vielmehr in Reaktion auf diese Vielfalt.102 Obwohl Paulus das medizinale Paradigma also von sich aus nicht wählt und bevorzugt und ihm die ihm inhärierenden anthropologischen und kosmologischen Vorstellungen grundsätzlich ungeeignet erscheinen, die Bedeutung des Christusgeschehens positiv zu explizieren, kommt er nicht umhin, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und ihnen auch Geltung zu verschaffen – weil diese Kultur die Struktur der zeitgenössischen Gesellschaft so stark bestimmt hat. So kann man abschließend sagen: Paulus ist kein ϕιλίατρος, seine briefliche Theologie keine „Religion der Heilung“, resp. sie ist nicht „Religion für die Kranken“. Seine Briefe zeigen jedoch indirekt, warum sich in nachpaulinischer Zeit 102
Siehe für eine vorsichtige und differenzierte Bewertung der theologischen Positionen der Korinther, die von Einheitspostulaten Abstand nimmt, ZELLER, Brief, 39–45. „Eine pneumatische Einheitsfront ist kaum anzunehmen“ (a. a. O., 43).
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Körperkonzeptionen im Corpus Paulinum
die theologia medicinalis als derart bestimmend erweisen konnte und in so erheblichem Ausmaß durchgesetzt hat, weit über Paulus hinaus.103
103
Gegenüber der von V. HARNACK in großer Linearität postulierten Entwicklung ist auch in der unmittelbaren Rezeption des Paulus im ältesten Christentum kein monolinearer Prozess festzustellen. Das Paulusbild des Lukas in der Apg lässt sich auch als eine Annäherung an den „taste for medicine“ der Zeit interpretieren (HOBART, Language; hierzu HENGEL/ SCHWEMER, Paulus, 18–26; vgl. zum dritten Evangelium: WEISSENRIEDER, Images). Im Vergleich zu Paulus fehlt beim lukanischen Paulus jedoch z. B. die „Körper“-Metaphorik. Unter dem Aspekt einer Annäherung des Paulus an die medikale Kultur der Zeit lässt sich möglicherweise auch die altkirchliche Tradition des Lukas als ärztlicher Begleiter des Paulus interpretieren. Siehe hierzu V. BENDEMANN, Art. Lukas, 646–657. Auch in den Deuteropaulinen (vgl. zu Eph 4,15f. LINCOLN, Ephesians, 262f.; SELLIN, Brief, 349–351 mit Anm. zu ἁϕή, συμβιβάζειν und ἐπιχορηγεῖν) und den Pastoralbriefen (zur Metaphorik der „gesunden Lehre“ auf dem Hintergrund des Traditionsbegriffs und der häreseologischen Ortsbestimmung: ROLOFF, Brief, 230–239; ENGELMANN, Drillinge; vgl. a. a. O., 364–432, zur Häreseologie) lassen sich die Befunde nicht einem geradlinig verlaufenden traditionsgeschichtlichen Prozess zuweisen.
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung des Leibes?1 1.
„Philosomatismus“ und anthropologischer „Holismus“?
Um 178 n. Chr. hat der heidnische Philosoph Kelsos in seinem ἀληθής λόγος eine äußerst scharfe Kritik des Christentums vorgetragen. Das Christentum ist nach Kelsos nicht in der Lage, seine Lehre gemäß dem λόγος, der Vernunft, zu begründen, insofern es von der ursprünglichen Weisheit in mehrfacher Hinsicht abgewichen und getrennt sei. Kelsos begründet diese Kritik historisch bzw. religionshistorisch: Schon Mose habe die ursprünglichen philosophischen Lehren zwar kennengelernt, sie jedoch nicht verstanden und verfälscht. Insofern aber das Christentum vom Judentum her stamme, setze sich in ihm der hier begonnene Degenerationsprozess fort. Unter den zahlreichen materialen Kritikpunkten am Christentum wie dem der Unbildung und Widersprüchlichkeit findet sich bei Kelsos auch die Reklamation einer in seinen Augen besonders unsinnigen Vorstellung: Der einer leiblichen bzw. fleischlichen Auferstehung. Die Christen sind in seinen Augen ein φιλοσώματον γένος, ein Leib- resp. Körperverliebtes Geschlecht (Orig. c. Cels. VII 36: εἴ τι καὶ ἐπαΐειν δύναται ὡς δειλὸν καὶ φιλοσώματον γένος; VII 39: Λέγει δ ἡμας εἶναι καὶ φιλοσώματον γένος – mit variierendem Bezug auf 2 Kor 5,16). Ihre Lehre bezeichnet Kelsos, der von der platonischen Prämisse des Gutseins Gottes und seiner Unterschiedenheit von allem Geschaffenen, Materiellen und mit Mängeln Behafteten her denkt, an anderer Stelle in dieser Hinsicht als dumm und einfältig (ἠλίθιον): „[…] und dass die vormals Gestorbenen, dass sie aus der Erde aufsteigen in dem gleichen Fleisch wie ehedem: geradezu die Hoffnung der Würmer! (καὶ τοὺς πάλαι ποτὲ ἀποθανόντας αὐταῖς σαρξὶν ἐκείναις ἀπὸ τῆς γῆς ἀναδύντας, ἀτεχνῶς σκωλήκων ἡ ἐλπίς.)
* 1
Ursprünglich erschienen in: Ph. DAVID/H. ROSENAU (Hg.), Auferstehung (Kieler Theologische Reihe 10) Berlin 2009, 81–120. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Christian-AlbrechtsUniversität am 30. April 2008. Der Vortragsstil wurde für den Druck im Wesentlichen nicht verändert. Die Zahl der nachgetragenen Anmerkungen ist eng limitiert; diese können und wollen die wissenschaftliche Diskussion der besprochenen Texte und Probleme in keiner Weise umfassend abbilden.
354
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ Denn welche Seele des Menschen könnte sich wohl einen verfaulten Körper wünschen? (Ποία γὰρ ἀνθρώπου ψυχὴ ποθήσειεν ἔτι σῶμα σεσηπός;) […] Denn welcher gänzlich verdorbene Körper/Leichnam vermag in seine Ursprungsnatur und in jene erste Zusammensetzung zurückzukehren, aus der heraus er Auflösung erfuhr? (ποῖον γὰρ σῶμα πάντῃ διαφθερὲν οἷόν τε ἐπανελθεῖν εἰς τὴν ἐξ ἀρχῆς φύσιν καὶ αὐτὴν ἐκείνην, ἐξ ἧς ἐλύθη, τὴν πρώτην σύστασιν;) […] Der Seele kann er (resp. Gott) sehr wohl ein unsterbliches Leben schenken (ψυχῆς μὲν αἰώνιον βιοτὴν δύναιτ᾿ ἂν παρασχεῖν) Aber Leichname sind, so sagt es (schon) Heraklit, verwerflicher als Mist (Νέκυες δέ, φησὶν Ηράκλειτος, κοπρίων ἐκβλητότεροι).“ (Orig. c. Cels. V 14).
Deutlich wird im Zusammenhang dieser scharfen Kritik, dass Kelsos auch darin platonisch denkt, dass er selbst die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele favorisiert, die die Gottesverwandtschaft des Menschen begründet und den menschlichen Körper nach dem Tod wie einen Kerker verlässt. Die christliche Position aber, deren Widersinnigkeiten Kelsos vor solchem Hintergrund scharf herausarbeitet, nahm er eingebettet in den Kontext einer bestimmten christlichen Rezeption wahr, im Rahmen einer bestimmten, sich entwickelnden Lehrgestalt des 2. Jahrhunderts. 1.
Tatsächlich war es, anders als man aus den isoliert betrachteten Formulierungen des Kelsos schließen könnte, im 2. Jahrhundert bereits in Ansätzen zu einer Synthese von christlichen und platonischen Vorstellungen gekommen, die theologiegeschichtlich immer weiter differenziert und entfaltet werden sollte. So wurde in Schriften der christlichen Apologeten ein Additionsmodell von (platonisch ausgelegter) immortalitas animi und (christlich begriffener) resurrectio mortuum vorgeschlagen. Insbesondere Tertullian verband beide Konzepte, indem er sich die Auferstehung der Toten als eine Ergänzung zur Unsterblichkeit der (getauften) Seele vorstellte. Im Tod kehre zunächst die Seele in die Welt ihrer jenseitigen Herkunft zurück resp. in den Hades (vgl. Lk 16,19–31), um dort bestraft zu werden. Eschatologisch, d.h. am Ende der Zeit erst, erfolge dann die leibliche Auferstehung des ganzen Menschen, der sonst im Jenseits unvollständig bliebe.2 Die Vorstellung der leiblichen Auferstehung hatte ihrerseits innerhalb der christlichen Traditionsbildung bereits eine längere und verzweigte Entwicklung durchlaufen bis zu derjenigen Gestalt, in der Kelsos sie als christliche Anschauung kennenlernte und bekämpfte. In Auseinandersetzung mit dem Mittelplatonismus, dann aber vor allem mit den Anfängen der Gnosis wurde die Fleischlichkeit der Auferstehung zum Schibbolet, zum entscheiden-
2
Die Vorstellung, dass die (unsterbliche) anima separata die resurrectio corporis als Ergänzung verlangt, hat eine sehr lange und komplexe Rezeptionsgeschichte in der mittelalterlichen Theologie und wirkt auch in die Neuzeit hinein. Zur Bandbreite der Konzeptionen: BREUNING Seele; HERRMANN, Unsterblichkeit.
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ
355
den Kriterium angemessener Rede über postmortales Ergehen. Die Leiblichkeit der Auferstehung, die nun prononciert im Sinne der Fleischlichkeit und Materialität zugespitzt wurde, richtete sich insbesondere gegen die gnostische These, nach der die Materie der Möglichkeit der Errettung/Erlösung nicht kompatibel sei (vgl. Iren. adv. haer. 11,11; Epiph. adv. haer. I 417: μὴ γὰρ εἶναι τὴν ὕλην δεκτικὴν σωτηρίας). Gegen die gnostische Abwertung der materiellen Welt und des Lebens galt es festzuhalten, dass sich Leib, Menschheit, Welt und Geschichte als von Gott geschaffene nicht in einem kritischen Hiatus befinden, aus dem lediglich das eigentliche Selbstsein des Menschen, die diesen mit dem göttlichen Bereich verbindende Pneuma-Seele, freizusetzen wäre. Abgekürzt gesagt entstand somit die materialistisch ausgelegte These einer leiblichen resp. fleischlichen Auferweckung, also diejenige Vorstellung, die Kelsos dann als Hoffnung der Würmer zu diskriminieren vermochte, im frühen Christentum erst spät als notwendige Gegenthese gegen die individuelle Eschatologie der Gnosis. 2.
Damit ist die Frage zu eröffnen: Wie steht es mit der Leiblichkeit der Auferstehung bzw. der Unsterblichkeit der Seele in den Gründungsdokumenten des ältesten Christentums? Was haben die neutestamentlichen Schriften selbst im Blick auf das postmortale Ergehen Einzelner und die eschatologischen Erwartungen zu sagen? Denn möglich wäre ja, dass die spätere massive Akzentuierung der Materialität und Fleischlichkeit des Auferstehungslebens, wie sie als „Philosomatismus“ den Spott des Kelsos auf sich gezogen hat, in solcher Gestalt und Stoßrichtung in den später kanonisierten Schriften noch nicht zu finden ist. Dies ist, wie wir sehen werden, in der Tat der Fall. Aus neutestamentlicher Sicht ist es darum als sachgerecht zu beurteilen, dass man im 20. Jahrhundert die Aussage im Apostolicum „ich glaube an die Auferstehung des Fleisches“ in ökumenischer Verständigung zurückgenommen hat auf die Aussage: „ich glaube an die Auferstehung der Toten“. Zu solcher Verständigung war es allerdings ein weiter Weg. Es ist lehrreich, in diesem Zusammenhang an die Position des Neutestamentlers OSCAR CULLMANN zu erinnern, der seinerzeit in der Festschrift für Karl Barth zum 70. Geburtstag (später in erweiterter Fassung publiziert) in einem viel diskutierten Beitrag den Antagonismus von biblischem Osterglauben und platonischer Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele auf die Spitze getrieben hat.3 Die Grundthese CULLMANNs spielt bis heute – ausgesprochen oder unausgesprochen – eine Rolle. Er beklagte, man habe in der Christenheit 1 Kor 15 und damit Paulus dem platonischen Phaidon geopfert (12), nach dem der Tod „der große Befreier“ sei, der „die Seele aus dem Gefängnis in ihre ewige Heimat“ zurückführe (23). Tatsächlich handele es sich bei der platonischen und der paulinischen Lehre jedoch um zwei „diametral
3
CULLMANN, Unsterblichkeit (Seitenzahlen im Haupttext beziehen sich hierauf).
356
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ entgegengesetzte“ (11) Größen. Es könne keinen größeren Kontrast geben als den zwischen dem platonischen Sokrates und Jesus (27–29, 64). Dieser Kontrast aber sei von den Christen – so CULLMANN – selbst über Jahrhunderte vertuscht worden. Dies habe zu einem „der größten Missverständnisse des Christentums“ geführt (19), schließlich dazu, dass der „Durchschnittschrist“ bis heute die beiden Lehren – die des Paulus und die des Platon – nicht mehr auseinanderhalten könne (12). Gegen solches katastrophale Missverständnis insistierte CULLMANN, obwohl er an einigen Stellen doch eine gewisse Nähe des Neuen Testaments zu griechischen Lehren einräumen muss, darauf, dass die jüdisch-christliche Auffassung, wie sie bei Paulus vorliege, „allen griechischen Dualismus zwischen Körper und Seele“ ausschließe (35). Paulus gehe es vielmehr – anders als bei den Griechen – immer um die Zukunftshoffnung für den „ganzen Menschen“ in seiner Körperlichkeit und Leiblichkeit. Entsprechend muss die Leiblichkeit als entscheidendes Kriterium für jedes orthodoxe Verständnis der Auferstehung gelten. Man kann so bei CULLMANN ein – allerdings durch theologiegeschichtliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gebrochenes – Echo des altkirchlichen Schibbolet bzw. des von Kelsos so angesprochenen Philosomatismus vernehmen. Angesichts der Durchschlagkraft und Nachhaltigkeit entsprechender Positionen auch innerhalb der Theologie ist es notwendig und sinnvoll, vor einer genaueren Beschäftigung mit ausgewählten neutestamentlichen Texten noch einmal die kritischen Einwände summarisch zu benennen, die auf der Basis der jüngeren exegetischen Diskussion gegen CULLMANN festzuhalten sind und die einen recht weit gehenden wissenschaftlichen Konsens beschreiben. Gegen eine diastatische Position, wie CULLMANN sie vertritt, ist geltend zu machen:
a) CULLMANN hat sowohl das biblische Zeugnis als auch die in sich sehr verschiedenen jüdischen Vorstellungen sehr stark homogenisiert. Gerade in den vergleichbaren frühjüdischen Texten begegnet dagegen eine erhebliche Bandbreite der Konzepte, die sich einfacher Einordnung in Entwicklungsschemata und Versuchen sachlich-theologischer Gewichtung gegenüber als sperrig erweisen. Ein einheitliches frühjüdisches Grundkonzept, von dem her sich neutestamentlich-eschatologische Texte eo ipso erschließen, ist nicht benennbar. b) Insbesondere sind Vorstellungen von postmortalem Leben und eschatologischer Erwartung im frühen Judentum keineswegs notwendig auf ein leibliches Geschick bezogen. „Leiblichkeit“ ist im frühen Judentum, besonders dort, wo man auch Zeugnisse des hellenistischen Judentums mit würdigt, eben nicht die unverwechselbare und allein notwendige Voraussetzung für die
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ
357
Rede von postmortalem bzw. jenseitigem Leben, Vollendungserwartung und Auferstehung. c) Damit hängt eng zusammen: Die Annahme einer generell jüdischen Texten zugrundeliegenden holistischen Anthropologie – also der These: der Mensch werde in seiner Leiblichkeit und allen seinen Lebensfunktionen immer als unteilbar Ganzer angesprochen – ist zwar im Ansatz zutreffend, stellt auf die Fülle der Texte und Zeugnisse gesehen gleichwohl eine erhebliche Simplifikation dar. Besonders in hellenistisch-jüdischen Texten begegnen uns sehr verschiedene Vorstellungen einer polaren oder partitativen Anthropologie dort, wo es um eschatologisches oder postmortales Ergehen geht. d) Auch im Blick auf die neutestamentlichen Texte, in Sonderheit Paulus, kann die undifferenzierte These einer holistischen Anthropologie den Blick für konkrete Textbefunde verbauen. Bei Paulus sieht die Feststellung, dass der Mensch – in der Tat – als ganzer Leib ist, Herz ist, Seele ist, Fleisch ist etc. unbestreitbar Richtiges. Zugleich kann der Apostel jedoch seine anthropologischen Begriffe auch bipolar, bisweilen sogar dualistisch bzw. dichotomisch auslegen.4 Leiblichkeit ist paulinisch und darüber hinaus frühchristlich betrachtet nicht die nonsubstituierbare Möglichkeitsbedingung der Rede von postmortaler Lebenshoffnung und Auferstehung. e) CULLMANN hat schließlich nicht nur die frühjüdische und die frühchristliche Sichtweise, sondern auch das platonische Konzept simplifiziert. In der weit gespannten Geschichte griechisch-römischer Literatur beschreibt die Psychologie Platons zudem keineswegs dasjenige Modell, das überall zugrunde gelegt werden darf. „Seele“/ψυχή kann in vielen Texten bis in neutestamentliche Zeit hinein das menschliche Leben in seiner Ganzheit und unverwechselbaren Identität bezeichnen und ist nicht eo ipso partitativ im Zusammenhang einer dualistischen (oder trichotomischen) Anthropologie zu begreifen.5 Was die Verwendung des Seelen-Begriffs im Zusammenhang von 4
5
Vgl. zuletzt THEIßEN, Erleben, 76–95. Grundlegend zur jüdischen Sichtweise: STEMBERGER, Leib. Ein Beispiel für eine landläufige Vorstellung von griechischer Seelenkonzeption zuwiderlaufende Verwendung des Begriffs ψυχή bietet schon der erste Beleg in Homers Ilias I 1,3 am Ende des 8. Jh. v. Chr.: „Den Zorn singe Göttin des Peleus-Sohns Achilleus, den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte und viele kraftvolle Seelen der Helden dem Hades vorwarf (πολλὰς δ᾽ ἰφθίμους ψυχὰς Ἄιδι προΐαψεν ἡρώων), sie selbst aber (αὐτοὺς δέ) zur Beute schuf den Hunden und den Vögeln zum Mahl (ἑλώρια τεῦχε κύνεσσιν οἰωνοῖσί τε πᾶσι) […]“. Hier erfolgt eine eigentümliche Disjunktion über Kreuz: Die Seelen der Helden werden dem Hades überantwortet. Diese Aussage könnte zunächst an die Vorstellung eines eigentlichen „Selbst“ in ihren von den Körpern gelösten ψυχαί denken lassen; dieses „Selbst“ wird jedoch im Folgenden anders in dem αὐτοὺς δέ identifiziert: Die Helden selbst werden, als Tote des Lebens beraubt, von Achill den
358
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ Jenseitsvorstellungen und postmortalen Erwartungen angeht, so begegnet uns in der griechisch-römischen Welt ein Kosmos sehr verschiedenartiger Anschauungen. Cicero gibt im 1. Buch seiner „Tusculanae disputationes“ einen enzyklopädischen Überblick über entsprechende antike Positionen in Hinsicht auf die Unsterblichkeit oder Vergänglichkeit der „Seele“. Vor einer weiteren und genaueren Differenzierung und Zuordnung zu einzelnen Autoren heißt es: „Es gibt Leute, die der Meinung sind, der Tod sei die Trennung der Seele vom Leib. Es gibt aber auch welche, nach deren Ansicht keine Trennung stattfindet, sondern nach denen Seele und Leib gemeinsam zugrunde gehen. Von denen, die der Ansicht sind, dass die Seele sich trenne, sagen die einen, sie zerfließe sofort, andere, sie halte sich lange, wieder andere, sie halte sich immer. Was die Seele selbst sei, oder wo sie sei bzw. woher, darüber herrscht eine große Meinungsverschiedenheit.“ (Cic. Tusc. I 18: „sunt enim qui discessum animi a corpore putent esse mortem; sunt qui nullum censeant fieri discessum, sed una animum et corpus occidere, animumque in corpore extingui. qui discedere animum censent, alii statim dissipari, alii diu permanere, alii semper. Quid sit porro ipse animus aut ubi aut unde, magna dissensio est.“)
Der Cicero-Text vermag den Blick für ein weiteres gravierendes Problem zu schärfen: Mit seiner Rede vom „animus“, den wir im Deutschen mit „Seele“ übersetzt haben, stellen sich für einen Römer andere Konnotationen ein, als die neutestamentlichen Verfasser als aber auch wir Heutigen sie mit dem Begriff „Seele“ verbinden. Die Verständigung über anthropologische Begriffe wie „Leib“, „Seele“ und „Geist“ im Zusammenhang von Fragen der postmortalen und eschatologischen Erwartung gestaltet sich reziprok zu bestimmten soziohistorisch, kulturell und religiös dependenten Konstrukten von Körperlichkeit. Einzelne und Gruppen konzeptualisieren ihre Vorstellungen des menschlichen Körpers ausgehend von eigenem Körpererleben und Körpererfahrungen, zugleich jedoch in der Verbindung mit kulturspezifischem Wissen und Konzepten. Begriffe für den Körper und seine „Teile“ verweisen damit nicht auf quasi ontologisch-anthropologische Gegebenheiten, sie können nicht zeitübergreifend und quasi allgemeingültig gefasst werden. Dieses Problem betrifft die Interpretation aller im folgenden behandelten Texte, sie betrifft das Zeugnis des Neuen Testaments insgesamt und seine weitere Diskussion. Grundsätzlich ist hier mit der Möglichkeit zu rechnen, dass das, was die eine Interpretationsgruppe unter „Leib“ begreift, auf der anderen Seite „Seele“ heißen könnte etc. 3.
Festzuhalten ist damit: Es gibt kein präformiertes Konzept, keinen Generalschlüssel für das Verständnis frühchristlicher Texte, die mit Fragen postHunden und Vögeln zum Fraß vorgesetzt. Vgl. ähnlich auch Hom. Il. XXIII, 105. Siehe zum Seelenglauben und -kult bei Homer klassisch RHODE, Psyche, Bd. 1, 1–67. Vgl. den Überblick über die griechischen Begriffe von DIHLE, Art. ψυχή κτλ., 605–614.
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mortalen oder eschatologischen Ergehens umgehen. Ferner will keiner der frühchristlichen Texte, um die es im Folgenden geht, so etwas wie eine „Lehre“ vom Leben nach dem Tod entwerfen. Alle neutestamentlichen Texte sind in konkrete kommunikative Problemstellungen eingebettet, sie sind jeweils auf ihre literarische Funktion im konkreten Zusammenhang zu befragen. Unsere Aufgabe, der wir uns im Folgenden stellen, besteht darum darin, konkrete Texte besser und möglichst genau verstehen- und kennenzulernen. Angesichts der überwältigenden Anzahl von möglichen Texten im frühen Christentum, die in solcher Hinsicht zu befragen wären, beschränken wir uns dabei auf eine bestimmte Textgruppe – nämlich auf die Briefe des Paulus. Eine letzte Vorbemerkung ist hierzu noch erforderlich: Die im Folgenden – auswahlweise – besprochenen Texte6 rechtfertigen die immer wieder geäußerte Annahme einer Entwicklung in den Konzepten postmortalen und eschatologischen Auferstehungslebens bei Paulus nicht. Insbesondere ist die bis in jüngere Zeit von einigen vertretene These einer sukzessiven Hellenisierung der Vorstellungen des Paulus im Blick auf postmortale Lebenshoffnungen und eschatologische Erwartungen nicht stichhaltig zu begründen. Mit der Hinfälligkeit einer Wandlungs- oder Entwicklungshypothese besteht also keine Notwendigkeit, die im Folgenden behandelten Texte in ihrer – hypothetischen – Entstehungsreihenfolge anzuordnen (wobei ohnehin einige Unsicherheiten blieben). Auch können wir Fragen der Lokalisierung einzelner Schreiben – dies betrifft vor allem den Philipperbrief – sowie die Diskussion von Teilungshypothesen (im Fall von Phil und 2 Kor) zurückstellen. Vielmehr gliedern wir unter dem Aspekt zugrunde liegender Konzepte nach sachlichen Gesichtspunkten. Wir setzen mit dem 1. Kapitel des Philipperbriefs ein, einem Text, in dem die Frage der eigenen, individuellen postmortalen Zukunftshoffnung des Apostels im Vordergrund steht. Danach wenden wir uns dem schwierigen Fall von 2 Kor 5 zu, einem Text, der häufig als der am stärksten griechisch geprägte unter den paulinisch-eschatologi6
Ausgeklammert wird 1 Thess 4,13–18, wahrscheinlich der früheste Paulustext zum Themenkreis eschatologischer Erwartung. Vgl. hierzu (auswahlweise) HAUFE, Brief, Teilbd. 1, 77–88. In diesem Text wären einige Probleme der weiteren Diskussion würdig. So wären die (klassisch von E. Peterson für die ἀπάντησις vorgeschlagenen) politischen Bezüge des Textes im Verbund des gesamten 1 Thess genauer aufzuarbeiten (vgl. hierzu CRÜSEMANN, Briefe, 206–219). Für die uns beschäftigende Frage einer anthropologischen Differenzierung im postmoralen/eschatologischen Geschick ist der an der kollektiven Zukunft der Gemeinde orientierte Text anders als 1 Kor 15 jedoch vergleichsweise unergiebig. Im Text ist am Ende nicht klar, ob die eschatologische Christusgemeinschaft im Luftraum oder auf der Erde zu denken ist – 1 Thess 4 hat an einer präzisen Aufhellung der Lokalität kein Interesse, Fluchtpunkt ist die unverbrüchliche Christusgemeinschaft der nicht mehr in Tote und Lebende differenzierten Gemeinde.
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ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ schen Texten gilt. Von hier aus wenden wir uns dann dem prominenten Ostertext in 1 Kor 15 zu, einem ,Lehrtext‘, in dem Paulus der korinthischen Gemeinde – auf Anfrage bzw. Information hin – Begründung und Auskunft bezüglich Fragen ihrer Zukunftshoffnung über den Tod hinaus gibt.
2.
Die Koinzidenz von Sterben und postmortaler Christusgemeinschaft (Phil 1,18b–26)
In Phil 1 findet sich ein besonderes Konzept individuell-postmortaler Vollendungserwartung des Paulus im Blick auf seine eigene Person. Paulus aktiviert in Phil 1,23 eine Vorstellung der Koinzidenz von Sterben und postmortalem Heil. Zunächst ist es notwendig, die uns besonders interessierenden Aussagen in Phil 1,20–23 in den brieflichen Eingang des Schreibens nach Philippi einzubetten, um so der Aussageintention des Paulus auf die Spur zu kommen. Sodann fragen wir nach den zugrundeliegenden Vorstellungen und ihren möglichen religionsgeschichtlichen Bezugspunkten, um abschließend ein Fazit im Blick auf die Ausgangsfrage nach der Konzeptualisierung postmortalen Lebens zu ziehen. 1.
Nach einem ungewöhnlich langen Prooemium, das die besondere Beziehung des Paulus zur Gemeinde von Philippi widerspiegelt (vgl. Phil 1,7), setzt der Apostel die Adressaten in Phil 1,12–26 in brieflicher Selbstempfehlung über seine Situation als Gefangener in der Haft in Kenntnis. Alle folgenden Ausführungen über das persönliche Geschick des Paulus beanspruchen dabei nur insofern Geltung, als sie zugleich engstens mit dem „Evangelium“ und seinem „Fortgang“ (προσκοπή) verbunden sind. Seine Haft, so sieht es Paulus, hat nämlich zur vermehrten Christusverkündigung geführt. Von seiner Gefangenschaft ist ein missionarischer Impuls in Richtung der christlichen Gemeinde ausgegangen, auch wenn der Text zu erkennen gibt, dass es offenbar diesbezüglich Kontroversen gegeben hat.
2.
Erst in einem zweiten Schritt geht Paulus nach dieser Integration seines persönlichen Geschicks in den übergeordneten und umfassenden Fortschritt des Evangeliums ab Phil 1,18b auf die Erwartung seiner eigenen Zukunftsperspektiven ein. Paulus gibt der in der Fürbitte der Gemeinde und in der Ausrüstung (ἐπιχορηγία) mit dem Geist Jesu Christi begründeten Gewissheit Ausdruck, dass ihm seine Lage – so oder so – zur σωτήρια gereichen wird, d. h. zur eschatologischen Rettung. Er qualifiziert somit seine Lage keineswegs als verzweifelt oder hilflos. Dies markiert der Subjektwechsel vom Apostel zu Christus, der in aller Offenheit (ἐν πάσῃ παρρησίᾳ ὡς πάντοτε καὶ νῦν) groß resp. mächtig gemacht/verherrlicht wird (μεγαλυνθήσεται.), und
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zwar am Apostel (ἐν τῷ σώματί μου). In Hinsicht auf dieses Groß- und Mächtigwerden Christi am Apostel unterscheidet Paulus am Ende von Phil 1,20 zwei Möglichkeiten: „Sei es durch Leben, sei es durch Tod“ (εἴτε διὰ ζωῆς εἴτε διὰ θανάτου). Im Kontext der Gefangenschaft des Paulus verweist diese Alternative einerseits auf die Möglichkeit des Freikommens des Apostels aus seiner Haft oder andererseits auf den denkbaren negativen Ausgang seines Verfahrens und damit seinen kommenden Tod. Die Gleichgewichtigkeit der in dieser Alternativformulierung benannten Möglichkeiten muss Paulus notwendig näher begründen. Er tut dies, indem er in Phil 1,21 betont seine eigene Interpretation seines Geschicks expliziert (welches möglicherweise von anderen anders interpretiert wurde). Er fasst hier den griechischen Begriff ζωή weit, so dass er sich für die Perspektive eines postmortalen Lebens öffnen kann. „Leben“ wird synonym und koinzidiert mit (dem erhöhten) „Christus“, und eben darum – so kann die Verbindung mit „und“ interpretiert werden – ist Sterben für ihn Gewinn (Ἐμοὶ γὰρ τὸ ζῆν Χριστὸς καὶ τὸ ἀποθανεῖν κέρδος.). 3.
An die Identifikation von „Leben“ und „Christus“ in Phil 1,21 knüpft dann 1,23 mit der Aussage der postmortalen Christusgemeinschaft an. Hier tritt der unter den so weit getroffenen Voraussetzungen denkbare Tod in Gestalt der Möglichkeit eines aktiven Verlangens (ἐπιθυμία) nach dem Sterben in den Blick: „[…] und was ich wählen soll, weiß ich nicht. Von beiden Seiten werde ich ja bedrängt: ich habe Verlangen danach, aufzubrechen (so) mit Christus zu sein; [denn] das wäre bei weitem besser (Phil 1,22f.: καὶ τί αἱρήσομαι οὐ γνωρίζω. συνέχομαι δὲ ἐκ τῶν δύο, τὴν ἐπιθυμίαν ἔχων εἰς τὸ ἀναλῦσαι καὶ σὺν Χριστῷ εἶναι, πολλῷ [γὰρ] μᾶλλον κρεῖσσον·)“
Wie kommt Paulus zu dieser Aussage und was besagt sie? Paulus rechnet hier, anders als im selben Brief in Phil 3,11, wo er dezidiert von der Zielperspektive der eschatologischen Totenauferstehung spricht (εἴ πως καταντήσω εἰς τὴν ἐξανάστασιν τὴν ἐκ νεκρῶν), mit der Möglichkeit, durch seinen individuellen Tod – d. h. unmittelbar postmortal – in die Gemeinschaft Christi zu gelangen. Das „und“/καί in Phil 1,23 ist explikativ: Das Mit-Christus-Sein expliziert das Sterben. Hierbei handelt es sich um eine in den Paulusbriefen zunächst singuläre Vorstellung. Diese darf nicht von der sakramentalen Aussage des Mitsterbens mit Christus in Röm 6 her interpretiert werden (vgl. Röm 6,3: ὅσοι ἐβαπτίσθημεν εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν, εἰς τὸν θάνατον αὐτοῦ ἐβαπτίσθημεν). Im Kontext von Phil 1 legt sich vielmehr nahe: Paulus greift hier auf das im frühen Judentum entwickelte martyrologische Konzept der postmortalen Rettung/Lebensperspektive für gewaltsam getötete Fromme/ Gerechte zurück. Die Aktivierung eines entsprechenden Konzepts ist in der Situation der Gefangenschaft plausibel, in der Paulus mit der Möglichkeit eines negativen
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ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ Ausgangs seines Verfahrens sowie eines gewaltsamem Lebensendes rechnen muss. Zu vergleichen sind diesem Konzept insbesondere Aussagen des 2. und 4. Makkabäerbuches.7 Entsprechende Vorstellungen einer postmortalen Lebensperspektive für Gerechte/Fromme/Märtyrer finden sich dann nach Paulus auch in weiteren christlichen Texten. Beispielsweise nutzt Lukas sie in seiner Gestaltung der Passionsgeschichte Jesu (vgl. Lk 23,43) oder in der Erzählung vom gewaltsamen Tod des Stephanus in Apg 7 (vgl. 7,55–60).
4.
Die Basis für philologisch exakte Entsprechungen zu Phil 1,23 in frühjüdischen Quellen ist allerdings schmal, eine genaue „Vorlage“ oder Entsprechung findet sich in zeitgenössisch jüdischen Texten nicht. Dies kann den Blick für die besonderen griechischen Sprachformen und Vorstellungen in Phil 1 schärfen – die nicht gegen das wahrscheinlich zugrunde liegende jüdische Konzept auszuspielen sind. So fällt auf, dass Paulus mit Phil 1,21 auf eine in der griechischen Literatur, insbesondere der Tragödie (aber auch darüber hinaus; vgl. Plat. apol. 40 C/D vom Tod als Gewinn, wäre dieser qualitativ empfindungsloser Schlaf u. a.), verbreitete Sentenz vom Sterben als Gewinn rekurriert. Bei Aischylos verzweifelt Prometheus an seiner Situation: „Was also ist mir Leben (noch) für ein Gewinn?“ (Aischyl. Pr. 747: τί δῆτ᾽ ἐμοὶ ζῆν κέρδος […];) Die Sophokleische Antigone kann im Blick auf ihr Schicksal feststellen: „Wenn ich nun vor der Zeit sterbe, nenne ich das einen Gewinn. Wer nämlich in (so) vielen Übeln lebt wie ich, wie wird der nicht sterbend (den Tod) als Gewinn tragen?“ (Soph. Ant. 462–464: Εἰ δὲ τοῦ χρόνον πρόσθεν θανοῦμαι, κέρδος αὔτ᾽ ἐγὼ λέγω. ὅστις γὰρ ἐν πολλοῖσιν ὡς ἐγὼ κακοῖς ζῇ, πῶς ὅδ᾽ οὐχὶ κατθανὼν κέρδος φέρει;) Und die Euripideische Medea bilanziert ihre desolate Lage: „Was ist mir Leben (noch an) Gewinn? Weder habe ich (noch) ein Vaterland, noch ein Haus, noch (Aussicht auf) Abwendung von Übeln.“ (Eur. Med. 798f. [Text unsicher]: ἴτω· τί μοι ζῆν κέρδος; οὗτε μοι πατρὶς οὔτ᾽ οἶκος ἔστιν οὔτ᾽ ἀποστροφὴ κακῶν; vgl. Eur. Med. 145; Eur. Herc. 1301)
Für die Adressaten in Philippi steht Paulus damit in einer Reihe klassischer Gestalten an einem verzweifelten und scheinbar ausweglosen Kulminationspunkt kritischen Geschicks. Paulus übernimmt jedoch nicht den eskapistischen Sinn der Formulierung: Sterben ist ihm nicht Gewinn, weil es die bedrängende Lebenssituation suspendierte, vielmehr ergibt sich ihm der Ge-
7
2 Makk 7,9–11.14.22f.35f.; 14,46; 4 Makk 17,17–19; 18,3; 13,17; vgl. Weish 3,1–6; 4,7–19 u. a. Vgl. die Überblicke über die verschiedenen frühjüdischen Vorstellungskreise bei BECKER, Auferstehung, 182–208; NICKELSBURG, Resurrection, 23–218; ZEILINGER, Auferstehungsglaube, 28–78. Siehe ferner (mit weiterer Literatur) AVEMARIE/LICHTENBERGER (Hg.), Auferstehung; BIERINGER u. a. (Hg.), Resurrection; CAVALLIN, Leben, 240–345; DAVIS u. a. (Hg.), Resurrection; EKLEDGE, Life; FISCHER, Eschatologie; MÜLLER, Entstehung; PORTER u. a. (Hg.), Resurrection.
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winn auf der Grundlage des geweiteten Lebensbegriffs von der erwarteten Christusgemeinschaft her. In Phil 1,23 lässt der im Deutschen häufig mit „abscheiden“ übersetzte Infinitiv Aorist ἀναλῦσαι nach der zugrunde liegenden Vorstellung fragen. Dem transitiven Grundsinn nach bedeutet das Verb ἀναλύειν (bei Paulus nur hier) „auflösen“; im Lateinischen entspricht dem „dissolvere“ (vgl. die Vulgata: „Coartor autem e duobus: desiderium habens dissolvi, et cum Christo esse, multo magis melius“). In der Antike begegnet das Verb ἀναλύειν in der Kosmologie, genauer der Diskussion der Elemente, aus denen die Welt entsteht und in die sie sich wieder auflöst (von der Auffassung der feurigen Zusammensetzung der Welt und der Wiederauflösung ins Feurige: Herakl. Test. 140; Emp. Test. 31,5; 32,5; Anaximenes Frgm. 2,3; Poseidonios Frgm. 277,1/Kleomedes 6,11-25 u. a.; Poseid. Frgm. 289,6 u. a.). Damit könnten sich beim absoluten Gebrauch des Verbums bei hellenistischen Lesern durchaus materialistische Konnotationen einstellen: Die Aussage des „Auflösens“ in Verbindung mit dem Sterben lässt an die Rückkehr des Menschen in seine „particula“ denken. Näher liegt allerdings in Phil 1,23 die im Griechischen zur Zeit des Neuen Testaments bereits verfestigte intransitive Bedeutung von ἀναλύειν (im Hintergrund möglicherweise ursprünglich die Vorstellung des Lösens/Lichtens der Anker): „abreisen“, „aufbrechen“ (im Neuen Testament so Lk 12,36). Im Zusammenhang des Todes wird damit gegebenenfalls (es ist auch an einen Aufbruch in den Hades zu denken) ein Euphemismus formuliert: Wer stirbt, bricht aus dieser Welt an einen anderen, besseren Ort auf. In diesem Sinn lässt sich das Verb auch auf zeitgenössischen Grabinschriften nachweisen. Hier finden sich Formulierungen, nach denen, wer stirbt, zu den Göttern oder in ein jenseitiges „Haus“ aufbricht, in dem dem Toten ein Platz reserviert ist. Dabei ist die Rede vom ἀναλῦσαι nicht eo ipso auf die platonische Vorstellung festzulegen, dass im Tod die Seele aus dem Gefängnis des Leibes aufbricht.8 Zuletzt ist im Blick auf Phil 1 noch festzuhalten, dass Paulus den Wunsch der „Abreise“ sogleich zurückstellt. Obwohl ihm sein Sterben im Licht der in Aussicht stehenden Christusgemeinschaft als die weit bessere Möglichkeit erscheint, entscheidet er sich doch dafür, lieber weiterleben zu wollen – um der Gemeinde willen. Im Hintergrund dieser Aussage des Paulus kann man den hellenistischen Topos des verantwortungsvollen Philosophen oder Staatsmanns erkennen, der noch im Angesicht des Todes an seine Mitmenschen denkt und ihrem Wohlergehen Priorität zuschreibt. Schon Caesar soll nach Sueton gesagt haben, es sei weniger in seinem als im Interesse des Staates, dass er am Leben bleibe (Suet. Caes. 86f.).
8
Das Verb ἀναλῦσαι ist von der ἀπόλυσις bzw. λύσις im Phaidon des Platon deutlich zu unterscheiden. Vgl. das Material bei PERES, Grabinschriften.
364 5.
3.
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ Ziehen wir ein kurzes Fazit: In Phil 1,20–23 greift Paulus in lebensbedrohlicher Situation wahrscheinlich auf das frühjüdische Konzept einer individuell-postmortalen Lebenserwartung für Märtyrer zurück und legt dieses zugleich auf die postmortale Christusgemeinschaft hin aus. Gegenüber den Philippern, die sich mit der Situation der Haft des Apostels auseinandersetzen, möchte er herausstellen, dass die Möglichkeit seines vorzeitigen Todes nicht zu fürchten ist. Diese Zielsetzung erfährt Unterstützung dadurch, dass Paulus auf sein Lebensende unter Nutzung von tugendethischen Begriffen und Topoi reflektiert, wie sie im Umfeld der antiken ars moriendi angesiedelt sind. Die in griechischer Erwartung im Zusammenhang des Todes verankerte Vorstellung der Lösung vom Leben bzw. des Aufbruchs dient ebenfalls dazu, der Leserschaft die Zuversicht des Paulus in Hinsicht auf sein vorzeitiges Ableben plausibel und kommunikabel zu machen. Wie die als Zielpunkt fixierte Christusgemeinschaft näherhin vorzustellen ist, wie Paulus sich die Modalitäten denkt, in ihren Genuss zu kommen, darüber gibt der Text keine Auskunft. Der religionsgeschichtliche Radius von Vorstellungen, an die eine spätantike Leserschaft bei dieser Aussage vom Sterben als Auflösen und Aufbrechen denken konnte, ist nicht zu eng zu ziehen. Negativ ist festzuhalten, dass die Alternativformulierung „Unsterblichkeit der Seele“ versus „Auferstehung des Leibes“ Phil 1 inadäquat ist. Von „Leibverliebtheit“/Philosomatismus kann in Phil 1 keine Rede sein. In Phil 1 sehnt Paulus sich danach, sein jetziges Leben, sein Leben und Bleiben im „Fleisch“ (vgl. 1,22.24), hinter sich zu lassen. Wenn er in diesem Zusammenhang für beide Möglichkeiten, sein Weiterleben wie sein Sterben, von einem künftigen Groß-/Mächtiggemachtwerden Christi an seinem „Leib“ spricht (1,20), dann ist diese Rede vom „Leib“/σῶμα nicht im Sinn fleischlicher Körperlichkeit zu interpretieren, sondern markiert die Selbigkeit und Identität des Paulus. Die Rede vom „Leib“/σῶμα hält fest, dass es in beiden Fällen, dem Leben wie dem Sterben, tatsächlich um den Apostel geht und niemand anderen, an dem die Macht Christi ansetzt und evident wird. In keinem Fall rechnet Paulus in Phil 1,20 mit einer Verherrlichung Christi an seinem Leichnam.
Der Tod als Zerstörung des hinfälligen Zelthauses und Emigration aus dem Leib (2 Kor 5,1–10)
Die ersten 10 Verse des 5. Kapitels des 2. Korintherbriefes stellen eine crux interpretum dar. Schon der große Neutestamentler H. J. Holtzmann stellte fest, dass sich die Deutungsvorschläge zu diesem Text in der Forschung eher als „Rateversuche“ darstellten. Die crux interpretum des konkreten Textes verbindet sich zu-
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dem mit den offenen Fragen, die der 2. Korintherbrief wie kein anderer der Paulusforschung nach wie vor aufgibt. Gleichwohl ist diesem Text im Zusammenhang unseres Themas nicht auszuweichen. Eingangs sagten wir, dass man ihn immer wieder für den „griechischsten“ unter den eschatologischen Texten des Paulus gehalten hat. Insbesondere das Verhältnis zu 1 Kor 15 hat die Forschung gerade in Hinsicht auf die Frage der „Leiblichkeit“ postmortalen/eschatologischen Lebens vor erhebliche Probleme gestellt. Es nicht möglich, im Folgenden diesen hoch komplexen Text vollständig auszuleuchten. Wir gehen so vor: An den Anfang stellen wir einige wenige Beobachtungen zu Struktur und Gefälle des Textes. Sodann nähern wir uns dem Text mit der Skizze einiger Vorschläge der Forschung zu seiner Erschließung. Schließlich sollen einige zentrale Perspektiven der Interpretation im Blick auf die übergeordnete Frage nach der Konzeptualisierung postmortalen Lebens benannt werden. 1.
2 Kor 5,1–10 bezieht sich auf das 4. Kapitel zurück. 2 Kor 5,1 setzt als Begründung des Vorausgehenden ein mit einer Aussage des Wissens (γάρ). Für den möglichen Fall eines Abbruchs des „irdischen Zelthauses“ – die Metapher ist hier anthropologisch ausgelegt – rechnet Paulus mit einem alternativen „Gebäude“ (οἰκοδομή; οἰκία). Dieses „Gebäude“ – ebenfalls nicht Metapher für eine himmlische Struktur bzw. einen entsprechenden Ort, sondern anthropologisch gewendet – wird in vierfacher Hinsicht besonders qualifiziert: Es ist „aus Gott“ (ἐκ θεοῦ), „nicht von Händen gemacht“ (ἀχειροποίητον), „ewig“ (αἰώνιον) und „in den Himmeln“ (ἐν τοῖς οὐρανοῖς). In 2 Kor 5,2–4 folgen zwei parallel gebaute „denn und“ / καὶ γάρ -Sätze, die vom Stöhnen/Seufzen (στενάζομεν) des Paulus im gegenwärtigen Zustand bzw. im (jetzigen) „Zelt“ (ἐν τῷ σκήνει) sprechen. Dieses Stöhnen weist dabei eine intentionale Zielrichtung auf (ἐπιποθοῦντες/θέλομεν); es ist daraufhin orientiert – und an dieser Stelle wird ein Wechsel im Metaphernfeld greifbar –, mit der himmlischen Behausung „überkleidet“ zu werden (ἐπενδύσασθαι; 2 Kor 5,2.4). Gebäude- und Bekleidungsmetaphorik sind in 2 Kor 5,2–4 eng aufeinander bezogen. Neben der Aussage des Sich-nochdarüber-Anziehens (ἐπενδύσασθαι) findet sich in 2 Kor 5,3 in einer syntaktisch äußerst schwierigen Aussage die Vorstellung der (mit der Entkleidung – ἐκδυσάμενοι/ἐκδύσασθαι – korrespondierenden) Nacktheit (γυμνοί). 2 Kor 5,5 verweist auf Gott als denjenigen, der Paulus „eben dazu“ (εἰς αὐτὸ τοῦτο) instand setzt – dies bezieht sich auf 2 Kor 5,4c zurück, die finale Aussage des Verschlungenwerdens des Sterblichen vom Leben –, und als Geber des „Angeldes des Geistes“ (ὁ δοὺς ἡμῖν τὸν ἀρραβῶνα τοῦ πνεύματος). 2 Kor 5,6ff. sind als Schlussfolgerung aus dem Vorausgegangenen zu verstehen (οὖν). Damit ist ein weiterer Abschnitt im Text markiert. Die participia coniuncta bzw. die übergeordneten Verben in V.6 und 8 bringen die Zuversicht, das Wissen und die Befriedigung/das Wohlgefallen des Paulus
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ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ zum Ausdruck. Diese richten sich jetzt auf einen Vorgang, der mit dem in 2 Kor 5,6-8 neuen Metaphernfeld des δῆμος, des Landes, des Volkes, der Heimat, beschrieben wird (der Stamm fünfmal in 2 Kor 5,6.8f.). In V.6–9 begegnet dreimal die semantische Opposition des „Einheimischseins“ und der „Emigration“ (ἐνδημοῦντες ἐν τῷ σώματι ἐκδημοῦμεν ἀπὸ τοῦ κυρίου / μᾶλλον ἐκδημῆσαι ἐκ τοῦ σώματος καὶ ἐνδημῆσαι πρὸς τὸν κύριον / εἴτε ἐνδημοῦντες εἴτε ἐκδημοῦντες). In V.6 und 8 stehen dabei der „Leib“ und der „Herr“ parallel nacheinander, die Aussagen des Daheimseins und der Emigration bilden dagegen einen Chiasmus. 2 Kor 5,9 beschreibt den Übergang zu einer ethischen Applikation (διὸ καί): Ob daheim oder ausgebürgert (εἴτε ἐνδημοῦντες εἴτε ἐκδημοῦντες) – es kommt darauf an, ihm / dem Kyrios wohlgefällig zu sein. Mit der Zielsetzung des „Wohlgefälligseins“ (dem Herrn) öffnet sich der Text für eine Handlungsperspektive, die dann mit der forensischen Aussage in 2 Kor 5,10 abschließend begründet wird (γάρ).
2.
Wie soll man sich der fremden Sprachgestalt dieses Textes angemessen nähern? Da die Paulusforschung in Hinsicht auf 2 Kor 5 von konsensfähigen Lösungen gegenwärtig deutlich entfernt ist, scheint es sinnvoll, eine begrenzte Auswahl vorgeschlagener Zugänge zunächst knapp zu skizzieren. Für diese gilt insgesamt, dass sie die eigentümliche und spannungsreiche Verbindung metaphorischer Konzepte („Zelthaus“/„himmlisches Gebäude“/„Bekleidung“/„Nacktheit“/„Einheimischsein“/„Emigration“/„Richter stuhl“) in den zehn Versen zu erklären suchen. Mehr oder weniger scheitern jedoch alle bisherigen Lösungen an zwei Problemen, a) ein homogenes religionsgeschichtliches Subkonstrukt dieser Metaphernkonzepte benennen zu können, und damit eng verbunden, b) die rhetorische Eigenart und Funktion von 2 Kor 5,1–10 im Rahmen der sogenannten Apologie, der Verteidigung des apostolischen Dienstes, in 2 Kor 2,14–7,4 präzise zu bestimmen, die unter der Frage der „Eignung“ des Paulus (2 Kor 2,16b: ἱκανότης) steht. Ein erster Zugang sucht den Text von den früheren Ausführungen des Paulus in 1 Kor 15 her zu vermessen und zu erschließen. Er ist – sehr abgekürzt beschrieben – dadurch gekennzeichnet, dass die chronologische Struktur (der ,apokalyptische Rahmen‘) von 1 Kor 15 gewissermaßen über 2 Kor 5 gelegt wird. Mit Ausnahme von 2 Kor 5,10 finden entsprechende Interpretationen im Text von 2 Kor 5 aber keinen echten Anhaltspunkt. Dieses Erklärungsmodell rechnet zugleich damit, dass – von 1 Kor 15 her gewonnene – „Leiblichkeit“ auch in 2 Kor 5 das eigentliche Thema des Paulus sei (s. u. Pkt. 4.). Ein zweiter Zugangstypus, der mit dem ersten überlappen kann, rechnet – auch hier nur wieder knapp und abgekürzt nachgezeichnet – mit einer Entwicklung oder Wandlung im „Denken“ des Paulus. 2 Kor 5 kann dann als später Ausdruck akuter Hellenisierung und somit als eine Art Wasserscheide in der theologischen resp. eschatologischen Denkentwicklung des Paulus be-
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griffen sein. Wir sagten bereits eingangs (s. o. Pkt. 1.), dass dies eine in mehrfacher Hinsicht problematische Konstruktion ist. Die Annahme von Entwicklungen oder Wandlungen erweist sich häufig auch insofern als eine Scheinlösung, insofern sie nicht von der Aufgabe entbinden kann, den vorliegenden Text zunächst einmal zu verstehen. Entsprechende Rückfragen betreffen ähnlich auch einen dritten Interpretationszugang. Dieser rechnet mit einer Auseinandersetzung des Paulus mit Gegnern. Diese können dann Platoniker sein oder auch Protognostiker o.ä. Demgegenüber ist jedoch ernst zu nehmen, dass im Text selbst und auch im engeren Kontext – anders als in 1 Kor 15,12, wo „einige“ Auferstehungs„leugner“ genannt sind – keine Opponenten erwähnt sind. Und auch aus dem Briefganzen des 2 Kor ist nicht zu entnehmen, dass die Gegner in ihre Kritik am Apostel eine eigene Position im Blick auf postmortales oder eschatologisches Ergehen integriert haben. Ein vierter Zugangstypus sucht den Text 2 Kor 5 gewissermaßen vom Ende her aufzurollen. Innerhalb der verschiedenen metaphorischen Konzepte wird also eine Hierarchie gebildet, und das Motiv des Gerichts (das Offenbarwerdenmüssen vor dem βῆμα Christi) gilt dann als das bestimmende. So kann die Auffassung vertreten werden, Paulus wolle in 2 Kor 5,1–10 insgesamt sein Unterwegssein zum Richterstuhl Christi zur Darstellung bringen, vor dem er als Apostel Rechenschaft zu geben hat. Damit scheint der Text in seiner besonderen Sprachkompetenz jedoch wenig ernst genommen. In 2 Kor 5,1ff. ist von einem Gericht nach den Werken zunächst gar nicht die Rede. Ein fünfter Interpretationstypus stellt die Gestalt des Apostels, der sich verteidigen muss, ins Zentrum. So werden jüngst die paulinischen Ausführungen in 2 Kor 5 – vergleichbar den Beobachtungen, die wir oben an Phil 1 angestellt haben – in den Horizont der antiken ars moriendi gerückt.9 Paulus verteidige sich (im weiteren Kontext der „Apologie“), indem er auf Topoi der antiken Sterbekunst Bezug nehme. In der hellenistischen Literatur der Kaiserzeit, besonders auch in der biographischen Literatur werde deutlich und sei vorausgesetzt: Der Charakter einer Person trete nirgends so klar zutage wie angesichts seines individuellen Sterbenmüssens. Im Angesicht des Todes zeigt sich die Charakterstärke oder -schwäche einer Persönlichkeit, können Eloquenz, Mut und Tapferkeit auf der einen, Schwächlichkeit und Schande im Tod und nach dem Tod auf der anderen Seite zutage treten. Schwächlich und schändlich, schändlicher noch als Geld- und Habgier, ist beispielsweise die Philopsychia, das Sich-Klammern an sein Leben, die Unfähigkeit, im richtigen Augenblick von seinem Leben lassen zu können. Insgesamt gehe es im Text um eine Verteidigung der „Ehre“ des Paulus unter den 9
So VOGEL, Commentatio. Siehe hier auch die ausführliche Forschungsgeschichte zum Text: a. a. O., 15–27.
368
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ besonderen Vorzeichen der Thematisierung seines Umgangs mit seinem individuellen Tod als äußerstem Grenzfall der Niedrigkeit der apostolischen Existenz (vgl. 2 Kor 4,10). Mit solchem Vergleich lassen sich in der Tat Motive im Text präziser beschreiben, und die funktionale Einbindung von 2 Kor 5 wird verständlicher. Doch fragt sich, ob der Aspekt des ἦθος / des Charakters in 2 Kor 5 wirklich in dieser Weise dominiert.
3.
Mustert man im Licht der zur Diskussion stehenden Deutungen den Text von 2 Kor 5, so ist festzuhalten: 2 Kor 5,1–10 handelt nicht von der eschatologischen Erwartung aller Christen, sondern vom Geschick des Paulus. In 2 Kor 5,1 blickt Paulus auf den Punkt des Abbruchs seiner persönlichen, individuellen Existenz. Es geht um den Apostel. Die Wir-Aussagen sind zunächst auf ihn zu beziehen; auch 2 Kor 5,6–8 wollen zunächst nicht allgemeine Aussagen über den Fremdlingsstatus der Christen in der Welt treffen. Anders als im Philipperbrief (s. o. Pkt. 2.) ist die kommunikative Situation dabei nicht die der Gefangenschaft, sondern die der Notwendigkeit der Verteidigung. Paulus muss sich in 2 Kor 2,14–7,4 mit Vorwürfen nicht allein inhaltlicher Art auseinandersetzen, sondern seine Person, seine Erscheinung, seine defizitäre Redegabe, sein Dienst etc. insgesamt stehen in der Kritik. Dass die Verteidigung des Apostels im 5. Kapitel bestimmend bleibt, zeigt die Fortführung des Textes in 2 Kor 5,12, wo Paulus zwar zurückweist, er wolle sich selbst empfehlen, dagegen jedoch festhält, er wolle der Gemeinde Gelegenheit geben, ihn zu rühmen (οὐ πάλιν ἑαυτοὺς συνιστάνομεν ὑμῖν ἀλλ’ ἀφορμὴν διδόντες ὑμῖν καυχήματος ὑπὲρ ἡμῶν […]), vor allem aber auch die Verzahnung mit dem vorausgehenden 4. Kapitel, wo die beiden Sinnlinien des Vernichtetwerdens, Verfolgtwerdens, der Bedrängnis, des Sichtbaren auf der einen Seite, und die des Ewigen, Unsichtbaren und der Herrlichkeit auf der anderen Seite bzw. die in 2 Kor 5,7 beschriebene Alternative von Glauben und Schauen vorbereitet sind. Ganz deutlich ist damit auch, dass es in 2 Kor 5 um das individuelle Sterben und die individuelle postmortale Erwartung geht, nicht um die Endereignisse bei der Parusie. Der ,apokalyptische Rahmen‘ von 1 Kor 15 darf nicht in 2 Kor 5 eingetragen werden. Auch der Finalsatz am Ende von 2 Kor 5,4 blickt nicht auf die Parusie voraus. Erst 2 Kor 5,10 zeigt am Ende, dass Paulus kollektiv-eschatologische Konzepte auch hier nicht einfach suspendiert. Die Aussage verweist auf 2 Kor 4,14 zurück, auf die Rede von der Auferweckung mit Christus als dem Auferweckten (εἰδότες ὅτι ὁ ἐγείρας τὸν κύριον Ἰησοῦν καὶ ἡμᾶς σὺν Ἰησοῦ ἐγερεῖ καὶ παραστήσει σὺν ὑμῖν). Nur ist diese eschatologisch-kollektive Konzeption 2 Kor 5,1–10 nicht insgesamt zu oktroyieren, sie dient am Ende der Verstärkung der Applikation des Vorausgegangenen. Zuletzt ist eine Antwort auf die Frage zu geben, wie „griechisch“ die individuell-eschatologischen Aussagen von 2 Kor 5 sind, d. h. abgekürzt auf die
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Forschungsdiskussion bezogen: wie sehr sie sich der Vorstellung einer Trennung von Leib und „Seele“ im Tod annähern bzw. wie sehr sie umgekehrt gerade auf die Gewinnung einer neuen „Leiblichkeit“ hinzielen. Bis in die jüngste Kommentarliteratur zum Text hinein findet sich die Auffassung, 2 Kor 5,1–10 diene genau „einem Argumentationsziel […]“, nämlich dem Nachweis, „dass eine Auferstehung ohne Leib nicht gedacht werden“ könne. „Ganz im Vordergrund“ stehe „die Erwartung eines neuen Leibes […]“, nach dem Paulus seufzend verlange.10 Ein Hauptargument finden entsprechende Positionen (über die Interferenz von 1 Kor 15 hinaus) in der Bekleidungsmetaphorik im Text bzw. in der Sorge des Paulus vor der Nacktheit (2 Kor 5,3). Die Sehnsucht nach einem Überkleidetwerden setze einen Leib voraus, der überkleidet werden könne. Die οἰκοδομή, mit der Paulus überkleidet zu werden wünscht, avanciert zum Gebäude eines neuen Leibes. Gegen entsprechende Interpretationen sind allerdings schwerwiegende kritische Fragen geltend zu machen. Paulus spricht in 2 Kor 5 explizit nicht von einer Identifikation der Überkleidung / der Behausung mit einem Leib (bis einschließlich Vers 5 ist von σῶμα nicht die Rede). Auch das Nichtzu-Schauende in 2 Kor 5,7 darf vom Text her nicht einfach mit „Leiblichkeit“ besetzt werden. Zu entsprechender Interpretation gelangt man meist, indem man den – allerdings nicht explizit angesprochenen – Gesprächspartnern des Paulus in Korinth eine bestimmte religionshistorische Position unterstellt, auf deren Vorstellungen und Begrifflichkeit sich Paulus im Text sehr weitgehend einlasse (sie hierbei jedoch eigentlich nicht teile). Diese Position ähnelt dann in den Interpretationen oft derjenigen, die man für den anderen Text in der korinthischen Korrespondenz, nämlich 1 Kor 15, voraussetzt. Damit wird der Weg dafür frei, die Position des Paulus in 2 Kor 5 mit der in 1 Kor 15 abzugleichen und den Text als eine Art klärendes Nachwort zu 1 Kor 15 zu behandeln. Wir stellten jedoch bereits fest, dass dies angesichts der erheblichen Unterschiede beider Texte kaum gelingen kann. Dass in 2 Kor 5 korinthische Stichworte eine Rolle spielen, kann man dagegen nicht ausschließen, allerdings aus dem Text auch in genauem Profil nicht sicher erweisen. Eine „philosomatische“, auf einem bestimmten Verständnis von 1 Kor 15 gründende Interpretation dessen, was Paulus selbst in 2 Kor 5 sagt, scheitert in jedem Fall spätestens an 2 Kor 5,6–8. Hier ist ausdrücklich von der gewissen Zuversicht des Paulus die Rede, aus dem Leib auszuwandern/ausheimisch zu werden. Dem steht nicht etwa ein neuer Leib gegenüber, sondern vielmehr das Einheimischsein beim Kyrios. Der Leib bleibt nach 2 Kor 5,6–8 im Tod zurück, aus ihm erfolgt die Emigration: „Indem/da wir nun allezeit guten Mutes sind und wissen, dass wir vom Herrn entfernt/ausheimisch in der Fremde sind, indem/solange wir unser Daheim im Leib haben – denn wir wandeln im/durch Glauben und nicht im/durch Schauen –; wir haben aber guten 10
So GRÄSSER, Brief, 182, 201. Anders etwa WALTER, Auferstehung, 109–127.
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ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ Mut und wollen lieber ausheimisch aus dem Leib werden/aus ihm emigrieren und daheimsein/immigrieren hin zum Herrn“ (Θαρροῦντες οὖν πάντοτε καὶ εἰδότες ὅτι ἐνδημοῦντες ἐν τῷ σώματι ἐκδημοῦμεν ἀπὸ τοῦ κυρίου· διὰ πίστεως γὰρ περιπατοῦμεν, οὐ διὰ εἴδους· θαρροῦμεν δὲ καὶ εὐδοκοῦμεν μᾶλλον ἐκδημῆσαι ἐκ τοῦ σώματος καὶ ἐνδημῆσαι πρὸς τὸν κύριον)
4.
Wir brechen die Interpretation hier in dem Wissen ab, dass beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht alle Textaussagen befriedigend zu erhellen sind. Festhalten kann man in Kürze: 2 Kor 5 handelt – Phil 1 vergleichbar – zunächst von Paulus (mit Ausnahme des applikativen Schlusses), nicht von allen Christen oder allen Menschen, auch in 2 Kor 5 geht es nicht um eine Auferweckung am ‚jüngsten Tag‘ o. ä., sondern um eine besondere Form postmortaler Erwartung. 2 Kor 5,1–10 ist im Horizont der Apologie des Dienstes des Paulus zu verstehen. Die besonderen und fremden Metaphern im Text haben zu zahlreichen Fragen Anlass gegeben, beispielsweise derjenigen, ob Paulus hier mit einem ,Zwischenzustand‘ rechnet. Im Text von 2 Kor 5,1–10 sind sie jedoch möglicherweise weniger durch eine kohärente Idee vom postmortalen Geschick oder auch durch ein entsprechendes homogenes religionsgeschichtliches Subkonstrukt verbunden als vielmehr dadurch, dass sie soziale Identität anzeigen. Durch Kritik an seinem Dienststatus herausgefordert, lenkt Paulus den Blick weg von seiner jetzigen, irdisch-vergänglichen Gestalt verlangend und sehnend in Richtung einer jenseitigen und zeitlichen Bedingungen nicht unterworfenen Beheimatung seines Selbst und damit einer neuen Identität und eines neuen Status. Paulus nähert sich dabei in 2 Kor 5,6–8 einer dichotomischen resp. dualistischen Konzeption stark an, die mit einem Zurücklassen des leiblichen Lebens im Tod rechnet. Dies erinnert an die hellenistische Vorstellung, dass Menschen Fremdlinge auf Erden sind und der Tod den ersehnten Auszug aus dem Leib bringt (zur Vorstellung der nackt in den Hades gehenden bzw. nackt vollendeten Seele vgl. Plat. Gorg. 524B–D; Phaidr. 67C–E; Krat. 403B; Sen. Marc. 25,1 u. a.). Im Vergleich hierzu wäre in 2 Kor 5 ein entscheidender Differenzpunkt festzuhalten: Der Text setzt keinen göttlichen Seelenanteil des Menschen voraus, denkt nicht von der Kontinuität her; vielmehr entspricht es jüdischem Denken (und ggf. frühchristlichen Vorgaben), wenn Paulus an der Gelenkstelle in 2 Kor 5,5 als Möglichkeitsgrund für das Verschlingen des Sterblichen durch das Leben die Gabe des Geistes als „Angeld“ benennt. Die Möglichkeit der Perspektive auf ein himmlisches Zuhause und eine himmlische Neubekleidung ergibt sich durch ein kontingentes Geschenk Gottes, nicht durch anthropologische Verfasstheit als solche. Auch im Blick auf 2 Kor 5 muss man sich insgesamt jedoch hüten, vorschnell griechische Vorstellungen als solche gegen alttestamentliche und frühjüdische auszu-
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spielen (vgl. z. B. zum den Geist belastenden „irdischen Zelt“: Weish 8,15; zur Rede vom „Emigrieren aus dem Leib“: TestAbr 1,24; 15,21 u. a.).
4.
„Geistlicher Leib“ / ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ – Eschatologische Geistidentität als Neuschöpfung (1 Kor 15,35-49)
Wir kommen nun zu dem für das Verständnis des Traditionsgefüges von Ostern wie für die Position des Paulus eminent wichtigen Text im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Ein Hauptunterschied zu den soweit behandelten Texten ist, dass Paulus hier nicht ad personam Apostoli, nicht über seine individuelle Zukunftserwartung spricht, sondern auf Fragen und Probleme aus einer von ihm gegründeten Gemeinde reagiert und in diesem Zusammenhang die Auferweckung Christi und die der verstorbenen Christen korreliert. Festzuhalten ist damit zugleich, dass auch die Aussagen über postmortales Leben bzw. eschatologische Erwartung in 1 Kor 15 nicht unabhängig von ihrer kommunikativ-situativen Einbindung zu interpretieren sind. Paulus schreibt keinen Traktat über die Auferweckung, der aus dem 1 Kor als Brief zu isolieren ist. Zugleich zeigen jedoch schon die Ausführlichkeit der Problembehandlung sowie die gewichtige Achterstellung im Brief – das Auferstehungskapitel korrespondiert am Ende des thematischen Corpus strukturell dem „Wort vom Kreuz“ im 1. Kapitel – die Bedeutung, die Paulus dem Ganzen zumisst. Wir hatten bereits gesehen, dass viele Interpretationen von 2 Kor 5 auf ein bestimmtes Verständnis dieser ersten Stellungnahme an die korinthische Gemeinde zurückgreifen, welches in diesem Text unter allen paulinischen Aussagen die stärkste Verteidigung der Leiblichkeit der Auferweckung findet. In der Analyse der hochgradig komplexen und voraussetzungsreichen Ausführungen müssen wir uns auf wenige Beobachtungen beschränken, insbesondere die bereits oben angesprochene chronologische Gerüstgebung des Textes ausklammern.11 Wir orientieren uns zunächst über den ersten Abschnitt von 1 Kor 15, in dem es grundlegend um die Auferweckung Christi geht. Sodann konzentrieren wir uns innerhalb der Antwort des Paulus auf die Frage nach dem „wie“ leiblicher Auferweckung in 1 Kor 15,35–49. 1.
Paulus setzt in 1 Kor 15 ein, indem er die Gemeinde an ein altes Osterbekenntnis erinnert, von dem er – mit Traditionsterminologie – sagt, dass er es den Korinthern weitergegeben hat, dass er es zugleich jedoch auch selbst
11
Siehe zur Interpretation von 1 Kor 15 insgesamt (Auswahl) SCHRAGE, Brief, Teilbd. 4, 3-421; SELLIN, Streit; MERKLEIN/GIELEN, Brief, Teilbd. 3, 237-394.
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ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ bereits „empfangen“ hat – möglicherweise aus der Gemeinde in Antiochia am Orontes, wo Paulus sich lange aufgehalten hat und seine entscheidende christliche Sozialisation erfuhr. Dieses zweigliedrige Bekenntnis in 1 Kor 15,3b–5, in dem das Sterben Jesu und die Ostereignisse als schriftgemäß konstatiert werden, hat grundlegende Funktion für die folgenden Ausführungen des Paulus, die von der Unverbrüchlichkeit und Unbestreitbarkeit der Auferweckung Christi ihren Ausgang nehmen. Im Blick auf unsere Fragestellung ist an dieser Stelle nur zweierlei in Kürze festzuhalten: Zum einen ist für die Formulierung in 1 Kor 15,3b–5 die Erscheinungsaussage – griechisch: ὤφθη – konstitutiv. Mit dieser Erscheinungsaussage bzw. der mit Petrus beginnenden und dann über V.5 hinausreichenden Katene der Erscheinungszeugen ist nicht eo ipso eine Aussage über die Leiblichkeit des Erschienenen zu begründen. Diese Aussage des ὤφθη in 1 Kor 15 ist nicht einfach mit den Erzählungen von der Erscheinung des Auferstandenen vor Einzelnen und Gruppen in den Evangelien zusammenzublenden, insofern dort das griechische ὤφθη (mit der Ausnahme von Lk 24,34) fehlt und diese Texte differenten Zielsetzungen und anderen literarischen Gesetzmäßigkeiten folgen. Zum Zweiten gilt das alte Problem, warum in 1 Kor 15,3b–5 zwar die Grablegung Jesu erwähnt wird, nicht jedoch das – von dem (allerdings in seiner Endgestalt späteren) Erzähltext Mk 16,1–8 par her zu erwartende – leere Grab, in der Regel als eines der Hauptprobleme, sucht man den historischen Ablauf der Ostereignisse zu rekonstruieren. Dieses Problem des Fehlens der Aussage des leeren Grabes in 1 Kor 15 relativiert sich jedoch beträchtlich, wenn man sich die Lösung vergegenwärtigt, die Paulus schließlich anstrebt: Gleichgültig nämlich, ob Paulus von einem leeren Grab resp. einer entsprechenden Tradition weiß, würde eine entsprechende Notiz gerade dasjenige – wenn man so will – materialistische Missverständnis von Ostern befördern, das er in 1 Kor 15 schließlich entkräftet.
2.
In 1 Kor 15,12 nimmt Paulus zum ersten Mal explizit Bezug auf eine Position seiner Gesprächspartner in Korinth, die ihn zu der ausführlichen Stellungnahme veranlasst: Es gibt Leute in Korinth, die sagen: „Auferstehung von Toten gibt es nicht“ (λέγουσιν ἐν ὑμῖν τινες ὅτι ἀνάστασις νεκρῶν οὐκ ἔστιν). Die Position berührt nicht die Auffassung der Gesamtgemeinde, sondern nur die „einiger“. Wie viele es sind, lässt sich nicht sagen, das griechische τινες bedeutet: minimal zwei. Wie kommen diese τινες zu ihrer negativen Haltung, wogegen richten sie sich genau, und wie wird die negative Position begründet? Nicht alle Probleme sind so zu beseitigen (es heißt ja in V.12: „Auferstehung von Toten gibt es nicht“), doch es spricht einiges dafür – sofern man nicht mit der unökonomischen Annahme rechnen möchte, dass Paulus sich in 1 Kor 15 mit mehreren verschiedenen kritischen Positionen auseinander-
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setzt –, dass die Bestreitung der Auferweckung in 1 Kor 15,12 mit einer weiteren Frage der „Leugner“ zusammenhängt und in ihr Konkretisierung erfährt, die Paulus erst am Beginn des Abschnitts 1 Kor 15,35–49 nennt, nämlich der in diatribischem Stil eingeführten Doppelfrage: „Aber es wird einer sagen: Wie werden die Toten geweckt? In welcher Art Leib gehen/ kommen sie?“ (Ἀλλ’ ἐρεῖ τις· πῶς ἐγείρονται οἱ νεκροί; ποίῳ δὲ σώματι ἔρχονται;)
Wenn richtig ist, dass die zweite Frage die erste präzisiert und beide Fragen zusammen die Position der τινες in 1 Kor 15,12 treffen, dann haben die „Leugner“ in Korinth nicht die Aussage der Auferweckung als solche bestritten; zudem ist unwahrscheinlich, dass sie das eingangs von Paulus im Überlieferungsstück angesprochene Bekenntnis zur Auferweckung Christi in Frage gestellt haben. Vielmehr hängt ihre kritische Position offenbar eng mit dem präzisierten Problem des Wie, dem der Modalität der Auferweckung von Toten in Hinsicht auf die Leiblichkeit zusammen. Dies setzt voraus, dass die „Leugner“ eigene theologische, insbesondere aber auch anthropologische Konzepte haben. Einige Wahrscheinlichkeit hat es, dass Paulus den im Text gebrauchten Begriff des „Seelischen“ (ψυχικός; vgl. 1 Kor 2,14; 15,44.46) aus der korinthischen Diskussion aufgreift. In 1 Kor 15,45 stammt der einzige Beleg für „Seele“/„Leben“ im Text aus dem Septuaginta-Text von Gen 2,7. Dies lässt danach fragen, inwieweit in Korinth möglicherweise mit Gen 2 argumentiert wurde, nämlich derart, dass die τινες die Auferweckungsaussage auf die pneumatisch inspirierte Seele bezogen. Auferstehung wäre dann als Reanimation der Seele begriffen – nicht im Sinn der (endzeitlichen) Auferweckung Toter. Ist dies richtig, so kann man noch einen Schritt weitergehen und die Position der korinthischen „Leugner“ in Hinsicht auf weisheitliche Spekulationen konkretisieren, wie sie sich in den allegorischen Exegesen bei Philo von Alexandria finden. Philo unterzieht Gen 1f. einer platonisierenden Lektüre (Philo leg. all. 1,31f.; Op. 134f.) und bezieht die zweifache Erzählung von der Erschaffung des Menschen in Gen 1 und Gen 2 allegorisch auf zwei Arten von Menschen: Der Mensch von Gen 1,26f. ist ein pneumatisches, himmlisches Wesen. Dagegen sei der Mensch aus dem zweiten Schöpfungsbericht in Gen 2,7 dem irdisch-materiellen Bereich zugewiesen und verhaftet. So hätten die korinthischen „Leugner“ entsprechend Christus als Urbild des himmlischen Menschen begriffen, wie Philo ihn allegorisierend in Gen 1 findet, und für ihn eine himmlische Pneuma-Existenz postuliert, an der sie selbst bereits zu partizipieren glaubten, und zwar vermittelt durch den (in der Taufe empfangenen) Geist. Nach Auffassung der τινες wäre dann die entscheidende Heilspartizipation bereits sichergestellt, in pneumatischer Kontinuität wäre von einem postmortalen oder eschatologischen Geschehen nichts qualitativ Neues zu erwarten.
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ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ Vor solchem Hintergrund werden die Ausführungen des Paulus in der Adam-Christus-Typologie in 1 Kor 15,21f. und 15,45–49 verständlich: Paulus dreht die Konstruktion kritisch um, indem er den ersten Menschen mit dem aus Erde gemachten Adam von Gen 2,7 identifiziert, dann aber nicht von einem zweiten Menschen spricht, sondern von einem letzten Menschen, nämlich Christus als eschatologischen Adam, Lebensbringer und Garanten der Neuschöpfung. Paulus stellt somit die protologische These der Korinther, die bei Gen 1 ansetzt, eschatologisch auf den Kopf: Nicht auf den ersten, den pneumatischen Adam kommt es an, sondern auf den „letzten Menschen“, nämlich Christus.
3.
Wie verfährt Paulus nun aber in der von den „Leugnern“ angesprochenen Frage der Leiblichkeit der Auferweckung? In 1 Kor 15,44 bringt Paulus seine Lösung auf den neologistischen Begriff des „geistlichen/pneumatischen Leibes“ (σῶμα πνευματικόν), der dem des „seelischen Leibes“ (σῶμα ψυχικόν) gegenübergestellt ist. Paulus greift so im Abschnitt 1 Kor 15,35ff. den in der Frage der „Leugner“ angelegten Begriff des Leibes (σῶμα), ferner aber auch den mit der Exegese von Gen 2,7 vorgegebenen Begriff der „Seele“ / des „Lebens“ auf. Insgesamt unternimmt er eine Neuinterpretation, die so gelagert ist, dass beiden Begriffen die Potenz genommen wird, Kontinuierung von Jetztrealität zu gewährleisten. Im Sinn des Paulus kann zwar auch in Hinsicht auf das Auferstehungsleben von „Leiblichkeit“ gesprochen werden; dies jedoch nicht im Sinn einer wie auch immer gearteten Reaktivierung sterblicher Leiber, sondern nur im Sinn eines „geistlichen Leibes“ als einer unableitbaren neuen Schöpfung Gottes: Die Kontinuität liegt so weder im Leiblichen noch im Seelischen, sondern rein im kontingenten Eingriff des Schöpfers. So stellen es schon die beiden Gleichnisse am Beginn des Abschnitts sicher (1 Kor 15,36–41). In 1 Kor 15,36 verweist das Gleichnis vom Samenkorn auf die Notwendigkeit des Todes (ἐὰν μὴ ἀποθάνῃ) der Saat in der Erde. Die Vorstellung des Sterbenmüssens der Saat ist in der Antike nicht analogielos, doch das Gleichnis zeigt sich bereits in dieser Aussage auf die Anwendung hin konzipiert. Nicht ist von Keimen, Aufsprossen, Wachsen u. a. die Rede (vgl. hierzu anders z. B. die Saat- und Wachstumsgleichnisse in Mk 4), sondern vielmehr vom Lebendigmachen (ζῳοποιεῖται) des zuvor Gestorbenen und von der Zukünftigkeit eines vom ursprünglichen Körper des Saatkorns unterschiedenen neuen Leibes (τὸ σῶμα τὸ γενησόμενον), den Gott in je individuell-gattungsspezifischer Gestalt verleiht (1 Kor 15,38: ὁ δὲ θεὸς δίδωσιν αὐτῷ σῶμα καθὼς ἠθέλησεν, καὶ ἑκάστῳ τῶν σπερμάτων ἴδιον σῶμα). Die erste similitudo markiert damit bereits deutlich, dass Paulus die Diskontinuität zwischen altem und von Gott in seiner schöpferischen Freiheit je neu verliehenem Körper heraushebt. Auch die Zukunft der Auferstehung
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wird nicht körperlos sein; der Auferstehungsleib wird jedoch etwas gänzlich Innovatives, durch keine biologische Anstrengung Herleitbares sein. Die zweite similitudo akzentuiert Mannigfaltigkeit und je eigene Verschiedenheit irdischer und kosmischer Formen. Es geht um die Pluriformität des „Fleisches“, was hier nicht abwertend gemeint ist, in antiklimaktischer Reihenfolge des Menschen, der Haus- und Herdentiere, der Vögel und der Fische, was sich als umkehrende und variierende Aufnahme von Gen 1,14– 19.20–28 interpretieren lässt, damit aber weiterhin den Schöpfungsbezug sicherstellt. Nach den irdischen Leibern weitet sich das Gleichnis in 1 Kor 15,40f. für die Mannigfaltigkeit und Differenz der himmlischen Leiber, nämlich Sonne, Mond und Sterne. Diese werden nicht nach ihrem „Fleisch“, sondern nach ihrer „Herrlichkeit“ unterschieden (anders gebraucht als Phil 3,20f.). Im Zusammenhang der Auferstehungsdiskussion greift dies auf 1 Kor 15,43 bereits vor, d. h. auch dieses Gleichnis ist mit dem Stichwort der „Herrlichkeit“ (δόξα) von der Anwendung her konzipiert. 1 Kor 15,42f. vollzieht die Gleichnisanwendung in vier parallel konstruierten Antithesen und mündet dann in die mit der Adam-Christus-Typologie (s. u. Pkt. 4.2.) weiter zu begründende These von 1 Kor 15,44. „So verhält es sich auch mit der Auferstehung der Toten. Es wird gesät in Vergänglichkeit, es wird [aber] aufgeweckt in Unsterblichkeit; es wird gesät in Unehre, es wird [aber] aufgeweckt in Ansehen/Herrlichkeit; es wird gesät in Schwachheit, es wird [aber] aufgeweckt in Kraft; es wird gesät ein seelischer Leib, es wird [aber] aufgeweckt ein geistlicher Leib. Wenn es einen seelischen Leib gibt, so gibt es auch einen geistlichen.“ (Οὕτως καὶ ἡ ἀνάστασις τῶν νεκρῶν. σπείρεται ἐν φθορᾷ, ἐγείρεται ἐν ἀφθαρσίᾳ· σπείρεται ἐν ἀτιμίᾳ, ἐγείρεται ἐν δόξῃ· σπείρεται ἐν ἀσθενείᾳ, ἐγείρεται ἐν δυνάμει· σπείρεται σῶμα ψυχικόν, ἐγείρεται σῶμα πνευματικόν; Εἰ ἔστιν σῶμα ψυχικόν, ἔστιν καὶ πνευματικόν [1 Kor 15,42-44]).
Wie Gott als Schöpfer seine Macht in den verschiedenen geschaffenen Körpern beweist, so wird er dies auch in den dinstinkten Leibern tun, die er jenseits der Todesgrenze neu schafft. Die hellenistisch-jüdischem weisheitlichem Denken nahe stehenden Antithesen zielen auf die Diskontinuität. Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit, Schande und Ehre, Schwachheit – d. h. auch Leiden, Krankheit und Anfechtung – und Kraft stehen sich oppositionell gegenüber. So sind am Ende der Reihe auch „seelischer Leib“ und „geistlicher Leib“ antithetisch kontrastiert. Obwohl es sich in beiden Fällen um körperliche Phänomene handelt, sind diese keineswegs in einen Entwicklungszusammenhang zueinander zu bringen. Der „geistliche Leib“ entsteht nicht postmortal aus dem „seelischen Leib“. 1 Kor 15,44 darf nicht, wie bisweilen interpretiert worden ist, im Verbund mit Stellen wie 2 Kor 3,18; 4,16 im Sinne einer sukzessiven Metamorphose begriffen werden. Vielmehr fixiert 1 Kor 15,44 am Ende der schöpfungstheologischen Anschauungsbeispiele wie der Antithesen, dass der „seelische Leib“ in toto auf die Seite des Irdischen und Vergäng-
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ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ lichen gehört, das im Tod abstirbt, und von der Auferstehungsherrlichkeit (δόξα) kategorial unterschieden ist.
4.
Ziehen wir ein Fazit aus der kurzen Analyse. Nachdem Paulus über das „dass“ der Auferweckung gehandelt hat, kommt er in 1 Kor 15,35ff. auf die Frage des „wie“ zu sprechen. Wahrscheinlich sind ihm beide Probleme durch die korinthischen Gesprächspartner im Verbund vorgegeben, wobei die Exegese der beiden Schöpfungserzählungen in Gen 1f. eine erhebliche Rolle gespielt haben dürfte. Die Doppelfrage von 1 Kor 15,35 beantwortet Paulus im Sinne einer kräftigen Disjunktion von sterblicher Körperlichkeit und neuem Auferweckungsleben. Der Befund, dass er auch im Blick auf das neue, erhoffte Leben, das allein in der Freiheit des Schöpfers seinen Ermöglichungsgrund findet, von Leib/ Körper spricht, ist in der Exegese und Auslegungsgeschichte sehr verschieden gewichtet und gewertet worden. Gegen die These des totaliter aliter, wie sie sich auf die similitudines und Antithesen stützen kann, wird der Text auch im Sinne einer stärkeren Kontinuierung des Selbstseins bzw. im Sinne einer Würdigung des Phänomens der Körperlichkeit und Individualität auch im Blick auf das Auferstehungsleben verstanden. Entsprechende Versuche sind angesichts der Bedeutung der Leib-Vorstellung bei Paulus im Ansatz nicht unberechtigt. Sie nötigen 1 Kor 15 jedoch vielfach Fragen auf, die der Text gar nicht stellt und auch nicht beantworten will. So reagiert Paulus z. B. nicht auf die bange Frage, was aus dem eigenen Ich nach dem Tod wird (vgl. anders sein Trösten/παρακαλεῖν in 1 Thess 4,13–18). Er will auch keine Phänomenologie, Ästhetik oder Kriteriologie eschatologischer Schöpfungsexistenz entwerfen. So wichtig die σῶμα-Vorstellung in ihrer Vielfunktionalität für die Anthropologie und auch die Ekklesiologie des Paulus ist: In der Literatur zu 1 Kor 15 begegnet zuweilen ein Paulus an diesem Punkt grundsätzlich fremder Philosomatismus (vgl. u. Pkt. 1. zu Kelsos).12 Trotz der verschiedenartigen Beispiele der in sich mannigfaltigen Schöpfung zielt der Text seiner Pragmatik nach nicht auf die staunende Entfaltung körperlicher Phänomene, sondern auf die Dissoziierung und den Kontrast. Der Frage nach kontinuierter Selbigkeit wird im Text eine Absage erteilt, die Frage nach der Gestalt des Auferstehungskörpers (vgl. 1 Kor 15,35: ποίῳ δὲ σώματι ἔρχονται;) wird von Paulus auf der informativen Ebene nicht beantwortet. In keinem Fall ist σῶμα in 1 Kor 15 im Sinn einer Erwartung des Handelns Gottes an Leichnamen zu interpretieren, die auf der Seite der φθορά stehen, all dessen was vergeht und verweslich ist.
12
JANSSEN, Schönheit, 147–183, findet in 1 Kor 15,39–41 ein staunendes „Lob der Schöpfung“ als Antwort auf die – dem Text allerdings ganz fremde – verzagte Sorge die Möglichkeiten leiblicher Neuschöpfung betreffend.
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Man versteht den Text insgesamt nur als Teil der Auseinandersetzung mit der korinthischen Position und darf ihn nicht aus dieser Auseinandersetzung herauslösen. Die entscheidende Aussage im Blick auf die Korinther (bzw. die τινες aus ihren Reihen) lautet, dass es nicht nur keine somatische, sondern damit zugleich auch keine seelische/psychische Invariante zwischen praemortalem Leben und Auferstehungsleben gibt, auch die „psychische Körperlichkeit“ schafft keine Brücke zwischen praemortalem und postmortalem Sein. Nach 1 Kor 15 gehört vielmehr auch die „Seele“ auf die Seite der vergänglichen Erde (vgl. 1 Kor 15,47–49), die der kommenden Herrlichkeit inkompatibel ist.
5.
Zur indikatorischen Bedeutung der Frage nach postmortaler/eschatologischer Existenz bei Paulus
Die Paulustexte, die wir nur ausschnitthaft und unter Ausblendung zahlreicher Detailfragen behandeln konnten, gehören zu den schwierigsten im Neuen Testament. Am Ende soll darum nicht der einfache Versuch einer Synthese der verschiedenen Konzepte stehen. Auch soll nicht versucht werden, gewissermaßen noch einmal die Schnittmengen der sehr verschiedenen Texte herauszuarbeiten, die Invarianten – die es allerdings ohne Frage besonders im Punkt der avisierten postmortalen resp. eschatologischen Christusgemeinschaft gibt.13 1.
Wir können diesen Vortrag vielmehr im Rückgriff auf seinen Anfang schließen: Das Urteil des Kelsos über die Christen als ein φιλοσώματον γένος, ein Leib-, ein Körper-verliebtes Geschlecht, ist in Hinsicht auf die Konzepte postmortaler bzw. eschatologischer Erwartung bei Paulus nicht zu stützen. In der Tat finden wir bestätigt, dass Kelsos dieses sein Urteil in späterer Zeit auf ein bereits in Bewegungen polemischer Abgrenzung befindliches Christentum gerichtet hat, in dem die Akzentuierung der Leiblichkeit als Fleischlichkeit identitätsrelevante Funktion besonders in Auseinandersetzung mit der Gnosis gewonnen hatte. Für Paulus ist eine solche Akzentuierung noch nicht konstitutiv, nicht nur „Fleisch“ im Sinne von lateinisch caro, sondern
13
Eine Hauptsinnlinie der Ausführungen des Paulus könnte man in Aufnahme von Gal 2,20 so formulieren: Wenn überhaupt etwas am Menschen kontinuitätsfähig ist, dann ist es Christus, insofern im Christusgläubigen nicht mehr der Mensch lebt, sondern Christus in ihm. Es wäre von hier aus noch einmal neu zu fragen, inwiefern nicht alle anthropologischen Vorstellungen wie „Fleisch“, „Leib“, „Geist“ und „Seele“ bei Paulus letztlich auf dieses Konzept hingeordnet sind (in Auseinandersetzung mit Albert Schweitzer).
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ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ auch der „Leib“ im Sinne von lateinisch corpus ist hinfällig und steht auf der Seite dieser vergehenden Welt. Die Frage nach dem, was am/vom Menschen postmortal bleibt, ist dabei nicht die ureigene Frage des Paulus – auch dort nicht, wo er in Gefangenschaft mit der Möglichkeit seines eigenen Lebensendes konfrontiert ist (Phil 1). Er denkt, abgekürzt gesagt, von Neuschöpfung und Schöpfung Gottes her, sieht den Mensch im Gegenüber zu solchem Geschehen, nicht aus der Perspektive der Möglichkeiten seiner Selbigkeit oder Identität. Anthropologische Differenzierung beschäftigt Paulus darum in einschlägigen Texten keineswegs stets (vgl. 1 Thess 4,13–18). In Korinth ist ihm die Frage aus der Gemeinde selbst vorgegeben. Der gewichtige Text 1 Kor 15 markiert, dass für Paulus nicht nur der Leib im Tod verfällt und es Auferstehungsleben nur durch das neuschöpferische Handeln Gottes gibt, sondern dass auch die „Seele“ des Menschen kein Kontinuum zwischen diesem Leben und einem zukünftig erhofften bilden kann. Auch die Seele ist der Annihilation alles Irdischen ausgesetzt. Solche Zuspitzung darf jedoch, wie wir durchgängig beobachteten, nicht dazu führen, Paulus eo ipso generell in eine Widerstandshaltung zu (meist nur verkürzt begriffenen) griechisch-römischen Vorstellungen postmortalen Lebens zu bringen. Insbesondere Phil 1 und 2 Kor 5 zeigten sich uns als von Paulus in Hinsicht auf griechisch-römische Topoi und Konzepte anschlussfähig und kommunikabel gestaltet.
2.
Bei Kelsos und in der Auseinandersetzung des Origenes mit ihm kann man auf den Befund aufmerksam werden: Der Diskurs über Fragen des postmortalen Lebens und der eschatologischen Erwartung richtet sich vordergründig auf die Zukunft – sei sie individuell oder kollektiv –, tatsächlich aber verständigt man sich hier zugleich über Fragen der Gegenwart, der gegenwärtigen Identität. Diese Beobachtung der Funktionalisierung im Blick auf die Gegenwart gilt für die Briefe des Paulus, in denen er seinen heidenchristlichen Gemeinden den neuen Glauben auf der Grundlage alttestamentlicher und frühjüdischer Vorgaben und Vorstellungen zu explizieren sucht, damit aber zugleich ihre Identität im Schnittfeld der paganen Kulturen und ihren besonderen religiösen Sinnangeboten definieren und stabilisieren möchte. Der Bezug der Verständigung über Fragen der individuellen oder kollektiven Hoffnung über den Tod hinaus auf Identitätsfragen der Gegenwart gilt aber auch für die neuzeitlichen Diskurse, wie wir es im Rückblick an der Position O. CULLMANNs (s. o. Pkt. 1.) deutlich erkennen, der im 20. Jahrhundert in einer Zeit schrieb, in der die Wort-Gottes-Theologie und die Ansätze der existentialen Interpretation des Neuen Testaments die Suche nach identitätsrelevanten Fixpunkten befördern konnten. CULLMANN konnte in seiner Zeit auch den neuzeitlichen Synkretismus im Blick auf postmortale Erwartungen einzig als Bedrohung christlicher Identität interpretieren.
ΣΩΜΑ ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΝ
379
Der Befund, dass die Rede von der Auferstehung sich als eminent wichtig und relevant für gegenwärtige theologische Diskurse über christliche Identität erweist, dass ihr insgesamt eine indikatorische Schlüsselfunktion für die Theologie zukommt, ist nicht allein vom Zeugnis des Neuen Testaments her unabweisbar.14
14
Zum traditionsgeschichtlichen Vergleich frühchristlicher Konzeptualisierungen von Sterben und Tod mit antik-medizinischen Thanatologien siehe in diesem Band 22–24.
Quellenausgaben und Hilfsmittel Die Abkürzungen richten sich nach SCHWERTNER, S., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/Bosten 32014; Abkürzungen antiker Autoren und Werke im Text der Untersuchung nach ThWNT X/1; Abkürzungen antik-medizinischer Autoren und Werke nach: LEVEN, K.-H., Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005, XIII–XXXI.
1.
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1.2.
Frühjüdische Quellen
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1.5.
Antike griechische und römische Literatur
Aelianus: HELMS, H. (Übers.), Claudius Aelianus. Bunte Geschichten, Leipzig 1990. HERCHER, R., Claudii Aeliani. De natura animalium. Varia historia. Epistolae. Fragmenta, Bd. 2, Leipzig 1864–66. HERCHER, R. (Hg.), Claudius Aelianus. De natura animalium libri XVII, Bd. 1, Leipzig 1864–1866; Nachdr. 1971. Aelius Aristides: BEHR, C. A. (Hg.), P. Aelius Aristides. The Complete Works, Bd. 1 u. 2, Leiden 1981.1986. SCHRÖDER, H. O. (Übers.), P. Aelius Aristides. Heilige Berichte (WKLGS), Heidelberg 1986. Aelius Herodianus: LENTZ, A., Aelius Herodianus, Herodiani technici reliquiae, Bd 1–3, Leipzig 1867–1870. Aischylos: DROYSEN, J. G. (Übers.), Aischylos. Die Tragödien, hg. v. B. Zimmermann, Stuttgart 72015. MURRAY, G. (Hg.), Aeschyli Septem Quae Supersunt Tragoediae (OCT), Oxford 1955. Ammianus Marcellinus: SEYFARTH, W. (Hg.), Ammiani Marcellini rerum gestarum libri qui supersunt (BSGRT), Leipzig 1978. Anthologia Graeca: BECKBY, H. (Hg.), Anthologia Graeca, Bd. 2 (TuscBü), München 1957. Apollonios von Rhodos: GLEI, R./NATZEL-GLEI, ST. (Hg. u. Übers.), Apollonios von Rhodos. Das Argonautenepos, Bd. 1 u. 2 (TzF 63 u. 64), Darmstadt 1996. Apuleius: HAMMERSTAEDT, J. u. a. (Hg. u. Erl.), Apuleius. De Magia (Sapere 5), Darmstadt 2002. HELM, R./KRENKEL, W. (Hg.), Apuleius. Metamorphosen oder Der Goldene Esel, Darmstadt 1970. Aristophanes: DROYSEN, G. (Übers.), Des Aristophanes Werke, Bd. 1–3, Berlin 1835–1838. RAU, P. (Hg., Übers. und Komm.), Aristophanes. Komödien, Bd.1–4, Darmstadt 2017. SEEGER, L./WEINREICH, O. (Hg. u. Übers.), Aristophanes. Sämtliche Komödien, Bd.1 u. 2, Zürich 1952.1953. Aristoteles: BEKKER, I./BONITZ, H. (Hg.), Aristotelis opera, Bd. 1–5, Berlin 1831–1870. FUHRMANN, M. (Hg. u. Übers.), Aristoteles. Poetik, Stuttgart 1987. HETT, W. S. (Hg.), Aristotle. Minor works (LCL), London/Cambridge 1955. ROSE, V. (Hg.), Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta (BSGRT), Stuttgart 1967. SIEVEKE, F. G. (Übers.), Aristoteles. Rhetorik (UTB 159), München 1980. Artemidor: PACK, R. A. (Hg.), Artemidori Daldiani Onirocriticon libri V (BSGRT), Leipzig 1963. Asclepios – Inscriptiones: EDELSTEIN, E. J./EDELSTEIN, L., Asclepius. A Collection and Interpretation of the Testimonies, Bd. 1 u. 2, Baltimore 1945. Athenaios: GULICK, C. B. (Hg.), Athenaios. The Deipnosophists, Bd. 7 (LCL), Cambridge u. a. (1927–1941). Nachdr. 1957–1963. Cassius Dio: BOISSEVAIN, U. P. (Hg.), Cassii Dionis Cocceiani historiarum Romanarum quae supersunt, Bd. 1–5, Berlin 1895–1931.
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Quellenausgaben und Hilfsmittel
Chrysippos: HÜLSER, K. (Hg.), Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker, Bd. 1–4, Stuttgart / Bad Cannstatt 1987.1988. Cicero: CLARK, A. C. (Hg.), M. Tulli Ciceronis orationes, Bd. 1–7 (SCBO), Oxford 1956–1958. DREXLER, H. (Hg.), M. Tulli Ciceronis Tusculanarum disputationum libri quinque, Mailand 1964. FEDELI, P. (Hg.), M. Tulli Ciceronis de officiis, Mailand 1965. PEASE, A. S. (Hg.), M. Tulli Ciceronis de divinatione, Darmstadt 1963. PLASBERG, O. (Hg.), Marcus Tullius Cicero. M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia, Fasc 43: De Natura Deorum (BSGRT), Leipzig 1917. Nachdr. 2008. POHLENZ, M. (Hg.), Marcus Tullius Cicero. M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia, Fasc 44: Tusculanae Disputationes (BSGRT), Leipzig 1918. Nachdr. 1982. SCHICHE, T., Marcus Tullius Cicero. M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia, Fasc 41: De finibus bonorum et malorum (BSGRT), Leipzig 1915. Nachdr. 1969. WILKINS, A. S., M. Tulli Ciceronis Rhetorica (SCBO), Oxford 1902. Columella: RICHTER, W. (Hg. u. Übers.), Columella. Zwölf Bücher Landwirtschaft. Buch eines Unbekannten über Baumzüchtung, Bd. 1–3 (Sammlung Tusculum), Berlin 1981–1983. Diodorus Siculus: GOUKOWSKY, P./COHEN-SKALLI, A. (Hg.), Diodore de Sicilie. Bibliothèque historique. Fragments, Bd. 1–4 (CUFr Budé), Paris 2006–2014. Diogenes Laertius: HICKS, R. D. (Hg. u. Übers.), Diogenes Laertius, Bd. 1 u. 2 (LCL 184.185), London 1959.1958. Dion Chrysostomos: ELLIGER, W. (Hg. u. Übers.), Dion Chrysostomos. Sämtliche Reden (BAW.GR), Zürich 1967. Dionysios Halicarnassus: CARY, E. (Hg.), The Roman Antiquities of Dionysius of Halicarnassus, Bd. 1–7 (LCL), New Haven 1937–1950. Dorotheos von Sidon: PINGREE, D. (Hg.), Dorothei Sidonii Carmen Astrologicum (BSGRT), Leipzig 1976. STEGEMANN, V., Die Fragmente des Dorotheos von Sidon, Bd. 1 u. 2 (Quellen und Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums und des Mittelalters B/1), Heidelberg 1939–1943. Empedokles: WRIGHT, M. R. (Hg.), Empedocles. The Extant Fragments, New Haven / London 1981. Epiktetos: MÜCKE, R./SCHULTHESS, J. G. (Übers.), Epiktet. Was von ihm erhalten ist. Nach den Aufzeichnungen Arrians, Heidelberg 1926. OLDFATHER, W.A. (Hg. u. Übers.), Epictetus: The Discourses as reported by Arrian, the Manual and Fragments, Bd. 1: Discourses, Books I–II (LCL 131), Cambridge/London 1925. Nachdr. 1979. DERS., Epictetus: The Discourses as reported by Arrian, the Manual and Fragments, Bd. 2: Discourses, Books III–IV. Fragments. Encheiridion (LCL 218), Cambridge/London 1928. Nachdr. 1985. Epikur: USENER, H. (Hg.), Epicurea (Cambridge Library Collection), Cambridge 1887. Euripides: EBENER, D. (Hg. u. Übers.), Euripides. Tragödien, Bd. 1–6, Berlin 21990. SEECK, G. A./BUSCHOR, E. (Hg. u. Übers.), Euripides. Sämtliche Tragödien und Fragmente, Bd.1–6, München 1972–1981. Fronto:
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Quellenausgaben und Hilfsmittel
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1.6.
Antik-medizinische Literatur
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Register Stellenregister (Auswahl) Altes Testament Gen
Ex
Num
Lev
1 156, 373f. 1,14–28 375 1,26f. 373 1,31 231 1,31LXX 109, 233 1f. 373, 376 2 373 2,2f. 84 2,7 373f. 32,26 292 32,33 292 34,25 161 44,31LXX 314 4,11 231 4,11LXX 224 8,15 196 9,3 107 13,9 107 15,26 65, 121, 156, 332 15,26LXX 331 20,8–11 84 21,18–21 332 22,30 230 23,12 84 31,13–17 84 34,21 84 35,2f. 84 5,21 86 11,1–3 163 12,10f. 65 14,11 149 15,32–36 84 24,16 129 31,23 161 12–15 122 13f. 42, 86, 145 13,37 42 13,52 161 14,2f. 42 14,33–57 43 15 47, 90 15,19–30 47 15,23 47
Dtn
Jos Ri
15,25 47 15,33 47 19,14LXX 220 21,17–23 88 23 84 26,16 162 26,16LXX 163 26,26 103 2,14 263 2,15 107 4,34 107 5,12–15 84 6,21 107 9,10 196 28 65, 164 28,22 103, 162 28,22LXX 163 32,20 149 32,39 65 5 161 5,8 161
18,6 49 1 Sam 1,17 49 19,24 129 21,11–16 129 21,14 129 2 Sam 1,26 320 15,9 49 1 Kön 17,21 227 17,23 184 18,38 165 21,23 230 2 Kön 1,26LXX 314 5,11LXX 106 9,36 230 Neh 10,32 84 13,15–22 84 Hiob 5,18LXX 314 6,2 319 7,1 320 10,17 320
Ps
12,9 107 12,21 332 14,14 320 14,22LXX 314 16,7LXX 314 19,27 337 22,1–11 346 22,29 88 26,13 107 28,25b 86 33,19LXX 47 2,7 152 4,2 320 6,2 319 6,3 332 6,8 319 8,4 196 8,7 107 10,14 319 12,3LXX 314 22,12 320 22,15 320 29,3 332 30,11LXX 314 30,18LXX 224 30,4 152 31,10 319 31,19 220 32,4 107 32,7 320 35,14 320 37,14LXX 224 37,17LXX 314 38,2LXX 314 39,3 220 39,10 220 39,11 107 40,5 332 57,5f.LXX 224 68,26LXX 314 68,29LXX 314 73,21 320 93,9 219 94,12f. 319 102,3 332 106,39LXX 314 108,18LXX 86 123,1 227 138,7 107
418 Spr
Koh
Jes
Register
16,24LXX 100 20,12LXX 219 23,16 337 24,13LXX 100 26,11 230 26,20f. 161 27,7 320 28,14 346 28,16f. 346 31,8f. 220
Jer
1,18LXX 314 2,23LXX 314 10,9 319 3,26 319 5,20 320 6,6 161 6,9f. 89, 219, 235, 332 6,10 332 7,4 332 19,22 332 24,4 319 24,7 319 26,17f. 319 26,19 109 29,13LXX 228 29,18 224, 231 29,18LXX 231 29,18f. 109 30,26 332 35,5LXX 224 35,5f. 109, 231, 235 35,5f.LXX 225 35,6 224 35,10LXX 314 37,3 319 38,9 47 40,10 107 42,18 109 42,18f. 231 42,19LXX 224 43,8 231 43,8LXX 224 44,11 231 45,12 107 51,5 107 51,11LXX 314 51,16 107 52,10 107 52,13–53,12 316 52f. 316f. 53,3LXX 47 53,3f. 266, 316 53,4 317 53,4LXX 317 53,4f.LXX 68 53,5 333 53,5LXX 262 53,7 220, 333
Klgl
Ez
Dan Joel Mi Zef Sach
53,7LXX 262 54,1 320 56,10 231 57,18f. 332 58,13 84 61,1 109, 332 61,1f. 84 66,9f. 319 66,24 318 2,19 319 3,22 332 4,4 161 5,14 161 5,21 235 8,21 320 10,19LXX 314 10,24 319 11,20 337 17,14 332 17,21f. 84 17,24 84 17,27 84 21,12 161 25,16 129 29,26 63 30,6f. 320 30,11 319 30,14 319 37,12LXX 314 46,28 319 51,7 129 1,4 319 1,12LXX 314 1,18LXX 314 2,8 319 3,33 319 3,26 220 12,2 235 21,36 161 22,21 161 22,31 161 24,27 220 32,7f. 320 33,22 220 38,19 161 47,12 50 3 164 12,2 318 2,10 320 4,9f. 320 7,15LXX 231 1,18 161 3,8 161 9,2f. 230
Mal
10,2 332 13,2 199 3,14 320
Alttestamentliche Apokryphen und weitere frühjüdische Literatur Judit
16,17 318 Weish 13,1LXX 340 19,20LXX 340 3,1–6 362 3,5 319 4,7–19 362 7,20LXX 340 8,15 371 Tob 2,10 48 6,8 199 6,9 100 6,17 199 11,4 230 11,11 100 Sir 1,1 267 3,18–21 88 9,8 161 23,17 161 26,6LXX 314 27,25–27 346 28,10f. 161 38,1–15 71, 331 38,9f. 346 38,12LXX 14 1 Makk 1,41–44 84 2,29–41 84 2 Makk 3,17LXX 314 4,38 346 6,6 84 7,9–11 362 7,14 362 7,22f. 362 7,35f. 362 7,36 320 9,5f. 346 13,7f. 346 14,46 362 3 Makk 2,22 129 3,29LXX 340 4 Makk 1,20LXX 340
Register
3 Kön 4 Kön
3,17 163 5,7f.LXX 340 5,19ff. 228 5,25LXX 340 13,17 362 13,27LXX 340 15,13LXX 340 15,25LXX 340 16,3LXX 340 17,17–19 362 18,3 362 17,17–24LXX 104
4,18–37LXX 104 4,29–31LXX 48 äthHen 25,5f. 109 50,2 230 4 Esr 8,53f. 109 Iosephus ant. Iud. 1,208 332 ant. Iud. 4,277 332 ant. Iud. 6,3 185 ant. Iud. 8,45 198 ant. Iud. 8,46–47 199 ant. Iud. 8,46–48 52, 198 ant. Iud. 8,47 134, 151, 198 ant. Iud. 8,172 232 ant. Iud. 8,320 230 ant. Iud. 13,398 102, 163, 180, 186 ant. Iud. 15,58 314 ant. Iud. 15,95 230 ant. Iud. 15,289 183 ant. Iud. 17,168–173 83 ant. Iud. 17,171f. 332 ant. Iud. 17,266 183 ant. Iud. 17,275 183 ant. Iud. 18,117 229 bell. Iud. 1,103–106 102, 163, 186 bell. Iud. 1,377 31 bell. Iud. 1,444 164 bell. Iud. 1,656 102, 163 bell. Iud. 1,656f. 83 bell. Iud. 1,657 332 bell. Iud. 4,361 31 vita 404 332 JosAs 8,9 84 22,13 84 Jub 1,23 229 1,28 229 2,16–20 84 2,30 84 4,32 346 10,1 199
OrSib
Philo
PsSal
11,4 199 12,20 199 23,26–31 109 50,10–12 84 2,23 31 3,31 224 4,7 224 7,14 224 8,175 31 8,206 231 De cherubim 2 332 De decalogo 150 332 De Josepho 33f. 332 De Josepho 62f. 332 De Josepho 76 332 De sacrifciis Abelis et Caini 70 332 De virtutibus 3f. 332 De virtutibus 13 332 Leg. all. 1,31f. 373 Leg. all. 2,9 332 Leg. all. 3,124 332 Leg. all. 3,178 65, 121 Leg. all. 3,200 314 Leg. all. 3,211 314 Leg. all. 3,215f. 65, 332 Leg. all. 3,36 332 Leg. Gai. 125f. 164 Migr. Abr. 87f. 65 Migr. Abr. 124 65 Opf. 40–42 347 Opf. 124 164 Opf. 125 164 Opf. 134f. 373 Opf. 150,2 345 Praem. 21,3 332 Praem. 120 198 Praem. 143 164 Prob. 87 122, 332 Quod deterius potiori insidiari soleat 110f. 332 Quod deterius potiori insidiari soleat 123 332 Sacr. 34 218 Sacr. 70 262 Sacr. 98–100 340 Sobr. 45 164 Somn. 1,51 48 Somn. 1,122 198 Spec. 1,167,4 345 Spec. 1,252 48 Spec. 3,208f. 229 Spec. 4,60 218 Vit Mos 2,22 84 17,26 229
419 Qumrantexte 1Q28a 2,3b–22 88 1Q28a 2,5ff. 222 1QGen Ap 19,10– 20,34 198 1QGenAp 20,20 48 1QGenAp 20,21f. 107 1QGenAp 20,28f. 107, 185 1QH 3,19f. 152 1QH 5,18f. 152 1QH 6,24 152 1QH 15,4 198 1QH 15,9 198 1QM 1,14f. 107 1QM 7,3b–6 88, 222 4Q 560 1,4 166 Rabbinische Schriften Mischna mJom 8,6 215 mSchab 7,2 84 mSchab 18,3 84 Tosefta tKet 7,9a 145 tKet 7,10 145 tSanh 12,10 108, 226f. tSchab 4,9 134 tSchab 14,3 84 Bavli bBB 126b 227 bBQ 50a 184 bBQ 82b 146 bBer 34b 123, 184, 227 bBer 62b 87 bErub 41b 87 bGit 67b 165 bGit 70a 141f. bHag 3b 215 bJeb 121b 184 bJeb 64b 144f., 161 bJeb 71b 162, 165 bJom 21b 165 bJom 29a 162, 164 bJom 66b 87 bJom 83b–84b 215 bJom 84b 215 bKet 60b 143 bKet 75a 145 bKet 77a 145 bNed 41a 165 bPes 93b 141 bPes 94a 141 bPes 112b 143 bPes 113a 331 bQid 72a 141 bSanh 17b 331 bSanh 101a 108, 226 bSanh 108b 162, 165 bSchab 33a 86f. bSchab 66b 165 bSchab 67a 141, 165
420
Register
bSchab 128b 84 bSchab 134b 161 bTaan 19a 227 Yerushalmi jBer 5,5 123, 184 jGit 7,48c 215 jJom 8,45b 215 jKet 12,35a 226 jTer 1,40b 215 jSchab 1,4b 164 jSot 8,4 161 syrBar 73,2f. 109 TestXII TestGad 5,9f. 346 TestJud 23,3 31 TestLev 17,11 229 TestNaph 2,8 332 TestRub 1,7f. 346 TestRub 2,3–3,2 332 TestRub 3,4 332 TestSim 2,12f. 346 TestAbr 1,24 371 15,21 371 TestSal 7,3 108, 266 18 135 18,21 135
Neues Testament Mt
1,1 317 4,24 102, 114 5,44f. 54 7,6 230 8,5–10 106 8,6 102, 103 8,8 47, 104 8f. 70, 317 8,12 318 8,13 47, 104 8,14f. 42, 179 8,15 107 8,16 317 8,17 317 9,12 50 9,18 107 9,20 47 9,29 107 9,32f. 62, 217, 221, 224 10,1 199 10,6 317 10,7f. 120 11,5 120, 217, 224 11,5f. 317 12,11f. 74 12,13 104
Mk
12,15 37 12,22 62f., 195, 217, 221, 224 12,23 196 12,24 221 12,26 221 12,28 196 12,39 197 12,42 197 12,45 197, 199 13,14 232 13,15 47, 104 13,16 219 13,30 318 13,42 318 13,50 318 15,3–11 229 15,14 221 15,17 41, 229 15,28 47, 104 15,29–31 235 15,30f. 55, 217, 224 15,31 104 17 135, 137 17,14–21 129, 135, 148 17,15 102, 315 18,34 318 20,34 83, 107 21,14 63 22,7 318 22,13 318 23,24 221 24,8 320 24,45 104 24,51 318 25,30 318 25,34–39 90 25,34–40 64 1 179 1–8 372 1,4 233 1,6 100 1,7 233 1,11 152 1,14 233 1,14f. 109 1,15 60, 62, 65, 233 1,16 230 1,21–28 38, 62f., 114, 181, 183, 231 1,22 233 1,24 151 1,26 100 1,28 232 1,29 105 1,29–31 38, 46, 55, 90, 102f., 105, 114, 180, 181–87, 231 1,30f. 179 1,31 55, 107, 114, 227
1,32 62, 225 1,32–34 39, 114, 183 1,34 37, 40, 50, 62, 221, 232 1,38f. 233 1,40 103, 225 1,40-45 31, 38, 42f., 116, 231 1,40f. 106 1,41 106, 227 1,41f. 83 1,44 122, 232 1,45 233 2,1–3 99 2,1–3,6 45, 229 2,1–12 38, 42, 45, 86, 102f., 117, 231 2,3 225 2,5 149 2,9 346 2,11 346 2,15–17 75 2,17 50f., 104, 109, 255, 266 2,18–22 75 2,23–28 75 3,1–6 38, 45, 75, 102, 117, 231 3,2 50 3,4 51, 84, 104 3,5 59, 104 3,7–10 105 3,7–12 39 3,10 37, 47, 50, 106, 227 3,11 151f., 232, 304 3,13–19 234 3,14 233 3,20 100 3,22 65, 229 3,22–27 89 3,31–35 234 4 374 4,3 233 4,3–9 106 4,9 233 4,12 235 4,13–20 106 4,23 233 4,24 233 4,35–41 38 4,40 149 5 181 5,1–20 38, 63, 230 5,2–4 63 5,5 304 5,6 103 5,6f. 100 5,7 151f., 304 5,11 103 5,12f. 199 5,13 100
Register 5,20 233 5,21–24 38 5,21–43 46, 90 5,22 46 5,22–24 104 5,23 46, 51, 104, 107, 225 5,24 48 5,25 42, 46f. 5,25f. 109 5,25–27 47, 103, 299 5,25–34 38, 46, 90 5,26 46–50, 181, 255, 298, 315 5,27f. 106, 227 5,28 46, 51, 104 5,28f. 104 5,29 47, 49f., 104, 181 5,30 49 5,30f. 49, 106, 227 5,31 105 5,33 46, 103 5,34 46f., 49, 51, 60, 104, 149 5,35 46 5,35–43 38, 104 5,36 46, 149 5,37 105 5,38–43 102 5,41 107, 227f. 5,41f. 152 5,42 46, 103 5,43 232 6,2 107, 225, 233 6,5 50, 107, 225 6,7 199 6,8 100 6,12 233 6,13 50, 54, 100 6,35–44 38 6,36 74 6,38 100 6,41 227 6,45 74 6,45–52 38 6,46 153 6,51 233 6,52 59 6,53–56 39, 228 6,56 49, 51, 104, 106, 227 7,1–23 228–29 7,1–30 217 7,14 233 7,15 122, 229 7,18 234 7,19 41 7,24–30 38, 63, 106, 229f. 7,25 103 7,29f. 151 7,31 59
7,31–37 18, 38, 49, 55f., 63, 82, 89, 107f., 123, 217–35 7,33 106, 108 7,34 227 7,35 59, 234 7,36f. 225 7,36–50 76 7,37 109, 156 8,1–9 38, 228, 234 8,9 74 8,11 196 8,12 227 8,17 59 8,17–21 59, 89, 234 8,17f. 235 8,18 233 8,22 106, 225, 227, 231 8,22–26 18, 38, 49, 55, 59, 63, 82, 89, 108, 117, 189f., 217, 233, 235 8,23 107f., 225, 226 8,23f. 106 8,23–25 234 8,25 107, 225 8,30 232 8,31 151, 315 8,35 51 9,7 152, 233 9,12 56, 151, 315 9,14–18 105 9,14–27 90, 217, 231 9,14–29 38, 42, 56, 63, 114, 129, 135, 147–53, 189, 221, 316 9,16–19 106 9,17 56, 222, 224 9,18 48, 56 9,20 56 9,21–24 106 9,22 56, 181 9,24–27 222 9,25 56, 199, 222, 224 9,26 100, 304 9,27 107, 227 9,27f. 105 9,28f. 48, 225 9,29 61, 227 9,31 56, 151 9,38–41 196 9,42–49 181 10,1–27 234 10,13 227 10,16 107, 225 10,26 51, 233 10,46–52 38, 59, 67, 89, 117, 183, 217, 231 10,47f. 304 10,51f. 106 10,52 51, 60, 104, 107, 149
421
Lk
11,9 304 11,12–14 38 11,18 233 11,20–26 38 11,22 149 11,22–24 153 12,29 233 13 319 13,7 31, 232 13,8 320 13,10 233 13,13 51 13,20 51 13,32 152 14,9 233 14,61 152 15,22 228 15,30f. 51, 104 15,34 228 15,39 152, 304 16,8 235 1,22 220, 224 1,52 88 1,68 74 2,29 74 2,38 74 2,48 314 4,18 84, 104 4,18f. 84 4,22 104 4,23 50, 104, 109, 255, 276 4,30 104 4,35 197 4,38f. 179, 185 4,39 115 5,15 187 5,17 47, 84, 104 5,25 84 5,26 50 5,27–39 75 5,31 50 6,6–11 75, 84 6,7 77 6,10 104 6,18f. 47, 104 6,19 84 6,20–22 88 6,37 74 7,1–10 123 7,2 184 7,7 47, 104 7,11–17 104 7,12 148 7,14 107 7,16 84 7,18–23 116 7,21 47 7,22 104, 109, 217 7,30 75 7,36–50 75
422
Register 7,39 83 7,41–43 76 7,50 60 8,1–3 200 8,2 114, 197 8,33 199 8,41 76 8,43 50 8,47 47, 104 8,54 107 9,2 47, 104 9,11 47, 50, 104 9,37–43a 148 9,37–43 129, 135, 199 9,42 47, 104, 148 10,5 102 10,8f. 105 10,9 54, 102, 114, 120 10,13 100, 120 10,15 88 10,17 114 10,18 62 10,25 75 10,30–35 67 10,34 43, 100 11,14 63, 217, 221, 224 11,14–28 195 11,14ff. 194f., 197, 198–200, 210, 215 11,15 195 11,19 196, 200 11,19–20 196 11,20 65, 108f., 120, 196, 199f., 226 11,20ff. 115 11,21f. 198 11,23 196, 200 11,24–26 65, 115, 189–216 11,29 196 11,29–32 197 11,31f. 18 11,37–54 76, 85 11,39f. 122 11,45f. 75 11,52 75 12,16–21 89 12,36 363 12,42 104 12,58 76 13,6–9 85 13,10–16 63 13,10–17 63, 74f., 84, 102, 117, 316 13,11 103 13,11–17 42 13,13 104 13,16 103, 223 13,24–30 87 13,28 318 13,29 87
Joh
13,30 88 13,31 77 13,32 101, 104 14 83 14,1–24 73–79, 83–89 14,1–6 31, 99, 102, 117f. 14,2 68 14,4 47, 104, 107 14,16–24 76 14,34 100 15,11–32 85 16,14 89 16,15 88 16,19–22 230 16,19–31 85, 315, 354 16,24f. 314 17 319 17,11–19 116, 122 17,15 47, 104 17,15f. 84 17,19 60 18,13 227 18,14 88 18,18 76 18,25 16 18,43 84 19,1–10 76 20,20 77 21,11 31, 42 21,28 74 22,14–38 76 22,26f. 88 22,51 47, 83, 104, 107 23,13 76 23,43 362 24,34 372 2,1–10 184 2,4 184 4 179f., 263 4,23 185 4,46–54 103, 187–89 4,46b–53 123 4,47 55, 104 4,52 55, 114, 179, 182 5 263 5,1–18 75 5,2–9a 100 5,2–9b 117, 263 5,4 104 5,5 103, 263 5,6 104 5,9 104 5,11 104 5,13 104 5,14f. 104 5,25 185 7,23 60, 104 7,30 184 8,20 184 9 86, 89
Apg
9,1–7 75 9,2 346 9,6 55, 100, 108, 226 9,13–17 75 11,41f. 227 11,51 184 12,23 184 12,33 184 12,40 104 13,1 184 16,21f. 320 17,1 184, 227 18,32 184 2,24 74, 320 2,44 234 3,11 104 4,4 234 4,10 104 4,21 74 4,22 103 4,23 74 5,34–39 85 6,6 107 7,33 74 7,55 227 7,55–60 362 8 82 8,17 107 8,18 107 8,18–24 103 8,19 107 9,12 107 9,17 107 9,24 77 9,33 103 9,34 47, 104 9,36–42 64 9,40 227 9,41 107 10,38 47, 104 12,20 230 13 82 13,3 74 14,9 60 15,5 85 15,7 234 16,25 227 16,36 49 19,6 107 19,13–16 190 19,18f. 190 20,38 314 21,3–6 230 23,6–10 85 26,5 85 27 185 27,3 230 28 179f. 28,1–10 185 28,6 187
Register
Röm
1 Kor
28,7f. 103, 185–87 28,8 47, 90, 104, 107, 179 28,8f. 186 28,9 187 28,26 232 28,27 47, 104 1,27 338 2,19 221 3,22 234 3,24 74 4,11 234 4,19 345 5,6 345 6 361 6,3 361 6,19 345 8 319 8,3 345 8,22 320 8,23 74, 227 8,26 345 9,2 314 10,14 234 10,14–17 232f. 10,16 234 10,16f. 232 11,25 59 12 258, 260, 334f. 14,1f. 345 14,1–15,3 325 14,14 229 14,21 345 15,1 345 15,11 342 16,18 41, 337 1,21 234 1,25 345 1,27 345 1,30 74 2,2f. 349 2,3 345 2,14 373 4,10 345 4,10–13 349 5,6 261 6,13 337 6,18 334 6,18f. 344 7 341–44, 351 7,4 334 7,6 342 7,7f. 344 7,8 342 7,9 342, 344 7,10 342 7,25 342 7,26 342 7,27f. 344 7,32–34 344
7,35 338 7,36 338 7,40 342 8,1–11,1 325 8,7 345 8,9f. 345 8,11f. 345 9,5 183 9,22 345 9,24–27 326, 334 10,3f. 345 10,16f. 345 10,17 230 11,2 342 11,14 339–41, 351 11,16 340 11,17 342 11,22 342 11,23b–25 345 11,24 345 11,29–32 346 11,29f. 344–47, 351 11,30 344,–46, 349 12 258, 260, 323, 335–39, 351 12,9 261, 333f. 12,10 339 12,14–26 336–38 12,22 345 12,23 43, 338 12,24 338 12,25 339 12,28 18, 333f. 12,30 18, 261, 333f. 13 261 13,5 338 14,22 234 14,40 338 15 346f., 355, 359f., 365f., 368, 369, 371f., 376–78 15,2 234 15,3b–5 371f. 15,11 234 15,12 367, 372f. 15,21f. 374 15,35–49 371–77 15,36–41 347 15,38 334 15,39 347 15,39–41 376 15,43 345 15,44 346f. 15,45–49 374 2 Kor 359 1,4–9 350 1,8 350 2,14–7,4 366, 368 2,16b 366 3,18 375 4,8–12 349
423
Gal
Eph
Phil
4,10 368 4,14 368 4,16 375 5 359, 368, 371, 378 5,1f. 198 5,1–10 364–71 5,2 227 5,4 227 5,12 368 5,16 353 6,4–10 349 6,5 315 7 350 10–13 349 10,10 345 11,7 88 11,21 345 11,21b–33 349 11,23 315 11,29 345 11,30 345 12 156, 349 12,5 345 12,7 156 12,7–9a 349 12,7–10 42 12,9f. 345 12,10 345 13,3f. 345 13,4 345 13,9 345 2,20 377 3,2 232f. 3,5 232 3,28 297 4,9 345 4,13 345 4,13f. 156 4,13–15 42, 349 4,19 320 4,27 320 5,11 349 6,17 334, 349 1,7 74 1,19 292 1,22f. 261 2,8 60 2,19 261 3,7 292 4,7 292 4,10–13 261 4,15f. 261, 352 4,16 258, 292 4,18 59 5,23f. 261 1 367, 370, 378 1,7 360 1,12–26 360
424
Kol
Register 11,6 315 12,2 320 13,3 104, 315 13,12 104, 315 13,14 315 14,11 315 15,1 315 15,6 315 15,8 315 16,9 315 16,10f. 315 16,13f. 199 16,21 315 18,4 315 18,7 315 18,8 315 18,10 315 18,15 315 21,4 315, 318 21,9 315 22,2 50, 104 22,15 230 22,18 315
1,18b–26 360–64 1,20 334 2,26f. 345 3,2 230 3,11 361 3,19 337 3,20f. 375 3,21 334
1,18 261 2,19 292 4,14 50 1 Thess 1,7 234 2,7 326 2,10 234 2,13 232, 234 4,12 338 4,13–18 359, 376, 378 5,3 16, 320 5,14 17, 345 5,23 334 1 Tim 1,10 258f. 4,4 109, 233 4,14 107 5,23 70, 82, 261 6,3 258 6,4 259 6,10 314 2 Tim 1,6 107 1,13 258 4,3 258 Tit 1,13 258 2,1 258 2,8 258 1 Petr 2,24 317 5,5f. 88 2 Petr 2,22 230 Hebr 4,2 232 6,2 107 13,17 227 Jak 4,6 88 4,10 88 5,9 227 5,13–18 227 5,14 17 Offb 1,4 199 3,1 199 4,5 199 5,6 199 9,5 315 9,18 315 9,20 315
Neutestamentliche Apokryphen / weitere frühchristliche Literatur Barn
5,2 68, 262, 333 8,6 315 1 Clem 16,4 68 16,5 333 30,2 88 56,6 314 59 17 Polyk. 76,2 183 ActBarn 15 185 ActJoh 22 264, 333 56 138, 264, 333 108 39, 103, 264, 333 ActPaul 28 83 ActPhil 4,1 333 ActThom 10,6 262 46 189 63 138 64 138
75 138 77 138, 151 81 138 156 264, 333 ActPt in NHC VI 91, 93, 264 5,7f. 91 5,16–18 91 8,14–19 91 9,14–21 91 9,30–32 16, 91 10,31–34 91 11,6–26 91 11,15–25 333
Altkirchliche Literatur Augustinus civ. 8,14–22 133 Clemens Alexandrinus paid. 1,2,6 266 paid. 1,9,88 266 protr. 2,30,1f. 264 strom. 1,75,2 267 strom. 3,104,4 333 strom. 6,157,2 267, 323 strom. 7,6,33,4f. 137 Epiphanius adv. haer. 1,417 355 Euagrios Scholastikos Hist. eccl. 4,29 32 Euseb hist. eccl. 1,8,5 163 hist. eccl. 1,8,9 163 hist. eccl. 1,8,16 163 hist. eccl. 5,19,3 189 hist. eccl. 5,28,14 323 hist. eccl. 10,4,11 105, 266, 324 pr. ev. 1,5 324 pr. ev. 1,5,5 266 Hippolytos haer. 9,15,4–16,1 215 Ignatius Eph. 7,1f. 262 Eph. 7,2 39, 262, 333 Eph. 20,2 39, 268, 324 Pol. 1,3 39 Pol. 2,1 39 Trall. 6,2 39 Irenäus adv. haer. 11,11 355 adv. haer. 3,5,2 266f., 333 Isidorus Hispalensis Etym. 4,7,5 125 Iustinus apol. 1,22,6 263
Register apol. 1,30f. 263 apol. 1,33 266 apol. 1,54,10 263 apol. 1,67 17 dial. 69,3 263 Minucius Felix 30,5 147 Nemesius Emesenus De nat. hom. 8,64,1–15 291 De nat. hom. 27,88,3–8 291 Origenes c. Cels. 2,48 120 c. Cels. 2,67 266 c. Cels. 3,22–26 263 c. Cels. 3,54 266 c. Cels. 3,75 267 c. Cels. 4,15 266 c. Cels. 5,14 354 c. Cels. 7,36 353 c. Cels. 7,39 353 c. Cels. 7,59f. 50 c. Cels. 8,72 266 comm. in Mt. 13,6 61, 135f., 147 hom. 267, 269 hom. Num 18,3 323 Philostorgios HE 8,10 137 Tertullian apol. 9,10 137, 147 bapt. 4,5 324 bapt. 5,2,5 324
Antike griechische und römische Literatur Aelianus nat. 9,33 48 var. 12,11 179 VH 3,1 p. 39,21 232 Aischylos Frgm. 10A 75,4 224 Pr. 747 362 Prom. Vinct. 473 109 Ammianus Marcellinus 23,6,24 32 Anaximenes Frgm. 2,3 363 Apollodor 3,69ff. 219 3,84f. 219 3,94 219 Apollonios von Rhodos Argon. 3,761–765 290
Argon. 4,1665–1669A 215 Apuleius mag. 42–52 133 mag. 43,9 150 mag. 44,1 130 mag. 44,2 131 mag. 45,2 125 mag. 45,5 125 mag. 50,2 125 mag. 50,9 125 mag. 50,18 125 mag. 50,23 125 mag. 50f. 133 met. 8,11,3 37 met. 9,39 125 Aristophanes Ach. 1043 53 Eccl. 928 282 Vesp. 191–196 63 Aristoteles Cael. 1,4 109 eth. Nic. 1,1 47 eth. Nic. 2,3 313 eth. Nic. 3,7 313 eth. Nic. 6,7 58 GA 1,18,725B.8–12 344 GA 1,18,726A.11–13 344 GA 3,1,750B35–751A2 343 hist. an. 3,1,509A–510A 338 hist. an. 3,19 298 hist. an. 8,22,604A 215 hist. an. 424A 339 hist. an. 486A 338 metaph. 1,1,980A 21 217 metaph. 1042A 339 metaph. 1049B 339 metaph. 1050B 339 part. an. 4,10,687A 106 parv. nat. 437A 219 parv. nat. 466AB 170 parv. nat. 469B 170 pol. 3,16,1287A 99 pol. 1252B 340 pol. 1282A 327 rhet. 1,1 97 rhet. 1,1355B 97 Artemidor Oniroc. 1,76,18 224 Chrysippos Frgm. 1138 109, 340 Frgm. 1140 109, 340 Cicero de orat. 9,28 219 de orat. 40f. 218 fin. 2,95 277 fin. 5,29,87 219
425 nat. deor. 3,24f. 179 nat. deor. 3,63f. 179 Tusc. 1,18 358 Tusc. 2,48 63 Tusc. 5,39,113 219 Tusc. 5,29,113f. 219 Tusc. 5,40 218 Verr. 2,3 88 Columella De re rustica 7,12 215 Ctesias Frgm. 3C 688F 45 224 Dio Cassius 53,30,3 51 66,8 52, 227 66,17,1–4 186 73,14,3f. 32 Diodorus Siculus 4,67 219 5,66,6 38 17,31,4ff. 313 17,37,5 220 Diogenes Laertius 7,115,3 345 Dion Chrysostomos or. 1,8 58 or. 3,100 329 or. 8,5 329 or. 8,7f. 329 or. 13,32 329 or. 15[32],11 232 or. 17,2f. 329 or. 17,6 329 or. 27,7 329 or. 30,42 88 or. 32,17 329 or. 33,6 58 or. 38,46 282 or. 43,3 282 or. 52 277 or. 59 277 or. 66,16 282 Dionysios Halicarnassus comp. Verb. 14,85 224 Dorotheos von Sidon Astrol. Frgm. Graec. 375,24 224 Epiktet diss. 1,16,9–14 340 diss. 1,18,16–20 276 diss. 1,18,8 234 diss. 1,19,6 179 diss. 1,24,6–10 329 diss. 1,29,39 329 diss. 2,5,27 164 diss. 2,14,21 164 diss. 2,20,37 234 diss. 2,22,12 164 diss. 2,23,10f.22 234 diss. 2,23,22 234 diss. 2,24,19 234
426 diss. 3,1,3f. 340 diss. 3,3,1ff. 329 diss. 3,10,11–15 164 diss. 3,10,13f. 329 diss. 3,14,4–6 329 diss. 3,22,40 185 diss. 3,22,58 164 diss. 3,23,30 58, 276 diss. 4,1,89 164 diss. 4,8,21 234 diss. 4,8,27f. 276 diss. 4,8,31 329 diss. 4,8,42 340 ench. 2 329 ench. 9 329 ench. 17 329 Euripides El. 1252 215 Herc. 1301 362 Hipp. 247 282 Med. 145 362 Med. 798f. 362 Fronto Ad M. Caesarem 3,20 349 Ad M. Caesarem 5,20,1 349 Ad M. Caesarem 5,20,25 349 Ad M. Caesarem 5,20,44f. 349 Ad M. Caesarem 5,20,57–59 349 Ad M. Caesarem 5,20,61–64 349 Ad M. Caesarem 5,20,70 349 Gaius dig. 26,5,8 223 dig. 28,1,25 223 dig. 28,1,6 222 dig. 44,7,1 222f. dig. 45,1,1 pr. 223 Heraklit Emp. Test. 31,5 363 Emp. Test. 32,5 363 Frgm. 46 125 Frgm. 101A 218 Frgm. 107 218 Herodot 3,33,4 125 3,33,6 125 3,129f. 54 7,171 31 Hesiodos erg. 109–115 38 erg. 243 31 Homer Il. 1,1,3 357 Il. 4,117 281 Il. 5,397 281
Register Il. 5,399 281 Il. 11,268 281 Il. 11,398 281 Il. 11,514 51 Il. 12,206 281 Il. 12,392ff. 282 Il. 16,581ff. 282 Il. 23 358 Od. 1,242 281 Od. 2,79 281 Od. 9,121 281 Od. 9,440 281 Od. 10,11 219 Od. 15,407f. 38 Horatius epist. 1,2,33f. 81 epist. 2,2,146–214 88 sat. 1,1,80–84 37 Iamblich Vit. Pyth. 29,16,3 78 Iavolenus dig. 21,1,53 131 Iulianos dig. 21,1,1,8 183 dig. 42,1,60 183 epist. 39 in Gal. Frg. 41 (136,8–11) 120 in Gal. 222A 39 Iuvenalis sat. 6,236 307 sat. 13,98 307 sat. 14,252 307 Kallimachos hymn. 5 218 Kleomedes 6,11–25 363 Livius ab urbe condita 2,12,1 –13,5 276 ab urbe condita 2,32 336 Lukian hist. conscr. 15 32 Iupp. trag. 265–269 53 Nigr. 38 215 Philops. 11–16 134 Philops. 16 131, 150 Philops. 19 177 Philops. 21 177 Philops. 25 179 Philops. 35f. 48 Philops. 40 215 Scyth. 2 177 Lukrez de rerum natura 3,487– 490 150 Marc Aurel Εἰς ἑαυτόν 5,8,1 277 Εἰς ἑαυτόν 5,8,7–10 277
Martial epigr. 1,30,47 53 epigr. 1,47 49 epigr. 5,9 48, 106 epigr. 6,31 50 epigr. 8,74 53 Menandros fab. inc. 113 282 Ovid epist. ex Ponto 1,1,53– 58 218 fast. 215f. 88 met. 3,316ff. 219 trist. 5,6,31 219 Pausanias Descr. Graec. 2,4,5 335 Descr. Graec. 6,11,2 177 Petronius 42 48 65 77 Philostratos her. 1,1 230 her. 15,10–16,6 179 vit. Ap. 1,2–5 77 vit. Ap. 1,7 77 vit. Ap. 1,9 77f. vit. Ap. 4,10 166 vit. Ap. 4,20 151, 199 vit. Ap. 4,45 48 vit. Ap. 8,7 219 Platon Charm. 154–158 58 Charm. 156B.C 346 Gorg. 455B 53 Gorg. 456B 53 Gorg. 479B 58 Gorg. 524B–D 370 Hipp. Min. 372E.F 58 Krat. 403B 370 leg. 4,720 327 leg. 720AB 53 leg. 743C 58 leg. 9,857C–D 327 leg. 862C–D 329 leg. 870A.B 58 leg. 932A 234 Phaidr. 67C–E 370 Phaidr. 250D 218 Phaidr. 253E 218 Phaidr. 270C 58, 169 Phaidr. 270E 234 Prot. 354B 282 rep. 332D 54 rep. 405C–410A 44 rep. 405D–406E 192 rep. 406A–408B 247 rep. 407B 44 rep. 408B 50 rep. 409E–410A 44, 97 rep. 583C 282
Register symp. 174B 77 symp. 212C.D 77 symp. 219A 218 Tht. 142D 232 Tht. 178C 180 Tht. 184D 290 Tht. 185E 290 Tim. 44D 170 Tim. 46A–67B 290 Tim. 47A–B 218 Tim. 65C 338 Tim. 73B–D 338 Tim. 77C–E 170 Tim. 85A–B 125 Tim. 88B 234 Tim. 90E–91D 299 Plautus Capt. 598f. 63 Men. 845 63 Plinius d. Ä. nat. 2,2 179 nat. 7,15 108, 226 nat. 2,15f. 179 nat. 7,124 103 nat. 7,166 179 nat. 7,173 103 nat. 7,175f. 103 nat. 8,119 177 nat. 10,59,192 220 nat. 21,166 177 nat. 22,38 177 nat. 25,9f. 326 nat. 26,13 103 nat. 28,4 226 nat. 28,4,24 147 nat. 28,7 147, 226 nat. 28,8 215 nat. 28,25 226 nat. 28,34 147 nat. 28,35 130f. nat. 28,35–39 108, 226 nat. 28,37 63, 226 nat. 28,44 343 nat. 28,58 343 nat. 28,63 147 nat. 28,76 226 nat. 28,86 63 nat. 28,90 177 nat. 28,92 147 nat. 28,99 147 nat. 28,121 177 nat. 28,174 227 nat. 28,177 227 nat. 28,226 147 nat. 28,259 147 nat. 29,11 48f. nat. 29,17f. 53 nat. 29,18 49 nat. 29,2.5.7–9.21f. 50 nat. 29,6 294 nat. 29,32 215
nat. 29,98–102 215 nat. 29,143 227 nat. 30,1f. 124, 191, 213 nat. 30,30 177 nat. 30,34 147 nat. 30,98 177 nat. 30,99 177 nat. 30,103 177 nat. 30,104 177 nat. 30,105 82 nat. 32,113 177 nat. 36,19 131 Plotinos enn. 2,9,14 166 enn. 4,3,23 291 Plutarch Alex. 3 218 Alex. 19 313 Alex. 76 180 am. 758A 59 Caes. 17,1–3 126 Caes. 53,3 126 Caes. 60,4 126 Caes. 60,7 56 cohib. ira 1–3 58 cohib. ira 453D–E 330 coniug. praec. 29 343 coniug. praec. 141B 164 Cor. 6,4f. 336f. de Alex. fort. 336B 234 de communibus notitiis 11 83 de def. or. 420B 234 de def. or. 438B 224 de fort. Rom. 98C 234 de san. praec. 25 83 de san. praec. 136f. 234 de sera 549C 249 de sera 549E 243 de sera 549F 244 de sera 550A 244 de sera 551C 245 de sera 551D 246 de sera 551E 245 de sera 551F 245 de sera 552D–553D 246f. de sera 553F–556E 247f. de sera 556D 249 de sera 556E 249 de sera 558D 245, 249 de sera 558E 249f. de sera 559E 250 de sera 559E–560A 250, 330 de sera 559F 244 de sera 560A 250 de sera 561A 253f.
427 de sera 561B 245, 250, 253f., 257 de sera 561C 250, 330 de sera 561D 250 de sera 561E 251 de sera 562D 251 de sera 562E 251 de sera 562F 251 de sera 563B 257 de sera 563D 253 de sera 564B 253 de sera 565B 253f. de sera 566E 253 de sera 566E–567D 253 de sera 567D/E 253 Lib. Educ. 10 58 Lib. Educ. 17 58 mor. 63 220 mor. 101B–D 330 mor. 136B 83 mor. 309F–310A 218 mor. 370B 31 mor. 434C 219 mor. 438B 221 mor. 478F–479A 330 mor. 500E–F 330 mor. 524A–D 88 mor. 548A–568A 242 mor. 558D 82 mor. 612D 76 mor. 663C 108 mor. 1064 83 mor. 1097f. 80 Per. 13,13 59 Per. 6 164 Pomp. 21 164 quR. 290AB 33 quR. 94 335 Sol. 27,3 183 symp. 4,1,3 108 symp. 4,669E–672C 257 symp. 699E 164 symp. 731B–734D 210 Polybios 13,2,2 88 Poseidonios Frgm. 277,1 363 Prokopios Bell. Pers. 2,22f. 32 Propertius el. 2,32 218 Scriptores Historiae Augustae Hadr. 24,9 179 Hadr. 25,3f. 179 Seneca apocol. 6 178 benef. 6,15,1 52 benef. 6,16,4f. 52, 329 cons. Helv. 3,1 58
428
Register const. 8,2 58 epist. 1,3–5 329 epist. 2,15,1–2 58 epist. 2,3 337 epist. 4,3–9 329 epist. 5,2 340 epist. 5,50,9 58 epist. 5,52,9 58 epist. 8,2 329 epist. 11,6 340 epist. 12,1 350 epist. 12,4 350 epist. 14,3 329 epist. 14,6 329 epist. 15,1f. 350 epist. 15,95,9 51 epist. 23,6 329 epist. 24,16 337 epist. 24,19–26 329 epist. 26,1 350 epist. 27,1 350 epist. 30,11 340 epist. 30,16 337 epist. 40,4 329 epist. 41,4 329 epist. 49,3 340 epist. 49,11 340 epist. 50,4–9 329 epist. 52,9 329 epist. 53,5–9 329 epist. 54,1 349 epist. 54,3 349 epist. 54,6 349 epist. 55,1f. 349 epist. 58,34 329 epist. 60,3 337 epist. 63,1 329 epist. 67,1f. 350 epist. 71,5 329 epist. 72,6f. 329 epist. 74,16 329 epist. 74,23f. 329 epist. 74,33 329 epist. 75,6–14 329 epist. 78 350 epist. 78,8f. 329 epist. 82,10 329 epist. 82,2 329 epist. 82,7 329 epist. 84,1f. 350 epist. 84,5f. 337 epist. 85,12 329 epist. 87,35 329 epist. 90,22f. 337 epist. 93,1f. 350 epist. 93,9 340 epist. 94,17 329 epist. 94,20–24 329 epist. 95,15–29 111, 329 epist. 95,9f. 329 epist. 96,1–3 350
epist. 101,1–3 350 epist. 104,1 350 Marc. 25,1 370 Tranq. 2,1 58 Sophokles Ant. 462–464 362 El. 804 282 Oid. T. 1368 218 Stobaeus Anthologion 3,10,45 88 Anthologion 4,33,31 88 Sueton Aug. 42,3 51 Aug. 53,3 218 Aug. 59 51 Caes. 42 51 Caes. 45,1 126 Caes. 45,1,5 125 Caes. 86f. 363 Cal. 2 125 Cal. 50,2 126 Nero 30,3,6 125 Tib. 11,2 37 Vesp. 7 52, 227 Vesp. 7,2 52 Vesp. 23,4 187 Vesp. 24 186 Tacitus Agr. 45,4 37 ann. 13,16 125 hist. 4,18 227 hist. 4,81 52 Theophilus Autol. 1,7 262 Theophrastos char. 16,14 130f. Thukydides 1,29,2 177 2,47-54 32 3,87 32 Ulpian 23,8,1 131 Epit. 20,13 223 Vettius Valens 2,41,31 125 Vita Aesopi 4 220 Xenophon apol. 30,5 345 cyr. 1,6,15 53 mem. 1,2,49 63 mem. 4,2,5 53 oec. 4,2 345 oec. 7,37 37 symp. 1,15 77
Antikmedizinische Literatur Alexander Trallianus 1,15 147 9,3 186 febr. 1,379 342 febr. 1,407 176 ther. 2,57 342 ther. 2,83 342 Aretaios (morb. acut. et morb. chron.) 1,5 132 1,5,2 150 1,5,4 150 1,5,5 56, 150, 222 1,5,7 150 1,7 150 1,13 186 1,16 186 2,1 80, 81, 83 2,4,4f. 176 2,7 186 2,9f. 186 3,4 131, 150 3,4,1 131 3,4,2 131, 134 3,4,4 125 7,4,2f. 147 Caelius Aurelianus acut. 1,2 205 acut 1,4–183 205–11 acut. 1,4–2,234 206 acut. 1,154 206 acut. 1,155–165 206 acut. 1,166–183 206 acut. 2,81 208 acut. 3,101 215 acut. 3,104 215 acut. 3,105 215 acut. 3,118 210 chron. Praef. 3 44 chron. 1,3 192 chron. 1,4,228 81 chron. 1,60 131 chron. 1,81 147 chron. 2,7,109 294 chron. 2,65–70 223 chron. 3,4,65 294 chron. 3,8 80 chron. 3,96 79 chron. 3,98f. 80 chron. 3,103 80 chron. 3,105 80 chron. 3,114–116 80 chron. 3,122–135 81
Register Celsus med. Prooem. 293 med. Prooem. 1 47 med. Prooem. 8 57 med. Prooem. 9–12 171 med. Prooem. 23f. 288 med. 1,1,4 343 med. 2,6 22 med. 2,6,13–16 103 med. 2,6,7 275 med. 3,1,2 180 med. 3,3 55 med. 3,3,1 168 med. 3,3,1f. 174 med. 3,3,2 174 med. 3,3,5 175 med. 3,4 301 med. 3,4,10 50 med. 3,4,11 175 med. 3,4,15 175 med. 3,5,11 105 med. 3,6,6–8 105 med. 3,8,2 174 med. 3,18,4 63 med. 3,21 79f. med. 3,21,16 80 med. 3,23 125, 131 med. 3,23,1 125, 150 med. 3,23,2 138 med. 3,23,7 147 med. 3,26 81 med. 3,27 117 med. 4,27 299 med. 5,26 97, 312 med. 5,27 215 med. 5,27,2 263 med. 6,16 338 med. 8,13 97, 312 med. 19,11 331 med. 22,4 331 Corpus Hippocraticum Aer. 3–6 347 Aer. 10,4 80 Aer. 10,8 185 Aer 96 Aff. 18,12 283 Aff. 45,5 96 Aph. 1 285 Aph. 1,1 106 Aph. 1,5 275 Aph. 2,12,2 214 Aph. 6,38 97 Ars 286 Ars 3 97 Ars 4 313 Ars 5 99 Ars 6 96 Ars 7 313 Ars 8 97, 312
Ars 11 281, 313 Art. 15 59 Art. 37 Art. 45 117 Art. 46 301f. Art. 47 302 Art. 50,10 214 Art. 50,44 214 Art. 69 301f. Art. 72 54, 108 Art. 77,7 96 Art. 78 301 Cap. Vuln. 20,10 115, 182 Carn. 18,7f. 218 Coac. 193f. 220 Coac. 255,1–9 22 Diaeta 1,25 116 Diaeta 1,35f. 116 Diaeta 4,86f. 116 Decent. 104 Decent. 1 104 Decent. 3 104f. Decent. 5 105 Decent. 6 98 Decent. 7 105 Decent. 8 106 Decent. 8,7f. 108 Decent. 11–17 102 Decent. 14 313 Decent. 16 105 Decent. 17 105 Decent. 17f. 96 Decent. 18 105 Epid. 96, 201, 204, 208, 281 Epid. 1 182, 202, 204 Epid. 1,1,1 283 Epid. 1,1,2 283 Epid. 1,2,5 283 Epid. 1,2,9 214 Epid. 1,3 282 Epid. 1,3,11 174 Epid. 1,3,13 102, 214, 283f. Epid. 1,3,15 284 Epid. 1,3,23 285 Epid. 1,6 342 Epid. 1,11 106, 285 Epid. 1,12,18 206 Epid. 1,24 174 Epid. 1,27E 182 Epid. 1,27N 182 Epid. 1,27O 182 Epid. 2,2,10 286 Epid. 2,2,18 283 Epid. 2,3,11 283 Epid. 2,6,26 185 Epid. 3 182, 202–04, 206, 214 Epid. 3,1,1–2,12 102
429 Epid. 3,1,2 214 Epid. 3,1,3 214, 283 Epid. 3,17 [1–16] 102 Epid. 3,17G 182 Epid. 3,17L 182 Epid. 3,17M 182 Epid. 3,2 282 Epid. 3,2,5 214 Epid. 3,3 284 Epid. 3,3,17 214, 283, 284 Epid. 4,1,22 283 Epid. 4,1,35 283 Epid. 4,43 106 Epid. 5,1,6 283 Epid. 5,1,20 115, 182 Epid. 5,1,43 283 Epid. 5,1,50 283 Epid. 5,43 305 Epid. 5,50 283 Epid. 5,61 284 Epid. 5,80 226 Epid. 5,83 284 Epid. 5,98 284 Epid. 6 339 Epid. 6,4,4 283 Epid. 6,7,1 284 Epid. 7,1 284 Epid. 7,1,2 214 Epid. 7,1,11 284 Epid. 7,1,16 284 Epid. 7,1,42 214 Epid. 7,1,51 115, 182 Epid. 7,1,51f. 283 Epid. 7,1,107 214 Epid. 7,1,109 283 Epid. 7,1,119 284 Epid. 7,3 284 Epid. 7,5 284 Epid. 7,11 284 Epid. 7,25 220 Epid. 7,29 284 Epid. 7,33 284 Epid. 7,46 56, 150, 222 Epid. 7,51 284 Epid. 7,57 284 Epid. 7,62 284 Epid. 7,88 284 Epid. 10,6 222 Flat. 1 96, 104f. Flat. 3 347 Flat. 5f. 96 Flat. 7 347 Fract. 13 54, 108 Fract. 23 59 Fract. 36 97, 313 Genit. 1,1 343 Genit. 4,3 343 Hebd. 347 Hebd. 6 337 Insan. 19 218 Judic. 11,4 115, 182
430
Register Judic. 56,3 185 Jusj. 96, 104 Jusj. 12 104 Jusj. 18 102 Jusj. 4–10 105 Lex 104 Lex 2 105 Lex 3 106 Lex 4 102 Lex 5 105 Loc. hom. 2,1 95, 339 Loc. hom. 3 279 Loc. hom. 3,20–4,4 346 Loc. hom. 4 288 Loc. hom. 4,6,60–7,6 288 Loc. hom. 42 280 Medic. 104 Medic. 1 96, 105 Medic. 1,15 105 Medic. 1,16 248 Medic. 1,9 248 Medic. 2 50, 105 Medic. 4 286 Medic. 7 96 Morb. 61 Morb. 2,21 218 Morb. 7,1 56 Morb. 10,6 56 Morb. Sacr. 37, 150, 280 Morb. sacr. 1 98, 131, 312 Morb. sacr. 1,1 125 Morb. sacr. 1,1–4 135 Morb. sacr. 1,6 97 Morb. sacr. 1,9 125 Morb. sacr. 1,10 131 Morb. sacr. 1,11 125 Morb. sacr. 1,39f. 134 Morb. sacr. 1,55 125 Morb. sacr. 2,4ff. 130 Morb. sacr. 7,1 150, 222 Morb. sacr. 7,1–15 136 Morb. sacr. 8,13 136 Morb. sacr. 10,6 150 Morb. sacr. 11,2ff. 33 Morb. sacr. 16,13 96 Morb. sacr. 18,1–6 136 Morb. sacr. 20 170 Morb. sacr. 27–29 170 Mul. 1,62 299 Mul. 1,71 97 Mul. 2,123 103 Mul. 2,126 103 Mul. 2,151 103 Mul. 8,62 296 Mul. 40,12 283 Nat. hom. 2 311 Nat. hom. 2–4 95 Nat. hom. 4 96 Nat. hom. 5 347
Nat. hom. 7 96 Nat. hom. 7,37–43 346 Nat. hom. 9 96, 347 Nat. hom. 9,10 96 Nat. mul. 342 Nat. mul. 3 343 Nat. mul. 8 343 Off. 99 Off. 2 50 Off. 4 106 Praec. 104 Praec. 2,9 95 Praec. 4f. 96 Praec. 5 109 Praec. 6 97 Praec. 7,5 95 Praec. 8,9 95 Praec. 9 104 Praec. 9,2 95 Praec. 9,8 95 Praec. 10 104 Praec. 13,9 95 Praec. 14,10 96 Prisc. 1,15 342 Prisc. 20,8 95 Progn. 44, 96 Progn. 1 37, 62, 192 Progn. 2 22, 103 Progn. 1,1-22 22 Progn. 17,2 115, 182 Progn. 22,9 214 Progn. 23,18 214 Progn. 24,3 214 Progn. 25 37, 192, 269 Steril. 342 Superf. 342 Vict. 1,25,1–16 23 Virg. 342 Vet. med. 280 Vet. med. 4 286 Vet. med. 12 281 Vet. med. 22 280 Dioskurides mat. med. 100 mat. med. 1,67,2 226 mat. med. 2,80,2 227 Galen Anat. admin. 2,280 342 Anat. admin. 2,283 342 Anat. admin. 2,660 342 Comp. med. 9,10 299 Comp. med. sec. loc. 12,433 342 Const. art. med. 9,1 347 Cris. 9,628,722 345 Diff. resp. 2,7 32 In Hp. Aph. comm. 4,11 80 In Hp. Epid. 6 comm. 1,5 138
In Hp. Epid. 6 comm. 4,8 105 In Hp. Epid. 6 comm. 5,25 131 Libr. propr. 32 Loc. aff. 306 Loc. aff. 1,1 308f. Loc. aff. 1,2 308f. Loc. aff. 1,3 309 Loc. aff. 1,5 308 Loc. aff. 3,1 307 Loc. aff. 3,7 307 Loc. aff. 4,8 275 Loc. aff. 6,4 310 Loc. aff. 6,6 339 Meth. med. 1,6 339 Meth. med. 10,790 342 Opt. corp. cons. 4,738 342 Opt. med. 104 Plac. Hp. et Pl. 2,4,31 289 Plac. Hp. et Pl. 5,2,26 345 Plac. Hp. et Pl. 5,2,28 345 Praes. 4 53 Ptisana 6,821 342 San. tu. 5,4 109 San. tu. 6,54 342 Sect. 1,90 342 Sem. 1,16 338 Simpl. med. temp. 1,4 32 Simpl. med. temp. 1,12,299 55 Simpl. med. temp. 10,1 108 Simpl. med. temp. 10,15 108 Simpl. med. temp. 10,18–30 108 Temp. 1,587 342 Us. part. 1,2,3 106 Us. part. 1,4,9 106 Us. part. 1,5,9f. 106 Us. part. 1,12,34 106 Us. part. 2,1,88 106 Us. Part. 3,85 342 Us. Part. 3,237 342 Us. Part. 3,351 342 Us. Part. 3,549 342 Us. part. 4,358f. 347 Us. part. 11,14 341 Us. part. 17,1 339 Kyraniden 1,13,16–22 134 1,17,15–17 134 1,19,9–17 134 1,24,42 131
Register Marcellus Empiricus Med. 8,43 63 Med. 8,166 63 Oreibasios Coll. 1,15,3f. 342 Coll. 2,63,1 342 Coll. 3,40–52 343 Coll. 5,1,19 342 Coll. 6,37f. 343 Coll. 45,30,10–14 147 Coll. 49 55 Paulos von Aegina 7,2 226 Rufus von Ephesos Act. 3,8 81 Qu. med. 302 Qu. med. 1–10 303 Qu. med. 2,3 342 Qu. med. 2,9 342 Qu. med. 3,14 302 Qu. med. 3,34 302 Qu. med. 4,3 302 Qu. med. 11–16 303 Qu. med. 17–22 304 Qu. med. 21f. 303 Qu. med. 23 303f. Qu. med. 24 304
Qu. med. 26 303 Qu. med. 28–31 304 Qu. med. 29f. 304 Qu. med. 34f. 303 Qu. med. 37–39 304 Qu. med. 40 302 Qu. med. 46–62 304 Qu. med. 51 303 Qu. med. 60 303 Qu. med. 63f. 304 Qu. med. 64–70 304 Qu. med. 65f. 304 Qu. med. 72f. 303 Scribonius Largus comp. 1,44–51 104 comp. 6,4 125 compos. 17 147 Soran Gyn. 1,3f. 104, 326 Gyn. 1,4 298, 30 Gyn. 1,11 293, 296 Gyn. 1,17 298 Gyn. 1,30 343 Gyn. 1,32 344 Gyn. 1,32,3 343 Gyn. 1,42 342f. Gyn. 1,48 298
431 Gyn. 2,1 298 Gyn. 2,10 298 Gyn. 2,11 298 Gyn. 3,1ff. 296 Gyn. 3,3,1 326 Gyn. 3,4f. 297 Gyn. 3,4,9 81 Gyn. 3,8 298 Gyn. 3,10 298 Gyn. 3,10f. 298 Gyn. 3,17 298 Gyn. 3,19 298 Gyn. 3,20 300 Gyn. 3,21 298 Gyn. 3,22 298, 300 Gyn. 3,29 299 Gyn. 3,31 300 Gyn. 3,36 298 Gyn. 3,42–44 298 Gyn. 4,2 298 Gyn. 4,5 298 Gyn. 4,11 81 Gyn. 4,35f. 298 Gyn. 4,36 298 Gyn. 4,38 299
432
Register
Sachregister (Auswahl) Abendmahl 137, 267–68, 324, 344–46 Aberglaube 16, 295, 334 Abstinenz 81, 341–44 Abszess 44 Abwehrhandlung 65 Additionsmodell 354 Ader 296, 307, 336 Aderlass 96, 99, 140–41, 165, 170, 211, 298 Affekt 98, 251, 276, 281, 319 Affiziertwerden 32, 65, 104, 244, 297, 308, 310 After 43 Aggression 33 Akmé 23 Allopathie 96, 136, 147, 174, 209, 280, 297, 305 Alltagsmedizin 325 -erleben 241 -praktik 176 -religiosität 142 -welt 344 -wirklichkeit 325, 351 -wissen 25, 163 Amulett 98, 134–35, 142, 167, 176–78, 191, 195, 295 Anamnese 48, 201, 285 Anatomie 47, 287–93, 306–10, 337 Anemone 177 Angst siehe Furcht Anis 81 Anpassungsdruck 78 Ansteckung 30–33, 108, 131, 137, 226 Anthropologumenon 13, 21, 311 Antipathie 7, 60, 65–66 Apathie-Axiom 319 Aphasie 56, 138, 222 Apokalyptik 27, 31, 161, 256, 261, 315, 366, 368 Apophthegma 73, 75, 84 Apoplexie 117 Apopompe 151, 224 Apostase 96, 170, 174 Apostasie 200, 259 Apostel 25, 91–93, 126, 138, 264–68, 292, 334 Apotheker 14, 50, 92, 100, 241, 265 apotropäisch 108, 131, 147, 191, 226 Appetitlosigkeit 173, 203 Appräsentation 38, 62, 67, 98, 211 Approbation 53, 110 ars moriendi 364, 367 Arterie 41, 291, 293, 296, 313 Arthrose 302 Arznei 91, 264–66, 268 -mittelbehälter 16, 91–92, 264–66 Arzt -beruf 15, 18, 27, 49–60, 96–100, 105, 121, 163, 212–13, 244, 268, 327 -ethos 99, 268 -honorar 50, 97, 103, 332 -kritik 48–50, 109, 191, 313 -losigkeit 18, 25–27, 260
-metaphorik 57, 244, 247, 252, 254, 266, 276, 333 -Patienten-Dialog 56, 106, 302–06 -Patienten-Verhältnis 106, 259, 276, 310 -stand 192, 312 -wechsel 109 Facharzt 52 Gemeindearzt 327 Hausarzt 52 Landarzt 54 Leibarzt 51, 108 Oberarzt 13, 93, 266 Seelenarzt 58, 60, 91–93, 254, 259, 265, 332 Stadtarzt 50, 53–54, 108 Wanderarzt 53, 102, 281, 327 Wunderarzt 17 Ärzteagon 289, 302, 305, 327 Askese 139, 264, 328 Asklepios 103, 134, 185, 242, 262–64, 276, 335 -kult 185, 219, 263, 335 -medizin 326, 346 -priester 335 Astrologie 19, 124, 135, 142, 177, 191 Atem 22, 170, 223, 285, 289, 338 -beschwerden 44, 349 Atomismus 32, 294 Auferstehung 151–52, 265, 353–79 Aufrichten 107, 181, 188, 209 Augen 108, 132, 217–18, 278, 300, 339 -braue 278, 341 -entzündung 250 -fluss 283 -leiden 45, 63, 108, 156, 278, 348 -schmerzen 283 -wimpern 341 Ausbildung 53, 63, 92, 112, 221, 265, 267, 286, 294 Ausgrenzung 32, 131, 154 Aussatz 31, 42–43, 86, 106, 116–17, 120, 142–45, 156, 231 Ausspucken 107–08, 131, 225–26 Austrocknung 45, 311 Auszehrung 45, 78 Autorität 56, 76, 104, 254, 289, 291 Axiom 65, 76, 93, 95, 103, 108, 130, 136, 146, 155, 159, 188, 243, 254, 282 Bänder 117, 258, 288, 291–92 Bart 340–41 Bauch 41, 135, 145, 336–37 -decke 244 -fell 80 -höhle 80 -schmerz 278, 283, 308 Begierde 58, 161, 164, 242, 253, 299, 330 Behandlungsverbot 22 Bein 273, 339 Schienbein 283 Berührung 33, 49, 59, 83, 104, 106–08, 225–26
Register Beschneidung 161 Besessenheit 18, 63, 114, 125–56, 181, 199–201, 221, 223 Besserung 204, 209, 305 Betäubung 150 Betrübnis 254, 276, 350 Bettlägerigkeit 102, 167, 181 Beunruhigung 125, 247, 276, 304 Bevollmächtigung 120 Bewegung 164, 197, 240, 253, 285, 288–89, 299, 306 Bewegungsunfähigkeit 117, 231 Bibergeil 209 Bildung 25, 163, 183, 210, 214, 242, 277, 290, 326, 329 Bildungshintergrund 336 -milieu 70 -niveau 28 -voraussetzung 63, 180, 256, 262 Bilsenkraut 277 Biologie 169, 375 Biss 185, 215, 263, 277 Bitumen 277 Blase 310 Blasenleiden 302 -entzündung 310 Blindheit 51–63, 67, 74, 88, 106–07, 120, 190, 195, 217–19, 224, 231, 234, 315 Blut 42, 47, 86, 147, 170, 186, 296, 336 -fluss 46–50, 160, 181, 255, 285, 298–99, 315 -gefäß 298, 337 -kreislauf 47, 98, 337 -leere 68, 273 -verlust 299 Brandmal 253 Brennen 99, 241, 269, 282, 330 Brot 100, 109, 164, 227–28, 230, 337 Brust 215 Brustdrüsen 145 Buchstabenmystik 176 Bürgerrecht 51 Charisma 17–20, 27–28, 118, 123, 184, 260, 334 Chirurgie 16, 45, 50, 58, 223, 281, 302 Chrie 75 Christologie 13–14, 40, 70, 90, 104, 152, 156, 184, 217, 231, 256, 262–63, 266, 273, 318–19, 324, 333, 345 Christus medicus 13–19, 37–39, 50, 61, 94, 101, 105, 118, 255, 257, 261, 323, 324 Christusgemeinschaft 359–64, 377 Christusgeschehen 25, 29, 69, 351 Chronometrie 202 Dämon Dachgeist 142 Dekangeist 135 Fieberdämon 166, 182, 199 böser Geist 15, 190–91 stummer Geist 151 tauber/stummer Geist 136, 151 unreiner Geist 103, 108, 128, 136, 138, 194– 201, 211, 213–14, 224, 229 Krankheitsgeist 167, 197
433 Dämonenbannung 15, 26, 38, 64, 92, 97–98, 101, 114, 120, 122, 134, 137, 189, 191, 194, 198, 211, 314 -beschwörung 17 -widerstand 148 Dämonisierung 137, 151 Dämonologie 28, 60–66, 72, 90, 98, 114–15, 122–23, 128, 132–33, 141–42, 152–55, 194–201, 205, 212–16, 221–26, 243, 332, 349 Dampfbad 81 Darmsaft 308 Dea febris 179, 187 Demarkation 16, 27, 121, 196, 210, 215 Deontologie 97, 99, 104–05, 191–92, 201, 281, 312 Depression 42, 146 Deus medicus 13, 237–69 Deuteropaulinen 261, 352 Diagnose 48, 96, 102, 192, 282, 285–86, 297–99, 305, 310, 313, 317, 319, 348 Diagnostik 32, 99, 155, 175, 245, 250, 282, 300, 310, 313, 316 Diakonie 39, 128, 154 anamnetischer Dialog 106, 148, 149 Diätetik 50, 70, 78, 82, 103, 121, 136, 142–47, 156, 164–66, 171, 180, 209, 211, 248, 251, 261, 297, 310, 323, 329–30, 342, 344–47, 351 Diathese 308, 310 affektive Dimension 132 Diskriminierung 43, 61, 117, 145, 191, 355 Distanzierung 107, 225 Disziplin 19, 30, 39, 53, 67, 191, 194, 277, 328 Divination 125, 132 Dogmatiker 171, 293–94, 300, 306 Doketismus 263 Doppelnatur 274 Dreckapotheke 54, 63, 108, 278 Drogen 100, 277 -händler 327 Dualismus 60, 356–58, 370 Durchfall 185–87, 330 Durst 79, 88 -losigkeit 203 Dysfunktionalität 78, 117, 170, 252, 261, 330 Ehe 145, 223, 341, 344 -bruch 251 -losigkeit 341–44 Ehrbarkeit 104 Ehre 96, 219, 254, 316, 338, 367, 375 Ehren-Gehalt 23 Ehrlosigkeit 131 Eidechse 177 Eingeweide 78, 186, 319, 338 Eisen 81, 147, 209 Element 62, 135, 168–69, 187, 363 Elephantiasis 210 Emotion 31, 132, 238, 274, 317 Empfindung 150, 239, 244, 248, 273–82, 289, 301, 311, 315, 319, 362 Engel 107, 167, 266, 292 Erzengel 167, 264 Fieberengel 166
434 Todesengel 165 Entmythologisierung 26, 194 Entwicklungsstufe 23 Entzündung 163–64, 170, 283, 298–300, 305 Epidemie 19, 31–32, 42, 44, 54, 96, 171, 304 Epikureismus 277, 294 Epilepsie 31, 33, 56, 59, 61–62, 90, 103, 125–56, 214, 222, 226–27, 231, 246, 251, 304, 315–16, 348 Erbkrankheit 254 Erblichkeit 130, 144–45 Erbrechen 82, 170, 285 Erde 108, 143, 169, 374 Erinnerungskultur 119 Erlösung 69, 131, 139, 318, 320, 355 Eschatologie 65, 74, 87–88, 98, 189, 233, 252, 256, 319, 330, 337, 347, 351, 353–79 Essig 209 Ethik 54, 58–59, 117, 164, 229, 234, 260, 267, 324, 329, 337, 341, 366 Freundschaftsethik 76 Tugendethik 364 Evidenzquelle 130–33, 146 Exorzismus 16, 38, 42, 52, 59–66, 89, 99–101, 114– 15, 118, 133–34, 138, 148–54, 183, 189–91, 195–201, 210, 213, 221, 224, 226, 304, 315–16, 320 Fachmann 95–99, 180, 244, 263, 294, 309 Fallstudie 21, 101, 182, 202, 205, 212 Familie 37, 47, 52, 67, 106, 112, 130, 144, 156, 176, 253, 302, 312, 319, 326, 330, 344 Fastenritus 122 Fehltherapie 137, 205 Fehlurteil 41, 70, 174, 204, 301 Fernheilung 151, 184, 188 Fernwirkung 249 Fesselung 63, 195 Feuchtigkeit 23, 33, 78, 108, 136, 169–74, 203, 207, 214, 226, 280, 311, 330, 342 Feuer 161–65, 168–70, 175, 181, 187, 209, 318 Fieber 22, 42, 48, 55, 90, 102, 114, 126, 159–89, 201– 09, 212, 220, 231, 250 -anfall 350 -heilung 184 -hermeneutik 179, 185 -kurve 159 -schub 174 -therapie 55 -thermometer 159–60, 188 -tod 180, 204 Brennfieber 165, 171, 173, 176, 284 Faulfieber 172 Galenische 161 intermittierend/zyklisch 173 Knochenfieber 165 Quartanfieber 80, 147, 163, 173–75, 177, 183 Quotidianfieber 165, 173–75, 177 Semitertianfieber 167, 174 Tertianfieber 165, 167, 173–74 Wechselfieber 55, 71, 202 Wundfieber 161 Finger 107–08, 150, 196, 199, 225–26
Register -nagel 178 -ring 134 Fingerkraut 277 Fischgalle 100 Fistel 276 Fleisch 33, 39, 55, 78, 80, 262–63, 288, 293, 337, 347–49, 353–55, 357, 364, 375–78 Fluch 84–86, 162, 178 Flüssigkeit 79–81, 95, 136, 170, 215, 280, 287–88, 320, 347 Flüstern 207 Formgeschichte 18, 29, 38, 68, 114–15, 118 Forschungsgeschichte 14–20, 27, 68, 78, 85, 93–94, 124, 133, 140, 154, 188, 194–95, 210, 348, 367 Frau 37, 43, 46–47, 50, 54, 81, 83–84, 103, 107, 138– 39, 143–45, 181–82, 189, 207, 229, 246–48, 296–300, 312, 315, 341–44 Frauenleiden 46–48, 296–97, 299, 342 Frühchristentum 19, 21, 27, 31, 33, 39, 57, 59, 65, 71–72, 88, 127–29, 153, 156, 194, 219, 237, 255–57, 260–61, 267, 314, 355, 359 Fühlen 238 Furcht 26, 31, 33, 50, 52, 132, 150, 215, 249, 286, 313, 329 Fuß 81–83, 121, 150, 163, 249, 291, 337–38 -gicht 42 -marsch 81 -nagel 178 -weh 283 Galenisches System 110, 291 Galle 98, 173–74, 187, 246, 319, 330, 332 Gastfreundschaft 76, 185, 253 Gebeine 319 Gebet 61, 107, 122, 149, 152–53, 185, 188, 227, 235, 264, 349 Gebührenordnung 72 Geburt 44, 84, 165, 219, 296, 319–20, 344 Geduld 61, 275 Gefühl 17, 59, 104, 237–38, 241, 274, 281, 301, 310 Geheimhaltungsbefehl 232, 235 Gehfähigkeit 100 Gehirn 33, 136, 170, 290–91, 308–10 -nerven 306 Gehör 59, 217–35, 310, 332 Geist 39, 129, 196, 233, 262, 346–47, 360, 365, 370– 71, 373–74 Geisteskrankheit 42, 206–07, 209 Gelbsucht 163 Geld 50, 88, 256, 264, 314, 367 Gelenk 288, 292 -krankheit 302 -schmerz 305 Gemeinschaft 47, 79, 89, 147, 154, 160, 339, 345 Gemeinschaftsfähigkeit 31, 72, 83, 87–88, 118, 139, 232, 341 Gemeinwesen 44, 131, 328, 336 Generation 96, 131, 144, 249–53, 259, 284 Gerechtigkeit 105, 243–52, 292, 330 Gericht 69, 161, 229, 318, 345–46, 367 Geruchstherapie 299
Register Geschlecht/Gender 81, 96, 103, 131, 138–39, 170, 207, 221, 284, 342, 351 Geschlechtskrankheit 43 -organ 43 -reife 138 -teil 43, 338 -trieb 342 -verkehr 81, 141–43, 298–99, 342–44 Geschmack 58, 238, 246, 290, 320, 332, 338 Geschwür 80, 186, 276, 298 Gesellschaft 15, 25, 27, 71, 73, 77, 83, 111–14, 130– 31, 160, 162, 181, 253, 260, 312, 335, 351 Gesicht 22, 142, 151, 288, 310 Gesichtsausdruck 22, 221 Gesprächstherapie 209 Gesundheit 15, 20, 27–30, 37–38, 47, 50, 57–60, 64– 66, 70, 80, 90, 92, 97, 101, 104, 139–44, 153, 155, 185, 189–93, 213, 242–48, 267, 276, 301, 325–29, 332, 336, 338, 341–44, 345, 350 Gesundheitskonzept 46 -metapher 339 -system 15, 20, 37, 93, 112–14, 116, 121–22, 183, 244, 260, 325, 334 -wesen 72 -zustand 189, 349 Gewalttätigkeit 81, 251, 304, 318, 361, 362 Gicht 42, 276 Gift 31, 32, 134, 165, 186, 253 -mord 138 Glaskraut 277 Gleichbehandlung 105 Gleichnis 67, 73–76, 85, 87–88, 100, 197, 231, 318, 347, 374–75 Gliedmaße 23, 150–51, 250, 258, 323, 334–39, 344 Gnosis 91, 264, 354, 355, 377 Gott 51, 54, 59, 65, 77, 81, 84, 88, 97–98, 107–08, 110, 117, 119, 151–56, 164, 175, 185, 187, 196, 233, 237, 248, 261–69, 292, 315–21, 323, 330– 32, 347, 353–55, 365–66, 370–79 -heit 52, 148, 178, 219, 237, 241–49, 251–57, 268, 286, 328, 330 Gottesbild -gemeinschaft 87 -gericht 346 -geschichte 13, 315, 324 -handeln 98, 243, 320, 376, 378 -herrschaft 26, 62, 99, 119, 120, 196, 211 -herrschaft 120 -macht 69, 156 -sohn 60, 120, 151–52 -strafe 82, 107, 137, 221, 243–54, 316, 330 -verwandtschaft 354 leeres Grab 372 Grenzfall 23, 368 Gymnastik 52, 247–48 Gynäkologie 16, 81, 131, 214, 281, 293–301, 342 Haar 291, 340–41 Habicht 177 Hades 179, 315, 354, 357, 363, 370 Hals 81, 166, 253 Hamartiologie 13, 25, 86, 139, 332
435 Hand 45, 48, 104, 106–08, 134, 143, 150, 177, 181– 82, 227, 276, 337–38, 365 -auflegung 104, 106–07, 124, 156, 185, 188, 225, 227 Händewaschen 228 Handlungsmöglichkeiten 132, 337 Harn 108, 285 -röhre 43 Hass 58 Haus 39, 43, 48, 73–77, 87, 141, 178, 181, 184, 195– 200, 299, 362–66, 370 -besuch 50, 102, 105, 181 -halt 47, 183 Haut 43, 80, 117, 126, 177, 290, 308–10 Hebamme 84, 301, 326 Hebdomadenlehre 337, 347 Heil -kraft 155, 161 -kunde 39, 43, 47–51, 94, 107, 128, 168, 175, 181, 185, 187, 261, 266–69, 328, 344 -kunst 39, 43, 47–48, 57, 67, 72, 82, 92–93, 115, 128, 162, 193, 237, 244, 248–69, 279, 312, 327–32 -mittel 52, 58, 63, 65, 165, 177, 227, 278, 311, 313 -praxis 20, 26, 92–94, 97, 99, 110, 119 Heiland 16–17, 263 Heiligkeit 105, 125–56, 167, 228–29, 292 Heilszeit 60 Heilungserzählung 14, 43, 49, 59–60, 64, 68, 86, 98– 99, 104, 116, 160, 189, 314, 315 -hermeneutik 30, 38, 40 -monopol 51, 121, 262, 331 -prozess 55, 188, 201, 280 -vollzug 106 Heimsuchung 127 Hellenisierung 255, 359, 366 Hellenismusforschung 324, 326 Henne 165 Herbstnessel 177 Hermeneutik 20, 28, 38, 60–61, 66, 78, 99, 115, 128, 159, 249, 273, 302, 306, 314 Herz 91, 93, 98, 140, 170, 172, 187, 211, 265, 289, 290–91, 299, 306, 319, 329, 357 Herzensmedizin 93 -krankheit 91, 206, 265 -schmerz 283, 314 -verengung 59 Hilferuf 61, 67, 82 Hilfsmittel 108 Hippokratischer Eid 47, 54 Hirsch 177 Hitze 159–89, 201–09, 305 -phänomen 95 -tod 164 Holismus 21, 237, 353, 357 Homoerotik 43 Homöopathie 156 Honig 100 Hören 61, 219–24, 231–35, 238, 290 Hörfähigkeit 232–33
436 Hüfte 244, 283, 292, 298, 300 Humoralpathologie 78, 95, 135, 170–71, 187, 218, 286, 289, 295, 303–04, 311–13, 331–32, 342– 43, 347 Hund 82, 115, 177, 214–15, 229, 230, 263, 357–58 Husten 170, 284–85 Hyänengalle 246, 269 Hyänenhaut 215 Hydrophobie 115, 214–15 Hygiene 33, 141–43, 226 Hysterie 19, 132, 156, 214, 298, 348 Hysteropathie 309 Iatrochemie 95, 170, 172 Iatrozentrik 279–80 Identität 124, 153–56, 229, 234, 260, 340, 357, 364, 370–79 Idiopathie 65, 307, 310 Igelfleisch 82 Intentionalität 22, 30, 109, 280, 282, 298, 302, 311, 314, 341 Irrlehrer 259 Irrtum 208, 259 Isolation 47, 131, 232, 277 Jesusbewegung 15, 54 Juckreiz 163 Jungfräulichkeit 298, 341, 343 Kälte 23, 48, 165, 169, 172–74, 177, 182, 280, 283, 305, 330, 342 Kaltwerden 285 Kanon 13, 25, 41, 94, 101, 355 Kardiognosis 132 Katabasis 264, 266 Katalepsis 303 Katastase 22 Kehle 147, 188 Kind 42, 45–46, 140–52, 215, 229–30, 246–51, 315– 16, 344 Kindersterblichkeit 144 Kindesleiden 56, 131, 141, 146 Klagen 67, 207, 245 Kleidung 43, 102, 138, 207, 215, 365–66, 369–70 Kleinwüchsigkeit 43 Klimatologie 31, 96, 103, 164, 170–71, 344, 375 Knie 283 Knochen 288, 292, 300, 337 -bruch 281 Kognition 30, 74, 90, 102, 130, 237–38, 241 Kollektiv 23, 40, 82, 199, 221, 243, 249, 253, 260, 320, 359, 368, 378 Koloquinthenmark 305 Kommunikationsmöglichkeit 117, 233 Kommunitätenlehre 297, 299 Kompresse 305 Konsistenz 95, 254, 293, 296, 303, 311 Kontrolle 31, 85, 192–93, 205, 211–12, 239, 276 Kontrollmöglichkeiten 201 -verlust 132, 211–12 Kopf 44, 81, 130, 136, 143, 166, 170, 177, 197, 258– 61, 278, 283, 288, 292, 299–300, 338, 346, 374 -schmerz 126, 150, 156, 276, 282–84, 298, 299 -verletzung 281
Register Körper -ausscheidung 96, 108, 202, 303, 308 -erfahrung 69, 239–40, 254, 358 -flüssigkeit 81, 146–47, 332, 343, 347 -funktion 258, 306 -haltung 195, 304, 320 -kraft 209 -leiden 315 -ordnung 90, 117 -partie 172, 258, 283–84, 297, 300, 306 -störung 38, 41, 65, 68, 97, 132, 159, 190, 211–14, 261 -teil 43, 117, 206, 211, 227, 244, 250, 283, 288, 291, 296, 307–09, 335–39 -temperatur 22, 25, 95, 98, 102, 159–62, 207, 332, 347 -verhalten 130 -wärme 162, 168, 343, 347 -zustand 130, 348–50 Körperkonzept 43, 258, 273, 296 antik-jüdisch 187 asketisch 139, 264 enkratisch 139, 264 kardiozentrisch 290 paulinisch 258, 292, 323–52 Körperlichkeit 21, 25, 90, 159, 188, 334, 347, 358, 364, 376–77 Kosmologie 21, 23–24, 70, 95, 97, 113, 168–71, 175, 179, 293, 306, 337, 339, 351, 358, 363 Kot 54–55, 78, 108, 227 Kraft 17, 22, 65, 95, 150, 161, 201, 211, 227, 288, 292, 308, 330, 336, 339, 357, 375 Krampfanfall 130, 132, 150, 296 Krankenbesuch 39, 79, 164, 212 -fürsorge 17, 64 -haus 61, 128 -versorgungssystem 122 Krankheitsausbruch 207 -ätiologie 45, 62, 65, 78–81, 103, 114, 143, 155, 167, 180, 206, 223, 252, 273, 278, 282–84, 298, 304, 337, 344, 351 Kranksein 65, 160, 182, 187–88 Krasis 86, 303 Kratzen 285 Kreuz 59, 89, 151, 232, 235, 247, 269, 315–18, 324, 357, 371 Krise 90, 96, 164, 170, 174, 182, 202–05, 211, 252, 284, 303 kritische Tage und Zeiten 175, 185, 202, 207–08, 284 Krüppel 74, 88 Kultfähigkeit 31, 72, 145 Kultort 45 Kulturanthropologie 20, 112, 115, 338 Kümmel 81 Kuraufenthalt 81 Kynismus 259, 263, 328 Lahmheit 62–63, 74, 88–89, 117, 120, 276, 315 Lähmung 42, 45, 52, 63, 102, 117, 129, 220, 226 Laie 42, 159, 244, 259, 267, 280, 309, 325, 328 Laienmedizin 63, 71, 143, 146, 177, 249
Register -system 63 -wissen 24, 160 Lärm 299 Laster 24, 77, 161, 242, 330, 332 Lebendigkeit 21, 23, 139, 142, 147, 153–54, 168, 214, 306 Lebensalter 103, 207, 285, 347 -bedingung 282 -erwartung 174, 364 -funktion 357 -gefahr 156, 187 -kraft 30, 187, 226, 278 -quelle 347 -saft 108, 227 -wirklichkeit 333, 351 Leber 81, 170, 187, 299, 319, 332 -abszess 244 Lebewesen 169, 177, 250, 290, 299, 304, 343 Legitimation 51–52, 196 Lehrer/in 77, 105, 119, 276, 307, 339–41 Leib 79, 82, 258, 261, 280, 353–79 Christi 258, 339 geistlich 371, 374–76 seelisch 375 Leiblichkeit 345, 353–79 Leiche 33, 49, 81, 249, 292, 302 Leichenzergliederung 288 Leiden akut 99, 180, 206, 250 angeboren 303 chronisch 46, 99, 180, 205, 349 intermittierend 144 todbringend 90, 220 Leidenschaft 58, 161, 164, 245, 253 Lepra 42, 117, 145 Lethargie 206–08, 303 Leukophlegmatia 80–81, 87 Licht 143, 152, 320 Liegen 22, 46, 73, 102, 107, 181–82, 184, 277, 305 Logos 254, 257, 261, 266, 330 Löwe 347 Löwenfett 177 -herz 177 Luft 79–80, 96, 169, 223, 227, 338 -holen 32, 227 -raum 176, 359 -wege 33 Lüge 53, 134, 177, 215, 303 Lungenentzündung 206 Lykanthropie 215 Magen 170, 336–37 -kolik 330 -krankheit 300 -schmerzen 44 Magie 15, 19–20, 24, 27, 82, 120–24, 133–34, 177, 189–195, 211–16, 299 Magier 27, 123, 134, 177, 195 Mahl 73–77, 83, 87–88, 230, 234, 326, 335, 337, 346, 357 Festmahl 74, 88 Gastmahl 75
437 Malaria 42, 156, 165, 173, 180, 348 tropica 172 Mann 43, 47, 77, 103, 133–44, 161, 181–87, 207, 221, 296–99, 340–44 materia peccans 28–30, 96, 115, 174, 202, 211, 303, 308 Materialität 274, 355 Materie 32, 96, 170–71, 177, 190, 280, 339, 355 Medikament 49, 61, 81, 92, 100, 108, 132, 145, 147, 154, 226, 244, 246, 251, 269, 277, 313, 330 Melancholie 56, 251, 305 Membran 300 Messias 27, 70, 88, 94, 225, 231, 317, 320 Metapher 24–25, 57–60, 65, 88–90, 94, 107–09, 115–18, 132, 161, 164, 198, 213–15, 223, 234, 237–69, 275–77, 292, 309, 314, 319–21, 323, 326, 333–41, 352, 365–71 ontologisch 89, 240–41, 246, 251, 255–57, 260, 267–268 Strukturmetapher 89, 237–41, 244, 252, 256, 260, 268, 329, 335–39 kognitivistisch 89–90, 237–41, 252, 260, 268 Metonymie 198, 240, 276 Migräne 276, 348 Mikro-/Makrokosmos 71, 95, 97, 168–69, 171, 176, 260, 279, 346 Mineralien 82, 100 Mission 17, 26, 92, 120, 190, 265, 323, 344, 360 Misstrauen 218 Mistkäfer 177 Mond 131, 338, 347, 375 -göttin 131 -licht 136 -phase 131 -sucht 102, 125, 129, 134, 137 Moral 23, 52, 63, 84, 199, 242, 345 Mord 49 Motivation 46, 109, 137, 190, 240 Mund 29, 56, 130, 132, 150, 184, 229, 232, 249, 307, 336 Muskel 130, 288–89, 291, 300, 308–09 Mutter 81, 130, 138, 147, 151, 165, 215, 320, 326 Mystik 18 Mythologie 15, 116, 249 Mythos 219, 243, 250–57, 261, 283 Nabel 81, 145, 283 Nachkommen 251 Nächstenliebe 44, 105, 128 Nachtschatten 277 Nacktheit 43, 143, 190, 365–66, 369–70 Nahrung 47, 143, 203, 213, 336 Nahrungsaufnahme 170, 202 Narbe 253–54 Narration 28–30, 64, 68, 70, 73, 88, 93, 103, 109, 114–19, 149, 151, 195–200, 204, 228, 230 Narratologie 30, 68, 101 Nase 307, 310 Nasenbluten 170 -katarrh 350
438 Natur 23, 62, 97, 109–10, 117, 136, 161, 163, 168, 175, 278, 300, 304, 312, 328–30, 337, 339–41, 343, 347, 354 -begriff 339–41 -ereignis 49 -philosophie 24, 93, 95, 111, 187, 280, 304, 328 -wunder 38 Neid 58 Nerven 41, 126, 136, 209, 287–93, 306, 313 -system 18, 287–93 Neurologie 288 Neuschöpfung 347, 371, 376, 378 Nieren 98, 188, 319, 337 -leiden 302 Niesen 285 Nosologie 135, 163, 168, 171–72, 188, 202, 279, 308 Nunkupation 223 Nutzen 23, 47, 54, 102, 104, 134, 178, 196, 217, 246 Ober-/Unterlippe 145–46 Ohr 89, 107, 135, 217–20, 226, 233–34, 278 -läppchen 22 Ohrenleiden 219, 223, 227 -schmerz 44, 276 Öl 54, 100, 226, 244 -blatt 176 Rosenöl 177 Oleanderblatt 277 Ontologie 32, 41–42, 56, 68, 78, 89, 130, 135, 146, 156, 159, 162, 165, 173, 198, 240–41, 246, 255– 57, 260, 267–68, 274, 339, 348, 350, 358 Opfer 82, 141, 165, 195, 277, 350, 355 Optimismus 29, 58, 65, 153, 156, 276, 335 Delphisches Orakel 242 Ordnung 70, 76, 135, 139, 166, 168, 172, 175, 181, 200, 204, 208, 212, 259, 261, 279, 285, 292, 294, 336–37, 347 Ordnungsmuster 89 -welt 38 -wissen 201 Organ 98, 106, 108–09, 116–17, 172, 211, 214, 226, 244, 279, 287–91, 306, 308–10, 346 Leitungsorgan 290, 308, 338 Sinnesorgan 59, 89, 217, 258, 291 Organismus 23, 95, 237, 261, 335 Organologie 42, 70, 72, 170, 187, 258, 319 Orthopädie 281, 287, 301–02 Osterglaube 152–53, 355 Pädagogik 246–57, 266, 318, 324 Paideia 51, 256, 326 Pandämonologie 62, 166, 221 Pandemie 30–31 Paracentese 81 Paränese 73, 85, 87, 141, 220, 292, 330, 333 Pathogenese 30, 64–65, 84, 96, 115, 152, 155, 173, 180, 203 Pathologie 41, 96, 115, 294, 307 Patient 22, 29, 49–50, 53, 79, 96, 99, 103, 105, 109, 112, 142, 164, 174, 176, 185, 188, 192, 201–04, 208, 212, 244–48, 254, 268, 275, 280, 285–87, 293–94, 301–06, 312, 320, 330
Register Peripatos 57, 134, 291, 327 Pest 32, 44, 162, 250 Pharisäer 73, 75–77, 83–89, 196, 221, 228 Pharmakologie 100, 121, 122, 147, 165, 277 Pharmazeutik 50, 246 Philophronesis 348 Philosomatismus 353–60, 364 Phlegma 33 -erkrankung 136 Phrenitis 170, 205–11, 283 Phthisis 22, 170, 247, 249, 283 Phylakterium 191 Physik 95–96, 98, 168–70 Physiologie 21, 23, 33, 45, 57, 59, 69, 78–79, 92, 95– 98, 102, 104, 109, 115–18, 125, 136, 142, 180, 203–04, 211–12, 218, 274, 280, 284, 291, 293– 95, 300, 306, 309–16, 321, 336, 340–41, 346, 351 Platonismus 23, 58, 134, 252, 254, 330, 332, 353–58, 363, 367, 373 Mittelplatonismus 24, 242, 255, 291 Neoplatonismus 300 Pneumatologie 211, 263, 351, 373–74 Pocken 32 Podagra 251, 305 Polis 24, 98, 138, 219, 325–26, 328, 344 Pore 307 Portulak 277 Postmortalität 23, 24, 250, 347, 353–79 Praktik 27–30, 63, 65, 82, 106–08, 108, 134, 140, 176, 184, 190–91, 195, 200, 212–13, 225, 238, 244, 325–32 magisch 164, 211, 225, 249 manuell 124, 226, 235 religiös 123 rituell 116 Prävention 70, 141–42, 147, 153–54 Priester 28, 33, 122, 142, 146, 242, 269, 335 Delphischer Priester 242, 269 Profanisierung 229 Prognose 22, 37, 70, 96, 99, 170–75, 180, 192, 201– 05, 208, 249, 269, 279, 281–82, 285, 294, 303, 313 Propaganda 17, 52, 120, 190, 327 Propehtie 15, 17, 19, 27, 87, 94, 125, 127, 132, 154, 176, 220, 266, 319 Prophylaxe 191, 249–51 Protopathie 309 Psyche 19, 47, 78, 113, 253, 274, 281, 290, 309, 319, 330, 377 Psychologie 238, 242, 357 Psychophysik 273–74 Psychotherapie 242 Puls 22, 160, 207 Pyretologie 42, 159–89, 201–09 Pythagoreismus 78, 134, 175 Quacksalber 15, 94 Quetschen 273, 280, 308 Rache 82 Rachenröte 283
Register Ratschlag 48, 78, 87, 139, 143, 166, 204, 225, 297, 344, 348 Raute 209 Reanimation 107, 148, 373 Rechtsfähigkeit 131, 140, 222–23, 232 Redaktionsgeschichte 18 Reiben 81, 280 Reinheit 31, 43, 72, 114, 120, 122, 228–29 Reinheits-/Priesterhalacha 75, 139, 145–46, 215, 230 Reiseapotheke 16 Reiz 274, 278 Religionsgeschichte 39, 57, 68, 70, 185, 194, 227, 257, 263–64, 366, 370 Remedium 58, 63, 177 Reputation 22, 51, 67, 96, 99, 192, 210, 312, 320, 327 Resonanz 101, 110, 225, 351 Rettung 17, 29, 37, 39, 49, 51, 57, 60, 69, 99, 104, 107, 184, 192, 212, 233, 256–57, 312, 321, 355, 360–61 Rezept 100, 195, 215 -buch 190 Rezeption 14, 17, 24, 27–28, 30, 40–42, 61, 71, 88, 94, 101, 110, 112, 124, 171, 195, 208, 218–19, 268, 277, 289–90, 292, 302, 316–17, 324–25, 338, 347, 352, 354 Rezeptionsfähigkeit 89, 221, 224, 233 Rezeptionsgeschichte 61, 78, 104, 108, 131–32, 135–36, 156, 205, 234, 294, 344, 354 Riechen 238, 290, 299, 332 Rind 244 Ring 52, 134, 142 Rippenfellentzündung 206 Ritual 76–78, 85–86, 107, 132, 137, 195, 199, 325 Ritualisierung 76, 142 Rücken 81 -mark 291 Rückfall 115, 189–216 Ruhe 84, 126, 164, 174–75, 197, 202, 254, 336 -stätte 195, 214 Ruhigstellung 45 Sabbat 62, 73–76, 104, 116, 139 -konflikt 45, 73–76, 83–85 Sakramentologie 13, 267, 324, 361 Salbbüchse 91, 264–65 Salbung 54, 100 Salutogenese 21, 28–30, 64–65, 68, 113–18, 152–56, 180, 184, 188 Samen 31 Satan 62, 117, 167, 316 Saufenchel 209 Schaden 20, 22–23, 104, 117, 156, 170, 178, 203, 209, 246, 259, 279, 292, 307, 316, 339, 346 Schaf 347 Schafseuter 82 Scham 26, 47, 96, 150, 252–54, 299, 316, 338 -gefühl 247 -gegend 298 -teil 43, 283, 338 Schamane 27
439 Scharlatan 16, 53, 94 Schäumen 56, 130–32, 146, 150 Scheintod 18, 103 Scheitern 22, 59, 152, 189–200, 366 Schenkel 338 Unterschenkel 282 Schicksal 46, 218, 243, 250, 253–54, 268, 315, 320, 356–63, 370 Schlaf 134, 202, 285, 304, 362 -gemach 299 -losigkeit 173 -mangel 284 Schläfrigkeit 203 Schlange 134, 177, 185 Schleim 80, 87, 173–74, 349 Schlüsselbeingegend 283 Schmerz 22, 58, 69–70, 99–100, 143, 241–44, 247– 48, 251–54, 266–69, 273–321, 330 -begriff 22, 281–82 -Narrativ 276 Schmerzensmann 277, 317 Schmutz 47, 82, 200 Schneiden 99, 241, 269, 282, 330 Schöpfungstheologie 109, 231, 291, 373, 375–76 Schreien 151–52, 304, 315, 318, 320 Schröpfen 99, 147, 211, 269, 280 Schröpfkopf 96, 165, 330 Schuld 22, 109, 249, 251–52, 254, 260, 313, 330 Schüler 48, 91–93, 105, 144, 181–82, 189, 260, 264– 65, 276, 291, 294, 347 Schulter 276 Schüttelfrost 162, 167, 173, 177 Schutz 30, 39, 108, 138, 141–44, 147, 153, 155, 191, 226, 329, 340–41 Schwangerschaft 44, 246, 319, 343 Schwiegermutter 55, 107, 114, 181, 183, 185 Schweigegebot 232 Schweigen 39, 85, 148, 207, 285, 321, 350 Schweiß 22, 81, 170, 285 -ausbruch 202 Schweregrad 44, 70, 199, 275, 285, 297, 309 Schwermut 146 Schwindel 126 Schwitzofen 81 Seehund 246 -lab 246, 269 Seelenhauch 289 -heil 78, 325 -pneuma 291 -zustand 245 Seelsorger 18 Seepferdchen 177 Sehen 55, 117, 176, 215, 217–19, 235, 238, 290, 339 Sehne 117, 150, 258, 287–93 Sehvermögen 89, 104, 117, 218–19 Selbstbehandlung 305 Selbstbeherrschung 105 Selbstgespräch 207 Selbstvertrauen 65, 81 Semantik 29, 43, 76, 88, 111, 140, 204, 238, 241, 264, 277, 314, 318, 325, 340, 366
440 Senfpflaster 81 Separation 64, 198, 201, 230 septem artes 51, 268 Seuche 31, 42, 44, 186 Seufzen 107, 225, 227, 365, 369 Sexualität 81, 140–44, 222, 299, 337, 341–44 Siebenzahl 90, 164, 197, 199, 337 signa mortis 22, 103 Sinn 207, 218, 221, 290, 338 Sinnesbetätigung 218 -vermögen 332 -wahrnehmung 290 Skelett 117, 258 Skepsis 23, 53, 126, 306, 334 Skeptizismus 294 Sklave/in 54, 105, 138, 144–45, 183–84, 221–23, 327 Solidarpathologie 347 Somatokatharsis 96 Sonne 162, 176, 338, 347, 375 Sophismus 78, 136 Soteriologie 13, 21, 23, 25, 57, 94, 257, 262–64, 267, 319, 324, 330, 333 Spanische Fliege 81 Speichel 54–55, 63, 108, 226, 235 Speise 81, 143, 229, 278, 303–04, 337, 345 Speisung 38, 228 Spezialist 244, 254, 267 Spinne 176–77 Sport 86, 284 Spott 48–49, 138, 355 Sprache 16, 213, 218, 221, 223, 225, 239, 275–76, 323, 339, 342, 348, 351 Sprachstörung 45 -unfähigkeit 55, 233, 303 Sprechzimmer 50 Stadt 25, 44, 51–55, 72, 76–78, 101, 108, 179, 213, 221, 250, 316, 326–28, 334–35, 344, 351 Stärkung 64 Starrfrost 285 Status 65, 76, 88–89, 96, 105, 111, 180, 239, 368, 370 -symbol 85 -verlust 78, 312 Staunen 126, 187, 195, 376 Sterbehilfe 49 Steuerbefreiung 51 Stigma 137 Stillen 139, 143–44, 296 Stimme 33, 151 Stoff 31, 95–98, 100, 111, 116, 169, 174, 204, 296, 308, 311, 347 bitter 58, 86, 246, 251, 269, 320 fest 95 flüssig 80, 95 giftig 31, 32 pflanzlich 82
Register schädlich 32, 115, 303 tierisch 82, 100, 177 Stoizismus 24, 58, 171, 176, 245, 259, 263, 276, 306, 325, 327–28, 332, 338–40, 347 Störung 29, 31, 44, 117, 131, 142, 153–55, 286 Strafe 23, 244–45, 253, 268, 312, 315 Stuhl 86, 170, 202–03 -gang 81, 87 Stummheit 42, 55–56, 61, 63, 89, 109, 140, 195, 217–35, 305, 315 Stunde 173, 184, 248, 347 Stürzen 56, 138, 146, 150, 253, 310 Sugiot 139, 164 Sühne 134, 316 Sünde 85–87, 89, 266, 292, 317 Sündenvergebung 255 Sympathie 60, 65, 177, 250, 300–301, 307, 346 Symposium 76–78 Symptom 38, 41–42, 45, 55–56, 79, 81, 129–30, 135, 138, 142, 146, 149–51, 153, 170, 202, 204–07, 222, 281, 283, 307, 312, 346, 348 -bündel 138 Leitsymptom 45, 55, 103, 161, 223 Syphilis 42 Tablette 156 Tapferkeit 277, 367 Tasten 106, 238, 290, 338 Taubheit 55–57, 61, 63, 89, 109, 195, 203, 217–35, 315 Taubheit (d. Glieder) 150, 220 Taubstummheit 18, 61, 63, 89, 109, 195, 217–35, 315 Taufe 17, 94, 267–68, 324, 373 Teleologie 23, 106, 109, 168, 320, 339–41 Tempel 63, 77, 128, 142, 178–79, 277, 335 -medizin 62, 113, 213, 326, 334 Temperatur 280, 320 Teufel 127, 142, 292 Therapeut 113, 311 Therapeutika 13, 82, 100, 108, 206, 242, 278 Thermometrie 159–60, 168 Theurgie 115, 212 Thorax 298, 338 Tier 33, 55, 84, 132, 150, 177, 185, 214, 250, 278, 287–90, 299 Toilette 141 Tollwut 115, 210, 214–15 Totenerweckung 38, 56, 83, 152, 264 apostolische Tradition 260–61 Unbildung 16, 94, 353 Unreinheit 59, 90, 116, 122, 215, 228–30 Uterus -entzündung 298, 300 Vorsehung 243, 254, 267, 268, 323 Zahnschmerz 44, 277–78